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German Pages 928 Year 2008
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive Festschrift für Heinrich Siedentopf zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Siegfried Magiera, Karl-Peter Sommermann und Jacques Ziller
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MAGIERA / SOMMERMANN / ZILLER (Hrsg.)
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 191
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive Festschrift für Heinrich Siedentopf zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Siegfried Magiera, Karl-Peter Sommermann und Jacques Ziller
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-12550-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Heinrich Siedentopf ist ein Brückenbauer. Er baut Brücken zwischen Kulturen, er baut Brücken zwischen Wissenschaftsdisziplinen, und er baut Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis. Mit der vorliegenden Festschrift ehren ihn Freunde und Kollegen aus dem In- und Ausland anlässlich seines 70. Geburtstags. Sie haben ihn nicht zuletzt als Brückenbauer zwischen Menschen kennengelernt. Heinrich Siedentopf wurde als zweiter von drei Söhnen des Professors der Gynäkologie Dr. Heinrich Wilhelm Siedentopf und seiner Ehefrau MarieLuise Siedentopf, geb. von Bodecker, am 5. März 1938 in Leipzig geboren. Die Familie zog bald nach Magdeburg um, wo der Vater die Leitung einer Klinik übernahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelte die Familie nach Bad Oeynhausen über. Dort legte Heinrich Siedentopf im Jahr 1957 sein Abitur ab, um noch im selben Jahr an der Universität Heidelberg das Studium der Rechtswissenschaften aufzunehmen, das er später an der Universität Münster in Westfalen fortsetzte. Nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung promovierte er an der Universität Münster bei Hans Julius Wolf mit einer Dissertation über „Grenzen und Bindungen der Kommunalwirtschaft“, die mit dem Preis der Stiftung der Deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände zur Förderung der Kommunalwissenschaften ausgezeichnet wurde. So wie sich die Wahl seines Promotionsthemas aus dem Bereich der Kommunalwissenschaft als Ausgangspunkt für ein bleibendes Forschungsinteresse erweisen sollte, so wurde auch die Referendarstation an der École Nationale d’Administration in Paris für ihn prägend. Hier konnte er sich insbesondere mit Fragen der Umsetzung der im März 1964 beschlossenen Regionalreform befassen. Auf die in Frankreich gesammelten Erfahrungen baute er auf, als er nach der Zweiten Juristischen Staatsprüfung den Weg in die Wissenschaft einschlug. In Roman Schnur, der die Staatstheorie und die Verwaltungswissenschaft unter besonderer Hinwendung zum französischen Staats- und Geistesleben pflegte, fand Heinrich Siedentopf einen Staatsrechtslehrer, bei dem er seine wissenschaftlichen Neigungen weiterentwickeln konnte. Nach zweijähriger Assistentenzeit am Bochumer Lehrstuhl ermöglichte ihm ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen längeren Forschungsaufenthalt in Paris, wo nun das Thema seiner Habilitationsschrift „Regierungsführung und Ressortführung in Frankreich – Zur Organisation und Funktion der Cabinets ministériels“ im Mittelpunkt stand. Bereits im Februar 1971, noch nicht 33-jährig, habilitierte sich
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Heinrich Siedentopf an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, wohin Roman Schnur 1968 als Nachfolger von Fritz Morstein Marx berufen worden war. Es folgte noch im selben Jahr die Ernennung zum apl. Professor; Lehrstuhlvertretungen an der Freien Universität in Berlin und an der Universität Freiburg schlossen sich an. Für seinen weiteren Weg wird das Jahr 1973 entscheidend. Unter Ablehnung eines Rufs auf einen Lehrstuhl an der Universität Regensburg nimmt er einen Ruf nach Speyer an, wo er seitdem als Nachfolger seines akademischen Lehrers, der 1972 nach Tübingen gewechselt war, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 den Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht innehat. Ebenfalls im Jahr 1973 tritt er am Europa-Kolleg in Brügge seine erste Gastprofessur im Ausland an, der noch mehrere folgen sollten. 1973 ist auch das Jahr, in dem er Elisabeth Gräfin von Ballestrem heiratet, mit der er ein weltoffenes Interesse an Kunst und Kultur teilt. Mit ihr und den beiden 1975 und 1977 geborenen Söhnen Philipp und Johannes kann er später (1982/83 und 1988/89) auch seine jeweils einjährigen Gastprofessuren an der Nationaluniversität von Singapur verwirklichen; der Standort ist zugleich Ausgangspunkt für Reisen durch Südostasien. In diese Weltregion sollte er immer wieder zurückkehren. Vorträge und Beratungseinsätze führen ihn nach Sri Lanka, Pakistan, Indien und Thailand. In Thailand begleitet er in den neunziger Jahren im Rahmen eines von der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten mehrjährigen Projekts zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und zur Modernisierung der Gesetzgebung Reformvorhaben des Thailändischen Staatsrats, insbesondere die Ausarbeitung eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, später, bis ins Jahr 2002, auch den Aufbau einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sein Wirkungskreis in Asien reicht bis nach China, wo er im Jahr 2004 zum Ehrenvorstandsmitglied der Chinesischen Gesellschaft für öffentliche Verwaltung in Beijing ernannt wird. Sein Wirken in Asien führte kaum zu einer Verminderung seines wissenschaftlichen Engagements in Europa, wo außerhalb Deutschlands vor allem weiterhin Frankreich, aber in der Tradition Roman Schnurs auch der Dialog mit Polen, insbesondere im Rahmen der deutsch-polnischen Verwaltungskolloquien, im Vordergrund stand. Enge Bande knüpfte er zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Aix-en-Provence, die ihn im Jahr 1983 zu ihrem Ehrendoktor ernannte. Regelmäßig wirkt er bis heute als deutscher Vertreter an den in Aix-en-Provence vom Centre de Recherches Administratives organisierten „Tables Rondes“ mit, die zunächst von Charles Debbash, später von Jean-Marie Pontier geleitet wurden und deren Länderberichte zu bestimmten Themen, ergänzt durch Jahreschroniken, in dem Annuaire européen d’administration publique veröffentlicht werden. Ko-Autorenschaften der Chroniken verbanden ihn mit Michel Fromont, dem bekannten französischen Rechtsvergleicher und Mediator zwischen der französischen und der
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deutschen Rechts- und Verwaltungskultur. Aus der gemeinsamen Herausgabe der im Jahre 1988 erschienenen Studie „Making European Policies Work – L’Europe des Administrations?“, der ersten systematischen Vergleichung der Implementierung des Gemeinschaftsrechts, entwickelte sich eine kollegiale Freundschaft mit dem disziplinenübergreifend arbeitenden Rechts- und Verwaltungswissenschafter Jacques Ziller. In Speyer pflegte Heinrich Siedentopf die Verbindung zur École Nationale d’Administration, die – 1946 gegründet – auch bei der Errichtung der Speyerer Hochschule durch die französische Besatzungsmacht im Jahre 1947 Pate stand, unbeschadet der Tatsache, dass beide Einrichtungen wegen der unterschiedlichen Staatsstruktur und Verwaltungskultur verschiedene Profile aufweisen. Regelmäßig veranstaltet Heinrich Siedentopf bis heute gemeinsame Seminare für Speyerer Hörer und Eleven der ENA, in denen Themen der Staats- und Verwaltungsreform diskutiert werden. Seine zahlreichen internationalen Aktivitäten verband Heinrich Siedentopf mit einem hohen Grad an Identifikation mit seiner Speyerer Alma Mater. Als prominenter Vertreter der verwaltungswissenschaftlichen Lehrbank wirkte er maßgeblich an der interdisziplinären Profilbildung der Hochschule mit. Seine Vorlesung „Einführung in die Verwaltungswissenschaft“ zählte zu den Kernveranstaltungen des Speyerer Lehrangebots. Rechtsreferendaren wurde hier häufig erstmals bewusst, dass das öffentliche Recht nur einen begrenzten analytischen Zugang zu Organisation und Tätigkeit einer nationalen öffentlichen Verwaltung eröffnet und dass bei Reformen sozialwissenschaftliche Perspektiven und verwaltungskulturelle Prägungen zu berücksichtigen sind. Zentrale Themen in Forschung und Lehre waren für Heinrich Siedentopf neben seinen europabezogenen Schwerpunkten der öffentliche Dienst, Personalmanagement, Regierungsorganisation sowie Kommunalverwaltung und Dezentralisierung. Sein wissenschaftliches Wirken hat sich dabei immer durch eine starke Verbindung zur Praxis ausgezeichnet. Daher war er häufig als Sachverständiger gefragt, so etwa bei der kommunalen Gebiets- und Funktionalreform in Nordrhein-Westfalen und später bei der kommunalen Funktionalreform in Sachsen oder im Rahmen eines im Auftrag des österreichischen Bundeskanzleramts durchgeführten Projekts über „Personalpolitik und Führung“. Auch bei der Vorbereitung des öffentlichen Dienstes auf den Beitritt zur Europäischen Union suchte das österreichische Bundeskanzleramt seinen Rat. Seine reiche wissenschaftliche und praktische Erfahrung gab Heinrich Siedentopf an die jüngere Generation nicht nur durch Lehrveranstaltungen und durch Einbindung in Forschungsprojekte weiter, sondern auch im Rahmen der von ihm geleiteten, für Nachwuchswissenschaftler bestimmten Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft. Heinrich Siedentopf hat mehrfach in der Selbstverwaltung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Verantwortung übernommen. Sein
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Rektoramt, das er in den Jahren 1983 bis 1985 wahrnahm, übte er mit der ihm eigenen Gradlinigkeit, Effektivität und Souveränität aus. Bei Gegenwind, so etwa, als im Zusammenhang mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde an den scheidenden Bundespräsidenten Karl Carstens Konflikte mit Hörern (Studierenden) auftraten, gelang es ihm stets, zum sachlichen Gespräch zurückzufinden und argumentativ zu überzeugen. In besonderer Weise war Heinrich Siedentopf an der Entwicklung der Weiterbildungsformate der Hochschule beteiligt. Mit seinem Namen verbindet sich die gemeinsam mit Carl Böhret ins Werk gesetzte Gründung des Führungskollegs Speyer, in dem für Leitungsfunktionen vorgesehene Beamte aus den teilnehmenden Ländern in über einen längeren Zeitraum verteilten Kurswochen durch ein anspruchsvolles Programm auf ihre Führungsaufgaben vorbereitet werden. Die Durchführung eines Führungskollegs stellt nicht zuletzt hohe Anforderungen an den jeweiligen Kollegleiter. Heinrich Siedentopf hat sich dieser Herausforderung mit großem persönlichen Engagement und Erfolg zweimal gestellt: Er war wissenschaftlicher Beauftragter des ersten und des vierten Führungskollegs Speyer. Unter seinen weiteren Weiterbildungsveranstaltungen ist das gemeinsam mit Siegfried Magiera seit 1990 jährlich abgehaltene viertägige Europa-Seminar Speyer hervorzuheben, durch das die Europa-Kompetenz der Hochschule auch in der Weiterbildung deutlich sichtbar wurde. Den Diskurs zwischen Disziplinen und über nationale Grenzen hinweg hat Heinrich Siedentopf nachhaltig durch die langjährige Herausgeberschaft der dem Öffentlichen Recht und der Verwaltungswissenschaft gewidmeten Fachzeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung“ (DÖV) gefördert. Gemeinsam mit dem verwaltungspraktisch erfahrenen Eberhard Laux übernahm er nach dem Tod von Frido Wagener im Jahr 1985 die Schriftleitung der DÖV, die er bis heute, seit 2002 gemeinsam mit Karl-Peter Sommermann, innehat. Das durch ihn geprägte Profil der DÖV zeichnet sich einerseits durch disziplinäre und internationale Offenheit aus, andererseits durch eine anspruchsvolle Verbindung von Wissenschaft und Praxis. Die Autoren der DÖV, darunter nicht zuletzt der wissenschaftliche Nachwuchs, haben Heinrich Siedentopf als engagierten, für neue Perspektiven aufgeschlossenen Schriftleiter kennengelernt, der zugleich darauf achtet, dass wissenschaftliche Standards eingehalten und Erkenntnisse vermittelt werden, die einer nüchternen Betrachtung standhalten. Das hohe Ansehen und die große Wertschätzung, die sich Heinrich Siedentopf im In- und Ausland erworben hat, kommen zum einen in einer Reihe von Funktionen zum Ausdruck, die ihm angetragen wurden, so etwa der Vorsitz im Wissenschaftlichen Beirat des Europäischen Instituts für Öffentliche Verwaltung in Maastricht, den er von 1984–1990 wahrnahm, oder die Präsidentschaft der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts
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für Verwaltungswissenschaften, die er von 1992 bis 1996 innehatte, zum anderen in zahlreichen Ehrungen. Neben der bereits erwähnten Ehrenpromotion durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Aix-enProvence sei nur die ihm zweimal verliehene Verdienstmedaille der École Nationale d’Administration, das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland am Bande und die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion durch den Präsidenten der Französischen Republik genannt, die am Tag der Übergabe dieser Festschrift durch den französischen Botschafter in Speyer vollzogen werden soll. Einer offiziellen Mitteilung ist zu entnehmen, dass Heinrich Siedentopf in diesem Jahr auch das Große Silberne Ehrenzeichen der Republik Österreich erhalten wird. Wer den Geehrten kennengelernt hat, weiß, dass Heinrich Siedentopf jedes Pathos und jede Selbstgefälligkeit fremd sind. Er beeindruckt durch eine mit Prinzipientreue gepaarte Toleranz, große integrative Fähigkeiten, durch die er auch in konfliktreichen Situationen stets zur Sachlichkeit zurückführen kann, und eine feine Ironie. Neben seinen Verpflichtungen als Hochschullehrer nimmt er seit langem ehrenamtlich soziale Verantwortung wahr, so bis vor kurzem im Johanniter-Orden als Regierender Kommendator der Genossenschaft Rheinland-Pfalz-Saar. Die Gastfreundschaft des Ehepaars Siedentopf, das in einem malerisch, oberhalb eines Weinbergs gelegenen ehemaligen Künstlerhaus in Godramstein bei Landau wohnt, haben zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland genießen dürfen. Zu den großen Gaben von Heinrich Siedentopf zählt nicht zuletzt die Fähigkeit, in den unterschiedlichsten Kontexten, auch in fernen Kulturkreisen, stilsicher die richtigen Worte zu finden. Auf diese Weise gewinnt er zu seinen Gesprächspartnern stets rasch Zugang. Seine Wahrnehmung im In- und Ausland ist neben Hochachtung durch Sympathie und großes Vertrauen geprägt. Möge er in diesem Sinne noch lange zwischen Kulturen, Wissenschaftsdisziplinen und Menschen Brücken bauen. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Beiträge zur vorliegenden Festschrift, mit denen sie nicht nur ein Zeichen der Wertschätzung geben, sondern auch Themen aus den Hauptgebieten des wissenschaftlichen Schaffens von Heinrich Siedentopf aufgreifen und häufig seine Gedanken und Analyseansätze weiterführend erörtern. Bei den redaktionellen Arbeiten zur Festschrift wurden die Herausgeber tatkräftig unterstützt. Dank gebührt insbesondere Frau Beate Bukowski, Frau Dr. Katrin Krehan, Frau Marion Pfundstein und Frau Marliese Puhr. Speyer/Pavia, im April 2008
Siegfried Magiera, Karl-Peter Sommermann, Jacques Ziller
Inhaltsverzeichnis Verwaltung im europäischen und internationalen Kontext Internationale Organisationen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht am Beispiel der World Trade Organization Eberhard Bohne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Le contrôle juridictionnel des règlements administratifs en Europe Michel Fromont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Good and Global Governance – Folgen und Nebenwirkungen für die Parlamente Klaus-Eckart Gebauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Integration von Zuwanderern – ein neues Politikfeld für die Europäische Union Christoph Hauschild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung in der Europäischen Union Siegfried Magiera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die europäische Verwaltung der Europäischen Union Matthias Niedobitek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Überlegungen zu Begriff und Funktionskreisen des Internationalen Verwaltungsrechts Eberhard Schmidt-Aßmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Verwaltungskontrolle im Europäischen Verwaltungsraum: zur Synchronisierung der Entwicklung von Verwaltungsrecht und Verwaltungskontrolle Karl-Peter Sommermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Der Europäische Verwaltungsraum Andrzej Wasilewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
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Die Zuverlässigkeitserklärung des Europäischen Rechnungshofs nach Art. 248 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und ihre Auswirkungen auf Recht und Praxis der Mitgliedstaaten Hedda von Wedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Europa im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und sozialem Anspruch: Die Antwort des Vergaberechts Jan Ziekow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Bezugsquellen und Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts Jacques Ziller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Verwaltung und Verfassungsstaat Über die Verwaltung der Dritten Gewalt Ludwig Adamovich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Reclaiming Public Space Demetrios Argyriades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Demokratie in Deutschland Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Erhebungen des Bundesrechnungshofs im Bereich der Steuerverwaltung Dieter Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Demokratie und Rechtsstaat in der Verfassung Rumäniens Detlef Merten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Rudolph Delbrück – Präsident des Bundes- und Reichskanzleramts 1867–1876 Rudolf Morsey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Frei – sozial – auch sicher? Sicherheit als Rechts- und Verfassungsprinzip im Wandel zur „neuen Staatlichkeit“ Rainer Pitschas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Bürgernähe der Verwaltung Günter Püttner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Inhaltsverzeichnis
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Ewigkeit im Kontext der Rechtfertigung von Verfassungen Gerd Roellecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Legislative Handlungsmöglichkeiten und Handlungspflichten nach der Föderalismusreform Edzard Schmidt-Jortzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Zehn Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz in Thailand: der Verwaltungsakt in der Rechtsprechung der thailändischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Pensri Wongsaree . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Beobachtungen beim Demokratietransfer Wolfgang Zeh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Kommunale Selbstverwaltung Die demografische Krise. Verwaltungswissenschaftliche Steuerungsansätze zur Bewältigung des demografischen Wandels in den Kommunen Hartmut Bauer und Frauke Brosius-Gersdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Verfassungsstaatliche Textstufen in Sachen kommunaler Selbstverwaltung – eine Skizze Peter Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Der Kreis – Bindeglied zwischen Staat und Gemeinden Hans-Günter Henneke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Der hauptamtliche Bürgermeister als Beamter Janbernd Oebbecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Kommunale Spitzenverbände in Deutschland Gunnar Schwarting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Kommunalrecht und Rechtsstaatsprinzip Rolf Stober . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch regelmäßigen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis Christof Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
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Öffentlicher Dienst Comment rendre les hauts fonctionnaires « imputables » (accountable)? Jean-Luc Bodiguel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Leistungsorientierte Bezahlung im öffentlichen Dienst – Probleme und Lösungsansätze Hans Peter Bull . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Reformen der Personalpolitiken in den öffentlichen Diensten der EU-Mitgliedstaaten – Europäisierung oder Differenzierung? Christoph Demmke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Der öffentliche Dienst – gut aufgestellt für die Zukunft? Hermann Hill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Neue Steuerung und Mitarbeiterführung Rainer Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Beamtenrechtliche Zielvereinbarungen Hans-Werner Laubinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Leistungsbezahlung im öffentlichen Sektor unter dem Regime der „Kostenneutralität“: Warum sie nicht wirklich funktionieren kann Holger Mühlenkamp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Abschied vom Beamtentum in Österreich? Theo Öhlinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Das Laufbahnrecht in der Gesetzgebungskompetenz der Länder Matthias Pechstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes und Europakompetenz öffentlich Bediensteter Benedikt Speer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Einheit des öffentlichen Dienstes und Alimentationsprinzip Werner Thieme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
Inhaltsverzeichnis
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Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspolitik Government und Governance im 21. Jahrhundert. Politische und rechtliche Aspekte neuer Steuerungsmodelle Hermann-Josef Blanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Verwaltungswissenschaft mit praktischer Absicht: Friedrich List Carl Böhret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 A propos de la gouvernance Francis Delpérée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Zum gegenwärtigen Stand der Verwaltungslehre in Österreich Gerhart Holzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 Verwaltungswissenschaft im Zeichen der Globalisierung und Europäisierung Klaus König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 La réforme administrative, préoccupation d’hier, d’aujourd’hui, de demain? Jean-Marie Pontier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 Über die Veränderbarkeit des Seins: Scheitern Verwaltungsreformen? Heinrich Reinermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Governance – Good Governance Franz Strehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 Les habits neufs de l’action publique Gérard Timsit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Tabellarischer Lebenslauf von Heinrich Siedentopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907
Verwaltung im europäischen und internationalen Kontext
Internationale Organisationen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht am Beispiel der World Trade Organization Eberhard Bohne I. Problemstellung Internationale Organisationen (IOen) werden seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts von Staaten gegründet, um bestimmte gemeinsame Probleme zu lösen und Interessen auszugleichen. Eine IO in diesem Sinn besitzt mindestens drei Staaten als Mitglieder und beruht auf einer formalen völkerrechtlichen Vereinbarung.1 Es gibt derzeit weltweit ca. 250 IOen.2 Die meisten IOen haben regionale, einige auch globale Zuständigkeiten (z. B. UN, WTO). Ihre Aufgaben betreffen überwiegend spezielle Politikbereiche (z. B. Handel, Umwelt, Gesundheit). In einigen Fällen umfassen sie aber auch eine Vielzahl von Politikfeldern (z. B. UN, OAS). Zu den Aktivitäten von IOen gehören3 – das Sammeln, Analysieren und Verbreiten von Informationen, – die Veranstaltung internationaler Konferenzen, – das Entwerfen völkerrechtlicher Verträge, – die Überwachung vertragstreuen Verhaltens der Mitgliedstaaten, – das Festlegen fachlicher Standards, – die Bereitstellung technischer, fachlicher und finanzieller Hilfe. Angesichts der großen politischen und praktischen Bedeutung von IOen sollte man annehmen, dass sie als Teil der öffentlichen Verwaltung begriffen werden und ein zentraler Forschungsgegenstand der Verwaltungswissenschaft sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Diese Feststellung gilt allerdings nicht für die EU, die eine IO ist und mit ihren Auswirkungen auf die natio1 Vgl. M. P. Karns/K. A. Mingst, International Organizations, 2004, S. 7; P. Willetts, Transnational actors and international organizations in global politics, in: J. Baylis/S. Smith (Hrsg.), The globalization of world politics, 2006, S. 440. 2 Siehe V. Rittberger/B. Zangl, Internationale Organisationen, 3. Aufl., 2003, S. 18. 3 Siehe Karns/Mingst, International Organizations (Fn. 1), S. 9.
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nalen Verwaltungen zu den Themenschwerpunkten der Verwaltungswissenschaft gehört. Die EU wird hier aber nicht behandelt, weil sie sich als supranationale Organisation wesentlich von den übrigen IOen unterscheidet. In den Lehrbüchern und grundlegenden Werken der deutschen Verwaltungswissenschaft und Verwaltungslehre werden IOen so gut wie nicht behandelt; in den Stichwortverzeichnissen findet sich meist nicht einmal der Eintrag „internationale Organisation“.4 Soweit ersichtlich, enthalten lediglich die Lehrbücher von Thieme5 und Püttner6 kurze Hinweise auf Merkmale von IOen, verbunden mit der Mahnung, dass sich die Verwaltungswissenschaft in Zukunft dieser Thematik annehmen möge. In der US-amerikanischen Verwaltungswissenschaft ist die Lage ähnlich. In führenden Lehrbüchern zu Public Administration finden sich keine Hinweise auf IOen; die Stichwortverzeichnisse enthalten ebenfalls nicht den Eintrag „international organization“.7 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Verwaltungswissenschaft und Public Administration herkömmlicherweise von einer nationalstaatlichen Binnensicht beherrscht werden. Die vergleichende Verwaltungswissenschaft erweitert zwar den Horizont über einzelne nationale Verwaltungen hinaus, konzentriert sich aber auf den Vergleich staatlicher Verwaltungen, wobei ein Schwerpunkt bei den Entwicklungsländern liegt, und überlässt IOen den Internationalen Beziehungen, einer Teildisziplin der Politikwissenschaft.8 IOen sind vornehmlich Gegenstand der Internationalen Beziehungen.9 Abgesehen von Max Webers Bürokratiemodell, spielen aber organisations4 Dies zeigt die Durchsicht der Werke von F. Morstein Marx (Hrsg.), Verwaltung, 1965; K. König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft, 1970; J. J. Hesse (Hrsg.), Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, PVS-Sonderheft 13, 1982; B. Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989; G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000; N. Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre, 2004; J. Bogumil/W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, 2005; B. Blanke/S. von Bandemer/F. Nullmeier/G. Wewer (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2005. 5 W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl., 1984, Rdnr. 129 ff. 6 G. Püttner, Verwaltungslehre, 4. Aufl., 2007, S. 52, und ders., Internationale Verwaltung, in: P. Eichhorn u. a. (Hrsg.), Verwaltungslexikon, 3. Aufl., 2003, S. 515–517. 7 Vgl. D. H. Rosenbloom/R. S. Kravchuk, Public Adminstration, 2005; H. F. Gortner/K. L. Nichols/C. Ball, Organization Theory, A Public and Nonprofit Perspective, 3. Aufl., 2007; N. Henry, Public Adminstration and Public Affairs, 10. Aufl., 2007; M. E. Milakovich/G. J. Gordon, Public Administration in America, 9. Aufl., 2007. 8 Zur Rolle der vergleichenden Verwaltungswissenschaft siehe F. Heady/B. Perlman/M. Rivera, Issues in Comparative and International Administration, in: J. Rabin/W. B. Hildreth/G. J. Miller (Hrsg.), Handbook of Public Administration, 3. Aufl., 2007, S. 605–631, 607 f. 9 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 1 und 2.
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oder verwaltungswissenschaftliche Konzepte im Rahmen der Internationalen Beziehungen keine Rolle. Dies überrascht, wenn man IOen als Teil der öffentlichen Verwaltung begreift. Daher fragt sich, inwieweit die Verwaltungswissenschaft einen weiterführenden Beitrag zur Analyse, Erklärung und Bewertung des Handelns von IOen leisten kann. Hierzu sind zunächst Untersuchungsansätze der Internationalen Beziehungen zu erläutern. Alsdann werden ein verwaltungswissenschaftliches Untersuchungskonzept für IOen dargestellt und sein theoretischer „Mehrwert“ am Beispiel der WTO demonstriert. II. Internationale Organisationen aus der Sicht internationaler Beziehungen 1. Staatszentrierte Konzepte internationaler Organisationen Nach der klassischen „realistischen Theorie“ sind internationale Beziehungen im Prinzip ein fortwährender Kampf der Staaten untereinander um Macht und Überleben. Ähnlich denken Vertreter neorealistischer und bestimmter institutionalistischer Theorieansätze.10 Aus dieser staatszentrierten Sicht sind Akteure internationaler Beziehungen allein die souveränen Staaten und nicht IOen. Folglich werden IOen lediglich als Instrumente mächtiger Staaten zur Durchsetzung ihrer Interessen verstanden.11 Dabei wird die rechtliche Eigenschaft von IOen als juristische Personen und Völkerrechtsobjekte nur als juristischer Formalismus betrachtet, der IOen keine Handlungsautonomie gegenüber den Mitgliedstaaten verleiht. Die gleiche staatszentrierte Sichtweise liegt auch dem Bild der IOen als „Arena“ zugrunde. Danach bilden IOen ein Verhandlungsforum für die Nationalstaaten. Funktional sind sie eine „konferenzdiplomatische Dauereinrichtung“12, die die personelle und administrative Infrastruktur für die Verhandlungen der Staaten bereitstellt. Während in den Bildern des Instruments und der Arena ein mechanistisches Verständnis von IOen zum Ausdruck kommt, werden IOen im Bild des „Staatenclubs“ als Handlungskollektive begriffen.13 Allerdings sind auch hier die Staaten alleinige Akteure. Sie 10
Siehe Rittberger/Zangl, Internationale Organisationen (Fn. 2), S. 35 ff. Vgl. G. D. Ness/S. R. Brechin, Bridging the gap: international organizations as organizations, International Organization 42, 1988, S. 245–273, 269; Rittberger/ Zangl, Internationale Organisationen (Fn. 2), S. 23, 36. 12 Vgl. Rittberger/Zangl, Internationale Organisationen (Fn. 2), S. 23. 13 Siehe R. O. Keohane/J. S. Nye, The club model of multilateral cooperation and problems of democratic legitimacy, in: R. B. Porter/P. Sauvé/A. Subramanian/A. B. Zampetti (Hrsg.), Efficiency, equity, and legitimacy, 2001, S. 264–294, 265 f. 11
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bündeln lediglich in der IO ihre Ressourcen, richten in der Regel ein Sekretariat für kollektiv benötigte Dienstleistungen ein und streben abgestimmte kollektive Aktionen an. Staatenclubs werden daher auch als „kollektive Akteure“ bezeichnet.14 NATO und WTO sind hierfür oft genannte Beispiele. Allerdings besitzen IOen auch nach dem Clubmodell keine selbständige Akteursqualität im Verhältnis zu den staatlichen Clubmitgliedern, deren politische Interessen und Präferenzen das Handeln von IOen bestimmen. Angesichts des wachsenden politischen Einflusses von NGOs im internationalen Bereich wird verschiedentlich vorgeschlagen, das Modell des Staatenclubs für IOen zu einem „Multistakeholder“-Modell zu erweitern, das auch NGOs einbezieht.15 Damit wird die staatszentrierte Sicht durch ein Verständnis von IOen abgelöst, das das Zusammenwirken von Staaten und NGOs betont. Freilich misst auch das „Multistakeholder“-Modell den IOen keine eigene Akteursqualität zu. Demgegenüber geht der Principal-Agent-Ansatz, der verschiedentlich zur Analyse von IOen herangezogen wird16, von einer – zumindest begrenzten – Handlungsautonomie von IOen im Verhältnis zu den Staaten aus. Letztere werden als „Principals“ der IOen (Agents) begriffen, die dazu tendieren, „weniger oder anderes zu tun als die Prinzipale erwarten“.17 Auch bei diesem Untersuchungsansatz stehen also die Interessen und Präferenzen der Staaten im Mittelpunkt. Eigene Interessen der IOen werden unterstellt, ihre Herkunft aber wird nicht begründet.18 2. Internationale Organisationen als Bürokratien Bedenkt man, dass IOen oft Hunderte oder Tausende von Verwaltungsbediensteten besitzen (vgl. die UN mit 33.000 Beschäftigen weltweit, die WTO mit ca. 600 Beschäftigten in Genf), so erscheint das staatszentrierte Verständnis von IOen als staatliche Instrumente, Arenen, Clubs oder Agen14 Dazu: F. W. Scharpf, Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, 2000, S. 103 f. 15 Siehe B. Hocking, Changing the terms of trade policy making: from the „club“ to the „multistakeholder“ model, World Trade Review 2004, S. 3–26. 16 Siehe zur Anwendung des Principal-Agent-Ansatzes auf die Weltbank: D. L. Nielsson/M. T. Tierney, Delegation to international organizations: Agency theory and World Bank environmental reform, International Organization 57, 2003, S. 241–276. 17 So: A. Liese/S. Weinlich, Die Rolle von Verwaltungsstäben internationaler Organisationen. Lücken, Tücken und Konturen eines (neuen) Forschungsfelds, in: J. Bogumil/W. Jann/F. Nullmeier (Hrsg.), Politik und Verwaltung, 2006, S. 491–524, 504. 18 Kritisch: M. Barnett/M. Finnemore, Rules for the world, 2004, S. 4.
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ten als etwas „naiv“.19 Daher schlägt das Pendel der Theorie Internationaler Beziehungen gegenwärtig in die entgegengesetzte Richtung aus, indem IOen in Anlehnung an Max Webers Bürokratiemodell als Bürokratien betrachtet werden. Diese treten im Rahmen der völkerrechtlichen Vereinbarungen, denen IOen ihre Entstehung verdanken, als relativ autonome Akteure gegenüber den Mitgliedstaaten auf.20 Bürokratiemerkmale von IOen sind nach dieser Sichtweise Hierarchie und Zuständigkeitsregeln, Kontinuität mit einer auf vollberufliche Beschäftigung angelegten Vergütungsstruktur, Unpersönlichkeit regelgebundenen Handelns und Fachkompetenz der Bediensteten.21 Das Bürokratiemodell mag zum besseren Verständnis von IOen mit großen und tief gegliederten Verwaltungsapparaten wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds beitragen, auf deren Analyse sich seine Anwendung auch bislang beschränkt. Für das Verständnis von IOen mit kleineren und weniger formalisierten Verwaltungsapparaten, wie z. B. die WTO, erscheint das Bürokratiemodell weniger geeignet. Zum einen weist das Handeln dieser IOen in unterschiedlichen Aufgabenbereichen unterschiedliche Grade der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von den Mitgliedstaaten auf. Typisch sind für IOen eher Mischformen von staatlicher Abhängigkeit und begrenzter Autonomie.22 Zum anderen konzentriert sich das Bürokratiemodell auf die formalen Strukturen von IOen und blendet informale Handlungsweisen weitgehend aus.23 Gerade diese sind aber vielfach kennzeichnend für IOen wie die WTO.24 3. Internationale Organisationen als Interaktionssysteme Um die Einseitigkeiten staatszentrierter Verständnisse und des Bürokratiemodells von IOen zu vermeiden, begreifen verschiedene Ansätze der Theorie Internationaler Beziehungen die IOen als Elemente von Interaktionssystemen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure. Aus der Sicht der Regimetheorie, der politischen Systemtheorie und der Theorie politischer Netzwerke sind IOen mehr als nur staatliche Instrumente, Arenen, Clubs oder Agenten und weniger als staatenunabhängige Akteure. 19 So: Ness/Brechin, Bridging the gap: international organizations as organizations (Fn. 11), S. 269. 20 Siehe Barnett/Finnemore, Rules for the world (Fn. 18), S. 5, 20 ff., 27. 21 Siehe Barnett/Finnemore, Rules for the world (Fn. 18), S. 17 f. 22 Dazu unten IV.2. 23 Barnett/Finnemore, Rules for the world (Fn. 18), S. 29, 38, weisen zwar allgemein auf die Bedeutung informaler Regeln hin, ziehen hieraus aber keine theoretischen Folgerungen, wie sie etwa im Konzept der informalen Organisation zum Ausdruck kommen. 24 Dazu unten IV.3.
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Nach einer gängigen Definition sind „Regime“ institutionelle Arrangements aus Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsprozeduren, die im Bereich Internationaler Beziehungen die Verhaltenserwartungen von Akteuren dauerhaft in Übereinstimmung bringen und dazu beitragen, das Verhalten der Akteure zu koordinieren.25 Zweck des Regimebegriffs ist es, internationale Regelwerke als handlungskoordinierende soziale Institutionen von Staaten zu unterscheiden, ohne diesen Regelwerken eine selbständige Akteursqualität beizumessen.26 Vertreter des Regimekonzepts betrachten z. B. die WTO – ähnlich wie das vorangegangene General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) – als internationales Regime und nicht als eine IO mit Akteursqualität. Denn die WTO besitze keinen „eigenen Willen“, der sich von dem der Mitgliedstaaten unterscheide.27 Die Schwäche des Regimebegriffs besteht in theoretischer Hinsicht darin, dass das empirische Substrat normativer Regelwerke nicht deutlich gemacht wird. Nur indirekt lässt sich erschließen, dass wohl regelbezogene Handlungen gemeint sind. Dies kommt in dem zentralen Konzept des „eigenen Willens“ zum Ausdruck, der für die Akteursqualität von IOen konstitutiv sein soll. Denn der „Wille“ manifestiert sich empirisch in Handlungen. Freilich ist die Situationsabhängigkeit des Handlungswillens kaum geeignet, ein dauerhaftes Organisationsmerkmal zu begründen. Im Übrigen ist der Regimebegriff so unbestimmt, dass er eine Vielzahl unterschiedlicher Institutionen „in einen Topf wirft“ und die Dinge so verunklart. Kritiker werfen daher dem Regimebegriff vor, dass er ein „intellektuelles Chaos“ anrichte.28 Theoretisch fundierter als das Regimekonzept ist der systemtheoretische Ansatz von Cox und Jacobson. In Anlehnung an die politische Systemtheorie werden IOen als Handlungssysteme begriffen, die aus „Participant Subsystems“ und „Representative Subsystems“ bestehen.29 Zu den „Participant Subsystems“ gehören alle kollektiven und individuellen Akteure, die tatsächlich an den Entscheidungsprozessen einer internationalen Organisation teilnehmen. Dies sind Bedienstete der IOen, Vertreter der Mitgliedstaaten und sonstige teilnehmenden Akteure. Unter dem Begriff „Representative 25 Vgl. S. D. Krasner, Structural causes and regime consequences: Regimes and intervening variables, International Organization 36, 1982, S. 185–205, 185; R. Little, International regimes, in: J. Baylis/S. Smith (Hrsg.), The globalization of world politics, 3. Aufl., 2006, S. 369–386, 373. 26 Vgl. Rittberger/Zangl, Internationale Organisationen (Fn. 2), S. 25; M. E. Footer, An institutional and normative analysis of the World Trade Organization, 2006, S. 6 ff. 27 So: Footer, An institutional and normative analysis of the World Trade Organization (Fn. 26), S. 78. 28 So: J. M. Rochester, The rise and fall of international organizations as a field of study, International Organization 40, 1986, S. 777–813, 800. 29 Siehe R. W. Cox/H. K. Jacobsen, The autonomy of influence, 1973, S. 16 f.
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Subsystem“ werden alle Akteure zusammengefasst, deren Handlungen die Positionen der am Entscheidungsprozess unmittelbar beteiligten Akteure beeinflussen. Hierzu werden u. a. betroffene nationale Ministerien und Interessengruppen (z. B. Industrieverbände, Gewerkschaften) sowie transnationale Akteure wie die Internationale Handelskammer, die Katholische Kirche etc. gerechnet. Die Vertreter nationaler Regierungen werden auch als „Country Subsystems“ bezeichnet. „Representative Subsystem“ und „Participant Subsystem“ können sich überlappen, wenn beispielsweise Mitglieder des „Representative Subsystem“ am Entscheidungsprozess der IO teilnehmen und damit zugleich Angehörige des „Participant Subsystem“ werden. Die Konzeption von IOen als politische Systeme bildet einen theoretischen Bezugsrahmen für die Analyse der Entscheidungsprozesse von IOen und des Einflusses der verschiedenen Akteure.30 Auf diese Weise wird die Akteursqualität von IOen zum empirischen Untersuchungsgegenstand und ist nicht nur aus den Postulaten staatszentrierter Konzepte oder des Bürokratiemodells abgeleitet. Auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse von acht IOen kommen Cox und Jacobson u. a. zu dem Ergebnis, dass die Unabhängigkeit von IOen gegenüber den Mitgliedstaaten zunimmt, je geringer die politische Bedeutung ihrer Aufgaben für mächtige Staaten ist.31 Teilweise wird die Unabhängigkeit von IOen (z. B. IMF, Weltbank) auch dahingehend differenziert, dass sie zwar gegenüber Entwicklungsländern, nicht aber gegenüber den mächtigen Industrieländern besteht.32 Kritisch ist anzumerken33, dass keine Kriterien für die politische Gewichtigkeit (salience) der Aufgaben von IOen gegeben werden, obwohl diese für den Umfang der Unabhängigkeit von IOen entscheidend ist. Dem Zusammenhang ist zu entnehmen, dass Wirtschaftsangelegenheiten zu den Aufgaben von IOen gehören, die von großer politischer Bedeutung für mächtige Staaten sind. Der Gedanke des Interaktionssystems liegt auch neueren Theorieansätzen zugrunde, die internationale Beziehungen als Geflecht informaler Politiknetzwerke begreifen und hierin bereits die Konturen einer „neuen Weltordnung“34 zu erkennen glauben. Internationale Politiknetzwerke bestehen je nach Aufgabenbereich und Politikfeld aus öffentlichen Bediensteten, Parlamentariern, Richtern, Wirtschaftsvertretern, NGOs und Experten, die in 30
Siehe Cox/Jacobsen, The autonomy of influence (Fn. 29), S. 3 f., 35. Siehe Cox/Jacobsen, The autonomy of influence (Fn. 29), S. 426 f. 32 Siehe Cox/Jacobsen, The autonomy of influence (Fn. 29), S. 424; H. Hazelzet, The decision-making approach to international organizations: Cox and Jacobson’s anatomic lessons revisited, in: B. Reinalda/B. Verbeek (Hrsg.), Autonomous policy making by international organizations, 1998, S. 27–41, 36. 33 Vgl. Hazelzet, The decision-making approach to international organizations: Cox and Jacobson’s anatomic lessons revisited (Fn. 32), S. 33. 34 A. M. Slaughter, A new world order, 2005. 31
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einer institutionelle Grenzen überschreitenden Weise Informationen austauschen, Entscheidungen vorbereiten und in sonstiger Weise zusammenarbeiten.35 Sog. „Transgouvernementale Netzwerke“ bestehen parallel zu Staaten und IOen; letztere werden teilweise nur noch als eine „Ansammlung“ (Collection) von Netzwerken verstanden.36 Die Vision dieses Ansatzes ist das Entstehen einer neuen Weltordnung, in der die Hauptakteure nicht mehr Staaten und IOen, sondern lediglich deren in Netzwerken verbundenen Teile sind.37 Dieser Konzeption liegt die zutreffende Beobachtung zugrunde, dass Politiknetzwerke im internationalen Bereich verbreitet sind und dass sich die Teilnahme an Netzwerken oft eher nach fachlichen als nach institutionellen Gesichtspunkten richtet. Allerdings erscheint die These einer gleichrangigen und interdependenten Handlungsparallelität von Staaten, IOen und Politiknetzwerken eher als normatives Wunschdenken denn als politische Realität. Die These verkennt nämlich, dass die Reichweite und Verbindlichkeit von Netzwerkentscheidungen stets unter dem Vorbehalt formaler Entscheidungen von Staaten und internationalen Organisationen stehen. Schließlich wird übersehen, dass die Vielgestaltigkeit und Geschäftigkeit informaler Netzwerktreffen oft mehr administrativen Leerlauf als praktisch-politische Ergebnisse bewirken.38 Zusammenfassend ist mit Liese und Weinlich39 festzustellen, dass die Ansätze der Theorie Internationaler Beziehungen zu IOen von einer gewissen Verwaltungsblindheit geprägt sind. Allerdings bildet das Konzept des Interaktionssystems eine tragfähige Brücke zu einem verwaltungswissenschaftlichen Untersuchungsansatz.
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Siehe Slaughter, A new world order (Fn. 34), S. 14, 51 ff. Siehe Slaughter, A new world order (Fn. 34), S. 153, 161. 37 Siehe Slaughter, A new world order (Fn. 34), S. 162. 38 Beispielsweise stellen die Treffen des von der US Environmental Protection Agency und dem holländischen Umweltministerium gegründeten „International Network for Environmental Compliance and Enforcement (INECE), das Slaughter (A new world order (Fn. 34), S. 3) als Beispiel für ein regulatorisches Netzwerk anführt, eine Art „Verwaltungstourismus“ in attraktive Weltgegenden dar, an denen der Verfasser in den 1990er Jahren verschiedentlich als Regulator teilnehmen konnte. 39 Liese/Weinlich, Die Rolle von Verwaltungsstäben internationaler Organisationen. Lücken, Tücken und Konturen eines (neuen) Forschungsfelds (Fn. 17), S. 501. 36
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III. Elemente eines verwaltungswissenschaftlichen Untersuchungsrahmens für Internationale Organisationen 1. Internationale Organisationen als Teil der öffentlichen Verwaltung Die Entwicklung eines verwaltungswissenschaftlichen Untersuchungsrahmens für IOen setzt voraus, dass IOen zum Gegenstandsbereich der Verwaltungswissenschaft gehören. Wie oben dargelegt, ist das de facto bislang nicht der Fall. Daher ist zu begründen, weshalb IOen als Teil der öffentlichen Verwaltung anzusehen sind. Der Begriff der öffentlichen Verwaltung ist höchst umstritten und verschiedentlich als undefinierbar bezeichnet worden.40 Ohne hier auf die vielfältigen Facetten des Verwaltungsbegriffs eingehen zu müssen, lässt sich sagen, dass die begrifflichen Schwierigkeiten vor allem die Fragen betreffen, inwieweit private Organisationen zur öffentlichen Verwaltung gehören und wie IOen einzuordnen sind. Grundlage der Verwaltungswissenschaft bildet – wohl heute unbestritten – der institutionelle Verwaltungsbegriff41, wobei Gerichte und Parlamente aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht in den institutionellen Verwaltungsbegriff einbezogen werden. Diese sind Gegenstand der Justiz- oder Parlamentsforschung im Rahmen der Rechtssoziologie bzw. Politikwissenschaft. Die öffentliche Verwaltung im institutionellen Sinn ist ein Interaktionssystem aus kollektiven und individuellen Akteuren staatlicher und privater Herkunft. Zur Unterscheidung dieses Interaktionssystems von anderen sozialen Systemen ist es für die Zwecke der Verwaltungswissenschaft sinnvoll, die öffentliche Verwaltung zu definieren als Gesamtheit aller formalen Organisationen – außer Parlamenten und Gerichten –, (1) die vorrangig Gemeinwohlaufgaben wahrnehmen und (2) die im Rahmen ihrer Aufgaben (a) legitimiert sind, Gewalt anzuwenden oder über die Anwendung von Gewalt zu entscheiden (Gewaltmonopol), oder (b) der Weisung oder Aufsicht einer unter (a) genannten Organisation unmittelbar oder mittelbar unterliegen und (3) deren Entstehung bzw. Fortbestand auf Gesetz oder auf der Entscheidung einer unter (2) genannten Organisation beruht. 40 So: W. Leisner, Die undefinierbare Verwaltung, 2002; ähnlich Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 4), S. 73; Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre (Fn. 4), S. 26. 41 Vgl. Püttner, Verwaltungslehre (Fn. 6), S. 25; Bogumil/Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft (Fn. 4), S. 168.
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Nach dieser Definition umfasst die öffentliche Verwaltung öffentlichrechtliche und privatrechtliche Organisationen, Letztere allerdings nur, wenn sie vorrangig Gemeinwohlaufgaben wahrnehmen. Auch Regierungsstellen (z. B. Ministerien) gehören zur öffentlichen Verwaltung. Die rechtliche Unterscheidung zwischen Regierung und Verwaltung ist für die (empirische) Verwaltungswissenschaft nicht sinnvoll. Das Merkmal der Innehabung des Gewaltmonopols ist für den Verwaltungsbegriff unproblematisch, betrifft aber insgesamt nur wenige öffentlichrechtliche Organisationen (d.h. bestimmte Behörden). In den meisten Fällen sind Behörden nicht selbst zur Gewaltanwendung befugt, sondern unterliegen gemäß dem Merkmal 2 b unmittelbar oder mittelbar der Weisung oder Aufsicht einer vorgesetzten Verwaltungsstelle mit dieser Befugnis. Das Bestehen eines solchen Weisungs- oder Aufsichtsverhältnisses ist auch eine Voraussetzung für die Einbeziehung privater Organisationen in die öffentliche Verwaltung (z. B. Stadtwerke in Privatrechtsform). Hinzu kommt das Merkmal 3, nämlich dass die Entstehung bzw. der Fortbestand der privaten Organisation auf der Entscheidung einer Verwaltungsstelle beruht.42 Unter diesen Verwaltungsbegriff fallen auch IOen. Ihre Aufgaben sind im Sinne des ersten Merkmals gemeinwohlorientiert. IOen besitzen zwar kein Gewaltmonopol. Sie unterliegen jedoch der Aufsicht der Mitgliedstaaten, denen sie auch Entstehung und Fortbestand verdanken, und erfüllen damit die Merkmale 2 b und 3. Die Mitgliedstaaten besitzen (territorial begrenzte) Gewaltmonopole als Bestandteil ihrer Souveränität. Durch die Errichtung von IOen werden staatliche Souveränitätsbefugnisse in einem für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Umfang zusammengelegt oder auf die IOen delegiert.43 Nicht zur öffentlichen Verwaltung gehören danach Organisationen wie die International Organization for Standardization (ISO), da sie die Begriffsmerkmale 2 b und 3 nicht erfüllen. Die ISO besteht aus privaten und staatlichen Normierungsstellen, unterliegt aber keiner mitgliedstaatlichen Kontrolle. Die ISO versteht sich zwar selbst als NGO.44 Durch die zahlreichen staatlichen Mitglieder unterscheidet sie sich aber deutlich von 42 Das von Bogumil/Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft (Fn. 4), S. 168, vorgeschlagene Verwaltungsmerkmal der überwiegenden Finanzierung aus öffentlichen Haushalten ist untauglich, weil hiernach z. B. auch private karitative Einrichtungen und Privatschulen zur öffentlichen Verwaltung gehören würden, sofern sie – was oft der Fall ist – überwiegend aus öffentlichen Haushalten finanziert werden. Demgegenüber entfällt die Verwaltungszugehörigkeit dieser privaten Organisationen nach den hier verwendeten Begriffsmerkmalen, weil ihre Entstehung nicht auf der Entscheidung einer Verwaltungsstelle, sondern auf der Entscheidung privater Akteure beruht. 43 Siehe Rittberger/Zangl, Internationale Organisationen (Fn. 2), S. 24. 44 Siehe die Homepage der ISO: .
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NGOs im herkömmlichen Sinn, ohne hierdurch Teil der internationalen öffentlichen Verwaltung zu werden. Im Ergebnis ist festzustellen, dass sich IOen, die der mitgliedstaatlichen Kontrolle unterliegen, zwanglos in den vorgeschlagenen Verwaltungsbegriff einordnen und zum Gegenstandsbereich der Verwaltungswissenschaft gehören. Ihre Nichtbehandlung ist ein verwaltungswissenschaftliches Defizit. 2. Akteurzentrierter Institutionalismus Als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines theoretischen Bezugsrahmens zur verwaltungswissenschaftlichen Analyse von IOen ist der Ansatz des „akteurzentrierten Institutionalismus“ von Mayntz und Scharpf zweckmäßig.45 Denn er verbindet die Akteursperspektive mit der Regelungsstrukturperspektive46, um Entscheidungsprozesse und Entscheidungen zwischen und in Organisationen verschiedener Art zu beschreiben und zu erklären. Damit wird die Einseitigkeit mancher neuerer Governance-Ansätze vermieden, die Regelungsstrukturen an die Stelle von Akteuren in den Mittelpunkt rücken wollen.47 Denn Akteure und Regelungsstrukturen sind für die empirische Analyse gleichermaßen von Bedeutung. Gerade die öffentliche Verwaltung, aber auch andere Organisationen, werden durch Regelungen als Akteure konstituiert, während diese Regelungen erst durch das Handeln der öffentlichen Verwaltung und anderer Organisationen in der Realität wirksam werden. Aufgrund der skizzierten Doppelperspektive des akteurzentrierten Institutionalismus werden Verwaltungsentscheidungen und ihre Auswirkungen mit Merkmalen der Akteure (z. B. Fähigkeiten, Orientierung) und ihrer Interaktionsformen, mit Merkmalen des institutionellen Rahmens, aber auch mit Merkmalen der jeweiligen Problemsituation und mit Faktoren aus der politisch-sozialen Umwelt erklärt.48 Zum institutionellen Rahmen gehören rechtliche und soziale Regelungen, die als „Institutionen“ bezeichnet werden.49 Dies entspricht dem vorherrschenden Sprachgebrauch der Theorieansätze des Institutionalismus, der derzeit eine Renaissance erlebt. 45 Siehe R. Mayntz/F. W. Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, S. 38–72; Scharpf, Interaktionsformen (Fn. 14). 46 So: Mayntz/Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus (Fn. 45), S. 46. 47 Vgl. G. F. Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.), Governance-Forschung, 2005, S. 371–469, 381. 48 Vgl. Scharpf, Interaktionsformen (Fn. 14), S. 85. 49 Vgl. Mayntz/Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus (Fn. 45), S. 45; Scharpf, Interaktionsformen (Fn. 14), S. 77.
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Teil des akteurszentrierten Institutionalismus ist eine Akteurstypologie50, die für die Analyse von IOen zweckmäßig erscheint. Handlungskollektive, deren individuellen Mitglieder durch einen gemeinsamen Handlungszweck von gewisser Dauer verbunden sind, werden als komplexe Akteure bezeichnet. Bei diesen wird unterschieden zwischen korporativen und kollektiven Akteuren. Korporative Akteure sind formale Organisationen, deren Entscheidungen hierarchisch oder nach Mehrheitsregeln getroffen werden. Kennzeichnendes Merkmal ist die weitgehende Unabhängigkeit der Organisationsziele und -präferenzen von den individuellen Zielen und Präferenzen der Organisationsmitglieder sowie die Fähigkeit der Organisation, entsprechend ihren Zielen und Präferenzen zu handeln. Bei IOen, deren Entscheidungen regelmäßig im Einklang mit den Zielen und Präferenzen – zumindest der Mehrheit – ihrer Mitglieder stehen, kann sich in bestimmten Fällen die Zielautonomie auch in der Entscheidungen vorgelagerten Einflussnahme auf die Ziele und Präferenzen der Mitgliedstaaten manifestieren.51 Demgegenüber verfügen kollektive Akteure über keine Zielautonomie, wenngleich auch sie – wie im Falle von IOen – formale Organisationen sein können. Die Entscheidungen kollektiver Akteure werden weitgehend durch die Ziele und Präferenzen der Organisationsmitglieder bestimmt. Es wird zwischen den Akteurstypen Club, Verband, soziale Bewegung und Koalition unterschieden. Für die Analyse von IOen ist der Club-Typ von besonderem Interesse, weil IOen wie z. B. die WTO oft als Staatenclub bezeichnet werden.52 ClubMerkmale sind die Bündelung personeller und finanzieller Ressourcen wie z. B. die Einrichtung eines Sekretariats und ein einheitliches Budget, während die Entscheidungen weitgehend von den Zielen und Präferenzen der Club-Mitglieder bestimmt werden. Hervorzuheben ist, dass die Unterscheidung zwischen korporativen und kollektiven Akteuren analytischer Natur ist. In der Wirklichkeit treten vielfältige Zwischenformen auf. 3. Formale und informale Organisation, „Schwerpunkt“-Organisation Zur Analyse von Interaktionen zwischen und in Organisationen wird vom akteurzentrierten Institutionalismus vorgeschlagen, spieltheoretische Konzepte heranzuziehen.53 Angesichts der Empirieferne dieser Konzepte muss 50 Dazu: Mayntz/Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus (Fn. 45), S. 49–51; D. Jansen, Das Problem der Akteurqualität korporativer Akteure, in: A. Benz/W. Seibel (Hrsg.), Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft – eine Zwischenbilanz, 1997, S. 193–235, 201 ff. Auf Detailunterschiede zwischen den Autoren braucht hier nicht eingegangen zu werden. 51 Siehe Cox/Jacobson, The autonomy of influence (Fn. 29), S. 428. 52 Vgl. Keohane/Nye, The club model of multilateral cooperation and problems of democratic legitimacy (Fn. 13).
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sich ihre Zweckmäßigkeit für die verwaltungswissenschaftliche Analyse erst noch erweisen. Naheliegender ist es daher, auf Untersuchungsansätze der Theorie formaler Organisationen zurückzugreifen. Denn korporative Akteure sind stets und kollektive Akteure sind häufig formale Organisationen, deren Organisationsregeln Institutionen im Sinne des akteurzentrierten Institutionalismus darstellen. Unter formalen Organisationen werden Handlungskollektive verstanden, – die eine definierte Mitgliedschaft besitzen, – die auf Dauer bestimmte Ziele verfolgen und – deren Ziele, Aufbau, Entscheidungsverfahren und Aktivitäten durch Regeln festgelegt werden, die sich meist in Rechtsvorschriften, Statuten, Verträgen oder sonstigen offiziellen Dokumenten finden, aber auch als ungeschriebene, allgemein akzeptierte Regeln auf Traditionen beruhen können und die das Handeln der Organisationsmitglieder auf die Erfüllung der formalen Organisationsziele ausrichten sollen.54 Formale Regeln betreffen aber nicht nur die Binnenbeziehungen von Organisationen, sondern können auch für die Außenbeziehungen bestehen. Gegenstand der Organisationsanalyse ist es u. a. festzustellen, inwieweit Handeln und Entscheidungen der Organisationsmitglieder und der Organisation sowie die Außenbeziehungen der Organisation von formalen Regeln bestimmt werden und welche Ursachen für Regelabweichungen ausschlaggebend sind. In diesem Zusammenhang ist das Konzept der „informalen Organisation“ von Bedeutung. Hierunter sind alle Handlungsziele, Strukturen, Verfahren und sonstigen Handlungen zu verstehen, die nicht den formalen Organisationsregeln entsprechen, diese aber ergänzen, modifizieren und im Organisationshandeln in Erscheinung treten. Der Bezug auf die formalen Organisationsregeln unterscheidet informales Handeln von schlicht formlosem Handeln, das diesen Bezug nicht aufweist (z. B. Unterhaltungen über die letzten Sportergebnisse in der Mittagspause). Die informale Organisation wurde in den 1930er Jahren in Industrieunternehmen „entdeckt“ und zunächst mit den zwischenmenschlichen Bedürfnissen der Arbeitnehmer erklärt.55 Da 53
Siehe Scharpf, Interaktionsformen (Fn. 14), S. 24 ff. Vgl. A. Kieser/P. Walgenbach, Organisation, 5. Aufl., 2007, S. 6 ff.; W. R. Scott/G. F. Davis, Organisations and organizing. Rational, natural and open system perspectives, 2007, S. 22, 28 f. 55 Siehe F. J. Roethlisberger/W. J. Dickson, Management and the worker, 1939; M. Holzer/V. Gabrielyan/K. Yang, Five great ideas in American public administration, in: J. Rabin/W. B. Hildreth/G. J. Miller (Hrsg.), Handbook of public administration, 3. Aufl., 2007, S. 49–101, 74. 54
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informale Gruppen und Praktiken die Autorität der formalen Organisation potenziell in Frage stellen, werden informale Handlungsstrukturen häufig mit Misstrauen betrachtet und als überwiegend dysfunktional für die formale Organisation eingestuft. Jedoch schon frühzeitig wurde darauf hingewiesen, dass die informale Organisation die unvermeidbare Folge formaler Strukturen und Verfahren und in gewissem Umfang Voraussetzung für das Funktionieren (Bestandserhaltung) der formalen Organisation ist.56 Heute sind die Unvermeidbarkeit und ambivalente Funktionalität der informalen Organisation unstreitig. Beides wird im Allgemeinen mit Systemproblemen formaler Organisationen und mit der oft situationsabhängigen Problemlösungskapazität informaler Organisationen erklärt.57 Zu den Systemproblemen gehören nicht nur die Verwirklichung der formalen Organisationsziele, sondern auch – die Lösung organisationsinterner und -externer Konflikte, – die Reduzierung von Entscheidungsunsicherheit und -komplexität, – die Bewältigung von Ressourcenknappheit und – die Anpassung an eine sich rasch ändernde politisch-soziale Umwelt. Es besteht die Tendenz, dass die Organisationsangehörigen informale Gruppen bilden und sich informaler Praktiken bedienen, wenn sich die formalen Organisationsregeln als hinderlich oder zu schwerfällig erweisen, um die vorgenannten Organisationsprobleme zu lösen. Das Beschreiten des „kleinen Dienstweges“ ist ein hierfür oft genanntes Beispiel. Im internationalen Bereich sind sog. „informelle Treffen“ an der Tagesordnung. Freilich können informale Gruppenbildung und informale Praktiken auch zur Konterkarierung formaler Organisationsziele sowie zur Unterminierung formaler Organisationsstrukturen und -verfahren beitragen und auf diese Weise den Organisationsbestand gefährden. Insbesondere sind informale Praktiken tendenziell intransparent und bewirken eine Ungleichbehandlung anderer Akteure. Es gibt jedoch keine generellen Kriterien, um die Schwelle zu bestimmen, bei deren Überschreiten funktionale Informalität in Dysfunktionalität umschlägt. Diese Schwelle hängt von den spezifischen Merkmalen der jeweiligen Organisation und Handlungssituation ab. Auf jeden Fall aber beruht „die Verwaltungskunst“ in der Praxis auf der Fähigkeit, geschickt zwischen formalen und informalen Handlungsebenen zu wechseln. 56
So: C. I. Barnard, The functions of the executive, 1938 (27. Nachdruck, 1976), S. 120 f. 57 Vgl. E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981, S. 117 ff.; N. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 4. Aufl., 1995, S. 30 f., 244 f., 285 f.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fn. 4), S. 230 ff.; Scott/Davis, Organisations and organizing. Rational, natural and open system perspectives (Fn. 54), S. 62 ff.
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Trotz seiner häufigen Verwendung gibt es keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs „informal“.58 Meist wird der Begriff als Synonym für „formlos“ oder „nicht-schriftlich“ verwendet. Für die verwaltungswissenschaftliche Analyse ist jedoch eine möglichst präzise Begriffsbildung erforderlich. Es ist zweckmäßig, drei Merkmale zur Identifizierung informaler Handlungen und Strukturen heranzuziehen59: – Nicht-Regelung, insbesondere rechtliche Unverbindlichkeit des Handelns, – Tauschbeziehungen zwischen den Akteuren, – bewusste Wahl informaler Handlungen und Strukturen zur Ergänzung oder anstelle tatsächlich möglicher formaler Handlungen und Strukturen. Das dritte Merkmal unterscheidet informale Verhaltensweisen von schlicht formlosen Handeln und stellt den Bezug zur formalen Organisation her. In der Organisationsanalyse hat sich ferner das Konzept der „Schwerpunkt“-Organisation (focal organization) als zweckmäßig erwiesen. Es wurde zunächst für die Interorganisationsanalyse entwickelt60, lässt sich aber auch für die Analyse von Binnenbeziehungen heranziehen. Ausgehend von der jeweiligen Untersuchungsfrage wird der Akteur bestimmt, auf dem der Schwerpunkt der Analyse liegt. Alsdann werden die formalen und informalen Interaktionsbeziehungen dieses Akteurs zu anderen Akteuren untersucht. 4. Steuerungsmodi Die vielfältigen Instrumente, Formen und Mechanismen zur Beeinflussung des Verhaltens von Organisationen und ihrer Mitglieder lassen sich auf drei grundlegende Steuerungsmodi zurückführen: – die Drohung mit Zwang und Gewalt, – den Austausch von Leistungen und – die Überredung. 58 Zwischen den Wörtern „informal“ und „informell“ besteht kein Bedeutungsunterschied. Hier wird das Adjektiv „informal“ bevorzugt, weil es die Bildung des Substantivs „Informalität“ erlaubt. 59 Siehe E. Bohne, Informales Verwaltungs- und Regierungshandeln als Instrument des Umweltschutzes, in: VerwArch 75 (1984), S. 343–373, 344; ähnlich T. Christiansen/A. Føllesdal/S. Piattoni, Informal governance in the European Union: An introduction, in: T. Christiansen/S. Piattoni (Hrsg.), Informal governance in the European Union, 2003, S. 1–21, 7. 60 Siehe: W. M. Evan, The organization-set, in: ders. (Hrsg.), Organization theory, 1976, S. 119–134, 122; Scott/Davis, Organisations and organizing. Rational, natural and open system perspectives (Fn. 54), S. 116.
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Die Drohung mit Zwang und Gewalt beruht auf hierarchischen Organisationsstrukturen und in nationalen öffentlichen Verwaltungen letztlich auf dem Gewaltmonopol des Staates. In IOen tritt dieser Steuerungsmodus nur auf, wenn und soweit die Mitgliedstaaten entsprechende Befugnisse auf die IOen übertragen haben. Der Tauschmodus ist in einem weiten Sinn zu verstehen und umfasst als Leistungen alle, von den Akteuren wechselseitig angestrebten Verhaltensweisen, einschließlich der Untätigkeit des Handlungspartners (z. B. Unterlassen von Rechtsakten). Der Überredungsmodus beruht auf einseitigen Leistungen eines Akteurs. Er umfasst Informationen, Appelle, Warnungen, Empfehlungen und alle sonstigen einseitigen Verhaltensweisen, die darauf abzielen, andere Akteure – ohne Gegenleistung – zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Der Steuerungsmodus des Zwangs setzt nicht die Existenz eines einzelnen Akteurs voraus, der das Verhalten anderer Akteure zielgerichtet steuert. Auch in Netzwerkbeziehungen kann beispielsweise wechselseitig mit Rechtsmitteln und dem dahinter stehenden Zwang gedroht werden. Für IOen sind freilich Tausch und Überredung die vorherrschenden Steuerungsmodi, da sie nur in Ausnahmefällen und auch nur begrenzt mit Zwang drohen können. Beispielsweise steht hinter Schlichtungsentscheidungen der WTO die Drohung mit Repressalien durch den obsiegenden Staat. In der Realität treten die genannten Steuerungsmodi häufig kombiniert auf. 5. Leistungsbewertung Zur Bewertung der Leistungen von IOen werden im Allgemeinen Effektivitäts- und Effizienzkriterien sowie Fairness (Equity)- und Legitimitätskriterien herangezogen.61 Bei IOen sind Effektivitäts- und Effizienzbeurteilungen oft noch schwieriger als bei nationalen öffentlichen Verwaltungen, weil die Ziele und Aufgaben von IOen in den einschlägigen völkerrechtlichen Verträgen meist nur generalklauselartig beschrieben werden. Auf die vielfältigen Probleme der Operationalisierung und Messung organisatorischer Effektivität und Effizienz kann hier jedoch nicht eingegangen werden. Fairnessmaßstäbe können materieller und prozeduraler Natur sein. In IOen sind sie wegen des enormen Machtgefälles zwischen Industrie- und Entwicklungsländern von besonderer Bedeutung. Hervorzuheben ist der 61 Siehe R. B. Porter, Efficiency, equity and legitimacy: The global trading system in the twenty-first century, in: R. B. Porter/P. Sauvé/A. Subramanian/A. B. Zampetti (Hrsg.), Efficiency, equity, and legitimacy. The multilateral trading system at the millennium, 2001, S. 3–15.
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potenzielle Konflikt zwischen Informalität und Gleichbehandlung. Denn informale Verhandlungen finden in IOen häufig zur Vorbereitung von Organisationsentscheidungen statt und beschränken sich überwiegend auf die mächtigen Mitgliedstaaten. Die Legitimität von IOen wie der WTO wird vielfach von NGOs und Globalisierungsgegnern in Frage gestellt. Allerdings muss dabei zwischen der normativen und empirischen Dimension von Legitimität unterschieden werden62, was nur selten geschieht. Der Begriff der Legitimität bezeichnet in normativer Hinsicht die Rechtfertigung und in empirischer Hinsicht die soziale Akzeptanz von Herrschaft. Die Legitimität von IOen in empirischer Hinsicht ist also ein sozialpsychologischer Sachverhalt und betrifft die soziale Akzeptanz von Organisationen und ihren Entscheidungen durch die Mitgliedstaaten, NGOs und die Öffentlichkeit. Demgegenüber ist die Kritik an der demokratischen Legitimität von IOen eine normative Debatte, die ein bestimmtes normatives Demokratiemodell voraussetzt.63 IV. Beispiel WTO Der skizzierte theoretische Bezugsrahmen bildet die Grundlage einer empirischen Untersuchung der WTO, die am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung durchgeführt wurde.64 Gegenstand der Untersuchung waren die Fragen, – inwieweit die WTO Akteurseigenschaften besitzt, – welche intra- und interorganisatorischen Faktoren ihre Leistungsfähigkeit unter den Gesichtspunkten der Effektivität, Fairness (Equity) und der (empirischen) Legitimität fördern oder beeinträchtigen und – wie die in der Diskussion befindlichen Vorschläge zur Reform der WTO im Lichte der Untersuchung zu bewerten sind. Abbildung 1 zeigt den theoretischen Bezugsrahmen der Studie. 62 Dazu A. I. Applbaum, Culture, identity and legitimacy, in: J. S. Nye/J. D. Donahue (Hrsg.), Governance in a globalizing world, 2000, S. 319–329, 324 f.; M. Krajewski, Democratic legitimacy and constitutional perspectives of WTO law, in: Journal of World Trade 35 (2001), S. 167–185, 168 f.; J. Steffek, The legitimation of international governance: A discourse approach, in: European Journal of International Relations 2003, S. 249–275, 253. 63 Dazu Krajewski, Democratic legitimacy and constitutional perspectives of WTO law (Fn. 62), S. 171 f.; Steffek, The legitimation of international governance: A discourse approach (Fn. 62), S. 262 ff. 64 Siehe E. Bohne/S. Bugdahn, The World Trade Organization: Institutional development and reform, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer, 2008.
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Problems
IOs
Institutional setting
B As Trade Negotiations
WTO
• Agreements and rules • Tasks • Formal and informal structures • Formal and informal procedures • Governance modes
MS
MC
Implementation of Trade Agreements
S CM
C-B
Trade Policy Review Dispute Settlement
Resources
NGOs
NonMS Interactions
– – – – –
C-B: Councils, Bodies CM: Committees MC: Ministerial Conference MS: Member States S: Secretariat
– – – –
BA: Business Associations IO: International Organization NGO: Non-Governmental Organization Non-MS: Non-Member States
Relationships
Abbildung 1: Theoretischer Bezugsrahmen
Die Abbildung veranschaulicht die WTO als ein Interaktionssystem. Im Mittelpunkt der Binnenanalyse steht das Sekretariat als „Schwerpunkt(focal)“-Organisation mit seinen Interaktionsbeziehungen zu verschiedenen WTO-Gremien. Für die Interorganisationsanalyse wird die WTO insgesamt als „Schwerpunkt“-Organisation begriffen. Wegen fehlender Ressourcen und Zeit beschränkt sich die Analyse insoweit auf die Interaktionen der WTO mit anderen IOen und NGOs, die jeweils Interessen der Entwicklungsländer vertreten. Die Beziehungen zu Nicht-Mitgliedstaaten und zu anderen privaten Akteuren (z. B. der Wirtschaft) werden in die Untersuchung nicht einbezogen. Abhängige Variablen sind Entscheidungen der WTO in den vier Aufgabenbereichen: Vertragsverhandlungen, Überwachung der Umsetzung von Handelsabkommen durch die Mitgliedstaaten (Implementation), Überprüfung der Handelspolitik der Mitgliedstaaten (Trade Policy Review) und Streitschlichtungsverfahren. Unabhängige Variablenkomplexe sind Merkmale des institutionellen Rahmens, der Problemsituation, der Ressourcen und der beteiligten Akteure. Die Studie stützt sich vornehmlich auf 21 Experteninterviews mit Vertretern des WTO-Sekretariats, der Mitgliedstaaten (Industrie- und Entwick-
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lungsländer), von WTO-Ausschüssen, zwei IOen und fünf NGOs sowie auf eine schriftliche Befragung der WTO-Vertretungen aller Mitgliedstaaten (149), von denen 75 Mitgliedstaaten den Fragebogen beantworteten. An dieser Stelle kann auf die Ergebnisse der Studie nicht näher eingegangen werden. Zur Illustration der Zweckmäßigkeit des theoretischen Bezugsrahmens und der Notwendigkeit verwaltungswissenschaftlicher Untersuchungen von IOen seien zwei Untersuchungsergebnisse kurz skizziert: Die Akteurseigenschaften der WTO und ihre informale Organisation. 1. Die WTO als hybrider Akteur In der Literatur zur WTO wird die Unterscheidung zwischen korporativen und kollektiven Akteuren nicht verwendet. Überwiegend wird der WTO als einer „member-driven organization“ – auch in der Expertenbefragung – eine eigene Akteursqualität im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten abgesprochen.65 Manche Autoren stufen die Handlungsfähigkeit der WTO als Staatenclub aber so hoch ein, dass sie das Demokratieprinzip in Gefahr sehen.66 Vereinzelt wird die WTO, insbesondere ihr Sekretariat, als eine Organisation betrachtet, die faktisch einen gewissen Grad an Autonomie besitzt, um gemeinsame Interessen gegenüber partikularen Interessen einzelner Mitgliedstaaten durchzusetzen.67 Experteninterviews und schriftliche Befragung haben gezeigt, dass die analytische Unterscheidung zwischen korporativem und kollektivem Akteur zum Verständnis der WTO hilfreich ist. Die Frage nach der Akteursqualität der WTO lässt sich nämlich nicht einheitlich beantworten. Vielmehr ist sie für die einzelnen Aufgabenbereiche der WTO unterschiedlich zu beurteilen. Im Bereich der Vertragsverhandlungen dominieren die Mitgliedstaaten und ihre Regierungen. Generaldirektor und Sekretariat der WTO haben gewisse indirekte Einflussmöglichkeiten durch die Ratschläge, die sie den Mitgliedstaaten auf Anfrage geben. Sie besitzen aber keine Initiativrechte im Verhandlungsprozess. Insgesamt trägt die WTO im Verhandlungsbereich die Züge eines kollektiven Akteurs. Anders ist die Lage im Bereich der Streitschlichtung. Panels, Appellate Body und Dispute Settlement Body entscheiden unabhängig von den Präferenzen der Mitgliedstaaten. Die Regelung, dass Streitschlichtungsberichte 65 Siehe Footer, An institutional and normative analysis of the World Trade Organization (Fn. 26), S. 78. 66 Siehe Keohane/Nye, The club model of multilateral cooperation and problems of democratic legitimacy (Fn. 13), S. 251 ff. 67 Siehe Y. Xu/P. Weller, The governance of world trade. International civil servants and the GATT/WTO, 2004, S. 10, 279.
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des Appellate Body vom Dispute Settlement Body nur im Konsens aller Mitgliedstaaten abgelehnt werden können, führt faktisch zur Alleinentscheidungsmacht des Appellate Body.68 Denn ein Konsens zur Ablehnung eines Berichts wird praktisch nicht zustande kommen, weil der obsiegende Mitgliedstaat hierzu seine Zustimmung verweigern wird. In diesem Bereich tritt die WTO also als korporativer Akteur auf. Merkmale eines korporativen Akteurs trägt die WTO auch im Bereich des Trade Policy Review. Denn das Sekretariat hat faktisch erheblichen Einfluss auf Inhalt, Umfang und Zeitpunkt der Überprüfung sowie auf die Auswahl der zu überprüfenden Mitgliedstaaten. Außerdem schreibt es den Entwurf des Prüfungsberichts, dessen fachlicher Expertise der zuständige Trade Policy Review Body regelmäßig folgt. Die Überwachung der Umsetzung von Handelsabkommen (Implementation) durch die Mitgliedstaaten erfordert ebenfalls ein erhebliches Maß an fachlichen Kenntnissen, über die nur das Sekretariat verfügt. Insoweit spielt das Sekretariat in diesem Bereich eine größere Rolle als im Verhandlungsbereich und besitzt eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten, die jedoch geringer ist als im Bereich des Trade Policy Review. Man wird hier eher von Mischformen kollektiver und korporativer Akteursmerkmale sprechen müssen. Die gleiche Feststellung gilt für die Annexaufgaben der technischen Beratung von Mitgliedstaaten und der Durchführung von Forschungsaufträgen für die Mitgliedstaaten. Alles in allem lässt sich die WTO nicht einer einzigen Akteurskategorie eindeutig zuordnen, sondern ist daher als „hybrider Akteur“ zu kennzeichnen.69 2. Die informale WTO In der Literatur wird stets auf die informalen Verhandlungsprozesse in der WTO hingewiesen. Es fehlt jedoch eine systematische Analyse dieser Prozesse. Die Unterscheidung zwischen formaler und informaler Organisation lenkt den Blick auf die zahlreichen informalen Gruppierungen, die sich unter den Mitgliedstaaten der WTO herausgebildet haben. Diese Gruppierungen werden nach der Zahl der Mitglieder als G4, G6, G20, G33 oder nach ihrer regionalen Zugehörigkeit z. B. als African Group (mit 41 Mit68 Siehe Artikel 17 Abs. 14 des Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes. 69 Auch Mayntz/Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus (Fn. 45), S. 50, weisen darauf hin, dass „nicht jede Organisation . . . zu jeder Zeit im gleichen Maße handlungsfähig“ ist.
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Informal procedures occur during WTO trade negotiations 100%
75%
50%
25%
0% Total (n = 75) very often
Developing Countries (n = 53) often
sometimes
rarely
Developed Countries (n = 22) never
Abbildung 2: Informale Verfahren und Entscheidungen
gliedern) bezeichnet. Diese Gruppierungen erfüllen die drei Merkmale des Informalitätsbegriffs: ihre Existenz ist nicht geregelt; sie bilden eine bewusste Alternative zur Einsetzung förmlicher Ausschüsse, und die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern folgen dem Tauschprinzip. Die Gruppierungen dienen der Verhaltensabstimmung zwischen WTO-Mitgliedern mit gleichgerichteten politischen Interessen, der Vermeidung oder Beilegung von Konflikten und der Vorbereitung von Entscheidungen der WTO insgesamt. Informale Verhandlungsprozesse und Entscheidungen sind nach Aussagen von über 75% der Mitgliedstaaten, die an der schriftlichen Befragung teilgenommen haben in der WTO an der Tagesordnung, wie Abbildung 2 zeigt. Auch sie sind ungeregelt und rechtlich unverbindlich. Sie ergänzen formale Verhandlungen und beruhen auf dem Tauschprinzip. Ohne informale Verfahren und Entscheidungen wäre die WTO nach Einschätzung der meisten Interviewpartner nicht handlungsfähig. Insoweit besteht neben der formalen WTO also eine informale WTO. Freilich sind informale Verhandlungsprozesse intransparent und häufig Gegenstand von Beschwerden schwächerer Mitgliedstaaten, die von den informalen Verhandlungen ausgeschlossen sind und sich benachteiligt fühlen. Daher bilden informale Strukturen und Verfahren der WTO häufig Ansatzpunkte für eine normative Kritik an der Legitimität der WTO.
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Eberhard Bohne Informal procedures during WTO trade negotiations should be partially formalized through procedural rules 100%
75%
50%
25%
0% Total (n = 75) strongly agree
Developing Countries Developed Countries (n = 53) (n = 22) agree
undecided
disagree
strongly disagree
Abbildung 3: Formalisierung von Entscheidungsverfahren
Verbieten lassen sich informale Entscheidungsprozesse jedoch nicht. Dies lehrt die praktische Erfahrung und ist eine Erkenntnis der Organisationstheorie. Eine Abmilderung der Fairness- und Legitimitätsprobleme der WTO lässt sich möglicherweise durch begrenzte, transparenzfördernde Formalisierungen von Entscheidungsverfahren erzielen, wie eine geringfügige relative Mehrheit von Mitgliedstaaten in Abbildung 3 meint. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. 3. Ausblick Mit der Analyse von IOen öffnet sich ein weites, neues Untersuchungsfeld für die Verwaltungswissenschaft. Diese kann einen eigenen Beitrag zum besseren Verständnis der IOen leisten, die bislang ausschließlich Gegenstand völkerrechtlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchungen und von Analysen der Internationalen Beziehungen sind.
Le contrôle juridictionnel des règlements administratifs en Europe Michel Fromont Le règlement administratif est l’acte d’une autorité exécutive ou administrative contenant des règles de portée générale1. Cette définition apporte par elle-même une contradiction au principe de la séparation des pouvoirs: il est anormal que le gouvernement ou une autorité locale ait le pouvoir d’édicter des règles de droit alors que le législateur doit en principe avoir le monopole de l’édiction des règles. À la base du système de la séparation des pouvoirs, il y a l’idée que celui qui «exécute» les lois ne doit pas pouvoir les modifier lui-même, sinon il y aurait confusion des pouvoirs et exercice arbitraire de l’autorité publique. Néanmoins, comme l’a montré l’expérience de la Révolution française, la suppression du pouvoir réglementaire est une utopie, car il est nécessaire que le pouvoir exécutif ou l’autorité administrative responsable de l’exécution de la loi puisse préciser les règles générales contenues dans la loi afin que soient définies les modalités concrètes d’application de celle-ci soit à l’échelon de la nation, soit dans un cadre territorial plus restreint2. De plus, le principe de la subordination du règlement à la loi permet d’empêcher un exercice abusif du pouvoir réglementaire puisque l’autorité réglementaire est contrainte de respecter le cadre général défini par la loi, du moins s’il existe un juge capable de refuser l’application d’un règlement contraire à la loi. C’est pourquoi les seuls cas où le pouvoir réglementaire apparaît véritablement comme contraire au schéma de l’État libéral sont ceux où exceptionnellement le pouvoir réglementaire est autorisé à modifier la loi existante; en général, ce pouvoir est alors limité dans le temps, subordonné à l’existence de circonstances exceptionnelles ou encore placé sous le contrôle étroit du titulaire du pouvoir législatif, c’est-à-dire du Parlement. 1
Cette contribution est largement inspirée de notre livre «Droit administratif des États européens», Presses Universitaires de France, Paris 2006. Elle est le témoignage de l’amitié et de la reconnaissance d’un collègue français qui, pendant une vingtaine d’années, rédigea chaque année avec Heinrich Siedentopf une chronique sur le droit de l’administration allemande pour l’Annuaire européen d’administration publique, Aix-en-Provence/Paris. 2 M. Verpeaux, La naissance du pouvoir réglementaire en France, préface M. Fromont, Paris 2001.
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Pour que l’institution du règlement administratif soit compatible avec le principe de la séparation des pouvoirs, il importe donc que le règlement administratif respecte à la fois la constitution, la loi et les principes non écrits qui découlent de l’idée d’État de droit. Pour assurer ce respect, il est nécessaire que le juge puisse être aisément saisi de la contestation de la conformité d’un règlement administratif aux règles de droit qui lui sont supérieures. L’organisation du contrôle de la conformité au droit des règlements administratifs est donc indispensable à un équilibre correct des pouvoirs. Le contrôle des règlements administratifs par le juge présente deux formes majeures selon que le juge est saisi à titre principal ou à titre incident. Lorsque le juge est saisi à titre principal, le règlement est l’objet principal du procès; le juge doit vérifier la conformité au droit de celui-ci et, en cas de non-conformité, il doit l’annuler à l’égard de tous. Lorsque le juge est saisi à titre incident, ce n’est pas le règlement qui est l’objet principal du procès, mais la mesure d’exécution de celui-ci; le juge est simplement tenu de vérifier la validité du règlement à l’occasion de l’examen d’une demande dirigée contre un acte d’application du règlement et, au cas où le règlement serait irrégulier, le juge se contente d’annuler l’acte d’application et la constatation de l’irrégularité du règlement ne sera opposable qu’aux seules parties au procès. Dans tous les pays européens, les règlements administratifs sont susceptibles de faire l’objet d’un contrôle incident. En revanche, c’est seulement dans certains pays qu’il est possible de contester à titre principal la validité d’un règlement administratif. I. Le contrôle juridictionnel des règlements administratifs à titre principal Ce type de contrôle existe pratiquement dans tous les pays, mais il est plus ou moins développé selon les pays. C’est incontestablement en France et dans les pays qui ont suivi son exemple que le contentieux direct des règlements administratifs est le plus développé. L’exemple a été suivi par d’assez nombreux pays, mais non pas par tous, spécialement par ceux qui ont adopté une conception subjective du contentieux administratif, notamment par l’Allemagne et la Grande-Bretagne. 1. Le contentieux direct en France et dans la plupart des pays européens En France, il est particulièrement aisé pour une personne privée de contester la régularité d’un règlement devant le juge administratif et, de ce
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fait, le contentieux des règlements administratifs y est très abondant. Plusieurs raisons expliquent ce phénomène. En premier lieu, la conception objective du recours pour excès de pouvoir a permis à toute personne lésée par l’application éventuelle d’un règlement de contester celui-ci. Ce sont même les recours pour excès de pouvoir dirigés contre des règlements qui ont fourni les exemples les plus spectaculaires de l’élargissement du prétoire à toute personne intéressée, donc y compris aux associations dépourvues de la personnalité morale. En second lieu, comme les parties au procès n’ont que des droits limités dans un tel procès, il n’est nullement gênant qu’une seule personne privée puisse provoquer l’annulation erga omnes d’un règlement, c’est-à-dire une annulation opposable à tous lorsque le juge constate que ce règlement viole les règles de droit qui lui sont supérieures. D’ailleurs, la doctrine française va jusqu’à en tirer la conclusion que le règlement administratif est un acte administratif comme un autre bien que les règles gouvernant sa validité, ses effets et son abrogation soient souvent différentes de celles qui sont applicables à la décision administrative individuelle. En particulier, tout règlement qui émane des plus hautes autorités de l’État (Président de la République, Premier Ministre) peut faire l’objet d’un recours pour excès de pouvoir formé par une personne prétendant être lésée dans ses intérêts et porté directement devant le Conseil d’État. Le recours peut même être dirigé contre le refus, généralement implicite, de prendre un règlement nécessaire pour mettre en application une loi ou de modifier un règlement existant à la suite d’un changement de la situation de droit ou de fait. Dans ces deux derniers cas, le juge administratif peut même enjoindre au titulaire du pouvoir réglementaire d’édicter le règlement nécessaire à la pleine application de la loi. Le modèle français a été suivi par plusieurs pays. C’est le cas de la Belgique où le Conseil d’État est compétent pour juger tous les recours en annulation dirigés contre les règlements administratifs3. C’est aussi le cas de l’Italie, encore qu’aujourd’hui encore, le Conseil d’État déclare irrecevables les recours dirigés contre les règlements qui ne sont pas immédiatement applicables, c’est-à-dire ceux qui servent seulement de fondement à des décisions administratives individuelles. C’est le cas également de la Suisse4 et de la Grèce5. Même l’Espagne, dont les recours devant le juge administratif ont pourtant aujourd’hui un caractère subjectif, continue d’admettre que les recours en annulation puissent être dirigés contre des règlements administratifs6. 3 Art. 14 lois coordonnées sur le Conseil d’État; M. Leroy, Contentieux administratif, 3e éd. 2004, p. 183. 4 P. Moor, Droit administratif, vol. I., Berne 1988, p. 219. 5 E. Spilotopoulos, Droit administratif hellénique, 2e éd. 2004, p. 351.
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Les recours doivent être portés devant les Tribunaux administratifs supérieurs, c’est-à-dire les Juges centraux du contentieux administratif, les Chambres administratives des Tribunaux supérieurs de justice ou la Chambre administrative du Tribunal suprême7. La question est de savoir si l’action en annulation est enfermée dans un délai de deux mois ou si elle est perpétuelle compte tenu du fait que les règlements contraires au droit sont nuls de plein droit et qu’une telle nullité peut être invoquée à tout instant8. Le cas de l’Autriche est particulier en ce sens que le tribunal compétent n’est pas une juridiction administrative, mais une juridiction constitutionnelle. En effet, selon l’article 139 de la constitution: «la Cour constitutionnelle . . . statue sur la légalité d’un règlement sur demande de toute personne qui prétend être directement lésée dans ses droits en raison de l’illégalité de ce règlement [. . .]». En outre, nous verrons que la Cour constitutionnelle peut être saisie par tout tribunal d’une question préjudicielle portant soit sur la constitutionnalité, soit sur la légalité du règlement applicable à l’affaire pendante devant ce tribunal. Dans tous ces pays, le jugement annulant ou déclarant nul le règlement a un effet à l’égard de tous; en revanche, l’annulation ne remet pas en cause les jugements et les décisions administratifs fondés sur la disposition annulée dès lors qu’ils étaient devenus définitifs au jour où l’annulation est prononcée. On notera toutefois que cette règle souffre une exception en droit espagnol lorsque la mesure d’application est une sanction administrative encore inexécutée. Parfois même, la législation exige la publication du jugement au journal officiel où avait été publié le règlement annulé. En France, la loi ne l’exige pas, mais, à la suite d’une circulaire du Premier Ministre du 28 septembre 1973, les arrêts du Conseil d’État annulant des règlements publiés au Journal officiel (c’est-à-dire les plus importants) sont en fait publiés depuis le 1er janvier 1974 au Journal officiel de la République française. En Espagne, la loi du 7 juillet 1998 a imposé la publication des jugements déclarant la nullité de règlements administratifs. Selon l’article 72 «les jugements qui annulent un règlement produisent effet à l’égard de tous à compter du jour où sont publiés leur dispositif et les dispositions annulées dans la même publication officielle qu’a été publié le règlement annulé».
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Art. 25 de la loi de 1998 sur la justice administrative. J. Leguina Villa/M. Sánchez-Morón, Comentarios a la ley de la jurisdicción contencioso-administrativa, 2e éd., 2001, p. 48 et 178. 8 E. García de Enterría/T.-R. Fernández, Curso de derecho administrativo, 9e éd., 1999, p. 221. 7
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2. L’absence totale ou partielle de contrôle exercé à titre principal en Allemagne et aux Pays-Bas Le cas de l’Allemagne est un peu à part. En effet, le fait que le contentieux administratif est conçu d’une façon subjective et que le droit administratif a été fondé initialement sur une relation binaire entre l’autorité administrative et le destinataire des décisions de celle-ci explique que l’Allemagne n’admet qu’avec difficulté l’existence d’un recours à titre principal conduisant à l’annulation à l’égard de tous d’un règlement administratif irrégulier. Ainsi, la loi sur les juridictions administratives du 21 janvier 1960, telle qu’elle a été republiée le 19 mars 1991 et modifiée notamment par la loi du 1er novembre 1996, prévoit que les Tribunaux administratifs supérieurs sont compétents pour se prononcer sur la validité des plans d’urbanisme et de quelques autres règlements d’urbanisme. De plus, dans la mesure où une loi du Land le prévoit expressément, ils peuvent aussi se prononcer sur la validité des règlements émis par les autorités non fédérales, c’est-à-dire principalement celles du Land, des arrondissements et des communes. Dans la pratique, tous les Länder ont fait usage de cette possibilité à l’exception, toutefois, de la Rhénanie du Nord-Westphalie, de Berlin, de Hambourg et de la Sarre. Mais seules «les personnes qui prétendent être lésées aujourd’hui ou dans un proche avenir dans leurs droits peuvent demander l’annulation du règlement dans les deux ans qui suivent sa publication» (§ 47, al. 2). Toutefois «toute autorité» peut également saisir le tribunal si elle ne peut pas l’anéantir elle-même pour contrariété au droit. Dans la pratique, les demandes de contrôle des règlements (Normenkontrolle) ne sont pas très nombreuses en dehors du secteur de l’urbanisme. Plusieurs raisons expliquent ce phénomène. La première tient à ce que le droit d’agir est restreint; les personnes privées doivent faire valoir la lésion d’un droit, ce qui exclut les recours de personnes simplement intéressées et ceux des associations pour autant qu’elles défendent des intérêts collectifs et non pas les droits qu’elles possèdent en tant que personnes morales; seules les associations de défense de l’environnement ont reçu le droit d’agir (loi fédérale sur la protection de nature, telle qu’elle a été modifiée le 25 mars 2002, loi fédérale sur les recours en matière d’environnement du 7 décembre 2006). La seconde raison tient à ce que les règlements attaquables directement sont peu nombreux: ni les règlements fédéraux, ni les règlements dont les mesures d’application relèvent d’autres ordres de juridictions, c’est-à-dire les règlements en matière civile, pénale, fiscale, sociale, du travail ne peuvent faire l’objet de recours de ce type. La troisième raison tient à ce que ce recours en contrôle des règlements ne permet pas de contester le refus d’une autorité administrative de prendre ou de modifier
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un règlement; le plaideur doit alors introduire une action déclaratoire tendant à faire constater que la situation existante est contraire au droit. En outre, la jurisprudence relative à ce contentieux a quelque difficulté à se construire du fait que les décisions des tribunaux administratifs supérieurs ne sont pas susceptibles de recours en cassation devant la Cour administrative fédérale, ce qui empêche la formation d’une jurisprudence cohérente. Les Pays-Bas se sont montrés encore plus catégoriques bien qu’une partie de leur système de justice administrative, le Conseil d’État, soit d’origine française. L’article 8: 2 de la loi générale sur le droit administratif du 4 juin 1992 (augmentée en 1996 et 2004) décide qu’une décision «contenant une disposition impérative de caractère général (algemeen verbindende voorschrift) ou une instruction interne (beleidsregel)» ne peut pas faire l’objet d’un recours devant le juge administratif. Comme il n’y a pas de juridiction constitutionnelle, une question préjudicielle de constitutionnalité ou de légalité ne peut même pas être posée devant une telle juridiction. Le contrôle ne peut s’exercer que de façon incidente devant les différents tribunaux civils, administratifs et pénaux9. 3. Le contrôle exercé par le juge à titre principal en Grande-Bretagne et en Irlande En Grande-Bretagne, la notion de règlement administratif est assez largement absente comme l’est d’ailleurs celle de décision administrative. Les règlements émanant des autorités administratives sont plutôt qualifiées de «législation déléguée», même lorsqu’il s’agit de règlements édictés par des autorités locales ou spécialisées (bylaws ou rules). Ce terme de législation déléguée a cependant le mérite d’exprimer clairement la nécessité pour un règlement administratif d’être édicté à la suite d’une habilitation expresse du législateur puisque le règlement n’est autre qu’un acte législatif qui a pour auteur une autorité exécutive ou administrative. Néanmoins, les juristes anglais sont unanimes pour considérer que les actes de législation déléguée obéissent pour l’essentiel aux mêmes règles de validité que les autres actes de l’administration. Il en est de même pour les voies de recours: en principe, toutes les voies de recours utilisables en contentieux administratif sont utilisables pour contester la validité d’un règlement. Toutefois, parmi les recours réunis au sein de la demande de contrôle juridictionnel (application for judicial review), les voies de recours les plus utilisées sont l’action déclaratoire (declaration) qui, comme son nom l’indique, peut aboutir à une déclaration d’irrégularité et l’injonction 9 H. D. Van Wijk/W. Konijnenbelt, Hoofdstukken van bestuursrecht, 13e éd., 2005, nº 14–26.
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(injunction), laquelle peut aboutir à l’ordre de modifier le règlement. Toutefois il arrive que l’un des anciens recours spécialisés dans la mise en cause de la puissance publique (prerogative orders) soit également utilisé, notamment l’ancienne ordonnance en mandement (mandatory order ou mandamus) au cas où le requérant demande que l’autorité administrative soit condamnée à édicter un règlement. Depuis le deuxième jugement de la Chambre des Lords relatif à l’affaire Factortame10, ces recours spécifiques peuvent aussi être dirigés contre les représentants de la Couronne, c’est-àdire les ministres. Les mêmes solutions se retrouvent en Irlande: la demande de contrôle juridictionnel (application for judicial review) doit être portée devant les juridictions supérieures11. II. Le contrôle juridictionnel incident des règlements administratifs Dans presque tous les pays, le juge peut, à l’occasion d’un procès quelconque, vérifier la validité d’un règlement administratif qu’il doit appliquer à l’affaire dont il est saisi. De plus, il peut et même doit, en général, le faire à tout instant: l’exception d’illégalité, comme on dit en droit français, est perpétuelle et d’ordre public. Toutefois des nuances doivent être apportées à ces affirmations en ce qui concerne tant les conditions de recevabilité de l’exception d’illégalité (mieux dénommée exception d’irrégularité) que les effets de la constatation de l’irrégularité du règlement en cause. 1. La tribunal compétent pour connaître de l’exception d’irrégularité La question majeure est celle de savoir si la validité du règlement peut être contrôlée incidemment par le tribunal saisi de l’affaire à laquelle s’applique celui-ci ou si l’appréciation de la validité du règlement doit être posée à une autre juridiction, jugée plus apte à donner la réponse. Plusieurs formules se partagent les faveurs des pays européens. La plus fréquente et la plus logique consiste à reconnaître le droit de vérifier à titre incident la validité d’un règlement à tout juge, quelle que soit sa spécialisation (civil, pénal, ou administratif) et quel que soit son rang dans la hiérarchie (juge de première instance, juge supérieur, juge suprême). 10 11
R. v Secretary of State for Transport Ex p. Factotame Ltd, 1990, 1 A. C. 603. G. Hogan/D. G. Morgan, Administrative Law in Ireland, 3e éd., 1998, p. 31.
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C’est la solution admise en Allemagne12: tous les tribunaux font partie d’un seul et même pouvoir judiciaire. C’est aussi le cas en Belgique13, aux Pays-Bas14, en Suisse15 et en Grèce16. C’est même le moyen de défense le plus utilisé en Grande-Bretagne; il peut l’être quel que soit le vice invoqué, formel ou substantiel17. En Italie, alors que le juge civil et le juge pénal ont toujours accepté d’examiner la régularité d’un règlement administratif de façon incidente, le juge administratif a longtemps refusé de le faire lorsque le règlement administratif en cause n’avait pas fait l’objet d’un recours en annulation dans les délais; mais cette jurisprudence a été abandonnée dans une série de décisions entre 1992 et 199618. C’est aussi la solution espagnole. L’article 6 de la loi du 1er juillet 1985 sur le pouvoir judiciaire dispose: «Les juges et les tribunaux n’appliquent pas les règlements ou quelconque autre disposition qui sont contraires à la constitution, à la loi ou au principe de la hiérarchie des normes». Cette règle est le prolongement d’une longue tradition juridique19. Mais quelques pays font encore exception à la règle. Ils réservent alors la compétence soit aux seules juridictions administratives, soit même à la seule juridiction constitutionnelle. En France, les tribunaux civils ne peuvent pas apprécier eux-mêmes la validité d’un règlement administratif et à la suite d’un jugement de renvoi aux tribunaux administratifs, l’une des parties doit former un recours en appréciation de validité devant le juge administratif20. Seuls les tribunaux pénaux se reconnaissent compétents pour contrôler eux-mêmes la régularité du règlement applicable à l’affaire dont ils sont saisis. En Autriche, la question préjudicielle doit être posée à une juridiction statuant en général en matière de droit constitutionnel. En effet, en Autriche, l’article 89 de la Constitution dispose: «Si un tribunal doute de la légalité d’un règlement qu’il doit appliquer, il introduit une demande d’annulation auprès de la Cour constitutionnelle». 12
M. Fromont, La répartition des compétences entre les tribunaux civils et administratifs en droit allemand, 1960, p. 137. 13 Art. 159 de la Constitution: «Les cours et tribunaux n’appliqueront les arrêtés et règlements généraux, provinciaux et locaux, qu’autant qu’ils seront conformes aux lois». 14 Van Wijk/Konijnenbelt (supra note 9) nº 7–26. 15 Encore qu’il y ait quelques hésitations: Moor (supra note 4) p. 236. 16 Spiliotopulos (supra note 5) nº 103. 17 H. W. R. Wade/C. F. Forsyth, Administrative Law. 9e éd., 2004, p. 888. 18 G. Pasquini/A. Sandulli, Le grande decisioni del Consiglio di Stato, 2001, nº 16. 19 García de Enterría/Fernández (supra note 8) p. 214. 20 J. M. Auby/R. Drago, Traité de contentieux administratif, 2e éd. 1984, tome 2, nº 1030.
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2. Le délai pour opposer l’exception d’irrégularité Une autre condition de recevabilité est celle du délai durant lequel l’exception d’illégalité peut être opposée à l’application d’un règlement à l’affaire en cause. La plupart des systèmes juridiques considèrent que le contrôle incident peut s’exercer à tout moment. Il existe toutefois quelques exceptions. Ainsi, le législateur français a cru bon de limiter à six mois le délai durant lequel un vice de forme ou de procédure peut être invoqué contre un règlement d’urbanisme applicable à une décision individuelle d’urbanisme21. Le législateur allemand a fait de même: selon les §§ 214 et suivants du Code fédéral de l’urbanisme (Bundesbaugesetz), le vice de forme et de procédure doit être invoqué contre la commune dans l’année qui suit; le défaut de mise en balance du poids respectif des droits et intérêts en présence doit être invoqué dans les sept ans qui suivent. Le principe d’une limitation dans le temps des possibilités de faire valoir certaines irrégularités lors d’un contrôle incident a été jugé conforme au principe de l’État de droit22. De façon plus radicale, le juge administratif italien s’est longtemps opposé à ce qu’un juge administratif vérifie à titre incident la régularité d’un règlement administratif qui n’avait pas été attaqué pour excès de pouvoir dans les délais. Mais cette position a été abandonnée par le Conseil d’État au cours des années 199023. 3. Les effets de l’exception d’irrégularité L’exception d’irrégularité, si elle est reconnue fondée, entraîne seulement la non-application du règlement à l’affaire en cours de jugement; la décision a seulement autorité relative de la chose jugée. Cette solution est logique pour deux raisons: l’auteur du règlement n’est généralement pas partie au procès et, tout au plus, l’exception a été combattue par l’autorité chargée de l’application du règlement; le tribunal qui se prononce à titre incident peut ne pas être un tribunal spécialisé dans les questions de droit public. C’est la raison pour laquelle le principe de l’autorité relative de la chose jugée de la déclaration de contrariété au droit est retenu par presque tous les pays européens. 21
Art. L 600-1 Code de l’urbanisme, depuis 1994. Cour constitutionnelle fédérale 7 mai 2001, BVerfGE, tome 103, p. 332 à propos d’une loi du Schleswig-Holstein relative aux plans de protection de la nature. 23 V. le commentaire de la décision C. E. 22 janvier 1936, in Pasquini/Sandulli, (supra note 18) nº 16. 22
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Toutefois, comme ce principe peut conduire à des divergences de jurisprudence, certains pays ont imaginé que le tribunal qui a déclaré inter partes la contrariété au droit d’un règlement saisisse une juridiction plus élevée et plus spécialisée qui puisse annuler à l’égard de tous, et donc définitivement, le règlement entaché d’irrégularité. Ainsi, le droit espagnol ne reconnaît certes qu’une autorité relative aux jugements qui écartent l’application au procès en cours d’un règlement jugé contraire au droit, mais il oblige le juge à saisir ensuite une juridiction administrative supérieure de la question d’illégalité de ce règlement (cuestión de ilegalidad), afin que cette dernière juridiction annule celui-ci définitivement et à l’égard de tous24. Le jugement constatant la violation du droit par le règlement doit alors être publié dans le même journal officiel que celui dans lequel le règlement a été publié25. Le droit français est moins logique. En l’absence de disposition explicite sur la question, les deux juridictions suprêmes ont adopté des jurisprudences divergentes: tandis que la Cour de cassation a admis très logiquement l’autorité absolue de chose jugée des jugements rendus sur recours en appréciation de validité, le Conseil d’État a adopté la position inverse26. III. Le contrôle juridictionnel de la constitutionnalité des règlements administratifs Du fait que les règlements administratifs constituent une dérogation au principe de la séparation des pouvoirs et que les plus importants d’entre eux, ceux émanant du gouvernement et des ministres, mettent particulièrement en cause les rapports entre le Parlement et le Gouvernement ou encore les rapports entre le pouvoir central (ou fédéral) et les autorités décentralisées (ou fédérées), il est assez naturel que la question de leur conformité à la constitution puisse être posée à un tribunal spécialisé dans l’exercice de la justice constitutionnelle. C’est pourquoi l’Allemagne, l’Espagne et le Portugal ont confié au juge constitutionnel le contrôle à titre principal de la constitutionnalité des règlements administratifs qui complète ainsi le contrôle de la conformité au droit (y compris à la constitution) exercé par les autres juges. Selon l’article 93 de la Loi fondamentale allemande, tout acte contenant des règles de droit, donc non seulement les lois de la Fédération et des 24
Art. 27 et 123 et suiv. de la loi du 7 juillet 1998 sur la juridiction administra-
tive. 25 26
Leguina Villa/Sánchez-Morón, (supra N. 7), pp. 180 et 552. R. Chapus, Droit du contentieux administratif, 11e éd., 2004, nº 1211.
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Länder, mais aussi les règlements de la Fédération et des Länder, peuvent faire l’objet d’une demande de contrôle de leur constitutionnalité de la part de l’un des gouvernements (de la Fédération ou d’un Land) ou d’un tiers des membres du Bundestag. Il est à noter que les règlements des Länder (y compris des communes et arrondissements) sont contrôlés tant pour leur conformité à la constitution fédérale qu’à l’ensemble de la législation fédérale. Par conséquent, seuls les règlements fédéraux font l’objet d’un contrôle portant exclusivement sur la constitutionnalité: ces règlements sont d’ailleurs peu nombreux, car la plupart des textes d’application des lois fédérales sont des lois des Länder puisque les lois fédérales sont en général «exécutées» par les administrations des Länder et que ceux-ci sont en conséquence compétents pour édicter des lois d’application de la loi fédérale. En Espagne, la constitution attribue au Tribunal constitutionnel la compétence pour connaître des demandes de contrôle de la constitutionnalité des «actes normatifs ayant force de loi»27. La demande ne peut émaner que d’autorités publiques, notamment le gouvernement national, les exécutifs des communautés, cinquante députés ou sénateurs et le Défenseur du Peuple. Les actes normatifs susceptibles d’être contestés peuvent émaner de l’État ou de l’une des Communautés autonomes. Pour l’État, les règlements attaquables devant le Tribunal constitutionnel sont soit des «décrets législatifs», c’est-à-dire des règlements pris par le Gouvernement à la suite d’une habilitation législative, soit des «décrets-lois», c’est-à-dire des règlements pris en cas d’urgence ou de situation extraordinaire et ayant valeur normative jusqu’à l’approbation du Parlement. Mentionnons seulement pour mémoire la faculté qu’a le Gouvernement central de contester la constitutionnalité du règlement d’une Communauté autonome, le recours produisant alors un effet suspensif et le Tribunal constitutionnel disposant d’un délai de cinq mois pour statuer28. Au Portugal, le Tribunal constitutionnel peut être amené à se prononcer à la fois sur la constitutionnalité et la «légalité» d’un règlement administratif, soit à la suite d’une demande de contrôle concret des normes dirigée par une partie à un procès contre le jugement à qui elle reproche d’avoir mal contrôlé la régularité d’un règlement, soit à la suite d’une demande de contrôle abstrait déposée par un acteur de la vie politique ou le Pourvoyeur de justice ou encore le Procureur général29.
27
Art. 161, al. 1, a de la Constitution espagnole. Art. 161, al. 2 de la Constitution espagnole; F. Fernández Segado, El sistema constitucional español, 1992, pp. 1086 et 1123. 29 Art. 280 et 281 de la Constitution portugaise. 28
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Conclusion La vue d’ensemble de l’organisation du contrôle juridictionnel des règlements administratifs appelle quelques remarques qui concernent plus spécialement les droits administratifs allemand et français. Dans de nombreux pays, le législateur a été tenté de charger tous les juges de vérifier la validité des règlements administratifs qu’ils ont à appliquer à l’affaire dont ils sont saisis. Ce principe est irréprochable d’un point de vue théorique. Mais, dans la pratique, faute d’une spécialisation suffisante du juge, ce système ne semble pas permettre l’exercice d’un contrôle très poussé. C’est pourquoi le contrôle juridictionnel exercé à titre principal semble aujourd’hui être un système préférable et d’ailleurs, il tend à être adopté par un nombre croissant d’États. Ce contrôle à titre principal peut être exercé soit par le juge administratif, soit par le juge constitutionnel. Le contrôle exercé à titre principal par le juge administratif a donné en France d’excellents résultats. En particulier, le Conseil d’État, qui est compétent pour connaître en premier et dernier ressort des recours en annulation contre tous les règlements émanant du Gouvernement ou ayant un champ d’application s’étendant à l’ensemble du pays, a su développer une jurisprudence très audacieuse en ce domaine. On peut dire que les décisions les plus audacieuses et donc les plus libérales rendues par le Conseil d’État en droit administratif l’ont été à l’encontre des règlements du Gouvernement. Par exemple, avant même que les règles constitutionnelles aient été considérées comme des règles de droit immédiatement applicables, le Conseil d’État avait dégagé de l’esprit de la législation républicaine des principes généraux du droit fort contraignants pour le pouvoir exécutif, tels que le principe d’égalité, la liberté de l’industrie et du commerce ou le principe du respect des droits de la défense; aujourd’hui, la valeur constitutionnelle a été reconnue à la plupart de ces principes généraux du droit que les juristes allemands considéreraient comme découlant du principe de l’État de droit. Cette jurisprudence administrative qui est aujourd’hui vieille de plus d’un siècle a d’ailleurs servi de modèle au Conseil constitutionnel pour développer sa jurisprudence relative à la constitutionnalité des lois parlementaires depuis 1971. De surcroît, le Conseil d’État n’hésite pas à adresser au Gouvernement des injonctions d’édicter les règlements nécessaires à l’application effective d’une loi. Jusqu’à présent, le législateur allemand n’a développé que de façon hésitante le contrôle à titre principal des règlements par le juge administratif. Cela s’explique probablement par le fait qu’il a adopté après la Deuxième Guerre mondiale une conception binaire des relations entre les autorités administratives et les personnes privées, c’est-à-dire qu’il n’a pris en considération que les droits de la personne privée dont les droits sont atteints par
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l’action de l’administration, c’est-à-dire en pratique seulement ceux du destinataire de la décision individuelle de l’administration. Il est vrai que cette conception binaire est aujourd’hui fortement atténuée (les droits des tiers sont également pris en considération), mais elle n’est pas encore totalement abandonnée. Le fédéralisme allemand explique également en partie la faible place occupée en droit allemand par le contrôle des règlements administratifs par le juge administratif. D’une part, le législateur n’a autorisé le législateur des Länder qu’à confier aux juridictions administratives supérieures que le contrôle des règlements des Länder et encore seulement de ceux qui sont intervenus dans une matière appartenant au domaine de compétence des juridictions administratives. D’autre part, la question du contrôle juridictionnel des règlements administratifs se pose probablement de façon moins pressante en Allemagne qu’en France du fait que bien des règles d’application des lois fédérales sont définies en Allemagne, non par des règlements administratifs, mais par des lois des Länder. De ce fait, le contrôle juridictionnel de la régularité des règlements administratifs présente moins d’importance en Allemagne qu’en France. Quant au contrôle exercé par le juge constitutionnel, il a certes pris un certain essor en Allemagne, mais le fait qu’il soit limité à l’examen du respect des droits fondamentaux, fussent-ils interprétés de façon très extensive, n’a pas permis le développement d’une jurisprudence aussi abondante et aussi exigeante qu’en France, spécialement en ce qui concerne l’obligation de respecter le domaine de la loi. Cette constatation est d’autant plus remarquable que la Loi fondamentale de 1949 avait entendu enserrer dans des limites étroites le pouvoir réglementaire du Gouvernement fédéral. En particulier, l’interprétation de l’article 80 de la Loi fondamentale par la Cour constitutionnelle fédérale est empreinte de beaucoup de retenue30. Inversement la Constitution française de 1958 avait voulu élargir le pouvoir réglementaire du Gouvernement, mais cela n’a pas empêché le Conseil d’État de continuer à développer un contrôle très poussé du respect de la constitution et de la loi par les règlements du Gouvernement. De ce fait, le Conseil d’État apparaît comme un véritable juge constitutionnel quand il examine le recours pour excès de pouvoir dirigé contre un règlement administratif émanant d’une autorité gouvernementale. Au contraire, le Conseil constitutionnel peut seulement rappeler au législateur parlementaire son obligation d’exercer toute la compétence législative que lui a laissée la constitution de 1958. Ainsi les positions respectives du juge constitutionnel et du juge administratif sont inversées dans les deux pays: en France, le rôle principal est joué par le Conseil d’État alors qu’en Allemagne, il est joué par la Cour constitutionnelle fédérale. 30 M. Fromont, Le pouvoir réglementaire et le juge, in: Mélanges Waline, 1974, p. 27.
Good and Global Governance – Folgen und Nebenwirkungen für die Parlamente „Nachlese“ einer IIAS-Konferenz Klaus-Eckart Gebauer Seine Aufgeschlossenheit für interdisziplinären und internationalen Erfahrungsaustausch brachte Heinrich Siedentopf schon im Frühjahr 1972 in Kontakt mit dem Internationalen Institut für Verwaltungswissenschaften (IIAS) und dessen Deutscher Sektion. Seine Funktionen und Verdienste zumal als Präsident der Deutschen Sektion, als Mitbegründer der European Group of Public Administration (EGPA), als Mitglied des Exekutivkomitees des IIAS und als Publikationsdirektor sind anlässlich des Symposiums aus Anlass seiner Emeritierung gewürdigt worden.1 Bei aller Offenheit für einen weit verstandenen wissenschaftlichen Zugang zur „public administration“ behielt diese selbst in den Hoch-Zeiten der managerialen Konzepte für ihn immer auch ihren Bezug zu den Grundfragen der Rechts- und Staatswissenschaften. So war es Heinrich Siedentopf, der im Juli 2001 auf dem Governance-Kongress in Athen als Sitzungsleiter des Asian-Pacific-Panels nachdrücklich den Weltentwicklungsbericht von 1997 ins Gespräch brachte: „Der Staat in einer sich ändernden Welt“.2 Fünf Jahre später – der Governance-Begriff war längst zu einer Art lingua franca geworden, unter der sich alle Disziplinen und Staaten versammeln konnten – wurde im Juli 2006 auf dem IIAS-Kongress in Monterrey/ Mexiko das Schlüsselthema weitergeführt. Unter dem Leitbegriff „Transparency for Better Governance“ ging es erneut um Aufbau und Festigung des Vertrauens der Bürger in ihren Staat, um Kontrolle von Regierungs1 Vgl. die Beiträge von S. Fisch, C. Hauschild und F. Strehl in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der Öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 175, 191, 199. Das Institut mit Sitz in Brüssel ist ein weltweit angelegtes Zentrum für Wissenschaftler und Praktiker aus allen Bereichen von Regierung und Verwaltung. Informationen über Konferenzen und Publikationen unter www.iiasiisa.be/www.deutschesektioniias.de. 2 Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1997, Bonn 1997; K.-E. Gebauer, Reinventing Institutions and Values, in: DÖV 2001, S. 862, 864.
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macht und um die Teilhabe der Zivilgesellschaft.3 Aber es zeigten sich auch Anschlussfragen. I. Der Frageansatz Neben der Mitwirkung in den offiziellen Gremien und der Präsentation von Papieren besteht ein nicht unbedeutender Ertrag solcher Konferenzen darin, in Sitzungen und Gesprächen den einen oder anderen Trend herauszuhören, „zu Hause“ darauf aufmerksam zu machen und vor dem Hintergrund einer ersten Einordnung in den Diskussionsstand ggf. eigene Thesen und Anregungen vorzutragen. Auf einzelne Stichworte ist in dem Bericht über den Monterrey-Kongress hingewiesen worden (Anm. 3). Hier soll einem dieser Aspekte weiter nachgegangen werden: Im Kern geht es im nachfolgenden Beitrag um die Rolle der Parlamente im Kontext der Good and Global Governance-Debatte. Verknüpft damit wird gleichsam exemplarisch die Frage nach Funktion und Verankerung von Parlaments- und/oder Regierungsbeauftragten. Der unmittelbare Bezug zu dieser IIAS-Konferenz soll durch ein Zitat hergestellt werden, das für den Beobachter in bezeichnender Weise den verbreiteten Eindruck einer eher begrenzten Autorität parlamentarischer Gremien zum Ausdruck brachte. So formulierte die offizielle Berichterstatterin eines IIAS-Workshops in ihrem einführenden Papier: „Thus in democracies the ideal situation is to have separate institutions, over and above parliaments, that stand between governments and the citizentry to ensure accountability, responsiveness and openness in decision making and implementation by governments“.4
Die darin zum Ausdruck kommende parlaments-skeptische Haltung spiegelte sich in den Diskussionen des Arbeitskreises wider. Ein australischer Kollege hat das eher begrenzte Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Parlamente später auf einer Fachkonferenz in Neuseeland wie folgt kommentiert: „The belief that they so often fail, was so strong that there were suggestions that would surprise many constitutionalists . . .“5. 3 Dazu K.-E. Gebauer, Das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen stärken, in: DÖV 2007, S. 115; alle Konferenztexte hier zitiert nach ausgeteilten Unterlagen; Zugang ggf. über www.iiasiisa.be [Monterrey Conference]. Druckfassung ausgewählter Texte in Vorbereitung durch IIAS. 4 N. J. Mxakato-Diseko, In what way can agencies for public administration, as for example ombudsmen or State controllers, be strengthened and improved, Konferenztexte (Anm. 3), S. 6; „over and above“ hier zu verstehen als „zusätzlich zu, außer“ den Parlamenten. 5 R. Wettenhall, Parliaments, Executives and Integrity Agencies: Reporting on an International Conference on Transparency for Better Governance, Paper for 2006
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Aber Grundströmungen kommen auch auf andere Weise zum Ausdruck: Mit Ausnahme einer guten OECD-Analyse von Frau M. C. Pardo (Mexiko),6 war von funktionierender Parlamentsarbeit als Effizienzkriterium im Sinne der allgemeinen good governance-Anforderungen nicht die Rede. Einen solchen Bezug mag man auf früheren verwaltungswissenschaftlichen Kongressen – insbesondere unter den Leitbildern von New Public Management und Rational Choice („die vernunftgeprägten Entscheidungen der Individuen führen schon zum gemeinsamen Besten“) – auch nicht weiter erwartet haben. Aber im Zeitalter einer „Good Governance“, die in Abkehr von ökonomisch geprägten Ansätzen gerade das breite Zusammenwirken aller maßgeblichen Kräfte in Staat und Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt, scheint diese Abstinenz einer Nachfrage wert, zumal auch in Gesprächen mit Konferenzteilnehmern der Eindruck bestätigt wurde, dass die nach unserem tradierten Sprachgebrauch „erste Gewalt“ jedenfalls vom mainstream der weltweiten governance-Debatte nicht weiter wahrgenommen wird. Ist da zwischen all den Ansätzen zur Effizienz von Regierungsarbeit, zur Aktivierung der Bürgergesellschaft, zur Einbeziehung der NGOs, zu accountability, transparency und participation der Blick auf die gerade den Parlamenten aufgetragene Bündelungs- und Legitimationsfunktion in den Hintergrund getreten? Dabei soll mit Nachfragen zur good governance-Diskussion begonnen werden. Der Schritt zur „global“ governance-Debatte bietet sich dann von selber an. Aber wie verhält es sich eigentlich mit der Wahrnehmung der Parlamente in der „allgemeinen“ governance-Debatte? Müssen wir nicht nach möglichen Rückwirkungen auf die innerstaatliche Ebene suchen? Müssen wir nicht Demokratie- und Legitimationsdebatten, Parteien- und Parlamentskritik im Auge behalten? Und ziehen sich da nicht insgesamt über der Legislative – zumal vor unserem Bild einer repräsentativen Demokratie – auf mittlere Sicht einige Wolken zusammen? Was bedeutet die seit einiger Zeit auftauchende Formel vom „postparlamentarischen“ Zeitalter – und erweist sich ein „neoparlamentarischer“ Ansatz als Gegengewicht? Inzwischen finden wir eine Reihe interessanter Ansätze zur „Selbstbehauptung“ von Parlamenten (und Parlamentsverwaltungen), aber am Ende wird doch der Appell an Wissenschaft und Politik verbleiben: Im Spannungsfeld von Governance und Parlamenten weiter zu recherchieren, sich als Parlament seines Auftrags immer wieder zu vergewissern, ein möglicherweise erweitertes Rollenverständnis in die Gesellschaft hineinzutragen Annual Conference, Australasian Study of Parliament Group, Wellington 2006, S. 9; s. unten V. 6 M. C. Pardo, How to ensure access and openness in public governance?, Konferenztexte (Anm. 3).
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und im eigenen Interesse die Netzwerke zur Stärkung des Parlamentarismus in aller Welt auszubauen. II. Good Governance Prägend für die good governance-Diskussion wurde die Hinwendung der Weltbank und anderer internationaler Organisationen (z. B. IWF) zu einem Förderkonzept, das bewusst den „Effizienzwert“ stabiler staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen einbezog. Die IIAS-Konferenz von Monterrey blieb auf dieser Linie, wenn sie good governance als „transparent, accountable, service-minded, effective governance“ definierte: „Citizen knows what his public administration is doing – it gives the administration democratic legitimacy“. IIAS-Präsident Strehl zitierte in einem Dokument auch die UN-Commission on Human Rights mit ihren good governance-Attributen „transparency, responsibility, accountability, participation, responsiveness (to the need of the people)“.7 Darin stecken Kernelemente typisch parlamentarischer Verantwortung, und doch ergibt unsere Spurensuche auch etwa in den so genannten Weltentwicklungsberichten neben klaren Worten zum Ausbau der Gerichtsbarkeit nur recht vage Bezüge zu Parlamenten und Parlamentsverwaltungen. Selbst der ausdrücklich auf die Rolle des Staates abzielende 20. Bericht (Anm. 2) geht eher abstrakt darauf ein: „So erhöht die Gewaltenteilung das Vertrauen in die Stabilität der Gesetze. Vielfältige Vetopositionen können sich jedoch als zweischneidiges Schwert erweisen. (. . .) In einigen Ländern besitzt die Legislative aufgrund geringer Leistungsfähigkeit und unzureichender Information nur wenig Kontrolle. In anderen Ländern wiederum dominiert die Exekutive über eine willfährige Legislative“; die Entwicklung einer verfassungsmäßigen Machtkontrolle und Machtbalance oder deren effektivere Institutionalisierung sei eben ein schrittweiser Prozess.8 Zwar wird der Wert von Institutionen hervorgehoben, welche Verantwortlichkeit, Rechenschaftspflicht und Rechtsstaatlichkeit stärken, aber es sei – so der Bericht – „nicht einfach eine Frage von Demokratie vs. autoritäre Regierungssysteme. Wir müssen über diese groben Modelle politischer Organisation hinausgehen, um die Anreize zu verstehen, die staatliche Organisationen effizienter funktionieren lassen.“9 Eine aktive Gesellschaft und eine kompetente und professionelle Verwaltung seien die Doppelpfeiler einer konstruktiven Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft.10 7 F. Strehl, Governance – Good Governance, Manuskript 2006, S. 2; ähnlich auch EU-Kommission (Hrsg.), Weißbuch „Europäisches Regieren“, KOM (2001), 428 endg.: Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität, Kohärenz. 8 Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1997 (Anm. 2), S. 118. 9 Ebd., S. 184.
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So gewinnt neben einer Leistungssteigerung der Exekutive die Hinwendung zu NGOs und unmittelbarer Partizipation eine Schlüsselrolle. Auch in späteren Berichten wird die Arbeit der Parlamente zwar erwähnt, aber nicht als Leitwert und – soweit erkennbar – auch nicht im Sinne von Effizienzkriterien oder gar Fördervoraussetzungen. Im Mittelpunkt steht vielmehr durchgängig eine Art „Fragmentierung“ in verschiedene Legitimationsfaktoren.11 Allerdings muss man sich bewusst bleiben: Auch die Aufnahme nicht-ökonomischer Kriterien bedeutete keine Abkehr von der den maßgeblichen Institutionen (Weltbank, IWF) im Rahmen ihrer good governance-Förderstrategie aufgegebenen politischen Neutralität,12 sondern war nur ein neues Instrumentarium des unverändert auf wirksamen Mitteleinsatz ausgerichteten Programms. Nach der Analyse von Theobald blieb die Weltbank damit – jedenfalls für seinen Untersuchungszeitraum – „auf die ökonomische Dimension von Good Governance beschränkt. Staat und Verwaltung werden vornehmlich unter Effizienzgesichtspunkten betrachtet“.13 An anderer Stelle heißt es: „Die Verteilung politischer Macht und die Institutionalisierung der Gewaltenteilung beziehungsweise -verschränkung (. . .) bleiben von der Betrachtung ausgeblendet.“14 Das wird anschaulich belegt: „Eine übermäßige gesetzliche Regelung der Prozesse der Haushaltsaufstellung erweist sich nach Ansicht der Weltbank eher als hinderlich, so belastet der Gesetzgeber in seinem Bestreben der Bindung der Regierung oftmals unnötig das Haushaltsgefüge durch extensive und teilweise sich widersprechende rechtliche Vorgaben.“15 10
Ebd., S. 187 (Hervorhebung vom Verf.). Zur „fragmentarisierten Staatlichkeit“ vgl. etwa die Nachweise bei M. Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit – zum Konzept der „Global Governance“, in: Verwaltungsarchiv 2007, S. 30, 43; s. dazu auch schon H. H. Klein, Repräsentative Demokratie im Kommunikationsprozess, in: H. H. Klein, Das Parlament im Verfassungsstaat, Tübingen 2006 (herausgegeben von M. Kaufmann/K.-A. Schwarz, Erstveröffentlichung 1997), S. 78, 107. 12 Zum Ausschluss „politischer Faktoren“ und zur Zurückhaltung in Sachen „Democracy als Kriterium von good governance“ vgl. B. Rudolf, Is ‚Good Governance‘ a Norm of International Law?, in: P.-M. Dupuy/B. Fassbender/M. N. Shaw/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Common Values in International Law, Kehl 2006, S. 1007, 1009 ff.; s. a. K.-P. Sommermann, Demokratie als Herausforderung des Völkerrechts, ebd., S. 1051, 1057 ff. 13 C. Theobald, Governance in der Perzeption der Weltbank, in: K. König/M. Adam/B. Speer/C. Theobald (Hrsg.), Governance als entwicklungs- und transformationspolitisches Konzept, Berlin 2002, S. 55, 78; s. a. ders., Zur Ökonomik des Staates: Good Governance und die Perzeption der Weltbank, Baden-Baden 2000, S. 286; sehr informativ zur allgemeinen Weltbank-Strategie H. Fuhr, The World Bank’s Assistance to Public Sector Reform in Latin America – Experiences and New Challenges, in: A. Benz/H. Siedentopf/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung. Festschrift für K. König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 631 ff. 14 Theobald, Governance (Anm. 13), S. 77. 11
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Zugleich ist unbestreitbar, dass mit der Festigung der genannten Faktoren Teilelemente stabilisiert werden, die im Ergebnis dazu beitragen können, demokratische staatliche Strukturen (auch über Parlamente) zu erreichen. Es sind gleichsam Basiskriterien zur Schaffung oder Festigung des vorpolitischen Raums. Als strategischer Beitrag zur Stabilisierung von Parlamenten oder Parlamentsbewusstsein kann ein solcher good governance-Ansatz aber nicht gesehen werden. Ohne vertiefende, insbesondere empirische Untersuchung soll an dieser Stelle davon abgesehen werden, einen verifizierbaren Zusammenhang zwischen dieser good governance-Linie und einer nicht nur auf dem IIAS-Kongress erkennbaren parlaments-skeptischen Haltung herzustellen; für den Stellenwert des Parlaments bleibt die politische, gesellschaftliche und rein tatsächliche Ausgangslage in den jeweiligen Ländern sicherlich ein entscheidender Faktor.16 Aber es liegen hinreichend Anhaltspunkte vor, um in weiterführenden Arbeiten einer möglichen (Mit-)Kausalität einmal nachzugehen: Ist nicht fast eine halbe Generation der politischen und administrativen Eliten in den „Nehmerländern“ – und darüber hinaus – durch entsprechende governance-Konzepte auch in ihrem Institutionenverständnis geprägt worden?17 Hat also im Ergebnis der Anstoß zu einer „fragmentierenden“ good governance-Debatte gleichsam eine „begriffliche Leitwährung“ geprägt, die sich in ihrer eher parlamentsfernen Struktur möglicherweise längst verselbständigt hat – und zwar unbeschadet der Tatsache, dass in den letzten Jahren international und bilateral durchaus parlamentsrelevante Fördermaßnahmen eingeleitet wurden? Auch wenn in unserem Zusammenhang – die Anknüpfung an die Linie des IIAS-Kongresses – das oben skizzierte good governance-Konzept im Mittelpunkt steht, so bleibt zur Abrundung und im Blick auf mögliche 15
Ebd., S. 110. Vgl. dazu die eindrucksvolle Studie von W. Eberlein/A. Henn, Parlamente in Subsahara Afrika: Akteure der Armutsbekämpfung, Studie im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Eschborn 2003; s. a. die Daten bei T. Debiel/D. Messner/F. Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends, Frankfurt a. M. 2006, S. 242. 17 In diesem Sinne auch M. Adam, Governance und öffentliche Verwaltung in der technischen Zusammenarbeit der Vereinten Nationen, in: König u. a. (Hrsg.), Governance (Anm. 13): „. . . haben die Hilfsprogramme der ersten Entwicklungsdekaden der Rolle legislativer Vertretungskörperschaften . . . zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“ (S. 129, 132); s. a. A. Stockmayer, Governance – aus der Praxis der GTZ, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Baden-Baden 2005, S. 251, 258: (Die Parlamente) „haben neue Aufgaben, obwohl die hierfür notwendigen Akteure die Teilhabe an der Politik noch gar nicht eingeübt haben, geschweige denn sie in einer Weise ausüben, die ihre Legitimität und damit die Nachhaltigkeit der Politik stärken.“ 16
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Handlungsansätze darauf hinzuweisen, dass in der mittelbaren oder unmittelbaren Parlamentsförderung einiges in Bewegung gekommen ist. Das vollzog sich neben einer Zuordnung zu einem politisch flexibleren good governance-Begriff18 vorwiegend unter dem Stichwort „Demokratieförderung“. Inzwischen findet man zahlreiche internationale und nationale Ansätze ganz unterschiedlicher Struktur, und es wäre an der Zeit, diese verstreuten Programme systematisch zu erfassen.19 Eine Schwierigkeit liegt offenbar darin, dass viele parlamentsrelevante Maßnahmen entweder Teil von Sektorkonzepten (wie z. B. Armutsbekämpfung, Gender) oder nur allgemein ausgewiesenen Demokratisierungsprogrammen sind.20 Erwähnt werden soll hier die Entwicklung bei der Weltbank. H. Fuhr hat mich auf ein ganz konkretes und erfolgreiches Projekt beim chilenischen Kongress hingewiesen.21 Überdies unterstützt die Weltbank seit einigen Jahren das sog. Parliamentary Network on the World Bank (PNoWB) und informiert auf der in Anm. 20 genannten Website über einige Aktivitäten. Dabei fällt dem World Bank Institute eine besondere Rolle zu, und vor dem Hintergrund der ursprünglich offenbar großen politischen Zurückhaltung ist es für die Weltbank ein bedeutsamer Schritt, gemeinsam mit dem Parliamentary Centre (Kanada) ein „Parlamentarian’s Handbook“ ins Internet einzustellen. Als Legitimation dient allerdings auch hier nicht der Wert des Parlamentarismus an sich, sondern – auf der Linie der klassischen Effizienzfaktoren – der Hinweis auf accountability: „This collection of essays 18 Zu Unterschieden zwischen dem Weltbank- und dem OECD-Konzept etwa T. Fuster, Die „Good Governance“-Diskussion der Jahre 1989–1994, Bern/Stuttgart/ Wien 1998; Stockmayer, Governance (Anm. 17) weist auf die abweichenden Ansätze bei Kreditvergabe einerseits (Konditionalität) und Beratung hin (S. 251, 252 f.). 19 Nach Eberlein/Henn, Parlamente (Anm. 16), S. 8, existiert „eine breite, systematische Förderung von Parlamenten“ (jedenfalls für seinen Untersuchungsbereich) nicht. Einen ersten Überblick über interessante Ansätze geben einzelne Websites, z. B. www.unpan.org/legislation; www.undp.org/governance/sl-parliaments; www. ipu.org; www.imf.org; www.worldbank.org/parliamentarians; s. a. Sommermann, Herausforderung (Anm. 12), S. 1051, 1059. 20 Theobald, Zur Ökonomik (Anm. 13), S. 223 f., erwähnt einzelne unterstützende Maßnahmen der Weltbank (betreffend Gesetzblätter, Staatsanzeiger, Entscheidungsanmerkungen, Datenbanken, Fachzeitschriften, Lehrbücher, Förderung von Legal Units); Eberlein/Henn, Parlamente (Anm. 16), S. 3, berichten, dass neben dem großen Ziel good governance die Maßnahmen „zur Parlamentsförderung noch sehr überschaubar waren, aber – immerhin – einiges an Ressourcenausstattung und capacity building erfolgt sei“. 21 Es handelte sich um eine Komponente im Rahmen des „Second Public Sector Management Projects (3411-CH)“; nähere Informationen dazu über Prof. Harald Fuhr (Universität Potsdam); aber offenbar hält sich die – ja politisch sensible – Nachfrage nach systematischer Parlamentsberatung noch immer in Grenzen.
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focuses on parliamentary accountability, the role of parliament as an important link in the chain of accountability between government and citizens.“ Dass viel zu tun bleibt, zeigt dieser Satz: „Though most people believe that parliaments are supposed to be one of the primary institutions holding governments to account, in many countries of the world they are seen as failing dismally at the task. From this gap between parliamentary principle and practice, some draw the conclusion that parliaments are hopeless.“22 In sieben Kapiteln werden auf einhundert Seiten grundsätzliche Positionen und Fallstudien vorgestellt: The Ecology of Governance and Parliamentary Accountability, Systems of Governance and Parliamentary Accountability, The Member of Parliament’s Environment of Accountability, Parliament and the Budget Cycle, Globalization, Parliaments and Civil Society, Strategic Planning – A Key Tool for Effective Support to Parliaments, The Changing World of Parliament. Dieses Dokument könnte zu einem Meilenstein werden bei der Entwicklung eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen good governance und Parlamentarismus. Wer den Parlamentarismus als solchen stärken will, wird prüfen, ob er nicht hier ansetzen sollte. Denn muss es nicht im Interesse aller Parlamente liegen, unabhängig von konkreten Förderprogrammen generell darauf hinzuwirken, dass neben der Effizienz von Regierungsarbeit, Mitwirkung von NGOs und den etablierten Einzelfaktoren (wie accountability usw.) auch eine zuverlässig funktionierende Parlamentsarbeit als selbstverständliches Leistungsmerkmal von good governance wahrgenommen wird? Unbeschadet dessen wird die Förderpraxis „vor Ort“ nach wie vor eine politisch sensible Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erfordern. Neben dieser grundsätzlichen Thematik noch zwei kleinere Anmerkungen: So visualisierte IIAS-Präsident Strehl den GRICS (Governance Research Indicator Country Snapshot).23 Dieser gilt wie vergleichbare andere Indikatoren längst nicht mehr nur für Entwicklungsländer. Die Kriterien Voice and Accountability, Political Stability, Government Effectiveness, Regulatory Quality, Rule of Law, Control of Corruption geben immerhin Spielraum für eine gezielte Gewichtung auch der Parlamentsarbeit. Achten die „klassischen“ Legislativen darauf, dass dabei ihre Interessen wahrgenommen werden? 22
Parliamentary Centre/World Bank Institute (eds.), Parliamentary Accountability and Good Governance. A Parlamentarian’s Handbook, www.parlcent.ca/www.world bank.org/wbi, S. 8 f. 23 Bei Strehl zitiert nach: www.worldbank.org/wbi/governance/pubs/Govmat ters4.html; zu Indikatoren für Good Governance s. a. Debiel u. a. (Hrsg.), Globale Trends (Anm. 16), S. 234 ff.
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Zugleich wurde in Mexiko die Gefahr deutlich, dass sich Teilkomponenten in ihrem politischen Gewicht verselbständigen könnten. Das galt besonders für transparency; sie wurde von manchen Ländervertretern (unter Hinweis auf ihre Informationsfreiheitsgesetze) als zentraler Leitwert und Demokratienachweis herausgestellt und mit eher originellen Beispielen unterfüttert (Veröffentlichung aller Reisekostenabrechnungen im Internet). Die Parlamente in unserer repräsentativen Demokratie sollten es sich leisten können, die Schwerpunkte wirklich politischer Transparenz anders zu setzen. Und es wäre gerade um „transparency“ schlecht bestellt, wenn man vor lauter Bäumen (sprich einzelnen Legitimationsfaktoren) den Wald der parlamentarischen Gesamtverantwortung nicht mehr sehen würde.24 III. Global Governance Während die Rolle der Parlamente im Kontext der good governance-Thematik eher randständig und in der wissenschaftlichen Aufbereitung wenig erschlossen scheint, ist das Bezugspaar „Global Governance und staatliche Gewalten“ seit längerem ins Blickfeld geraten.25 Aus deutscher Sicht setzt sich hier das in unserer Verfassung angelegte Problem parlamentarischer Mitwirkung und Regierungskontrolle im Mehrebenensystem (Stichworte: Bundesrat/EU) in zugespitzter Weise fort. Das bedeutet zusätzliche Rollenprobleme.26 Auf Ebene der EU wird immerhin – wenn auch abgeschwächt – am Prinzip repräsentativer Demokratie festgehalten und auch den nationalen (im Ansatz auch den subnationalen) Parlamenten kommen weiterhin bestimmte Funktionen zu. Die Globalisierung ist demgegenüber durch räumliche wie strukturelle „Entgrenzung“ gekennzeichnet. Deren Prozesse verlaufen weder mittelbar noch unmittelbar in den klaren Bahnen nationalstaatlich abgesicherter Legitimation, sondern eher in Form einer problemorientierten Gemengelage, die sich der klassischen Definition von Staatlichkeit (einheit24 Auch W. Leisner, der – an sich – „einer übersteigerten Parlamentarisierung“ entgegentritt, warnt davor, dass die Botschaft der Demokratie, in allzu viele ‚Ausprägungen‘ chiffriert, unlesbar werden könnte (Rezension, in: DÖV 2007, S. 361, 362). 25 s. dazu insbes. S. Marschall, „Niedergang“ und „Aufstieg“ des Parlamentarismus im Zeitalter der Denationalisierung, in: ZParl 2002, S. 377 ff.; U. Tausch, Was ist Globalisierung, Darmstadt 2004, S. 126; s. a. allgemein M. Zürn, Global Governance, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 17), S. 121 ff.; B. v. Hoffmann (ed.), Global Governance, Frankfurt a. M. 2004 (Schriftenreihe des Instituts für Rechtspolitik an der Universität Trier, Band 2). 26 Vgl. dazu A. Benz, Governance-Forschung im Mehrebenensystem, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 17), S. 95 ff.
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liches Staatsgebiet, einheitliche Staatsgewalt, einheitliches Staatsvolk) entzieht. Hinzu treten einflussreiche Akteure, deren Entscheidungen, Standardabsprachen oder Arrangements nicht nach parlamentarischen Mustern ablaufen. Dabei ist es sicher zu früh, von einer generellen Entmachtung staatlicher Institutionen zu sprechen; das zeigt der Hinweis auf die etwa 2.000 Regierungsgremien.27 Aber gerade „global“ sind es längst die viel beschworenen multinationalen Konzerne und wirkmächtigen Verbände mit nichtökonomischer Zielsetzung, die ihren eigenen Part übernehmen – als Ausdruck einer auch strukturellen Entgrenzung von Entscheidungsmacht. Hier finden wir seit einem Jahrzehnt die Formel von „Governance without Government“. Allerdings bleibt darauf hinzuweisen, dass der Begriff in seiner Entstehung durchaus nicht auf eine Ablösung der Staatsgewalt abzielte, sondern aus der Idee erwuchs, dass die nicht mehr nationalstaatlich beherrschbare Entscheidungsstruktur mancher globalen Prozesse angesichts einer fehlenden Weltregierung dann wenigstens zu einer neuen Verbundregulierung aller beteiligten Kräfte führen müsse – staatliche Kapazitäten dabei nicht ausgeschlossen. Daran sollte angesichts mancher weitergehenden „Entstaatlichungstendenzen“ erinnert werden.28 Noch liegt es in der Hand der staatlichen Gewalten, sich in die Entscheidungsnetzwerke mit einzubringen. Dass dieses zumal für die Parlamente ungleich schwieriger wird als im herkömmlichen Staat, ist offensichtlich. Allein die hinreichende und vor allem rechtzeitige Teilhabe am weltweiten Informationsfluss ist selbst für Regierungen ein Problem, das bei den Parlamenten zusätzliche Koordinationsleistungen erfordert. Auf Bundes- und Landesebene sind Mechanismen einer „Vorabinformation“ auf den Weg gebracht worden, die in Vereinbarungen zwischen Regierungen und Parlamenten ihren Niederschlag gefunden haben.29 Bereits im Zusammenhang mit dem Stichwort der „Fragmentierung“ des parlamentarischen Legitimationsauftrages haben wir die Frage einer Rückwirkung auf den internationalen Stellenwert von Parlamenten angedeutet. 27 Nachweise bei K. König, Governance als Steuerungskonzept, in: König u. a. (Hrsg.), Governance (Anm. 13), S. 9, 30. 28 N. Rosenau/E.-O. Czempiel (eds.), Governance without Government: Order and Change in World Politics, Cambridge 1992. Zur Zentralität des Staates trotz struktureller Veränderung von Staatlichkeit aufschlussreich jetzt P. Genschel/B. Zangl [Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel, Universität Bremen], Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20–21/2007, S. 10 ff. 29 s. im Einzelnen K.-E. Gebauer, Verfassungsergänzende Verfahrensregelungen als Instrument des Regierens, in: W. Jann/K. König (Hrsg.), Regieren zu Beginn des 21. Jahrhunderts (im Erscheinen); zur wachsenden Bedeutung „informationsrechtlicher Rückbindung“ an den legitimierten Gesetzgeber, s. a. Seckelmann, Staatlichkeit (Anm. 11), S. 32.
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Daran kann bei der „global governance“ unmittelbar angeknüpft werden. Wie wirkt sich langfristig das Bemühen um eine nichtparlamentarische Legitimation von Entscheidungen auf die weltweite Wahrnehmung und Gewichtung der Legislativen aus – auch innerstaatlich? Müssen nicht gerade jene, die dem Regime der global governance verlässliche Strukturen einziehen wollen (denen aber die tradierten Legitimationsmuster parlamentarischer Demokratie nicht zur Verfügung stehen), sich beim „Kampf ums Recht“ oder jedenfalls verwandte Strukturen auch Alternativen, zumindest sich parallel entwickelnden Legitimationsmustern öffnen? Damit berühren wir Diskussionen, die unter dem Stichwort Demokratietheorie und Legitimation schon seit einiger Zeit geführt werden. Insbesondere bringt ein Verfassungsvergleich selbst innerhalb Europas die Erkenntnis, dass neben unserem parlamentszentrierten Legitimationsmodell auch andere Erscheinungsformen demokratischer Absicherung anerkannt werden. Diese reichen von stärker partizipatorischen Elementen bis zum schlichten „Erfolg“, der ggf. zur demokratischen Bestätigung durch Wiederwahl führt. An dieser Stelle muss es genügen, neben dem Hinweis auf den zentralen Beitrag von K.-P. Sommermann30 auf einige Positionen aufmerksam zu machen, die erkennen lassen, wie weit sich im Grunde auch die staats- und völkerrechtliche Diskussion bereits solchen „Kompensationsmodellen“ geöffnet hat. So schließt A. v. Bogdandy im Hinblick auf den Demokratiebegriff eine „fundamentale Neuorientierung verfassungsrechtlicher Arbeit“ nicht mehr aus.31 Auch für P. M. Huber führt der Vergleich bzw. die Konfrontation mit den Demokratieverständnissen anderer Staaten zu einer Hinterfragung zementiert wirkender Interpretationsmuster; er folgert daraus, das überkommene holistische, sich in den klassischen Formen der Legitimation erschöpfende Verständnis zunehmend durch ein menschenrechtliches zu ergänzen und zu unterlegen. Kern der Demokratie sei die Selbstbestimmung des Einzelnen – das ermögliche besser die Bewältigung der mit der Europäisierung, 30 K.-P. Sommermann, Demokratiekonzepte im Vergleich, in: H. Bauer/P. M. Huber/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, Tübingen 2005, S. 191 ff., 205 ff.; ders., Herausforderung (Anm. 12), 1060 f.; T. Stein, Demokratische Legitimierung auf supranationaler und internationaler Ebene, in: ZaöRV 2004, S. 563, 565; s. a. C. Böhret, Statement zu global governance, in: J. Ziekow (Hrsg.), Herausforderungen der Globalisierung für die nationale und supranationale Politik, Speyer 2006, S. 115 („Demokratiestandards“); zur „output-Orientierung“ s. Y. Papadopoulos, Governance und Demokratie, in: A. Benz (Hrsg.), Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 215, 232. 31 A. v. Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts, in: Bauer u. a. (Hrsg.), Demokratie (Anm. 30), S. 225, 250, 252.
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Internationalisierung und so genannten Staatsmodernisierung verbundenen Legitimations-, Partizipations- und Steuerungsprobleme.32 Die aus der räumlichen (man kann auch formulieren: vertikalen) Entgrenzung erwachsenen Folgen für unsere Parlamente betreffen primär ihren Einfluss auf Entscheidungen, die jenseits des Nationalstaates getroffen werden. Aber es geht ja auch um mehr, nämlich die inzwischen selbstverständliche Teilhabe nichtstaatlicher Akteure am Entscheidungsprozess – also um einen Weg, der im Verbund mit weiterer Entstaatlichung ebenfalls zur Entparlamentarisierung führt. Beides kommt zusammen. Wenn führende Bundestagsabgeordnete zumal der Opposition vor diesem Hintergrund die Globalisierung als Element einer Befreiung von zu viel Staat begrüßen, dann scheint die Frage nach bereits erkennbaren „Nebenwirkungen“ der Globalisierungsdebatte auf das Rollenverständnis auch klassischer Parlamente nicht zu weit hergeholt.33 IV. Governance im innerstaatlichen Umfeld Tatsächlich treffen zentrale Elemente der good- und global-Diskussionen mit Strömungen zusammen, die – unter welcher Bezeichnung auch immer – längst die innerstaatliche Ebene erreicht haben. Governance ist der begriffliche „Joker“ nahezu aller Reformbestrebungen, mögen sie in Richtung stärkerer Partizipation der gesellschaftlichen Gruppen oder eher in Richtung Gewährleistungsstaat und (De-) Regulierung gehen.34 Schon wird darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer neuen „Verhandlungsdemokratie“ Par32
P. M. Huber, Demokratie in Europa – Zusammenfassung und Ausblick, in: Bauer u. a. (Hrsg.), Demokratie (Anm. 30), vgl. S. 491, 511; zur Rolle der Parlamente in diesem Kontext bereits H. H. Klein, Die Funktion des Parlaments im politischen Prozess, in: ders., Parlament (Anm. 11), S. 304, 313; G. F. Schuppert, The Changing Role of the State Reflected in the Growing Importance of Non-StateActors, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Global Governance and the Role of Non-StateActors, Baden-Baden 2005, S. 203, 221 ff., 239 (Pluralisation of Law Production). 33 G. Westerwelle, Zuversicht statt Zukunftsangst, in: FAZ Nr. 116 v. 21.05.07, S. 8: „Die Globalisierung ist ein Prozess, in dem staatliches Handeln an Gestaltungskraft verliert. Viele in den entvölkerten Volksparteien sehen das als Bedrohung. Die Freien Demokraten sehen das als Chance. Denn wir haben ohnehin zu viel Staat in Deutschland . . . Die Globalisierung gibt die Chance, die verstaatlichte Verantwortung wieder zurück in die Hände der Bürgerinnen und Bürger zu geben.“ 34 W. Jann, Governance als Reformstrategie – Vom Wandel und der Bedeutung verwaltungspolitischer Leitbilder, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 17), S. 21, 24, 37; s. a. H. Hill, Good Governance-Konzepte und Kontexte, ebd., S. 220, 223; J. Bogumil/W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 290 (Glossar); A. Benz, Governance – Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept, in: Benz (Hrsg.), Regieren (Anm. 30), S. 11 ff.
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lamente im Grunde als „hierarchisch“ einzuordnen sind – weil eben nicht das alle umfassende Konsensprinzip gilt, sondern ausdrücklich die Mehrheit eine Entscheidung erzwingen kann.35 Die Jahrestagung 2002 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat sich unter dem Thema „Leistungsgrenzen des Verfassungsrechts“ in Beiträgen von M. Herdegen und M. Morlock mit der „Informalisierung und Entparlamentisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung“ beschäftigt.36 In der inzwischen sieben Bände umfassenden Schriftenreihe zur Governance-Forschung finden wir klare Formulierungen von W. Hoffmann-Riem: Nicht von ungefähr werde daran gearbeitet, „das Bild von der (linear gedachten) Legitimationskette zu überwinden und durch das Erfordernis eines problemangemessenen Legitimationsniveaus abzulösen und dabei eine Pluralität legitimationsstiftender Faktoren anzuerkennen“. Als die demokratische Ableitung staatlicher Herrschaft vom Parlament ergänzende Legitimationsfaktoren könnten u. a. einsetzbar sein: Transparenz, Verfahrensfairness, Funktionsfähigkeit verfügbarer Entscheidungsstrukturen, Erwartungssicherheit, Output-Richtigkeit, Erfolgskontrolle.37 Bei HoffmannRiem und anderen ist durchaus von ergänzenden Legitimationsfaktoren die Rede – aber kann es befriedigend sein, wenn sich die Rolle der Parlamente in Richtung einer eher notariellen Beglaubigung oder einer möglichen Drohkulisse bei mangelnder Verhandlungsbereitschaft der Akteure entwickelt?38 Hinzu kommt atmosphärisch das ganze Spektrum offener oder latenter Parlaments- und Parteienkritik. Man mag sagen, dies alles sei im Einzelnen so neu ja nicht. Das ist richtig; aber können wir von der Hand weisen, dass sich Elemente dieser Strömungen auf den verschiedenen Ebenen – nicht plötzlich im Sinne der Chaostheorie, aber vielleicht doch mittelfristig erodierend – zur Schnittmenge einer buchstäblich kritischen, für die Parlamente auch politisch relevanten Masse verdichten?39 Der Blick auf einen konkreten Fall aus dem IIAS-Workshop in Monterrey mag das ergänzen. 35 A. Hérétier, New Modes of Governance in Europe: Policy-Making without Legislation, in: Common Goods – Reinventing European and International Governance, Lanham 2002, S. 185; Papadopoulos, Governance (Anm. 30), S. 229. 36 Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 62, Berlin 2003. (Nähe zum Thema verspricht auch die Jahrestagung 2007 mit dem Thema „Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung“.) 37 W. Hoffmann-Riem, Das Recht des Gewährleistungsstaates, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, Baden-Baden 2005, S. 89, 106 f. 38 Hérétier, New Modes (Anm. 35), S. 187, 338. 39 In der Tendenz m. E. ähnlich P. Kirchhof, Die Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, in: Juristenzeitung 2004, S. 981, 985: „Für jede einzelne Entwick-
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V. Am konkreten Fall: „Officer of Parliament“ Schlüsselelemente der vorstehend skizzierten Grundsatzfragen zur Rolle der Parlamente und künftigen Partizipationsformen wurden wie in einem Brennglas in dem eingangs erwähnten Workshop: „In what way can agencies for public accountability, as for example ombudsmen or state controllers, be strengthened and improved?“ fokussiert. Die in Monterrey präsentierten Papiere und Statements machten deutlich, wie stark vergleichbare Einrichtungen bei der Exekutive (Präsident oder Regierungschef) verankert sind – mit allen darin angelegten Einflussmöglichkeiten über Organisation, Personal und Haushalt. Roger Wettenhall prägte die Diskussion durch seinen Bericht über eine umfassende Studie aus dem Bereich der Commonwealth-Staaten, der nach Ansätzen in Neuseeland im australischen Bundesstaat Victoria umgesetzt werden soll. Das Ergebnis dieser Studie: Zumindest ausgewählte „agencies“ (Bürgerbeauftragter, ggf. Rechnungshof) sollten am Besten bei den Parlamenten verankert werden („Officer of Parliament“).40 Wir haben im Workshop darauf hingewiesen, dass dieses Konzept, etwa in Rheinland-Pfalz, seit Jahrzehnten praktiziert wird. In seinem Vortrag vor der Jahreskonferenz der Australasian Study of Parliament Group 2006 in Wellington berichtete Wettenhall, der Parlamentsdirektor von Rheinland-Pfalz, „was fairly insistent, that his legislature had similar rights in relation to a State Commission for Data Protection and . . . other . . . agencies . . .“.41 Der Blick auf die in englischer Sprache vorliegende Homepage des rheinland-pfälzischen Datenschutzbeauftragten stand dann am Beginn eines elektronischen Erfahrungsaustausches zwischen Victoria und dem Landtag von Rheinland-Pfalz. In der Diskussion blieben Wettenhall und der Verfasser in ihrem Vertrauen auf die entsprechende parlamentarische Leistungs- und Durchsetzungskraft allerdings in der Minderheit; immerhin hat die Berichterstatterin des Arbeitskreises in der Schlusssitzung auf unsere gemeinsame Linie hingewiesen. Aber unabhängig davon stellt sich auch in Deutschland die Frage nach Abgrenzungskriterien für eine Regierungs- oder Parlamentsanbindung; allein die Anlage zu § 45 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien enthält eine lange Liste von „Beauftragten“. Und auch in den Ländern treffen wir auf ganz unterschiedliche Rechtskonstruktionen, etwa zur organisatorischen Zuordnung der Datenschutzbeauftragten. Wettenhall lungslinie mögen gute Grunde sprechen, ihr Zusammenwirken höhlt die parlamentarische Demokratie aber substantiell aus.“ 40 R. Wettenhall, The Problem of Defending Agencies for Public Accountability that are sometimes in Conflict with their Funding Governments, Konferenztexte (Anm. 3), S. 10. 41 Wettenhall, Parliaments (Anm. 5), S. 9 f.
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hat in seinem Bericht in Mexiko einen ersten Katalog vorgelegt42 und das Thema in seinem Vortrag in Wellington ausgebaut. Dass Klärungsbedarf zur Ausgestaltung einer hinreichenden institutionellen, funktionalen und materiellen Unabhängigkeit von „Beauftragten“ besteht, bestätigt die am 18. Juli 2007 von der EU-Kommission beim Europäischen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereichte Klage zur Aufsicht über Datenschützer, die private Einrichtungen überwachen sollen.43 Aber es geht im Grunde um mehr als nur die Abgrenzung zwischen Exekutive und Legislative. Das eingangs wiedergegebene Zitat der Berichterstatterin (agencies als „separate institutions over and above parliaments . . .“) weist auf eine zweite, ggf. viel brisantere Spur. Eine damit verbundene Kernfrage ist schon angeklungen: Was kann denn „over and above“ (also: zusätzlich zu, außer den Parlamenten) im Ergebnis bedeuten – ein neuartiges Wahlamt, das unmittelbar von Bürgern eingesetzt wird, eine Art „neue“ Gewalt neben Legislative, Exekutive und Rechtsprechung?44 Finden sich hier nicht unmittelbare inhaltliche Querverbindungen zur politischen Aufwertung von Teilsegmenten wie accountability, transparency, participation – selbst bei einer im IIAS-Workshop nicht generell abgelehnten Verbindung zu bestehenden Verfassungsorganen? H. H. Klein zitiert in diesem Zusammenhang die von B. Wehner entworfene Konzeption einer mehrspurigen Demokratie; diese solle die gewachsene Bedeutung von Sachverstand institutionell gewährleisten und zugleich demokratisch legitimieren. Für abgegrenzte Problemkreise seien vom Volk direkt oder indirekt Beauftragte mit eigenen Entscheidungszuständigkeiten zu bestellen. Klein ist allerdings skeptisch, weil ihm unklar bleibt, was ein solches System demokratischer Expertokratien „im Innersten“ zusammenhält; das bedürfe jedenfalls weit ausgreifender Überlegungen.45 Eine solche 42 Trotz seiner Sympathie für die Institution eines „Officer of Parliament“ geht R. Wettenhall von hohen Anforderungen für eine Parlamentsanbindung aus: Bestellung nur zur Kontrolle möglicher exekutiver Willkür; Tätigwerden nur, wo parlamentarische Zuständigkeit vorliegt; im Hinblick auf den Sonderstatus Einrichtung nur nach jeweiliger Einzelentscheidung des Gesetzgebers (s. Anm. 40); zum Thema „Beauftragte“ allg. s. M. Fuchs, Beauftragte in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1985; H.-M. Krepold, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, Aachen 1995; G. Püttner, Das Beauftragtenwesen in der öffentlichen Verwaltung, in: Benz/Siedentopf/ Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel (Anm. 13), S. 231, 233. 43 FAZ Nr. 178 v. 3.8.2007, S. 4. 44 Wettenhall, Parliaments (Anm. 5), S. 9 f.; offenbar ist die Diskussion seit Monterrey weitergegangen. So spricht der voraussichtliche Präsident der neuen Verfassunggebenden Versammlung in Ecuador, Acosta, ausdrücklich davon, auch die Einrichtung einer neuen Vierten Gewalt zu prüfen, insbesondere zur Korruptionbekämpfung, s. FAZ Nr. 232 v. 6.10.2007, S. 6. 45 Klein, Funktion des Parlaments (Anm. 32), S. 321.
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Mehrspurigkeit im Sinne einer Vierten Gewalt, wie es jetzt in der Reformdebatte in Ecuador ausdrücklich überlegt wird (Anm. 44), würde den Stellenwert des Parlaments, übrigens auch des Öffentlichen Dienstes, in Frage stellen. Im Zuge der Agentur- und Gewährleistungsdebatten hat das Thema an Aktualität gewonnen und wird auch in dem Sammelband „Demokratie in Europa“ behandelt; dabei sprechen sich Hermes und Sommermann für eine Anbindung an ein „zentralpolitisches Repräsentationsorgan“ bzw. „an bestehende parlamentarische verantwortliche Aufsichtsgremien“ aus.46 Einen unmittelbaren Bezug zur good governance stellt das „Parliamentarian’s Handbook“ her – mit einer prononcierten Stellungnahme: „They now look to so-called arms length institutions, such as ombuds offices, human rights commissions and auditors general, to fill the accountability vacuum. While specialized institutions like this have an important role to play in strengthening accountability, they have little chance of being effective without a surrounding environment of open, competitive politics. In other words, specialized accountability bodies are only a supplement, not a substitute, for parliamentary accountability.“47 VI. Handlungsansätze Good governance, global governance und die governance-Debatte im innerstaatlichen Umfeld berühren die Parlamente unmittelbar, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Es gibt Anzeichen, dass sich die Folgen und Nebenwirkungen vernetzen – und zwar zu Lasten der Parlamente. Will man dem begegnen, dann geht es jetzt mehr als je zuvor um die zielbewusste Nutzung bestehender und die Entwicklung neuer Teilhabeformen der Parlamente am Informations- und Entscheidungsprozess innerhalb und erst recht jenseits des Nationalstaats. Durch verfassungspolitisch überzeugende (Neu-)Positionierung nach innen sowie Stärkung und Zusammenarbeit aller Legislativen muss der Stellenwert des Parlamentarismus weltweit gefestigt werden. Auf allen Ebenen wird die Entwicklung zum „Verhandlungsstaat“ weitergehen. Die Parlamente werden sich damit auseinander setzen müssen, dass sie international wie innerstaatlich im Wettbewerb mit anderen Akteuren stehen, einschließlich einer Fragmentierung demokratischer Legitimation in einzelne Faktoren (von accountability, transparency, participation usw. bis hin zu output-Indices). 46 G. Hermes, Legitimationsprobleme unabhängiger Behörden, in: Bauer u. a. (Hrsg.), Demokratie (Anm. 30), S. 457, 484; s. a. Sommermann, ebd., S. 218 mit Hinweisen auf kritische Nachfragen in der internationalen Diskussion sowie Papadopoulos, Governance (Anm. 30), S. 227. 47 Parliamentarian’s Handbook (Anm. 22), S. 6.
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Der entwicklungspolitische Stellenwert von Parlamenten und Parlamentsverwaltungen muss zunehmen. Wie viele Haushaltsmittel bei uns dafür eingestellt werden, entscheiden die Abgeordneten. Die systematische Erfassung aller Ansätze internationaler und nationaler Fördermaßnahmen bleibt eine aktuelle Aufgabe. Es gibt zwischenzeitlich einige erfrischende Beiträge zur „Selbstbehauptung der Parlamente“. Ich erinnere an den Artikel von U. Thaysen und J. W. Falter mit ihren Zweifeln an einer „Zweckmäßigkeit“ der pejorativen Etiketten „Postdemokratie und Postparlamentarismus und deren Varianten“48 oder den Aufsatz von S. Kropp mit ihrer Ermutigung zu einem realistischen, aber weiterführenden, kommunikativen Rollenverständnis.49 Wir verweisen noch einmal auf die Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Anm. 36) und den in 2006 wieder veröffentlichten Beitrag von H. H. Klein, in dem er formuliert, Aufgabe des Verfassungsjuristen sei es, „in diese ‚schöne neue Welt‘ so viel wie möglich von dem Gedanken der persönlichen und politischen Freiheit und der sie sichernden Einrichtungen hinüberzuretten . . .“. Pragmatische Anpassung bewährter Institutionen an sich verändernde Umstände sei gefordert . . .50 Das in Kontinentaleuropa tradierte (Selbst-)Verständnis der Juristen als breit einsetzbaren Generalisten könnte neuen Auftrieb erhalten durch eine verstärkte Rückbesinnung auf die Jurisprudenz auch als eine klassische Prozess- und Verfahrenswissenschaft. Der künftige Jurist also als Steuerungsexperte in gesellschaftlichen und globalen Governance-„Prozessen“ . . . Die vertraglichen oder gesetzlichen Regelungen zur frühzeitigen Unterrichtung der Parlamente nehmen zu.51 Durch Rückführung auf politische Kernentscheidungen hält H.-P. Sommermann eine Reparlamentarisierung für vorstellbar,52 und Y. Papadopoulos warnt davor, nicht die Fähigkeit des Parlaments zu unterschätzen, über die bloße Ratifikation von Vorentscheidungen hinaus über Netzwerke Politik zu verwirklichen; zugleich regt er zu diesem grundsätzlichen Thema „mehr empirische Untersuchungen“ an.53 R. Mayntz betont die herausragende Rolle der Institutionen bei der Gemeinwohlsicherung.54 48 U. Thaysen/J. W. Falter, Fraenkel versus Agnoli? Oder: Was ist aus der „Parlamentsverdrossenheit“ der 60er Jahre für die heutige „Postparlamentarismus-Diskussion“ zu lernen?, in: ZParl 2007, S. 405 ff. 49 S. Kropp, Regieren in Parlamentarismus und Parteiendemokratie: Informale Institutionen als Handlungsressource für Exekutive und Parlament, in: Jann/König (Hrsg.), Regieren (Anm. 29) mit umfassenden Nachweisen. 50 Klein, Funktion des Parlaments (Anm. 32), S. 321. 51 s. Gebauer, Verfassungsergänzende Verfahrensregelungen (Anm. 29). 52 Sommermann, Demokratiekonzepte (Anm. 30), S. 217. 53 Papadopoulos, Governance (Anm. 30), S. 225, 230.
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Das Europäische Parlament will sich bewusster in den Prozess der Globalisierung einschalten;55 die Bundesregierung hat bereits vor einigen Jahren auf Demokratie-Defizite hingewiesen, Anregungen wurden offenbar einbezogen.56 Auf das langsam steigende internationale Problembewusstsein auch zur Einbeziehung von Parlamenten und ihrer Verwaltung im Rahmen der „Demokratieförderung“ konnte schon hingewiesen werden (Anm. 19–21). Ein politischer Eckpunkt bleibt der Schlussbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Globalisierung der Weltwirtschaft.“ Im Abschnitt 10.4 werden „Herausforderungen für das Parlament“ behandelt. Sie betreffen die stärkere Einbindung des Parlaments in die internationale Politik, die systematische Nutzung und Vernetzung von Kontakten und Informationen für das Parlament, die Einsetzung einer „Taskforce Globalisierung“ und die Intensivierung des Dialogs mit NGOs.57 Unter dem Abschnitt „Offene Fragen“ heißt es: „Das Parlament sollte möglichst rasch selbst klären, wie es sich so reformieren könnte, dass es mit Fragen der Globalisierung und der global governance angemessen umgehen kann.“58 H. Weisensee hat in einer eindrucksvollen Bearbeitung zur Rolle der Parlamente diese Thematik fortgeführt. Sie kommt allerdings – Ende 2006 – zu dem Ergebnis, dass vieles noch aussteht.59 Ebenso grundsätzlich wie handlungsorientiert angelegte Arbeiten haben schließlich S. Marschall60 und B. Habegger vorgelegt.61 Sie haben die inter54 R. Mayntz, Common Goods and Governance, in: Hérétier, New Modes (Anm. 35), S. 15, 25. 55 Vgl. dazu Sommermann, Herausforderung (Anm. 30), S. 1064, sowie Entschließung vom 24.11.2005 – EU-Amtsblatt C 136/17 v. 9.6.2006 – AKP/EU 3760/05 endg. und gemeinsame Erklärung vom 20.12.2005 – EU-Amtsblatt C 46/01 vom 24.2.2006 – Der Europäische Konsens. 56 Vgl. dazu Eberlei/Henn, Parlamente (Anm. 16), S. 4. 57 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Schlussbericht der Enquête-Kommission. Globalisierung der Weltwirtschaft, Opladen 2002, S. 445, 449 ff. 58 Ebd., S. 452. 59 H. Weisensee, Zukunftskonzept ohne Parlamente? Die AG „Global Governance“ in der Enquête-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ des Deutschen Bundestages, in: ZParl 2006, S. 669–683. 60 S. Marschall, Neoparlamentarische Demokratie jenseits des Nationalstaates? Transnationale Versammlungen in internationalen Organisationen, in: ZParl 2006, S. 683 ff.; ders., Transnationale Repräsentation in parlamentarischen Versammlungen. Demokratie und Parlamentarismus jenseits der Nationalstaaten, Baden-Baden 2005; ders., Parlamentarismus. Eine Einführung, Baden-Baden 2005. Dazu auch Sommermann, Herausforderung (Anm. 30), S. 1060. 61 B. Habegger, Parlamentarismus in der internationalen Politik. Europarat, OSZE und Interparlamentarische Union, Baden-Baden 2005; ders., Die Parlamentarisierung der UNO durch die Interparlamentarische Union, in: ZParl 2006, S. 698 ff.
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nationale parlamentarische Zusammenarbeit, insbesondere die interparlamentarischen Versammlungen zu einem intensiv aufgearbeiteten und politisch weiterführenden Thema gemacht – eingebunden in Gedanken zum Selbstverständnis der eigenen parlamentarischen Gremien. So schreibt etwa Habegger, für unsere Parlamente sei künftig stärker „von einer weit gefassten Politikgestaltungsfunktion auszugehen, die sich nicht auf rechtlich durchsetzungsfähige Beschlüsse beschränkt, sondern sämtliche parlamentarischen Aktivitäten einbezieht, die auf die materielle bzw. inhaltliche Politikgestaltung abzielen. Gerade im internationalen Kontext ist dies unerlässlich, sind doch die Quellen internationaler Regelungen sehr vielfältig und komplex.“62 In den Arbeiten von Marschall und Habegger, aber auch in anderen der hier genannten Texte, klingt an, wie mittelfristig nach innen und nach außen gerichtete Fortentwicklungen des parlamentarischen Rollenverständnisses in einem weit verstandenen, tatsächlich „neoparlamentarischen“ Ansatz zusammentreffen können. S. Marschall überschreibt sein Schlusskapitel: „Kein Ende des Parlamentarismus“,63 und selbst K. v. Beyme – bei aller Reformfreudigkeit und Ermutigung zum Experiment – kommt zu dem Schluss, angesichts einer eher sensiblen Ausgangslage sei „stärkere Vorsicht geboten hinsichtlich leichtfertiger Änderungen am repräsentativen Parlamentarismus und am Status quo der Parteiendemokratie.“64 Und so mag es berechtigt sein, diese Bestandsaufnahme mit einer vorsichtig-optimistischen Anmerkung abzuschließen: Die spezielle deutsche Kooperationserfahrung im Rahmen von Mehrebenensystem und Gewaltenhemmung (als Ausprägung einer Art verfassungsrechtlicher public public partnership)65 einerseits und „aktivierendem Gewährleistungsstaat“ andererseits (public private partnership) könnten – konstruktiv angesetzt – vielleicht ein Baustein werden bei der Entwicklung eines weltweiten Regimes – In diesem Zusammenhang verdient auch die offenbar anwachsende Zahl regionaler parlamentarischer Netzwerke (neben der IPU) Aufmerksamkeit, die von der Weltbank in ihrer Website aufgelistet werden (Anm. 19); s. a. M. Obrecht, Niedergang der Parlamente? Transnationale Politik im Deutschen Bundestag und der Assemblée Nationale, Würzburg 2006; C. Kissling, Die Interparlamentarische Union im Wandel: Rechtspolitische Ansätze einer repräsentativ-parlamentarischen Gestaltung der Weltpolitik, Frankfurt a. M. 2006. 62 Habegger, Parlamentarismus (Anm. 61), S. 28 (Hervorhebung vom Verf.). 63 Marschall, Parlamentarismus (Anm. 60), S. 317 ff. 64 K. v. Beyme, Demokratiereform als Reform der parlamentarischen Parteiendemokratie, in: C. Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 27, 41 f. 65 Zu dieser Fokussierung des verwaltungswissenschaftlichen Begriffs auf die Verfassungsebene s. Gebauer, Verfassungsergänzende Verfahrensregelungen (Anm. 29).
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von good and global governance – als eines umfassenden Verantwortungsverbunds aller staatlichen, überstaatlichen und privaten Akteure (public public private partnership – pppp) – unter Einschluss der Parlamente. Bei der weiteren Aufarbeitung des Themas kann auch das IIAS einen Part übernehmen: In Fortsetzung der Diskussionen zum „Officer of Parliament“ in Monterrey, des dort vorgetragenen OECD-Reports von M. C. Pardo und in Anknüpfung an das EGPA-Yearbook 2001 („Managing Parliaments“).66 Die IIAS-Konferenz 2008 in Ankara steht unter dem Leitthema: „International Aid and Public Administration“. Wir haben von deutscher Seite angeregt, gezielt auch die internationale Förderung und Zusammenarbeit von Parlamentsverwaltungen einzubeziehen. Dabei wird man den international nicht einheitlichen Zugang zum Thema Parlamentarismus und insbesondere die Variationen zur klassischen „Drei-Gewalten-Lehre“ aufmerksam zu beachten haben.67
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P. Falconer/C. Smith/C. Webster (Eds.), Managing Parliaments in the 21st Century, EGPA-Yearbook, Amsterdam/Berlin 2001; K.-E. Gebauer, Verwaltungswissenschaften und Parlamente, in: DÖV 2003, S. 854 (Bericht). 67 Dies ist aktuell beim IIAS-Kongress im Juli 2007 in Abu Dhabi deutlich geworden: In der vom Institute of Administrative Development der Vereinigten Arabischen Emirate herausgebrachten Schrift „Public Administration in the United Arab Emirates“ (Revised by D. Khalid Zarroug) wird die uns gewohnte Reihenfolge der staatlichen Gewalten modifiziert: First-Executive/Second-Judicial/Third-Legislative Power (S. 47 ff.); zur Verselbständigung einer neuen Vierten Gewalt in der Verfassungsdebatte in Ecuador s. oben Anm. 44; s. a. Anm. 12.
Die Integration von Zuwanderern – ein neues Politikfeld für die Europäische Union Christoph Hauschild I. Einleitung Die Europäisierung und Internationalisierung öffentlicher Aufgaben, die dem Kernbereich staatlicher Aufgaben zuzuordnen sind, bestimmen den Alltag des politischen Handelns und der Entscheidungsprozesse in den nationalstaatlichen Regierungen. Dies gilt in besonderem Maße für Vorhaben, die auf Ebene der Europäischen Union (EU) behandelt werden. Allein aus dem „europäisierten“ Aufgabenbestand lässt sich ableiten, dass die EU ein Gebilde mit „staatsähnlichem Umfang“1 ist. Die Entscheidungsverfahren werden indes weiterhin bestimmt von ihrem Status einer supranationalen Rechts- und Wertegemeinschaft. Besonders macht sich dies bemerkbar bei der Heranbildung einer politischen Ordnung. Im Gegensatz zur mitgliedstaatlichen Situation hat sich bislang auf europäischer Ebene kein vergleichbarer öffentlicher Raum herausgebildet, in dem sich europäisches Handeln legitimieren und kritisieren lassen muss. Für Außenstehende sind die Hintergründe einer europäischen Befassung mit einer bestimmten Thematik und der Prozess der „Europäisierung“ von Aufgaben oft kaum nachvollziehbar. Dies gilt auch für die Europäisierung der Politik der Integration von Zuwanderern,2 die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Der Begriff „Europäisierung“ soll hier im weiten Sinne verstanden werden ohne auf eine Vergemeinschaftung in Form einer vertraglichen Gemeinschaftskompetenz abzustellen. Als „europäisch“ kann eine Aufgabe vielmehr schon dann angesehen werden, wenn sie Gegenstand eines regelmäßigen politischen Austauschs mit der Verständigung auf gemeinsame Ziele und Vorhaben des Rates bzw. der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten ist. Schon aus einem derartigen Prozess ergibt sich für die Mitgliedstaaten ein europäischer Bezugspunkt mit Rückwirkungen auf die nationale Politik. 1 S. Magiera, Der Europäische Verwaltungsraum. Die Implementierung des Gemeinschaftsrechts, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 99. 2 Vgl. K. Rosenow, Die Europäisierung der Integrationspolitik, 2007, S. 4.
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Wie kommt es aber dazu, dass sich eine staatliche Aufgabe von einer rein nationalen zu einer Aufgabe mit einer europäischen Dimension entwickelt? Am Beispiel der Integrationspolitik soll dargestellt werden, wie sich innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren (2002 bis 2007) eine neue europäische Herangehensweise herausgebildet hat. Dabei sollen die Ausführungen ausdrücklich als Fallbeispiel für ein bestimmtes Handlungsfeld europäischer Politik verstanden werden. Die Integrationspolitik wird zwar für ihren vergemeinschafteten Teil der Einwanderungspolitik (Titel IV des EGV) zugerechnet, die Zusammenarbeit ist aber weitgehend noch durch ihren zwischenstaatlichen Charakter geprägt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum „Policy-Making“ bei den einwanderungsrechtlichen Richtlinien, die auf der Grundlage von Gemeinschaftskompetenzen in den Ratsstrukturen entstanden sind,3 können daher auf den Bereich der Integrationspolitik nicht übertragen werden. Europäisches Handeln folgt einer eigenen Rationalität, die in eigenständigen Lösungsansätzen ihren Ausdruck findet. Implementationsstudien zum Gemeinschaftsrecht sind aber auch wiederholt zu der Feststellung gekommen, dass europäisches Handeln nur dann in den Mitgliedstaaten Wirkung entfaltet, wenn es mit den nationalen Ansätzen kompatibel ist.4 Daher muss ebenso für die Darstellung der Europäisierung einer Aufgabe darauf eingegangen werden, welche nationalen Ausgangspositionen vorzufinden sind. II. Integration als staatliche Aufgabe Mit dem Begriff Integration wird im Zusammenhang von Zuwanderung das Verständnis verbunden, dass sich Zuwanderer, die sich mit einer dauerhaften Bleibeperspektive aufhalten, voll in das wirtschaftliche und soziale Leben des Aufenthaltsstaates eingliedern. Sie sollen die gleichen Chancen auf Erfolg im Bildungssystem und im Erwerbsleben haben wie eine einheimische Vergleichsgruppe. Integration wird daher als Prozess verstanden, der sich für eine vollständige Eingliederung über mehrere Generationen erstrecken kann und folglich auch als „Generationenprozess“5 beschrieben wird. Im internationalen Vergleich finden sich für die Frage, inwieweit es Aufgabe des Staates ist, diesen Prozess durch staatliche Förderung bzw. Reglementierung zu unterstützen bzw. zu steuern, sehr unterschiedliche Antwor3 G. Papagianni, Institutional and Policy Dynamics of EU Migration Law, 2006, S. 197 ff. 4 J. Ziller, Der Europäische Verwaltungsraum. Die Implementierung des Gemeinschaftsrechts, in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Anm. 1, S. 105, 114. 5 Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (Hrsg.), Immigrant Generations and the Problem of Measuring Integration – A European Comparison, 2007.
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ten. Die Bandbreite reicht von stark intervenierenden wohlfahrtsstaatlichen Ansätzen bis zu einem weitgehenden Laissez-faire. Integrationsdefizite, die sich beispielsweise in der Bildungsbeteiligung oder in Arbeitslosigkeitsstatistiken widerspiegeln, werden indes häufig einem staatlichen Versagen zugerechnet.6 Eines derjenigen Integrationskonzepte, die auf staatliche Regulierung und Intervention setzen, beruht auf der Annahme, dass Integration sich durch die Herstellung von Rechtsgleichheit vollzieht. Rechtliche Instrumente, die eine Gleichheit zwischen Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen herstellen, werden danach als integrationsfördernd, hingegen Regelungen, die Gleichheit vorenthalten bzw. den Zugang zu Rechtspositionen an schwer erfüllbare Bedingungen knüpfen, als rechtliche Barrieren der Integration qualifiziert.7 Die Herstellung einer formalen Rechtsgleichheit ist als Integrationsziel stark in Frankreich entwickelt. Klassische Einwanderungsstaaten setzen in diesem Zusammenhang auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit.8 Bestimmend sind indes zunehmend die Ansätze, die einen Zusammenhang zwischen der Gewährung eines Rechtsstatus und den individuellen Integrationsleistungen herstellen, wie dies mit den zuwanderungs- und einbürgerungsrechtlichen Reformen in Deutschland,9 Österreich, den Niederlanden, Dänemark und zuletzt auch in Großbritannien, Italien und Frankreich erfolgt ist. Danach wird der aufenthaltsrechtliche Status bzw. die Einbürgerung von einem Nachweis von Sprachkenntnissen des Ziel- und Aufenthaltslandes sowie von landeskundlichen Kenntnissen abhängig gemacht. Auf europäischer Ebene fand diese Verbindung zwischen Migration und Integration Eingang in die Familiennachzugsrichtlinie und in die Richtlinie zur Rechtsstellung langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger – allerdings nicht auf Basis eines Kommissionsvorschlags. Die entsprechenden Regelungen wurden in beiden Richtlinien erst auf Initiative einer kleinen Gruppe von Mitgliedstaaten (Deutschland, Niederlande und Österreich) aufgenommen.10 6
Vgl. D. Oberndörfer, Integrationspolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Meilensteine und Hindernisse, in: M. Krüger-Potratz (Hrsg.), Zuwanderungsgesetz und Integrationspolitik, Göttingen 2006, S. 31, 35. 7 U. Davy, Integration von Einwanderern in Deutschland: Instrumente und Barrieren, in: K. Barwig/U. Davy (Hrsg.), Auf dem Weg zur Rechtsgleichheit?, BadenBaden 2004, S. 83, 85. 8 M. Fix, Immigrant Integration and Comprehensive Immigration Reform, in: M. Fix (Hrsg.) Securing the Future – US Immigrant Integration Policy, Washington 2007, S. III, XI. 9 C. Thiele, Das Integrationserfordernis für Drittstaatsangehörige nach dem Zuwanderungsgesetz, in: DÖV 2007, S. 58, 60.
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III. Integration durch Rechtsgleichheit – die europäische Dimension Das letztendlich vom Rat beschlossene Gemeinschaftsrecht zu den Anforderungen an Integrationsnachweise stand im Widerspruch zur Position der Kommission, die sich für ihren Vorschlag für die Daueraufenthaltsrichtlinie weitgehend am Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger orientiert hatte und das Konzept der Integration durch Herstellung formaler Rechtsgleichheit zur Anwendung kommen lassen wollte. Dieser für die Freizügigkeitspolitik der Unionsbürger prägende Grundsatz hat seine Ursprünge in der Nicht-Diskriminierungsklausel der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung 1612/68 und ihrer weiteren Ausformung durch die Rechtsprechung des EuGH. Die im Jahr 1968 vom Rat verabschiedete Verordnung, die den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Freizügigkeitsrechts bildete, spiegelt die migrationspolitische Debatte ihrer Entstehungszeit wider. Sie ist geprägt von den Erfahrungen mit der Gastarbeiterrekrutierung in den 1960er Jahren.11 In der Gemeinschaft der „Sechs“ waren Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten Anwerbeländer, während Italien zu dieser Zeit noch ein reines Auswanderungsland war, das die Interessen der italienischen Arbeitnehmer im Ausland wahrnahm. Bereits in der zwischen Deutschland und Italien im Jahr 1955 mit Italien geschlossenen Anwerbevereinbarung war enthalten, gleiche Arbeits- und Rechtsbedingungen für deutsche und italienische Arbeitnehmer einzuführen. In der Folge verhandelten die deutsche und italienische Regierung Maßnahmen für die italienischen Arbeitsmigranten, die deren soziale Grundversorgung betrafen. Nach Ansicht der italienischen Regierung sollten dabei die sozialen Vergünstigungen des Aufnahmelandes den Zuwanderern in gleicher Weise wie den einheimischen Arbeitskräften zugute kommen. Eine wichtige Forderung – und von italienischer Seite viel gelobte Errungenschaft – war die Bezahlung deutschen Kindergelds für den in Italien verbliebenen Nachwuchs der italienischen Migranten. Ab Mitte der 1960er Jahre blieb eine wachsende Zahl von ausländischen Arbeitnehmern dauerhaft in Deutschland. Das lag im Interesse der betroffenen Unternehmen, die die eingearbeiteten Arbeitskräfte behalten wollten. 10
Vgl. C. Hauschild, Neues europäisches Einwanderungsrecht: das Recht auf Familienzusammenführung, in: ZAR 2003, S. 266, 271; C. Hauschild, Neues europäisches Einwanderungsrecht: das Daueraufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen, in: ZAR 2003, S. 350. 11 Vgl. die vom EP in Auftrag gegebene Studie: European Parliament, Directorate-General Internal Policies, Setting up a system of benchmarking to measure the success of integration policies in Europe, Brüssel 2007, S. 54; http://www.ipolnet. ep.parl.union.eu/ipolnet/cms.
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Aber auch die ausländischen Arbeitnehmer wollten dauerhaft an den besseren Verdienstmöglichkeiten und der vorhandenen Infrastruktur teilhaben. Zudem zogen immer mehr Familienangehörige ausländischer Arbeitnehmer nach Deutschland. Zunehmend ging es daher um eine längerfristige Eingliederung. Mit dieser Bleibeperspektive wurde die Berufsausbildung und berufliche Fortbildung wichtiger. Deutsche Schulen begannen, einen zweisprachigen Unterricht für die Kinder italienischer Arbeitsmigranten anzubieten. Jedoch bestand dieses Angebot nur vereinzelt und einige Kinder besuchten weder eine deutsche noch eine italienische Schule. Vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass nicht nur die Forderung auf Gleichbehandlung bei den sozialen Rechten, sondern auch die Schulfrage in der Verordnung 1612/68 mit einer gesonderten Regelung Eingang fand. Nach Art. 12 Abs. 2 VO 1612/68 sollen die Mitgliedstaaten die Kinder von Arbeitnehmern beim Besuch von Bildungsmaßnahmen unterstützen. Eine Anwendungspraxis dieses „Schulartikels“ ist nicht bekannt, obwohl er als Verordnungsregelung unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten ist. Hingegen kann festgestellt werden, dass in der europäischen Debatte die Frage, ob es einer speziellen Förderung von Unionsbürgern bei der Eingliederung bedarf, wenn sie sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen, seitdem fast ausschließlich dominiert wird vom Aspekt der Rechtsgleichheit. Dieser Ansatz beeinflusste anfangs ebenfalls die europäischen Diskussionen zur Integration der Nicht-Unionsbürger. Das Thema der Integration der sog. Drittstaatsangehörigen gewann auf europäischer Ebene politische Relevanz mit der Vergemeinschaftung der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik durch den Vertrag von Amsterdam, obwohl der Vertrag in dieser Frage keine spezifische Ermächtigungsnorm enthält. Unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam befasste sich im Oktober 1999 in einer Sondertagung der Europäische Rat mit einem Arbeitsprogramm zur Umsetzung der neuen Kompetenzen.12 Den von der finnischen Ratspräsidentschaft in Tampere ausgerichteten Europäischen Rat nutzte die Europäische Kommission, ihren Ansatz einer ausgewogenen Herangehensweise („balanced approach“) mit der Einbeziehung der Rechte von Drittstaatsangehörigen in den Schlussfolgerungen zu betreiben.13 So heißt es in den Schlussfolgerungen (u. a.), dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen der Rechtsstellung der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden soll. Die Schlussfolgerungen folgen damit dem von der Kommission favorisierten Konzept der Integration durch Rechtsgleichheit. 12 13
Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15./16. Oktober 1999, S. 21. Rosenow, Integrationspolitik (Anm. 2), S. 103.
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Diese Übertragung des für die Unionsbürger geltenden Ansatzes auf die Gruppe der Drittstaatsangehörigen kann nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass im Jahr 1999 weder in den Mitgliedstaaten noch auf europäischer Ebene die Frage der Integration von Zuwanderern in gleicher Weise als gesellschaftspolitische Grundsatzfrage angesehen wurde wie es heute der Fall ist. Aus Sicht der Kommission sollte im Sinne des von ihr propagierten „balanced approach“ die Gewährung einheitlicher Rechte die auf Zuwanderungsbeschränkung bzw. Bekämpfung der illegalen Migration ausgerichteten Maßnahmen „ausgleichen“. Damit wurde ebenso wie bei den Unionsbürgern eine Debatte über Integrationsdefizite ausgeklammert. Aus den Schlussfolgerungen des ER Tampere leitete die Kommission darüber hinaus den Auftrag ab, für dauerhaft aufhältige Drittstaatsangehörige ein Konzept zur Gewährung eigenständiger Statusrechte, die zwischen dem Ausländerstatus und dem Status der Staatsangehörigen angesiedelt sind, zu entwickeln. Dieser „Zwischenstatus“ wird von der Kommission mit dem Begriff der „civic citizenship“ verknüpft und wurde von ihr erstmals im Jahr 2000 mit der Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft in die europäische Diskussion eingeführt.14 Die Kommission betrachtet die „civic citizenship“ als einen neuen Typus eines europäischen Status, der sich an der Unionsbürgerschaft orientiert, aber trotzdem nicht mit ihr identisch sein soll.15 Mit dem Status sollen bürgerschaftliche Teilhaberechte wie etwa das kommunale Wahlrecht verbunden sein, die sich von der Dauer des Aufenthalts und nicht von der Staatsangehörigkeit ableiten. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass der in der Daueraufenthaltsrichtlinie für verschiedene Sachverhalte ausgeformte Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 11) nicht als gemeinschaftsrechtliche Konkretisierung des Kommissionskonzepts angesehen werden kann.16 IV. Integration von Zuwanderern als europäische Aufgabe (2002 bis 2007) Weder die Schlussfolgerungen des ER Tampere noch die Kommissionsmitteilung führten zu einer Europäisierung der Integrationspolitik im Sinne einer regelmäßigen Befassung mit der Thematik und der Entwicklung operativer Ziele auf europäischer Ebene. Hierzu war der Ansatz, die Integration lediglich unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit zu behandeln, zu 14 Kommission, Mitteilung über eine Migrationspolitik der Gemeinschaft, KOM (2000), 757, S. 19. 15 M. Bell, Civic Citizenship and Migrant Integration, in: European Public Law, 2007, S. 312, 316/ 332. 16 M. Bell, Civic Citizenship (Anm. 15), S. 321.
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eng. Die entscheidende Initiative für die Entwicklung der Integrationspolitik zu einem europäischen Politik- und Handlungsfeld ging von der dänischen Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2002 aus.17 Diese Initiative wurde von Folgepräsidentschaften aufgegriffen und verstetigt. Bezogen auf die Ratspräsidentschaften ist dieser Prozess mit folgenden Eckdaten verbunden: – 2002: Ratsschlussfolgerungen zur Einrichtung eines regelmäßigen Erfahrungs- und Informationsaustauschs unter dänischer Ratspräsidentschaft. – 2004: Ratsbeschluss zu „Gemeinsamen Grundprinzipien für die Integration von Zuwanderern“ unter niederländischer Ratspräsidentschaft. – 2007: Ratsschlussfolgerungen zur Stärkung der Integrationspolitik unter deutscher Ratspräsidentschaft. 1. Erfahrungs- und Informationsaustausch Es ist sicherlich bemerkenswert, dass der für die heutige europäische Zusammenarbeit entscheidende Anstoß für die „Europäisierung“ der Integrationspolitik von Dänemark ausging; nach Art. 1 des Protokolls zum Vertrag zur Europäischen Union beteiligt sich Dänemark generell nicht an den einwanderungspolitischen Maßnahmen der EU. Allein diese Tatsache macht bereits deutlich, dass die Mitgliedstaaten von einer zwischenstaatlichen Initiative ausgingen, als sie vereinbarten, nationale Anlaufstellen (später: „Nationale Kontaktstellen Integration“) einzurichten, um einen regelmäßigen Erfahrungs- und Informationsaustausch zu den integrationspolitischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten durchzuführen.18 Starke Unterstützung erhielt Dänemark von den Niederlanden. In Dänemark und in den Niederlanden19 fand im Jahr 2002 eine grundsätzliche Neubewertung der Integrationspolitik statt, mit der wesentlich stärker als zuvor die Eigenverantwortung der Zuwanderer für ihre Integration betont wurde, einschließlich rechtlicher Möglichkeiten, Zuwanderer zur Teilnahme an Integrationsmaßnahmen zu verpflichten. Dieser Ansatz wurde wenig später mit dem Grundsatz des „Förderns“ und „Forderns“ in der deutschen Integrationspolitik aufgegriffen und mit dem Zuwanderungsgesetz umgesetzt. Aber auch zwischenstaatliche Initiativen sind in der Konstruktion der europäischen Abläufe ohne eine Mitwirkung der Kommission nicht auf Dauer 17 Tagung des Rates Justiz, Inneres und Katastrophenschutz am 14./15.10.2002, Dok. 12894/02 (Presse 308), S. 25. 18 J/I-Rat 2002 (Anm. 17), S. 25, 26. 19 Zu den Niederlanden siehe G. Muskens, The case of the Netherlands, in: Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (Hrsg.), Immigrant Generations (Anm. 5), S. 99, 165 ff.
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tragfähig. Ein entscheidender Schritt, damit die dänische Initiative wirksam werden konnte, war die Zuordnung der Nationalen Kontaktstellen Integration zur Kommission mit dem Status einer Gruppe nationaler Experten. Dies erfolgte unter griechischer Ratspräsidentschaft 2003 beim ER Thessaloniki. Mit den Schlussfolgerungen des ER Thessaloniki wurde die Kommission überdies beauftragt, jährlich einen Bericht zur Migrations- und Integrationspolitik der Mitgliedstaaten vorzulegen.20 Die Kommission lädt zu den Sitzungen der Nationalen Kontaktstellen ein und legt die Tagesordnung fest. Als eine für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten förderliche Initiative erwies sich der Vorschlag der Kommission, ein Handbuch zur Integration zu entwickeln, mit dem der Informationsaustausch thematisch strukturiert werden konnte. Finanziert durch Projektmittel der Kommission haben zwischen 2004 und 2006 bislang acht von den Mitgliedstaaten organisierte Handbuch-Seminare stattgefunden, deren Ergebnisse in zwei Bänden des Handbuchs dokumentiert sind.21 Die Seminare haben Experten aus dem staatlichen und nicht-staatlichen Sektor aus 25 Mitgliedstaaten sowie aus Norwegen und der Schweiz zusammengeführt. Die Themen der Handbuch-Seminare, die von den Mitgliedstaaten festgelegt werden, spiegeln die Bandbreite des Informations- und Erfahrungsaustauschs wider. Sie sind zugleich ein Abbild der Unterschiedlichkeit integrationspolitischer Prioritäten und Ansätze in den Mitgliedstaaten. Bislang haben folgende Seminare stattgefunden: – Einführungsprogramme für Neuzuwanderer und anerkannte Flüchtlinge (Kopenhagen, 2004) – Partizipation am gesellschaftlichen und politischen Leben (Lissabon, 2004) – Integrationsindikatoren (London, 2004) – Mainstreaming der Integration von Zuwanderern (Dublin, 2005) – Wohnen in einem städtischen Umfeld (Tallinn, 2005) – Wirtschaftliche Integration (Rom, 2005 und Madrid, 2006) – Governance der Integration (Berlin, 2005) Eine weitere Staffel von Handbuch-Seminaren ist für die Jahre 2007 und 2008 vorgesehen mit dem Ziel, einen dritten Band des Handbuchs herauszugeben. 20 Tagung des Europäischen Rates am 19./20. Juni 2003 in Thessaloniki, Dok 11638/03, S. 10. 21 Handbuch zur Integration für Entscheidungsträger und Praktiker, Europäische Gemeinschaften, 1. Ausgabe 2005 und 2. Ausgabe 2007; http://ec.europa.eu/comm/ justice_home.
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2. Gemeinsame Grundprinzipien Auf Initiative der niederländischen Ratspräsidentschaft trafen sich vom 9. bis 11. November 2004 in Groningen erstmals in der europäischen Geschichte die in den Mitgliedstaaten für Integration zuständigen Minister zu einem informellen Treffen. Es fand unter dem Eindruck der eine Woche zuvor erfolgten Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh und den von ihr ausgelösten Ausschreitungen statt. Zweck des Treffens war es, einen politischen Meinungsaustausch zu Integrationsfragen zwischen den „Integrationsministern“ zu organisieren, wobei in den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für Integrationsfragen unterschiedlich ressortiert, überwiegend jedoch in den Innen- oder Sozialministerien. Bei dem Treffen wurde von den Ministern anerkannt, dass die Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Integration von Zuwanderern und ihrer Abkömmlinge begegneten, die den sozialen Zusammenhalt gefährden könnten. Es sei daher erforderlich eine europäische Sichtweise der Integration zu entwickeln. Die politische Krise in den Niederlanden verlieh der europäischen Debatte zur Integration von Zuwanderern eine neue und zusätzliche Dimension. Begleitet von der Annahme, dass die gesellschaftlichen und sozialen Ursachen, die diese Krise ausgelöst hatten, nicht auf die Niederlande beschränkt sind, erhielten die von der niederländischen Präsidentschaft für den Integrationsbereich eingebrachten Initiativen eine hohe Aufmerksamkeit, auch wenn die Vorbereitungen für diese Initiativen lange vor den Novemberereignissen des Jahres 2004 stattgefunden hatten. So unterstreicht das am 5. November 2004 vom Europäischen Rat angenommene Haager Programm die Notwendigkeit einer engeren Koordinierung der Integrationspolitiken der Mitgliedstaaten.22 Auch enthält das Programm das politische Mandat für den Rat zur Verabschiedung gemeinsamer Grundprinzipien, um einen „kohärenten europäischen Rahmen“ zur Integration von Zuwanderern zu schaffen. Bereits am 19. November 2004 beschloss auf intensives Betreiben der niederländischen Präsidentschaft der Innen- und Justizrat die „Gemeinsamen Grundprinzipien für die Integration von Zuwanderern“,23 ohne dass eine fachliche Abstimmung etwa im Netzwerk der Nationalen Kontaktstellen stattgefunden hatte. Mit der Beschlussfassung dieser Grundprinzipien erkannte der Rat an, dass ein Versagen einzelner Mitgliedstaaten bei der Entwicklung und Durchführung einer erfolgreichen Integrationspolitik für 22
Haager Programm, Mehrjahresprogramm im Bereich „Freiheit, Sicherheit und Recht“, Rats-Dok 16054/04, S. 11. 23 Tagung des Rates Justiz und Inneres am 19. November 2004, Dok 14615/04 (Presse 321), S. 15.
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die anderen Mitgliedstaaten und für die Europäische Union nachteilige Auswirkungen haben kann. Geschäftsgrundlage für die Annahme der elf gemeinsamen Grundprinzipien durch den Rat am 19. November 2004 war indes, dass damit keine Anerkennung neuer europäischer Kompetenzen verbunden ist: Die Integrationsmaßnahmen sollen von den einzelnen Mitgliedstaaten festgelegt werden.24 In formeller Hinsicht erfolgte die Annahme der Grundprinzipien durch den Rat soweit es um Bereiche geht, für die eine Gemeinschaftskompetenz besteht, und durch die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten für diejenigen Sachmaterien, die Gegenstand der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit sind.25 Die elf Grundprinzipien sind: 1. Die Integration ist ein zweiseitiger Prozess, der gegenseitige Verständigung der Zuwanderer wie der Aufnahmegesellschaft erfordert. 2. Integration erfordert die Achtung der Grundwerte der Europäischen Union. 3. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist für die Teilhabe von Zuwanderern von zentraler Bedeutung. 4. Grundkenntnisse der Sprache, Geschichte und Institutionen sind notwendige Voraussetzung für die Integration; Zuwanderer müssen die Gelegenheit erhalten, diese Kenntnisse zu erwerben. 5. Im Bildungswesen müssen Anstrengungen unternommen werden, um Zuwanderern und deren Nachkommen zu einer erfolgreichen und aktiven Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. 6. Zuwanderer müssen einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen erhalten. 7. Die Begegnung zwischen Zuwanderern und den Bürgern der Mitgliedstaaten soll durch gemeinsame Foren, interkulturellen Dialog, Informationen über die Heimatkulturen der Zuwanderer ausgebaut werden. 8. Die Europäische Grundrechtecharta garantiert die Achtung der Vielfalt der Kulturen und das Recht auf freie Religionsausübung, sofern nicht andere unverletzliche Rechte oder einzelstaatliche Rechte entgegenstehen. 9. Durch die Beteiligung von Zuwanderern am demokratischen Prozess und an der Ausarbeitung integrationspolitischer Maßnahmen, insbesondere auf lokaler Ebene, wird die Integration unterstützt. 10. Die Einbeziehung von Integrationsmaßnahmen in alle wichtigen politischen Handlungsfelder und auf allen Ebenen der öffentlichen Verwal24 25
J/I-Rat 2004 (Anm. 23), S. 15, 16. J/I-Rat 2004 (Anm. 23), S. 15, 17.
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tung ist ein wichtiger Aspekt bei der Gestaltung und Durchführung der Politik. 11. Es bedarf klarer Ziele, Indikatoren und Evaluierungsmechanismen, damit die Maßnahmen angepasst, Integrationsfortschritte bewertet und Informationsflüsse effizienter gestaltet werden können. Für die Kommission sind die Grundprinzipien der Anknüpfungspunkt für ihre weiteren Aktivitäten geworden. In Reaktion auf den Ratsbeschluss zu den Grundprinzipien griff sie die integrationspolitischen Debatten in den Mitgliedstaaten auf und erweiterte ihren ursprünglichen Ansatz erheblich. Mit ihrer im September 2005 vorgelegten Mitteilung „Eine gemeinsame Integrationsagenda – Ein Rahmen für die Integration von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union“26 macht sie konkrete Vorschläge für Maßnahmen auf nationaler Ebene und auf EU-Ebene zur Umsetzung der elf Grundprinzipien. Ein Ziel der Agenda ist es, die vom Haager Programm geforderte „Kohärenz zwischen den EU- und den einzelstaatlichen Maßnahmen zu gewährleisten“.27 Der Rat hat sich im Dezember 2005 zu der Kommissionsmitteilung mit der Verabschiedung von Schlussfolgerungen geäußert.28 Zur wirksamen Umsetzung der Integrationsagenda sind danach regelmäßige Ministertreffen bzw. Ministerkonferenzen vorgesehen, die möglichst im Jahresrhythmus stattfinden sollen.29 3. Konkretisierung des europäischen Arbeitsmandats Die deutsche Ratspräsidentschaft griff das Ratsmandat auf und richtete in Nachfolge des Treffens in Groningen am 10./11. Mai 2007 in Potsdam das zweite informelle Treffen der in den Mitgliedstaaten für Integration zuständigen Minister unter Vorsitz des Bundesministers des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, aus. Bei dem Treffen diskutierten die Minister zum einen die integrationspolitischen Prioritäten auf nationaler und europäischer Ebene und zum anderen führten sie eine Aussprache zu den Formen des Dialogs mit dem Islam. Auf der Basis der Ergebnisse des Potsdamer Treffens nahm der Rat am 12. Juni 2007 Schlussfolgerungen zur Stärkung der Integrationspolitik an.30 26
KOM (2005) 389. KOM (2005) 389, S. 4. 28 Tagung des Rates Justiz und Inneres am 1./2. Dezember 2005, Dok. 14390/05 (Presse 296), S. 36. 29 J/I-Rat 2005 (Anm. 28), S. 36, 38. 30 Tagung des Rates Justiz und Inneres am 12./13. Juni 2007, Dok 10267/07 (Presse 125), S. 25. 27
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Mit diesen Schlussfolgerungen (dort: Ziff. 9) wird das Arbeitsmandat der Nationalen Kontaktstellen Integration konkretisiert und erheblich erweitert.31 Der Rat fordert das Netzwerk der Nationalen Kontaktstellen auf, mit Unterstützung der Kommission über Integrationskonzepte nachzudenken, die die Gesellschaft als Ganzes einbeziehen, und in diesem Zusammenhang – die verschiedenen Konzepte und Ansätze in Bezug auf Teilhabe und Mitwirkung zu prüfen und dabei den für die Integration von Zuwanderern relevanten Gemeinschaftsbesitzstand sowie die Verfassungs- und Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und Gedanken und Erfahrungen in Bezug auf die Einbürgerungssysteme der Mitgliedstaaten auszutauschen, – zu prüfen, welchen zusätzlichen Nutzen es erbringen könnte, die Entwicklung gemeinsamer europäischer Module für die Integration von Zuwanderern zu einem eigenständigen Projekt zu machen, und sich dabei auf die Erfahrungen zu stützen, die auf mitgliedstaatlicher Ebene mit Einführungs- und Sprachkursen, der Einbeziehung der Aufnahmegesellschaft, der Förderung der Mitwirkung der Zuwanderer am lokalen Leben und verschiedenen anderen Aspekten des Integrationsprozesses gemacht wurden, – zu prüfen, wie durch gezielt an die Aufnahmegesellschaft gerichtete Maßnahmen das Bild der Zuwanderung in der Öffentlichkeit verbessert und die öffentlichen Einrichtungen und die Medien besser in die Lage versetzt werden könnten, die durch die Zuwanderung bewirkte gesellschaftliche Vielfalt auf ausgewogene Weise widerzuspiegeln und zu behandeln, – zu prüfen, wie Integrationsprogramme und integrationspolitische Maßnahmen dazu beitragen können, dass sozialer Entfremdung und Radikalisierung vorgebeugt wird, – die Ausarbeitung gemeinsamer Indikatoren und Indizes zu fördern, die von den Mitgliedstaaten auf freiwilliger Grundlage genutzt werden könnten, um die Ergebnisse der Integrationspolitik zu bewerten. Für den beim Potsdamer Treffen diskutierten Bereich des interkulturellen Dialogs erkennen in den Schlussfolgerungen der Rat und die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten an, dass der Dialog zwischen den Kulturen zu einem wichtigen Instrument geworden ist, um die erfolgreiche Integration von Bürgern unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion in Europa zu fördern und Rassismus und Extremismus zu bekämpfen. Die Mitgliedstaaten werden beauftragt, Vorschläge für ein flexibles Verfahren zu entwickeln, um auf interkulturelle Probleme oder Konflikte von potenziell grenzüberschreitender Bedeutung reagieren zu können. 31
J/I-Rat 2007 (Anm. 30), S. 25, 26 f.
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Das Mandat ist das Ergebnis einer Kompromissfindung zwischen den Mitgliedstaaten. Es deckt thematisch ein breites Spektrum ab, das von den Rechten der Migranten bis zur Frage der Vorbeugung gegen Radikalisierungsprozesse reicht. Auch enthält das Mandat keine Beschränkung auf die Gruppe der Drittstaatsangehörigen. Dies entspricht dem in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Verständnis, dass Integrationsmaßnahmen sich an der individuellen Integrationsbedürftigkeit ausrichten sollen unabhängig von der nationalen, ethnischen oder religiösen Herkunft. V. Weitere Institutionalisierung Wesentlicher Ausdruck der Verfestigung europäischen politischen Handelns ist neben der Etablierung eines europäischen Aufgabenstandes die Institutionalisierung und Verrechtlichung der Zusammenarbeit. Für den Bereich der Integrationspolitik ist die Entscheidung des Rates zur Einrichtung des Europäischen Fonds für die Integration von Drittstaatsangehörigen, die sich insbesondere auf Art. 63 Nr. 3 Buchst. a EGV stützt,32 ein Schritt in diese Richtung. Der Integrationsfonds ist Teil des von der Kommission initiierten Rahmenprogramms „Solidarität und Steuerung der Migrationsströme“, das neben dem Vorschlag für den Integrationsfonds die Einrichtung bzw. Weiterführung des Flüchtlings-, Rückkehr- und Grenzsicherungsfonds vorsieht.33 Für die Kommission gehört die Einrichtung des Integrationsfonds zu dem von ihr vertretenen „balanced approach“, der alle Aspekte des Migrationsgeschehens abdecken soll. Der Vorschlag warf indes die Frage der Gemeinschaftskompetenz bei den einzelnen Förderzielen auf. Dabei wurde Einvernehmen erzielt, dass nicht von einer übergreifenden Gemeinschaftskompetenz in Integrationsfragen ausgegangen werden kann. Unter dem Aspekt der institutionellen Fragen ist überdies festzuhalten, dass der Integrationsfonds nicht im Mitentscheidungsverfahren verabschiedet worden ist. Da dieses Verfahren im Bereich der Einwanderungspolitik noch nicht zur Anwendung kommt, ist der Integrationsfonds der einzige Fonds des Rahmenprogramms, der ohne direkte Mitwirkung des Europäischen Parlaments (EP) zustande gekommen ist. Wichtige institutionelle Fragen, wie der Umfang der Gemeinschaftskompetenz sowie die Einbindung des EP, sind daher für das Politikfeld Integration von Zuwanderern noch offen. Der Verfassungsvertrag, der mit dem Mandat für eine neue Regierungskonferenz nunmehr aufgegeben worden ist,34 sah in Art. III-267 Abs. 4 folgende Kompetenzregelung vor: 32 33
Rats-Dok 16923/06 vom 18. April 2007. KOM, 2005, 123.
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„Durch Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz können unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Maßnahmen festgelegt werden, mit denen die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Integration der sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen gefördert und unterstützt werden.“
Der Wortlaut dieser Regelung spiegelt die mitgliedstaatlichen Vorbehalte einer zu weitgehenden Übertragung von Zuständigkeiten auf die EU wider. Sie passt sich insofern ein in den geschilderten Prozess der Europäisierung dieses Politikfeldes. In dem Mandat für die Regierungskonferenz 2007 zur Ausarbeitung des sogenannten Reformvertrages ist vorgesehen, dass die auf der Regierungskonferenz 2004 vereinbarten Neuerungen, so auch die Bestimmungen über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in den bestehenden Vertrag überführt werden sollen.35 Auch ohne die damit künftig vorgesehene Einbindung ist die Europäisierung des Politikfelds Integration schon bisher vom EP unterstützt worden bzw. hat es weitere Schritte in diese Richtung gefordert. In einem Bericht des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres zu Strategien und Mitteln der Integration von Einwanderern in der Europäischen Union wird insbesondere die Verabschiedung der Gemeinsamen Grundprinzipien begrüßt.36 Der Ausschuss hat überdies eine Studie in Auftrag gegeben, mit der untersucht wird, inwieweit das Instrument des „Benchmarking“ eingesetzt werden kann, um europäische Ansätze der Integrationspolitik zu entwickeln.37 VI. Schluss Die Vergemeinschaftung der Einwanderungspolitik ist zwar der europäische Bezugspunkt für das Politikfeld Integration, es war aber die mit unterschiedlichen politischen Motiven begründete Neuausrichtung der integrationspolitischen Ansätze in einzelnen Mitgliedstaaten, die die Mitgliedstaaten überzeugten, über den Erfahrungs- und Informationsaustausch hinaus konkrete Arbeitsmandate zu erteilen. Die Mitgliedstaaten haben erkannt, dass sie trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen vor vergleichbaren Herausforderungen stehen. In der Europäisierung wird ein Mehrwert im Hinblick auf die Gestaltung der nationalen Politikansätze gesehen. 34 35 36 37
ABl. C 310 vom 16.12.2004. Rats-Dok 11218/07, S. 7; s. jetzt Art. 63a Abs. 4 Vertrag von Lissabon. EP-Dok A6-0190/2006 vom 17.05.2006. EP, Setting up a System of Benchmarking (Anm. 11), S. 1.
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Eingebettet ist die Integrationspolitik auf europäischer Ebene in den Gesamtkontext des Zuwanderungsgeschehens. Das Phänomen großer anhaltender Wanderungsbewegungen wird die EU auch in Zukunft dauerhaft begleiten. Die Mitgliedstaaten teilen daher die Ansicht, dass die Integration der Zuwanderer eine Voraussetzung dafür ist, dass Migration nicht die soziale und gesellschaftliche Ordnung der Mitgliedstaaten gefährdet.38 Der in Frankreich lebende Schriftsteller Amin Maalouf hat bei der Potsdamer Tagung der Integrationsminister diese Herausforderung auch als Chance beschrieben: „Gelingt das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem sprachlichen und religiösen Hintergrund innerhalb Europas, so können wir vielleicht anderen Gegenden der Welt ein Modell vorleben – Gegenden, die ein solches bitternötig brauchen und bisher nicht in der Lage sind, selbst ein Modell zu entwickeln.“39
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J/I-Rat 2007 (Anm. 30), S. 25, 26. http://www.eu2007.bmi.bund.de (Reden/Integrationsministerkonferenz).
Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung in der Europäischen Union Siegfried Magiera I. Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft Das Scheitern des Verfassungsvertrags1 und das Bemühen um die Erhaltung seiner Substanz in einem bescheidener bezeichneten Änderungsvertrag2 haben verdeutlicht, dass es nach Erreichen des großen Nachkriegsziels eines friedlichen und geteilten Europas noch nicht gelungen ist, ein ebenso überzeugendes neues Hauptziel für die weitere Entwicklung der europäischen Integration zu finden. Die in dem Verfassungs- wie in dem Änderungsvertrag aufgeführten zahlreichen einzelnen Ziele und Werte,3 die kaum einen Wunsch offen lassen, vermögen es offensichtlich nicht, ein derartiges Hauptziel zu ersetzen, zumal sie in gleicher oder ähnlicher Weise auch in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert sind. Damit bleibt die Kardinalfrage, welche Aufgaben die Union neben den Mitgliedstaaten oder an deren Stelle wahrnehmen soll, weitgehend offen. Der schlichte Hinweis, es sollten diejenigen Aufgaben sein, die über das Vermögen der einzelnen Mitgliedstaaten hinausgehen, kann angesichts der unterschiedlichen Kapazitäten der Mitgliedstaaten und der begrenzten Wirkung des daran anknüpfenden Subsidiaritätsprinzips kaum eine befriedigende Antwort geben. Anders als ihre Mitgliedstaaten ist die Europäische Union deshalb auch nach mehr als 50 Jahren fortschreitender Entwicklung zu einer Gemeinschaft von 27 Mitgliedstaaten und mit staatsähnlichem Aufgabenumfang ein zerbrechliches Gebilde „sui generis“ geblieben, wie die anhaltende Auseinandersetzung um ihre Vertragsgrundlagen deutlich macht. Anders als ihre Mitgliedstaaten genießt sie noch keine feste Verankerung im Loyalitätsempfinden der Bürger und anders als ihre Mitgliedstaaten verfügt sie auch 1
Vertrag über eine Verfassung für Europa v. 29.10.2004, ABL.EU 2004 C 310. Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i. d. F. v. 5.10.2007, Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Dok. CIG 1-4/1/07/ REV 1. 3 Art. I-2 und I-3 Verfassungsvertrag (Anm. 1); Art. 2 und 3 EUV-Änderungsvertrag (Anm. 2). 2
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nicht über hoheitliche Mittel, um ihre Rechtsordnung notfalls zwangsweise zu sichern. Vielmehr ist die Union auf eine Herrschaft des Rechts begrenzt, die hohen Anforderungen gerecht werden muss, wenn ihre Rechtsordnung nicht nur normativ gelten, sondern auch tatsächlich befolgt werden soll.4 Als Rechtsgemeinschaft5 ist die Union für ihren Bestand und ihre Entwicklung in doppelter Hinsicht auf das Recht angewiesen, nämlich auf eine kontinuierliche Rechtssetzung und auf eine ebenso kontinuierliche Rechtsdurchsetzung. Dabei ist sie zugleich abhängig von den Mitgliedstaaten, die über den Rat entscheidenden Einfluss auf die Rechtssetzung ausüben und allgemein eine maßgebliche Rolle bei der Rechtsdurchsetzung spielen. Rechtssetzung als Normkreation und Rechtsdurchsetzung als Normimplementation lassen sich allgemein deutlich unterscheiden. In der komplexen – mehrstufigen und mehrphasigen – Rechtspraxis der Union, die Heinrich Siedentopf grundlegend und wegweisend analysiert hat,6 finden sich zwischen Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung jedoch vielfältige Verflechtungen und Überschneidungen. Aus dem sich daraus ergebenden weiten Spektrum können hier nur einige Aspekte beleuchtet werden, wie sie in jüngster Zeit verstärkt im Rahmen von Initiativen der Mitgliedstaaten und der Unionsinstitutionen bis zur Ebene der Gipfeltreffen des Europäischen Rates im Hinblick auf eine „besser funktionierende Union“ und eine „bessere Rechtsetzung“ zu beobachten sind.7 Zur näheren Fokussierung erscheint es jedoch erforderlich, zuvor einen kurzen Blick auf die spezifischen Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsdefizite zu werfen, die für das Unionsrecht kennzeichnend sind.
4 Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem Beitrag des Verfassers „Die Implementierung des Gemeinschaftsrechts“ anlässlich des Symposiums zu Ehren von H. Siedentopf, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Speyer 2006, S. 99 ff.; vgl. dazu ausführlicher S. Magiera, Durchsetzung des Europarechts, in: R. Schulze/M. Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, Baden-Baden 2006, S. 434 ff. m. w. N. 5 EuGH, Rs 294/83 („Les Verts“), Slg. 1986, 1339 Rn. 23; Rs C-2/88 Imm. (Zwartveld u. a.), Slg. 1990, I-3365 Rn. 16; Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen), Slg. 1991, I-6079 Rn. 21. 6 H. Siedentopf/J. Ziller (Hrsg.), Making European Policies Work – The Implementation of Community Legislation in the Member States, London u. a. 1988; H. Siedentopf, Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, in: S. Magiera/H. Siedentopf (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Union, Berlin 1997, S. 105 ff. 7 Vgl. u. a. Europäischer Rat v. 15./16.6.2006, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 34 ff., Bull.EU 6-2006, S. 15 ff.; v. 8./9.3.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 21 ff., Bull.EU 3-2007, S. 12 f.
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II. Unionsspezifische Defizite Unionsspezifische Defizite zeigen sich sowohl im Hinblick auf die Qualität der Rechtsnormen als auch im Hinblick auf deren Durchsetzung.8 Ursächlich dafür sind im Wesentlichen der Umfang und die Komplexität des primären wie des sekundären Unionsrechts, das den unterschiedlichen Interessen, Traditionen und Sprachen der 27 Mitgliedstaaten gerecht werden muss, sowie die dezentralen Durchsetzungsmechanismen, die in der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten liegen. Planwirtschaftliche Elemente bei der Gestaltung des Binnenmarktes, vor allem bei der Finanzierung gemeinschaftlicher Agrar- und Strukturmaßnahmen oder mitgliedstaatlicher Beihilfe- und Daseinsvorsorgemaßnahmen, führen zu Gefahren der Überregulierung, hoher Verwaltungskosten für Behörden und Unternehmen sowie einer Verkennung oder gar Missachtung des Unionsrechts mit nachteiligen Folgen für den Unionshaushalt und das Ansehen der Rechtsordnung. Gegenwärtig umfasst das Sekundärrecht mehr als 9.000 Legislativakte mit fast 2.000 Richtlinien, die jeweils zwischen 40 und mehr als 300 Maßnahmen zur Umsetzung in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten erfordern.9 Die Umsetzungsquote bei den Richtlinien, die Ende 1982 bei lediglich 90% lag, hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert, nachdem der Europäische Rat im März 2001 ein festes Umsetzungsziel von 98,5% aufgestellt hatte, das der Europäische Rat im März 2007 auf 99% bis spätestens 2009 weiter angehoben hat.10 Die Mitteilungsquote der einzelstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen, die Ende 2001 knapp 97% erreichte – mit Dänemark, Spanien und Schweden an der Spitze sowie Griechenland, dem Vereinigten Königreich und Österreich am Ende der 15er Union, erhöhte sich bis Oktober 2007 auf über 99% – mit Litauen, der Slo8 Vgl. dazu im Einzelnen – auch zum Folgenden – die Jahresberichte der Kommission, „Bessere Rechtsetzung“, zuletzt den 14. Bericht für 2006, KOM (2007) 286, und „über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“, zuletzt den 24. Bericht für 2006, KOM (2007) 398; D. Scheuing, Rechtsprobleme bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: EuR 1985, S. 229 ff.; A. Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, Köln u. a. 1987; S. Magiera, Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, in: Festschrift für K. H. Friauf, Heidelberg 1996, S. 13 ff.; W. Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, Berlin 1997; Siedentopf, Umsetzung (Anm. 6). 9 Kommission, Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2007) 502, S. 2. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Europäisches Parlament, Entschließung zur Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Anwendung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts, ABl.EG 1983 C 68/32; ferner die daraufhin vorgelegten Jahresberichte der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (Anm. 8); Europäischer Rat v. 8./9.3.2007 (Anm. 7), Ziff. 9, Bull.EU 3-2007, S. 10.
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wakei und Bulgarien an der Spitze sowie Italien, Luxemburg und Portugal am Ende der 27er Union. Deutschland belegte am Anfang wie am Ende dieses Zeitraumes jeweils den elften Platz in der Reihung. Besondere Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus die häufige Nichtbefolgung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs durch die Mitgliedstaaten, auch wenn die Gesamtzahl der von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren bis 2006 auf rund 2.500 leicht gesunken ist.11 Die Gesamtheit der vor dem Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen gegen einzelne Mitgliedstaaten belief sich zwischen 2000 und 2006 jährlich im Durchschnitt auf rund 180, von denen jeweils zwischen 90% und 99% zu einer Verurteilung führten.12 III. Reforminitiativen Um die aufgezeigten Defizite zu überwinden oder doch zu verringern und dadurch zu einer besseren Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung des Unionsrechts zu gelangen, haben die Mitgliedstaaten und die Unionsinstitutionen seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt Reformmaßnahmen in die Wege geleitet. So fügten die Mitgliedstaaten den Änderungsverträgen von Maastricht und Amsterdam Erklärungen hinzu, in denen sie feststellten, dass sich die Kommission verpflichtet habe, bei ihren Vorschlägen für Rechtsakte die Kosten und den Nutzen für die Behörden der Mitgliedstaaten und sämtliche Betroffene zu berücksichtigen,13 dass die Kommission aufgefordert sei, darauf zu achten, dass die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts nachkommen,14 und dass das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission einvernehmlich Leitlinien zur Verbesserung der redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften festlegen und durchsetzen sowie die Kodifizierung von Rechtstexten beschleunigen sollten.15 In der Folgezeit einigten sich die drei Unionsorgane schrittweise auf detaillierte Interinstitutionelle Vereinbarungen über die Kodifizierung von 11
Kommission, KOM (2007) 398 (Anm. 8), S. 3 f. Kommission, KOM (2007) 502 (Anm. 9), S. 4; Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresbericht 2006, Luxemburg 2007, S. 97 f. 13 (18.) Erklärung zu den geschätzten Folgekosten der Vorschläge der Kommission, ABl.EG 1992 C 191/102. 14 (19.) Erklärung zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts, ABl.EG 1992 C 191/102. 15 (39.) Erklärung zur redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, ABl.EG 1997 C 340/139. 12
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Rechtstexten,16 über die redaktionelle Qualität der Rechtsvorschriften,17 über die systematische Neufassung von Rechtsakten18 sowie allgemein über eine „Bessere Rechtsetzung“.19 Grundlage dafür waren insbesondere im Anschluss an den Bericht der sog. Molitor-Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften20 zahlreiche und vielfältige Mitteilungen und Berichte der Kommission, die insgesamt auf eine bessere Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung abzielten und jeweils unterschiedliche, wenn auch miteinander eng verbundene Aspekte in den Blickpunkt nahmen, insbesondere eine Verringerung der geltenden Vorschriften und neuer Vorschläge, eine systematische und umfassende Folgenabschätzung, eine intensivere Konsultation zwischen Unionsinstitutionen, Mitgliedstaaten und betroffener Öffentlichkeit sowie eine wirksamere Kontrolle und Durchsetzung des Unionsrechts.21 Verbunden mit einer Zwischenbilanz zu den bis Ende 2006 erreichten Ergebnissen der gemeinsamen Anstrengungen, in der sie erhebliche Fortschritte auf gemeinschaftlicher wie auf mitgliedstaatlicher Ebene feststellte und weitergehende strategische Überlegungen aufzeigte,22 äußerte sich die 16
Interinstitutionelle Vereinbarung v. 20.12.1994 über ein beschleunigtes Verfahren für die amtliche Kodifizierung von Rechtstexten, ABl.EG 1996 C 102/2. 17 Interinstitutionelle Vereinbarung v. 22.12.1998 über Gemeinsame Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, ABl.EG 1999 C 73/1. 18 Interinstitutionelle Vereinbarung v. 28.11.2001 über die systematische Neufassung von Rechtsakten, ABl.EG 2002 C 77/1. 19 Interinstitutionelle Vereinbarung v. 16.12.2003 über „Bessere Rechtsetzung“, ABl.EU 2003 C 321/1. 20 KOM (95) 288 und 288/2; vgl. dazu auch Kommission, Bemerkungen zum Bericht der Gruppe der unabhängigen Sachverständigen für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, SEK (95) 2121 = Bundesrats-Drucks. 921/95. 21 Vgl. dazu u. a. Kommission, Verwaltungszusammenarbeit bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des Binnenmarkts, KOM (96) 20; dies., Kodifizierung des Acquis communautaire, KOM (2001) 645; dies., Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds, KOM (2001) 726; dies., Europäisches Regieren: Bessere Rechtsetzung, KOM (2002) 275/2; dies., Folgenabschätzung, KOM (2006) 276; dies., Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs, KOM (2002) 277; dies., Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“, KOM (2002) 278; dies., Zur besseren Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2002) 725. 22 Kommission, Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union, KOM (2006) 689; dies., Erster Fortschrittsbericht über die Strategie für die Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds, KOM (2006) 690; dies., Berechnung der Verwaltungskosten und Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union, KOM (2006) 691; dies., Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten in der Europäischen Union, KOM (2007) 23; vgl. auch
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Kommission auch erstmals übergreifend in ihrem Legislativ- und Arbeitsprogramm für 200723 zu dem zentralen Ziel einer besseren Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung. Im Anschluss daran bestätigte der Europäische Rat vom März 2007,24 wie auch das Europäische Parlament,25 diese Einschätzungen und verwies zugleich auf die Notwendigkeit weiterer Anstrengungen im Hinblick auf eine bessere Rechtssetzung, die ein wichtiges Instrument zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung bleibe. Zusammenfassend sieht die Kommission weiterhin Handlungsbedarf für eine bessere Rechtssetzung in vier Hauptbereichen: Prävention durch stärkere Berücksichtigung der Durchsetzungsaspekte, durch Korrelationstabellen zur Richtlinienumsetzung und durch Aus- und Weiterbildung von Beamten und Richtern im Unionsrecht; Verbesserung von Informationsaustausch und Lösungsansätzen bei Fragen und Beschwerden von Bürgern und Unternehmen; effizientere Behandlung von Vertragsverletzungen durch Prioritätensetzung; Stärkung von Dialog und Transparenz im Verhältnis zwischen Unionsinstitutionen, Mitgliedstaaten und Öffentlichkeit.26 Ein Bericht zu den strategischen Überlegungen und erzielten Fortschritten soll dem Europäischen Rat im Frühjahr 2008 übermittelt werden.27 Damit wird deutlich, dass auch weiterhin vielfältige und kombinierte Anstrengungen der Unionsinstitutionen und der Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Rechtssetzung und der Rechtsdurchsetzung notwendig sind, insbesondere eine Verstärkung der Qualitätssicherung, der Kontrollmechanismen und der Sanktionsinstrumente. IV. Präventive Qualitätssicherung Präventiv bedarf es nach den Erkenntnissen der Kommission, die allgemein von den anderen Unionsinstitutionen und den Mitgliedstaaten geteilt werden,28 einer Qualitätssicherung des Unionsrechts ebenso wie einer angedies., Beschluss v. 28.2.2006 zur Einsetzung einer Gruppe von hochrangigen nationalen Rechtsetzungssachverständigen, ABl.EU 2006 L 76/3. 23 Kommission, Legislativ und Arbeitsprogramm der Kommission für 2007, KOM (2006) 629. 24 Europäischer Rat v. 8./9.3.2007 (Anm. 7). 25 Vgl. u. a. Europäisches Parlament, Entschließung v. 4.9.2007 zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union; dass., Entschließung v. 4.9.2007 zur Strategie für die Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds. 26 Kommission, KOM (2007) 502 (Anm. 9), S. 5 ff. 27 Kommission, Legislativ- und Arbeitsprogramm der Kommission 2008, KOM (2007) 640, S. 13. 28 Vgl. dazu die Nachweise oben, Abschnitt III.
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messenen Qualifikation des mit seiner Umsetzung und Anwendung betrauten mitgliedstaatlichen Personals. Vereinfachung und sonstige Verbesserungen des Unionsrechts sind eine in den letzten Jahren verstärkt erhobene Forderung. Dementsprechend soll auch das Primärrecht durch den Verfassungsbzw. nunmehr den Änderungsvertrag systematisch besser geordnet und sprachlich verständlicher gefasst werden. Bestehendes Sekundärrecht, das inzwischen etwa 100.000 Seiten des Amtsblatts umfasst und häufig geändert wurde, soll vermehrt rechtsverbindlich kodifiziert oder wenigstens zusammenfassend konsolidiert werden.29 Neues Sekundärrecht soll sich auf das Wesentliche konzentrieren und vor seiner Verabschiedung einer eingehenden Konsultation und Folgenabschätzung unterzogen werden.30 Verwaltungslasten und Verwaltungskosten für Behörden und Unternehmen sollen auf das notwendige Maß und bis 2012 allgemein um 25% verringert werden.31 Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieser Vorhaben ergeben sich daraus, dass eine Vereinfachung und Verringerung des Unionsrechts zu Regelungslücken oder einem Rückschritt des gemeinschaftlichen Besitzstands führen kann. Handelt es sich nicht um eine Beseitigung einer allgemein entbehrlichen Überregulierung, so besteht die Gefahr, dass die einheitliche gemeinschaftliche Regelung durch 27 verschiedene mitgliedstaatliche Regelungen ersetzt wird oder die Regelungslücke durch die Rechtsprechung ausgefüllt werden muss. V. Kontrollmechanismen Zur Kontrolle einer ordnungsgemäßen Durchsetzung des Unionsrechts stehen gerichtliche und administrative Verfahren auf gemeinschaftlicher und auf mitgliedstaatlicher Ebene zur Verfügung, die sich gegenseitig ergänzen. Der gemeinschaftlichen Gerichtsbarkeit unterliegt das Verhalten der Unionsinstitutionen und der Mitgliedstaaten. Klagebefugt sind unter näher bestimmten Voraussetzungen bei Verfahren gegen Mitgliedstaaten lediglich die Kommission und andere Mitgliedstaaten, bei Verfahren gegen Unionsinstitu29 Vgl. die Interinstitutionelle Vereinbarung v. 20.12.1994 (Anm. 16); ferner Kommission, KOM (2001) 645 (Anm. 21); dies., Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire, KOM (2003) 71; dies., KOM (2006) 689 (Anm. 22), S. 6 ff.; dies., KOM (2006) 690 (Anm. 22), S. 4 ff. 30 Vgl. insbesondere Kommission, KOM (2002) 275/2-278 (Anm. 21); dies., KOM (2006) 689 (Anm. 22), S. 9. 31 Kommission, Mitteilung über eine einheitliche EU-Methode zur Bewertung der durch Rechtsvorschriften bedingten Verwaltungskosten, KOM (2005) 518; dies., KOM (2006) 689 (Anm. 22), S. 7 f.; KOM (2006) 691 (Anm. 22); KOM (2007) 23 (Anm. 22); Europäischer Rat v. 8./9.3.2007 (Anm. 7), Ziff. 24, Bull.EU 3-2007, S. 13.
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tionen auch andere Unionsinstitutionen und Einzelpersonen (Art. 225 ff. EGV). Der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit unterliegt demgegenüber das Verhalten der Mitgliedstaaten bei Klagen von Einzelpersonen. Eine Kooperation zwischen gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Gerichtsbarkeit erfolgt über das Verfahren der Vorabentscheidung, das die nationalen Gerichte berechtigt und in letzter Instanz verpflichtet, der europäischen Gerichtsbarkeit Fragen zur Auslegung und Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen (Art. 234 EGV). In der Praxis hat sich die Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolle zur Durchsetzung des Unionsrechts grundsätzlich als erfolgreich erwiesen. Sie unterliegt jedoch systemimmanenten Grenzen, d.h. sie eignet sich für wichtige Einzelfälle, nicht zur generellen Aufsicht und beschränkt sich auf eine nachträgliche Überprüfung anhand rechtlicher Maßstäbe mit spürbaren Lücken im Bereich des intergouvernementalen Unionsrechts (Art. 46 EUV). Die administrative Kontrolle auf Gemeinschaftsebene liegt schwerpunktmäßig bei der Kommission (Art. 211 EGV).32 Als zentrale Rechtsaufsicht soll sie die ordnungsgemäße Durchsetzung des gemeinschaftlichen Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sicherstellen, nicht jedoch an deren Stelle treten oder sie im Einzelnen steuern.33 Die dezentrale Kontrolle, die den Mitgliedstaaten obliegt und auch die Fachaufsicht einschließt,34 ist ebenfalls begrenzt, weil sie lediglich den jeweiligen einzelstaatlichen Zuständigkeitsbereich erfasst und zudem, wenn damit keine unabhängigen Behörden betraut sind, eher vom staatlichen als vom gemeinschaftlichen Interesse geleitet wird. Spätestens mit der Beseitigung der Kontrollen an den gemeinschaftlichen Binnengrenzen wurden deshalb neue Kontrollmechanismen erforderlich. Sie äußern sich in einer kooperativen Kontrolle durch Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission. Ihre bisherige Entwicklung, vor allem durch Maßnahmen der Kommunikations- und der Ausbildungsförderung, hat erkennbar zur Verbesserung der Durchsetzung des Unionsrechts beigetragen.35 32 Vgl. dazu die Jahresberichte der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (Anm. 8). 33 EuGH, Rs 3/70 (di Bella), Slg. 1970, 415 Rn. 9; Rs 229/86 (Brothers Industries u. a./Kommission), Slg. 1987, 3757, 3763; Rs C-57/95 (Frankreich/Kommission), Slg. 1997, I-1627 Rn. 23 ff.; Rs C-359/92 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, I-3681 Rn. 39; EuG, Rs T-116/89 (Prodifarma u. a./Kommission), Slg. 1990, II-843 Rn. 75. 34 EuGH, Rs 229/86 (Brothers Industries u. a./Kommission), Slg. 1987, 3757, 3763; Rs C-157/00 (Griechenland/Kommission), Slg. 2003, I-153 Rn. 11; EuG, Rs T-116/89 (Prodifarma u. a./Kommission), Slg. 1990, II-843 Rn. 79.
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VI. Sanktionsinstrumente Soweit präventive und kontrollierende Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Durchsetzung des Unionsrechts auf Sanktionsmöglichkeiten angewiesen. Von besonderer Bedeutung sind insoweit die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, die Staatshaftung, die Verhängung von Zwangsgeldern und Pauschalbeträgen gegen Mitgliedstaten sowie von Verwaltungs- und Strafsanktionen gegen Einzelpersonen. Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ermöglicht es, Versäumnissen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien zu begegnen, indem sie dem Einzelnen eine Alternative zur Durchsetzung seiner Gemeinschaftsrechte bietet. Ihre Tragweite ist jedoch begrenzt und mit Unsicherheiten belastet. Sie setzt unbedingte und genaue Richtlinienbestimmungen voraus, kann Einzelne auch belasten und bringt bei Auslegungsschwierigkeiten ein Prozessrisiko mit sich. Die unmittelbare Richtlinienwirkung stellt deshalb lediglich eine Mindestgarantie dar und entbindet die Mitgliedstaaten nicht von ihrer Pflicht zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung,36 die nicht selten auch durch zusätzliche „Veredelungsbestimmungen“ aus rein nationalen Motiven („gold-plating“) zeitlich verzögert oder gar inhaltlich verzerrt wird.37 Die Mindestgarantie wird ergänzt durch den Grundsatz der Staatshaftung.38 Er greift ein, wenn eine Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar ist oder die unmittelbare Anwendbarkeit zur Verpflichtung eines anderen Einzelnen führt. Er gilt darüber hinaus in anderen Fällen, in denen sich der Einzelne auf eine dem Mitgliedstaat zuzurechnende Verletzung seiner Gemeinschaftsrechte berufen kann. Zusätzlich zu diesen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelten Sanktionsmechanismen hat der Vertrag von Maastricht ein weiteres Sanktionsinstrument eingeführt. Bei Nichtbefolgung eines Urteils des Gerichtshofs kann seitdem gegen den Mitgliedstaat auf Antrag der Kommission von dem Gerichtshof ein Zwangsgeld oder ein Pauschalbetrag verhängt werden, die auch kumuliert werden können (Art. 228 EGV).39 Auf35
Vgl. zur Bewertung Kommission, KOM (2006) 689 (Anm. 22); dies., „Bessere Rechtsetzung 2006“ KOM (2007) 286; dies., Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2006), KOM (2007) 398; Europäischer Rat v. 8./9.3.2007 (Anm. 7). 36 EuGH, Rs 102/79 (Kommission/Belgien), Slg. 1980, 1473 Rn. 12; Rs C-433/93 (Kommission/Deutschland), Slg. 1995, I-2303 Rn. 24. 37 Kommission, KOM (2006) 689 (Anm. 22), S. 7. 38 EuGH, verb. Rs C-6/90 u. a. (Francovich u. a.), Slg. 1991, I-5357 Rn. 26; verb. Rs C-46/93 u. a. (Brasserie du Pêcheur), Slg. 1996, I-1029 Rn. 29.
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grund von Leitlinien der Kommission, die der Gerichtshof grundsätzlich gebilligt hat, bemisst sich das Zwangsgeld nach der Länge und der Schwere des Verstoßes sowie nach der Zahlungsfähigkeit des Mitgliedstaats, der Pauschalbetrag nach einem festen oder einem darüber hinausgehenden flexiblen Betrag, der entsprechend dem Zwangsgeld nach Tagessätzen berechnet wird.40 Das Zwangsgeld beläuft sich für jeden Verzugstag auf bis zu 12.960 Euro im Falle Maltas sowie 914.400 Euro im Falle Deutschlands, der Pauschalfestbetrag im Falle dieser beiden Staaten auf 180.000 bzw. 12.700.000 Euro. Das Ende 2005 verschärfte Verfahren hat sich bisher als grundsätzlich erfolgreich erwiesen. Seit 1997 bis Ende 2004 sind von der Kommission 31 Gerichtsverfahren eingeleitet, davon 18 eingestellt und sieben ausgesetzt worden sowie sechs noch anhängig gewesen.41 In jüngster Zeit erfolgt eine häufigere Überprüfung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission und zunehmende Verweisung von Rechtssachen nach Art. 228 EGV an den Gerichtshof.42 Lediglich in vier Verfahren kam es bisher zu Verurteilungen,43 in zwei neueren jedoch auch zur Ablehnung der Verhängung eines Zwangsgeldes oder Pauschalbetrags trotz Verstoßes des Mitgliedstaates gegen seine Verpflichtungen aus Art. 228 EGV.44 Im folgenschwersten Fall wurden gegen den säumigen Mitgliedstaat ein Pauschalbetrag von 20 Mio. Euro und ein zusätzliches Zwangsgeld von knapp 58 Mio. Euro für jeden weiteren Sechsmonatszeitraum der Nichterfüllung des ursprünglichen Urteils verhängt. Sanktionen gegenüber Einzelpersonen schließlich haben sich insbesondere zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft bei der Erhebung 39
EuGH, Rs C-304/02 (Kommission/Frankreich), Slg. 2005, I-6263 Rn. 80 ff.; kritisch dazu U. Everling, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter der Aufsicht von Kommission und Gerichtshof, in: Festschrift für J. Isensee, Heidelberg 2007, S. 773 (787 ff.). 40 Kommission, Mitteilung über die Anwendung von Art. 171 EG-Vertrag, ABl.EG 1996 C 242/6; dies., Verfahren für die Berechnung des Zwangsgeldes nach Art. 171 EG-Vertrag, ABl.EG 1997 C 63/2; dies., Anwendungen von Art. 228 EGVertrag, SEK (2005) 1658. 41 Kommission, 22. Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (2004) – Annexe, SEC (2005) 1446, S. 9 ff. 42 Kommission, KOM (2007) 398 (Anm. 35), S. 4. 43 EuGH, Rs C-387/97 (Kommission/Griechenland), Slg. 2000, I-5047; Rs C-278/01 (Kommission/Spanien), Slg. 2003, I-14141; Rs C-304/02 (Kommission/ Frankreich), Slg. 2005, I-6263; Rs C-177/04 (Kommission/Frankreich), Slg. 2006, I-2461. 44 EuGH, Rs C-119/04 (Kommission/Italien), Slg. 2006, I-6885 (entgegen den Schlussanträgen des GA Poiares Maduro); Rs. C-503/04 (Kommission/Deutschland), Urt. v. 18.7.2007, noch nicht in der amtl. Slg.; für Verhängung eines Zwangsgeldes GA Mazák, Rs C-70/06 (Kommission/Portugal), Schlussanträge v. 9.10.2007.
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von Abgaben und der Vergabe von Agrar- und Strukturbeihilfen als erforderlich erwiesen, aber auch in anderen Bereichen, etwa zum Schutz der Umwelt oder eines unverfälschten Wettbewerbs. Soweit das Gemeinschaftsrecht, wie regelmäßig, keine eigenen Sanktionsbestimmungen enthält oder wenn es insoweit auf das nationale Recht verweist, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen zu treffen, um die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.45 Als Sanktionen kommen Ausgleichsmaßnahmen zum Entzug eines rechtswidrig erlangten Vorteils in Betracht, aber auch Verwaltungssanktionen, etwa die Auferlegung einer Geldbuße oder der Ausschluss von künftigen Beihilfen, sowie Strafsanktionen, die zusätzlich ein ethisches Unwerturteil zum Ausdruck bringen. Auch wenn die Mitgliedstaaten insoweit über eine Wahlfreiheit verfügen, können sie ausnahmsweise zur Verhängung von Strafsanktionen verpflichtet sein, wenn es das Wirksamkeitsgebot erfordert oder vom Unionsrecht geboten ist.46 VII. Ergebnis Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Rechtssetzung und die Rechtsdurchsetzung in der Europäischen Union verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig ist, insbesondere durch präventive Qualitätssicherung bei der Schaffung und Pflege des Normbestands auf Unionsebene sowie bei der Aus- und Weiterbildung des mit der Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts betrauten Personals auf Mitgliedstaatenebene. Ferner erscheint eine kontinuierliche Kooperation zwischen zentralen und dezentralen Kontrollmechnismen unentbehrlich, wobei die dezentrale Kontrolle der Mitgliedstaaten erforderlichenfalls von Behörden wahrzunehmen ist, die von den ausführenden Behörden unabhängig sind. Schließlich müssen die Sanktionen, die bei Verletzungen des Unionsrechts gegenüber Mitgliedstaaten oder Einzelpersonen verhängt werden können, wirksam, vor allem abschreckend sein, damit sie nur ausnahmsweise zur Anwendung gelangen. 45
EuGH, Rs 30/70 (Scheer), Slg. 1970, 1197 Rn. 8; Rs 50/76 (Amsterdam Bulb), Slg. 1977, 137 Rn. 31 f.; Rs 68/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, 2965 Rn. 23; Rs C-36/94 (Siesse), Slg. 1995, I-3573 Rn. 20; Rs C-167/01 (Inspire Art), Slg. 2003, I-10155 Rn. 62; Rs C-387/02 (Berlusconi), Slg. 2005, I-3665 Rn. 65. 46 EuGH, Rs C-352/92 (Milchwerke Köln), Schlussanträge des GA Van Gerven, Slg. 1994, I-3385 Nr. 17; Rs C-176/03 (Kommission /Rat), Slg. 2005, I-7879; vgl. dazu auch Kommission, Mitteilung über die Folgen des Urteils des Gerichtshofs v. 13.9.2005 (Rs C-176/03), KOM (2005) 583/2; Europäisches Parlament, Entschließung v. 14.6.2006 zu den Folgen des Urteils des Gerichtshofs v. 13.9.2005 (Rs C-176/03); EuGH, Rs C-440/05 (Kommission/Rat), Urt. v. 23.10.2007, noch nicht in der amtl. Slg.
Die europäische Verwaltung der Europäischen Union Matthias Niedobitek I. Einleitung Im „Europäischen Verwaltungsraum“, mit dessen begrifflichen Konturen sich Heinrich Siedentopf schon in einem frühen Stadium der Diskussion beschäftigt hat,1 obliegt die Verwaltung sowohl den mitgliedstaatlichen Behörden als auch den Institutionen der Europäischen Union (EU), wobei die verschiedenen Verwaltungsebenen hierbei aufgrund europarechtlicher Vorgaben zunehmend zusammenwirken.2 Die Europäische Union – verstanden als der durch den Vertrag über die Europäische Union (EUV), den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAGV) begründete Rechtsverbund – verfügt über einen von ihren Mitgliedstaaten unabhängigen öffentlichen Dienst, dessen Angehörige gemäß Art. 9 Abs. 3 des Amsterdamer Vertrages zur „einzigen Verwaltung“ der Gemeinschaften gehören. Die Zusammenfassung der Verwaltungen der Europäischen Gemeinschaften beruht auf der Fusion der Gemeinschaftsorgane und -institutionen, die bereits 1957 – auf der Grundlage des Abkommens über gemeinsame Organe (Fusionsvertrag 1957)3 – mit dem Europäischen Parlament, dem Gerichtshof und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss begann und die schließlich durch Art. 9 des Amsterdamer Vertrages auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt wurde. Demgegenüber konnte die „Gründung einer einzigen Europäischen Gemeinschaft“, wie sie noch in Art. 32 des Fusionsvertrags von 19654 (Fusionsvertrag 1965) als kurzfristig (binnen drei Jahren) zu erreichendes Ziel 1 Vgl. H. Siedentopf/B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten –, in: DÖV 2002, S. 753–763. 2 Vgl. nur M. Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, in: DÖV 2007, S. 761–770; H. C. H. Hofmann/A. Türk, The Development of Integrated Administration in the EU and its Consequences, in: ELJ 13 (2007), S. 253–271. 3 Abkommen v. 25.3.1957, BGBl. 1957 II 1156. 4 Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften v. 8.4.1965, ABl. EG 1967 Nr. 152/1 v. 13.7.1967.
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beschrieben war,5 bis heute nicht verwirklicht werden. Das Auslaufen des EGKS-Vertrages am 23. Juli 2002 hat zwar zu einer Integration der vorher von diesem Vertrag erfassten Materien in den EG-Vertrag geführt,6 am Fortbestehen von EG und EAG als rechtlich selbständigen Gemeinschaften sowie der EU, der heute von vielen ebenfalls Rechtspersönlichkeit zugeschrieben wird,7 hat sich dadurch jedoch nichts geändert. Gleichwohl stehen heute die Zeichen günstig, dass die langwährende Diskrepanz zwischen dem Befund einer Mehrzahl selbständiger Organisationen einerseits und der Existenz einer einzigen Verwaltung dieser Organisationen andererseits in absehbarer Zeit beseitigt, zumindest abgemildert werden könnte. Der Verfassungsvertrag von 2004 (VVE) sah in seinem Art. I-7 vor, dass die neu zu gründende Union Rechtspersönlichkeit besitzen sollte. Im gleichen Atemzug sollten die bisherigen vertraglichen Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses im Wesentlichen aufgehoben werden. Die EG sollte nicht mehr als selbständige Einrichtung neben der Europäischen Union existieren. Folgerichtig war in Art. III-398 VVE vorgesehen, dass sich die Union „auf eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung“ stützt, ohne dass die Singularität der europäischen Verwaltung noch besonders betont werden musste, da sie sich natürlicherweise aus der einheitlichen Rechtspersönlichkeit der EU ergab. Allerdings konnten sich die Vertragsstaaten nicht darauf verständigen, auch die vom EAG-Vertrag erfassten Bereiche in den Verfassungsvertrag zu integrieren und die EAG aufzulösen,8 so dass auch nach den Bestimmungen des Verfassungsvertrags von der Existenz zweier Organisationen, und nicht einer einzigen, auszugehen war. Die Entscheidung des Europäischen Rates vom Juni 2007, den Verfassungsvertrag nicht weiter zu verfolgen,9 war verbunden mit der Einigung, umgehend eine neue Regierungskonferenz einzuberufen, der das Mandat erteilt wurde, bis Ende 2007 den sog. Reformvertrag auszuarbeiten. Der Re5 Hierzu vgl. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 93. Ipsen war so optimistisch, die Vertagung der Fusionierung der Gemeinschaften, die sich infolge seinerzeit aktueller politischer Entwicklungen verzögert hatte, „auf einen Zeitraum von drei Jahren [zu] bemessen“ (ebd., S. 160). 6 Vgl. J. Kokott, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, München 2003, Art. 305 EGV Rn. 7. 7 Vgl. nur J. Chr. Wichard, in: Chr. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, München 2006, Art. I-7 Rn. 8. 8 Hierzu vgl. M. Niedobitek, Kontinuität zwischen alter und neuer Union, in: ders./S. Ruth (Hrsg.), Die neue Union – Beiträge zum Verfassungsvertrag, Berlin 2007, S. 135, 140. 9 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok. 11177/1/07 REV 1 v. 20.7.2007, Ziff. 8–10.
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formvertrag, der – in der Tradition der bisherigen Vertragsentwicklung – nun wieder als klassischer Änderungsvertrag konzipiert ist, sollte die wesentlichen im Verfassungsvertrag enthaltenen sachlichen Änderungen in die bisherigen Verträge einarbeiten, wobei allerdings ausdrückliche Hinweise auf den „Verfassungscharakter“ des Primärrechts vermieden werden sollten. Durch die Fortexistenz der bisherigen Verträge, insbesondere des EUV und des in „Vertrag über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV) umbenannten EGV, sahen sich die Vertragsstaaten an der Schaffung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union nicht gehindert. Der am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon (VvL)10 sieht insoweit in Art. 46 a EUV vor, dass die Union Rechtspersönlichkeit besitzt. Gleichzeitig wird die Rechtspersönlichkeit der EG aufgehoben.11 Eine Art. III-398 VVE entsprechende Bestimmung betreffend die europäische Verwaltung ist in Art. 254 a AEUV enthalten. Wie bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen, soll jedoch die EAG als rechtlich selbständige Organisation erhalten bleiben.12 Eine möglichst klare Zuordnung der „einzigen“ Verwaltung der Union zu einem Rechtsträger, wie sie im Verfassungsvertrag vorgesehen war und nun auch in den Reformvertrag Eingang gefunden hat, ist zu begrüßen. Das bisherige Verhältnis zwischen der Verwaltung der Gemeinschaften einerseits und den in Betracht kommenden Rechtsträgern andererseits ist kompliziert und im Detail ungeklärt. Im Folgenden sollen einige Elemente dieses Verhältnisses näher beleuchtet werden. Ausgangspunkt ist dabei die Fusion der Gemeinschaftsorgane und deren Verhältnis zur EU. II. Die Fusion der Gemeinschaftsorgane und deren Verhältnis zur EU Nach Art. 3 Abs. 1 EUV verfügt die Europäische Union über einen einheitlichen institutionellen Rahmen. Dieser einheitliche institutionelle Rahmen verwirklicht sich in einem „einheitlichen Organgefüge“,13 wie es in Art. 5 EUV näher beschrieben ist.14 Danach üben das Europäische Par10 ABl. EU 2007 C 306. Die Artikel des geänderten EUV und des geänderten EGV werden gemäß Art. 5 VvL neu nummeriert. Hier werden die noch nicht angepassten Artikel verwendet. Die Dokumente der Regierungskonferenz sind zugänglich auf der Website des Rates: http://www.consilium.europa.eu unter „Vertrag von Lissabon“, „RK 2007“. 11 Vgl. Art. 2 Nr. 280 VvL. 12 Siehe Protokoll zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (VvL, Anm. 10). 13 Zum Begriff vgl. M. Pechstein, in: Streinz (Anm. 6), Art. 3 EUV Rn. 2. 14 Vgl. J. Chr. Wichard, in: Chr. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl., München 2007, Art. 5 EUV Rn. 1.
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lament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften einerseits und der übrigen Bestimmungen des EU-Vertrags andererseits aus. Art. 5 EUV bewirkt offenkundig keine Fusion von Organen, sondern er setzt sie voraus, indem er die einzelnen Organe jeweils im Singular anspricht und ihnen in allgemeiner Form ihre vertraglich begründeten und begrenzten Zuständigkeiten zuweist. Wenn die Schaffung gemeinsamer Organe allgemein als „Fusion“ der Gemeinschaftsorgane bezeichnet wird, so kommt damit der rechtliche Sachverhalt nur verkürzt zum Ausdruck. Durch die Fusionsverträge von 1957 und 1965 wurden neue Organe geschaffen, die an die Stelle der in den jeweiligen Verträgen vorgesehenen Organe getreten sind. Die Organe der einzelnen Gemeinschaften wurden somit durch gemeinsame Organe ersetzt, nicht jedoch mit den Organen der jeweils anderen Gemeinschaften verschmolzen. Andernfalls wäre der ausdrückliche Hinweis, dass die gemeinsamen Organe „die diesen Organen zustehenden Befugnisse und Zuständigkeiten“ nach Maßgabe der jeweiligen Gemeinschaftsverträge ausüben (vgl. Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 Fusionsvertrag 1965), entbehrlich gewesen. Durch Art. 9 des Amsterdamer Vertrages wurden die beiden Fusionsverträge aufgehoben; lediglich das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, welches dem Fusionsvertrag 1965 beigefügt war, wurde von der Aufhebung ausgenommen. Die in Art. 50 des (Maastrichter) EU-Vertrags vorgesehene Aufrechterhaltung einzelner Bestimmungen des Fusionsvertrags 1965 ist mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags gegenstandslos geworden.15 Gleichzeitig wurde die Fusion der Gemeinschaftsorgane in Art. 9 Abs. 2 des Amsterdamer Vertrages auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt, wobei Art. 9 Abs. 1 hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung bestimmt, dass die wesentlichen Elemente der Fusionsverträge beibehalten werden sollten. Die rechtliche Konstruktion des Verhältnisses der fusionierten Gemeinschaftsorgane zur EU ist umstritten. Die Meinungen schwanken zwischen der Annahme einer Organleihe und der Behauptung einer Vertragsorganschaft,16 zum Teil wird auch zwischen den Organen selbst differenziert.17 Diese Meinungsunterschiede beruhen vielfach auf unterschiedlichen Auffas15 Vgl. Pechstein (Anm. 13), Art. 50 EUV Rn. 1. Ein entsprechender Hinweis fehlt bei H.-J. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV (Anm. 14), Art. 50 EUV Rn. 1. 16 Vgl. nur M. Hilf/E. Pache, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, Loseblatt, Art. 5 EUV Rn. 11–13; Wichard (Anm. 14), Art. 5 EUV Rn. 8–9. 17 So von Pechstein (Anm. 13), Art. 3 EUV Rn. 2–3; ders./Chr. Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl., Tübingen 2000, S. 102 f.
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sungen hinsichtlich der Existenz einer Rechtspersönlichkeit der EU. Dabei wird jedoch übersehen, dass nicht abstrakt-theoretische Überlegungen zur Rechtsnatur der EU die Interpretation von Vertragsbestimmungen leiten können, sondern dass zunächst beim Wortlaut der jeweiligen Bestimmung anzusetzen ist. Insofern gibt Art. 5 EUV wenig Rätsel auf. Er bezeichnet die fünf Organe nicht nur im Singular, sondern auch mit bestimmtem Artikel: „Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof, der Rechnungshof . . .“. Dadurch gibt Art. 5 EUV zu verstehen, dass er die fusionierten Gemeinschaftsorgane meint, denen nicht nur in den Gemeinschaftsverträgen, sondern auch im EU-Vertrag Aufgaben und Befugnisse zugewiesen sind. Gleichzeitig ist nicht festzustellen, dass der EU-Vertrag in einer seiner Bestimmungen besondere Unionsorgane eingesetzt hätte. Auch insoweit knüpft Art. 5 EUV an die gemeinschaftsrechtlich begründeten und fusionierten Organe an. Daraus folgt, dass auf der Grundlage der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrags stets dieselben Organe handeln.18 Natürlich unterscheidet sich der rechtliche Kontext, in dem die Gemeinschaftsorgane tätig werden, in Abhängigkeit von der jeweils zugrunde liegenden Rechtsgrundlage. Zu Recht hat der EuGH festgestellt, dass „[d]ie insoweit zwischen den verschiedenen Verträgen bestehenden Unterschiede [. . .] durch die Schaffung dieser gemeinsamen Organe nicht beseitigt“ wurden.19 Dies zwingt indessen nicht dazu, die Einheitlichkeit der Organe,20 ja des institutionellen Rahmens insgesamt,21 in Frage zu stellen. Gerade eine Organleihe erlaubt die Annahme (bzw. setzt voraus), dass die Identität des entliehenen Organs nicht angetastet wird. Ob die Gemeinschaftsorgane an die Union entliehen werden oder – mangels Rechtspersönlichkeit der Union – an die Mitgliedstaaten, spielt für die Konstruktion der Organleihe keine Rolle.22 Im Ergebnis ist festzustellen, dass die fünf in Art. 5 EUV genannten Gemeinschaftsorgane unter Wahrung ihrer Organidentität auf der Grundlage 18
So auch Wichard (Anm. 14), Art. 5 EUV Rn. 4. EuGH, Urteil v. 10.2.1983, RS. 230/81, Luxemburg/Europäisches Parlament, Slg. 1983, S. 255 Rn. 18. 20 So Pechstein (Anm. 13), Art. 3 EUV Rn. 2. 21 So Pechstein (Anm. 13), Art. 3 EUV Rn. 3 a. E.; Hilf/Pache (Anm. 16), Art. 5 EUV Rn. 12. 22 Zuweilen wird die Möglichkeit einer Organleihe an die Mitgliedstaaten bestritten; in diesem Fall sollen die Gemeinschaftsorgane als „Vertragsorgane“ der Mitgliedstaaten tätig werden – so etwa H.-J. Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV (Anm. 14), Art. 3 EUV Rn. 13. Diese Unterscheidung erscheint gekünstelt. Auch die Gesamtheit der Mitgliedstaaten kann sich Gemeinschaftsorgane entleihen – zutreffend Pechstein/Koenig, Die EU (Anm. 17), S. 101. Beispiele für eine Organleihe seitens der Mitgliedstaaten finden sich bei M. Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, Berlin/Heidelberg/New York 1982, S. 212–221. 19
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verschiedener Verträge tätig werden, wobei sie gemäß dem Grundsatz begrenzter Ermächtigung, wie er auch in Art. 5 EUV zum Ausdruck kommt,23 die Grenzen der jeweiligen Rechtsgrundlage zu beachten haben. Damit sind die Gemeinschaftsorgane aus ihrer ursprünglichen, die Handlungsfähigkeit der einzelnen Europäischen Gemeinschaften sichernden Rolle herausgehoben und gleichsam über die Verträge gestellt worden, deren jeweilige Anwendungsbereiche sich zu einer umfassenden Handlungsbefugnis der Organe summieren. III. Beamtenstatut und Beschäftigungsbedingungen Die Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften gehören nach Art. 9 Abs. 3 des Amsterdamer Vertrages der „einzigen Verwaltung dieser Gemeinschaften“ an. Diese Formulierung schließt nicht aus, dass neben den Bediensteten der beiden mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Europäischen Gemeinschaften auch die Bediensteten weiterer, rechtlich selbständiger Gemeinschaftseinrichtungen der „einzigen Verwaltung“ zuzurechnen sind, wie etwa die Bediensteten der unmittelbar (Europäische Investitionsbank, Europäische Zentralbank24) oder mittelbar (Agenturen) in den Verträgen wurzelnden juristischen Personen. Zudem kann der Begriff der Gemeinschaften durchaus auch in einem weiteren Sinne verstanden werden, wie der EuGH im Hinblick auf seine Zuständigkeit gemäß Art. 236 EGV für Streitsachen zwischen der Europäischen Zentralbank und deren Bediensteten entschieden hat.25 Bei einem weiten Verständnis des Begriffs der „einzigen Verwaltung“ umfasst die europäische Verwaltung im Jahr 2008 mehr als 46.000 Bedienstete, wobei der Anteil der Dauerplanstellen deutlich überwiegt.26 Den Kern der europäischen Verwaltung bilden jedoch die Bediensteten der beiden Europäischen Gemeinschaften, deren Zahl sich auf knapp 40.000 beläuft.27 Die Rechtsbeziehungen zwischen den Gemeinschaften und ihren Bediensteten werden durch das Statut der Beamten und durch die Beschäftigungs23
Hilf/Pache (Anm. 16), Art. 5 EUV Rn. 5. Hierzu vgl. F. Feyerbacher, Das Arbeitsrecht der Europäischen Zentralbank – Zwischen Beamtenstatut und europäischem Arbeitsrecht, in: ZESAR 2006, S. 11–17. 25 EuGH, Urteil v. 15.6.1976, RS. 110/75, John Mills/Europäische Investitionsbank, Slg. 1976, S. 955 Rn. 5 ff. 26 Vgl. den Entwurf des EU-Gesamthaushaltsplan 2008, Band 1: Einnahmen, Teil C: Personalbestand, im Internet unter http://eur-lex.europa.eu/budget/www/indexde.htm. Die Personalzahlen der EIB (Stand 2006) finden sich im Jahresbericht der EIB, Teil I: Tätigkeitsbericht, S. 66 (http://www.eib.org/about/publications/annualreport-2006.htm), diejenigen der EZB (Stand 2006) im Jahresbericht 2006, S. 204 (http://www.ecb.int/pub/pdf/annrep/ar2006de.pdf). 27 Vgl. den Entwurf des EU-Gesamthaushaltsplan 2008 (Anm. 26). 24
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bedingungen für die sonstigen Bediensteten der Gemeinschaften geregelt. Diese Rechtsgrundlagen sind, glaubt man der Literatur, „Außenstehenden in der derzeit gültigen Fassung nicht ohne weiteres zugänglich“.28 Dies mag damit zusammenhängen, dass das Beamtenstatut und die Beschäftigungsbedingungen stets nach der Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften29 zitiert werden, weil diese Verordnung die Rechtsbeziehungen zwischen den Gemeinschaften und ihren Bediensteten nach der Fusion von Rat und Kommission für alle drei Europäischen Gemeinschaften auf eine einheitliche Grundlage gestellt hat.30 Förmlich handelt es sich bei dieser Verordnung jedoch um eine Anpassung des Statuts der Beamten und der Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Bediensteten der EWG und der EAG von 1961.31 Eine (rechtlich nicht bindend) kodifizierte Fassung des Beamtenstatuts und der Beschäftigungsbedingungen findet sich daher in der EU-Datenbank EUR-Lex unter der Nummer des Beamtenstatuts von 1961 und nicht unter der Nummer der Verordnung von 1968. Die Singularität der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaften findet ihren Ausdruck nicht nur in materiell einheitlichen Regelungen, wie sie für alle Bediensteten im Beamtenstatut und in den Beschäftigungsbedingungen vorgesehen sind, sondern auch (und bereits) in der Rechtsgrundlage dieser Regelungen. Der Fusionsvertrag 1965 hatte in Art. 24 Abs. 2 die in den einzelnen Gemeinschaftsverträgen enthaltenen Rechtsgrundlagen für das Beamtenstatut und die Beschäftigungsbedingungen aufgehoben und statt dessen in Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 eine einheitliche Rechtsgrundlage geschaffen, die sich mithin explizit auf die Beamten und Bediensteten aller drei damals bestehenden Europäischen Gemeinschaften bezog. Durch Art. 6 Ziff. 71 des Amsterdamer Vertrags wurde dann der seinerzeit durch den Fusionsvertrag 1965 aufgehobene Art. 212 EGV (jetzt: Art. 283 EGV) wiederbelebt. Jedoch wurde nicht der ursprüngliche, damals nur auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bezogene Wortlaut von Art. 212 EWGV reaktiviert, vielmehr wurde der Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 Fu28
So D. Rogalla, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, Loseblatt, Art. 283 EGV Rn. 7. 29 ABl. EG 1968 L 56/1. 30 Vgl. E. Brückner, Das Recht der Beamten der Europäischen Gemeinschaften, Bonn 1971, S. 14. 31 Verordnung Nr. 31 (EWG), 11 (EAG) über das Statut der Beamten und über die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. EG 1962 Nr. 45, S. 1385. Hierzu vgl. auch Brückner, Das Recht der Beamten (Anm. 30).
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sionsvertrag 1965 ohne jede Änderung in Art. 212 EGV inkorporiert. Dies erklärt, weshalb der heutige Art. 283 EGV von den Europäischen Gemeinschaften (im Plural) spricht. Gleichzeitig wurde davon abgesehen, in den EAG-Vertrag (sowie in den damals noch geltenden EGKS-Vertrag) eine gleichlautende Bestimmung aufzunehmen. Seit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages findet sich somit die einzige Rechtsgrundlage für das Beamtenstatut und die Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Bediensteten im EG-Vertrag. Damit erweist sich einmal mehr, dass der EG-Vertrag im Verhältnis zum EAG-Vertrag (und seinerzeit auch zum EGKS-Vertrag) als „Hauptvertrag“ anzusehen ist.32 Dies hat die eigentümliche Folge, dass Rechtsakte des Rates, die in Sachen der Beamten und sonstigen Bediensteten erlassen werden, allein auf Art. 283 EGV gestützt sind, obwohl sie im Titel nicht nur auf die EG, sondern auch auf die EURATOM verweisen.33 Durch Art. 283 EGV erfüllt der EG-Vertrag somit zugleich Aufgaben der EAG und bewirkt, unbeschadet der rechtlichen Selbständigkeit der EAG, eine rechtlich-materielle Verklammerung beider Gemeinschaften. Das Beamtenstatut und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten wurden im Zuge der EU-Verwaltungsreform34 durch die Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 723/2004 des Rates vom 22. März 200435 tiefgreifenden Änderungen unterzogen. Auch wenn diese Reform in erster Linie der EU-Kommission galt,36 weil sie unter den Gemeinschaftsorganen mit knapp 26.000 Stellen (2008) bei weitem über die meisten Bediensteten 32
So bereits zum EWG-Vertrag Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (Anm. 5), S. 93. 33 Vgl. etwa die Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 1760/2006 des Rates v. 28.11.2006 zur Einführung befristeter Sondermaßnahmen zur Einstellung von Beamten der Europäischen Gemeinschaften aus Anlass des Beitritts Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union, ABl. EU 2006 L 335/5. 34 Aus der Literatur vgl. M. Gauer, Die Reform des europäischen öffentlichen Dienstrechts, Köln 2007; E. Schröter, Die Reform der EU-Administration, in: W. Jann/M. Röber/H. Wollmann (Hrsg.), Public Management – Grundlagen, Wirkungen, Kritik: FS für Christoph Reichard, Berlin 2006, S. 153–169; G. Ahrens, Die Reform des EU-Beamtenstatuts – eine unendliche Geschichte vor dem Abschluss?, in: NVwZ 2004, S. 445–447; D. Rogalla, Europas Diener sollen besser werden, in: EuR 2003, S. 670–680; P. Nemitz, Die Reform der Europäischen Kommission: Reform einer Reforminstitution, sowie G. Almer, Die Verwaltungsreform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften aus deutscher Sicht, beide in: H. Siedentopf (Hrsg.), Modernisierung von Staat und Verwaltung/Reform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Dokumentation zum 8. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Strasbourg am 5. und 6. Juni 2001, Speyer 2001, S. 28–38; S. 39–47. 35 ABl. EU 2004 L 124/1. 36 Vgl. die archivierte Website der Verwaltungsreform: http://ec.europa.eu/ reform/index_de.htm (Stand September 2004).
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verfügt,37 betreffen die Änderungen des Beamtenstatuts und der Beschäftigungsbedingungen alle Bediensteten, auf die diese Regelungen Anwendung finden. Zu den zentralen Maßnahmen der Verwaltungsreform zählt die Neuordnung des Laufbahnsystems, die das Ziel verfolgt, „mehr Leistungsanreize zu schaffen und auf diese Weise eine engere Verbindung zwischen Leistung und Besoldung herzustellen“.38 Keine Änderung erfolgte jedoch im Hinblick auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Beamten und sonstigen Bediensteten sowie hinsichtlich der prominenten Rolle der Gemeinschaftsorgane. Diese treten den Gemeinschaftsbediensteten als „oberste Anstellungsbehörden“ gegenüber.39 Nach Art. 2 Abs. 1 Beamtenstatut40 kann jedes Organ die der Anstellungsbehörde im Statut übertragenen Befugnisse innerhalb seines Dienstbereichs delegieren.41 Ferner gestattet Art. 2 Abs. 2 Beamtenstatut den Organen, einer gemeinsamen Einrichtung einige oder alle Befugnisse der Anstellungsbehörden zu übertragen. Auf diese Bestimmung wurde die Errichtung des interinstitutionellen Amtes für Personalauswahl (EPSO42) gestützt,43 dem grundsätzlich die Personalauswahl, jedoch unter Ausschluss der Entscheidungen über die Ernennung der erfolgreichen Bewerber, übertragen wurde. In der Schaffung dieses Amtes, die in der Sache nichts anderes bedeutet als eine (partielle) „Fusion“ der Anstellungsbehörden, kulminieren die Bemühungen um eine „einzige“ Verwaltung der Gemeinschaften.44 Der Begriff der Anstellungsbehörde wird im Beamtenstatut nicht einheitlich verwendet. Während der Begriff zunächst nur in Art. 2 Beamtenstatut 37
Vgl. den Entwurf des EU-Gesamthaushaltsplan 2008 (Anm. 26). VO 723/2004 (Anm. 35), 10. Erwägungsgrund. 39 EuGH, Urteil v. 19.3.1964, RS. 18/63, Estelle Schmitz/EWG-Kommission, Slg. 1964, S. 177, 202. 40 Eine entsprechende Bestimmung enthält Art. 6 der Beschäftigungsbedingungen. 41 Hierzu Th. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, S. 244. 42 Die Abkürzung EPSO, die sich aus der englischen Bezeichnung des Amtes ableitet (European Personnel Selection Office), hat sich eingebürgert. Sie wird auch vom Amt selbst in allen drei auf der Website benutzten Sprachen verwendet. 43 Beschluss 2002/620/EG des Europäischen Parlaments, des Rates, der Kommission, des Gerichtshofs, des Rechnungshofs, des Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Bürgerbeauftragten v. 25.7.2002 über die Errichtung des Amtes für Personalauswahl der Europäischen Gemeinschaften, ABl. EG 2002 L 197/53. 44 Auch die Europäische Verwaltungsakademie ist als organübergreifende Einrichtung von denselben Organen und Institutionen gegründet worden, die EPSO gegründet haben. Vgl. den Beschluss 2005/118/EG v. 26.1.2005, ABl. EU 2005 L 37/14. Nicht von ungefähr sieht Art. 4 des Beschlusses vor, dass die Europäische Verwaltungsakademie verwaltungsmäßig dem Amt für Personalauswahl zugeordnet wird. 38
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auftaucht und sich damit allein auf die Beamten der Gemeinschaften zu beziehen scheint – Art. 6 der Beschäftigungsbedingungen spricht demgegenüber von der Ermächtigung, Dienstverträge zu schließen –, wird der Begriff der Anstellungsbehörde auch in einzelnen Bestimmungen der deutschen Fassung der Beschäftigungsbedingungen verwendet, so in Art. 14 UAbs. 4, 39 Abs. 1 UAbs. 2, 85 Abs. 2. In anderen Sprachfassungen (hier werden die englische und die französische herangezogen) wird dieser in den Beschäftigungsbedingungen verwendete Begriff unterschiedlich übersetzt, mal mit „authority authorized to conclude contracts of engagement“ bzw. „autorité habilitée à conclure les contrats d’engagement“ (Art. 14 UAbs. 4), mal mit „Appointing Authority“ bzw. „autorité investie du pouvoir de nomination“ (Art. 39 Abs. 1 UAbs. 2, 85 Abs. 2). Letztlich ist aber davon auszugehen, dass der Begriff der Anstellungsbehörde für das Beamtenrecht reserviert ist. In seinem Beschluss 2006/491/EG, EURATOM vom 27. Juni 200645 unterscheidet der Rat (auch in der deutschen Fassung) bereits im Titel des Rechtsakts klar zwischen der „Anstellungsbehörde“ und der Stelle, die zum Abschluss von Dienstverträgen ermächtigt ist. Ungeachtet der Singularität der – mithin „einzigen“ – europäischen Verwaltung werden die Gemeinschaftsbediensteten, gleichviel ob Beamte oder sonstige Bedienstete, „bei einem der Organe der Gemeinschaften“ (vgl. Art. 1 a Abs. 1 Beamtenstatut) eingestellt, sie bilden m. a. W. keine administrative Einheit.46 Zuständig für die Regelung des Innenverhältnisses zwischen dem Beamten und dem jeweiligen Organ ist die zuständige Anstellungsbehörde.47 Dass das EU-Beamtenrecht stets bei den Organen ansetzt, zeigt sich auch im Fall von Rechtsstreitigkeiten. Klagen sind gegen das jeweilige Organ und nicht, wie der Wortlaut von Art. 236 EGV und Art. 152 EAGV nahe legt, gegen „die Gemeinschaft“ zu richten.48 Aufgrund dieser Dominanz der fusionierten Organe, die bis hin zur Frage des Klagegegners reicht, wird sich einem Gemeinschaftsbediensteten niemals die Frage stellen, wer eigentlich sein „Dienstherr“ ist. Dieser rechtlich gleichwohl interessanten Frage soll nunmehr nachgegangen werden.
45 Beschluss des Rates zur Bestimmung der Anstellungsbehörde für das Generalsekretariat des Rates und der Stelle, die zum Abschluss der Dienstverträge ermächtigt ist, ABl. EU 2006 L 194/29. 46 Zutreffend Oppermann, Europarecht (Anm. 41). 47 D. Rogalla, Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl., Köln u. a. 1992, S. 4. 48 Siehe U. Karpenstein, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, Loseblatt, Art. 236 EGV Rn. 20; Rogalla, Dienstrecht (Anm. 47), S. 217. Vgl. auch EuGH, Urteil v. 10.6.1987, RS. 307/85, A. Gavanas/ Wirtschafts- und Sozialausschuss, Slg. 1987, S. 2435 Rn. 3–9.
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IV. Der „Dienstherr“ der Gemeinschaftsbediensteten Der Begriff des „Dienstherrn“ ist kein gemeinschaftsrechtlicher Begriff. Im Statut der Beamten und in den Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Gemeinschaftsbediensteten taucht er nicht auf. Wenn er in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte verwendet wird, hat er unspezifischen Charakter. Er wird (im Englischen und Französischen) mit „administration“,49 „institution“50 oder „employé/employeur“51 übersetzt. In der deutschen Literatur zum EU-Beamtenrecht wird gleichwohl der Begriff „Dienstherr“ verwendet, um diejenige Stelle zu kennzeichnen, für die die Gemeinschaftsorgane – und somit die Gemeinschaftsbediensteten – letztlich tätig werden.52 Dies entspricht der deutschen Rechtslage, wonach als Dienstherr diejenige juristische Person gilt, die über das Recht verfügt, Beamte zu haben (vgl. Art. 121 Beamtenrechtsrahmengesetz).53 Der Begriff des Dienstherrn sollte allerdings im Kontext des EU-Dienstrechts in einem weiteren Sinn verwendet werden, ähnlich wie dies beim Begriff des „Beamten“ möglich ist,54 und auch das Recht bezeichnen, sonstige Bediensteten zu haben. Dass die Frage nach dem Dienstherrn im EU-Dienstrecht keine Rolle spielt, hängt mit der schon mehrfach erwähnten Dominanz der Organe zusammen, in deren Schatten die Europäischen Gemeinschaften zu formalen Konstrukten verblassen. Dennoch fragt sich angesichts der Fusion der Gemeinschaftsorgane und der Postulierung einer „einzigen“ Verwaltung der Gemeinschaften, wer dem Verwaltungsapparat als „Dienstherr“ gegenüber steht. Die Organe selbst kommen hierfür nicht in Betracht. Sie sind ungeachtet ihres rechtlich-praktischen Gewichts Organe geblieben, die als solche „nie für sich selbst, sondern stets für einen anderen nicht handlungsfähigen Rechtsträger tätig werden“.55 49
EuGH, Urteil v. 14.7.1977, RS. 61/76, Jean-Jacques Geist/Kommission, Slg. 1977, S. 1419, 2. Leitsatz. 50 GeI, Urteil v. 18.10.2001, RS. T-333/99, X/Europäische Zentralbank, Slg. 2001, II-3021 Rn. 68. 51 EuGH, Urteil v. 9.6.1964, verb. RS. 79/63 und 82/63, Jean Reynier und Piero Erba/EWG-Kommission, Slg. 1964, S. 561, 575 (die Seitenzählung der englischen und der französischen Ausgabe der Sammlung weicht von der deutschen ab). 52 So insb. Rogalla (Anm. 28), Art. 283 EGV Rn. 3; ders., Dienstrecht (Anm. 47), S. 4; ders., Nebentätigkeiten von EU-Beamten, in: EuR 2005, S. 542, 543 ff.; H. Schmitt von Sydow, Organe der erweiterten Europäischen Gemeinschaften – Die Kommission, Baden-Baden 1980, S. 120; A. M. Euler, Europäisches Beamtenstatut – Kommentar zum Beamtenstatut der EWG und EAG, Erster Teilband, Köln u. a. 1966, S. 28. 53 Vgl. etwa F. Wagner, Beamtenrecht, 9. Aufl., Heidelberg 2006, S. 26. 54 So M. Röttinger, Die Europäischen Beamten, in: ders./C. Weyringer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Integration, 2. Aufl., Wien 1996, S. 290, 291.
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Vielfach wird der Frage nach dem Dienstherrn dadurch ausgewichen, dass schlicht die „EG“56 bzw. die „(Europäische) Gemeinschaft“57 als Träger der europäischen Verwaltung angegeben wird. Dieser Redeweise ist zuzugestehen, dass sie unter dem Blickwinkel der Einheitlichkeit der Organe politisch, und in gewisser Hinsicht sogar juristisch, „Sinn macht“.58 Allerdings lässt sie die rechtliche Frage nach dem Träger der europäischen Verwaltung, d.h. nach dem Dienstherrn der Gemeinschaftsbediensteten, unbeantwortet, denn tatsächlich gibt es eine Mehrzahl von Gemeinschaften. Fest steht andererseits, dass die Gemeinschaftsbediensteten nicht in den Dienst einer bestimmten Gemeinschaft treten. Denn eine solche Konstruktion wäre mit der Fusion der Organe und dem Postulat einer „einzigen“ Verwaltung der Europäischen Gemeinschaften unvereinbar. Daraus folgt, dass die Gemeinschaftsbediensteten im Dienst aller Gemeinschaften stehen. Dies könnte nun bedeuten, dass die Gemeinschaftsbediensteten so viele Dienstherren haben, wie es Gemeinschaften gibt. Ein Bediensteter wäre dann gleichzeitig Bediensteter der EG und Bediensteter der EAG. Auch diese Deutung ist indessen aus den selben Gründen abzulehnen, die eben bereits genannt wurden. Zudem würde eine Vervielfältigung der Dienstverhältnisse unheilvolle Komplikationen und aufwendige rechtliche Gegenmaßnahmen erfordern. Damit bleibt nur die Lösung, dass die bestehenden Europäischen Gemeinschaften gemeinsam und unteilbar als Dienstherr der Gemeinschaftsbediensteten fungieren.59 Diese Konstruktion liegt offensichtlich auch dem Beamtenstatut und den Beschäftigungsbedingungen zugrunde. Dort werden die Europäischen Gemeinschaften in der Regel als undifferenzierte und undifferenzierbare Gruppe angesprochen. So befinden sich die Beamten „im Dienst der Gemeinschaften“ (vgl. Art. 72 Abs. 2 Beamtenstatut, Art. 1 Abs. 1 Versorgungsordnung im Anhang VIII zum Beamtenstatut), die sonstigen Bediensteten werden „von den Gemeinschaften durch Vertrag eingestellt“ (Art. 1 der Beschäftigungsbedingungen). Ferner leisten die Gemeinschaften ihren 55 Pechstein (Anm. 13), Art. 3 EUV Rn. 3; im Ergebnis ähnlich Hilf/Pache (Anm. 16), Art. 5 EUV Rn. 12. 56 So Rogalla (Anm. 28), Art. 283 EGV Rn. 5. 57 So A. Hatje, Der Rechtsschutz der Stellenbewerber im Europäischen Beamtenrecht, Baden-Baden 1988, S. 21; Röttinger, Die Europäischen Beamten (Anm. 54), S. 300; Schmitt von Sydow, Organe (Anm. 52), S. 120. 58 So B. Simma/Chr. Vedder, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, München, Loseblatt, Art. 281 EGV Rn. 5. 59 Ähnlich bereits Euler, Europäisches Beamtenstatut (Anm. 52), S. 28: Der Gemeinschaftsbeamte werde „zum Beamten der Gemeinschaften, die in ihrer funktionellen Einheit als sein Dienstherr anzusehen ist“ (Hervorhebungen im Original; ebenso der Singular am Ende des Relativsatzes).
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Beamten gemäß Art. 24 Abs. 1 Beamtenstatut Beistand. Art. 11 Abs. 1 Beamtenstatut erinnert den Beamten an die Einhaltung „seiner Loyalitätspflicht gegenüber den Gemeinschaften“. Rechtsstreitigkeiten finden gemäß Art. 91 Beamtenstatut „zwischen den Gemeinschaften und einer Person, auf die dieses Statut Anwendung findet“, statt. Versorgungsbezüge werden gemäß Art. 45 Versorgungsordnung „im Namen der Gemeinschaften“ gewährt. Die rechtliche Selbständigkeit der einzelnen Gemeinschaften schlägt sich nur in wenigen Bestimmungen des Beamtenstatuts nieder, welche die These eines einheitlichen Dienstherrn jedoch nicht in Frage stellen. So bestimmt Art. 18 Abs. 1 Beamtenstatut, dass alle Rechte aus Arbeiten, die von dem Beamten ausgeführt werden, der Gemeinschaft zustehen, „auf deren Tätigkeit sich diese Arbeiten beziehen“. Art. 24 Abs. 2 Beamtenstatut ordnet an, dass die Gemeinschaften dem Beamten unter bestimmten Voraussetzungen „solidarisch den erlittenen Schaden ersetzen“. Dass das Wort „solidarisch“ nicht eine emotionale Haltung der Gemeinschaften gegenüber dem Beamten kennzeichnet, sondern das gegenseitige Verhältnis der Gemeinschaften selbst, zeigt ein Blick in die englische Fassung des Beamtenstatuts, in dem der Begriff „solidarisch“ mit „jointly and severally“, also „gesamtschuldnerisch“, wiedergegeben wird. Wenn die Europäischen Gemeinschaften somit tatsächlich als ein Dienstherr der Gemeinschaftsbediensteten zu betrachten sind, so lässt sich dies kaum nur mit einer „funktionellen“ Vereinheitlichung der beiden Gemeinschaften erklären.60 Vielmehr ist anzunehmen, dass die Fusion der Gemeinschaftsorgane in dem Maße, wie dies die Singularität der europäischen Verwaltung erfordert, zu einer funktional begrenzten rechtlichen Verschmelzung der Gemeinschaften und dadurch zur Schaffung eines weiteren Rechtsträgers geführt hat. Der Umfang der Rechtsfähigkeit dieses Rechtsträgers ist begründet und begrenzt durch die Dienstherreneigenschaft der Gemeinschaften. V. Ausblick Der Reformvertrag, sollte er eines Tages in Kraft treten, wird die rechtliche Komplexität des bestehenden Geflechts aus Verträgen, Organisationen und Organen der EU vereinfachen, weil er neben der EU nur noch eine hochspezialisierte Gemeinschaft, die EURATOM, fortexistieren lässt. Der Amsterdamer Vertrag, der gegenwärtig die Grundlage der Fusion der Gemeinschaftsorgane bildet, wird, soweit ersichtlich, durch den Reformvertrag weder ausdrücklich aufgehoben noch an die neue Rechtslage angepasst. Allerdings werden seine Bestimmungen, soweit sie die Fusion der Organe 60
So indessen Euler, Europäisches Beamtenstatut (Anm. 52), S. 28.
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betreffen, durch das Protokoll zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft hinfällig. Dieses Protokoll sieht Änderungen des EAG-Vertrags vor, nach denen praktisch alle Bestimmungen des geänderten EU-Vertrags und des geänderten EG-Vertrags, welche die Einrichtung und die Arbeitsweise der Organe und Institutionen der EU betreffen, „auch für den vorliegenden Vertrag [gelten]“ 61 (Art. 106 a Abs. 1 EAGV i. d. F. des Protokolls zur Änderung des EAGV). Folgerichtig hebt das Protokoll alle Bestimmungen des EAG-Vertrags betreffend die Organe der EAG auf. Dieser Vorgang stellt offenkundig keine Fusion von EU-Organen und EAG-Organen dar, da die EAG-Organe eliminiert werden, um den EU-Organen Raum zu geben. Zu denken ist daher an eine Organleihe, bei der die EU ihre Organe an die EAG entleiht. Allerdings scheint die im Protokoll zur Änderung des EAG-Vertrags vorgesehene Regelung über eine Organleihe weit hinaus zu gehen. Die institutionellen Bestimmungen des EU-Vertrags und des Vertrags über die Arbeitsweise der EU – einschließlich Art. 254 a AEUV betreffend eine unabhängige europäische Verwaltung – sollen im Rahmen des EAG-Vertrags als solche „gelten“. Dass gemäß Art. 106 a Abs. 2 EAGV i. d. F. des Protokolls zur Änderung des EAGV Bezugnahmen in jenen Bestimmungen auf die Union und die diese begründenden Verträge als Bezugnahmen auf die EAG und den EAG-Vertrag zu betrachten sind, macht die Organe der Union nicht (auch) zu eigenen Organen der EAG. Demnach ist davon auszugehen, dass der EAG-Vertrag einen originären – und nicht nur „geliehenen“ – Tätigkeitsbereich der Unionsorgane bildet. Wie auch immer man die beschriebene Regelung im Protokoll zum EAGVertrag deuten mag, sie zeigt, dass das Inkrafttreten des Reformvertrags die rechtlichen Probleme, die mit dem Postulat einer „einzigen“ europäischen Verwaltung verbunden sind, nicht vollständig erledigen wird.
61 Englisch: „shall apply to this Treaty“; Französisch: „s’appliquent au present traité“.
Überlegungen zu Begriff und Funktionskreisen des Internationalen Verwaltungsrechts Eberhard Schmidt-Aßmann I. Aufgabe wissenschaftlicher Ordnung „Wesentlicher Ausdruck der Nationalstaatlichkeit der öffentlichen Verwaltung ist dabei die Entwicklung und Geltung des nationalen Verwaltungsrechts. Dieses Verwaltungsrecht bezieht sich auf das Territorium des Nationalstaats, wirkt innerhalb seiner Grenzen.“1 Dieses ist der Ausgangspunkt des uns vertrauten verwaltungsrechtlichen Denkens. Dieses Denken ist freilich seit mindestens zwei Jahrzehnten tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt. „Dieser ausschließliche, zumindest sehr enge rechtliche und territoriale Bezug zwischen dem Nationalstaat und seiner Verwaltung wird heute zunehmend durch Entwicklungen überlagert, die als Internationalisierung oder Europäisierung der öffentlichen Verwaltung bezeichnet werden können.“2 Herausgefordert ist nicht nur die Verwaltungspraxis, die diese Phänomene im täglichen Umgang bearbeiten muss. Herausgefordert ist auch die Wissenschaft. „Die Internationalisierung und die Europäisierung der öffentlichen Verwaltung können schwerlich in einfachen Definitionen eingefangen werden. Sie stellen eine Reihe von verwaltungswissenschaftlichen Fragen, wie die nach der Legitimation und Kontrolle, nach dem effizienten Management dieser Einrichtungen, sowie die nach den gegenseitigen Einwirkungen von nationalem und europäischem Verwaltungsrecht und ihren jeweiligen Verwaltungsstrukturen und -prinzipien.“3 Zur Europäisierung und zum Europäischen Verwaltungsrecht ist nach und nach ein beachtlicher Fundus an Kenntnissen zusammengetragen worden. Die Funktionsbereiche des EG-Rechts, seine Schichten, Prinzipien und Verfahren und schließlich seine Einwirkungspfade im nationalen Verwaltungsrecht sind vielfältig nachgezeichnet worden, sodass heute die Strukturen dieses Rechtsgebiets einigermaßen überschaubar sind.4 Für die Interna1 H. Siedentopf, Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Die Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden 1996, S. 711 (712). 2 Ebd., S. 712. 3 Ebd., S. 712.
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tionalisierung und das Internationale Verwaltungsrecht stellt sich die Situation anders dar: Hier gibt es eine in das 19. Jahrhundert zurückreichende, wissenschaftlich anspruchsvolle Diskussion, die dann allerdings zunächst in den Bann nationalstaatlicher Souveränitätsvorstellungen und einer dualistischen Lehre über das Verhältnis von Völkerrecht und Staatsrecht geraten und damit unzutreffend verengt worden war.5 In jüngster Zeit allerdings werden Internationalisierung und Internationales Verwaltungsrecht erneut in dem notwendigen breiteren Rahmen behandelt. Neben Stellungnahmen aus dem deutschen Schrifttum6 gehen wichtige Impulse von den in den USA und in Italien thematisierten Problemen eines „Global Administrative Law“ aus.7 Der vorliegende Beitrag nimmt diese Untersuchungen auf und fragt nach Begrifflichkeit und Konzept des Internationalen Verwaltungsrechts. Beide sind – so lautet die Ausgangsthese – nach ähnlichen Strukturüberlegungen zu bestimmen, wie sie sich auf dem Felde der Europäisierung und des Europäischen Verwaltungsrechts bewährt haben. II. Der Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts Die Ordnungsaufgaben der Wissenschaft beginnen bei der Begriffsbildung. Diese muss geeignet sein, das Forschungsfeld zutreffend zu erfassen. Der Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts wird bisher mit recht unterschiedlichen Inhalten verwendet.8 4 Vgl. dazu nur J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, in der dem Nachdruck der 1. Auflage vorangestellten Einführung S. XLVII ff., auch mit dem zutreffenden Hinweis auf strukturelle Veränderungen im Verwaltungsgefüge der Europäischen Union, dort S. CI. 5 Darstellung dieser Entwicklung bei C. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, Berlin 2001, S. 50 ff. 6 Neben der oben Anm. 5 zitierten Schrift von Tietje jüngst C. Möllers/A. Voßkuhle/C. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, Tübingen 2007; weitere Nachweise bei M. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, München 2006, § 17 Rn. 12 ff., 40 ff. und 149 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, in: Der Staat, Bd. 45 (2006), S. 315 ff. 7 Dazu B. Kingsbury/N. Krisch/R. B. Stewart (eds.), The Emergence of Global Administrative Law, in: Law and Contemporary Problems, in: Duke University, School of Law, Vol. 68 (2005) Nos. 3 and 4; S. Cassese, Administrative Law without the State? The Challenge of Global Regulation, in: New York University Journal of International Law and Politics, 37 (2005), S. 663 ff.; ders., The Globalisation of Law, ebd., S. 973 ff. 8 Vgl. K. Vogel, Administrative Law, International Aspects, in: EPIL, Bd. 9 (1986), S. 2 ff.; C. Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungs-
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1. Nicht geeignet: Internationales Verwaltungsrecht als Kollisionsrecht Der lange Zeit im deutschen Sprachraum herrschende Gebrauch verstand unter dem Internationalen Verwaltungsrecht den Inbegriff derjenigen Rechtsnormen eines Staates, die eine Bestimmung darüber treffen, welches Recht – eigenes oder fremdes – von seinen Verwaltungsbehörden in Sachverhalten mit Auslandsbezug anzuwenden sein soll.9 Ein „Grenzrecht“ sollte es sein, das sich an nationale Organe wendet und vom jeweiligen nationalen Gesetzgeber geschaffen worden ist. Dass das keine ganz naheliegende Begriffsbildung war, wurde gesehen, aber in Kauf genommen: „Trotz des Attributs ‚international‘ sind die Bestimmungen des Internationalen Verwaltungsrechts nationales Recht, und nicht etwa Bestandteil des Völkerrechts“.10 Ihre Faszination verdankt diese Variante der Begriffsverwendung dem Werk Karl Neumeyers, der die internationalen Bezüge nationalen Verwaltungshandelns in alle Richtungen hin systematisch zu entfalten versucht hatte.11 Dabei war es Neumeyers Bestreben, das Internationale Verwaltungsrecht ganz in Parallele zum Internationalen Privatrecht zu entwickeln. Neumeyer hat – wie er 1909 im Vorwort zu Band 1 seines Werkes schreibt – den Bearbeitern des Internationalen Privatrechts „bei ihrem Werke“ zugesehen. Danach ist ihm nicht mehr zweifelhaft, was die Aufgabe eines Internationalen Verwaltungsrechts sein soll, nämlich „die Grenzen der öffentlichen Gewalt in Verwaltungssachen gegenüber der öffentlichen Gewalt anderer Gemeinschaften zu ziehen“.12 Die Fixierung des Internationalen Verwaltungsrechts auf ein Grenzrecht findet sich freilich schon früher. In der 1896 erschienenen ersten Auflage seines Verwaltungsrechts behandelt Otto Mayer in einem Anhang entsprechende Fragestellungen:13 „Unsere Staatsgewalt beansprucht nicht, die rechts, Tübingen 2005, S. 2 ff. Aus dem älteren Schrifttum aufschlussreich F. StierSomlo, Grundprobleme des internationalen Verwaltungsrechts, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1930/31, S. 222 (256 ff.). Aus jüngster Zeit M. Ruffert, Perspektiven des Internationalen Verwaltungsrechts, in: Möllers/Voßkuhle/ Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 395; F. C. Mayer, Internationalisierung des Verwaltungsrechts?, ebd., S. 49 (56 ff.). 9 So z. B. G. Hoffmann, Internationales Verwaltungsrecht, in: I. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl., Berlin 1985, S. 853 (859); weitere Nachweise bei Ohler, Kollisionsordnung (Anm. 8), S. 3, Anm. 13 und 14. 10 Hoffmann, Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 9), S. 853 (861). 11 K. Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Band 1–4, München/Berlin 1910–1936. 12 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, ebd., Band 1, S. III und IV. 13 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, 1. Aufl., Berlin 1896, S. 453 ff.
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Staatsgewalt zu sein für die ganze Welt“, heißt es da markant und weiter: „Innerhalb ihres Gebiets ist sie Herr, ist sie allein das, was nach einem allgemeinen Begriff Staatsgewalt sein soll. Dem Gebiet ihrer Schwestern erkennt sie für diese die gleiche Bedeutung zu“. Mayer verweist darauf, dass im Bereich des Zivilrechts die natürliche Abgeschlossenheit der Staatsgebiete durchbrochen und die Lehre von den Grundsätzen, nach welchen diese Durchbrechung stattfindet, mit dem Ausdruck „Internationales Privatrecht“ belegt werde, eine Bezeichnung, die er, wie er kritisch hinzufügt, „übrigens sehr wenig angemessen“ findet. Trotzdem will er die entsprechenden Erscheinungen im Verwaltungsrecht als Internationales Verwaltungsrecht bezeichnen. „Sie folgen nicht den gleichen Regeln und liefern namentlich zu dem, was den Schwerpunkt des Internationalen Privatrechts ausmacht, kein Seitenstück“. Seine wissenschaftlichen Ansprüche auf diesem Feld weit zurücknehmend führt er fort: „Wenn dieses einen eigenen Wissenszweig zu bilden vermochte, so fehlt bei uns der wesentliche Stoff dazu“.14 Folglich sind es auch nur wenige Fragen, die im Anschluss daran behandelt werden: Abweichungen vom Territorialitätsprinzip, die Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit und Fragen der Ausweisung. Ganz auf die Verwaltung im nationalen Staat konzentriert, kann Mayer der in diesem Zusammenhang immerhin nicht fernliegenden Verwaltungszusammenarbeit rechtlich wenig abgewinnen und versucht, sie ganz auf ihre einzelstaatlichen Komponenten zu reduzieren. Zu kollisionsrechtlichen Fragen, wie sie Neumeyer mit den Themen „Verweisungen auf fremdes Recht“, „Anerkennung“, „ausländische Amtshandlungen“ erörtert15, findet sich bei Mayer nichts. In den folgenden Auflagen ist der Abschnitt zum Internationalen Verwaltungsrecht dann auch ganz weggelassen. Gemeinsam aber ist beiden Autoren die Bestimmung des Internationalen Verwaltungsrechts allein aus der Perspektive der nationalstaatlichen Verwaltung und ein dualistisches Konzept, das zwischen Völkerrecht und Staatsrecht streng trennt und letzterem den Vorrang zuweist.16 Das aber ist ein stark reduktionistischer Sprachgebrauch, der angesichts der Vielfalt internationaler Verwaltungsbeziehungen aus drei Gründen nicht zu überzeugen vermag: Der Begriff wird auf die nationalen Verwaltungen als einzige Adressaten beschränkt, ohne andere Akteure des internationalen Verwaltungsverkehrs in den Blick zu nehmen. Die nationalen Verwaltungen werden gegeneinander isoliert, ohne ihre Kooperationsbeziehungen rechtlich zu erfassen. Der Begriff des Internationalen wird für einen Ausschnitt des nationalen Rechts usurpiert, während sich nach unbefangenem Sprachgebrauch internationales Recht und Völkerrecht sehr viel näher stehen. 14
Ebd., S. 454. Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Band 4 (Anm. 11), S. 473 ff. 16 Dazu ausführlich Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Anm. 5), S. 86 ff. 15
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An diesen Mängeln der Begriffsbildung kann auch die Parallele zum Internationalen Privatrecht wenig ändern. Sie ist von Vertretern dieser Disziplin zutreffend zurückgewiesen worden. „Wichtig ist es in der Tat, dass man sich im öffentlichen Recht gänzlich freimacht von dem Bemühen, Parallelen zu international-privatrechtlichen Fragestellungen und Methoden zu suchen.“17 In der Tat fehlt einem als „Kollisionsrecht“ definierten Internationalen Verwaltungsrecht das, was ein Kernstück des Internationalen Privatrechts ist, die grundsätzliche Befugnis der Akteure zur Rechtsregimewahl. Die Kritik an der verfehlten Vorstellung einer „parallelen Begriffsverwendung“ besagt nicht, dass es nicht auch zwischen Verwaltungsrechtsordnungen Fragen der Grenzziehung gibt.18 Diese lassen sich aber, wenn sich Grenznormen und Sachnormen im Verwaltungsrecht überhaupt in einer dem Privatrecht vergleichbaren Art trennen lassen, besser mit dem Begriff eines öffentlich-rechtlichen Kollisionsrechts bezeichnen. Der Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts ist dann verfügbar, um sehr viel weiter greifend und sprachlich plausibler die im Völkerrecht gegründeten administrativen Regelungsstrukturen begrifflich auf den Punkt zu bringen (vgl. unter 3.). 2. Ein ausbaufähiger Ansatz: Recht Internationaler Organisationen Dazu bietet eine zweite in der Literatur vorfindliche Begriffsvariante immerhin einen Ansatz: die Definition des Internationalen Verwaltungsrechts als das Eigenverwaltungsrecht internationaler Organisationen.19 Als wichtigster Bereich eines so definierten Rechts wird regelmäßig das Beamtenrecht dieser Organisationen genannt. Dieses Gebiet verfügt in Organisationsstatuten regelmäßig über einen festen Bestand eigener Rechtsregeln und zudem oft über eigene Gerichte oder gerichtsähnliche Spruchkörper, die dieses Recht in dogmatischer Art aufarbeiten und fortentwickeln. Nicht selten wird von „Binnenrecht“ gesprochen und damit eine gewisse Distanz ausgedrückt, was die Bedeutsamkeit eines so definierten Internationalen Verwaltungsrechts angeht. Eine solche eher abschätzige Bewertung ist jedoch nicht veranlasst. Gerade jemand, der sich wie Heinrich Siedentopf intensiv und häufig mit dem öffentlichen Dienst und dem Dienstrecht beschäftigt hat, weiß um die Steuerungsmöglichkeiten dieses Rechtsgebiets. Mehr noch: Das Beamtenrecht ist nicht das einzige Gebiet, in dem Interna17 So C. v. Bar, Internationales Privatrecht, Band 1, 1. Aufl., München 1987, Rn. 252. 18 Vgl. die Fallgruppen bei Ohler, Kollisionsordnung (Anm. 8), S. 48 ff.; aus der Analyse bestimmter Rechtsgebiete auch K.-H. Ladeur, Die Internationalisierung des Verwaltungsrechts: Versuch einer Synthese, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 375 (379). 19 Nachweise bei Ohler, Kollisionsordnung (Anm. 8), S. 2, Anm. 9.
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tionale Organisationen Probleme administrativen Zuschnitts regeln müssen. Auch das Haushaltsrecht unter Einschluss des Rechts der eigenen Vergabetätigkeit gehört hierher. Weiterdenkend fällt es nicht schwer, auch die Regeln über den Umgang mit Informationen, den Datenschutz und den allgemeinen Aktenzugang, als Themen eines so definierten Internationalen Verwaltungsrechts auszumachen. Das „Binnen“ tritt dann schnell in den Hintergrund, und es werden die Rechtsverhältnisse zwischen der Organisation und Dritten (Staaten, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Privaten) sichtbar, über die sogleich zu sprechen ist. An dieser Stelle entscheidend ist zunächst einmal die Einsicht, dass mit dieser Begriffsvariante ein zutreffender Ansatz gewählt worden ist: Das Internationale Verwaltungsrecht ist Teil des Völkerrechts. 3. Internationales Verwaltungsrecht typisch administrativer Regelungsstrukturen im Völkerrecht Der unter 2. skizzierte Ansatz muss freilich der Vielfalt administrativer Beziehungen im internationalen Verwaltungsverkehr entsprechend erweitert werden. Das Internationale Verwaltungsrecht ist danach das Recht typisch administrativer Regelungsstrukturen im Völkerrecht. Die administrativen Regelungsstrukturen, die die Bezeichnung „Verwaltungsrecht“ nahelegen, können in zwei Typen auftreten: Solche Strukturen sind zum einen die Rechtshandlungen nicht-staatlicher Verwaltungen, vor allem also Internationaler Organisationen. Zum anderen sind mit administrativen Regelungsstrukturen Rechtssätze bezeichnet, die sich auf Verwaltungen beziehen. Entscheidend bleibt das Völkerrecht als Rechtsquelle, die nun freilich recht unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen kann, als völkerrechtlicher Einzelakt oder aber auch als völkerrechtliche Norm, insbesondere solche normsetzender Verträge. III. Strukturüberlegungen zum Internationalen Verwaltungsrecht Hier ist nun zunächst auf die oben aufgestellte These zurückzukommen, ein als Völkerrecht definiertes Internationales Verwaltungsrecht sei nach ähnlichen Strukturüberlegungen zu bestimmen, wie sie sich auf dem Felde der Europäisierung und des Europäischen Verwaltungsrechts bewährt haben (unter I.). Es geht wohlgemerkt um Strukturüberlegungen. Es geht nicht darum, die Substanz, d.h. die grundlegenden Wertannahmen, des Internationalen Verwaltungsrechts einfach in Parallele zu der des Europäischen Verwaltungsrechts zu entwickeln.
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1. Zur Ausgangssituation des Internationalen Verwaltungsrechts Um jeder Fehlinterpretation vorzubeugen, sollen zunächst die unterschiedlichen Ausgangssituationen des Europäischen Verwaltungsrechts (und des ihm insoweit näherstehenden nationalen Verwaltungsrechts) einerseits und des Internationalen Verwaltungsrechts andererseits skizziert werden. Die Situation lässt sich vielleicht mit dem paradox klingenden Begriffspaar der „ausgreifenden“, aber „relativen“ Verdichtung umreißen.20 a) Ausgreifende Verdichtung Wenn man sich die Sachgebiete des Verwaltungsrechts anschaut, die heute in unterschiedlicher Weise von der Internationalisierung erfasst sind, so rechtfertigt sich die Feststellung einer ausgreifenden Verdichtung der Verwaltungsbeziehungen.21 Das verwundert noch wenig in denjenigen Gebieten, die notwendig einen internationalen Bezug haben, wie das Außenwirtschaftsrecht, das Migrationsrecht, das Recht der Entwicklungszusammenarbeit oder das Umweltrecht der Meere, obwohl auch hier das rechtliche Regelungsarsenal in den letzten Jahren noch einmal zugenommen hat. Mehr noch wird die Beobachtung einer ausgreifenden Verdichtung an Verwaltungsbereichen deutlich, die in ihrer Substanz auf das nationale Verwaltungshandeln konzentriert sind wie das Polizeirecht und das Sozialrecht. Auch hier haben die grenzüberschreitenden Aktivitäten deutlich zugenommen. Im Polizeirecht lässt sich das an den ausdifferenzierten Regelungen der §§ 8, 64–65 des Bundespolizeigesetzes gut belegen. Die internationale Verbrechensbekämpfung, aber auch der Schutz sportlicher Großveranstaltungen verlangen heute Formen intensiver polizeilicher Kooperation, u. U. sogar den Einsatz von Polizeibeamten auf fremdem Hoheitsgebiet.22 Ähnlich hat die Mobilität der Arbeitnehmer im Sozialversicherungsrecht den direkten Verkehr zwischen Sozialversicherungsträgern und zwischen diesen und den bei ihnen Versicherten heute auch dann zur Normalität gemacht, wenn der Versicherte sich nicht mehr im Zuständigkeitsbereich des Sozialversicherungsträgers aufhält.23 Ein dichtes Netz von Sozialversicherungsabkommen gestattet diese Arten direkter Verwaltungsbeziehungen und ermöglicht den zuständigen Versicherungsträgern, durch Verwaltungsvereinbarungen Näheres zu regeln. 20 Präzise Charakterisierungen des von ihm untersuchten Global Administrative Law bei Cassese, Administrative Law (Anm. 7), S. 663 (668–670). 21 Zum folgenden die Beiträge in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6). 22 Dazu M. Baldus, Transnationales Polizeirecht, Frankfurt 2001. 23 Dazu M. Glaser, Internationales Sozialverwaltungsrecht, in: Möllers/Voßkuhle/ Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 73 ff.
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Weitere Verwaltungsbereiche, die eine nachhaltige Internationalisierung ihrer Rechtsvorgänge zu verzeichnen haben, sind das Recht der Bankenund Versicherungsregulierung.24 Zu nennen sind ferner das Verkehrs- und das Gesundheitsrecht25 sowie der Arten- und der Klimaschutz. Selbst die raumgestaltende Planung ist von dieser Entwicklungstendenz schon seit längerer Zeit nicht ausgenommen. Grenznachbarliche Planungsverbände und grenzüberschreitende Verfahren der Umweltprüfung sind keine Seltenheit.26 „Kein Bereich nationaler Verwaltung ist auf der internationalen Ebene ausgespart“,27 heißt es in der Literatur zutreffend, und – so ist zu ergänzen – auch zwischen den internationalen Akteuren haben die administrativen Beziehungen erheblich zugenommen.28 b) Relative Regelungsdichte Trotz dieses beeindruckenden Tableaus verdichteter Verwaltungsbeziehungen ist die Verdichtung auf internationaler Ebene verglichen mit dem, wie sich solche Beziehungen auf nationaler und auf EG-Ebene darstellen, jedoch nur relativ. Die Vorstellung, wenigstens in einem Kernbereich so etwas wie einen Kanon verfestigter und vereinheitlichter administrativer Regelungsstrukturen anzutreffen, die „das“ Internationale Verwaltungsrecht oder etwas Ähnliches wie einen „Allgemeinen Teil“ eines solchen Rechts repräsentieren könnten, wäre (noch) verfehlt. Diese Relativität liegt am fragmentarischen Charakter der in Bezug genommenen administrativen Regelungsstrukturen. Das gilt in dreifacher Hinsicht: – Akteursbezogen: Es sind sehr unterschiedliche Akteure, die in den internationalisierten Verwaltungsbeziehungen eine Rolle spielen. Selbst wenn man sich auf die hoheitlich verfassten Akteure beschränkt und Nichtregierungsorganisationen ausklammert, sind es jeweils unterschiedliche Staaten und unterschiedliche Internationale Organisationen, die sich zu bestimmten Arrangements zusammenfinden. Die klaren Akteursstrukturen der 24 A. v. Aaken, Transnationales Kooperationsrecht nationaler Aufsichtsbehörden, und C. Ohler, Internationale Regulierung im Bereich der Finanzmarktaufsicht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 217 ff. und 257 ff. 25 Ausführlich dazu Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Anm. 5), S. 288 ff. 26 Vgl. W. Durner, Internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 121 ff. 27 So Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 17 Rn. 149. 28 Dazu umfassende Bestandsaufnahmen bei Kingsbury/Krisch/Stewart (eds.), The Emergence of Global Administrative Law (Anm. 7).
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Europäischen Union, in der sich die Verwaltung der Mitgliedstaaten und die Verwaltungsinstanzen der EU, Letztere konzentrisch geordnet um die EGKommission, gegenüberstehen29, haben auf internationaler Ebene nicht ihresgleichen. – Raumbezogen: Die Internationalisierung umfasst sehr unterschiedlich dimensionierte Verwaltungsräume. Nur zu einem Teil geht es um weltweit wirkende Strukturen. Daneben gibt es wichtige Internationalisierungsvorgänge, die sich auf regionale Rechtsräume beschränken, z. B. Schutzregime für bestimmte Meere oder Küstengebiete. Schließlich sind auch solche Vorgänge für das Konzept des Internationalen Verwaltungsrechts beachtlich, die sich auf das Gebiet zweier Nachbarstaaten beschränken. Von einem einheitlichen „Verwaltungsraum“, wie er dem Europäischen Verwaltungsrecht heute doch wohl zugrunde gelegt werden darf,30 kann auf internationaler Ebene allenfalls in einem stark relativierenden Sinne gesprochen werden.31 – Fachaufgabenbezogen: Fragmentiert sind die beobachtbaren Verdichtungen administrativer Verwaltungsbeziehungen schließlich in fachlicher Hinsicht. Die meisten Regelungen betreffen einzelne Fachpolitiken, oft nur einen schmalen Ausschnitt aus ihnen.32 Im Internationalen Verwaltungsrecht dominiert das Besondere Verwaltungsrecht. Ausgreifendere oder gar allgemeine Regelungen z. B. bestimmter Typen von Verwaltungsverfahren sind selten. Am ehesten sind solche Regelungen aus der normativen Basis des internationalen Menschenrechtsschutzes zu entwickeln. In diesem Punkte kommt das Internationale dem Europäischen Verwaltungsrecht am ehesten nahe, insofern auch letzteres nach wie vor von sektoralem Fachrecht der jeweiligen Unionspolitiken beherrscht wird. Allerdings zeigt sich im Europäischen Recht die Tendenz zu übergreifenden Kodifikationen, die ein bestimmtes Rechtsgebiet nach einheitlichen Regeln ordnen, wie das z. B. für das Zollrecht durch den Zollkodex erfolgt ist. 29 Vgl. E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, Tübingen 2005. 30 Zu Kontroversen um den Begriff eines Europäischen Verwaltungsraumes vgl. H. Siedentopf/B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft?, in: DÖV 2002, S. 753 ff. 31 Von einem „Global Administrative Space“ sprechen Kingsbury/Krisch/Stewart (eds.), The Emergence of Global Administrative Law (Anm. 7), S. 18 ff., besonders 25 f. Das ist für die von ihnen beobachteten fünf Typen globaler Verwaltungsstrukturen ein plausibles Beschreibungsmuster. Für ein Internationales Verwaltungsrecht, das nicht nur diese Strukturen sondern auch regionale und zwischenstaatliche Vorgänge der Internationalisierung im Auge hat, relativiert sich die Feststellung von einem einheitlichen Verwaltungsraum. 32 Ähnlich C. Breinig-Kaufmann, Internationales Verwaltungsrecht, in: ZSR 2006 II, S. 5 (10 f.).
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c) Ein „sperriger“ Normenbestand Aus alledem folgt, dass das normative Material des Internationalen Verwaltungsrechts außerordentlich heterogen und nur schwer nach einheitlichen Systemgedanken zu ordnen ist. Ein einheitlicher Bezugspunkt, wie ihn für das nationale Verwaltungsrecht das Verfassungsrecht und für das Europäische Verwaltungsrecht das Primärrecht unter Einschluss eines Gefüges allgemeiner Rechtsgrundsätze bieten kann, fehlt für den internationalrechtlichen Normenbestand. Und ebenso fehlt ein Gerichtssystem, das in allen diesen Gebieten als Klärungsinstanz und Entwicklungsmotor fungieren könnte. Zwar gibt es auf internationaler Ebene in der Zwischenzeit neben dem Internationalen Gerichtshof und dem Internationalen Seegerichtshof eine ganze Reihe sektoral tätiger Gerichte und gerichtsähnlicher Instanzen. Doch ist das mit dem Zusammenspiel zwischen Gemeinschaftsgerichten und nationalen Gerichten nach Maßgabe der Art. 220–242 des EG-Vertrages nicht zu vergleichen. Wer sich auf das Internationale Verwaltungsrecht wissenschaftlich einlässt, muss zunächst einmal mit einer kaum überschaubaren Vielzahl sehr kleinteiliger Regelungen fertig werden. Die Ausarbeitung übergreifender Rechtsgedanken und Rechtsinstitute kann nur sehr behutsam erfolgen, weil sie ganz unterschiedliche Verwaltungskulturen und Wertvorstellungen unterschiedlich dimensionierter Räume zu berücksichtigen hat.33 2. Die drei Funktionskreise des Internationalen Verwaltungsrechts Wir haben die Ausgangslage und die Besonderheiten des Internationalen Verwaltungsrechts herausgearbeitet, um vor vorschnellen „Parallelisierungen“ zu warnen. Wenig wäre gewonnen, wenn die verfehlte Parallele zum Internationalen Privatrecht bei der Begriffsbildung durch eine ebenso verfehlte Parallele zum Europäischen Verwaltungsrecht bei der Konzeptualisierung ersetzt würde. Was im Folgenden für das Internationale Verwaltungsrecht unter Bezugnahme auf vergleichbare Strukturen im Europäischen Verwaltungsrecht erörtert wird, ist eher ein Suchraster, das der Ordnung des Rechtsstoffes dienen soll. Es geht um formale Zugänge der Problemerfassung, nicht um Vergleichbarkeiten der Problemlösungen. In diesem Sinne bietet sich eine Ordnung des Internationalen Verwaltungsrechts nach drei Funktionskreisen an: Das Internationale Verwaltungsrecht ist Aktionsrecht internationaler Verwaltungsinstanzen, Determinationsrecht für die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen und Kooperationsrecht spezifischer Verbundstrukturen.34 Das ist, in den internationalen Rahmen gestellt, die Trias der 33
Anschaulich dazu Cassese, Administrative Law (Anm. 7), S. 663 (670 ff.).
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Funktionskreise des Europäischen Verwaltungsrechts: das Recht des direkten Vollzuges (Eigenverwaltungsrecht), das Recht des indirekten Vollzuges (Gemeinschaftsverwaltungsrecht) und das Verwaltungskooperationsrecht.35 a) Aktionsrecht Der Begriff nimmt Bezug auf die vielfältigen administrativen Aktivitäten auf internationaler Ebene, insbesondere auf das Handeln Internationaler Organisationen. Erfasst wird zum einen das Recht ihrer internen Verwaltung. Insofern gehören die traditionellen Materien des Beamten- und Haushaltsrechts, aber auch die Regeln der internen Entscheidungsbildung, die üblicherweise im Organisationsstatut festgelegt sind, und überhaupt das interne Organisationsrecht dazu. Ähnlich wie das Recht der EG-Administration („Eigenverwaltungsrecht“) entwickelt sich das Aktionsrecht heute aber immer mehr auch zu einem Recht der externen Verwaltungsbeziehungen zu anderen Akteuren (Staaten, Unternehmen, Privatpersonen). So ist die internationale Entwicklungshilfe (Official Development Assistance – oder ODA), wie am Beispiel der Weltbank und des United Nations Development Program (UNDP) gezeigt werden kann36, ein Gebiet, in dem sich die aus dem nationalen und dem europäischen Recht bekannten typischen Bauformen eines Leistungsverwaltungsrechts finden: Programmpläne, Projektprüfungen, Vertragsschlüsse und Kontrollinstrumente.37 Kennzeichnend für das Aktionsrecht ist sein großer Formenreichtum – auch insofern dem Eigenverwaltungsrecht der EG nicht unähnlich, das neben dem Formenbestand des Art. 249 EGV eine ganze Reihe informeller Instrumente ausgebildet hat. Nur teilweise ist das Aktionsrecht in völkerrechtlichen Verträgen verankert. Wichtig sind außerdem alle Formen sekundärer Rechtsetzung durch die betreffenden Organisationen.38 Im weiteren Sinne gehören aber auch ihre Empfehlungen und Leitlinien und die oft in Hand34 Schmidt-Aßmann, Herausforderung (Anm. 6), S. 315 (336); Ruffert, Perspektiven (Anm. 8), bei Anm. 57. 35 Zu dieser Einteilung des Europäischen Verwaltungsrechts vgl. D. Ehlers, in: H.-U. Erichsen/D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., Berlin 2006, § 4 Rn. 31 ff.; Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 17 Rn. 8 ff. 36 P. Dann, Grundfragen eines Entwicklungsverwaltungsrechts, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht (Anm. 6), S. 7 ff. 37 Zum EG-Recht vgl. B. Schöndorf-Haubold, Die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft, München 2005. 38 Dazu J. D. Aston, Sekundärgesetzgebung Internationaler Organisationen zwischen mitgliedstaatlicher Souveränität und Gemeinschaftsdisziplin, Berlin 2005; ferner J. E. Alvarez, International Organizations as Law-makers, Oxford 2006.
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büchern niedergelegten prozeduralen Regeln hierher. Die Nutzung gerade solcher Instrumente „weicher“ Steuerung ist ein Charakteristikum des internationalen Aktionsrechts. Oft reicht das auffindbare Normenmaterial nicht aus, um die intensiver gewordenen administrativen Aktivitäten Internationaler Organisationen rechtlich abzusichern. Nur zu deutlich zeigt sich, dass internationales Handeln, wenn es die Ebene politischer Programmatik verlässt und (sei es auch nur im weitesten Sinne) konkretisierendes Handeln wird, das bestimmten Adressaten gilt und Verbindlichkeit beansprucht, an elementaren Standards orientiert sein muss. Das spezifische Handlungsdesign des Verwaltens verlangt nach einem spezifischen Kontrolldesign.39 Die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen und das Europäische Verwaltungsrecht haben solche Standards in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze längst entwickelt und sehen in ihnen eine Grundvoraussetzung rechtsstaatlich-demokratischen Verwaltens. Selbst wenn das Aktionsrecht Internationaler Organisationen nicht vorschnell auf ein vergleichbares Verwaltungsrechtsmodell festgelegt werden darf, werden doch auch für das Internationale Verwaltungsrecht die veränderte Stellung des Individuums im Völkerrecht und überhaupt die Konstitutionalisierung des Völkerrechts spürbar.40 In der Konsequenz dieser Entwicklung liegt es, für das Aktionsrecht Internationaler Organisationen und sonstiger Akteure Grundanforderungen von Transparenz, Verantwortungsklarheit und Fairness zu formulieren; bei individuell eingreifenden Akten gehört auch die Garantie eines elementaren Rechtsschutzes dazu.41 Das ist vor allem in der jüngeren amerikanischen Literatur zutreffend herausgearbeitet und als zentraler Gegenstand des Internationalen Verwaltungsrechts ausgewiesen worden: „The Emerging Field of International Administrative Law: Its Content and Potential“.42 Für die Entwicklung dieser Grundsätze werden zwei komplementäre Vorgehensweisen vorgeschlagen43: 39 Dazu grundlegende Überlegungen bei C. Möllers, Gewaltengliederung, Tübingen 2005, S. 94 ff. et pass. 40 Dazu die Nachweise bei A. L. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, München 2001, S. 225 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007, bes. S. 459 ff. und 686 ff. 41 Vgl. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 17 Rn. 157. 42 So der Titel des instruktions- und materialreichen Beitrages von E. Kinney, in: Administrative Law Review 54 (2002), S. 415 ff.; Ruffert, Perspektiven (Anm. 8), unter III 1. 43 R. B. Stewart, U.S. Administrative Law: A Model for Administrative Law?, in: Law and Contemporary Problems (Anm. 7), S. 76 ff. „Bottom up“ und S. 88 ff. „Top down“.
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– Soweit direkt einschlägige Rechtsvorschriften nicht bestehen, dürfte die vergleichende Auswertung internationalrechtlicher Vorschriften aus anderen Bereichen die wichtigste Rechtserkenntnisquelle sein. Ein gutes Beispiel bietet das Urteil des Europäischen Gerichts erster Instanz vom 21. September 2005 in der Rechtssache „Yusuf“, in der es um konkret-individuelle Maßnahmen (Sperrung von Bankguthaben) des UN-Sicherheitsrats bei der Terrorismusbekämpfung ging.44 Die UN-Organe selbst sind förmlich nicht Verpflichtete der internationalen Menschenrechtspakte. Das Gericht entnimmt diesen von der UN entwickelten Pakten aber elementare Garantieelemente, die es als zwingendes Völkerrecht ansieht und an die auch die UN-Organe selbst gebunden sein sollen. – Erst in zweiter Linie ist auch an die Rechtsvergleichung der nationalen Verwaltungsrechtsordnung zu denken. Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass durch eine vorschnelle Festlegung auf eine bestimmte Rechtsordnung nicht schon die Parameter falsch bestimmt werden, nach denen der Vergleich vorgenommen werden soll. Einen Vorzug genießen insofern Rechtsordnungen, die ihrerseits aus wertender Rechtsvergleichung hervorgegangen sind, wie das für das Europäische Verwaltungsrecht gilt. b) Determinationsrecht Als Determinationsrecht werden diejenigen völkerrechtlichen Rechtsnormen bezeichnet, die bestimmte Vorgaben für das nationale Verwaltungsrecht enthalten. Dem Europäischen Verwaltungsrecht nicht unähnlich interessiert sich auch das Völkerrecht nicht nur für die Verwaltungstätigkeit der eigenen Instanzen sondern auch dafür, dass das Verwaltungsrecht der Staaten gewissen vereinheitlichten Anforderungen entspricht und welche Einwirkungspfade dabei zu beschreiben sind. Das Determinationsrecht findet sich vor allem in völkerrechtlichen Verträgen, z. B. in den globalen und regionalen Menschenrechtspakten sowie in der Genfer Flüchtlingskonvention. Aus dem Bereich des Umweltschutzes ist die Aarhus-Konvention zu nennen, die die Konventionsstaaten verpflichtet, in ihrem Recht den Zugang zu Umweltakten für jedermann zu öffnen, Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzusehen und Umweltverbandsklagen zuzulassen.45 Reiches Anschauungsmaterial bieten zudem das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) und eine Reihe von Handelsübereinkünften, die Anlagen zum WTO-Übereinkommen bilden46: z. B. das Übereinkommen über die Anwendung gesundheits-, poli44
EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 = EuGRZ 2005, 592 ff., bes. Tz. 277 ff. Dazu C. Walter, Internationalisierung des Deutschen und Europäischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrechts – am Beispiel der Aarhus-Konvention, in: EuR 2005, S. 411 ff. 45
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zei- und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS-Übereinkommen) und das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (EPA). Außerdem ist eine Tendenz zu beobachten, auch allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts mit verwaltungsrechtlichen Inhalten zu füllen.47 Das Determinationsrecht verfügt über mehrere Einwirkungspfade, auf denen es das nationale Recht penetriert. Während Gewohnheitsrecht und allgemeine Regeln des Völkerrechts per se Bestandteil nationaler Rechtsordnungen sind, setzen völkerrechtliche Verträge, um für die nationalen Verwaltungen verpflichtend zu sein, grundsätzlich einen Anwendungsbefehl durch staatlichen Rechtsakt voraus.48 Nach der in der internationalen Praxis herrschenden Vollzugslehre wahren die Vertragsnormen ihren völkerrechtlichen Charakter. Es ist also Völkerrecht und nicht nationales Recht, das die Verwaltungen, sofern die entsprechenden Normen unmittelbar vollziehbar sind, anwenden. Das ist bedeutsam z. B. für die Auslegung der entsprechenden Vorschriften, die sich nach völkerrechtlichen Grundsätzen zu richten hat. Daneben steht die völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts, die zu einer mittelbaren Einwirkung des Internationalen auf das nationale Verwaltungsrecht führt. Sie folgt für das deutsche Recht aus der Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit (Art. 24 GG).49 Besondere Fragen stellen sich dort, wo internationale Vertragsregime über eigene Rechtsprechungsinstanzen verfügen, wie das für die Europäische Menschenrechtskonvention und das WTO-Übereinkommen gilt. Im Grundsatz ist davon auszugehen, dass auch die Erkenntnisse dieser Gremien zu einer unmittelbaren Bindung der nationalen Verwaltungen führen. Die damit einhergehende Dynamisierung des Determinationsrechts ist freilich nicht spannungsfrei.50 Insgesamt aber nimmt „die völkerrechtlich relevante Verantwortlichkeit der nationalen Verwaltungsbehörden“ mit der steigenden internationalen Regelungsdichte zu.51 46 Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 17 Rn. 158 ff. 47 Vgl. BVerfGE 112, 1 (27 f.); Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 17 Rn. 44: „Fundamentalnormen der Humanität“, z. B. das Folterverbot. 48 G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Band I/1, 2. Aufl., Berlin 1989, § 10 I 2; Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Anm. 5), S. 585 ff. Auf den Sonderfall einer Umsetzung in das nationale Recht auf dem Weg über das EG-Recht soll hier nicht gesondert eingegangen werden. 49 BVerfGE 74, 358 (370); 112, 1 (24 ff.); K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, in: AöR 114 (1989), S. 391 (417 ff.). 50 Vgl. BVerfGE 111, 307 (319 ff.): „Görgülü-Entscheidung“; J. Kokott, Bundesverwaltungsgericht und Völkerrecht, in: E. Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe für das Bundesverwaltungsgericht, Köln u. a. 2003, S. 411 ff.
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c) Verwaltungskooperationsrecht Die Bedeutung und die besonderen Probleme dieses Funktionskreises sind ebenfalls aus dem europäischen Recht bekannt. Verwaltung auf europäischer und internationaler Ebene ist heute zum allergrößten Teil Verwaltungszusammenarbeit.52 Kooperationsregeln finden sich im Aktionsrecht ebenso wie im Determinationsrecht. Der Begriff soll keine dritte Rechtsquelle bezeichnen, sondern einen spezifischen Funktionsbereich: Es geht um Schnittstellen zwischen den Handlungsbereichen unterschiedlicher Akteure und die dabei auftretenden Probleme von Effizienz und Transparenz. Jede Form von Kooperation generiert ihre spezifischen Fragen, die zu den Standardproblemen des Verwaltungsrechts hinzutreten. „Im verwaltungsrechtlichen Internationalisierungsprozess muss es mithin vor allem um die Analyse der Querverbindungen zwischen den Rechtsschichten und um die Herstellung der legitimatorischen und rechtsstaatlichen Belastbarkeit der Verbindungsmechanismen gehen“.53 Die Zusammenarbeit findet vertikal zwischen Internationalen Organisationen und Staaten sowie horizontal zwischen Staaten bzw. ihren Verwaltungen statt. Die Beteiligten handeln, soweit sie nicht in das Privatrecht ausweichen, ggf. nach unterschiedlichen Rechtsregimen: Internationale Organisationen nach internationalem öffentlichen Recht, nationale Verwaltungen nach ihrem nationalem Recht, ggf. auch nach völkerrechtlichen Vorschriften, die in das nationale Recht inkorporiert worden sind. Die Rechtsquellen des Kooperationsbereichs sind also unterschiedlich; das ist auf europäischer Ebene nicht anders. „Verwaltungskooperationsrecht“ im weiteren Sinne meint den gesamten Kooperationsbereich; im engeren Sinne sollte der Begriff aber auf völkerrechtliche Rechtsakte beschränkt bleiben. Entscheidend ist die Verzahnung und Abstimmung zwischen den beteiligten Rechtsregimen in prozeduraler und substantieller Hinsicht. Das lässt sich an den Instituten der gegenseitigen Amtshilfe und der gegenseitigen Anerkennung, die beide wichtige Instrumente des Kooperationsbereichs sind, recht gut zeigen. Beide benötigen neben einer völkerrechtlichen Grundlage ein Widerlager im nationalen Recht. Gerade hier zeigt sich, wie eng Völkerrecht und nationales Verwaltungsrecht heute zusammengerückt sind. Inwieweit sich daraus allerdings ein kooperationsspezifisches transnationales Recht entwickeln wird, das als eigene Quelle neben das Internationale und das nationale Verwaltungsrecht treten kann, ist noch nicht abzusehen. 51
So Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (Anm. 5), S. 593. G. F. Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts (Anm. 6), § 16 Rn. 166 ff. 53 So Ruffert, Perspektiven (Anm. 8), unter III 2. 52
Verwaltungskontrolle im Europäischen Verwaltungsraum: zur Synchronisierung der Entwicklung von Verwaltungsrecht und Verwaltungskontrolle Karl-Peter Sommermann Schon früh hat sich Heinrich Siedentopf mit der Implementierung des Gemeinschaftsrechts in den EG-Mitgliedstaaten befasst. Die im Jahre 1988 erschienene und gemeinsam mit Jacques Ziller herausgegebene Studie „Making European Policies Work – L’Europe des Administrations?“1 war die erste systematische Vergleichung der Implementierung des Gemeinschaftsrechts in den damals zehn Mitgliedstaaten. Sie beruhte auf einer Untersuchung der Implementierung von 17 ausgewählten Richtlinien. Die Studie bestätigte, dass das in Umsetzung der Richtlinien ergangene nationale Recht im Wesentlichen in gleicher Weise angewendet wird wie das originäre nationale Recht2. Gleiches, so darf man vermuten, wird für das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht, d.h. insbesondere das Verordnungsrecht gelten. Diese Feststellung besagt aber zugleich, dass das Gemeinschaftsrecht in seiner Implementierung abhängig ist von der jeweiligen Verwaltungskultur, zu der auch die jeweiligen institutionellen und prozeduralen Arrangements und Üblichkeiten zählen. Wenn Heinrich Siedentopf sich später dem Europäischen Verwaltungsraum als Forschungsgegenstand und Analysekategorie zugewandt hat3, so initiierte er damit eine neue Diskussion über die Europafähigkeit der nationalen Verwaltungen im Hinblick auf ihre gemeinsame Implementationsaufgabe. Diese zielt auf eine vergleichbar 1 H. Siedentopf/J. Ziller (Hrsg.), Making European Policies Work – The Implementation of Community Legislation in the Member States/L’Europe des Administrations?, Bd. 1: Comparative Syntheses/Synthèses comparatives, Bd. 2: National Reports/Rapports nationaux, Bruxelles 1988. 2 H. Siedentopf, The Implementation of Directives in the Member States, in: Siedentopf/Ziller (Hrsg.), The Implementation of Community Legislation (Anm. 1), Bd. 1, S. 169, 176 ff. 3 H. Siedentopf/B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten, in: DÖV 2002, S. 753–763; H. Siedentopf (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsraum. Beiträge einer Fachtagung, Baden-Baden 2004; H. Siedentopf/B. Speer, La notion d’espace administratif européen, in: J.-B. Auby/J. Dutheil de la Rochère (Hrsg.), Droit administratif européen, Brüssel 2007, S. 299–317.
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wirksame Durchführung, Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, wobei der Begriff des Europäischen Verwaltungsraums letztlich mit der Frage nach der Notwendigkeit konvergenter Strukturen verknüpft ist4. Der nachfolgende Beitrag widmet sich der Verwaltungskontrolle als einem wesentlichen Element bei der Herstellung der praktischen Wirksamkeit des Verwaltungsrechts. Genauer geht er Defiziten der Verwaltungskontrolle nach, die sich aus einer Inadäquanz der Kontrollinstrumente im Verhältnis zu einem sich rasch entwickelnden Verwaltungsrecht ergeben können (I.). Exemplarisch und skizzenartig sollen Nachholbedarfe auf nationaler Ebene (II.) sowie in der supranationalen Institutionenordnung (III.) identifiziert werden. Daraus ergeben sich Gestaltungsaufgaben für den Europäischen Verwaltungsraum (IV.). I. Ungleichzeitigkeiten bei der Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Verwaltungskontrolle Die Entwicklung des Verwaltungsrechts weist eine große Dynamik auf, in der sich die Änderung der verfassungsrechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse spiegelt. Seit seiner Herausbildung als Sonderrecht für die öffentliche Verwaltung, für deren hoheitliches Handeln es Grundlage und Grenzen bestimmen sollte5, hat es mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen. Stand zunächst im Sinne des liberalen Rechtsstaats die Bändigung der „öffentlichen Gewalt“, der „puissance publique“, im Vordergrund6, so trat im 20. Jahrhundert im Einflussbereich der französischen Rechtskultur immer stärker die rechtliche Gestaltung des „service public“7, in deutscher Perspektive die Bereitstellung und Steuerung staatlicher Daseinsvorsorge8 gleichwertig daneben. Der zum Leistungsstaat mutierende soziale Rechtsstaat9 gründete sich ebenso auf ein spezielles Verwaltungs4 Vgl. Siedentopf/Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder europäische Verwaltungsgemeinschaft (Anm. 3), S. 763, die deshalb den Begriff der „Europäischen Verwaltungsgemeinschaft“ für eine „wertneutrale“ Untersuchung der Europafähigkeit der nationalen Verwaltungen vorziehen. 5 Zu den Anfängen: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 258 ff. 6 Vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1924 (1. Aufl. 1895), S. 13 ff., 54 ff.; M. Hauriou, Précis de droit administratif et de droit public, 12. Aufl., Paris 1933 (1. Aufl. 1892), S. 9 ff. 7 Vgl. insbesondere L. Duguit, Les transformations du droit public, Paris 1913. 8 E. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/Berlin 1938; ders., Der Staat der Industriegesellschaft dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971. 9 Vgl. P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 43, 46 ff.
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recht wie in der Folge der am Vorsorgeprinzip orientierte soziale und ökologische Rechtsstaat10. Begriffe wie Leistungsrecht11 und Infrastrukturrecht12 sowie Umweltrecht13 und Risikoverwaltungsrecht14 kennzeichneten die neuen Schwerpunkte und Sichtweisen des Verwaltungsrechts. Eines rechtlichen Rahmens bedarf auch das kooperative Verwaltungshandeln15, gleich ob die Zusammenarbeit zwischen Staat und Bürgern bzw. Wirtschaftssubjekten partizipativ oder durch das Ziel einer neuen Verantwortungsteilung im Sinne des Gewährleistungsstaats motiviert ist16. In jüngster Zeit tritt daneben die Herausbildung eines Verwaltungskooperationsrechts, das die Arbeitsteilung und Koordinierung des Handelns der nationalen Verwaltungen untereinander oder der nationalen Verwaltungen im Verhältnis zu den supranationalen und internationalen Institutionen strukturieren soll17. Stellt man diesen grob skizzierten Veränderungen des Verwaltungsrechts die Entwicklung der Instrumente und Verfahren der Verwaltungskontrolle gegenüber, die eine wirksame und effiziente Anwendung des Verwaltungsrechts sicherstellen sollen, so ist eine erheblich geringere Dynamik festzustellen. Dies könnte zum einen dadurch zu erklären sein, dass die Kontrollinstrumente strukturell eine größere Offenheit für Veränderungen des Verwaltungshandelns aufweisen, zum anderen aber auch dadurch, dass der Weiterentwicklung der Verwaltungskontrolle im Verhältnis zum Verwaltungsrecht eine geringere Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies kann wiederum in einem nur halbherzigen Implementationswillen seinen Grund haben. Fest steht jedenfalls, dass eine Anpassung der Kontrollinstrumente an die neuen Formen und Gegenstände des Verwaltungshandelns häufig mit einer erheblichen Zeitverzögerung, einem deutlichen time lag stattfanden. So folgte dem 10
Dazu K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 195 ff., und C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, Tübingen 2001, S. 32 ff., 65 ff. („vorsorgender Rechtsstaat“), jeweils m. w. N. 11 Vgl. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat (Anm. 9). 12 Vgl. G. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, Tübingen 1998. 13 Vgl. M. Kloepfer, Umweltrecht, 1. Aufl., München 1989 (3. Aufl. 2004); R. Romi, Droit et administration de l’environnement, Paris 1994 (5. Aufl. 2007). 14 Vgl. U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, Tübingen 1994. 15 Vgl. R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990; A. Benz, Kooperative Verwaltung, Baden-Baden 1994. 16 Vgl. M. Heintzen/A. Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, in: VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 220–265 bzw. 266–335. 17 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2004, S. 383 f., 388 f. (Ziff. 10 f., 18 f.); wegen einer Analyse der sich bildenden Strukturen näher Gernot Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, Tübingen 2004.
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Ausbau des Verwaltungsrechts als einer Rechtssicherheit vermittelnden Ordnung der Beziehungen zwischen Staat und Bürger die früh für notwendig erachtete Ergänzung durch eine umfassende gerichtliche Verwaltungskontrolle nur zögernd; lange herrschte in der sich nur allmählich aus der Verwaltungsorganisation emanzipierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit das Enumerativprinzip vor18. Bis heute bestehen selbst bei Grundfragen verwaltungsgerichtlichen Schutzes noch Inkonsistenzen. Und noch zögernder erfolgte die Entwicklung adäquater Kontrollinstrumente des sich herausbildenden Leistungsstaates; lange Zeit waren weder die gerichtliche Kontrolle noch die Rechnungskontrolle für eine effektive Durchsetzung der durch die Gesetze eingeräumten individuellen Leistungsrechte bzw. eines effizienten Einsatzes der öffentlichen Mittel ausreichend ausgerüstet. In einer Reihe europäischer Staaten bestehen hier nach wie vor ebenso Defizite wie bei der Kontrolle auf dem Gebiet des Umweltrechts. Wendet man sich den jüngsten strukturellen Veränderungen des Verwaltungsrechts zu, so ist ferner das kooperative sowie das trans- und supranationale Verwaltungshandeln zu nennen, das nur unzureichend von neuen Formen und Verfahren effektiver Verwaltungskontrolle begleitet wird. II. Nachholbedarfe im nationalen Recht Ein deutliches Beispiel für eine asynchrone Entwicklung, eine strukturelle Inadäquanz gerichtlicher Verwaltungskontrolle im Verhältnis zu Bereitstellungs- und Leistungsfunktion des Staates ist die bis vor kurzem in vielen europäischen Staaten herrschende und teilweise weiterhin bestehende Konzentration des Verwaltungsrechtsschutzes auf die Annulierungs- oder Anfechtungsklage (1.). Dass auch in einem System umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle einzelne Bereiche systemwidrig einem früheren Kontrollparadigma unterworfen werden, kann in Deutschland insbesondere am Beispiel des Vergaberechts gezeigt werden (2.). Leicht lassen sich weitere Gebiete des Verwaltungsrechts identifizieren, bei denen Reformbedarfe zu diskutieren sind (3.). 1. Erstes Beispiel: Weiterentwicklung der Verwaltungskontrolle im sozialen Rechtsstaat Der Verwaltungsrechtsschutz war lange Zeit auf den Schutz vor einseitigen Hoheitsakten der öffentlichen Verwaltung und deren Kontrolle ausgerichtet. Soweit es dabei um den Schutz subjektiver Rechte der Bürger 18 Vgl. F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 6./7. Aufl., Tübingen 1922, S. 240 ff.
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ging, zielte dieser Rechtsschutzansatz letztlich auf die Abwehr rechtswidriger Eingriffe in die Rechts- und Freiheitssphäre der Bürger. Dem Leitbild eines sozialen Rechtsstaats, der ein „planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat“ ist19, wird ein derartiges Rechtsschutzsystem indes nur bedingt gerecht. Auch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle muss Rechtskonstellationen Rechnung tragen, in denen es um die Verweigerung von Maßnahmen und Leistungen geht oder in denen eine Untätigkeit gerügt wird. Lange Zeit bestand für den Bürger auch in Deutschland auf der Ebene des Primärrechtsschutzes keine Möglichkeit, über die Anfechtung einer ablehnenden Verwaltungsentscheidung hinaus eine positive Gestaltung oder eine Verpflichtung zum Handeln zu erzwingen. Die Regelung des preußischen Rechts, wonach bei gewerblichen Genehmigungen gegebenenfalls der Verwaltungsrichter an Stelle der Ausgangsbehörde selbst eine Erlaubnis erteilen konnte, blieb eine Ausnahme20. Erst die Einführung neuer Klagearten im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes führte zu einer grundlegenden Neuorientierung. Das System der Klagearten der Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 trägt mit der Statthaftigkeit der Verpflichtungsklage und der allgemeinen Leistungsklage auf gerichtlicher Ebene den spezifischen Kontroll- und Rechtsschutzbedürfnissen des sozialen Rechtsstaats Rechnung. Bis in die jüngste Vergangenheit sah es im Vergleich dazu in Frankreich und den Ländern, die sich an dem französischen System der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle orientierten, anders aus. Abgesehen von dem im Bereich des Vertrags- und Staatshaftungsrechts anwendbaren contentieux de pleine juridiction kannten diese Rechtsordnungen im Wesentlichen nur einen auf Aufhebung von Verwaltungsakten gerichteten recours pour excès de pouvoir (recours en annulation). In Spanien sprach man im Hinblick auf das Regime der Verwaltungsprozessordnung von 1956 entsprechend vom sog. „carácter revisor“ der gerichtlichen Verwaltungskontrolle.21 Um Rechtsschutz auch in Fällen der Untätigkeit der Verwaltung gewähren zu 19 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl., Heidelberg 1991, § 6 Rdnr. 212 (S. 87; ähnlich bereits zuvor ders., Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, Tübingen 1962, S. 71, 78. 20 Vgl. W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1931 (Neudruck Offenburg 1948), § 13 I 2 (S. 300 ff.). 21 Vgl. F. Garrido Falla/A. Palomar Olmeda/H. Losada González, Tratado de Derecho administrativo, Bd. 3: La justicia administrativa, 2. Aufl., Madrid 2006, S. 197. Vgl. auch K.-P. Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien. Ursprünge, Dogmatik, Praxis, Berlin 1984, S. 294 f. m. w. N.
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können, mussten die Gerichte mit dem Rechtsinstitut des silence administratif (spanisch: silencio administrativo, italienisch: silenzio amministrativo) arbeiten, wonach ein Schweigen der Verwaltung nach Ablauf einer bestimmten Frist als ablehnende Entscheidung anzusehen ist (die dann mit der Aufhebungsklage angegriffen werden kann), in gesetzlich geregelten Ausnahmefällen sogar als positive Entscheidung. Auf diese Konstruktionen muss heute nicht mehr in allen „romanischen“ Rechtsordnungen zurückgegriffen werden, wie namentlich die hinsichtlich der Klagebegehren offenen neuen Prozessordnungen Spaniens (1998) und Portugals (2002) zeigen.22 Aber auch in Frankreich besitzen die Verwaltungsgerichte seit der Reform von 200023 mittlerweile erheblich weiter gehende Befugnisse, so dass Verpflichtungsbegehren besser Rechnung getragen werden kann. Zwar wird an der traditionellen Zweiteilung zwischen contentieux de l’excès de pouvoir und contentieux de pleine juridiction festgehalten, so dass die Figur des silence administratif ihre Bedeutung behält;24 mit dem Instrument der injonction kann jedoch das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung über einen recours en annulation die beklagte Verwaltungsbehörde im Anordnungswege verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.25 Die eingeleitete Reform des französischen Verwaltungsprozessrechts wäre allerdings erst dann abgeschlossen, wenn das verwaltungsgerichtliche Hauptverfahren die leistungsstaatlichen Kontroll- und Rechtsschutzbedarfe auch in der Regelung der zulässigen Klagebegehren abbildete. 22 Vgl. Art. 31 u. 32 der spanischen Verwaltungsprozessordnung von 1998 (Ley 29/1998 reguladora de la Jurisdicción Contencioso-Administrativa; Boletín Oficial del Estado Nr. 311 vom 14.7.1998) und Art. 37 der portugiesischen Verwaltungsprozessordnung von 2002 (Lei no. 15/2002, Código de Processo nos Tribunais Administrativos, geändert durch Lei no. 4-A/2003 vom 19.2.2003, Diário da Repfflblica – I Série-A no. 42 vom 19.2.2003). Zu der in Italien durch die Reform des Jahres 2000 (Legge 21 juglio 2000, n. 205 „Nuove disposizioni sulla giustizia amministrativa“, G.U. Nr. 17 vom 16.7.2000) eingeführten „azione contro il silenzio“ vgl. C. Fraenkel-Haeberle, Giurisdizione sul silenzio e discrezionalità amministrativa. Germania – Austria – Italia, Trento 2004, S. 179 ff. 23 Loi 2000-597 du 30 juin 2000 relative au référé devant les juridictions administratives (Journal Officiel Nr. 151 vom 1.7.2000). 24 Vgl. Art. 21 u. 22 der Loi 2000-321 du 12 avril 2000 relative aux droits des citoyens dans leurs relations avec les administrations (Journal Officiel Nr. 88 vom 12.4.2000). Art. 21 betrifft das „negative Schweigen“ („[. . .] le silence gardé pendant plus de deux mois par l’autorité administrative sur une demande vaut décision de rejet [. . .]“), Art. 22 das „positive Schweigen“ („Le silence gardé pendant deux mois par l’autorité administrative sur une demande vaut décision d’acceptation dans les cas prévus par décrets en Conseil d’État. [. . .]“). 25 Vgl. dazu O. Gohin, Contentieux administratif, 4. Aufl., Paris, 2005, S. 25 ff.; B. Pacteau, Manuel de contentieux administratif, Paris 2006, S. 319 ff., 327 ff.
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Bei einer Untersuchung der Adäquanz der Instrumente der Verwaltungskontrolle eines Staates im Verhältnis zur Entwicklung des Verwaltungsrechts sind neben den gerichtlichen auch die außergerichtlichen Kontrollmechanismen zu berücksichtigen. Diese können einen wesentlichen Beitrag zu dem jeweiligen Kontrollniveau einer Rechtsordnung leisten. So hat beispielsweise der spanische Ombudsman (Defensor de Pueblo), der auf der Grundlage der Verfassung von 1978 eingerichtet wurde, großen Einfluss auf die Modernisierung des Systems der sozialen Sicherheit genommen26. Aufgrund einer Vielzahl von Beschwerden konnte er eindrucksvoll die strukturellen Mängel der bestehenden Regelungen und Praxis sichtbar machen, so dass seine Jahresberichte eine wichtige Quelle für den Reformgesetzgeber wurden. Bei einem institutionellen Vergleich europäischer OmbudsmanEinrichtungen hat man diesen generell „eine Affinität zu den sozialen Grundrechten“ bescheinigt27. Bei einer Überprüfung der nationalen Gefüge der Verwaltungskontrolle sollte auch insoweit das Kontrollpotential von Ombudsman-Einrichtungen im Auge behalten werden. 2. Zweites Beispiel: Gerichtliche Verwaltungskontrolle im Bereich des Vergaberechts In Deutschland war es nach dem Zweiten Weltkrieg die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die die weitere Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes prägte. Das Bundesverfassungsgericht sah die Hauptbedeutung dieser Garantie bekanntlich darin, dass sie „die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger“ beseitigen solle28, und betonte bald die Grundsätze der Lückenlosigkeit29 und der Effektivität30 des Rechtsschutzes. Das Verhalten der öffentlichen Verwaltung sollte demgemäß möglichst umfassend einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen und auch der Kreis der zu schützenden subjektiven öffentlichen Rechte des Einzelnen nicht restriktiv verstanden werden. Dennoch wirkten sich in einzelnen Bereichen fortbestehende „Pfadabhängigkeiten“ als Hindernis für eine konsequente Neugestaltung des Rechtsschutzsystems aus. Dies gilt namentlich für das Handeln der öffentlichen Verwaltung im Be26 Vgl. bereits K.-P. Sommermann, Der Defensor del Pueblo: ein spanischer Ombudsman, in: AöR Bd. 110 (1985), S. 267, 281 f. Die weiteren Jahresberichte des Defensor del Pueblo bestätigten diese wichtige Rolle. 27 T. Öhlinger, Ombudsmann und soziale Grundrechte, in: S. Matscher (Hrsg.), Ombudsmann in Europa. Institutioneller Vergleich, Kehl/Strasbourg/Arlington 1994, S. 95, 99. 28 BVerfGE 10, 264, 267. 29 BVerfGE 8, 274, 325 f.; 51, 176, 185. 30 BVerfGE 35, 263, 274; 49, 329, 340 ff.
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reich des Vergaberechts, das bis heute nicht in den allgemeinen Kontrollund Rechtsschutzrahmen einbezogen ist. Ein wesentlicher Grund liegt in der Konzeptualisierung der Vergabe öffentlicher Aufträge als rein zivilrechtliche Vorgänge. Der Staat und seine Untergliederungen handeln, so die herrschende Doktrin, in diesem Bereich im Wesentlichen wie eine Privatperson. Diese Deutung des Vergaberechts im Sinne der überkommenen Fiskustheorie31 führt erstens dazu, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Verwaltung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge keine öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG ausübt, so dass die Rechtsschutzgarantie nur aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch hergeleitet werden kann32. Zweitens bedurfte es eines Sekundärrechtsaktes der Europäischen Gemeinschaft, bis ein subjektives Recht der übergangenen Mitbieter auf Einhaltung der rechtlichen Vergabekriterien anerkannt wurde. Diese Anerkennung gilt bislang freilich nur im Anwendungsbereich der das nationale Vergaberecht dirigierenden EGRichtlinien, d.h. oberhalb bestimmter Schwellenwerte. Die Vergabe öffentlicher Aufträge unterhalb der Schwellenwerte, die – wenngleich nicht im Finanzvolumen, so doch in ihrer Häufigkeit – die Vergabepraxis bei weitem dominieren, bleibt es bei dem nicht subjektivierten alten Regime; Rechtsschutz sollen die Mitglieder aus deutscher Perspektive33 nur geltend machen können, wenn sie von der Vergabestelle willkürlich, d.h. unter Verletzung ihres Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG behandelt wurden34. Drittens hat die Anwendung der Fiskustheorie zur Folge, dass die Vergabeentscheidungen – der Zuschlag wird als Annahme des Vertragsangebots eines Bieters verstanden – von den Zivilgerichten zu überprüfen sind. Unterhalb der Schwellenwerte sollen erstinstanzlich je nach Streitwert die Amts- oder Landgerichte zuständig sein35, oberhalb der Schwellenwerte ist ein Nachprüfungsverfahren vor den (nicht der rechtsprechenden Gewalt zugehörigen) Vergabekammern nach § 102 ff. des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen36 vorgesehen, gegen deren Entscheidungen ge31 Vgl. zum Begriff des Fiskus etwa G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. (bearb. von G. Anschütz), Berlin 1919, § 201, S. 870 (mit Fn. 3). 32 Beschluss des Ersten Senats vom 13.6.2006 – 1 BvR 1160/03 –, BVerfGE 116, 135, 149 ff. 33 Zur Perspektive des Gemeinschaftsrechts vgl. T. Siegel, Die Grundfreiheiten als Auffangordnung im europäischen und nationalen Vergaberecht, in: EWS 2008, S. 66–73. 34 BVerfGE 116, 135, 153 ff. 35 BVerwG, Beschluss v. 2.5.2007 – 6 B 10.07 –, DÖV 2007, 842 ff. mit ausführlichen Nachweisen der übereinstimmenden und abweichenden Rechtsprechung der Obergerichte. Am Anfang der Reihe obergerichtlicher Judikate, nach denen für die Überprüfung von Vergabeentscheidungen der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein soll, steht der Beschluss des OVG Koblenz vom 25.5.2005 – 7 B 1030056/05.
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gebenenfalls sofortige Beschwerde beim zuständigen Oberlandesgericht erhoben werden kann37. An der zivilrechtlichen Konzeptualisierung der Vergabe öffentlicher Aufträge wurde bereits vor über hundert Jahren Kritik geübt. So wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass diese Lösung im Unterschied zu einem öffentlich-rechtlichen Vergaberegime zu Intransparenz der Vergabeentscheidungen führe38. Dass es sich bei dem Vergabeverfahren, so wie es heute für Aufträge oberhalb der Stellenwerte im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt ist, um ein typisches Verwaltungsverfahren handelt, das sich gerade nicht zivilrechtlicher Formen bedient, ist offensichtlich. Es bleibt unverständlich, dass es bei einem generell weiten Verständnis der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG hier eine „Insellösung“ geben soll39. Die Aufrechterhaltung der Zuständigkeit der Zivilgerichte nährt den Eindruck, dass hier bewusst nicht an die sachnähere Gerichtsbarkeit angeknüpft werden soll40. Nach der naheliegenden Deutung des Vergabeverfahrens im Sinne der Zweistufentheorie ist die Vergabeentscheidung vielmehr als Verwaltungsakt zu werten, der vor dem zuständigen Verwaltungsgericht anzufechten wäre41. Will man in der Gesamtbewertung daran festhalten, dass der mit der Vergabeentscheidung verknüpfte Abschluss eines zivilrechtlichen Vertrages dem Zivilrecht zuzuordnen ist, könnte eine Rechtswegspaltung dadurch vermieden werden, dass hier wegen des Sachzusammenhangs einheitlich die Verwaltungsgerichte für zuständig erklärt werden. 36 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) i. d. F. der Bekanntmachung vom 15.7.2005 (BGBl. 2005 I, S. 2114), zuletzt geändert durch Gesetz v. 18.12. 2007 (BGBl. 2007 I, S. 2966). 37 § 116 GWB. 38 Vgl. bereits M. Hauriou, Précis de droit administratif et de droit public (Anm. 6), S. 19 (mit Hinweis auf eine von ihm verfasste frühere Publikation aus dem Jahr 1900): „Notre gestion de puissance publique a, sur le système du Fisc, l’avantage de la publicité que lui donnent les formalités [. . .] des adjudications des marchés. Les opérations du Fisc sont secrètes et bonnes tout au plus à dissimuler les desseins politiques [. . .]“. 39 Von einem Teil des Schrifttums wird daher zu Recht eine klare Zuordnung der öffentlichen Auftragsvergabe zur „öffentlichen Gewalt“ i. S. d. Art. 19 Abs. 4 GG vorgenommen, vgl. P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., München 2005, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 427 m. w. N. in Fn. 249. 40 Gegen das Argument der größeren Sachnähe hingegen J. Englisch, Effektiver Primärrechtsschutz bei Vergabe öffentlicher Aufträge, in: VerwArch. Bd. 98 (2007), S. 410, 438 f. 41 Vgl. G. Hermes, Gleichheit durch Verfahren bei der staatlichen Auftragsvergabe, in: JZ 1997, S. 909, 915; K.-P. Sommermann, Diskussionsbeitrag, VVDStRL Bd. 60 (2001), S. 633 f.
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Innerhalb Europas nimmt das deutsche Vergaberechtsregime eine Ausnahmestellung ein. Abgesehen davon, dass viele Staaten mittlerweile eine kohärente, umfassende Regelung dieses heute stark durch das europäische Gemeinschaftsrecht geprägten und in der Praxis bedeutenden Gebiets des Verwaltungsrechts unternommen haben42, werden Vergaberechtsstreitigkeiten grundsätzlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugewiesen. In Frankreich wird die Vergabeentscheidung im Sinne der dogmatischen Figur des „acte détachable“ – insoweit vergleichbar mit der Zweistufenlehre – vom Vertragsschluss unterschieden. Dabei wird freilich nicht nur die Vergabeentscheidung, sondern auch der Vertrag dem öffentlichen Recht zugeordnet, so dass jeder sich aus einem öffentlichen Auftrag ergebende Rechtsstreit den Verwaltungsgerichten zugewiesen ist. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Conseil d’Etat sollen Mitbieter nunmehr auch unmittelbar im Wege des recours de pleine juridiction (plein contentieux) gegen vergaberechtswidrig geschlossene Verträge vorgehen können, ohne dass es dazu noch einer gesonderten Klage gegen die Vergabeentscheidung selbst bedürfte43. Als Verwaltungsstreitigkeiten werden Vergaberechtskonflikte auch in Spanien, Portugal, Belgien sowie in Österreich behandelt44. Gewiss können aus einem internationalen Rechtsvergleich nicht zwingende Schlüsse für Reformbedarfe des nationalen Rechts gezogen werden. Doch indem der Vergleich den Blick für die Besonderheiten der eigenen Rechtsordnung schärft, führt er stets zur Frage nach der spezifischen Rationalität eines Sonderwegs. Im Falle der Diskussion über die Weiterentwicklung des deutschen Vergaberechts ist der Rechtsvergleich nicht zuletzt wegen der europarechtlich vermittelten weitgehenden Zielkongruenz der nationalen Systeme durchaus beachtlich. Im Ergebnis spricht er jedenfalls in Übereinstimmung mit den auf der Grundlage des deutschen Rechts- und Verfassungsverständnisses skizzierten Überlegungen für eine Lösung jenseits der Fiskustheorie. 42 Vgl. etwa für Frankreich den Code des marchés publics i. d. F. der Verordnung Nr. 2006/975 vom 1.8.2006, Journal Officiel vom 4.8.2006; für Spanien das Gesetz 30/2007 vom 30.10.2007 (Ley de contratos del Sector Pfflblico), Boletín Oficial del Estado Nr. 261 vom 31.10.2007; für Österreich das Bundesvergabegesetz 2006, BGBl. I Nr. 17/2006. 43 Vgl. die Entscheidung des Conseil d’Etat vom 17.7.2007 mit Urteilsanmerkung von D. Capitant, Recueil Dalloz 2007, S. 2005 ff. 44 Vgl. für Spanien Art. 21 des Gesetzes 30/2007 (Anm. 42); für Portugal Art. 4 Abs. 1 lit. i des Statuts über die Verwaltungs- und Finanzgerichte (Estatuto dos Tribunais adminstravos e fiscais), Gesetz 13/2002 vom 19.2.2002, Diário da Repfflblica, 21a Série-A, n.º 42, vom 19.2.2002; für Belgien die Schlussanträge der Generalanwältin E. Scharpston vom 25.10.2007 in der Rechtssache C-450/06 (Varec gegen Belgischer Staat) Ziffer 11; für Österreich § 331 Abs. 4 des Bundesvergabegesetzes 2006 (Anm. 42).
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3. Weitere Reformbedarfe im nationalen Recht Im deutschen Recht finden sich weitere Materien, für die Modernisierungsbedarf besteht. So ist im Wesentlichen historisch zu erklären, funktional hingegen heute schwer zu rechtfertigen, dass Amtshaftungsklagen in Deutschland weiter den sachferneren Zivilgerichten zugewiesen bleiben. Gravierender erscheint, dass der Gesetzgeber in dem sich dynamisch entwickelnden Regulierungsverwaltungsrecht nicht zu einer einheitlichen und konsistenten Rechtsschutzgestaltung gefunden, sondern in einem Teilbereich auf die überkommene kartellrechtliche Lösung zurückgegriffen hat. Zu Recht wird die in § 75 Energiewirtschaftsgesetz 200545 enthaltene Sonderzuweisung an die Zivilgerichtsbarkeit als mittlerweile systemfremd beanstandet46. Grundsätzlich zu überdenken ist die Weiterentwicklung der Verwaltungskontrolle im Hinblick auf das Leitbild des kooperativen Staates, welches das Verwaltungsrecht zunehmend prägt47. Für Konfliktlösungen ist insbesondere das noch bei weitem nicht ausgeschöpfte Potential von nicht kontradiktorischen Verfahren wie der Mediation auszuloten. Im Hinblick auf eine Erweiterung der prozeduralen Optionen im Rahmen etablierter Institutionen ist die Gerichtsmediation48, aber auch die Mediation im Vorverfahren49 von besonderem Interesse50. III. Nachholbedarfe im europäischen Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund Durch die immer engere Verzahnung der nationalen Verwaltungen untereinander sowie der nationalen Verwaltungen mit den Institutionen der supranationalen Ebene entsteht ein erheblicher Bedarf an Weiterentwicklung der Instrumente der Verwaltungskontrolle. Ist bereits die Kontrolle der nationalen Verwaltungen durch die europäischen Institutionen, insbesondere 45 Energiewirtschaftsgesetz vom 7. Juli 2005, BGBl. 2005 I, S. 1970, zuletzt geändert durch Gesetz v. 18.12.2007, BGBl. 2007 I, S. 2966. 46 Näher M. Knauff, Regulierungsverwaltungsrechtlicher Rechtsschutz, in: VerwArch. Bd. 98 (2007), S. 382, 395 ff. m. w. N. 47 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin u. a. 2004, S. 174 ff. 48 Vgl. dazu nur J. Ziekow, Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: NVwZ 2004, S. 390–396. 49 Dazu S. Vetter, Mediation und Vorverfahren. Ein Beitrag zur Reform des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens, Berlin 2004. 50 Zur Mediation mit Hilfe privater Dritter siehe nur M. Kaltenborn, Streitvermeidung und Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, Baden-Baden 2007, S. 106 ff.
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durch die Kommission, schwierig zu effektuieren51, so besteht eine noch größere Herausforderung darin, den auf nationaler Ebene errungenen Rechtsschutzstandard auch im europäischen Verwaltungsverbund zu gewährleisten. Es kann beispielsweise nicht befriedigen, dass mehrstufige Verwaltungsverfahren konzipiert werden, an denen verschiedene nationale Behörden und die Kommission beteiligt sein können, wie etwa bei bestimmten Produktzulassungen52, ohne dass an der Entwicklung eines den transnationalen Strukturen adäquaten Rechtsschutzes gearbeitet wird. Auch können die erheblichen Kontroll- und Rechtsschutzbedarfe, die durch die Zunahme direkter Kontakte der Unionsbürger mit Gemeinschaftseinrichtungen, darunter viele neue europäische Agenturen, entstehen, nur bedingt durch die bestehenden prozessualen Instrumente aufgefangen werden. Eine effektive Lösung muss auf einer Verständigung über europäische Rechtsschutzstandards aufbauen. Die Diskussion und Rechtsentwicklung ist insoweit namentlich in den zurückliegenden zehn Jahren deutlich vorangekommen53. Ein konsolidiertes gemeinsames Rechtsschutzverständnis in Europa kann auch die Chancen verbessern, durch eine Weiterentwicklung des Völkerrechts die Rechtsschutzlücken zu schließen, die im Zusammenhang mit der Umsetzung der gegen die afghanischen Taliban gerichteten Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sichtbar gewordenen sind54. Die Problematik betrifft über die Vereinten Nationen hinaus mittlerweile zahlreiche internationale Organisationen55. 51 Dazu H. Siedentopf, Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden 1996/97, S. 711, 727 f. 52 Vgl. dazu G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, Tübingen 2004, S. 138 ff. 53 Näher dazu K.-P. Sommermann, Das Recht auf effektiven Rechtsschutz als Kristallisationspunkt eines gemeineuropäischen Rechtsstaatsverständnisses, in: F. Kirchhof/H.-J. Papier/H. Schäffer (Hrsg.), Rechtsstaat und Grundrechte. Festschrift für Detlef Merten, Heidelberg 2007, S. 443, 450 ff. 54 Vgl. die Urteile des Europäischen Gerichts erster Instanz in den Fällen „Yusuf“, „Kadi“ und „Ayadi“: Urteile vom 21. September 2005, Rs. T-306/01 (Ahmed Ali Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat), sowie Rs. T-315/01 (Yassin Abdullah Kadi/Rat), und vom 12.7. 2006, Rs. T-253/02 (Chafiq Ayadi/Rat); wegen einer Analyse vgl. nur C. Tomuschat, Case Law – Court of Justice Case T-306/01, Ahmed Ali Yusuf and Al Barakaat International Foundation v. Council and Commission, in: Common Market Law Review 2006, S. 537 ff.; M. Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft. Zur Entscheidung des EuG in der Rs. Yusuf u. a. gegen Rat, in: EuGRZ 2006, S. 19 ff. 55 Vgl. von den Referaten der 29. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in Graz (2005) die Beiträge von R. Hofmann, A. Reinisch und T. Pfeiffer zum Thema „Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft“, abgedruckt in Bd. 42 der Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heidelberg 2007.
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IV. Fazit Die Weiterentwicklung der Instrumente der Verwaltungskontrolle hinkt der raschen Entwicklung des Verwaltungsrechts häufig hinterher. Die entsprechende Beobachtung asynchroner Entwicklungen muss ein wichtiger Bestandteil der Implementationsforschung werden, um daraus gegebenenfalls handlungsleitende Empfehlungen ableiten zu können. Angesichts der Tatsache, dass im Europäischen Verwaltungsraum der Gemeinschaftsrechtsvollzug durch nationale Verwaltungsbehörden und supranationale Organe eine gemeinsame, gleichermaßen effektiv wahrzunehmende Aufgabe darstellt, muss auch die Weiterentwicklung der Kontroll- und Rechtsschutzinstrumente ein Vorhaben von gemeinsamem Interesse sein. Das in Europa vorhandene reiche Reservoir an Lösungen, die unterschiedlichen Vorzüge der Verwaltungskulturen, die je nach Sachgebiet unterschiedliche Reformgeschwindigkeit der nationalen Rechtssysteme bilden gute Voraussetzungen für einen wechselseitigen Austausch. Für das deutsche Recht wurde in diesem Sinne namentlich der Rechtsschutz im Vergaberecht als auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten weiterzuentwickelnde Materie identifiziert, während der Rechtsschutz in anderen Bereichen nach wie vor Vorbildcharakter hat. Doch selbst eine stärkere Steuerung der Implementierung des Gemeinschaftsrechts durch Sekundärrechtsakte und zusätzliche prozedurale Instrumente der Europäischen Union werden über eine Annäherung hinaus nicht zu einer Homogenisierung der verschiedenen Verwaltungsstrukturen und -kulturen führen. Heinrich Siedentopf hat dies auf dem Hintergrund seiner großen Erfahrung als vergleichender Verwaltungswissenschaftler immer wieder betont. Europa wird auch in Zukunft seine Innovationskraft aus der Vielfalt schöpfen.
Der Europäische Verwaltungsraum Bemerkungen über die Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen anhand von Beispielen aus dem Umweltschutzbereich Andrzej Wasilewski 1. Die öffentliche Verwaltung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) nimmt ihre Aufgaben wahr und trifft entsprechende Maßnahmen im Rahmen des sogenannten Europäischen Verwaltungsraums.1 Das bedeutet, dass Organe bzw. Einrichtungen von Regierungsverwaltungen oder Selbstverwaltungen dieser Staaten zur Verwirklichung von Zielen und Aufgaben auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts sowie auf Grund der „europäisierten“ nationalen Rechtsordnungen dieser Staaten berufen sind. Die mitgliedstaatlichen öffentlichen Verwaltungen stellen somit – sowohl im organisatorischen als auch im funktionalen Sinne – ein integrales Element der Exekutivgewalt der EG dar und bilden zusammen mit der EG-Verwaltung die sogenannte Europäische Verwaltungsgemeinschaft2 bzw. den 1 SIGMA, European Principles for Public Administration, SIGMA Papers Nr. 27, CCNM/SIGMA/PUMA (99), 44/REV 1, Paris 1999; vgl. dazu auch E. Schmidt-Aßmann, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts: Einleitende Problemskizze, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, Baden-Baden 1999, S. 9 ff. (12 ff.). 2 Vgl. H. Siedentopf/B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft?, in: DÖV 2002, S. 753 ff. (763) – „Der Begriff des Europäischen Verwaltungsraums müsste dann eine Heterogenität mitgliedstaatlicher Verwaltungsstrukturen, -praktiken und -traditionen konzeptionell erfassen, für die es in keinem nationalen Verwaltungsraum – auch nicht in einem föderalen Bundesstaat – eine annähernde Entsprechung gibt. (. . .) ist zu überlegen, ob die komplexe Realität der öffentlichen Verwaltungen und des Verwaltens in der EU nicht besser durch den Begriff einer ‚Europäischen Verwaltungsgemeinschaft‘ umschrieben wird. Er verweist einerseits auf die Vielzahl unterschiedlicher Akteure, die auf der europäischen Ebene zusammenwirken, aber auch auf die weitreichenden gemeinschaftsrechtlichen und funktionellen Anforderungen, denen die Verwaltungssysteme der Mitgliedstaaten bereits heute gerecht werden müssen. Auf der anderen Seite impliziert der Begriff in Analogie zu bereits bestehenden europäischen Integrationsgemeinschaften, etwa der Wirtschaftsgemeinschaft, die Koexistenz gemeinschaftlich geregelter und in der Verantwortung der Mitgliedstaaten verbliebener Bereiche. Indem er die Frage von Konvergenz oder Divergenz nicht in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellt, sondern die Anforderungen und Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft auf die
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sogenannten Europäischen Verwaltungsverbund.3 Von grundlegender Bedeutung für die rechtliche Bewertung der Tätigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen ist folglich auch, ob die Implementierung, Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates in dem Umfang, in dem sie als Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten gelten, dem Vorrangprinzip des Gemeinschaftsrechts sowie dem Wirksamkeitsprinzip (effet utile) Rechnung tragen.4 Es handelt sich in diesem Fall um die sogenannte systemdeterminierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen. Besonders interessant erscheint die oben signalisierte Problematik hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen im Umweltschutzbereich – und dies nicht nur, weil diese Problematik durch die Gemeinschaftspolitik erfasst ist, sondern auch, weil objektiv genommen die mit Umweltgefahren und -folgen verbundenen Fragen in den Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten kaum gelöst werden können. Als Rechtsgrundlage für die Verwirklichung von Zielen und Aufgaben im Bereich des EG-Umweltschutzes gelten die Vorschriften der Art. 174 und 175 EGV.5 Zu bedenken ist dabei, dass auch, wenn in diesen Vorschriften eine (gemeinsame) Definition des Schlüsselbegriffes „Umwelt“ fehlt, doch die einzelnen sekundärrechtlichen Rechtsakte in der Regel an eine solche Bedeutung dieses Begriffes anknüpfen, die den Zielen und dem Anwendungsbereich eines bestimmten Sekundärrechtsaktes entsprechen soll.6 Es besteht jedoch kein öffentlichen Verwaltungen wertneutral untersuchen will, kann der Begriff ‚Europäische Verwaltungsgemeinschaft‘ u. E. für die weitere Diskussion fruchtbarer sein als der durch die Konvergenzdebatte belastete Begriff des ‚Europäischen Verwaltungsraums‘ “. 3 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Où va l’administration européenne?, in: N. BelloubetFrier/S. Flogaitis/P. Gonod/E. Picard (Hrsg.), Etudes en l’honneur de Gérard Timsit, Bruxelles 2004, S. 499 ff.; ders., Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: E. Schmidt-Aßmann/B. SchöndorfHaubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund. Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, Tübingen 2005, S. 1 ff. 4 Art. 5 und Art. 10 EGV; vgl. dazu auch H. Siedentopf, Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, in: S. Magiera/H. Siedentopf (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Union, Berlin 1997, S. 120 ff. 5 Vgl. dazu A. Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union. Primärrechtliche Grundlagen; Gemeinschaftliches Sekundärrecht, 2. Auflage, München 2005, S. 95 ff. 6 Vgl. z. B.: Art. 3 der Verordnung 1210/90/EWG des Rates vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes, ABl. L 120 vom 11. Mai 1990, S. 1; geändert durch Verordnung 933/1999/EG des Rates vom 29. April 1999, ABl. L 117 vom 5. Mai 1999, S. 1 und Verordnung 1641/2003/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juli 2003, ABl. L 245 vom 29. September 2003, S. 1; geändert durch Verordnung 196/2006/EG der Kommission vom 3. Februar
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Zweifel darüber, dass auf dem Boden des Gemeinschaftsrechts der Begriff „Umwelt“ stets dem Prinzip effet utile entsprechend auszulegen ist.7 In Art. 6 EGV wurde außerdem die sogenannte Querschnittsklausel8 formuliert, die mit dem Hinweis auf den Querschnittscharakter der Umweltpolitik auch bei der Verwirklichung aller anderen Politiken (Ziele und Aufgaben) der EG zur Berücksichtigung und Verwirklichung von Zielen der Umweltpolitik verpflichtet. Auch wenn diese Klausel den Zielen der Umweltpolitik gegenüber den anderen Gemeinschaftspolitiken nicht den absoluten Vorrang gewährt, so kommt ihr doch in diesem Bereich einerseits eine Integrationsfunktion zu, und zwar im Sinne einer Garantie für die Berücksichtigung von Umweltschutzaufgaben in allen Tätigkeitsbereichen und bei allen Maßnahmen der EG, und andererseits eine dahingehende Kompromissfunktion, die dazu verpflichtet, in allen Bereichen der Gemeinschaftspolitiken all jene Regelungen und Verhaltensweisen, soweit möglich, zu vermeiden, die die Verwirklichung der gemeinschaftlichen Umweltschutzpolitik erschweren oder gar unmöglich machen könnten.9 Primärrechtliche Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts bilden somit den materiellrechtlichen Rahmen der systemdeterminierten Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen. 2. Vor dem Hintergrund der hier zu erörternden Frage ist zugleich von Bedeutung, dass das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich weder die Verfassungs- und Organisationsfragen hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Verwaltungen (die sogenannte Organisationsautonomie der Mitgliedstaaten) noch die Verfahrensfragen (die sogenannte Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten) unmittelbar normiert. Diese Fragen bleiben grundsätzlich den autonomen Rechtsregelungen der Mitgliedstaaten überlassen, so dass die ent2006, ABl. L 32 vom 4. Februar 2006, S. 4 und Verordnung 1791/2006/EG des Rates vom 30. November 2006, ABl. L 363 vom 20. Dezember 2006, S. 1; Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABl. L 41 vom 14. Februar 2003, S. 26; Art. 3 der Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 73 vom 14. März 1997, S. 5. 7 Vgl. dazu W. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht. Eine Untersuchung zur Rechtsidee des „bestmöglichen Umweltschutzes“ im EG-Vertrag, Heidelberg 1993, S. 13 ff., 219 ff. 8 Vgl. ebd., S. 58 ff., und Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union (Anm. 5), S. 108 ff. 9 Vgl. dazu C. Calliess, Die neue Querschnittsklausel des Art. 6 ex Art. 3 c EGV als Instrument zur Umsetzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung, in: DVBl. 1998, S. 565; vgl. dazu auch Europäische Kommission, Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen Union 2002, Ziff. 553 ff., S. 228 f. („Einbeziehung der Umweltbelange in die anderen Politikbereiche“).
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sprechenden mitgliedstaatlichen Rechtslösungen auf Grund von verschiedenen Rechtstraditionen und Organisationssystemen der öffentlichen Verwaltung recht differenziert sind. Dies schließt jedoch einen „mittelbaren“ Einfluss gemeinschaftsrechtlicher Normen (insbesondere Normen des Sekundärrechts – Verordnungen und Richtlinien) auf die in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eingeführten Lösungen hinsichtlich der Organisation und der Tätigkeit (darunter auch der Verfahrensregeln) der öffentlichen Verwaltung in diesen Mitgliedstaaten nicht aus. Dies ist meist dann der Fall, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 EGV) auf dem Standpunkt steht, dass dies für eine wirksame Verwirklichung der angenommenen Ziele oder konkreten Aufgaben der Gemeinschaft erforderlich ist. In solchen Fällen liegt die sogenannte sekundärrechtsdeterminierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen vor. Auf der Ebene des gemeinschaftlichen Sekundärrechts im Umweltbereich (insbesondere geht es um Verordnungen und Richtlinien – Art. 249 EGV) lassen sich generell zwei Haupttypen von Rechtsakten unterscheiden: erstens – solche Rechtsakte, mit denen ein konkretes Rechtsproblem im Bereich der Umweltschutzpolitik im Allgemeinen zu regeln ist, so dass eine solche Regelung grundsätzlich nicht auf ein konkretes Umweltmedium beschränkt bleibt und einen horizontalen Charakter hat (sogenannte problemorientierte bzw. umweltübergreifende Regelungen), wie z. B. die Europäische-Umweltagentur-VO10, Öko-Audit-VO II11, UI-RL12, UVP-RL13, SUP-RL14, 10
Verordnung 1210/90/EWG des Rates vom 7. Mai 1990 (Anm. 6). Verordnung 761/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2001 über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung – EMAS II, ABl. L 114 vom 24. April 2001, S. 1; geändert durch Verordnung 196/2006/EG der Kommission vom 3. Februar 2006, ABl. L 32 vom 4. Februar 2006, S. 4 und Verordnung 1791/2006/EG des Rates vom 30. November 2006, ABl. L 363 vom 20. Dezember 2006, S. 1. 12 Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABl. L 41 vom 14. Februar 2003, S. 26. 13 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 175 vom 5. Juli 1985, S. 40; geändert durch Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997, ABl. L 73 vom 14. März 1997, S. 5 und Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003, ABl. L 156 vom 25. Juni 2003, S. 17. 14 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. L 197 vom 21. Juli 2001, S. 30. 11
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IVU-RL15, Abfallrahmen-RL16, Umwelthaftungs-RL17 oder FFH-RL18, und zweitens – solche Rechtsakte, die in das Gemeinschaftsrecht Regelungen einführen, die sich ausschließlich auf ein bestimmtes Umweltmedium beziehen (sogenannte medienorientierte Regelungen), wie z. B. WasserrahmenRL19 oder Luftqualitätsrahmen-RL20. In beiden oben genannten Kategorien der Sekundärrechtsakte finden sich aber solche Vorschriften, (1) die die Mitgliedstaaten verpflichten, in das bestehende nationale Verwaltungssystem solche Organisations- und/oder Verfahrenslösungen einzuführen, die eine wirksame Verwirklichung der sich aus dem konkreten Rechtsakt ergebenden Ziele und Pflichten garantieren, ohne allerdings von vornherein über deren Organisations- und Verfahrensformen zu entscheiden, und somit der Organisations- und Verfahrensautonomie jedes Mitgliedstaates im unentbehrlichen Umfang Rechnung tragen (die sogenannte mittelbar sekundärrechtsdeterminierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen). In diesem Zusammenhang sind u. a. folgende Rechtsregelungen zu nennen: (a) die Mitgliedstaaten werden zu entsprechenden Maßnahmen verpflichtet, um bestimmte Organisationsstrukturen als Bestandteil des sogenannten Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungs15 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. L 156 vom 25. Juni 2003, S. 17. 16 Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Abfälle, ABl. L 114 vom 27. April 2006, S. 9. 17 Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. L 143 vom 30. April 2004, S. 56; geändert durch Richtlinie 2006/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006, ABl. L 102 vom 11. April 2006, S. 15. 18 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und wildwachsenden Pflanzen, ABl. L 206 vom 22. Juli 1992, S. 7; zuletzt geändert durch Richtlinie 97/62/EG vom 27. Oktober 1997, ABl. L 305 vom 8. November 1997, S. 42 und Verordnung 1882/2003/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003, ABl. L 284 vom 31. Oktober 2003, S. 1. 19 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. L 327 vom 22. Dezember 2000, S. 1; geändert durch Entscheidung 2455/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2001, ABl. L 331 vom 15. Dezember 2001, S. 1. 20 Richtlinie 1996/62/EG des Rates vom 27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität, ABl. L 296 vom 26. November 1996, S. 55; geändert durch Verordnung 1882/2003/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003, ABl. L 284 vom 31. Oktober 2003, S. 1.
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netzes21 aufzubauen und zu erhalten; (b) analoge Verpflichtungen ergeben sich für die Mitgliedstaaten auch aus den Vorschriften der Öko-Audit-Verordnung22, (c) die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, die praktische Umsetzung des Zugangsrechts Einzelner bzw. der Öffentlichkeit zu bei öffent21 Vgl. die Vorschriften der Verordnung 1210/90/EWG des Rates vom 7. Mai 1990 zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes mit späteren Änderungen (Anm. 6), u. a.: Art. 4 (1) Das Netz umfasst – die wichtigsten Bestandteile der einzelstaatlichen Informationsnetze; – die innerstaatlichen Anlaufstellen; – die themenspezifischen Ansprechstellen. (2) Im Hinblick auf eine möglichst rasche und wirksame Einführung des Netzes teilen die Mitgliedstaaten der Agentur binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten dieser Verordnung die wichtigsten Bestandteile ihres innerstaatlichen Umweltinformationsnetzes – insbesondere in den in Art. 3 Abs. 2 genannten vorrangigen Bereichen – einschließlich der zuständigen Stellen mit, die ihres Erachtens zur Tätigkeit der Agentur ihren Beitrag leisten könnten, und zwar unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer möglichst vollständigen geographischen Erfassung ihres Hoheitsgebiets. Die Mitgliedstaaten unterrichten die Agentur regelmäßig über die wichtigsten Bestandteile ihrer innerstaatlichen Umweltinformationsnetze. Die Mitgliedstaaten arbeiten in entsprechender Weise mit der Agentur zusammen und beteiligen sich gemäß dem Arbeitsprogramm der Agentur an den Arbeiten des Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetzes, indem sie landesweit Daten sammeln, zusammenfassen und analysieren. Die Mitgliedstaaten können sich auch zusammenschließen, um bei diesen Tätigkeiten grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. (3) Die Mitgliedstaaten können insbesondere unter den Stellen gemäß Abs. 2 oder sonstigen Einrichtungen in ihrem Hoheitsgebiet eine „innerstaatliche Anlaufstelle“ benennen, die mit der Koordinierung und/ oder Weitergabe der Informationen beauftragt ist, die auf innerstaatlicher Ebene der Agentur, den dem Netz angeschlossenen Stellen oder sonstigen Einrichtungen, einschließlich der in Abs. 4 genannten themenspezifischen Ansprechstellen, zu übermitteln sind. (4) Die Mitgliedstaaten können ferner innerhalb der in Abs. 2 vorgesehenen Frist festlegen, welche Stellen oder sonstigen Einrichtungen in ihrem Hoheitsgebiet eigens damit betraut werden könnten, mit der Agentur hinsichtlich bestimmter Themen von besonderem Interesse zusammenzuarbeiten. Eine auf diese Weise bestimmte Stelle sollte mit der Agentur eine Vereinbarung darüber treffen können, dass sie als themenspezifische Ansprechstelle des Netzes besondere Aufgaben wahrnimmt. Diese Stellen arbeiten mit anderen an das Netz angeschlossenen Einrichtungen zusammen. (5) Die Agentur bestätigt binnen sechs Monaten nach Erhalt der in Abs. 2 erwähnten Informationen auf der Grundlage eines Beschlusses des Verwaltungsrates und der Vereinbarungen nach Art. 5 die wichtigsten Bestandteile des Netzes. Die themenspezifischen Ansprechstellen werden vom Verwaltungsrat nach Art. 8 Abs. 1 für einen Zeitraum benannt, der nicht länger sein darf als die Laufzeit des Mehrjahres-Arbeitsprogramms nach Art. 8 Abs. 4. Diese Benennungen können jedoch verlängert werden. (6) Die Zuweisung von besonderen Aufgaben an die themenspezifischen Ansprechstellen muss in dem in Art. 8 Abs. 4 genannten Mehrjahres-Arbeitsprogramm der Agentur angegeben werden. (7) Die Agentur überprüft insbesondere anhand des Mehrjahres-Arbeitsprogramms in regelmäßigen Abständen die wichtigsten Bestandteile des Netzes gemäß Abs. 2 und nimmt daran die Änderungen vor, die der Verwaltungsrat gegebenenfalls unter Berücksichtigung neuer Mitteilungen seitens der Mitgliedstaaten beschlossen hat.
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lichen Behörden vorhandenen Umweltinformationen sicherzustellen;23 (d) die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, erforderliche Maßnahmen zu tref22
Vgl. Art. 2 Buchstaben r), s) und u) in Verbindung mit den Art. 4 und Art. 5 der Verordnung 761/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Anm. 11): Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck r) „Zulassungssystem“ ein System für die Zulassung von Umweltgutachtern und für die Aufsicht über sie, das von einer unparteiischen Stelle oder Organisation betrieben wird, die von einem Mitgliedstaat benannt oder geschaffen wurde (Zulassungsstelle), mit ausreichenden Mitteln und fachlichen Qualifikationen sowie geeigneten Verfahren, um die in dieser Verordnung für ein solches System festgelegten Aufgaben wahrnehmen zu können; s) „Organisation“ eine Gesellschaft, eine Körperschaft, einen Betrieb, ein Unternehmen, eine Behörde oder eine Einrichtung bzw. einen Teil oder eine Kombination hiervon, mit oder ohne Rechtspersönlichkeit, öffentlich oder privat, mit eigenen Funktionen und eigener Verwaltung. Die Frage, welche Einheit als Organisation in das EMAS-Verzeichnis eingetragen werden soll, wird mit dem Umweltgutachter und gegebenenfalls den zuständigen Stellen unter Berücksichtigung der nach dem Verfahren des Art. 14 Abs. 2 verabschiedeten Leitlinien der Kommission abgesprochen, wobei jedoch keine Grenze eines Mitgliedstaates überschritten werden darf. Die kleinste in Betracht zu ziehende Einheit ist der Standort. Bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die von der Kommission nach dem Verfahren des Art. 14 Abs. 2 festzustellen sind, kann die für die EMAS-Eintragung in Betracht zu ziehende Einheit kleiner als der Standort sein, z. B. eine Subdivision mit eigener Funktion; u) „zuständigen Stelle“ die gemäß Art. 5 von den Mitgliedstaaten zur Erfüllung der in dieser Verordnung festgelegten Aufgaben benannten Stellen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Art. 4 Zulassungssystem (1) Die Mitgliedstaaten schaffen ein System für die Zulassung unabhängiger Umweltgutachter und die Beaufsichtigung ihrer Tätigkeiten. Sie können damit bereits bestehende Zulassungsstellen oder die zuständigen Stellen im Sinne von Art. 5 beauftragen oder eine andere Stelle mit entsprechendem Status schaffen oder benennen. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass aufgrund der Zusammensetzung dieser Systeme eine unabhängige und neutrale Aufgabenwahrnehmung gewährleistet ist. (2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Zulassungssysteme innerhalb von 12 Monaten nach Inkrafttreten dieser Verordnung voll funktionsfähig sind. (3) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die betroffenen Kreise bei der Schaffung und Leitung der Zulassungssysteme in geeigneter Weise angehört werden. (4) Für die Zulassung der Umweltgutachter und die Beaufsichtigung ihrer Tätigkeiten gelten die Anforderungen von Anhang V. (5) Die in einem Mitgliedstaat zugelassenen Umweltgutachter dürfen in Übereinstimmung mit den in Anhang V festgelegten Anforderungen in allen anderen Mitgliedstaaten gutachterlich tätig werden. Die Aufnahme der Tätigkeit ist dem Mitgliedstaat, in dem die gutachterliche Tätigkeit erfolgt, zu notifizieren, und die Tätigkeit unterliegt der Aufsicht des Zulassungssystems dieses Mitgliedstaats. (6) Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission über die nach diesem Artikel getroffenen Maßnahmen und teilen Änderungen der Struktur und der Verfahren des Zulassungssystems mit. (7) Die Kommission fördert gemäß dem Verfahren des Art. 14 Abs. 2 die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, damit insbesondere Unstimmigkeiten zwischen Anhang V und den Kriterien, Bedingungen und Verfahren, die die einzelstaatlichen Zulassungsstellen bei der Zulassung von Umweltgutachtern und der Aufsicht über sie anwenden, vermieden werden und somit eine einheitliche Qualifikation der Umweltgutachter sichergestellt wird. (8) Die Zulassungsstellen schaffen ein Forum aller Zulassungsstellen, um der Kommission Informationen und
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fen, um eine solche Anwendung von Genehmigungsprozeduren für die Realisierung konkreter Vorhaben zu garantieren, dass die zuständigen öffentlichen Behörden noch vor der Erteilung der Genehmigung das konkrete Vorhaben in Bezug auf seine Auswirkungen auf die Umwelt prüfen können (damit geht die UVP-RL von einem umfassenden und medienübergreifenden Ansatz aus);24 zu ähnlichen Aufgaben werden die Mitgliedstaaten auch Hilfsmittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben gemäß Abs. 7 zu liefern. Das Forum kommt mindestens einmal jährlich zusammen, wobei ein Vertreter der Kommission anwesend ist. Das Forum erstellt, soweit angebracht, Leitlinien zu Fragen der Zulassung und fachlichen Qualifikation der Umweltgutachter sowie der Aufsicht über sie. (. . .) Art. 5 Zuständige Stellen (1) Jeder Mitgliedstaat benennt innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten dieser Verordnung die zuständige Stelle, die für die Wahrnehmung der in dieser Verordnung – insbesondere in den Art. 6 und 7 – festgelegten Aufgaben verantwortlich ist; er setzt die Kommission hiervon in Kenntnis. (2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass aufgrund der Zusammensetzung der zuständigen Stellen deren Unabhängigkeit und Neutralität gewährleistet ist und dass sie die Bestimmungen dieser Verordnung einheitlich anwenden. (. . .). 23 Vgl. Art. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Anm. 6 und 12): Art. 2, Begriffbestimmungen. Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: Nr. 2. „Behörde“ a) die Regierung oder eine andere Stelle der öffentlichen Verwaltung, einschließlich öffentlicher beratender Gremien, auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene, b) natürliche oder juristische Personen, die aufgrund innerstaatlichen Rechts Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, einschließlich bestimmter Pflichten, Tätigkeiten oder Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Umwelt, wahrnehmen, und c) natürliche oder juristische Personen, die unter der Kontrolle einer unter Buchstabe a) genannten Stelle oder einer unter Buchstabe b) genannten Person im Zusammenhang mit der Umwelt öffentliche Zuständigkeiten haben, öffentliche Aufgaben wahrnehmen oder öffentliche Dienstleistungen erbringen. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass diese Begriffsbestimmung keine Gremien oder Einrichtungen umfasst, soweit sie in gerichtlicher oder gesetzgebender Eigenschaft handeln. Wenn ihre verfassungsmäßigen Bestimmungen zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie kein Überprüfungsverfahren im Sinne von Art. 6 vorsehen, können die Mitgliedstaaten diese Gremien oder Einrichtungen von dieser Begriffsbestimmung ausnehmen; (. . .) Art. 3 Zugang zu Umweltinformationen auf Antrag (1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Behörden gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie verpflichtet sind, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen Antragstellern auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen. (. . .) 24 Vgl. Art. 1 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates (Anm. 13): Art. 1 (3) Die zuständige Behörde(n) ist (sind) die Behörde(n), die von den Mitgliedstaaten für die Durchführung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Aufgaben bestimmt wird (werden). Art. 6 (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Behörden, die in ihrem umweltbezogenen Aufgabenbereich von dem Projekt berührt sein könnten, die Möglichkeit haben, ihre Stellungnahme zu den Angaben des Projektträgers und zu dem Antrag auf Genehmigung abzugeben. Zu diesem Zweck bestimmen die Mitgliedstaaten allgemein oder von Fall zu Fall die Behörden, die anzuhören sind. Diesen Behörden werden die
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auf Grund der Vorschriften der SUP-RL verpflichtet;25 (e) die Mitgliedstaaten werden auch dazu verpflichtet, die für die Verwirklichung der sich aus der Umwelthaftungs-RL26 ergebenden Verpflichtungen zuständigen Behörden zu benennen. (2) die die Mitgliedstaaten verpflichten, in das nationale Verwaltungssystem konkrete, vom Gemeinschaftsgesetzgeber bestimmte und die Mitgliedstaaten bindende Organisations- bzw. Verfahrenslösungen einzuführen (die sogenannte unmittelbar sekundärrechtsdeterminierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen). Ein charakteristisches Beispiel für eine gemeinschaftsrechtliche Regelung, die in vielen Mitgliedstaaten die Einführung neuer Verfassungs-/Organisationslösungen im Bereich der Wasserwirtschaft geradezu „erzwungen“ hat, ist im Besonderen die Wasserrahmenrichtlinie27, auf deren Boden die Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, für nach Art. 5 eingeholten Informationen mitgeteilt. Die Einzelheiten der Anhörung werden von den Mitgliedstaaten festgelegt. 25 Vgl. Art. 6 der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Anm. 14): Art. 6 Konsultationen (1) Der Entwurf des Plans oder Programms und der nach Art. 5 erstellte Umweltbericht werden den in Abs. 3 genannten Behörden sowie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. (2) Den Behörden nach Abs. 3 und der Öffentlichkeit nach Abs. 4 wird innerhalb ausreichend bemessener Fristen frühzeitig und effektiv Gelegenheit gegeben, vor der Annahme des Plans oder Programms oder seiner Einbringung in das Gesetzgebungsverfahren zum Entwurf des Plans oder Programms sowie zum begleitenden Umweltbericht Stellung zu nehmen. (3) Die Mitgliedstaaten bestimmen die zu konsultierenden Behörden, die in ihrem umweltbezogenen Aufgabenbereich von den durch die Durchführung des Plans oder Programms verursachten Umweltauswirkungen betroffen sein könnten. (. . .) 26 Vgl. Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Anm. 17): Art. 11 Zuständige Behörde (1) Die Mitgliedstaaten benennen die zuständige(n) Behörde(n), die mit der Erfüllung der in dieser Richtlinie vorgesehenen Aufgaben betraut ist (sind). (. . .) 27 Vgl. Art. 2 Nr. 16 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Anm. 19): Art. 2 Begriffsbestimmungen Nr. 16 „zuständige Behörde“: eine gemäß Art. 3 Abs. 2 oder 3 bestimmte Behörde oder mehrere solcher Behörden. Art. 3 Koordinierung von Verwaltungsvereinbarungen innerhalb einer Flussgebietseinheit (1) Die Mitgliedstaaten bestimmen die einzelnen Einzugsgebiete innerhalb ihres jeweiligen Hoheitsgebiets und ordnen sie für die Zwecke dieser Richtlinie jeweils einer Flussgebietseinheit zu. Kleine Einzugsgebiete können gegebenenfalls mit größeren Einzugsgebieten zusammengelegt werden oder mit benachbarten kleinen Einzugsgebieten eine Flussgebietseinheit bilden. Grundwässer, die nicht in vollem Umfang in einem einzigen Einzugsgebiet liegen, werden genau bestimmt und der am nächsten gelegenen oder am besten geeigneten Flussgebietseinheit zugeordnet. Auch die Küstengewässer werden bestimmt und der bzw. den am nächsten gelegenen oder am besten geeigneten Flussgebietseinheit(en) zugeordnet. (2) Die Mitgliedstaaten sorgen für geeignete Verwaltungsvereinbarungen, einschließlich der Bestimmung der geeigneten zuständigen Behörde, damit diese Richtlinie innerhalb jeder Flussgebietseinheit ihres Hoheitsgebiets angewandt wird. (3) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein Ein-
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„geeignete Verwaltungsvereinbarungen“ zu sorgen, die auch die „Bestimmung der geeigneten zuständigen Behörden“ beinhalten müssen, um die materielle und prozedurale Koordination diesbezüglicher Maßnahmen sicherzustellen.28 3. Wesentliche Bedeutung kommt schließlich auch der sogenannte innerstaatlich determinierten Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu, mit der wir es dann zu tun haben, wenn einzelne Mitgliedstaaten gemäß dem Solidaritätsprinzip und dem Loyalitätsprinzip (Art. 10 EGV) von selbst solche Verfassungs-, Organisations- und Verfahrensregeln in nationale Verwaltungen einführen, die in besonderer Weise der Verstärkung der organisatorischen und funktionalen Bande (Kooperationsprinzip) im Rahmen des Europäischen Verwaltungsverbundes dienen, so dass in einem solchen Fall de facto die sogenannte organisations- bzw. verfahrensdeterminierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen vorliegt. Auch im Umweltbereich muss daran gedacht werden, dass jeder Mitgliedstaat souverän und im gewissen Sinne „außerhalb“ des Bindungsbereichs an sekundärrechtliche Vorschriften (in beiden oben genannten Fällen) – je nach eigener Bewertung einer konkreten Situation und der bestehenden Bedürfnisse (sua sponte) – eigene Lösungen im Bereich der Organisation und der Tätigkeit der nationalen Verwaltung (auch im Umweltschutzbereich) – im Hinblick auf bestimmte Traditionen oder aus verfassungsrechtlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gründen als für die Realisierung von bestimmten Zielen und Aufgaben für geeignet befunden – einführt (die sogenannte innerstaatlich determinierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen). Kein Wunder also, dass die Organisation der öffentlichen Verwaltung im Bereich des Umweltschutzes in einzelnen Mitgliedstaaten der EG sehr differenziert ist.29 zugsgebiet, das auf dem Hoheitsgebiet von mehr als einem Mitgliedstaat liegt, einer internationalen Flussgebietseinheit zugeordnet wird. Auf Antrag der betroffenen Mitgliedstaaten wird die Kommission tätig, um die Zuordnung zu derartigen internationalen Flussgebietseinheiten zu erleichtern. Jeder Mitgliedstaat sorgt für die geeigneten Verwaltungsvereinbarungen, einschließlich der Bestimmung der geeigneten zuständigen Behörde, damit diese Richtlinie innerhalb des in sein Hoheitsgebiet fallenden Teils einer internationalen Flussgebietseinheit angewandt wird. (. . .) Vgl. zugleich im polnischen Rechtssystem neues Wasserrechtgesetz vom 18. Juli 2001 – einheitlicher Text: poln. GBl. von 2005 Nr. 239 Pos. 2019 mit späteren Änderungen – besonders: Art. 3–Art. 4 und Art. 89 ff., die Verwaltungsorganisation und Bewirtschaftung der Wasserressourcen betreffen. 28 Vgl. dazu R. Breuer, Europäisierung des Wasserrechts, in: Natur und Recht 2000, S. 541 ff. 29 Vgl. dazu M. Kloepfer/E. Mast, Das Umweltrecht des Auslandes, Berlin 1995, u. a. S. 57 f., 74 f., 90 f., 102 f., 116 f., 131 f., 141 f., 152 f., 162 f., 172, 180 f., 188 f., 199 f.
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4. Diese stufenweise konkretisierte Europafähigkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen stellt aber die öffentliche Verwaltung der Mitgliedstaaten vor ein gewisses Dilemma. Einerseits bedeutet der Vorrang des EG-Rechts, dass auch Verwaltungsorgane(-einrichtungen) des Mitgliedstaates eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts anzustreben haben, um die wirksame Verwirklichung der durch die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts bestimmten Ziele und Aufgaben nicht zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Sollte sich dies allerdings in einem konkreten Fall als unmöglich erweisen, weil ein Verwaltungsorgan die Unvereinbarkeit der nationalen Rechtsnorm mit dem Gemeinschaftsrecht festgestellt hat, sollte es die Anwendung der nationalen Rechtsnorm ablehnen. Auf der anderen Seite aber – wo die zum Handeln auf Grund und im Rahmen von Gesetzen verpflichteten mitgliedstaatlichen Organe der öffentlichen Verwaltung die Anwendung der geltenden Gesetzesnormen selbst bei Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit nicht verweigern können und darüber hinaus (anders als Gerichte) auch keinen Vorabentscheidungsantrag an den EuGH als Grundlage für die Feststellung der eventuellen Unvereinbarkeit von nationalen Rechtsnormen mit dem Gemeinschaftsrecht stellen dürfen (Art. 234 EGV) – erscheint es mehr als fraglich, ob sie von ihrer autonomen Zuständigkeit für die Entscheidung darüber, ob in einem konkreten Fall von der Anwendung einer bestimmten Norm bzw. von bestimmten Normen des nationalen Rechts mit dem Hinweis auf ihre Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht abzusehen ist, Gebrauch machen. Deswegen wäre es wahrscheinlich wünschenswert, in innerstaatlichen Rechtssystemen den Verwaltungsbehörden eine rechtliche Möglichkeit zu schaffen, in bestimmten Fällen dem zuständigen Gericht eine entsprechende Vorabentscheidungsfrage nach europakonformer Auslegung bzw. Europakonformität der nationalen Rechtsregelungen zu stellen. 5. Zugleich aber – wegen stets zu großer Diskrepanz zwischen den Erwartungen an die Verwirklichung der Ziele gemeinschaftlicher Umweltpolitik einerseits und der Durchsetzungseffektivität der gemeinschaftlichen Bestimmungen in dem Bereich andererseits – erhebt sich die Frage, ob es im Hinblick auf die Notwendigkeit der Verbesserung dieser Situation – neben den bereits bestehenden, spezialisierten und für bestimmte Fragen aus dem Umweltschutzbereich, darunter Gewässer, Wälder, Landwirtschaft, Naturschutz, Raumplanung und Bauwesen, verschiedene Emissionen etc. zuständigen Strukturen der mitgliedstaatlichen öffentlichen Verwaltungen – nicht zweckmäßig wäre, in den Mitgliedstaaten auch ein System der zur Aufsicht über die Verwirklichung von Verpflichtungen in bestimmten Bereichen des Umweltschutzes zuständigen Organe entweder teilweise zu ver-
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einheitlichen30 oder gar ein sui generis integriertes System von Organen zu etablieren, die für die permanente Koordination, Kontrolle und Überwachung in Bezug auf das Monitoring des Umweltzustandes sowie die Einhaltung von Grundsätzen und Vorschriften im gesamten Bereich der Umweltschutzproblematik zuständig wären.31 Besondere Aufmerksamkeit verdienen die in diesem Zusammenhang auf das Problem der sogenannten Gemeinschaftsaufsicht bezogenen Bemerkungen von E. Schmidt-Aßmann mit dem Hinweis u. a. darauf, dass „je deutlicher die Verwaltung des Gemeinschaftsraums als gemeinsame Aufgabe der Exekutive auf der EG-Ebene und mitgliedstaatlicher Ebene in das Bewusstsein tritt, desto deutlicher wird auch, dass die Vielfalt neuer administrativer Kooperationsbeziehungen Konsequenzen für das Kontrollkonzept des Gemeinschaftsrechts haben muss. Kontrollen dieser Verwaltung lassen sich von vornherein nicht nach einem hierarchischen Aufsichtskonzept entwickeln (. . .). Sie sind vielmehr ein pluralistisches Gefüge (. . .). Folglich verlaufen die Kontrollbeziehungen nicht nur von oben nach unten, sondern nutzen auch das Gegenstromprinzip. Zudem beziehen sie die horizontalen 30
Im Zusammenhang damit vgl. auch die Pressemitteilung 7352/00 (Presse 91) über die 2253. Tagung des Rates „Umwelt“, Brüssel, 30. März 2000: „Umwelt. Mindestkriterien für Umweltinspektionen. Im Anschluss an das auf der Tagung des Rates ‚Umwelt‘ vom 13./14. Dezember 1999 einstimmig erzielte Einvernehmen nahm der Rat seinen Gemeinsamen Standpunkt zu einer Empfehlung zur Festlegung von Mindestkriterien für Umweltinspektionen in den Mitgliedstaaten förmlich an. Der Gemeinsame Standpunkt wird nunmehr dem Europäischen Parlament zur zweiten Lesung im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens übermittelt. Ziel des Empfehlungsentwurfs ist es, die Einhaltung des Umweltrechts der Gemeinschaft in allen Mitgliedstaaten zu verbessern und zu einer konsequenteren Anwendung und Durchsetzung dieses Rechts beizutragen. Die Empfehlung würde vorsehen, dass die Umweltleistungen aller Industrieanlagen sowie sonstiger Unternehmen, deren Emissionen und Ableitungen in die Umwelt aufgrund des Gemeinschaftsrechts einer Genehmigung, Erlaubnis oder Lizenz bedürfen, Inspektionen zu unterziehen sind. Der Wortlaut der Empfehlung definiert Mindestkriterien für die Organisation und Ausführung der Umweltinspektionen sowie für die einschlägigen Folgemaßnahmen und für die Veröffentlichung der Inspektionsergebnisse. Es ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, im Voraus Umweltinspektionspläne für ihr gesamtes Staatsgebiet und alle darin niedergelassenen kontrollierten Anlagen aufzustellen. Diese Pläne müssten der Öffentlichkeit gemäß der Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (Richtlinie 90/313/EWG) zugänglich sein.“ (Siehe auch Pressemitteilung 13854/99 vom 13./14. Dezember 1999). 31 Z. B. im Verwaltungssystem Polens erfüllt diese Funktion die sogenannte Umweltschutzinspektion, deren Organe sind: der Hauptinspekteur für den Umweltschutz (als ein zentrales Organ der Regierungsverwaltung, beim Umweltminister tätig) sowie die Wojewoden, die diese Zuständigkeiten mit Hilfe der ihnen unterstehenden spezialisierten Organe, der Wojewodschaftsinspekteure für den Umweltschutz realisieren, vgl. Gesetz vom 20. Juli 1991 über Umweltschutzinspektion – einheitlicher Text: poln. GBl. von 2007 Nr. 44 Pos. 287 mit späteren Änderungen.
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Vernetzungen zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen ein“. Vor diesem Hintergrund verweist E. Schmidt-Aßmann also auch auf sogenannte „Reflexive Kontrollstrukturen in den Mitgliedstaaten: Angesichts sehr begrenzten eigenen Personals muss es der EG-Kommission darum gehen, in den Mitgliedstaaten Kontrollmechanismen anzuregen, die ein Eigeninteresse an Überprüfungen haben oder mindestens in hinreichender Distanz zu den mitgliedstaatlichen Verwaltungen stehen. Diesem Ziel dient die in einigen Rechtsakten vorgesehene Schaffung unabhängiger Verwaltungsstellen der Mitgliedstaaten“.32 Obwohl der rechtliche Status solcher selbständigen öffentlichen Verwaltungskontrolleinheiten auf verschiedene Art und Weise im Prinzip schon auf Grund von entsprechenden gemeinschaftlichen Sekundärrechtsakten bestimmt werden sollte, scheint es doch klar, dass sie bei der Ausübung ihrer sui generis „gemeinschaftlichen Auftragsangelegenheiten“ zwar in der Regel in das Organisationsstaatsgefüge der mitgliedstaatlichen öffentlichen Verwaltung eingegliedert, aber zugleich unabhängig von deren Dienstaufsicht und nur der Rechtskontrolle unterworfen sein sollten.
32 Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts (Anm. 3), S. 20–22.
Die Zuverlässigkeitserklärung des Europäischen Rechnungshofs nach Art. 248 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und ihre Auswirkungen auf Recht und Praxis der Mitgliedstaaten Hedda von Wedel I. Einführung Dieser Aufsatz beruht auf einem Vortrag, der im Rahmen des Symposiums von Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Siedentopf zur „Implementierung des Gemeinschaftsrechts“ gehalten wurde. Die Begrenzung des Themas auf die Implementierung soll im Folgenden aufgegeben werden. Dargestellt wird eine Interaktion von Rechts- und Verwaltungsebenen im Zusammenhang mit der Prüfungstätigkeit des Europäischen Rechnungshofes (ERH). Die Ausgangslage ist die folgende: Der ERH prüft nach Artikel 248 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (im Folgenden „EG“) die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft. Nach Artikel 248 Absatz 2 Unterabsatz 1 EG prüft er die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben und überzeugt sich von der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung. Nach Artikel 274 EG führt die Kommission den Haushaltsplan in eigener Verantwortung durch. Die Mitgliedstaaten arbeiten nach Artikel 274 Absatz 1 Satz 2 EG mit der Kommission zusammen, um sicherzustellen, dass die Mittel nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verwendet werden. Das Europäische Parlament entlastet nach Artikel 276 Absatz 1 EG die Kommission auf Empfehlung des Rates. Grundlage für die Entlastungsentscheidung sind die dort genannten Prüfungsergebnisse des Europäischen Rechnungshofes. Diese Rechtslage verdient besondere Beachtung, da etwa 80% der Haushaltsmittel der Union im Rahmen der sog. geteilten Verwaltung ausgegeben werden. Eine Besonderheit innerhalb der Aufgaben des ERH stellt die nachfolgend vorgestellte Zuverlässigkeitserklärung dar.
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II. Die Zuverlässigkeitserklärung (ZVE) des Europäischen Rechnungshofs und der ihr zugrunde liegende Prüfungsansatz Nach Artikel 248 Absatz 1 Unterabsatz 2 EG legt der Rechnungshof dem Europäischen Parlament und dem Rat eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge vor. Diese Zuverlässigkeitserklärung des Hofes (ZVE) wurde mit dem Vertrag von Maastricht (Unterzeichnung 1992) eingeführt. Die Konstruktion einer Zuverlässigkeitserklärung für öffentliche Finanzvorgänge entstammte vor allem niederländischem und britisch beeinflusstem Denken. Mit dem Vertrag von Nizza (Unterzeichnung 2001) wurden die Ausführungen zur Zuverlässigkeitserklärung mit der Möglichkeit spezifischer Beurteilungen für größere Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft erweitert. Der Artikel 248 Absatz 1 Unterabsatz 2 EG führt in seiner geltenden Fassung entsprechend aus: „Der Rechnungshof legt dem Europäischen Parlament und dem Rate eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge vor, die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wird. Diese Erklärung kann durch spezifische Beurteilungen zu allen größeren Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft ergänzt werden.“
Diese Vorschrift verpflichtet somit den Hof, jedes Jahr Prüfungen darüber durchzuführen, ob die Rechnungsführung der Kommission insgesamt zuverlässig ist und ob die der Haushaltsführung zugrunde liegenden Vorgänge rechtmäßig und ordnungsgemäß ausgeführt wurden. Die zugrundeliegenden Vorgänge erstrecken sich ggf. von der Gemeinschaftsebene über die verwaltenden nationalen Stellen bis hin zum Endempfänger von Fördergeldern der EU. Diese Verpflichtung des Hofes erfordert eine stichprobenweise Erhebung, sowohl in der Kommission, den anderen Organen, den Mitgliedstaaten und deren Verwaltungen als auch beim Endempfänger. Dies schließt ggf. auch Erhebungen in Drittstaaten mit ein. Das Prüfungsurteil beinhaltet nach Artikel 248 EG ein Urteil über den gesamten Haushaltsplan. Es hat nicht zum Ziel, eine Beurteilung über die Ausführung der Haushaltsmittel durch die einzelnen Mitgliedstaaten abzugeben. Für die Prüfungen, die der ZVE zugrunde liegen, hat der Hof ein eigenes System entwickelt. Er stützt seine Schlussfolgerungen auf zwei Grundpfeiler: die vertiefte Prüfung (bzw. Stichprobenprüfung) von einzelnen Zahlungsvorgängen und die Prüfung der relevanten Überwachungs- und Kontrollsysteme der Kommission, der anderen Organe und der Mitgliedstaaten. Diese beiden Pfeiler werden ergänzt durch die Analyse der jährlichen Tätigkeitsberichte und Erklärungen der Generaldirektoren der Kommission und,
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soweit verfügbar, durch vorliegende Arbeiten anderer Prüfer, sei es auf der Ebene der Kommission, der Organe oder der Mitgliedstaaten. Seit Einführung der Erklärung zum Haushaltsjahr 1994 hat der Europäische Rechnungshof in keinem Jahr Prüfungsergebnisse erzielt, die eine Zuverlässigkeitserklärung ohne Einschränkungen – eine sog. „positive DAS“1 – gerechtfertigt hätten. Der Hof musste bisher seine Erklärung stets einschränken (also eine sog. qualified opinion abgeben). In den ersten Jahren der ZVE veröffentlichte der Hof hierbei noch die nach statistischen Methoden errechneten Fehlerraten in seinen öffentlichen Berichten. Da dies in der Öffentlichkeit, fälschlicherweise, oft mit Betrug am Gemeinschaftshaushalt gleichgesetzt wurde, nahm der Hof hiervon im Folgenden Abstand. Er begründete aber weiterhin stets, warum er sein Urteil einschränken musste. III. Die Kritik des Europäischen Parlamentes an der Zuverlässigkeitserklärung des Hofes (ZVE) und die ersten Forderungen zum sog. „Single audit“-Konzept Das Europäische Parlament, das ein umfangreiches Entlastungsverfahren durchführt, hat u. a. Stellung zur ZVE des Hofes genommen. In seiner Entschließung zur Entlastung der Kommission für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans 2000 vom April 20022 verwies das Parlament auf die Problematik der geteilten Mittelverwaltung zwischen Kommission und den Mitgliedstaaten. Es führte hierzu aus, „dass die Verwaltung von 85% des Gemeinschaftshaushalts zwar gemeinsam mit den Mitgliedstaaten erfolgt, aber ausschließlich die Kommission – gemäß den Artikeln 274 und 275 des EG-Vertrags – die Verantwortung für die Kontrolle und Überwachung der Verwendung des Haushalts trägt und damit gewährleisten muss, dass die Mitgliedstaaten die volle Verantwortung für jede Misswirtschaft, die auf ihrer Ebene stattfindet, übernehmen, und sie sich daher mit den Mitteln ausstatten muss, um die Pflichtversäumnisse der Mitgliedstaaten in Erfahrung zu bringen, [. . .]“3. 1 In der täglichen Sprache wird die ZVE auch als „DAS“– déclaration d’assurance – bezeichnet und verkürzt eine ZVE ohne Einschränkungen als „positive DAS“. 2 Europäisches Parlament; Beschluss des Europäischen Parlaments betreffend die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr, 2002; http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pub Ref=-//EP//NONSGML+TA+P5-TA-2002-.0164+0+DOC+PDF+V0//DE&language =DE; per 18.09.2007. 3 Punkt K der Erwägungsgründe des unter Anm. 2 genannten Beschlusses.
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Das Parlament machte damit deutlich, dass es entsprechend der Rechtslage an der Gesamtverantwortung der Kommission, auch in der geteilten Mittelverwaltung, festhält. Das Parlament vertiefte aber auch seine Überlegungen zu den Kontroll- und Rechnungsprüfungsaktivitäten im Rahmen des EU-Haushalts. Hierzu stellte es fest, „dass für die Kontroll- und Rechnungsprüfungstätigkeiten in Verbindung mit dem EU-Haushalt eine große Zahl von Rechnungsprüfern und Prüfdiensten charakteristisch ist, wobei jeder Prüfer und jede Dienststelle fast unabhängig voneinander, jedoch oftmals auf der Grundlage unterschiedlicher Standards Besuche durchführt und Berichte erstellt; fordert es die Kommission auf, einen Bericht über die praktische Durchführbarkeit der Einführung eines einzigen Rechnungsprüfungsmodells in Verbindung mit dem EU-Haushalt zu erstellen, bei dem jede Kontrollebene auf der vorhergehenden Ebene aufbaut, um die Belastung der geprüften Stelle zu verringern und die Qualität der Rechnungsprüfungstätigkeiten zu fördern, jedoch ohne die Unabhängigkeit der betreffenden Rechnungsprüfungsgremien zu untergraben; fordert den Rechnungshof auf, eine Stellungnahme zum gleichen Thema vorzubereiten [. . .]“4. Mit dieser Aufforderung an die handelnden Akteure (die Kommission als Verantwortliche für den Haushalt und den Rechungshof als externen Rechnungsprüfer) setzte das Parlament eine Bewegung in Gang, welche zuerst zu der Stellungnahme des Hofes zum Modell der „Einzigen Prüfung“ (engl. the single audit model) vom März 2004 führte. Neben seinen Überlegungen zum Kontrollrahmen innerhalb der Union setzte sich das Parlament auch kritisch mit dem ZVE-Ansatz des Hofes auseinander. Hierzu führte das Parlament aus, „dass die gegenwärtig vom Rechnungshof verwendete Methode es nicht gestattet, für jeden Bereich der Gemeinschaftsausgaben eine Fehlerquote anzugeben; teilt den Standpunkt, dass mit der Zuverlässigkeitserklärung darauf abgezielt werden sollte, diese Informationen zu geben, [. . .] , einschließlich eines Vergleichs zwischen einzelnen aufeinander folgenden Haushaltsjahren, damit dieses Instrument nicht nur für die Entlastungsbehörde, sondern auch für die Kommission von Nutzen ist, die so rasch wie möglich zu einer positiven Zuverlässigkeitserklärung gelangen sollte; glaubt jedoch, dass auf der Grundlage seines derzeitigen methodischen Vorgehens vom Rechnungshof nicht erwartet werden kann, dass er der Kommission in naher Zukunft eine positive Zuverlässigkeitserklärung abgeben kann“5. Das Parlament fordert den Hof im Weiteren auf, „für jede einzelne GD6 eine Zuverlässigkeitserklärung und Fehlerquote zu formulieren, um Pro4 5 6
§ 48 des unter Anm. 2 genannten Beschlusses. § 45 des unter Anm. 2 genannten Beschlusses. GD: Generaldirektion in der Kommission.
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blembereiche herauszustellen und die Rechenschaftspflicht der Kommission und der Mitgliedstaaten beträchtlich zu steigern“7. Auch im Beschluss betreffend die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 20038 setzte sich das Parlament weiter eingehend mit der ZVE auseinander. Der Hof wird hierbei unter anderem aufgefordert, „explizitere und spezifischere Informationen über Unzulänglichkeiten in den einzelnen Sektoren und Mitgliedstaaten einzubeziehen [. . .]“. Weiter führt der Beschluss aus, dass das Parlament bedauert, „dass noch kein ausreichender Einblick in der Regelmäßigkeit der Ausgaben in den einzelnen Mitgliedstaaten möglich ist [. . .]“. Mit diesen Forderungen geht das Parlament über den Wortlaut der Artikel 248 und 276 EG hinaus. Diese Bestimmung sieht allein die Entlastung der Europäischen Kommission vor. Eine Beurteilung des Finanzmanagements europäischer Mittel durch einzelne Mitgliedstaaten ist nicht gefordert. Der Hof ist dieser politischen Aufforderung nach einem solchen naming and shaming nicht gefolgt. Dies würde einerseits seiner vertraglichen Aufgabe widersprechen, den Gesamthaushalt der EU zu prüfen, für deren Ausführung die Kommission verantwortlich ist. Andererseits würde es auch aus prüfungstechnischer Sicht eine deutliche Ausweitung seiner Arbeiten bedeuten, müsste er doch für jeden Mitgliedstaat getrennte Stichproben erheben. Dies würde eine signifikante Erhöhung des Stichprobenumfangs im Rahmen der ZVE-Prüfarbeiten zur Folge haben. Die Kritik an der Aussagekraft der ZVE im Rahmen des Entlastungsverfahrens zum Haushalt 2000 wurde durch das Parlament im Folgenden erweitert. Es wurden neue Anforderungen u. a. an die Mitgliedstaaten gestellt. In der Entlastungserklärung zum Haushalt 2003 vertrat das Parlament zum Delegationsrisiko im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung „die Auffassung, dass sich diese Probleme nicht allein durch zentral auferlegte Kontrollen lösen lassen und dass die derzeitige Situation deutlich die Notwendigkeit neuer Instrumente aufzeigt, um der Kommission besseren Einblick in die Verwaltungs- und Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten zu verschaffen; es vertritt die Auffassung, dass nur eine ausreichend umfassende Ex-anteOffenlegung in einer förmlichen Offenlegungserklärung und einer jährlichen Ex-post-Zuverlässigkeitserklärung über die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge seitens der höchsten poli7
§ 47 des unter Anm. 2 genannten Beschlusses. Europäisches Parlament; Beschluss des Europäischen Parlaments betreffend die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2003, 2005, § 29 ff. hier insbesondere § 36 und § 40; http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+ P6-TA-2005-0092+0+DOC+PDF+V0//DE&language=DE; per 18.09.2007. 8
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tischen und gleichzeitig obersten Verwaltungsbehörde (Finanzminister) des jeweiligen Mitgliedstaats, wie dies vom Internen Auditdienst der Kommission wiederholt vorgeschlagen wurde, die Kommission in die Lage versetzen wird, ihren Verpflichtungen gemäß Artikel 274 EG nachzukommen“9. Hier finden die nationalen Erklärungen, wie sie unter dem Punkt VI behandelt werden, ihren Ursprung. Während das Parlament die Verantwortung der Kommission für die Ausführung des Haushaltsplans weiter unterstreicht, sieht es die Mitgliedsstaaten mehr in der Pflicht, die Kommission zu unterstützen, indem diese selbst nationale Zuverlässigkeitserklärungen abgeben. Bemerkenswert ist die Entwicklung in den Papieren des Parlaments. Ausgehend von der Kritik an der Aussagekraft der ZVE des Hofes und den Kontrollproblemen in der geteilten Mittelverwaltung versucht das Parlament mit seiner Entschließung vom Jahr 2005 beide Aspekte zusammenzuführen. Es sucht eine Lösung in der förmlichen Zuverlässigkeitserklärung auf dem Niveau der nationalen Finanzminister, also auf höchster (politischer) Regierungsebene. IV. Die politischen Ziele der Kommission und die sog. Roadmap Im Januar 2005 veröffentlichte die gegenwärtige Kommission unter ihrem Präsidenten Barroso ihre Strategischen Ziele für den Zeitraum 2005–2009. Darin führt die Kommission u. a. aus: „Die Rechenschaftspflicht sollte mehr Gewicht erhalten durch das Bemühen um eine ausdrückliche Entlastungserklärung (ZVE) seitens des Europäischen Rechnungshofes“10. Die Frage der sog. positiven ZVE erlangt mithin politische Bedeutung. Im Juni 2005 legte die Kommission dann ihren Fahrplan (sog. Roadmap) zur Schaffung eines Integrierten Internen Kontrollrahmens vor11. In diesem wird die Idee des Parlaments der Ex-ante-Offenlegungserklärung und einer jährlichen Ex-post-Zuverlässigkeitserklärung durch die nationalen Finanzminister aufgegriffen. Das Bestreben, ein verbessertes Kontrollumfeld im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung mit und in den Mitgliedstaaten zu 9 Europäisches Parlament; Beschluss des Europäischen Parlaments betreffend die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2003, wie unter Anm. 8 angeführt; § 21. 10 Europäische Kommission, Strategische Ziele 2005–2009, 2005, KOM (2005) 12 endgültig, S. 6; http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2005/com2005_ 0012de01.pdf; per 18.09.2007. 11 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Rechnungshof über einen Fahrplan zur Schaffung eines integrierten Internen Kontrollrahmens, 2005; KOM (2005) 252 endgültig; http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2005/com2005_0252de01. pdf; per 18.09.2007.
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schaffen, wird mit dem letztlich politischen Ziel der Erlangung einer „positiven ZVE“, also einer uneingeschränkten Zuverlässigkeitserklärung seitens des Hofes, verbunden. Hier werden Aspekte interner Finanzkontrolle und unabhängiger externer Rechnungsprüfung miteinander vermischt. Der Hof zeigte schon vorher in seiner Stellungnahme12 auf, wie ein System nachgelagerter interner Kontrollen auszusehen hätte, in dem ein Prüfer auf Revisionsarbeiten von Vorprüfern aufbauen könnte, ohne dass die Arbeit unnötig wiederholt würde. Insbesondere forderte der Hof, dass Durchführung, Dokumentation und Berichterstattung im Zusammenhang mit den Kontrollen offen und transparent sein müssten, so dass alle am System Beteiligten die Ergebnisse heranziehen und sich darauf stützen können. „Eigner“ der Kontrollen sollte hierbei die Europäische Union sein. Die Kommission sollte Mindestanforderungen für interne Kontrollsysteme unter Berücksichtigung der spezifischen Merkmale der verschiedenen Haushaltsbereiche festlegen. Der Hof verwies explizit darauf, dass er als externer Prüfer der Europäischen Union nicht Bestandteil der internen Kontrolle ist. Gleiches gilt für die nationalen Rechnungshöfe. Beispielhaft soll im Folgenden ein funktionierendes europaweites Kontrollsystem in den Mitgliedstaaten im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung dargestellt werden, das zeigt, wie solche Systeme konzipiert sein können, die auch zufriedenstellend funktionieren. V. Ein Beispiel für ein funktionierendes europäisches Überwachungssystem in den Mitgliedstaaten: InVeKoS13 Die Ausgaben für den Agrarbereich betragen im Haushalt 2006 53,5 Mrd. Euro, etwa 47% des Gesamthaushaltes. Von diesen werden etwa 68% durch das Integrierte Verwaltungs- und Kontroll-System – InVeKoS überwacht. Dieses System wurde infolge der Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) im Laufe des Jahres 1993 eingeführt. Seitdem wurde es verfeinert und den Entwicklungen der GAP angepasst. Seit der Einführung der sog. „Single Payment Schemes“ (System der Betriebsprämienregelung bzw. Entkoppelungsmodell) in den Jahren 2005 und 2006 umfasst das System eine elektronische Datenbank, ein System zur Erfassung jedes Betriebsinhabers, der einen Beihilfeantrag stellt, ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen, ein System zur Identifizierung und Registrierung von 12 Stellungnahme Nr. 2/2004 zum Modell der „Einzigen Prüfung“, Abl. C 107 vom 30. April 2004. 13 InVeKoS: Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem.
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Zahlungsansprüchen und ein integriertes Kontrollsystem14. InVeKoS beinhaltet auch ein System zur Kennzeichnung und Registrierung von Tieren, sofern der betroffene Mitgliedstaat seine Beihilfen nicht vollständig entkoppelt hat und noch getrennte Beihilfen für Tiere geleistet werden. Die Mitgliedstaaten sind dafür verantwortlich, das gesamte System in Gang zu setzen und zu betreiben. Sie trugen einen großen Teil der Kosten für die Einrichtung der umfangreichen notwendigen IT-Systeme und tragen die Kosten ihrer Unterhaltung sowie die sonstigen damit verbundenen Verwaltungskosten. Ihre Aufgaben erfüllen sie mit Hilfe der sog. Zahlstellen, von denen es im Jahr 2006 knapp 100 gab, davon zum überwiegenden Teil Zahlstellen, die sich nur mit InVeKoS befassen. Andere Zahlstellen betreuen spezielle Ausgabenarten, wie zum Beispiel Hilfen für Wein oder Olivenöl. Die Rolle der Kommission besteht hier im Wesentlichen darin, das auf von ihr entworfenen Gemeinschaftsregeln gegründete System zu überwachen, es zu koordinieren und sein Funktionieren zu überprüfen. Die Mitgliedstaaten sind bei der Erfüllung dieser Aufgabe organisatorisch durchaus sehr unterschiedliche Wege gegangen. Sie reichen von einer Zahlstelle in Griechenland oder Schweden bis hin zu regionalisierten Lösungen wie in Deutschland oder Spanien. Da es sich bei InVeKoS um eines der wichtigsten Überwachungs- und Kontrollsysteme für die Ausgaben aus dem Gemeinschaftshaushalt der EU handelt, verfolgt der Hof regelmäßig seine Zuverlässigkeit in den Mitgliedstaaten. Der Hof konnte dabei für das Haushaltsjahr 2004 erstmalig feststellen, dass das System bei den 15 Altmitgliedern – mit Ausnahme von Griechenland – zufrieden stellend funktioniert. Diese Ausnahme für Griechenland erfolgte, weil die örtlichen Erhebungen des Hofes ergeben hatten, dass das dortige System grundsätzliche Fehler beinhaltet. Der Hof wiederholt seither diese Systemprüfung jährlich im Rahmen der ZVE und verfolgt bei dieser Prüfung die Implementierung von Gemeinschaftsrecht sehr viel intensiver, als dies bei der reinen stichprobenbezogenen Prüfung im Rahmen der Zuverlässigkeitserklärung des Hofes, wie sie unter Punkt II beschrieben wurde, möglich ist. Die Prüfungsergebnisse im Rahmen von InVeKos belegen, dass ein integriertes Kontrollsystem im Rahmen der GAP möglich ist.
14 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 des Rates vom 29. September 2003; Artikel 18; ABl. L270/01 vom 21. Oktober 2003.
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VI. Die „nationalen Erklärungen“ Im November 2005 nahmen die Mitgliedstaaten im Rat die Vorschläge der Kommission zur Roadmap zurückhaltend auf und verwiesen die Kommission ausdrücklich darauf, dass diese für die Ausführung des Haushaltsplanes der EU zuständig sei. Die Idee verpflichtender nationaler Ex-anteund Ex-post-Erklärungen wurde nicht weiterverfolgt15. Der in der Folge vorgelegte Aktionsplan der Kommission zur Schaffung eines Integrierten Internen Kontrollrahmens vom Januar 200616 passte die Vorstellung der Kommission den politischen Gegebenheiten an. Die Kommission möchte nun stärker auf Erklärungen zur Mittelverwaltung oder vergleichbare Erklärungen zurückgreifen; im Bereich der Strukturmaßnahmen möchte sie die sog. Vertrauenspakte17 mit den Mitgliedstaaten nutzen. Grundsätzlich möchte die Kommission im Bereich der geteilten Mittelverwaltung erreichen, „die Existenz einer wirksamen nationalen koordinierenden Behörde zu gewährleisten, die den Beteiligten einen Überblick über den Stand der internen Kontrollen je Politikbereich in dem Mitgliedstaat vermitteln kann, beispielsweise durch eine Synthese operativer Zuverlässigkeitserklärungen“18. Das Ziel, eine zusammengefasste Erklärung auf nationaler Ebene zu erreichen, wurde in der neuen Interinstitutionellen Vereinbarung zwischen Rat, Parlament und Kommission vom Mai 2006 im Rahmen der neuen Finanziellen Vorausschau 2007–2013 aufgegriffen.19 Unter dem Titel III „Wirtschaftliche Haushaltsführung im Bereich der EU-Mittel“ führt die Vereinbarung aus, dass die Kontrollbehörden der Mitgliedstaaten für die Strukturfondsmittel eine Bewertung in Bezug auf die Übereinstimmung der 15 Europäischer Rat, Ratsdokument 14138/05 vom 8. November 2005; http:// register.consilium.europa.eu/pdf/de/05/st14/st14138.de05.pdf; per 18.09.2007. 16 Europäische Kommission, Mitteilung an die Kommission von Vizepräsident Kallas, Aktionsplan der Kommission zur Schaffung eines Integrierten Internen Kontrollrahmens, 2006; KOM (2006) 9 endg.; http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/ de/com/2006/com2006_0009de01.pdf; per 18.09.2007. 17 Vertrauenspakte sind zweiseitige Vereinbarungen zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission zu den Prüfungen und Kontrollen im Bereich des jeweiligen Strukturprogramms. 18 Europäische Kommission, Mitteilung an die Kommission von Vizepräsident Kallas, Aktionsplan der Kommission zur Schaffung eines Integrierten Internen Kontrollrahmens, 2006, S. 11; KOM (2006) 9 endgültig; http://eur-lex.europa.eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2006:0009:FIN:DE:HTML; per 18.09.2007. 19 Interinstitutionelle Vereinbarung vom 17. Mai 2006 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission über die Haushaltsdisziplin und die wirtschaftliche Haushaltsführung; Abl. C 139 vom 14. Juni 2007, die Vereinbarung trat am 1. Januar 2007 in Kraft.
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nationalen Management- und Kontrollsysteme mit den einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften erstellen. Weiterhin verpflichten sich die Mitgliedstaaten, zu diesem Zweck auf der jeweils maßgeblichen nationalen Ebene eine jährliche Zusammenfassung der bestehenden Kontrollen und Erklärungen zu erstellen. Ferner wurde mit der Änderung der Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan20 den Mitgliedstaaten bei der geteilten Mittelverwaltung aufgegeben, „sich davon zu überzeugen, dass die aus dem Haushalt finanzierten Maßnahmen tatsächlich ordnungsgemäß durchgeführt werden [. . .]“. Zu diesem Zweck richten die Mitgliedstaaten „ein effizientes und wirksames System der internen Kontrolle“ ein und „unterbreiten jedes Jahr auf angemessener Ebene eine Zusammenfassung der Prüfungen und Erklärungen“. Eine rechtliche Verpflichtung, die ursprünglich vom Parlament gewünschte „nationale Erklärung“ abzugeben, besteht somit weder für die Regierungen der Mitgliedstaaten noch für die ORKB21. Einige Mitgliedstaaten sind jedoch schon jetzt bereit, auf freiwilliger Basis nationale Zuverlässigkeitserklärungen vorzunehmen. So legte der niederländische Finanzminister im Mai 2007 die erste nationale Erklärung vor22. Diese betrifft in ihrem ersten Jahr zunächst nur die Landwirtschaftsausgaben, soll aber in den folgenden Jahren erweitert werden. Hierin erklärt der Finanzminister, dass er mit Hinblick auf bestehende niederländische Kontrollsysteme für die Agrarausgaben aus dem Bereich Garantie des EAGFL23 für das Haushaltsjahr 2006 hinreichende Gewähr gewonnen hat, dass die zugrunde liegenden Transaktionen ordnungsgemäß und rechtmäßig erfolgten und dass die Einnahmen und Ausgaben aus dem Fonds für das Haushaltsjahr 2006 ordnungsgemäß und rechtmäßig in den Finanzübersichten erfasst wurden. Zu dieser nationalen Erklärung gab der Niederländische Rechnungshof (Algemene Rekenkamer) im Juli 2007 seinen Prüfbericht ab24. 20 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1995/2006 des Rates vom 13. Dezember 2006 zur Änderung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften, Abl. L 390 vom 30.12.2006, hier neuer Artikel 53 b. 21 ORKB: Oberste Rechnungskontrollbehörde. 22 Verweis auf die Internetquelle des Niederländischen Finanzministeriums: http://www.minfin.nl/en/actual/newsrealeases,2007/05/The-Netherlands-issues-firstNational-Statement-on.html; per 28.06.2007. 23 EAGFL: Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft. 24 Der Bericht der Rekenkamer liegt derzeit nur in seiner niederländischen Version vor, Quelle: http://www.rekenkamer.nl/9282000/d/p419_tk31095_1en2.pdf; per 18.09.2007.
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Das Vereinigte Königreich hat im November 2006 angekündigt, dass die Regierung dem Parlament eine jährliche konsolidierte Erklärung zur Ausführung der EU-Fonds unterbreiten wird. Diese Erklärung wird durch den britischen Rechnungshof (NAO, National Audit office) geprüft werden. Die nationale Erklärung und das Prüftestat sollen dem Europäischen Rechnungshof und der Kommission zugänglich gemacht werden25. Interessant ist das dänische Beispiel. Es handelt sich hierbei nicht um eine Zuverlässigkeitserklärung des Finanzministers wie im oben beschriebenen niederländischen Fall. Der dänische Rechnungshof gibt in seinem Jahresbericht zum Haushaltsjahr 2005 vielmehr direkt ein Testat zur Ausführung von EU-Fonds in Dänemark ab. In diesem bestätigt er gegenüber dem dänischen Parlament, die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung und die Ordnungsmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge. Es stellt sich nun die Frage, wie diese nationalen Erklärungen, die in den Verträgen nicht vorgesehen sind, einzuordnen sind. Zur Klarstellung ist es nötig, daran zu erinnern, dass es vier Arten von Erklärungen gibt, die auch als Zuverlässigkeitserklärungen bezeichnet werden: a) Die Zuverlässigkeitserklärung des ERH nach Artikel 248 EG b) die jährlichen Erklärungen auf nationaler Fachebene (wie z. B. die der Zahlstellen) c) nationale Erklärungen auf der Ebene von Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis (wie z. B. die der Niederlande) d) Erklärungen nationaler Rechnungshöfe zu diesen Erklärungen oder unabhängig von diesen (wie z. B. Dänemark). Die Erklärung a) gehört zur Tätigkeit des ERH nach Artikel 248 EG und ist somit Teil der externen Finanzkontrolle. Die Erklärungen b) und c) sind Teile des internen Kontrollsystems. Bei den Erklärungen d) kommt es auf den Inhalt und die Grundlagen an. Von besonderem Interesse ist, wie die Kommission im Rahmen ihrer Verantwortung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans insbesondere mit den nationalen Erklärungen diverser Art umgehen wird und vor allem, wie sie diese selbst überprüfen will. Als Bestandteile der internen Kontrolle werden die ersten nationalen Zusammenfassungen (zum Haushaltsjahr 2007) im Februar 2008 der Kommission zugeleitet werden. 25 Siehe Erklärung des britischen Finanzministeriums vom 20. November 2006, Internetquelle: http://www.hm-treasury.gov.uk./newsroom_and_speeches/speeches/ statement/speech_statement_est202206.cfm; per 04.07.2007.
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Auch die Frage, ob die Kommission danach ihre eigenen Kontrollaufgaben reduzieren kann, ist zu klären. Ebenso ist eine Auswirkung auf das sog. Anlastungsverfahren im Agrarbereich offen. Der ERH hat im Juli 2007 eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er erklärt, wie die diversen Erklärungen einzuordnen sind und welche Voraussetzungen nach internationalen Standards zu erfüllen sind, wenn deren Ergebnisse in die Prüfungsergebnisse des ERH integriert werden sollen. Als Gesamtergebnis sei nur festgehalten, dass nach den internationalen Standards kein Inhalt dieser Erklärungen völlig ungeprüft in die Erklärungen des Hofes übernommen werden kann. VII. Ausblick Der ERH wird seine Pflichten nach EU-Vertrag weiter erfüllen und den Jahresbericht, die Zuverlässigkeitserklärung und die Sonderberichte vorlegen. Die Kommission wird einen Weg finden müssen, die zusätzlichen Erklärungen, die dem internen Kontrollsystem zuzuordnen sind, entsprechend den dafür bestehenden Normen zu verarbeiten. Welche Vielzahl von Erklärungen auf Regierungsebene oder von ORKB-EU zu erwarten ist, ist bisher offen. Der ERH hat in der oben genannten Stellungnahme unter der Überschrift „Fortschritte erzielen“ dazu ausgeführt: „XVIII. Um zu einer Verbesserung der Verwaltung beizutragen, sollte die Kommission in Erwägung ziehen, anhand der jährlichen Zusammenfassungen in (und zwischen) den Mitgliedstaaten bewährte Verfahrensweisen zu ermitteln und zu fördern. Außerdem sollte sie auf der Grundlage der den jährlichen Zusammenfassungen zugrunde liegenden sektorbezogenen Prüfungsurteile sowie auf der Grundlage der nationalen Erklärungen das Verhältnis zwischen der Übereinstimmung der Systeme mit den Rechtsvorschriften und den Kriterien für die Bewertung des angemessenen Rechtmäßigkeits- und Ordnungsmäßigkeitsniveaus der zugrunde liegenden Vorgänge untersuchen. XIX. Die Behandlung des Ansatzes für die Prüfung der EU-Mittel durch die nationalen Rechnungsprüfungsorgane fällt unter den Auftrag der Arbeitsgruppe des Kontaktausschusses, die „an den EU-Kontext angepasste gemeinsame Prüfungsnormen und vergleichbare Prüfungsmaßstäbe“ erarbeiten soll. Gemeinsame Normen für Prüfungsansätze und -methoden können für den Hof bedeuten, dass er sich stärker auf die Arbeit der nationalen Rechnungsprüfungsorgane stützen kann, sofern direkte Nachweise für die Qualität dieser Arbeit erlangt werden können.“
Es wäre wünschenswert, wenn bei den künftigen Überlegungen erneut die Fragen der Kosten-Nutzen-Relation und der Vereinfachung einfließen würde.
Europa im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und sozialem Anspruch: Die Antwort des Vergaberechts Jan Ziekow Eines der zentralen Themen im Werk von Heinrich Siedentopf ist das Verhältnis zwischen dem europäischen Integrationsprozess und den Mitgliedstaaten. Seine einschlägigen Forschungen sind nicht allein für einen der Forschungsschwerpunkte der Sektion II des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer begriffsprägend geworden,1 sondern weisen weit darüber hinaus und eine Spannbreite auf, auf die hier nur hingewiesen werden kann.2 Dies macht es dem Verfasser eines dem Jubilar gewidmeten Beitrags leicht, auf die Bezüge des Beitrags zum Forschungsspektrum des Geehrten hinzuweisen. I. Problemstellung Das den einzelstaatlichen Wirtschafts- und Sozialordnungen wohlvertraute Problem des Verhältnisses von marktwirtschaftlichem Wettbewerb und sozialen Prinzipien hat längst auch die Ebene der Gemeinschaft erreicht3 und führt zu Abbildungsschwierigkeiten in der Mehrebenenperspektive. Das in Art. 3 I lit. g EG-Vertrag formulierte System eines unverfälschten Wettbewerbs ist zwar in einen Ausgleich mit anderen Gemeinschaftszielen, etwa dem einer Sozialpolitik (Art. 3 I lit. j EG-Vertrag), zu bringen; andererseits kommt ihm bei der Ausgestaltung der Verfolgung dieser anderen Ziele ein besonderes Gewicht zu.4 Die Frage, welchen Spielraum die 1 Vgl. www.foev-speyer.de/ueberuns/sektionen/sektion2forschungsprogramm.asp: „Der Europäische Verwaltungsraum“ und H. Siedentopf/B. Speer, The European Administrative Space from a German Administrative Perspective, in: International Review of Administrative Sciences 69 (2003), S. 9 ff. 2 Vgl. das Schriftenverzeichnis Heinrich Siedentopfs in dieser Festschrift. 3 Vgl. dazu nur J. Joussen, Die Stellung europäischer Sozialpolitik nach dem Vertrag von Amsterdam, in: ZIAS 2000, S. 191 ff.; S. Krebber, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 3. Aufl., München 2007, Art. 136 EGV Rdnr. 6 ff. 4 R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, München 2003, Art. 3 EGV Rdnr. 51.
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Verfolgung des Wettbewerbsziels durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen der Implementation sozialer Gesichtspunkte lässt, perpetuiert sich bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht. Ein Bereich, in dem dieses Thema für die nationale Politik und die nationalen Verwaltungen seit längerem von großer Bedeutung ist, ist das öffentliche Auftragswesen. Die gewaltige Nachfragemacht der öffentlichen Hände weckt Begehrlichkeiten, dieses Potential für sozialpolitische Zwecke einzusetzen. Sozialpolitiker erhoffen sich verdeckte Haushaltsumschichtungen, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Sozialpolitik in der Europäischen Union 80 Milliarden Euro zur Verfügung stünden, wenn nur 5% der Vertragssumme bei den Vergabeentscheidungen von sozialen Überlegungen geleitet würden.5 Denn dieser erhoffte Betrag würde ja durch ggf. teurere Beschaffungen anderer Ressorts gegenfinanziert. Doch lässt sich das Problem nicht auf eine Verteilung von Ausgabelasten reduzieren. Denn das Recht der Vergabe öffentlicher Aufträge – soweit gemeinschaftsrechtlich koordiniert – ist dem Ziel verpflichtet, die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren.6 Mit diesem Ziel ist die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte bei der Beschaffung jedenfalls nicht ohne weiteres vereinbar. Die folgenden Überlegungen wollen dazu beitragen, Regeln für eine gemeinschaftsrechtskonforme Bewältigung dieses Spannungsbogens herauszuarbeiten. Als Beispiele, an denen sich das Problem in der Praxis kristallisiert hat, lassen sich – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – nennen: Die Förderung der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, die Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben, die Förderung der Ausbildung von Lehrlingen, die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer, die Einhaltung bestimmter Arbeitsschutzstandards, die Verbesserung der Beschäftigungs- und Aufstiegschancen von Frauen, die Nutzbarkeit des beschafften Gegenstands bzw. der beschafften Leistung für Menschen mit einer Behinderung, die Durchsetzung familienfreundlicher Unternehmenskonzepte usw. Die folgenden Überlegungen ließen sich an jedem dieser Gesichtspunkte exemplifizieren. Aus Gründen der Aktualität soll jedoch eine Konzentration auf zwei Aspekte erfolgen: – Tariftreue: Aufträge werden nur an solche Unternehmen erteilt, die sich zur Zahlung der am Ort der Leistungserbringung geltenden Tariflöhne verpflichten. 5 T. Höpfl, Soziale Auftragsvergabe – Entscheidung zwischen Pflicht- und Kürprogramm im öffentlichen Beschaffungswesen?, in: WISO 27 (2004), Nr. 2, S. 105, 124. 6 Erwägungsgrund 2 der RL 2004/18/EG v. 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. L 134/114 v. 30.4.2004 (im Folgenden: VKR).
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– Faire Beschaffung: Unter dem Oberbegriff der „Fairen Beschaffung“ werden verschiedene Instrumente verstanden, dem entwicklungs- und sozialpolitischen Gerechtigkeitsgedanken verpflichtete Ansätze bei öffentlichen Beschaffungen zu berücksichtigen.7 In neuerer Zeit gehen immer mehr Kommunen dazu über, in einem ersten Schritt jedenfalls erst einmal solche Angebote eliminieren zu wollen, zu deren Erfüllung ausbeuterische Kinderarbeit zum Einsatz kommt. Im Folgenden sollen diese Ansätze am Maßstab zunächst des einschlägigen sekundären Gemeinschaftsrechts (II.) und anschließend an den Vorschriften des EG-Vertrages (III.) gemessen werden. II. Die Vorgaben des sekundären Gemeinschaftsrechts Im Zuge der Neufassung des EG-Vergaberechts durch die Vergabekoordinierungsrichtlinie im Jahre 2004 sind die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Gesichtspunkten, die nach dem früheren sekundären Gemeinschaftsrecht weder als Eignungs- noch als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden konnten,8 grundlegend neu geregelt worden. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Reichweite dieser Neuregelung liegt – soweit ersichtlich – noch nicht vor. Zur Einführung der Gesichtspunkte der Tariftreue oder des Ausschlusses des Einsatzes von Kinderarbeit kommen instrumentell die Ebenen der Leistungsbeschreibung (II.1.), der bieterbezogenen Kriterien (II.2.), der Zuschlagskriterien (II.3.) und der Ausführungsbedingungen (II.4.) in Betracht. 1. Berücksichtigung bei der Leistungsbeschreibung Der öffentliche Auftraggeber ist nicht daran gehindert, durch eine entsprechende Gestaltung der Leistungsbeschreibung bestimmte soziale Aspekte zu erzielen. Hier wird es in der Regel darum gehen, dass die Leistung inhaltlich den Bedürfnissen bestimmter sozialer Gruppen, beispielsweise von Behinderten, gerecht wird. So verlangt Art. 23 I S. 2 VKR ausdrücklich, dass bei der Festlegung technischer Spezifikationen den Zugangskriterien für Behinderte Rechnung getragen werden soll, wo immer dies möglich ist. Während diese nutzerbezogenen Elemente bei der Fassung der Leistungsbeschreibung berücksichtigungsfähig sind,9 bedürfen die sozia7
Im Einzelnen J. Ziekow, Faires Beschaffungswesen, in: VergabeR 2003, S. 1 ff. Dazu etwa J. Ziekow, Vergabefremde Zwecke und Europarecht, in: NZBau 2001, S. 72 ff. m. w. N. 9 Explizit Erwägungsgrund 46 zur VKR: Es „kann ein öffentlicher Auftraggeber auch Kriterien zur Erfüllung sozialer Anforderungen anwenden, die insbesondere 8
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len Bedingungen der Leistungserstellung, etwa in Gestalt der Tariftreue, des Vorgehens gegen Kinderarbeit, familienfreundlicher Unternehmenskonzepte usw., eines genaueren Blicks. Als technische Spezifikationen nach Art. 23 Abs. 3 lit. a VKR nennt Ziff. 1 lit. a und b des Anhangs VI ausdrücklich auch die „Produktionsprozesse und -methoden“. Wie Erwägungsgrund 29 der VKR klarstellt, zählen hierzu auch bestimmte Produktionsmethoden mit Blick auf die Umweltauswirkungen. Allerdings sind technische Spezifikationen laut Anhang VI Ziff. 1 der VKR nur solche Anforderungen und Vorschreibungen von Merkmalen, die an eine Leistung, ein Erzeugnis oder ein Material selbst gestellt werden. Gegenstand einer technischen Spezifikation kann also nur der Produktionsprozess bzw. die Produktionsmethode des Auftragsgegenstandes sein. Allgemeine umweltbezogene Erwägungen wie die Vorgabe einer bestimmten Produktionsquote umweltverträglich hergestellter Produkte können auf diese Weise nicht in das Vergabeverfahren eingeführt werden.10 Aus dem Wortlaut der VKR geht nicht hervor, ob unter Produktionsprozess bzw. -methode neben umweltbezogenen auch sozialpolitisch intendierte Anforderungen gefasst werden können. Teilweise wird angenommen, dass dies dann zu bejahen sei, wenn etwa Langzeitarbeitslose, Behinderte oder Frauen in Führungspositionen bei der Auftragsausführung11 oder sogar sonst im Betrieb des Bieters12 eingesetzt werden sollen. Allerdings dürfte dem die Systematik der VKR widersprechen. Soziale Aspekte werden ausschließlich im Zusammenhang der zusätzlichen Bedingungen für die Auftragsausführung (Art. 26 VKR) erwähnt. Die Begründungserwägung 33 nennt hier ausdrücklich die Einstellung von Langzeitarbeitslosen, die Durchführung von Ausbildungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und Jugendliche, die Einstellung von behinderten Personen und die Einhaltung der Bestimmungen der grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) für den Fall, dass diese nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sind. Zur sozialen Dimension der Zuschlagskriterien verhält sich Begründungserwägung 46.13 Diese Unterscheidung spricht den – in den vertraglichen Spezifikationen festgelegten – Bedürfnissen besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen entsprechen, denen die Nutznießer/Nutzer der Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen angehören“. 10 A. M. C. Leifer/S. Mißling, Die Berücksichtigung von Umweltschutzkriterien im bestehenden und zukünftigen Vergaberecht am Beispiel des europäischen Umweltmanagementsystems EMAS, in: ZUR 2004, S. 266, 267. 11 M. Opitz, Das Legislativpaket: Die neuen Regelungen zur Berücksichtigung umwelt- und sozialpolitischer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, in: VergabeR 2004, S. 421, 429. 12 K. Fischer, Vergabefremde Zwecke im öffentlichen Auftragswesen: Zulässigkeit nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, in: EuZW 2004, S. 492, 494.
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dafür, soziale Kriterien, die sich nicht auf die Nutzung der erbrachten Leistung oder Lieferung beziehen, als zusätzliche Bedingungen für die Auftragsausführung zu verorten. Im Ergebnis können also die Gesichtspunkte der Tariftreue und des Vorgehens gegen Kinderarbeit nicht bei der Leistungsbeschreibung berücksichtigt werden. 2. Bieterbezogene Kriterien Die Eignungsprüfung ist nach den in den Art. 47 bis 52 VKR genannten Kriterien der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit sowie der beruflichen und technischen Fachkunde durchzuführen. Aus dem ausdrücklichen Verweis auf die Art. 47 bis 52 wird man schließen müssen, dass neben diesen Kriterien und den Ausschlussgründen der Art. 45 und 46 keine weiteren bieterbezogenen Kriterien statuiert werden dürfen. Art. 47 betrifft die wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit, die in der Regel durch die in Art. 47 I genannten Nachweise belegt werden soll. Wie Art. 47 IV deutlich macht kann der Auftraggeber allerdings auch andere Nachweise fordern, sofern diese in der Aufforderung zur Angebotsabgabe oder in der Bekanntmachung angegeben sind. Aus dem Normzusammenhang wird man schließen müssen, dass es hier bei dem schon früher vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsatz bleibt, dass diese anderen Nachweise nur zum Nachweis der Leistungsfähigkeit dienen dürfen. Es ist daher weiterhin ausgeschlossen, auf der Stufe der Eignungsprüfung Nachweise zu fordern, die anderen Zwecken dienen. Schon für den unter den früheren Vergaberichtlinien geltenden Rechtszustand hatte die Kommission die Auffassung vertreten, dass die Feststellung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit keinen Raum für die Einbeziehung sozialer Gesichtspunkte lässt.14 Dies hat sich durch die VKR nicht geändert. Anders als bei der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit steht es dem Auftraggeber nicht frei, für die Bewertung der technischen und/oder beruflichen Leistungsfähigkeit andere Nachweise als die in Art. 48 II genannten zu fordern. Art. 48 VI lässt ausdrücklich nur das Verlangen nach Vorlage dieser Nachweise zu. Die Möglichkeiten, die Berücksichtigung sozialer Belange über den Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit in das Vergabeverfahren zu implementieren, sind daher äußerst begrenzt. Als Einfallstor kommt insoweit allenfalls Art. 48 II lit. b VKR in 13
Siehe Anm. 9. Interpretierende Mitteilung der Kommission über die Auslegung des gemeinschaftlichen Vergaberechts und die Möglichkeiten zur Berücksichtigung sozialer Belange bei der Vergabe öffentlicher Aufträge v. 15.10.2001, ABl. C 333/27 v. 28.11.2001, Nr. 1.3. Ebenso für die Frage der Tariftreue V. Dobmann, Die Tariftreueerklärung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, Baden-Baden 2007, S. 108. 14
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Betracht, wonach der Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit auf die Angabe der technischen Fachkräfte erstreckt werden kann. Sofern es sich bei dem Bieter um den Produzenten handelt, kann von ihm in der Tat die Darlegung der sich auf die Qualität der Produkte auswirkenden Personalzusammensetzung verlangt werden.15 Während diese Möglichkeit für das Problem der Tariftreue ohne Bedeutung ist, könnte die Herstellung von Produkten in Kinderarbeit in dieser Weise erfasst werden. Allerdings geht es dabei immer nur um den Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit des konkreten Bieters für die Ausführung des übernommenen Auftrags.16 Handelt es sich bei dem Bieter – wie im Regelfall – um einen Importeur, so kann der Nachweis nicht auf die Leistungsfähigkeit des ursprünglichen Produzenten erstreckt werden. Möglich ist allenfalls ein Rekurs auf die Möglichkeit des Ausschlusses eines Bieters von der Teilnahme am Vergabeverfahren, weil er im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde (Art. 45 II 1 lit. d VKR). Hierunter fallen auch Verstöße gegen sozial- und arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen,17 und auch menschenrechtliche Verstöße wie die Missachtung der Ächtung ausbeuterischer Kinderarbeit werden sich hierunter fassen lassen. Zahlt hingegen ein nicht tarifgebundener Auftraggeber keine Tariflöhne, so dürfte es sich wohl kaum um eine schwere berufliche Verfehlung handeln. Zu beachten ist weiterhin, dass der Ausschluss vom Vergabeverfahren den Nachweis der schweren Verfehlung durch den Auftraggeber erfordert. Hierfür sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich; die bloße Mutmaßung, die Beschaffung bewege sich in einem hinsichtlich des Verstoßes gegen das IAO-Übereinkommen 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit sensiblen Bereich, genügt nicht.18 Diese Darlegungs- und Beweislast des Auftraggebers kann nicht dadurch auf den Teilnehmer verlagert werden, dass von ihm die Vorlage von Nachweisen oder Erklärungen über das Nichtvorliegen des Ausschlussgrundes verlangt werden. Die VKR nimmt den Ausschlussgrund der schweren Verfehlung von der Nachweispflicht des Teilnehmers gerade aus (vgl. Art. 45 III VKR).
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Interpretierende Mitteilung (Anm. 14), Nr. 1.3.2. Interpretierende Mitteilung (Anm. 14), Nr. 1.3.2. 17 Vgl. VÜA Brandenburg, in: ZVgR 1998, 485; Interpretierende Mitteilung (Anm. 14), Nr. 1.3.1. 18 Zu den Anforderungen im Einzelnen H.-J. Prieß/F. Hausmann, in: G. Motzke/J. Pietzcker/H.-J. Prieß, VOB/A, München 2001, § 8 Rdnr. 104. 16
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3. Zuschlagskriterien Als Zuschlagskriterien kennt Art. 53 I VKR alternativ das wirtschaftlich günstigste Angebot oder das Kriterium des niedrigsten Preises. Die Ausgestaltung des Zuschlags auf das wirtschaftlich günstigste Angebot folgt den Grundsätzen, wie sie der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vor Inkrafttreten der neuen Richtlinie entwickelt hatte. Die einzelnen Zuschlagskriterien und ihre Gewichtung müssen in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen in der Beschreibung angegeben sein (Art. 53 II VKR). Zulässig sind nur solche Kriterien, die mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängen, wobei zu den beispielhaft aufgezählten Kriterien neben Qualität, Preis, technischem Wert, Ästhetik, Zweckmäßigkeit, Betriebskosten, Rentabilität, Kundendienst und technischer Hilfe, Lieferzeitpunkt sowie Lieferungs- und Ausführungsfrist nunmehr ausdrücklich auch die Umwelteigenschaften gehören. Insoweit hat die VKR nichts Neues gebracht. Der nach Art. 53 I lit. a VKR notwendige Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand fehlt bei den Erfordernissen, bei der Erfüllung des Auftrags keine Kinder einzusetzen oder Tariflöhne zu zahlen. Denn die Beachtung dieser Gesichtspunkte bei der Herstellung einer Ware oder der Erbringung einer Leistung definiert keine Eigenschaft des Auftragsgegenstands, sondern der Umstände, unter denen er hergestellt oder geleistet wird. Gesichtspunkte, die sich auf die Beschäftigungsbedingungen im Unternehmen des Bieters oder gar seines Lieferanten beziehen, können nicht als Zuschlagskriterien berücksichtigt werden.19 4. Zusätzliche Bedingungen für die Auftragsausführung Eine bemerkenswerte Korrektur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs findet sich in Art. 26 VKR, der der Sache nach die in der bisherigen Judikatur so bezeichneten besonderen zusätzlichen Kriterien aufgenommen hat. Nach dieser Vorschrift können die öffentlichen Auftraggeber zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen angegeben werden. 19 So schon für die früheren Vergaberichtlinien die Interpretierende Mitteilung (Anm. 14), Nr. 1.4.1; für die VKR D. Hegele, Soziale Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge – Arbeitshilfe für öffentliche Auftraggeber und sozialwirtschaftliche Unternehmen, Dresden 2005, S. 18. Für die Tariftreueerklärung Dobmann, Die Tariftreueerklärung (Anm. 14), S. 109. Daraus, dass „die Vergabe öffentlicher Aufträge vielfach im politischen Raum angesiedelt ist“, ergibt sich nichts anderes; a. M. W. Frenz, Soziale Vergabekriterien, in: NZBau 2007, S. 17, 20.
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Wie bereits der Ausschuss der Regionen in seiner Stellungnahme vom 13.12.2000 zu den Kommissionsvorschlägen erkannte (und kritisierte), führt die Forderung, dass sich die zusätzlichen Bedingungen auf die Ausführung des Auftrags beziehen müssen, zu einer deutlichen Restriktion gegenüber der durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs aufgebauten Position,20 die eine solche Forderung nicht kannte. In den späteren Beratungen wurde darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung bewusst getroffen worden ist, um „nicht mit dem Vertragsgegenstand verbundene Vergabeaspekte . . . auszuschließen“.21 a) Ausführungsbedingungen bei Bau- und Dienstleistungsaufträgen Unproblematisch zulässig ist eine solche Bedingung bei Aufträgen über noch zu erbringende Bau- oder Dienstleistungen. In diesen Fällen kann dem Auftragnehmer aufgegeben werden, bei der Ausführung des Auftrags Tariflöhne zu zahlen22 oder keine Kinder einzusetzen – wobei Letzteres kaum jemals relevant werden dürfte. Wichtig ist, dass die fragliche Bedingung gerade bei der Ausführung des Auftrags zum Einsatz kommt. Es könnte also z. B. verlangt werden, bei der Auftragserfüllung eine bestimmte Zahl von Langzeitarbeitslosen, Lehrlingen usw. einzusetzen, nicht aber, dass das Unternehmen als Ganzes bestimmte Quoten erfüllt. Dementsprechend lässt sich auch eine auf die allgemeine Betriebsorganisation zielende Frauenoder Familienförderung nicht auf Art. 26 VKR stützen. Derartige Ziele lassen sich mit Mitteln des Vergaberechts überhaupt nicht verfolgen. Abweichend hiervon ist in der Literatur behauptet worden, dass die in der Vergabekoordinierungsrichtlinie entwickelte Dreiteilung von Eignungskriterien, Zuschlagskriterien und zusätzlichen Bedingungen für die Auftragsausführung nicht abschließend sei. Es sei nicht erkennbar, dass die nach den früheren Vergaberichtlinien unter den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen zulässige Kategorie der besonderen zusätzlichen Bedingungen beseitigt werden sollte.23 Dem wird man kaum folgen können. Die dargestellten Regelungen der VKR zur Zulässigkeit der Berücksichtigung von sozialen oder umweltbezogenen Kriterien bei der Vergabe verfolgen gerade das Ziel der Privilegierung speziell dieser Kriterien. Während ihre Einbeziehung unter den in der Richtlinie genannten 20
Stellungnahme des Ausschusses der Regionen, ABl. 2001 C 144/23 sub 2.7.1. Empfehlung des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt für die zweite Lesung des Europäischen Parlaments v. 19.6.2003 (A5-0242/2003), S. 33. 22 Dobmann, Die Tariftreueerklärung (Anm. 14), S. 130. 23 A. Losch, Das „harmonisierte“ EG-Vergaberecht im Spannungsfeld zwischen Umweltschutz und Binnenmarkt, Berlin 2005, S. 141 ff. 21
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Voraussetzungen zulässig sein soll, sollen andere Kriterien nicht mehr berücksichtigt werden können. Würde der öffentliche Auftraggeber noch zusätzlich wie nach den früheren Vergaberichtlinien besondere zusätzliche Bedingungen in das Vergabeverfahren einführen können, so würde die beabsichtigte Privilegierung der sozialen und umweltbezogenen Kriterien nachgerade konterkariert. Denn im Vergleich zu den vom Europäischen Gerichtshof für die früheren besonderen zusätzlichen Bedingungen benannten Zulässigkeitsanforderungen24 ist die VKR hinsichtlich der Berücksichtigungsfähigkeit sozialer und umweltbezogener Belange strikter. Bestenfalls wären die detaillierten Regelungen der VKR zu den sozialen und umweltschutzbezogenen Kriterien überflüssig, würden die früheren besonderen zusätzlichen Bedingungen als überwölbende Kategorie fortgeführt. b) Ausführungsbedingungen bei Lieferaufträgen Während die Verpflichtung des Auftragnehmers auf eine Tariftreue in erster Linie bei Bau- und Dienstleistungsaufträgen eine Rolle spielen wird, werden sich die Bemühungen zur Zurückdrängung ausbeuterischer Kinderarbeit in der Regel auf Aufträge, die die Lieferung von Waren zum Gegenstand haben, richten. Da der Wortlaut des Art. 26 VKR nicht auf Leistungsaufträge beschränkt ist, spricht nichts dagegen, die Vorschrift auch auf öffentliche Aufträge jedenfalls über die Beschaffung erst noch herzustellender Waren anzuwenden. Denn in diesem Fall ist der notwendige Auftragsbezug in Gestalt des Ausführungsbezugs ebenfalls gegeben. Anderes gilt aber für Aufträge über die Lieferung bereits vorhandener Waren. In dieser Konstellation reduziert sich die Auftragsausführung allein auf die Warenlieferung. Der Prozess der Produktion der Waren ist hier nicht mehr einbeziehbar. Möglich dürfte hier eine mittelbare Einbeziehung des Produktionsprozesses dergestalt sein, dass dem Bieter, der seinerseits die zu liefernde Ware in Ausführung des Auftrags erst noch ankaufen muss, als Vertragsbedingung aufgegeben wird, von dem Hersteller oder Zwischenhändler wiederum die Vorlage einer unabhängigen Zertifizierung oder die Abgabe einer verbindlichen Erklärung, dass das Produkt unter Beachtung des IAO-Übereinkommens 182 hergestellt bzw. gehandelt wurde etc., zu verlangen. Denn auch die Erfüllung dieser Vertragsbedingung erfolgt in Ausführung des Auftrags. Diese Möglichkeit versagt allerdings, wenn der Bieter Ware aus seinen Lagerbeständen liefern möchte. In dieser Konstellation besteht die Ausführung des Auftrags allein noch in der Lieferung der Lagerware an den Auftraggeber. Auf frühere Schritte der Lieferkette zurückzugreifen, erlaubt 24
Dazu etwa Ziekow, Vergabefremde Zwecke (Anm. 8).
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Art. 26 VKR nicht. Es könnte daher auch nicht argumentiert werden, dass der Auftragnehmer die auf die Beachtung des IAO-Übereinkommens 182 bezogene Erklärung in Ausführung des Auftrags abgebe, wenn diese Erklärung im Zuge der Warenlieferung an den Auftraggeber erfolge. Abgesehen davon, dass sich die Ausführung nicht auf zeitlich zurückliegende Phasen beziehen kann, steht einer solchen Betrachtung auch das Verbot der Umgehung der Zuschlagskriterien entgegen. Die Kommission hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Ausführungsbedingungen „keine offene oder versteckte technische Spezifikation enthalten . . . (und) weder die Prüfung der fachlichen Eignung der Bieter . . . noch die Zuschlagskriterien betreffen“ dürfen.25 Eine Erklärung, die die abgeschlossenen Produktions- und Handelsprozesse einer Lagerware zum Gegenstand hat, beinhaltet jedoch eine Eigenschaft der Ware selbst. Regelungstechnisch handelt es sich bei den zusätzlichen Bedingungen für die Auftragsausführung um Vertragsbedingungen. Sofern in der Auftragsbekanntmachung bzw. den Verdingungsunterlagen auf den Inhalt der Vertragsbedingung und die Notwendigkeit, sich zu deren Einhaltung zu verpflichten, hingewiesen wird, kann vom Bieter verlangt werden, sich vor Zuschlagserteilung dazu zu verpflichten, die Vertragsbedingung zu akzeptieren. Unterlässt der Bieter die Abgabe einer solchen Erklärung, so greift der Ausschlussgrund des § 25 Nr. 1 Abs. 2 lit. a VOL/A ein, wobei das Ausschlussermessen wegen des Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz auf Null reduziert ist.26 III. Primäres Gemeinschaftsrecht Die Anforderungen des im EG-Vertrag geregelten primären Gemeinschaftsrechts gelten für das Handeln der Mitgliedstaaten unabhängig davon, ob es sich um eine Vergabe oberhalb oder unterhalb der Schwellenwerte oder z. B. in der Form einer Dienstleistungskonzession handelt. Die einschlägigen Vorschriften vor allem über die Warenverkehrs- (Art. 23 ff. EGVertrag – für Lieferaufträge) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGVertrag – für Leistungsaufträge) verbieten sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit. Unmittelbare Diskriminierungen werden bei der Vergabe öffentlicher Aufträge selten sein. Verboten sind jedoch auch mittelbare Diskriminierungen, die durch Anlegung anderer Unterscheidungsmerkmale faktisch zu 25
Interpretierende Mitteilung (Anm. 14), Nr. 1.6. A. van den Eikel, Die zulässige Implementierung „vergabefremder“ Kriterien im europäischen Vergaberecht, Hamburg 2006, S. 307. 26
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dem gleichen Ergebnis führen.27 Typische mittelbare Diskriminierung, bei der die betreffenden Bedingungen zwar auch von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten erfüllt werden können, jedoch nur unter größeren Schwierigkeiten als von den einheimischen Bietern,28 ist beispielsweise die Bezugnahme auf Klassifizierungen nationaler Berufsverbände für von den Bietern geforderte technische Spezifikationen, da es für die Bieter aus anderen Mitgliedstaaten schwerer ist, innerhalb der kurzen Frist Gebote abzugeben, weil sie sich bei den betreffenden öffentlichen Auftraggebern zunächst über Gegenstand und Inhalt der Klassifizierungen informieren müssen.29 Für die primärrechtliche Bewertung der Einführung sozialer Zielsetzungen in Vergabeverfahren ist weiter zu beachten, dass die Grundfreiheiten nicht nur unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch unterschiedslos in- und ausländische Bieter betreffende Maßnahmen verbieten. Voraussetzung ist, dass diese Maßnahmen den Handel bzw. die Erbringung von Dienstleistungen behindern und nicht aus zwingenden Erfordernissen zu rechtfertigen sind.30 1. Tariftreue Primärrechtlicher Prüfungsmaßstab für Tariftreueerklärungen ist die Dienstleistungsfreiheit. Auch arbeitsmarkt- und sozialpolitisch intendierte Zwecksetzungen müssen diskriminierungs- und beschränkungsfrei ausgestaltet sein. Eine Tariftreueerklärung, die ohne weitere Spezifizierung zur Einhaltung der am Ort der Auftragsausführung geltenden Tarifverträge verpflichtet – auf diese gleichsam dynamisch verweist – wirkt beschränkend.31 Es bedeutet für Bieter aus anderen Mitgliedstaaten eine Erschwerung gegenüber ihren deutschen Konkurrenten, sich mit den Einzelheiten des deut27 Zur Unterscheidung unmittelbare/mittelbare Diskriminierung vgl. nur EuGH, Slg. 1980, S. 3427 Rdnr. 9; 1989, S. 4035 Rdnr. 8; 1992, S. I-3401 Rdnr. 11. 28 Zu diesem Begriff der mittelbaren Diskriminierung im Vergaberecht vgl. EuGH, Slg. 1988, S. 4635 Rdnr. 30; 2000, S. I-7445 Rdnr. 81 f. 29 EuGH, Slg. 2000, S. I-7445 Rdnr. 81 ff. 30 EuGH, Slg. 1979, S. 649 Rdnr. 6 ff.; 1997, S. I-3689 Rdnr. 8; 1999, S. I-731 Rdnr. 19. 31 OLG Celle, in: VergabeR 2006, S. 756, 759; M. Böhm/C. Danker, Politische Zielvorgaben als Vergabekriterien, in: NVwZ 2000, S. 767 f.; J. Karenfort/U. von Koppenfels/S. Siebert, Tariftreueerklärungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge – vereinbar mit deutschem Kartellrecht und Europarecht?, in: BB 1999, S. 1825, 1831 f.; M. Kling, Tariftreue und Dienstleistungsfreiheit, in: EuZW 2002, S. 229, 232 ff.; F. Marx, Vergabefremde Aspekte im Lichte des europäischen und des deutschen Rechts, in: J. Schwarze (Hrsg.), Die Vergabe öffentlicher Aufträge im Lichte des europäischen Wirtschaftsrechts, Baden-Baden 2000, S. 77, 86.
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schen Tarifvertragssystems vertraut machen zu müssen. Dies gilt insbesondere bei größeren Aufträgen, bei denen u. U. verschiedene Tarifverträge einschlägig sind. Insoweit ist das Schreiben der Kommission an die Bundesregierung vom 14.12.2004 zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des nordrhein-westfälischen Tariftreuegesetzes nicht misszuverstehen. Allerdings lässt sich diese Hürde durch eine entsprechende Ausgestaltung der Vergabeunterlagen durchaus überwinden. Am sichersten wäre es, die für die an der Auftragsausführung voraussichtlich beteiligten Branchen geltenden Tariflöhne in den Vergabeunterlagen explizit zu benennen. Sofern die benötigten Informationen dadurch für ausländische Bieter hinreichend genau und zugänglich sind, mag es auch genügen, die in Betracht kommenden Tarifverträge den Vergabeunterlagen anzuhängen. In diesem Fall würde es bereits an einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit fehlen, so dass es auf die Frage einer Rechtfertigung der Beschränkung nicht mehr ankäme. Das OLG Celle ist in seinem Vorlagebeschluss zum Europäischen Gerichtshof jedoch einen anderen Weg gegangen. Es hat nämlich darauf abgestellt, dass die Tariftreueerklärung zum Verlust eventueller Wettbewerbsvorteile von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten führe. Dadurch, dass sie sich bei der Ausführung des Auftrags dem höheren Lohnniveau in Deutschland anpassen müssten, könnten sie nicht mehr von niedrigeren Lohnkosten in ihrem Heimatland profitieren.32 Dem wird man kaum widersprechen können. Der Vergleich mit der – zulässigen – Verpflichtung auf die Zahlung gesetzlich vorgesehener Mindestlöhne33 verfängt nicht, weil Tariflöhne nicht auf die soziale Grundsicherung der Arbeitnehmer reduziert sind, sondern einer freien Vereinbarung der Koalitionen entspringen, die seitens der Arbeitnehmerseite auf eine weitestmögliche Optimierung ihrer Einkommenssituation gerichtet sind.34 Im Kern geht es daher bei der Forderung der Tariftreue nicht um den sozialen Schutz der Arbeitnehmer, sondern um den Schutz der Konkurrenzfähigkeit einheimischer Unternehmen.35 Dieser Gedankengang führt dann dazu, dass es auf die Rechtfertigungsfähigkeit dieser Beschränkung ankommt. Diese Frage ist höchst umstritten und kann nicht anders als im Ergebnis offen bezeichnet werden. Dass der Gedanke des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer durch Mindestlöhne hier 32
OLG Celle, in: VergabeR 2006, S. 756, 759. Zur Vereinbarkeit der Festlegung von Mindestlöhnen mit den Grundfreiheiten vgl. EuGH, Slg. 1999, S. I-8453 Rdnr. 41 f. 34 Vgl. nur H. Arnold, Die Europarechtliche Dimension der Konstitutiven Tariftreueerklärungen im deutschen Vergaberecht, Frankfurt a. M./Berlin/Bern u. a. 2004, S. 124. 35 OLG Celle, VergabeR 2006, S. 756, 759; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 3: Beihilfe- und Vergaberecht, Berlin/Heidelberg/New York 2007, Rdnr. 3014. 33
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nicht so passt, ist bereits ausgeführt worden. In einer neueren Arbeit ist vorgetragen worden, auf die Frage des sozialen Arbeitnehmerschutzes komme es überhaupt nicht an, weil jedenfalls die Verhinderung von Störungen auf dem Arbeitsmarkt und die Verhinderung eines unlauteren Wettbewerbs zwingende Gründe des Allgemeininteresses seien.36 Wird man der Qualifizierung der genannten Gesichtspunkte als zwingende Gründe grundsätzlich zustimmen können, so lässt sich daraus gleichwohl keine Rechtfertigung der Tariftreueverpflichtung ableiten. Dass ein Unternehmer aus einem anderen Mitgliedstaat bei der Ausführung eines Auftrags in Deutschland genau soviel zahlt wie sonst auch, nämlich bei Aufträgen in seinem Heimatland, ist wohl kaum unlauter. Unlauter ist es wohl eher, ausländischen Unternehmen, die ihre normale Kostenstruktur zu Grunde legen, den Zutritt zum deutschen Markt zu erschweren. Auch der Gesichtspunkt der Verhinderung von Arbeitsmarktstörungen verfängt wohl kaum. Denn mit dem gleichen Recht könnten die Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten darauf verweisen, dass die Verpflichtung, deutsche Tariflöhne zu zahlen, ihre Rentabilität gefährde und sie dadurch zu Entlassungen zwinge.37 Genau dieses Ausspielen des einen nationalen Marktes gegen den anderen soll das Binnenmarktkonzept gerade verhindern. Die These, dass der Schutz eines nationalen Tarifvertragssystems einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der eine solche Beschränkung zu rechtfertigen vermag, findet sich kaum noch. Zu Recht wird ihr ganz überwiegend widersprochen.38 Der Gesichtspunkt, dass ein nationales Regelungssystem funktioniert, ist gemeinschaftsrechtlich schlicht bedeutungslos. Relevant sind vielmehr die mit diesem Regelungssystem verfolgten Ziele und die dadurch erzielten gemeinschaftsrechtlich relevanten Wirkungen. Soweit der Zweck von Tarifverträgen darin besteht, dass die Tarifparteien in Ausübung ihrer Tarifautonomie in Aushandlungsprozessen ihre jeweiligen Interessen optimieren, ist dieses Ziel sicherlich kein zwingendes Allgemeininteresse, wenn es zu Lasten ausländischer Unternehmen und Arbeitnehmer geht, die ggf. einen solchen Aushandlungsprozess mit anderem Ergebnis als in Deutschland durchlaufen haben. Allerdings sind die Tariflöhne zwar keine Mindestlöhne im Sinne einer sozialen Grundsicherung, nehmen jedoch dieses Element – schon historisch – mit auf. Gleichwohl hilft es insoweit nicht weiter, die Tariflohnverpflichtung in einer sozu36 So V. Dobmann, Perspektiven für die Tariftreuegesetze nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: VergabeR 2007, S. 167, 174. 37 Vgl. Arnold, Die Europarechtliche Dimension (Anm. 34), S. 121; Frenz, Handbuch Europarecht (Anm. 35), Rdnr. 3014. 38 Siehe nur van den Eikel, Die zulässige Implementierung (Anm. 26), S. 459; J. A. Kämmerer/G. Thüsing, Tariftreue im Vergaberecht, in: ZIP 2002, S. 596, 597.
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sagen „abgespeckten“ Version, nämlich in ihrem Mindestlohngehalt, anzuwenden. Denn dann geht es nicht mehr um Tariflöhne, sondern um Mindestlöhne. Gemeinschaftsrechtlich dürften Tariftreueverpflichtungen daher nur schwer haltbar sein.39 2. Ausschluss ausbeuterischer Kinderarbeit Ohne dem an dieser Stelle im Einzelnen nachgehen zu können, wird man davon ausgehen müssen, dass die vom öffentlichen Auftraggeber an den Bieter gestellte Anforderung, bei Lieferaufträgen die Herkunft der Ware aus kinderarbeitsfreien Produktions- und Handelsprozessen durch unabhängige Zertifizierungen nachzuweisen oder zumindest zu versichern, potentiell handelsbehindernd wirken kann. Vor allem in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Importeure von Art. 23 II, 24 EG-Vertrag unterfallenden Waren aus Drittstaaten können wegen der Schwierigkeit, die Bedingungen, unter denen eine Zertifizierung erfolgen kann, oder die Umstände, unter denen die Ware produziert oder gehandelt worden ist, während des laufenden Vergabeverfahrens in Erfahrung bringen zu müssen, davon abgehalten werden, sich an der Ausschreibung zu beteiligen. Allerdings sind mittelbare Diskriminierungen und unterschiedslos wirkende Beschränkungen über Art. 30 EG-Vertrag hinaus auch dann gerechtfertigt, wenn – neben anderen, vorliegend erfüllten Voraussetzungen – die Maßnahme zwingenden Gründen des Allgemeininteresses dient.40 Der Kreis solcher zwingenden Gründe ist nicht abschließend festgelegt. Der Schutz der Grundrechte ist nach Art. 6 II EUV-Vertrag auch Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung und stellt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung der Grundfreiheiten zu rechtfertigen.41 Insoweit kann auf den, das Verbot der Kinderarbeit betreffenden Art. 32 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die zwar noch nicht in Kraft getreten ist, doch als Indikator für die Ermittlung von Gründen des Allgemeininteresses herangezogen werden kann, rekurriert werden. Da die Verpflichtung des Bieters auf die Beachtung des Verbots ausbeuterischer Kinderarbeit auch nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, ist die Beschränkung der Freiheit des Warenverkehrs aus Gründen des zwingenden Allgemeininteresses gerechtfertigt. 39 Zur Verfassungsmäßigkeit von Tariftreueregelungen BVerfG, NJW 2007, S. 51 ff.; dazu T. Tietje, Die Verfassungsmäßigkeit eines Tariftreueverlangens bei Bauauftragsvergabe, in: NZBau 2007, S. 23 ff. 40 EuGH, Slg. 1995, S. I-4165 Rdnr. 37; 1997, S. I-2471 Rdnr. 26, 31; NZBau 2006, S. 386 Rdnr. 45. 41 EuGH, Slg. 2003, S. I-5659 Rdnr. 74.
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IV. Schlussbetrachtung Das Gemeinschaftsrecht setzt der Einbeziehung sozialer Aspekte in Vergabeverfahren deutliche Grenzen. Fasst man die Möglichkeiten für Vergaben oberhalb der Schwellenwerte zusammen, so ergibt sich Folgendes: 1. Über die Leistungsbeschreibung können soziale Kriterien nur insoweit eingebracht werden, wie sie sich auf die Nutzbarkeit der Leistung für bestimmte soziale Gruppen, z. B. Behinderte, beziehen. Die organisatorischen und sozialen Bedingungen der Leistungserstellung sind hier nicht berücksichtigungsfähig. Entsprechendes gilt für die Zuschlagskriterien. 2. Hinsichtlich der bieterbezogenen Kriterien kann für besonders gelagerte Fälle mit dem Ausschlussgrund der schweren beruflichen Verfehlung und für „Wiederholungstäter“ mit der fehlenden Zuverlässigkeit operiert werden. Weitergehende Einbeziehungsspielräume ergeben sich hier nicht. 3. Von den beschriebenen Ausnahmen abgesehen, sollen soziale Aspekte nach der Systematik der Vergabekoordinierungsrichtlinie, in erster Linie als zusätzliche Bedingungen für die Auftragsausführung, berücksichtigt werden. Bei Beachtung des Transparenzgrundsatzes kann vom Bieter verlangt werden, sich vor Zuschlagserteilung auf die Beachtung dieser Vertragsbedingungen – allerdings nur in der Phase der unmittelbaren Auftragsausführung – zu verpflichten. Das Haupteinsatzfeld dieser zusätzlichen Bedingungen liegt bei den Bau- und Dienstleistungsaufträgen, weil hier die Auftragsausführung die gesamte Leistungserstellung erfasst. Hier kann Vertragsbedingung z. B. sein, Langzeitarbeitslose zu beschäftigen, Tariflöhne zu zahlen etc., soweit primäres Gemeinschaftsrecht nicht entgegensteht. An die allgemeine Organisation des Unternehmens oder an die Beschäftigungsbedingungen außerhalb der Ausführung des konkreten Auftrags gerichtete Anforderungen wie die Vorlage von Familien- oder Frauenförderplänen sind auch als zusätzliche Bedingungen unzulässig. Bei Lieferaufträgen kann der Prozess der Herstellung der Ware dann einbezogen werden, wenn sich der Auftrag auf die Lieferung erst noch herzustellender Waren beschränkt. Für eine solche Beschränkung bedarf es allerdings einer besonderen Rechtfertigung. Ohne eine solche Beschränkung kann sich die Ausführungsbedingung nur noch auf die Lieferung, nicht aber mehr die Produktion der bereits hergestellten Ware beziehen. Dies ist z. B. zu beachten, wenn Produkte, die unter Einsatz ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt wurden, ausgeschlossen werden sollen. 4. Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, hier einschlägig in erster Linie die Freiheit des Warenverkehrs und die Dienstleistungsfreiheit, verbieten
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alle Beschränkungen, die nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses zu rechtfertigen sind. Verpflichtungen zum Ausschluss von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit wirken zwar beschränkend, sind aber ohne weiteres zu rechtfertigen. Für die Tariftreueverpflichtung muss man das wohl anders sehen. Anders als für Mindestlöhne besteht hier keine Rechtfertigungsmöglichkeit. Das Beispiel des Vergaberechts zeigt, dass der Vorrang des Wettbewerbsziels vor der Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte auf europäischer Ebene nicht allein auf dem besonderen vergaberechtlichen Regelungsregime beruht. Bereits der EG-Vertrag setzt der Implementation sozialer Gesichtspunkte enge Grenzen, insbesondere dann, wenn es um den Schutz nationaler Sozialstandards geht.
Bezugsquellen und Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts Jacques Ziller Der europäische Verwaltungsraum, dem Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Siedentopf einen so großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit gewidmet hat, wird gänzlich und unmittelbar vom Gedanken der Rechtsstaatlichkeit getragen und eben dieser Gedanke wirkt seit den Gründungsjahren der Europäischen Gemeinschaften auch in der Gestalt des europäischen Verwaltungsrechts weiter. Die europäische verwaltungsrechtliche Literatur, die lange in bedeutendem Umfang von der deutschen Staatsrechtslehre geprägt worden ist1, heutzutage aber auch von der italienisch-2, englisch-3 und französischsprachigen4 Lehre weiterentwickelt wird – wie es bei der Herausbildung einer gemeinschafts- und unionsrechtlichen Dogmatik unentbehrlich sein sollte –, steht sowohl im Zeichen der quantitativen Ausdehnung als auch der qualitativen Verdichtung. Trotzdem versetzt es den sachverständigen europäischen Rechtslehrer immer wieder in Erstaunen, wie viele Missverständnisse es in allen Unionsmitgliedstaaten – in den neuesten wie den ältesten – seitens eines großen Teils der nationalen Verwaltungsrechtslehre und Verwaltungspraxis gegenüber den grundsätzlichen Konzepten und neuesten Entwicklungen des europäischen Verwaltungsrechts gibt. Die Struktur des europäischen Verwaltungsgefüges, d.h. des rechtlichen Unterbaus des europäischen Verwaltungsraumes, beruht bekanntlich darauf, 1
Vgl. vor allem J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. erweiterte Auflage, 2005; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999; E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005. 2 Vgl. vor allem M. P. Chiti u. G. Greco (Hrsg.), Trattato di diritto amministrativo europeo, 2. erweiterte Auflage, 2007; M. P. Chiti, Diritto amministrativo europeo, 2. Auflage, 2004. 3 Vgl. C. Harlow, Accountability in the European Union, 2001; P. Birkinshaw, European Public Law, 2004; J. Ziller (Hrsg.), Quoi de neuf en droit administratif européen – What’s new in European Administrative Law?, 2004; P. Craig, European Administrative Law, 2006. 4 Vgl. Ziller, Quoi de neuf (Anm. 3); J. Ziller, L’autorité administrative dans l’Union européenne, in: L. Burgorgue-Larsen u. L. Azoulay (Hrsg.), l’autorité de l’Union européenne, 2006, S. 119; J. M. Auby/C. Dutheil de la Rochère (Hrsg.), Droit administratif européen, 2007.
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dass der Vollzug des Gemeinschafts- und Unionsrechts sowohl von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union als auch von den Organen, Einrichtungen und Stellen der Mitgliedstaaten getragen wird, und dass letztere im Zuge dieser Tätigkeit sowohl das mitgliedstaatliche Rechtsgefüge, dem sie untergeordnet sind, als auch die europäische Rechtsstruktur beachten sollten. Missverständnisse dahingehend führen nicht nur zu Klagen, die möglicherweise eine unerfreuliche Verurteilung des jeweiligen Staates mit sich bringen können, sondern es sind eben diese Missverständnisse, die auch die alltäglichen Störungen in der europäischen Verwaltungsaktivität herbeiführen, welche wiederum teilweise zu einer Entfremdung des europäischen Bürgers von der Europäischen Union beitragen. Vor allem in denjenigen Mitgliedstaaten, in denen die Verwaltung im Großen und Ganzen trotz der herkömmlichen, die Bürokratie betreffenden Klagen generell einen guten Ruf genießt, kann das kritische Urteil zu „Europa“, das eben auf solchen Missverständnissen beruht, diese Entfremdung nur weiter fördern. Ziel des vorliegenden Aufsatzes5 ist es, dazu beizutragen, jene Besonderheiten der Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts zu identifizieren, die es manchmal so schwierig machen, das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht aus nationaler Sicht zu erfassen, da sie größtenteils den mitgliedstaatlichen Rechtsprinzipien und Strukturen fremd sind. Diese Grundlagen bestehen fort, auch wenn sie seit dem Maastrichter Vertrag einem bedeutenden Wandel unterworfen sind, der mit dem Begriff der europäischen Unionsbürgerschaft in Verbindung steht. I. Funktionalismus und Vollzugsföderalismus als Bezugsquellen des europäischen Verwaltungsrechts Genau wie die europäische Integration sich auf der Basis der Gemeinschafts- und Unionsverträge entwickelt hat, so stützt sich auch das europäische Verwaltungsrecht seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts grundsätzlich auf zwei konkurrierende, aber dennoch unterschiedliche Bezugsquellen: Funktionalismus und Föderalismus. Unter dem Begriff des Funktionalismus sollte man nicht so sehr die politikwissenschaftliche Theorie verstehen, dessen Hauptvertreter Ernst B. Haas ist und bei der es sich ja eigentlich um den sog. Neo-Funktionalismus6 han5
Die Grundgedanken dieses Aufsatzes wurden zuerst in französischer Sprache verfasst. Vgl. J. Ziller, „Les concepts d’administration directe, d’administration indirecte et de co-administration et les fondements du droit administratif européen“, in: Auby/Dutheil de la Rochère (Anm. 4). 6 E. B. Haas, The Uniting of Europe, 1958; ders., Beyond the Nation-state: Functionalism and International Organization, 1964.
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delt, sondern eher die Methode Jean Monnets, die so treffend in der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 festgehalten wurde: „L’Europe ne se fera pas d’un coup et dans une construction d’ensemble: elle se fera par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait“7.
Dieser pragmatische Funktionalismus erklärt den größten Teil der Merkmale, die man in der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gefunden hat und auch später zum Teil in der Europäischen Kommission wiederfindet und die eben typische Merkmale einer sog. Regulierungsagentur sind. Deren Befugnisse kann man mit den gleichen Begriffen analysieren, die für die Bundesagenturen der Vereinigten Staaten entwickelt worden sind (ganz unabhängig davon, ob die letzteren dem Präsidenten bzw. dem Kongress gegenüber autonom sind oder nicht). Die amerikanischen „Agenturen“ (Agencies, d.h. im Grunde genommen „Verwaltungen“) verfügen grundsätzlich über eine Reihe von Regulierungsinstrumenten, die ihnen eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, sowohl, was die Normsetzung (rule-making), die Einzelentscheidungen (adjudication) betrifft als auch ihre Kontrollfunktion (monitoring)8. Der Vergleich mit dem US-Modell ist umso relevanter im Hinblick auf die Tatsache, dass Jean Monnets Kontakte zu hohen amerikanischen Beamten – und dies schon seit dem Ersten Weltkrieg – ohne Zweifel seine Ansichten in Sachen Organgestaltung und Politikvollzug beeinflusst haben, wie es ja auch in seinen Memoiren9 so deutlich zum Vorschein kommt. Die Rolle der französischen Juristen in der Ausgestaltung der Gemeinschaftsverträge erklärt dann auch den besonderen Einfluss des französischen Verwaltungsrechts in deren Gründungsjahren, insbesondere was die gerichtliche Kontrollfunktion betrifft – man denke dabei etwa an Paul Reuter, Professor an der Rechtsfakultät von Aix-en-Provence und später auch an der Pariser Rechtswisenschaftlichen Fakultät, der die Architektur der EGKS-Organe entworfen hat, und an das Mitglied des französischen Staatsrates Maurice Lagrange, später Generalanwalt am EuGH, der die Klauseln des Vertrages über gerichtliche Kontrolle verfasst hat, oder auch an Georges Vedel, Professor an der Pariser Rechtsfakultät, der die französische Delegation bei den Verhandlungen zum EWG-Vertrag beraten hat. Das Gemeinschaftsrecht hat sich aber immer mehr als ein Rechtssystem sui generis entwickelt, in dem jedoch die Rechtskonzepte des deutschen, französischen und italie7 Europa wird nicht auf einmal in einer Gesamtkonstruktion entstehen: Es wird durch konkrete Leistungen, die zunächst eine Solidarität der Tatsachen bilden werden, gestaltet (Übersetzung des Verfassers). 8 P. Strauss, Administrative Justice in the United States, 2. Auflage, 2002. 9 Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, 1976.
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nischen Staatsrechts weiterhin grundlegend bleiben. Ein amerikanischer Einfluss ist heutzutage auch wieder spürbar, nämlich in der volkswirtschaftlichen Analyse, die der Gesetzgebung sowie dem Vollzug in Sachen Netzwerkindustrien als Grundlage dient, und er findet sich auch in einer Mehrzahl von Begriffen aus dem Wettbewerbsrecht wieder. Was die Vollzugsbefugnisse der Europäischen Kommission betrifft, muss man jedoch betonen, dass amerikanische Einflüsse schon seit dem EGKS-Vertrag sichtbar sind, und dass die Vollzugsbefugnisse eine direkte Folge des Funktionalismus Jean Monnets und seiner Mitarbeiter waren. Deswegen sind diese Befugnisse meist im Sinne der klassischen verwaltungsrechtlichen Analyse in Europa schwer einzuordnen, und dies sowohl aus französischer oder italienischer wie auch aus deutscher Sicht, aber auch aus der Perspektive des Verwaltungsrechts der einzelnen Beitrittstaaten seit 1973 – Großbritannien eingeschlossen10. Neben dem Funktionalismus ist der Föderalismus eine der beiden wichtigsten Bezugsquellen der europäischen Integration – man denke dabei etwa an Altiero Spinelli, ehemaliger EG-Kommissar und der Vater des Entwurfs eines Europäischen Unionsvertrages, welcher dann schließlich 1984 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde. Außerhalb des Kreises der sog. europäischen Föderalisten hatte der bundesstaatliche Gedanke einen besonders großen Einfluss, nämlich einfach aufgrund der Tatsache, dass die deutsche Erfahrung europaweit die einzige lang andauernde Erfahrung mit dem Föderalismus ist, auf die wir unter den Systemen aller Mitgliedstaaten zurückgreifen können. Besonderes Merkmal des deutschen Föderalismus ist seit der Paulskirchenverfassung von 1848 bekanntlich der Vollzugsföderalismus, der sich vom amerikanischen Föderalismus in besonderer Weise unterscheidet, da in den USA jede Ebene – Staats- wie Bundesebene – grundsätzlich selbst für den Vollzug der eigenen Gesetzgebung sorgt. Das Bestehen zweier großer Staaten mit jeweils einer entwickelten Verwaltungstradition innerhalb des Deutschen Reiches – Preußen und Bayern – und die Bevölkerungsentwicklung und Rolle Preußens sowohl in der Politik als auch der Wirtschaft haben letztendlich dazu geführt, dass der deutsche Föderalismus sich mit einer relativ bescheidenen Bundes- bzw. Reichsverwaltung entwickelt hat und dass der Vollzug der Bundesgesetze grundsätzlich eine Angelegenheit der Bundesstaaten geblieben ist. Wie östlich des Rheins gut bekannt ist, aber in anderen Teilen Europas meist völlig ignoriert wird, hat die Auflösung Preußens 1945 nicht zu einer 10 Das besonders gute Verständnis eines Paul Craig (siehe Anm. 3) für das europäische Verwaltungsrecht hat meines Erachtens viel damit zu tun, dass er nicht nur in Oxford Gemeinschaftsrecht und englisches Verwaltungsrecht unterrichtet, sondern auch in den Vereinigten Staaten (bundes-)amerikanisches Verwaltungsrecht lehrt.
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Übergabe von Verwaltungsstrukturen und Aufgaben an den 1949 gegründeten neuen Bund geführt. Das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik hat den Grundsatz der mittelbaren Verwaltung wieder aufgenommen, anhand dessen die Durchführung der Bundesgesetzgebung durch die Länder die Regel ist und die bundeseigene Verwaltung nur ausnahmsweise besteht. Es ist deswegen nicht erstaunlich, dass deutsche Staatsrechtslehrer sowie Beamte und Politiker mit Konzepten wie denen der mittelbaren, unmittelbaren, und konkurrierenden Verwaltung eher vertraut sind als ihre Kollegen in anderen Mitgliedstaaten. Man sollte jedoch nicht voreilig Analogien zwischen dem bundesdeutschen Verwaltungsgefüge bzw. Verwaltungsrecht und dem der Europäischen Union ziehen, wie sich beispielsweise an dem Unbehagen zeigt, das die Anwendung von Begriffen wie „Verwaltungsverbund“ auf EU-Ebene hervorruft. Das Entbehren der Staatlichkeit seitens der Gemeinschaften und der Union führt dazu, dass die Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts notwendigerweise eben nicht die gleichen sein können wie die der Verwaltungsrechtssysteme ihrer Mitgliedsstaaten. Eine große Rolle spielt dabei die Tatsache, dass das Verwaltungsrecht – wie heutzutage in den meisten Rechtssystemen – im europäischen Verfassungsrecht, d.h. in den Verträgen, verankert wird. So auch in Deutschland oder Frankreich, wo die Staatsrechtler über lange Zeit hinweg die Autonomie des Verwaltungs- gegenüber dem Verfassungsrecht in besonders starker Weise betont haben. Man muss stets beachten, dass in Bereichen, wo Staaten grundsätzlich eine allgemeine Zuständigkeit genießen, die Gemeinschaften und die Union bislang dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung unterlagen und auf absehbare Zeit unterliegen werden. Wer dies bezweifelt, sollte sich die Vielzahl der Wiederholungen dieses Grundsatzes im Text des Lissaboner Vertrages und der angehängten Erklärungen lesen, die insbesondere unter dem Druck der britischen, niederländischen und tschechischen Regierungen in den EU-Ratssitzungen vom Juli und Oktober 2007 aufgenommen worden sind. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gilt zwar größtenteils auch für das Handeln staatlicher Einrichtungen, dies jedoch im Rahmen einer allgemeinen Zuständigkeit des Staates. Im Falle Europas gibt es eben keine solche allgemeine Zuständigkeit, sondern es gilt sowohl für die Organe und Einrichtungen als auch für die Gemeinschaften und die Union selbst der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Nach dem jetzigen Wortlaut der Verträge, der ja mindestens bis zum 1. Januar 2009 gelten wird, verfügen die Gemeinschaften und die Union nicht einmal über „Zuständigkeiten“ im üblichen staatsrechtlichen Sinne. Vielmehr setzen die Verträge für die Gemeinschaften und die Union „Aufgaben“ fest (Art. 2
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EG-Vertrag), die diese durch „Tätigkeiten“ (Art. 3) umsetzen. Im Lissaboner Vertrag wird der Begriff der „Zuständigkeit“, der in Teil I Titel II des Verfassungsvertrages von 2004 verwandt wurde, zwar übernommen; aber die Begriffe „Aufgabe“ und „Tätigkeit“ bleiben fortbestehen, wie es auch im Verfassungsvertrag der Fall war. Unter Berücksichtigung der herkömmlichen völkerrechtlichen Terminologie lässt sich zusammenfassend sagen: EG- und EU-Zuständigkeiten sind nicht Gebietszuständigkeiten, sondern sie sind Funktionszuständigkeiten. Diese Funktionszuständigkeiten beziehen sich auf eine begrenzte Reihe von Politikfeldern und können nur anhand der präzisen Rechtsgrundlagen der Verträge ausgeübt werden. Im Gemeinschafts- und Unionsrecht legen die Rechtsgrundlagen für jede Tätigkeit die Reichweite der Sachkompetenz, die anzuwendenden Instrumente und das Verfahren fest, welches für deren Annahme gilt. Meist kommen dazu noch besondere sektorielle Aufgaben, die den Ermessensspielraum bei der Ausübung dieser Tätigkeiten begrenzen. Daraus folgt, dass die Quellen sowie das Ausmaß der Ermessensschranken im Europäischen Verwaltungsrecht nicht die gleichen wie im staatlichen Verwaltungsrecht sein können. In diesem Sinne hat der Gedanke des Funktionalismus – der ja dem Staatsdenken fremd ist – eine direkte Auswirkung auf die Gestaltung des europäischen Verwaltungsrechts, die sich zum Teil auch in dessen Grundlagen widerspiegelt.
II. Objektive, funktionelle und subjektive Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts Bei der Betrachtung des europäischen Verwaltungsrechts und insbesondere dessen Ausgestaltung durch die Rechtsprechung treten meines Erachtens vor allem zwei Kategorien von Grundlagen dieses Rechtssystems in den Vordergrund. Diese sind seit Beginn der Entwicklung des europäischen Verwaltungsrechts, d.h. seit den Entscheidungen des EuGH vom 12. Juli 1957, Algera (Rs. 7/56, EuGHE 1957, S. 81) und vom 13. Juni 1958, Meroni c. Haute Autorité (Rs. 9/56 et 10/56 EuGHE 1958, S. 11) zu beobachten. Schon zur Zeit der EGKS, in deren Rahmen diese Rechtsprechung entstanden ist, hatte das europäische Verwaltungsrecht einerseits eine Grundlage objektiver Art – nämlich den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts – und andererseits eine Grundlage funktioneller Art, nämlich den Grundsatz des freien Warenverkehrs (einer besonders ausgewählten Anzahl von rohen und halbfertigen Produkten im Falle der EGKS).
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Mit dem EWG-Vertrag hat sich die Logik der Zuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane nicht geändert, und demgemäß ist auch der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts bis zur Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahre 1979 unberührt geblieben. Der Berücksichtigung des Parlaments im Gleichgewicht der Organe kam danach noch mehr Bedeutung zu, doch blieb der Grundsatz im Großen und Ganzen der gleiche. Die Gebiete der Gemeinschaftszuständigkeiten wurden im Vergleich zum EGKS-Vertrag bereits mit den Römischen Verträgen erheblich erweitert, mit dem Ziel der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes, der alle Produkte (Waren und Dienstleistungen) sowie alle Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) umfasst, und dazu auch noch Aufgaben der Agrar- und Verkehrspolitik mit einbezieht. Die Natur der Tätigkeiten und Aufgaben, die im EWG-Vertrag festgelegt wurden, wies den Mitgliedstaaten in erster Linie eine Rolle beim Vollzug zu im Sinne einer Gemeinschaftsverwaltung. Die funktionellen Grundlagen des gemeinschaftlichen Verwaltungsrechts änderten sich hingegen nicht – sie wurden lediglich ergänzt. Die funktionellen Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts finden sich in den vier sogenannten Grundfreiheiten (Freiheit des Warenverkehrs, der Dienstleistungen, der Personen und des Kapitals) – die auch den Grundsatz des Verbots jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit umfassen. Die Effektivität dieser Grundlagen hängt von deren Anwendung durch die Organe, Einrichtungen und Stellen der Mitgliedstaaten ab. Dem EuGH wird dabei die Rolle zuteil, dies im Zuge von Vorabentscheidungs- und Vertragsverletzungsverfahren zu überwachen. Auch die Grundlagen objektiver Art wurden im Laufe der Jahre ergänzt. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts wurde durch das Prinzip der verfahrens- und prozessrechtlichen Autonomie ergänzt. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Verfahrensautonomie notwendigerweise zwei Gesichter hat: Zum einen zeichnet sie sich wie das Ermessen im staatlichen Verwaltungsrecht durch eine freie Wahl der Mittel seitens der nationalen Verwaltungen oder Gericht aus, zum anderen wird sie durch eine Reihe von Kriterien begrenzt, die die Rechtsprechung zu ihrer Kontrolle entwickelt hat. Eine dritte Kategorie von Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts wurde erst später von der Rechtsprechung geschaffen, die letzten Endes zu einer Kodifizierung mit Verfassungsrang geführt hat. Es handelt sich dabei um eine subjektive, mit der Person verbundenen Grundlage, nämlich die der Wahrung der Grundrechte. Die Grundrechte wurden im Gemeinschaftsrecht bekanntlich vom EuGH anerkannt, bevor sie im EU-Vertrag erwähnt wurden. Die Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 hat diese dann kodifiziert. Artikel 6 des EU-Vertrages in der künftigen Fassung des Lissa-
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bonner Vertrages etabliert, dass die EU-Grundrechtecharta den gleichen Wert wie die Verträge selbst hat, und verweist auf die sog. „Erklärungen“ der Charta, die die Quellen der darin kodifizierten Grundrechte erläutern. Damit hat der Gedanke des Föderalismus, der schon der Direktwahl des Europäischen Parlaments zugrunde lag, sicher einen viel größeren Einfluss im Gemeinschafts- und Unionsrecht bekommen. Das europäische Verwaltungsrecht hat mithin heutzutage eine breitere Grundlage als vor fünfzig Jahren. Es handelt sich um eine dreidimensionale Grundlage anstatt der früheren zweidimensionalen, was für die Herstellung eines Gleichgewichts von Vorteil ist. Das Wichtige hierbei ist die Tatsache, dass die Grundrechte die funktionellen und objektiven Grundlagen ergänzen und mit dem Konzept der europäischen Unionsbürgerschaft, die im Maastrichter Vertrag verankert wurde, verbinden. Diese Wandlung der Grundlagen bedeutet aber nicht, dass das europäische Verwaltungsrecht seine Natur verändert hätte. Heutzutage stellen diese drei Arten von Grundlagen, die in den Verträgen ihre Wurzeln haben, die Leitprinzipien des Verwaltungsrechts dar und sind sowohl im Falle der unmittelbaren wie auch der mittelbaren Verwaltung – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – anwendbar. III. Die Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts und das europäische Verwaltungsgefüge Meines Erachtens ist es unentbehrlich, die Begriffe der unmittelbaren und der mittelbaren Verwaltung zu verwenden, um die Organisationsgrundsätze, die zur Ausübung der Funktionen der Union zur Verfügung stehenden Instrumente sowie die spezifische Art der Kontrolle zu verstehen, die diesen beiden Arten der Ausübung von europäischer Gesetzgebung und Politik entsprechen. Schematisch betrachtet besteht die unmittelbare Verwaltung in einem Handeln der Organe, der Einrichtungen und der sonstigen Stellen der Union. Als Hauptinstrumente werden bei Tätigkeiten in diesem Rahmen EG-Verordnungen und Entscheidungen herangezogen, letztere werden manchmal durch Verträge mit Privatpersonen ergänzt. Als finanzielle und generelle Basis stehen der Haushalt der Gemeinschaft und deren Beamte und Bedienstete zur Verfügung. Die Kontrolle wird erstens vom Gericht erster Instanz und vom EuGH anhand von auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle gerichteten Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen und von Vorabentscheidungen sowie anhand von Haftungsklagen gegen Gemeinschaftsorgane durchgeführt, zweitens vom Europäischen Rechnungshof, der dazu unmittelbare Befugnisse besitzt, und drittens vom Europäischen Bürgerbeauftragten.
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Demgegenüber wird die mittelbare Verwaltung von den Einrichtungen und Verwaltungsstellen der Mitgliedstaaten ausgeübt. Dazu werden nicht nur die in der jeweiligen Rechtsordnung des Mitgliedstaates zur Verfügung stehenden Rechtsinstrumente eingesetzt (Satzungen Verwaltungsakte, Verträge usw.), sondern auch die EG-Richtlinie, die EG-Verordnung und die EG-Entscheidung, wenn diese an einen Mitgliedstaat adressiert sind. Als finanzielle und generelle Basis stehen sowohl der Haushalt der Gemeinschaft als auch jener der Mitgliedstaaten sowie die Beamten und Bediensteten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten (unter deren interner Gliederung in Länder, Gebietskörperschaften, Anstalten des öffentlichen Rechts usw.) zur Verfügung. Die Kontrolle wird erstens von den Gerichten des Mitgliedstaates und dem EuGH ausgeübt; was Letzteren anbetrifft, so geschieht dies anhand von Klagen wegen Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht oder anhand von Vorabentscheidungen in Sachen gemeinschaftsrechtlicher Auslegung. Zweitens sind die Rechnungsprüfungseinrichtungen der Mitgliedstaaten zuständig sowie der Europäische Rechnungshof, dieser aber nur insofern als es sich um Mittel des EG-Haushaltes handelt. Der Europäische Bürgerbeauftragte ist hingegen nicht zuständig. Auch ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Mitgliedstaaten eine entsprechende Ombudsmann-Einrichtung besitzen. Während somit die unmittelbare Verwaltung vom EG-Recht bestimmt wird und nur in sehr geringem Maße vom jeweils geltenden nationalen Recht, nämlich für den Fall, dass die Verträge von Organen, Einrichtungen und Stellen der Union Lücken in Sachen anwendbares Recht beinhalten, ist die Rechtslage im Falle der mittelbaren Verwaltung viel komplizierter: Als Hauptquelle der anwendbaren Regeln und Grundsätze gilt das jeweilige staatliche Verwaltungsrecht, doch das Gemeinschaftsrecht spielt insoweit eine wichtige Rolle, als es zur Kontrolle der Einhaltung der vertragsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten vom EuGH und von der Kommission sowie von den Gerichten der Mitgliedstaaten angewandt wird. Es sei darauf hingewiesen, dass seit 2003 eine legislative Grundlage11 für die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Verwaltung der Gemeinschaft besteht, die zuvor nirgendwo in den Verträgen ausdrücklich zu Papier gebracht wurde. Artikel 53 der Verordnung EG/Euratom Nr. 1605/2002 des Rates vom 25 Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften12 bestimmt 11 Vgl. P. Craig, The Constitutionalization of Community Administration, Jean Monnet Working papers, 2003, http://www.jeanmonnetprogram.org/papers. 12 ABl. L 248 vom 16.9.2002, 2. 1, Berichtigung ABl. 30.1.2003, S. 43; geändert durch Verordnung Nr. 1995/ 2006 des Rates vom 13. Dezember, ABl. L 390, 30.12.2006, S. 1.
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nämlich die sog. „Arten des Haushaltsvollzuges“. Infolgedessen wird zwischen drei Arten des Haushaltsvollzuges unterschieden: i)
„zentrale Mittelverwaltung“, die entweder direkt durch die Organe der Union oder indirekt durch Exekutivagenturen oder durch die von den Gemeinschaften geschaffenen Einrichtungen vollzogen wird (s. Art. 54 der Verordnung);
ii) „geteilte oder dezentrale Verwaltung“, die sowohl durch die Organe und Stellen der Union wie die der Mitgliedstaaten vollzogen wird, und iii) „Gemeinsame Verwaltung mit internationalen Organisationen“. Der in der italienischen Fassung gebrauchte Fachausdruck für „geteilte Verwaltung“ ist „amministrazione concorrente“, also wörtlich „konkurrierende Verwaltung“, was meiner Meinung nach besonders einleuchtend ist. Wozu dienen in diesem Zusammenhang Begriffe wie „co-administration“ oder „Verwaltungsverbund“? Meiner Meinung nach handelt es sich hier nicht um einen dritten – unabhängigen – Begriff, der die Begriffe der unmittelbaren oder mittelbaren Verwaltung ergänzen würde, sondern einfach um Formen eines Vollzugs, der sich sowohl auf Mittel der unmittelbaren wie der mittelbaren Verwaltung stützt. Um dies zu verstehen, muss man einen Blick auf das materielle Gemeinschaftsrecht werfen. Es gibt nur wenige Sachbereiche, in denen der Vollzug des Gemeinschaftsrechts in erster Linie auf unmittelbarer Verwaltung beruht. Es handelt sich hierbei einerseits um den Bereich Wettbewerb, wo die Kommission vor der Reform im Jahre 2004, die zu einer gewissen Dezentralisierung geführt hat, die einzig relevante Stelle war. Allerdings nimmt die Kommission in diesem Bereich nicht eine typische Verwaltungsrolle – d.h. Vollzug der Gesetzgebung –, sondern eher eine Regulierungsrolle ein. Einleuchtender erscheint mir der Sachbereich der europäischen Forschung, soweit er auf der Finanzierung von Forschungsprojekten und Einrichtungen beruht. Auch die Finanzierung von Projekten, die in der Haushaltsverordnung in die Kategorie der „Gemeinsamen Verwaltung mit internationalen Organisationen“ fällt, kann als unmittelbare Verwaltung angesehen werden; es handelt sich dabei vor allem um Entwicklungshilfe und verschiedene Programme für Mittelund Osteuropa. Es gibt andere Sachbereiche, in denen die mittelbare Verwaltung anscheinend die Regel ist. Dies ist sicherlich der Fall bei der Zollunion, wo sich die Tätigkeit der Unionsorgane auf die Normsetzung beschränkt. In den meisten Bereichen ist es aber schwierig, nur mittelbare oder nur unmittelbare Verwaltung vorzufinden. Und dies ist kein besonders neues Phänomen. Von Anfang an stand die europäische Agrarpolitik unter dem
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Zeichen einer Vollzugstätigkeit, die sowohl von der Kommission als auch von den Einrichtungen und Stellen der Mitgliedstaaten betrieben wurde. Mit den neuen Aufgabenbereichen in Sachen europäischer Netzwerkindustrien oder auch Umwelt- oder Gesundheitspflege sind eine Reihe von Organisationsformen entstanden, die die Aufmerksamkeit der Politologen und Juristen geweckt haben. Diesbezüglich wird aber allzu oft vergessen, dass schon die Agrarpolitik der sechziger Jahre zur Einführung neuer Organisationsformen geführt hat. Meiner Meinung nach haben diese Phänomene aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive nicht die gleiche Relevanz wie aus rein juristischer Sicht, bei der die Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Verwaltung vorhanden ist, weil sie zu unterschiedlichen Rechtsinstrumenten und Kontrollmechanismen führt. Im Falle der unmittelbaren Verwaltung handelt es sich bloß um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts; im Falle der mittelbaren Verwaltung gilt sowohl das jeweilige staatliche Verwaltungsrecht wie auch das Gemeinschaftsrecht. Das Vorrangprinzip des Gemeinschaftsrechts spielt dabei eine grundlegende Rolle. Dennoch entsteht aber keine hierarchische Beziehung zwischen der europäischen Verwaltung und der Verwaltung der Mitgliedstaaten. Es sei darauf hingewiesen, dass die Kommission in ihrer Funktion als Hüter der Verträge letzten Endes darauf angewiesen ist, vor dem EuGH zu klagen, wenn ein Mitgliedstaat ihre Anweisungen nicht befolgt. Deshalb erscheint mir auch ein Begriff wie Verwaltungsverbund für die mittelbare Verwaltung aus rechtlicher Sicht nicht besonders einleuchtend. In den Fällen, in denen sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Verwaltung für die Ausübung europäischer Tätigkeiten zum Tragen kommt, wie z. B. im Bereich der Strukturfonds, der Netzwerkindustrien oder auch im Bereich von Umweltschutz und Gesundheit, treten zwar neue Organisationsformen und auch Verfahren auf, die zum Teil von den Einrichtungen der Mitgliedstaaten und zum Teil von den EU-Organen und Stellen erledigt werden. Diese lassen damit jedoch keine neue Rechtskategorie entstehen. Es handelt sich dabei nämlich um eine Verflechtung von unmittelbarer und mittelbarer Verwaltung, in der die eine oder andere Art der Ausführung je nach Sachbereich – quantitativ wie auch qualitativ – mehr oder weniger wichtig ist. Die Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts bleiben jedoch dieselben wie in den Fällen von „reiner“ unmittelbarer bzw. mittelbarer Verwaltung. Aus rechtlicher Sicht stellt sich meines Erachtens die Frage, ob die Kontrollmechanismen und/oder die anwendbaren rechtlichen Grundsätze andere sind als diejenigen, die man schon im Falle der mittelbaren Verwaltung vorfindet.
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IV. Zusammenfassende Thesen 1. Seit den Gründungsjahren der Europäischen Gemeinschaften – EGKS inbegriffen – gibt es zwei Bezugsquellen, die beide zum Verständnis der Besonderheiten des europäischen Verwaltungsrechts unentbehrlich bleiben: a) der Funktionalismus, der andere Begriffsdeutungen mit sich bringt als diejenigen, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gelten, und b) der Vollzugsföderalismus, der zwar den deutschen Staatsrechtslehrern und Verwaltungswissenschaftlern sowie Beamten und Politikern bekannt ist, aber der sich letzten Endes auf europäischer Ebene anders als im Rahmen der deutschen Rechtsordnung ausprägt. 2. Das europäische Verwaltungsrecht basiert auf drei Kategorien von Grundlagen: a) Als objektive Grundlage gilt seit der EGKS der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts; zudem hat die Rechtsprechung des EuGH vor allem in den letzen Jahrzehnten den Grundsatz der verfahrensund prozessrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten entwickelt; b) als funktionelle Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts gelten vor allem die so genannten Grundfreiheiten und das Diskriminierungsverbot anhand der Staatsangehörigkeit; c) als subjektive Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts dienen nunmehr die Grundrechte, die vor allem durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt, hernach in der Charta von Nizza kodifiziert worden sind, und denen mit dem Vertrag von Lissabon auch Vertragsrang bzw. Verfassungswert zugesprochen wird. 3. Die Bezugsquellen des europäischen Verwaltungsrechts ermöglichen es, die zentralen Begriffe der unmittelbaren und mittelbaren europäischen Verwaltung zu deuten und diese auch von den jeweils entsprechenden Begriffen des deutschen Staatsrechts abzugrenzen. Als gemeinsame Grundsätze der unmittelbaren wie der mittelbaren Verwaltung gelten die Grundlagen des europäischen Verwaltungsrechts. 4. Begriffe wie „Co-Administration“ oder auch „Verwaltungsverbund“ mögen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht hilfreich sein, verfügen aber über keine besondere Tragweite in einer rein rechtlichen Analyse. Aus juristischer Perspektive scheint es wichtiger, über die Folgen der Verdoppelung von Rechtsquellen und Kontrollverfahren, die alle Arten der mit-
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telbaren Verwaltung prägen, nachzudenken, um auch die Grenzen der verfahrens- und prozessrechtlichen Autonomie zu erfassen, die sowohl den Gerichten der Mitgliedstaaten als auch der EU-Gerichtsbarkeit notwendigerweise zu ziehen sind.
Verwaltung und Verfassungsstaat
Über die Verwaltung der Dritten Gewalt Ludwig Adamovich I. Für den Titel dieses Beitrages bin ich inspiriert worden durch das hervorragende und umfangreiche Werk von Wittreck, das einen ähnlichen Titel trägt.1 Es handelt sich um eine Habilitationsschrift, aber im Ergebnis auch um eine Streitschrift. Denn in Deutschland ist – ebenso wie in Österreich – eine sehr lebendige Diskussion im Gange über die grundsätzliche Frage, ob der Richterschaft durch die Einrichtung von kollegialen Institutionen („Richterräten“) ein weiter gehender Einfluss auf Angelegenheiten der Justizverwaltung eingeräumt werden soll. Solche kollegiale Einrichtungen gibt es in der Mehrzahl der europäischen Staaten, einige davon haben eine jahrzehntelange Tradition. Auch sogenannte „Reformstaaten“ haben von der Schaffung solcher Institutionen Gebrauch gemacht. Demgegenüber zeigt sich die Politik in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Österreich2 resistent. Die Gründe sind da wie dort die gleichen. Die maßgebende Verfassungsrechtslage in den gerade genannten Staaten ist allerdings unterschiedlich. So gibt es in Österreich ausschließlich Bundesgerichte; dies trifft auch auf die Gerichte zu, in deren Bezeichnung das Wort „Land“ vorkommt (Oberlandesgerichte, Landesgerichte). Die österreichische Bundesverfassung (B-VG) trifft eine formal orientierte, aber sehr klare Unterscheidung zwischen Gerichtsbarkeit und Justizverwaltungssachen. Im Art. 87 Abs. 1 B-VG wird der Grundsatz aufgestellt, dass die Richter in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig sind. Der Absatz 2 des Art. 87 definiert, wann sich der Richter „in Ausübung seines richterlichen Amtes“ befindet: nämlich bei der Besorgung aller ihm nach dem Gesetz und der Geschäftsverteilung zustehenden gerichtlichen Geschäfte, die nicht nach Vorschriften des Gesetzes durch Senate oder Kommissionen zu erledigen sind. 1 F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Tübingen 2006. Wittreck setzt sich auch mit der Situation in Österreich und mit dort bestehenden Reformbestrebungen auseinander. Meinen einschlägigen Aufsatz mit dem Titel „Justizverwaltung und Gewaltenteilung“, in: Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat, herausgegeben von der Vereinigung der Österreichischen Richterinnen und Richter, WienGraz 2006, S. 37 ff., konnte er offenbar aus zeitlichen Gründen nicht verwerten. 2 Zur österreichischen Situation vgl. meinen in Anm. 1 erwähnten Beitrag.
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Das heißt also, dass „Justizverwaltungssachen“ (den Ausdruck „Gerichtsverwaltung“ verwendet die österreichische Rechtsordnung nicht), wenn sie von Richtern ausgeübt werden, grundsätzlich nicht in Ausübung des „richterlichten Amts“ besorgt werden. Anders verhält es sich aber, wenn diese Justizverwaltungssachen nach Vorschrift des Gesetzes durch Senate oder Kommissionen zu erledigen sind; in einem solchen Fall handelt es sich nur materiell gesehen um Justizverwaltungssachen, formell aber sind die richterlichen Mitglieder der Senate und Kommissionen in Ausübung ihres richterlichen Amtes tätig und daher dabei unabhängig. Im Art. 87 Abs. 3 ist der Grundsatz der festen Geschäftsverteilung ausdrücklich im Verfassungsrang gewährleistet. Die Ernennung der Richter obliegt dem Bundespräsidenten auf Antrag der Bundesregierung oder auf Grund seiner Ermächtigung dem zuständigen Bundesminister. Die Bundesregierung kann ihrerseits den zuständigen Bundesminister zur Antragstellung beim Bundespräsidenten ermächtigen; derzeit ist dies für alle Richter der Fall, die nicht ohnehin vom Bundesminister für Justiz ernannt werden. Gemäß Art. 86 Abs. 1 B-VG sind vor der Ernennung Besetzungsvorschläge der durch die Gerichtsverfassung hierzu berufenen Senate (das sind die sogenannten Personalsenate) einzuholen; diese Besetzungsvorschläge sind allerdings nicht bindend. Für den Verfassungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof gelten besondere Bestimmungen über die Berufung der Richter. Richterwahlausschüsse gibt es nach der österreichischen Rechtsordnung nicht; auch die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes werden nicht gewählt, sondern ernannt. Eine gesetzliche berufliche Interessenvertretung gibt es in Österreich für Richter nicht, während solche Interessenvertretungen für Verwaltungsbeamte sehr wohl bestehen. II. In den folgenden Ausführungen wird regelmäßig der Ausdruck „Justizverwaltung“ verwendet, in dem vollen Bewusstsein, dass die Terminologie in Deutschland anders ist. Was sind Justizverwaltungssachen? Ernennung, Beförderung und Versetzung der Richter, Disziplinarangelegenheiten, Fragen des Personaleinsatzes, technische Ausstattung und nicht zuletzt Budget und Stellenplan. Dass alle diese Themen mehr oder weniger deutlich in den formellen Bereich der Gerichtsbarkeit hineinreichen, ist offensichtlich. Der Wunsch, den Richtern in dieser Hinsicht einen verstärkten Einfluss einzuräumen, ist also durchaus verständlich. Die Speerspitze richtet sich dabei in erster Linie gegen die oder den Justizminister. Das ist in Deutschland nicht anders als in Öster-
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reich, freilich mit dem Unterschied, dass es in Österreich nur einen Bundesminister für Justiz gibt und keine Landesminister. Der österreichische Bundesminister für Justiz ist nicht nur oberstes Organ der Justizverwaltung, sondern weisungsberechtigtes Organ für alle Staatsanwaltschaften (einschließlich der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof) sowie (wie jedes andere Bundesministerium auch) zuständig für die Ausarbeitung von Regierungsvorlagen für einschlägige Akte der Gesetzgebung. Auf der unteren Ebene liegt das Schwergewicht der Justizverwaltung bei den Präsidenten der Oberlandesgerichte; diese sind dem Bundesminister für Justiz unterstellt. Wenn man vom Thema „Richterwahlausschüsse“ einmal absieht, gibt es keinen großen Unterschied zwischen der einschlägigen Rechtslage in Deutschland und in Österreich. Da wie dort ist die Richterschaft mit der bestehenden Situation nicht zufrieden. III. In der Diskussion über diese von manchen für reformbedürftig gehaltene Situation spielen zwei gegensätzliche Argumente eine entscheidende Rolle: das Argument „Gewaltentrennung“ und das Argument „demokratische Legitimation“. Die beiden Argumente weisen – wie bereits angedeutet – in gegensätzliche Richtungen. Das Argument „Gewaltentrennung“ wird als „ProArgument“ für die Schaffung von Richter- oder Justizräten gebracht, das Argument „demokratische Legitimation“ in der gegenteiligen Richtung. Auch im eingangs zitierten Werk von Wittreck kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck.3 Es ist nicht zu bezweifeln, dass von der Bewertung dieser beiden Argumente sehr viel abhängt. Man muss dabei einen Unterschied machen zwischen der Bewertung auf der Basis einer konkreten Verfassungsordnung und jener auf der Basis allgemeiner staatstheoretischer Überlegungen. Freilich handelt es sich dabei nicht um einen absoluten Gegensatz, denn natürlich sind einschlägige Normen auf Verfassungsebene nicht auf einer Insel geschaffen worden, sondern inspiriert durch die politische und rechtliche Ideengeschichte. Bei der Beurteilung von Einzelfragen muss man allerdings auf die konkrete Verfassungsordnung abstellen. Die Zielrichtung der Reformbestrebungen in Deutschland und in Österreich geht in die Richtung der Schaffung von richterlichen Kollegialorganen, wie sie die Mehrzahl der europäischen Verfassungen vorsieht. Man darf allerdings nicht übersehen, dass sowohl die Kompetenzen als auch die Zusammensetzung solcher Kollegialorgane in den einzelnen Rechtsordnun3 F. Wittreck (Anm. 1) widmet den ganzen Teil 3 seiner umfangreichen Untersuchung der Darlegung, welche Bedeutung der Verwaltung der Dritten Gewalt für deren demokratische Legitimation zukommt.
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gen durchaus unterschiedlich sind.4 So gut wie überall handelt es sich nicht um rein richterliche, sondern um gemischte Organe. Auch die Kompetenzen sind äußerst verschieden gestaltet; in vielen Rechtsordnungen obliegen den genannten Kollegialorganen Aufgaben, die etwa in Österreich ausschließlich richterlichen Organen vorbehalten sind, wie insbesondere die Durchführung von Disziplinarverfahren. IV. Ob es sich bei der hier zu erörternden Frage um eine solche der Verfassungsinterpretation oder um eine solche der Verfassungspolitik handelt, hängt von der jeweiligen Verfassungsordnung ab. Aber man muss sich darüber hinaus fragen, ob man es wirklich nur mit einem rechtlichen Problem zu tun hat. Denn es ist nicht zu übersehen, dass vor allem bei den Kontra-Argumenten auch politische und soziologische Überlegungen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. Auch die politische Geschichte wird hier immer wieder beleuchtet, insbesondere mit dem Blick auf die Rolle der Richterschaft zu Zeiten totalitärer Systeme. Der Schlachtruf für die Schaffung von „Richterräten“ wird sehr häufig erhoben unter dem Titel „Bekämpfung der Politisierung“. Man kann sich allerdings manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass man mit einem solchen Schlachtruf Gefahr läuft, vom Regen in die Traufe zu gelangen, nämlich vor allem dann, wenn bei der Zusammensetzung des Richterrates die Politik eine Rolle spielt. Erfahrungen in Italien, Frankreich und Spanien sind in dieser Beziehung nicht übertrieben ermutigend.5 Ein nicht zu unterschätzender soziologischer Faktor betrifft die Eigenheiten der Ministerialbürokratie. In Österreich wird – weniger in der Öffentlichkeit als in geschlossenen Zirkeln – immer wieder das Argument gebracht, dass im Bundesministerium für Justiz ohnehin ehemalige Richter, also ehemalige Kollegen, tätig seien. Die Frage ist nur, ob es hier eine Mutation in die Richtung der allgemeinen bürokratischen Gesetzlichkeiten gibt. Spannungen gibt es insbesondere zwischen den Bundesministerien und den Präsidenten der Oberlandesgerichte. Fragen des Budgets und des Personaleinsatzes, etwa Fragen betreffend Überstunden, gehören natürlich inhaltlich zur Justizverwaltung; sie können aber geeignet sein, den eigentlichen Gerichtsbetrieb entscheidend zu beeinflussen. Das gleiche gilt für die technische Ausstattung. Es ist nicht gleichgültig, wer über die dafür erforderlichen Mittel disponiert. 4 Das Consultative Council of European Judges (CCJE), ein beratendes Organ des Europarates, hat einen umfangreichen Fragebogen zur Ermittlung der Situation in den Staaten des Europarates versendet. 5 Im Juni 2007 hat in Graz die Sitzung einer Arbeitsgruppe des CCJE (Anm. 4) stattgefunden; am 27.6. kamen Vertreter aus Spanien und Italien zu Wort.
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V. Über Gewaltentrennung ist viel und Verschiedenes geschrieben worden. Ihr Ziel – so viel ist sicher – bildet die größtmögliche Freiheit der Menschen durch Verhinderung all zu großer Machtkonzentration in einer Hand. Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 sagt aus: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltentrennung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Gemäß dieser Bestimmung ist also nicht jedes als „Verfassung“ bezeichnete Papier auch eine solche, sondern sie muss bestimmte Garantien enthalten, wenn sie den Namen „Verfassung“ verdienen will. Den Grundgedanken des Rechtspositivismus entspricht das nicht, aber das ist eine andere Frage. Die Vordenker der Gewaltentrennung, Locke und Montesquieu, haben nie an eine chemisch reine Trennung der Staatsgewalten gedacht, sondern ein gewisses Maß von Gewaltenverbindung vorausgesetzt, für das man später in den USA den Ausdruck „checks and balances“ geprägt hat. Ein geradezu klassisches Element der Gewaltentrennung ist die Trennung der Justiz von den anderen Staatsfunktionen. Montesquieu begründet ausführlich, warum die richterliche Befugnis von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden werden muss und insbesondere warum der Gesetzgeber nicht auch Richter sein darf.6 Die Ernennung von Richtern durch ein Organ der Regierung oder ein Staatsoberhaupt, die Justizverwaltung durch einen Justizminister, die Bindung an ein ohne Mitwirkung von Richtern zustande gekommenes Budget, sind Beschränkungen der Dritten Gewalt, die regelmäßig in Verfassungsordnungen verfügt werden. So gesehen sind sie verfassungsrechtlich unangreifbar, es sei denn, man unterstelle dem Verfassungsprinzip „Gewaltentrennung“ einen höheren Rang, der solche Bestimmungen ausschließt. Damit wird man sich allerdings schwer tun, wenn das eine und das andere in einer und derselben Verfassungsurkunde gleichzeitig normiert worden ist; nur im Fall einer späteren Verfassungsänderung stellt sich das angesprochene Problem. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass jede Art der Gewaltenverbindung mit der Grundidee der Gewaltentrennung vereinbar wäre, sonst wäre diese Grundidee sinnentleert. Gewaltenverbindung ist dort und dann am Platz, wenn sie ihrerseits geeignet ist, dem Prinzip der Freiheit zu dienen. Typische Beispiele für eine solche positiv zu wertende Gewaltenverbindung ist die Prüfung der Gesetzgebung und die Prüfung der Verwaltung durch unabhängige Gerichte, sei es durch Sondergerichte, sei es durch die ordent6 C. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, deutsche Übersetzung von K. Weigand, Stuttgart 1965, S. 217 (6. Kapitel des 11. Buches).
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liche Gerichtsbarkeit. Auch ein Zusammenwirken verschiedener Staatsfunktionen bei der Kreation von verfassungsrechtlichen Grenzorganen, wie insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit, sind hier zu nennen. Wenn das Prinzip der Gewaltentrennung einer Verfassung zugrunde liegt, muss sie selbst auch die zulässigen Formen der Gewaltenverbindung festlegen. Es wäre ein merkwürdiges Verfassungsprinzip, das durch Regelungen unterhalb der Verfassungsstufe durchbrochen werden darf, es sei denn, die Verfassung würde ausdrücklich dazu ermächtigen. Aber auch dann, wenn ein Fall der Gewaltenverbindung positivrechtlich unangreifbar ist, kann man legitimerweise die Frage stellen, ob er dem Geist der Gewaltentrennung entspricht; das ist dann eine verfassungspolitische Frage. Damit sind wir inmitten der Diskussion, von der eingangs die Rede war und die in Deutschland sowie in Österreich die Gemüter heftig bewegt.7 Die Kompetenzen, um die es dabei geht, haben durchwegs mit der Gerichtsbarkeit zu tun, sind aber im Übrigen recht unterschiedlich. Die Ernennung von Richtern ist etwas anderes als die Festlegung eines Budgets auch für den Bereich der Gerichtsbarkeit. Eine besonders sensible Frage betrifft das „Hineinregieren“ einer Staatsfunktion in den Bereich einer anderen. Gewaltentrennung kann nicht bedeuten, dass die Gerichtsbarkeit ihre eigenen Regeln aufstellt und Zivilrecht, Strafrecht, Strafprozessrecht sowie Gerichtsorganisation selbst normiert; das wäre ja gerade keine Gewaltentrennung. Die Grenzziehung zwischen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit ist nicht das Hauptproblem, vor allem dann nicht, wenn Gerichte das Recht haben, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entweder selbst zu befinden, oder einen entsprechenden Antrag an ein Verfassungsgericht zu stellen. Wesentlich problematischer ist die Beziehung zwischen Regierung und Gerichtsbarkeit. Wieder rückt der Justizminister ins Blickfeld: Maßnahmen, das nicht richterliche Personal betreffend, wie Überstunden, Bewältigung personeller Engpässe, sind Maßnahmen, die unmittelbar in die Rechtsprechung hineinreichen. Die Grenze zwischen verfassungsrechtlichen Fragen und solchen der Verfassungspolitik ist fließend. Wenn in Österreich ein Richter ein umfangreiches „Großverfahren“ zu bewältigen hat, wird er „gesperrt“, d.h. von anderen Verfahren freigestellt. Das macht aber nicht etwa ein Justizminister oder ein Gerichtspräsident, sondern ein Richtersenat; damit handelt es sich formell um eine Frage der Gerichtsbarkeit, wenn auch vielleicht in materieller Sicht um Justizverwaltung. Die Tätigkeit des richterlichen Hilfspersonals (Kanzlei, Schreibkräfte) gehört nach österreichischem Verfassungsrecht zweifelsfrei zur Staatsfunktion „Gerichtsbarkeit“. Formell sind diese Organe 7
Für die Situation in Österreich vgl. meinen in Anm. 1 genannten Beitrag.
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aber keine Richter, daher ist es verfassungsrechtlich zulässig, Kompetenzen des Justizministers für die Diensthoheit über sie vorzusehen. Solche Umstände sind es, die den Ruf nach einem „Richterrat“ verständlich machen. VI. Wie auch immer ein Richterrat (oder ein ähnlich heißendes Organ) im Übrigen zusammengesetzt sein soll, eines ist sicher: Eine solche Einrichtung setzt begrifflich voraus, dass ihr Richter angehören oder dort sogar in der Mehrheit sind. Ebenso ist es Voraussetzung für eine vernünftige Existenz eines solchen Organs, dass der Richterrat echte Entscheidungskompetenzen hat und nicht nur unverbindliche Ratschläge erteilen darf. Die Bandbreite dieser möglichen Kompetenzen ist groß, wie eine internationale Betrachtung ergibt; alle Aufgaben der Justizverwaltung einschließlich der Ernennungsrechte kommen hier in Betracht, auch die Durchführung von Disziplinarverfahren8. Dass Richter in Zukunft Angelegenheiten sollen entscheiden oder mitentscheiden dürfen, die derzeit von parlamentarisch verantwortlichen Organen entschieden werden, hat massive Kritik auf den Plan gerufen. Prominenter Wortführer dieser Kritik ist Wittreck, der die Bedeutung der Verwaltung der Dritten Gewalt für deren demokratische Legitimation betont.9 Werde die Gerichtsverwaltung ihrerseits unabhängig gestellt, endeten die teils hauchdünnen, insgesamt aber ein, wenn auch feingesponnenes, so doch tragfähiges Legitimationsnetz knüpfenden Fäden im Nichts. Die Minderung der Legitimation der Gerichtsverwaltung möge für sich genommen tragbar sein, sie ziehe aber das ohnehin prekäre Legitimationsniveau der Rechtsprechung mit sich in eine Tiefe, die nicht mehr als hinreichend bezeichnet werden könne.10 Dem vermag ich nicht zu folgen. Die unabhängige Rechtsprechung hat ihre Grundlage in der jeweiligen Verfassung: Welche zusätzliche demokratische Legitimation wäre da noch erforderlich? Ein sensibler Punkt mag in der Frage der politischen Verantwortlichkeit bestehen. Denn Richter als Mitglieder eines solchen Richterrates können wohl nicht gegenüber einem parlamentarischen Organ verantwortlich gemacht werden; das wäre noch wesentlich schlechter als der bestehende Zustand. Aber handelt es sich hier wirklich um einen entscheidenden Mangel? Das österreichische Bundesverfassungsrecht kennt die politische Verantwortlichkeit der Mitglieder der Bundesregierung und der Staatssekretäre in Form der Möglichkeit eines 8
Vgl. den in Anm. 4 erwähnten Fragebogen. Siehe Anm. 3. 10 Wittreck (Anm. 1), S. 663. 9
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Misstrauensvotums; die Landesverfassungen sehen ähnliche Regelungen für die Mitglieder der Landesregierungen vor. Seit die Bundesverfassung in Kraft ist, hat es auf Bundesebene kein einziges Misstrauensvotum gegeben, auf Landesebene bisher nur eines. Ebenso hat es bisher keine einzige Anklage gegen ein Mitglied der Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof gegeben und keine einzige Anklage eines Landtages gegen ein Mitglied einer Landesregierung. Die insgesamt drei bisher beim Verfassungsgerichtshof durchgeführten Verfahren gegen Landeshauptmänner betrafen Anklagen gegen Landeshauptmänner als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung, die nach dem österreichischen B-VG nicht von einem Organ der Gesetzgebung, sondern von der Bundesregierung zu erheben sind. Mit der Wirksamkeit der demokratischen Legitimation und ihrer Mitglieder ist es – wenigstens in Österreich – nicht weit her. Die wirklichen Akteure auf dem Kampfplatz sind nicht politisch verantwortliche Regierungsmitglieder, sondern diesen untergeordnete Funktionsträger in den zuständigen Ministerien, vor allem im Bundesministerium für Justiz. Ich glaube daher nicht, dass das Thema „demokratische Legitimation“ dem in Rede stehenden Projekt wirklich entgegensteht. VII. Trotzdem muss ich eingestehen, dass ich kein besonderer Freund von Richterräten bin, jedenfalls dann nicht, wenn sie nur zum Teil aus Richtern bestehen. Ich folge Wittreck durchaus, wenn er insbesondere die Situation in den romanischen europäischen Staaten als wenig empfehlend betrachtet. Seine Ausführungen gegen einen „antifaschistischen Gründungsmythos“ und das Element des „Ständischen“11 halte ich zwar für übertrieben. Wesentlich ernster zu nehmen ist sein Hinweis, dass es in den gerne als Muster bezeichneten romanischen Ländern Berufsvereinigungen gibt, die „offen parteipolitischen Einfluss transportieren“. Zwar gibt es in Österreich keine parteipolitisch orientierten Richtervereinigungen; die bestehende, mit de facto Monopolcharakter ausgestattete Richtervereinigung ist parteiunabhängig. Aber ihre Position ist nicht verfassungsrechtlich garantiert; es kann sich jederzeit eine weltanschaulich orientierte Richtervereinigung bilden. Für die Schaffung eines „gemischten“ Richterrates fände sich in Österreich derzeit nicht die zweifellos erforderliche verfassungsrechtliche Mehrheit. Sollte ein derartiges Organ dennoch zustande kommen, würde die Politik mit Sicherheit dafür sorgen, dass ihre Interessen nicht zu kurz kommen. 11
Wittreck (Anm. 1), S. 673.
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Wenn also „Richterrat“, dann nur ein aus Richtern bestehender; und das wäre – jedenfalls in Österreich – noch wesentlich weniger mehrheitsfähig. VIII. Damit soll aber keineswegs gesagt werden, dass die bestehende Rechtslage auf dem Gebiet der Justizverwaltung – jedenfalls in Österreich – nicht verbesserungsbedürftig wäre. Eine solche Verbesserung müsste primär die Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit im Auge haben. Die Ernennung von Richtern sollte den obersten Organen der Verwaltung vorbehalten bleiben, allerdings hielte ich eine Bindung an die Vorschläge der richterlichen Personalsenate (nicht hinsichtlich der Reihenfolge) für sehr angebracht.12 Maßnahmen der Justizverwaltung, die sich unmittelbar auf die Rechtsprechung auswirken können, sollten richterlichen Gremien übertragen werden, wie insbesondere Verwendung und Einsatz des nicht richterlichen Personals und die Ausstattung mit Sachmitteln, insbesondere technischen Einrichtungen. Ein großes Problem bildet das Budget. Man wird schwerlich eine Regelung zustande bringen, die die Gestaltung des Budgets für den Bereich der Gerichtsbarkeit ausschließlich den Richtern selbst überlässt. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass gerade vom Budget die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit entscheidend abhängt. Es müsste Mittel und Wege geben, beides auf einen Nenner zu bringen; auch dafür gibt es internationale Beispiele. IX. Wie schon ausgeführt, halte ich die gegen einen „Richterstand“ gewendeten Ausführungen von Wittreck13 nicht für überzeugend. Eine geschlossene Gesellschaft der Richter, in die niemand hineinschauen darf, ist aber auch nicht wünschenswert. Zwischen einer solchen geschlossenen Gesellschaft einerseits und einer von der Politik in den Griff genommenen Richterschaft andererseits gibt es mit Sicherheit weitere Lösungen. Man muss das Kunststück fertig bringen, sowohl die geschlossene Gesellschaft der Richter als auch deren Politisierung zu verhindern.
12
Eine solche Bindung war im § 5 des Grundgesetzes über die richterliche Gewalt vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 38, auch vorgesehen; sie wurde in der Stammfassung des B-VG beseitigt. 13 Vgl. Wittreck (Anm. 1), S. 673.
Reclaiming Public Space Demetrios Argyriades I. Introduction: twenty-five years later . . . Fully one quarter century has passed since the appearance of a volume jointly edited by Caiden and Siedentopf on administrative reform.1 The book is faintly remembered even by students and scholars of administrative reform, though the subject of reform has lost none of its appeal, and the constellation of authors, who contributed their thoughts on this recurrent theme, forever reborn like a phoenix, are leaders in the field. Few do not still remember Ridley, Koenig, Ostrom, Chapman, Naomi Caiden, Quah or Peter Wilensky, let alone the book’s two editors. Can this be a sign of the times, a reminder, if we needed it, of the short life span of writings and the evanescence of ideas? The book is worth revisiting, less arguably on account of its relevance to problems that administrators face around the world today, than as a stark reminder of the nature and fragility of administrative theory as an academic discipline. When the book made its appearance in 1982, public administration had known its halcyon days. It rode the crest of the wave that brought the Welfare State, the Marshall Plan in Europe, decolonisation and economic development in the so-called Third World. Suffused by vivid memories of the years of war and depression, administrative practice and theory in the 1950s and well into the 1970s exuded a spirit of humanism but also the conviction that, given law and order as well as education, the future of democracy and socio-economic development would be assured. Almost throughout the world, academies and institutes of public administration sprouted one after the other, and international agencies competed in the drive for institution-building, human resources development and setting forth the guidelines on the abovementioned tasks.2 Euphoria was short-lived. It did not long outlast the energy and debt crises and the conservative backlash that ushered Mrs. M. Thatcher and 1
G. Caiden/H. Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform, Lexington, Massachusetts 1982. 2 See D. Argyriades/O. Dwivedi/J. Jabbra (eds.), Public Administration in Transition: Essays in Honor of G. Caiden, London 2007, esp. Introduction and Chapter I.
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President Ronald Reagan to power. Richard Chapman, in his chapter on “Strategies for Reducing Government Activities,” remembers those years of change. They started, in Great Britain, with the general election of May 1979. The election manifesto of the Conservative Party could not be more explicit: “The state takes too much of the nation’s income; its share must be steadily reduced . . . Important savings can be made in several ways. We will scrap expensive Socialist programmes, such as nationalisation of building land. We shall reduce government intervention in industry . . . The reduction of waste, bureaucracy and over-government will also yield substantial savings . . . We shall cut income tax bureaucracy . . . We will offer to sell back to private ownership the recently nationalised aerospace and shipbuilding concerns . . . We want to see those industries that remain nationalised running more successfully and we will, therefore, interfere less with their management.”3 II. Reform or revolution? “Reduction of waste”, the bogeys of “bureaucracy” and “big” or “overgovernment” were ostensibly the targets and goals of reform; or were they seen as the probable derivatives of what was really sought: scrapping the “Socialist programmes”? Forever bandied about in any attempted overhaul, Efficiency, Effectiveness and Economy, the famed 3Es of management, were intended to project a “nuts-and-bolts” approach, but mostly to present an ideological platform in non-political language. Administrative reform, as R. Chapman put it, is “essentially the process . . . of making changes in administrative structures or procedures that have become out of line with the expectations, values or wishes of the social and political environment”. It is a deliberate process, as Chapman rightly argued,4 but can it qualify as anything but “radical”? It cannot be denied that, far more than the changes which followed World War II, the Thatcherite reforms went well beyond the bounds of “structures and procedures” in the administrative state. They really called into question an eighty-year trajectory, sought to reverse the course that built the Welfare State and drastically altered the balance and relationship between the public sector and private enterprise. We are not here to argue the virtues or utility of this reform, but rather what its thrust tells us about reform and administrative theory. The link between the two became a central theme of the Caiden-Siedentopf opus; explored in several chapters by Ridley, Ostrom, König and Kooiman, as well 3 R. Chapman, Strategies for Reducing Government Activities, in: Caiden/Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform (Fn. 1), p. 63. 4 Ibid., p. 59.
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as the two editors. “Wanted: Theory of Reform” was Ridley’s powerful message.5 Though Siedentopf agreed, he considered the use of the term as often exaggerated “because the fundamentals of public administration were already determined”.6 Administrative reform, in his view, was “not to be defined primarily through the number of internal changes taking place in public agencies. Rather, it is an organizational, instrumental or programmerelated change of government and the public sector to meet environmental demands and requirements.”7 From a U. S. perspective, Ostrom, not surprisingly, reminds us that reform proceeded on two assumptions: “That a disequilibrium may exist between state and society and that overdevelopment of the public sector and excessive reliance upon regulation may have occurred. It is further assumed that a variety of measures may be available for trimming the public sector to more manageable proportions.”8 Downsizing was in the air. However, “New Public Management” – the term was totally absent from the pages of this 1982 publication and neither the scale nor the intensity of the Thatcherite reforms had yet become apparent. Discourse about reform still centetred on the need for better service delivery and “revitalization”9, on the grounds that public servants, the senior cadres especially, were far too deeply immersed in the here and now to have time for the type of overhauling which periodically emerged as an imperative need. In Germany, by contrast, a message from the Government, came as a timely reminder that public service reform continued unabated, but could proceed effectively in “small individual steps”.10 Still in the early 1980s, the tenor of pronouncements about “reform” placed it within the parameters of accepted policy frameworks and the established institutions which defined the public sector. In “liberal democracies”, even strategies intended to reduce the scope of government,11 were initially considered as an incremental process calculated to improve the efficiency of the system already in force. The depth and radical nature of Thatcherite departures became only gradually apparent. In the words of an observer, writing later, in the 1990s, “the traditional model of administration is obsolete and has been effectively by a new model of public management. This change represents a paradigm shift from the bureaucratic model 5
Caiden/Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform (Fn. 1), p. 9. Ibid., p. X. 7 Ibid., p. XI. 8 V. Ostrom, New Conceptual Development and Opportunities for Reform, in: Caiden/Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform (Fn. 1), p. 25. 9 Caiden/Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform (Fn. 1), p. 85. 10 Ibid., p. 157. 11 Chapman, Strategies for Reducing Government Activities, in: Caiden/Siedentopf (eds.), Strategies for Administrative Reform (Fn. 1), p. 59. 6
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of administration to a market model of management closely related to that of the private sector. Managerial reforms mean transformation, not only of public management, but of the relationships between market and government, government and the bureaucracy, and bureaucracy and the citizenry.”12 Such claims to supersession and sweeping triumphant assertions came gradually as a sequel to a wave of drastic reforms that swept the global landscape from New Zealand through Australia, to Great Britain and the United States. They later spread to countries, outside the old Commonwealth and the North American continent, to other parts of the world. These beginnings were impressive, backed by political clout, but mostly internally-driven; well set, in other words, within the bounds of the administrative culture of those “Anglo-saxon” countries pioneering the reforms; a culture clearly stamped by a common law tradition, adherence to due process and to the rule of law, a thriving private sector and representative government marked by decentralisation.13 In almost every case, reforms had been presented as or represented an attempt to address a set of new contingencies and presumed government failures. Nevertheless, what started as a programme to deal with adversity and cope with a global recession, soon turned out, under Thatcher and Reagan in particular, as a deliberate onslaught on the administrative state.14 Ostensibly, the objective had been to curb bureaucracy. Politically, however, the goals were more ambitious and brought about in part by tides of discontented neo-conservative voters tired of the Welfare State and eager to reverse the legacy of the depression and World War II: the wave of nationalisations and the power of the trade unions. The relative success of these radical reforms coinciding with the downfall of “socialist big government” after the sudden implosion of the USSR, turned them into a recipe intended for global consumption. Public administration became “New Public Management” and government was “reinvented” for export to the world. A theory was constructed with this objective in view, which the late Ferrel Heady described as “representing the most recent urge to develop a science of administration with principles of universal validity”.15 Arguably, in Iraq and the drive for a “New Middle East,” the world has seen a glimpse of where this “urge” can lead. Without 12 O. Hughes, Public Management and Administration, 2nd edition, New York 1998, p. 242. 13 R. Mascarenhas, Building an Enterprise Culture in the Public Sector in Australia, Britain and New Zealand, in: Public Administrative Review, Vol. 53 (1993), No. 4, pp. 319–327. 14 C. Levine, The Federal Government in the Year 2001: Administrative Legacies of the Reagan Years, in: Public Administration Review, Vol. 46 (1986), No. 3, p. 196.
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a doubt, however, the signs of the campaign to change the public sector globally were visible throughout, and seldom were they good.16 The new “science” in the making was based on a tacit assumption: the “myth of global convergence”.17 According to this myth, it could be taken for granted not merely that the world was moving irreversibly in one direction only, but that its destination could clearly be determined, well in advance. According to the well-known neo-conservative author Francis Fukuyama: “I think it has to be Americanization because, in some respects, America is the most advanced capitalist society in the world today, and so its institutions represent the logical development of market forces. Therefore, if market forces are what drives globalisation, it is inevitable that Americanization will accompany globalisation”.18 This highly ethnocentric, deterministic approach was what too often guided the public service reforms and “structural adjustments” promoted by the World Bank and Western donor countries during the 1980s and early 1990s. Attempted re-engineering on such a scale was driven by “one best way”, “one size fits all” perspectives, which only accorded weight to the economic goals and very largely ignored all other considerations.19 It is clear in retrospect that this unidimensional, externally-driven approach to public sector management and public service reform seldom availed the countries where it was introduced. In developing countries in general, but Africa in particular, the World Bank-sponsored programmes of structural adjustments, largely undid the effects of two decades of progress during the 1950s and 1960s. Their questionable outcomes probably account for the characterisation of the 1980s as “years of steep decline” and as “the lost decade”, while the 1990s were viewed as a “mixed bay” at best.20 In large parts of the world, according to Oxfam, these programmes did not help the 15 F. Heady, Principles for 2001 and Beyond, in: Public Administration Review, Vol. 61 (2001), No. 4, p. 391. 16 See H. Asmeron/E. Reis, Democratization and Bureaucratic Neutrality, Basingstoke, Hampshire 1996, esp. Chapters 5, 6 and 7 on the Eastern European experience. 17 C. Pollitt, Convergence: the Useful Myth, in: Public Administration, Vol. 79 (2001), No. 4, pp. 933–947. 18 F. Fukuyama, Economic Globalisation and Culture, in: Technology and Society Documents, Internet version (February 1, 1999) http:/www.ml.com/woml.for um.global. 19 Y. Hesse, Public Sector Report 2000: Central and Eastern Europe: Report to the XVth Meeting of Experts on the U.N. Programme of Public Administration and Finance, 2000; see also C. Newland, Transformational Challenges in Central and Eastern Europe and Schools of Public Administration, in: Public Administration Review, Vol. 56 (1996), No. 4, pp. 382–389. 20 United Nations (eds.), World Public Sector Report: Globalisation and the State, New York 2001, pp. 47–50.
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very poor, while they also exacerbated the wide and growing disparities between the affluent few and a majority living below the poverty line. Worse still, they ended showing the government incapable to modify this trend, let alone to reverse it.21 Indeed, the historical trend is even more revealing. Thus, in 1960, the income differential between the “top” and “bottom” 20 percent of the world’s population was roughly 30 to 1. By 1991, the distance more than doubled. In 1997, it stood at 74.1 to 1. This carried in its trail a vast concentration of wealth but, worse still, political power both in and between countries whose overall effects cannot be disguised any longer. Considerable evidence22 points to the disturbing conclusion that “the present world economic order is by far more centralized, concentric and institutionalized at the top than it has ever been. Its fundamental components are trade, finance, and the protection of the proprietary rights of international business.”23
21
O. Dwivedi/R. Khator/J. Nef, Managing Development in a Global Context, New York 2007, p. 98. 22 From the New York Times, Tuesday, August 16, 2007, p. A 3: “Prime Minister Manmohan Singh cautioned Indians against hubris in his annual Independence Day speech on Wednesday and promised a spate of antipoverty measures that hinted at the vulnerabilities facing his government and the nation. ‚India cannot become a nation with islands of high growth and vast areas untouched by development, where the benefits of growth accrue only to a few‘, said Mr. Singh, speaking from behind a bulletproof glass shield at the historic Red Fort.” – On the United States, see the latest Census Report according to the Editorial “A Sobering Census Report” published in the New York Times, Wednesday, August 29, 2007, p. A 22: “Over all, the new data on incomes and poverty mesh consistently with the pattern of the last five years, in which the spoils of the nation’s economic growth have flowed almost exclusively to the wealthy and the extremely wealthy, leaving little for everybody else. Standard measures of inequality did not increase last year, according to the new census data. But over a longer period, the trend becomes crystal clear: the only group for which earnings in 2006 exceeded those of 2000 were the households in the top five percent of the earnings distribution. For everybody else, they were lower. This stilted distribution of rewards underscores how economic growth alone has been insufficient to provide better living standards for most American families. What are needed are policies to help spread benefits broadly – be it more progressive taxation, or policies to strengthen public education and increase access to affordable health care. Unfortunately, these policies are unlikely to come from the current White House. This administration prefers tax cuts for the lucky ones in the top five percent.” 23 Dwivedi et al., Managing Development in a Global Context (Fn. 21), p. 59.
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III. “Letting the managers manage” or “Letting the governments govern”? The enfeeblement of government, under these circumstances, with power shifting rapidly to small elites at the top makes light of the pretension advanced by Western media and some of the international financial institutions that the world as a whole has experienced an expansion and consolidation of freedom and democracy.24 If anything, the opposite is very probably true. In any event, the narrowing of both the scope and importance of public administration, during the past decades, would have been hard to explain except by reference to the above-mentioned trend. Even in the UN which, during the 1960s and 1970s contributed significantly to popularising this term, “public administration” has been virtually eclipsed by the much trendier “management”.25 More than wording changed. Both terms have Latin origins. But while “administration” conveys the value of service (“ministrare”), “management” strongly suggests direction and command, indeed “hands-on” control. In spite of much lip service to the contrary in recent years, there can be little doubt that service to the public and responsiveness to its needs have taken a back seat in the New Public Management’s new order of priorities. The change of nomenclature can hardly be accidental. It marked the rise and apogee of the New Public Management. This led to a surge of soundbites of which none more expressive than two tautological dicta:26 “management is management” and “let the managers manage”. Tautology, however, obscures the stark reductionism27 of these and similar slogans. Dispensing with the intricacies of public administration, making short shrift of context – political or cultural – these new “no-nonsense” messages put forcefully the accent on the “bottom-line”. “Results-oriented government”, the “focus on results”, indeed “results over process” conveyed a similar message.28 “If you don’t measure results” according to Osborne and Gaebler, “you can’t tell success from failure”.29 Sounds right! Regrettably, however, 24
Ibid. During the 1990s, the Department of Administration of the United Nations was successively renamed, now becoming “Department of Management”, while the Office of Personnel was turned into the “Office of Human Resources Management” (OHRM). 26 See G. Caiden/N. Caiden, The Erosion of Public Service, in: American Society for Public Administration National Conference, 2002 (Van Riper Panel); see also D. Argyriades, Good Governance, Professionalism, Ethics and Responsibility, in: International Review of Administrative Science, Vol. 72 (2006), No. 2, pp. 155– 170. 27 See Dwivedi et al., Managing Development in a Global Context (Fn. 21), p. 121. 25
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as past experience shows if – in letting the managers manage – you only measure results, you cannot tell “due process”, equity and propriety from “just anything goes”. The rule of law and due process were visibly first victims of this approach. Participative management and the equitable treatment of employees were soon to follow suit. Explicitly, New Public Management called for the liberation of executives from rules and regulations which supposedly restricted their power to “hire and fire”. Implicit was the assumption that rules and regulations constituted a tight noose asphyxiating managers and killing creativity. “Creative problem-solving” became another euphemism obscuring the realities of cronyism and arbitrariness lurking beneath the surface, wherever all decisions relating to personnel have been decentralised to an omnipotent manager. Lastly, the deconstruction30 of concepts like “general interest” and of the common good came in tandem with an attitude which, implicitly at any rate, rejects a long tradition – now more than two centuries old – that harks back to the French and American Revolutions, on which our democracy rests. This is the radical side of the “paradigm shift” which New Public Management represents. It has been rightly argued that the New Public Management is clearly a misnomer.31 It is certainly not new. It is private-sector-inspired and, though overtly “practical” and technocratic, it clearly bears the mark of the rightwing ideology which swept the USA and the Old Commonwealth countries, bringing Reagan and Thatcher to power. It might well be described as the managerial expression of neo-liberal thinking. Although it is now said that the New Public Management “has moved into the shadow of history”, there can be little doubt that it continues to exert considerable influence in several parts of the world, where some of its “components have become the orthodox scripture of reformers”.32 Still a matter of dispute,33 its intellectual origins and underpinnings have been traced by some to the Theory of Public Choice and related Models of Man.34 There can be little doubt, on the other hand, that it also bears the imprint of Scientific Management. In 28 See D. Osborne/T. Gaebler, Reinventing Government: How the Entrepreneurial Spirit is transforming the Public Sector, New York 1993, pp. 146–148. 29 “Governance and Public Administration in the 21st Century: New Trends and New Techniques”, in: Proceedings of the XXVth International Congress of Administrative Sciences published by the International Institute of Administrative Sciences in 2002, pp. 67–81. 30 Dwivedi et al., Managing Development in a Global Context (Fn. 21), p. 121. 31 D. Argyriades, Governance and Public Administration in the 21st Century: New Trends and New Techniques, Opening Address, XXVth International Congress of Administrative Sciences, Athens 2001. 32 S. Haque, Resisting the New Public Management, in: Public Administration Review, Vol. 67 (2007), No. 1, p. 179. 33 Ibid.
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fact, one might well argue, with respect to management theory, that the Twentieth Century ended pretty much where it began. Not unlike engineers of old,35 proponents of New Public Management in the 1980s and 1990s looked to a prestigious discipline – it was now Applied Economics – for the appearance of authority and possible ways out of the avowed complexity and certain indeterminacy of public administration, a field that has been shaped by influences and inputs from several different disciplines. One may hypothesise that “management is management” signaled a conscious rejection of social anthropology, psychology, sociology, law and political science, whose dominance was visible from the early 1900s and well into the 1970s. Of course, the impact of law in the Englishspeaking countries has been nowhere as critical as in Continental Europe, where public law has played a preponderant role in both administrative theory and in the course of reform.36 Inspite of recent inroads in Continental Europe, it cannot be denied that cross-fertilisation between currents of thought on the opposite sides of the Atlantic has hardly taken place. New Public Management thinking has been remarkably impervious to influences from countries other than “Anglo-saxon”, a fact which has reinforced its ethnocentric pitch. Undoubtedly, this trait of the New Public Management sharply contrasts at once with its scientific pretensions and with its global outreach.37 Aided, in no small measure, by financial institutions, like the OECD and the World Bank, as well as international consulting corporations like KPMG,38 the rise and spread of the influence of the New Public Management has signaled a decline in the comparative study of administrative systems. This 34 B. Clark, Political and Comparative Approach, 2nd edition, Westport, Connecticut 1998, Chapter 7 esp.; see also D. Argyriades, The Human Factor Globally, in: G. Fraser-Moleketi (ed.), The World We Could Win, Amsterdam 2005, pp. 88–90. 35 D. Nelson, Frederick Taylor and the Rise of Scientific Management, Madison, Wisconsin 1980. 36 The Study of Administration has a long and varied history in several countries of Europe, notably Germany, France, Italy, Spain and Portugal, as well as Belgium, Holland and the Scandinavian countries. The reader may consult Jacques Chevallier, La Science Administrative et le Paradigme de l’Action Publique, in: N. Belloubet-Frier/S. Flogaitis/P. Gonod/E. Picard (eds.), Etudes en l’honneur de G. Timsit, Brussels 2004; see also G. Timsit, Théorie de l’Administration, Paris 1986; also G. Langrod, Traité de Science Administrative, Paris 1966; also A. Benz/H. Siedentopf/ K.-P. Sommermann (eds.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung: Festschrift für K. König, Berlin 2004. 37 Haque, Resisting the New Public Management (Fn. 32). 38 R. Jain, The State of the Comparative Study of Public Administration in India, in: Argyriades/Dwivedi/Jabbra (eds.), Public Administration in Transition (Fn. 1), pp. 64–90.
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had flourished in the 1950s, 1960s and 1970s. The stern prescriptive tenets of the New Public Management left little room for differences based on cultural relativities or varying political contexts. This may be changing slightly39 with a spate of comparative studies which revisit the countries of Europe, Africa and Latin America and explore their institutions in historical perspective.40 The need for historical depth and attention to the environment of public administration, both neglected at the apogee of the New Public Management are coming back into focus.41 One hopes that this may lead to a recovery of two facets of administrative theory which declined in recent years on account of managerialism. The first of these two facets is the need for multi-disciplinary approaches to the study of current problems of public administration.42 Situated, as it must be, at the crossroads of several disciplines, it has been greatly enriched by major contributions from law, political science, sociology, psychology, philosophy and economics. Public administration still needs significant inputs from all these fields to shed light on the problems which our State and society face. Indeed, many of these issues have a public sector dimension, which is often distinct from the ways in which they surface in the private sphere. Even the famed 3Es (economy, efficiency and effectiveness) or rather their quest may call for varying strategies in the two sectors. In issues like legality, integrity, morality, the rule of law and due process, the distance and distinctiveness are even greater still. These are important concerns which suffered from loss of attention during the years of dominance of the New Public Management. They were too often viewed like “elements of the traditional structures of governance that (must) be minimized as . . . they might interfere with the effectiveness and efficiency of the performance of Public Administration in economic terms.”43 Arguably on this account, departures from these principles as well as a certain decline of public service professionalism have emerged, as critical issues of public administration, nationally and internationally.44 39 D. Argyriades, The Rise, Fall and Rebirth of Comparative Administration: The Rediscovery of Culture, in: Public Administration Review, Vol. 66 (2006), No. 2, pp. 281–284. 40 D. Argyriades, The Need for Comparative Studies in Historical Depth, in: Public Administration Review, Vol. 67 (2007), No. 2, pp. 359–361. 41 E. Heyen (ed.), Administrative Elites in Western Europe (19th and 20th centuries), Yearbook of European Administrative History, Vol. 17 (2005), Baden-Baden. 42 On the need for “inter-disciplinarity” and the dangers of “exclusiveness”, see Langrod, Traité de Science Administrative (Fn. 36), pp. 92–123, and Timsit, Théorie de l’Administration (Fn. 36), p. 17. 43 K.-P. Sommermann (Rapporteur), The Rule of Law and Public Administration in a Global Setting, Report to the XXth International Congress of Administrative Sciences, Athens 2001, p. 2.
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We must reclaim and capture the public sphere for public administration if we intend to make headway in addressing these critical issues. It is no exaggeration to affirm that, in some ways, the problems which we now face hark back to those confronting the “philosophes” in Europe and the founding fathers of the United States during the 18th century. Drafted by Thomas Jefferson, the famous Declaration of Independence, for instance, dwelt on the “long train of abuses and usurpations pursuing invariably the same Object”.45 On the other side of the Atlantic, a leading “physiocrate”, Quesnay decried: “the despotism of sovereigns and of their underlings, the shortcomings and instability of the laws, the disorderly excesses [dérèglements] of the administration, the uncertainty affecting property, the wars, the chaotic decisions in matters of taxation [which] destroy men and the wealth of the sovereign.”46 The language is familiar. “Abuses”, “usurpations” and “disorderly excesses” are rampant in our days, though mostly now perpetrated not by “sovereigns and their underlings”, but rather by self-styled “entrepreneurial managers” and “creative problem-solvers” in the name of the 3Es. We may need to be reminded, speaking of cost effectiveness, that the concept has no meaning and certainly no virtue except as a derivative of a due goal-setting process and the quest of worthy objectives. Before attempting to find the “one best way” solution, we really need to know what we are trying to accomplish, in whose name and to whose benefit. One of the great achievements of the 18th and 19th centuries was precisely a definition of what may constitute the appropriate goals of governments and what are the parameters to their pursuit. There must be limits to power and the exercise of power. If by contrast we subscribe to the adage “results over process”, we should really ask ourselves what we make of “rule of law” and due process. It has been rightly argued that the birth and evolution of constitutional government from the 18th century onwards represented a rejection of the claims of absolute monarchy, the divine right of kings or a Roman dictum which gave the princes power to do pretty much as they pleased. (Quod principe placuit legis habet vigorem.)47 We should demand no less of today’s public managers. 44 See recent publication of The Independent Panel Review of the World Bank Group, Department of Institutional Integrity by P. Volcker (Chair) et al.; see also J. Campos/S. Pradham, The Many Faces of Corruption, Washington, DC 2007; on the United Nations, see C. Rossett, Bad Faith Actor, in: The Journal of International Security Affairs, from the Fall 2007 issue, highlights South Africa, http://www. securityaffairs.org/issues/2007/13/editor 13 php. 45 Quoted from F. Mosher, Basic Documents of American Public Administration, 1776–1950, New York 1976, p. 9. 46 Ouoted in Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests, Princeton, N.J. 1977, p. 96.
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Curbing the powers of princes applied as much to the ends as to the means employed. It led to the institution of formal controls – both internal and external – in order to safeguard the observance of the values enshrined in Constitutions. Thus, in the Constitution of the United States (1787), the Preamble invoked the promotion of “the general Welfare” and securing “the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity.” Likewise the French Constitutions, from 1789 on, assigned to “liberty and equality” the highest value precisely on account of the historical fact that truly they were born of popular reaction against the practice of servitude and stark inequality.48 Related to equality and freedom are two celebrated principles whose roots go back for many centuries,49 but which exerted an influence on the rise and evolution of democratic governance throughout the world. In France, they found expression in the writings of Jean-Jacques Rousseau.50 Of course, we are referring to the concepts of National Sovereignty and of the General Will. These concepts, widely shared in Continental Europe during the 18th century, were enshrined in the French Constitution of 3 September 1791 which proclaimed that “Sovereignty is one, indivisible inalienable and impresciptible. It belongs to the nation; no section of the people and no individual may claim the right to exercise it . . .” IV. Public service professionalism and the quest of the general interest Perhaps no two other concepts have exerted a more profound, sustained and pervasive influence on the genesis and growth of the public service profession in Europe and beyond. The gradual transformation of a small band of courtiers and title holders into a highly structured, vocationoriented and largely self-directed profession of government was not accomplished overnight. It was against the waste, disorder and corruption – which inter alia brought low self-esteem among the beneficiaries of patronage and clientelelism – that public service reform was initially directed. Reform called into question a threefold conception of office partly as a species of property and partly as a weapon in partisan warfare or simply as a tool in the hands of the political leaders. As a societal movement, it was hardly an isolated event. It partook of wider trends in thought and education and, more than anything else, it shared in the rise and role of great professions. 47
“Let what pleases the prince have all the force of law.” A. Hauriou, Droit Constitutional et Institutions Politiques, 3rd edition, Paris 1968, p. 168. 49 Ibid., pp. 301–303. 50 J.-J. Rousseau, Du Contrat Social ou Principes de Droit Politique, Amsterdam 1762. 48
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As the forces of reform gathered momentum, its goals became more complex and far-reaching. From the early 19th century to the World War I and beyond, its major contribution, as Graham Wallas saw it, was revaluation of government and the introduction of merit as an important source of political authority. According to Wallas: “The conception was gaining ground that it is upon serious and continued thought and not upon opinion that the power to carry out our purposes, whether in politics or elsewhere, must ultimately depend.”51 A deep sense of the value of knowledge, learning and merit was widely shared in Europe and the United States, as well as reform-minded emerging powers in Asia and other parts of the world. The language of reform is sometimes faintly evocative of fin-du-siecle ideology and people’s fascination with machines. Writing against a background of rapid industrialisation, Max Weber emphasised the “technical superiority” of the bureaucratic system which, in his view, accounted for its success. “Precision, speed, unambiguity . . . continuity, discretion, unity, strict subordination, reduction . . . of material and personnel costs” were just some of the strengths that gave “bureaucratic mechanisms” the comparative advantage which the machine enjoyed compared with non-mechanical modes of production.52 Woodrow Wilson, for his part, warned against the prevalent tendency of leaving the complexities of government to the “rustic handling” of “inexpert hands”. To rescue executive methods from “the confusion and costliness of empirical experiment”, he forcefully advocated the systematic treatment of administrative questions by trained professional cadres recruited and promoted strictly on the basis of merit.53 The primacy of knowledge in definitions of merit represents a signal feature of this early stage of reform almost world-wide. However, this preeminence accorded to knowledge did not preclude an emphasis on independence54, character, experience and ability “to advise and to some extent influence those who are from time to time set over them.”55 It was hypothesised that such virtues came together, held together and that they should take precedence over privilege and birth; hence the concurrent stress on 51
G. Wallas, Human Nature in Politics, 4th edition, London 1948, p. 254. H. Gerth/C. Wright Mills, From Max Weber: Essays in Sociology, London 1957, p. 214. 53 W. Wilson, The Study of Administration, reprinted in: Political Science Quarterly, Vol. 56 (1941), p. 499. 54 On the observable erosion of independence and the politicisation of public service advice, see articles by R. Mulgan, E.-H. Klijn and C. Skelcher, C. Eichenbaum and R. Shaw in the latest issue of Public Administration, Vol. 85 (2007). 55 Report of the Committee (Northcote and Trevelyan) on the Organization of the Permanent Civil Service (January 1854), Paper 1713, B.P.P. 1854, Vol. XXVII. 52
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education and learning in competitive recruitment to public service posts. In Prussia, Kameralwissenschaften, incorporating elements of politics and economics, were taught in Jena and Berlin already in the early 1800s. In France, a long tradition going back to the days of Napoleon accounted for the establishment of the famous Grandes Ecoles with the objective of preparing – as in the Kingdom of Prussia – the country’s future technical and administrative elites. The tradition is still strong in Continental Europe. It has spread throughout the world. Selection, recruitment, retention, development and motivation soon became in many countries the logical corollaries of a costly drive to train and “educate your masters.” The Northcote-Trevelyan Report insisted on the need for “an efficient body of permanent officials”56 as the goal of reorganisation. Napoleon would go even further: “I want to constitute in France a civil order. To this day, there are in the world but two powers; the military and the ecclesiastical. More than anything else, I want a corporate body, because a corporation will not die . . . (a corporation) has no other interest but the public interest . . . I want a corps whose management and statutes become so national in character that no one will ever lightly tamper with them.”57 A contemporary of Napoleon, G. W. Hegel clearly shared these sentiments. Anticipating Max Weber, he dwelt on the significance of the public service profession. According to him, it supplied the essential bridge which made possible the passage from the particularism of civil society to the universality of the State. In Hegel’s words: “What the service of the State really requires is that men shall forego the selfish and capricious satisfaction of their subjective ends; by this very sacrifice, they acquire the right to find their satisfaction in, but only in, the dutiful discharge of their public functions.”58 These words would later find an echo in a remarkable statement on public service ethics which is commonly attributed to Sir Warren Fisher, Head of the British Civil Service, during the nineteen-twenties and thirties. It was subsequently described as the closest approximation to a “written civil service tradition.”59 It stipulated that “The first duty of a Civil Servant is to give his undivided allegiance to the State at all times and on all occasions, when the State has claims on his services. With his private activities, the State, in general, is not concerned so long as he does not bring discredit upon the Service . . . The Service exacts . . . a higher standard [of honesty] because it recognises that the State is entitled that [ public servants] shall not only be honest in fact, but beyond the suspicion of dishonesty . . .”60 56 57 58 59
Ibid. R. Gregoire, The French Civil Service, Brussels 1954. S. Avineri, Hegel’s Theory of the Modern State, London 1986, p. 160. Handbook for the New Civil Servant, HMSO 1956, p. 31.
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In less exalted language, these thoughts were reproduced or found their way into the codes of many organisations – the United Nations among others. The word “State” has been dropped, sometimes for obvious reasons. However, “public interest” and “public service” remain writ large in all relevant documents, the purpose of which is to foster professional integrity, adherence to propriety and respect for the rule of law. They resonate, for instance, in the Code of Ethics reprinted in every single issue of Public Administration Review, the journal of the American Society of Public Administration (ASPA). Central to these concerns is the need to preserve the distinction between what is the “public” and what the “private” sphere, and to reaffirm the primacy of the former over the latter. The ASPA Code of Ethics has made this very clear in its opening lines: “Serve the public beyond serving oneself.” Regrettably, as we know, this elemental injunction is inadequately observed and when this happens the balance of the code, however explicit and lofty, can come to very little. The spate of public scandals which the world has witnessed lately, on the national, sub-national and international levels, have usually their source at the invasion of the “private” or “particularistic” into the public sphere. Curiously, this invasion of the “private” into the “public” has often coincided with parallel intrusions of the government and public into the lives of citizens and the erosion of their privacy, which follows as a result. The grounds for such incursions are not invariably suspect. Often they are explained or sanitized in language invoking the need for effectiveness or “national security”. “Outsourcing” and reliance on extra-budgetary sources to “speed up service delivery” are so current nowadays, that we don’t even stop to ask ourselves what limits should be set to such practices – what domains, in other words, should not be subcontracted to private entrepreneurs; what private sector practices should not have any place in public organisations. One example should suffice. The privatisation of warfare is not entirely new. Manifestly, it was practised in certain parts of Europe, until the 19th century, if not later.61 More recently however, and in our days, it seems to have assumed truly alarming proportions. This is the case especially of activities – from “rendition” and “interrogation” to “eavesdropping” – which entail erosion of privacy and abuse 60
HMSO 1936, Cmd 5254. J. Dedieu, Les agents de l’Etat en France et en Espagne (16e-18e siècle), in: Heyen (ed.), Administrative Elites in Western Europe (Fn. 41), p. 292. As we write, the issue has gained some prominence after the recent killing of several Iraqi civilians by members of “Blackwater, USA”, a private contractor, providing “security services” in Iraq. See New York Times, Tuesday, September 18, 2007, pp. A 1 and 10; see also “The Deadly Game of Private Security” in the New York Times, Sunday, September 23, 2007, Week in Review, pp. 1, 3. 61
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of human rights, but where governments endeavour to keep up the appearance of legality and propriety, while looking the other way and letting the “job be done” in one way or another. Firmer external controls and accountability mechanisms are badly needed to rein in such abuses of power not only directly by governments, as in the past, but also private firms on “partnership” arrangements or on “sub-contracts” with government. The multitude and gravity of such abuses are lately on the rise partly on account of the War, but also for other reasons. Surely, a difficult balance must be maintained between too much “bureaucracy” and over-regulation – ex ante controls, in particular – and the laissez-aller which all too often followed on the heels of the New Public Management and the quest for quick results. “Red tape”, as we well know, belongs to another era. It leads to government failure, but has been often due to excesses perpetrated by private enterprise at times of rapid growth and industrialisation. However, a “free for all” is even worse, for its ramifications touch all the spheres of governance and segments of society. In all too many cases and organisations – both national and international – a culture of impunity where really anything goes has been allowed to grow;62 a necessary accompaniment of a culture of greed and conformity and the predictable outcome of a transparency deficit, as well as ineffectiveness of the accountability mechanisms. We need to revisit the experience of these past few decades and to capitalise on the lessons it has yielded. Considerable benefit has been derived from concepts and techniques like standard-setting, benchmarking, performance measurement, monitoring and evaluation in the public sector. Concurrently, however, we may have been the victims of “spin” and panaceas, employed by some to justify attacks on the public sector or the curtailment of rights. Invoking market forces and the sleight of the “invisible hand” to preempt interventions by government has so far only availed the few – a tenth of the world’s population or less. It contributes to disparities63 that are growing by the day. The single-minded pursuit of “quick results” and stress on short-term goals have also mortgaged the future, revealing the 62
On the international level, the United Nations Secretariat Staff Union, on August 27, 2007, resolved to express concern that “the culture of impunity permeating the higher levels of the Organization, complemented by a dysfunctional internal justice system, continues to deny staff members justice.” It urged the Secretary-General to “scrupulously apply the existing standard of conduct and develop a systemwide code of ethics for all U.N. personnel” [Res/42/37]. 63 There will always be “winners” and “losers”, especially under conditions of rapid change. But what if the “winners” are no more than 10% of the world’s populations? See Dwivedi et al., Managing Development in a Global Context (Fn. 21), p. 35.
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failure of government to address and to prevent repeated market failures, including climate change.64 Already there are signs that we have turned the corner and that the worst excesses of the New Public Management may now belong to the past.65 Still, we are very far from having recovered integrity, legality, transparency, propriety and accountability which, with authority and competence, are necessary to raise the standards of good governance to levels that command both greater public trust and more effective outcomes. In spite of spin and soundbites, which would have us believe the contrary, there cannot be sound governance without effective government under the rule of law. And in this day and age, there is no effective government without solid support from a permanent high-level professional officialdom committed to the service of the long-term public interest. Reclaiming and recapturing the public sphere properly only begins by restoring public service to the dignity, security and independence it deserves. There is enough idealism to once again transform the public service careers into avenues of choice. However, this requires containment or an end to clientelist practices and the misappropriation of public space for particularistic interests, what corruption represents. It calls for greater scepticism towards facile solutions, soundbites and panaceas but, more than anything else, for fully harnessing merit, knowledge, integrity, commitment and responsibility to the service of society and the long-term public good.
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See A. Gore, An Inconvenient Truth: The Planetary Emergency of Global Warming and What We Can Do About it, New York 2006. 65 W. Jann, Modern Governance: a European Perspective, in: Fraser-Moleketi (ed.), The World We Could Win (Fn. 34), pp. 146–157.
Demokratie in Deutschland Staatsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit Ein Blick auf unsere Republik – 175 Jahre nach dem Hambacher Fest Hans Herbert von Arnim Am 27. Mai 2007 jährte sich das Hambacher Fest, das erste große Aufflackern von Demokratie in Deutschland, zum 175. Mal. Die Frage, was aus den Ideen der Hambacher geworden ist und wie in ihrem Geiste unsere heutige Republik zu beurteilen ist, liegt also nicht ganz fern. Dabei zeigt sich, dass die damaligen Forderungen zwar formal in unsere Verfassungen eingegangen sind, tatsächlich aber eine gewaltige Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit besteht. Auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat das Thema „Staatsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit“ auf ihrer Jahrestagung 2007 in Freiburg behandelt, m. E. aber ziemlich einseitig. Das Hambacher Fest erscheint auch aus der Sicht der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, die sich zu denselben Idealen wie die Hambacher bekennt und der Heinrich Siedentopf bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2006 36 Jahre lang angehört hatte, von Interesse. Auch räumlich besteht große Nähe: Hambach ist nur wenige Kilometer von Speyer entfernt, und Landau, wo der „Assisenprozess“ gegen die „Rädelsführer“ von Hambach stattfand, ist Siedentopfs Wohnort. I. Die Suche nach der angemessenen Perspektive Immer wenn es darum geht, große geschichtliche Ereignisse darzustellen und zu würdigen, stellt sich die Gretchenfrage, aus welchem Blickwinkel die Darstellung erfolgen soll: Von oben oder von unten? Aus der Perspektive der Regierung oder aus der Perspektive der Regierten, der Bürger?1 1 Dass sich diese Grundfrage dem Politikwissenschaftler bei der Behandlung praktisch aller Themen stellt, betont Wilhelm Hennis: W. Hennis, Wie wären die „eigentlichen Kernbereiche“ der Politikwissenschaft heute zu definieren?, in:
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Diese Frage stellt sich vor allem bei wirkmächtigen Symbolen, deren Feuerschein aus ferner Vergangenheit zu uns in die Gegenwart herüber leuchtet. Das Hambacher Fest ist ein solches Symbol.2 Deshalb drängt sich die Gretchenfrage hier besonders auf. Und in der Tat: Kaum irgendwo sonst weichen beide Perspektiven derart krass voneinander ab wie in Sachen Hambacher Fest. Und je nach Blickwinkel ergeben sich ganz unterschiedliche Bilder, werden die Akteure ganz unterschiedlich gewürdigt und werden ganz unterschiedliche Folgerungen für die Gegenwart gezogen. Dem Hambacher Fest wird man nur gerecht, wenn man Staat und Verwaltung aus der Sicht der Bürger betrachtet. Das versteht sich, historisch gesehen, eigentlich von selbst. Hambach war seinem ganzen Wesen nach ein Protest, der, wie wir heute vielleicht sagen würden, außerparlamentarischen Opposition gegen die Regierenden und gegen das etablierte politische System, ein Protest aus der Mitte des Volks gegen Königsthrone, ein Protest gegen das monarchische Prinzip und das Gottesgnadentum und für Freiheit und Volkssouveränität – insofern, jedenfalls in der Zielrichtung, der französischen Revolution nicht unähnlich. Was am 27. Mai 1832 auf der „Kästenburg“ in der Nähe des pfälzischen Weindorfes Hambach – unter Beteiligung von fast 30.000 Menschen – stattfand, war nichts weniger als die „erste politische Volksversammlung der neueren deutschen Geschichte“ (Theodor Heuß3), die der Erbitterung und der Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden Verhältnissen lautstark Luft machte. Dass das Hambacher Fest einer Perspektive „von unten“ entsprang, spiegelt sich auch in seiner Datierung wider. Ursprünglich war das Fest nämlich auf den 26. Mai datiert, den Jahrestag der Verfassung, und ganz anders gedacht. Die Verfassung hatte König Maximilian I Joseph seinem Königreich Bayern, zu dem seit 1816 auch die linksrheinische Pfalz gehörte, am 26. Mai 1818 „einseitig und freiwillig“, also von oben, gegeben.4 Doch der Initiator des Fests, der Wahlpfälzer Dr. Philipp Jakob Siebenpfeiffer, geboren am 12. November 1789, verlegte es auf den 27. Mai und drehte seine H. H. Hartwich (Hrsg.), Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft, Opladen 1985, S. 122, 131. Siehe auch H. H. von Arnim, Zur normativen Politikwissenschaft. Versuch einer Rehabilitierung, in: Der Staat 1987, S. 477 (490–492). 2 Dem Historiker und ausgewiesenen Hambach-Forscher Helmut Gembries danke ich für die kritische Durchsicht der das Hambacher Fest betreffenden Teile dieses Beitrags. 3 Zitiert nach A. M. Keim/H. Mathy, Hambach 1821–1982. Ereignis – Grundwerte – Perspektiven, Mainz 1982, S. 361. 4 S. Fisch, Das Hambacher Fest – Vergangenheit und Vergangenheitspolitik, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Reform der Parteiendemokratie, Berlin 2003, S. 104 (106).
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Zielrichtung um. Nicht dem Dank für das huldvoll erlassene „Konstitutiönchen“,5 sondern der Forderung nach einer echten demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung sollte das Fest nunmehr Ausdruck verleihen.6 Ideengeschichtlich drängt sich die Bürgerperspektive ebenfalls auf. Die großen Philosophen und Staatsdenker der Aufklärung, der Demokratie, des Rechts- und des Sozialstaats – von John Locke über Immanuel Kant und Jean Jacques Rousseau bis hin zu (damals so genannten) sozialistischen Autoren, die gemeinsam die gedankliche Grundlage unserer heutigen Verfassung legten – dachten und argumentierten aus der Sicht der Menschen.7 Volkssouveränität statt monarchischem Gottesgnadentum war ihre Losung. Für sie waren Staat und Verwaltung nur legitim, wenn sie aus dem Willen des Volkes hervorgegangen waren, aus einem Grundlagenvertrag, der als von den Bürgern geschlossen gedacht ist und ihnen eben nicht von oben oktroyiert wird. Doch in der Praxis kehrt sich die Betrachtung des Hambacher Festes regelmäßig unter der Hand um. Die Mächtigen im Staat neigen dazu, die öffentliche Darstellung an sich zu reißen und die Symbole des Volkes für sich zu reklamieren. Das lässt sich auch bei den Erinnerungstagen zum Hambacher Fest beobachten: 1932 bei der 100-Jahr-Feier, 1957 bei der 125-JahrFeier, 1982 bei der 150-Jahr-Feier8 und auch wieder bei der offiziellen 175-Jahr-Feier am 27. Mai 2007.9 In echt Hambacher Tradition geschah dagegen etwas höchst AufmüpfigDespektierliches, was Helmut Kohl Jahre später in seiner Biographie noch immer empörte: Als der Bundeskanzler 1985 mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zum Schloss hinauf fuhr, wo dieser, wie Kohl schreibt, „eine Rede vor 10.000 Jugendlichen“ halten sollte, säumten „etwa 200 erwachsene Menschen“ rechts und links die Wegstrecke. Und diese „ließen schlagartig ihre Hosen und Röcke herunter, als die Kolonne mit dem Staatsgast an ihnen vorbei fuhr. So zeigten sie dem amerikanischen Präsidenten und seiner Begleitung den nackten Hintern.“10 5 So Siebenpfeiffer in seiner Hambacher Rede, zitiert nach W. Herzberg, Das Hambacher Fest. Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rheinbayern um das Jahr 1832, Ludwigshafen 1908, S. 113. 6 Fisch, Das Hambacher Fest (Anm. 4), S. 105. 7 H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 25 ff. 8 E. Schunk/G. Nestler, Der Wandel der Hambach-Erinnerung in Deutschland, in: „175 Jahre Hambacher Fest“, Jahrbuch 14 der Hambach-Gesellschaft, Neustadt a. d. W. 2006, S. 241 ff. 9 Siehe Staats-Zeitung Rheinland-Pfalz vom 4.6.2007. 10 H. Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 358 f.
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Genau diese geradezu handgreiflich-drastische Kritik an der Obrigkeit von unten her – hier auch ganz körperlich gemeint – ist kennzeichnend für das Hambacher Fest, wenn dort auch sehr viel beredter argumentiert worden war und wir das heute auch tun wollen. Kohl hat das nicht verstanden und wollte es – aus der Sicht des regierenden Kanzlers – wohl auch gar nicht verstehen. Wenn „die oben“ sich der Erinnerung an Hambach bemächtigen, wo Hambach doch nach Geschichte und Idee eigentlich ein Sprachrohr für „die unten“ sein sollte, ergibt sich ein Dilemma. Daher auch die Unsicherheit, ja Ratlosigkeit und Verlegenheit, mit der die Staatsrepräsentanten auf den verschiedenen Jahrestagen mit dem Fest oft umgingen.11 Was soll ein Ministerpräsident,12 der die heutige Obrigkeit verkörpert, zu einem Aufstand gegen die Obrigkeit sagen? Soll er sich über dessen Scheitern freuen oder soll er es bedauern? Was soll ein ehemaliger Bundespräsident13 sagen, der nichts von Volksentscheiden hält,14 der Form der legalen Revolution unserer Tage? Die Frage, ob auch heute das etablierte System wieder in Frage gestellt werden müsste, können beide als Exponenten eben dieses Systems gar nicht offen und unvoreingenommen behandeln: Sie werden im Gegenteil eher zu der selbstzufriedenen Einschätzung neigen, die Hambacher Forderungen seien heute eigentlich fast alle mehr oder weniger erfüllt.15 Dabei hatte Richard von Weizsäcker es 1992, also 160 Jahre nach Hambach, einmal gewagt, Fehlentwicklungen, die aus der Herrschaft der Parteien resultieren, frontal auf die Hörner zu nehmen,16 war über den massiven Rückschlag der Etablierten aber offenbar derart verschreckt, dass er das Thema fürderhin mied. Die Hambacher Tradition verlangt geradezu eine aggressive Sprache, die die Missstände des Gemeinwesens schonungslos anprangert – alles Faktoren, zu denen die Exponenten des Systems schon mental gar nicht in der Lage sind. Soviel zur Perspektive. Die Hambacher lehren uns, dass der Demokratie allein die Blickrichtung „von unten“ entspricht und eine schonungslose Bestandsaufnahme verlangt, die Erfahrung aber zeigt, dass sich in der Praxis immer wieder der Blick „von oben“ in den Vordergrund drängt, der – die aktuelle Herrschaft bestätigende – Jubelreden bevorzugt. 11
Schunk/Nestler, Der Wandel der Hambach-Erinnerung (Anm. 8). Zum Vortrag des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck am 27.5.2007 siehe Staats-Zeitung Rheinland-Pfalz vom 4.6.2007. 13 R. von Weizsäcker, Hambachs Erbe: Freiheit, Einheit und Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.5.2007. Siehe auch Staats-Zeitung Rheinland-Pfalz vom 4.6.2007. 14 Z. B. Bild-Zeitung vom 4.5.1993. 15 Siehe Staats-Zeitung Rheinland-Pfalz vom 4.6.2007. 16 Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hohmann und Werner A. Perger, Frankfurt a. M. 1992, S. 135 ff. 12
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II. Hambacher Postulate Was waren die Forderungen der Hambacher? Das Hambacher Fest war eine Demonstration für Freiheit, für Volkssouveränität, für die deutsche Einheit und auch schon für Europa. In ihr wurden, wenn auch teilweise noch undeutlich, die Forderungen nach Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat laut. Siebenpfeiffer forderte eine grundlegende Änderung der Verhältnisse, getragen vom Geist des Bürgertums. Ihm ging es darum, „die Wunden des öffentlichen Lebens aufzudecken“ und „Sonderrücksichten zu enthüllen“, nicht nur um zu reizen und aufzuregen, „sondern um zugleich die Mittel für Heilung anzudeuten.“17 Auch das Programm eines anderen Wortführers, des Wahlpfälzers Dr. Johann Georg August Wirth, geboren am 20. November 1798, zielte auf die politische Einheit Deutschlands, ein konföderiertes Europa und auf Volkssouveränität.18 In einem Aufruf kurz vor dem Fest strebte Wirth einen einheitlichen deutschen Nationalstaat und Volkssouveränität an und sprach sich für einen gewählten und voll verantwortlichen Reichspräsidenten an der Spitze des Staates aus. Nur eine Kammer sollte existieren, in der gewählte Abgeordnete das Volk ohne Rücksicht auf die ständische Gliederung vertreten. Aktives und passives Wahlrecht forderte Wirth für alle Volljährigen.19 Zunächst war es Siebenpfeiffer und Wirth um die Pressefreiheit gegangen. Sie hatten lange geglaubt, mittels der Presse über die öffentliche Meinung genug Druck auf die Regierungen ausüben zu können, um Reformen zu erzwingen. Nachdem die Zensur durchgegriffen und ihre Druckerpressen gewaltsam lahmgelegt hatte, verlegte man sich auf große Volksversammlungen, die, um die Obrigkeit zu beruhigen, als Volksfeste deklariert wurden,20 also auf das Mittel der kritischen öffentlichen Rede.21 Siebenpfeiffer und Wirth spielten darüber hinaus aber auch mit dem Feuer der Revolution. Sie glaubten jedenfalls, „wirkliche Änderungen“ könnten „nur durch das Volk selbst bewirkt werden“.22 Die Frage, ob sie wirklich auf einen gewaltsamen 17 So Siebenpfeiffer in der ersten Nummer seiner Zeitschrift „Rheinbayern“ (September 1830). Siehe E. Wadle, Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789–1845) – Ein Streiter für Freiheit, Recht und Vaterland, in: Jahrbuch 14 (Anm. 8), S. 82 (89). 18 Ebd., S. 84. Für Volkssouveränität trat Wirth jedenfalls zur Zeit des Hambacher Fests ein. 19 Herzberg, Das Hambacher Fest (Anm. 5), S. 130; E. Hüls, Johann Georg August Wirth (1798–1848), Düsseldorf 2004, S. 547 f. Die Forderung Wirths beschränkte sich allerdings noch auf Männer. 20 Fisch, Das Hambacher Fest (Anm. 4), S. 103 (106). 21 Wadle, Philipp Jakob Siebenpfeiffer (Anm. 17), S. 90. 22 H. Gembries, Karl von Rotteck und das Hambacher Fest, in: Jahrbuch 14 (Anm. 8), S. 96 (99).
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Umsturz setzten, ist aber eher zu verneinen. Sie tendierten zu kalkuliertem Widerstand, vertrauten auf ihre juristischen Kenntnisse, die ihnen immer wieder zu gerichtlichen Erfolgen verhalfen, und glaubten an eine evolutionäre Entwicklung,23 hatten sich allerdings durchaus unterschiedlich ausgedrückt.24 Ein Vers eines von Siebenpfeiffer verfassten Liedes klang jedenfalls nicht unbedingt sehr friedlich. „Wir wollen uns gründen ein Vaterhaus und wollen der Freiheit es weihen: Denn vor der Tyrannen Angesicht beugt länger der freie Deutsche sich nicht.“25 Die Reaktion schlug erbarmungslos zurück. Will man dem Spruch „Viel Feind – viel Ehr“ glauben, so hatten sie sehr viel Ehre. Die Spitzen Bayerns, vor allem aber Preußens und Österreichs, nahmen das Hambacher Fest ausgesprochen ernst, fassten Restaurationsbeschlüsse und setzten alle ihre Machtmittel ein. Persönlich wurden Siebenpfeiffer, Wirth und andere verhaftet und über ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten, bis man ihnen den Prozess machte. Dies musste allerdings vor einem Schwurgericht geschehen, einer Errungenschaft der Französischen Revolution. Um die Bevölkerung (einschließlich der Geschworenen) einzuschüchtern, wurde der Prozess nach Landau verlegt – in den Einzugsbereich der drohenden Festungsgarnison. Es kamen dennoch Hunderte von Zuschauern, so dass die Veranstaltung im Saal eines Gasthofs stattfand. Die Angeklagten hatten sich sorgfältig präpariert und hielten programmatische Reden. Nicht zu Unrecht sprach man von einem „Zweiten Hambacher Fest“. Siebenpfeiffer redete allein neun, Wirth sieben Stunden. Am Ende sprachen die Geschworenen beide, Siebenpfeiffer und Wirth, von der Anklage des Hochverrats frei, was allgemein als Sensation empfunden wurde.26 Doch die monarchische Obrigkeit wollte dies keinesfalls auf sich beruhen lassen. Sie ließ beide wegen vorgeschobener Taten, wie Beamtenbeleidigung, vor einem staatlichen „Polizeizuchtgericht“, dem keine Geschworenen angehörten, anklagen und zur Höchststrafe von zwei Jahren Haft verurteilen. Siebenpfeiffer entging der Strafe durch Flucht in die Schweiz. Er wurde später Honorarprofessor in Bern, hatte gleichwohl ein trauriges Schicksal. Er verfiel in Geisteskrankheit und starb früh. Wirth verwarf jeden Gedan23
Hüls, Johann Georg August Wirth (Anm. 19), S. 312 mit Nachweisen. E.-H. Grete, Revolution oder Reform? Politik im Vorparlament und im Fünfzigerausschuss, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Heft 54 (1974), S. 13, 17: Über „das Ziel, die Beseitigung des monarchischen Systems, waren sich alle einig, nicht aber über den Zeitpunkt und auch nicht über die Antwort auf die Frage, ob Gewalt angewandt werden sollte.“ 25 Herzberg, Das Hambacher Fest (Anm. 5), S. 109. 26 M. M. Grewenig (Hrsg.), Das Hambacher Schloss. Ein Fest für die Freiheit, Ostfildern 1998, S. 102. 24
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ken an Flucht als ihrer Sache unwürdig und saß die vollen zwei Jahre ab. Alles in allem war er viereinhalb Jahre in Gewahrsam gehalten worden.27 Auch Wirth emigrierte nach der Haftverbüßung zunächst, und zwar nach Frankreich, um der ständigen Überwachung und Bespitzelung durch die Polizei zu entgehen.28 Später, nach seiner Rückkehr nach Deutschland, wurde er 1848 in die Paulskirchenversammlung gewählt, starb aber, bevor er dort auftreten konnte. Das Scheitern der Hambacher gibt ihrem Schicksal etwas Tragisch-Heroisches. Sie waren ihrer Zeit zu weit voraus. Kennt man das Ende und bilanziert, muss man ernüchtert feststellen (wie es der Historiker Winfried Dotzhauer getan hat): Wenige Stunden der Begeisterung, des Glaubens an Freiheit und ein einiges Deutschland haben im traurigen Endergebnis zu einer ganzen Serie zerstörter Leben geführt. Aber gerade wegen dieser die Gefahren nicht scheuenden Bereitschaft, für die eigenen zukunftsweisenden Ideen einzutreten, lohnt es sich, ja sind wir geradezu verpflichtet, uns dieser mutigen Männer und ihrer weitsichtigen Gedanken heute zu erinnern. III. Die Beleuchtung der Republik in Hambacher Perspektive Was nehmen wir unter der Geltung des Grundgesetzes aus der Geschichte des Hambacher Fests mit? Auch das Grundgesetz geht ja von der Perspektive der Bürger aus. Staat und Verwaltung haben dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt – heißt es sinngemäß im Eingangsartikel des Grundgesetzes –,29 und entsprechend hat auch die Betrachtung des Gemeinwesens aus der Sicht der Bürger zu erfolgen. Viele der Hambacher Forderungen sind inzwischen realisiert, und – glaubt man den Jubel-Arien auf den Jubiläumsfesten – ist eigentlich fast alles in unserem Staat nun zum Besten bestellt. Wirklich alles? Oder stehen manche Garantien in Wahrheit vielfach nur auf dem Papier und ist die große Mehrheit des Volkes mit unserer heutigen politischen Klasse aufs Höchste unzufrieden? Die den Hambachern allein gerecht werdende Frage muss meines Erachtens heute lauten: Sind die Verhältnisse in unserer real existierenden Demo27
Hüls, Johann Georg August Wirth (Anm. 19), S. 400. Die voranstehenden drei Absätze sind mit Modifikationen übernommen aus H. H. von Arnim, Das Hambacher Fest von 1832: Ein Symbol für Einheit und Freiheit, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Die Deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?, Berlin 2005, S. 91 (93 f.). 29 H. H. von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Frankfurt a. M. 1977, S. 13 mit weiteren Nachweisen. 28
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kratie wirklich so beschaffen, dass man sie sich aus dem Willen der Bürger hervorgegangen vorstellen könnte? Oder lässt sich diese Frage, die für die Philosophen und Staatstheoretiker das Kriterium für die Beurteilung des demokratischen Staates und seiner Organisation bildet, kaum noch ohne Zynismus auf unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit anwenden? Statt am „Ende der Geschichte“, wie Francis Fukujama gemeint hat,30 stehen wir damit am Anfang einer grundlegenden Überprüfung der Strukturelemente unserer eigenen (Real-)Verfassung, die im Rahmen dieses Beitrags natürlich nur skizzenhaft erfolgen kann.31 1. Mangelnde Volkssouveränität Den Hambachern ging es darum, das behauptete Gottesgnadentum der Monarchen zu entzaubern. Sie begnügten sich nicht mit huldvoll von oben gegebenen Verfassungen, nach denen Parlamentsgesetze nur mit Zustimmung des Monarchen ergehen konnten und die Regierung, die Verwaltung und das Militär gänzlich in seiner Hand verblieben. Stattdessen verlangten sie echte Volkssouveränität und Demokratie. Aber, haben wir die denn heute? Volkssouveränität bedeutet: Die Schaffung der Verfassung als politisch-rechtlicher Grundlage eines Gemeinwesens ist Sache des Volkes. Und dass dies bei uns so sei, behauptet ja auch die Präambel des Grundgesetzes. Danach hat „das deutsche Volk“ sich „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“, und Art. 20 GG bestätigt dies mit der traditionellen Formulierung: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Doch wie ist es wirklich? In Wahrheit kam das Grundgesetz unter der Herrschaft der Besatzungsmächte ohne jede Mitwirkung des Volkes zustande. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948/49 entwarf, ging konsequenterweise selbst davon aus, dass er keineswegs eine echte demokratische „Verfassung“ hervorgebracht habe und sprach deshalb ganz bewusst bloß von einem „Grundgesetz“. Die offensichtlich fehlende Legitimation wurde auch später nie nachgeholt. Teile der Staatsrechtslehre flüchten sich allerdings in die Behelfsthese, das demokratische Legitimationsdefizit des Grundgesetzes sei durch die hohe Wahlbeteiligung bei der ersten Bundestagswahl im Herbst 1949 geheilt worden.32 Doch das widerspricht jeder praktischen Logik: Bei Bun30
F. Fukujama, Das Ende der Geschichte, München 1992. Näheres bei H. H. von Arnim, Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2001. 32 So z. B. R. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 8 Rn. 100 f. 31
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destagswahlen steht immer nur die Entscheidung zwischen bestimmten Parteien, die um die Regierungsbildung wetteifern, zur Debatte. Es geht darum, wer die Mehrheit im Parlament erlangt, nicht aber um eine Entscheidung für oder gegen das Grundgesetz. Die genannte These ist letztlich nur Ausdruck der Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Das Grundgesetz selbst sieht in seinem Schlussartikel 146 für den Fall der deutschen Wiedervereinigung seine eigene Ablösung vor, sobald „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist“. Das erforderliche Ausführungsgesetz zu dieser Vorschrift, das eine Initiative aus der Mitte des Volkes ermöglichen würde, hat das Parlament aber bisher wohlweislich versäumt.33 Solange dem deutschen Volk keinerlei Einfluss auf seine Verfassung gegeben wird, ist, wenn wir ehrlich sind, Volkssouveränität in unserer Republik nichts weiter als eine Fiktion,34 ein So-tun-als-ob – zur Ruhigstellung des Volkes. 2. Der neue Inhaber der Souveränität: die politische Klasse Vor diesem Hintergrund betont eine bemerkenswerte politikwissenschaftliche Lehre den Übergang der Souveränität auf eine ganz andere Instanz: Die Souveränität sei auf die politischen Parteien und ihre professionalisierte Kerntruppe, die politische Klasse, übergegangen.35 Und in der Tat: Die politische Klasse gestaltet in fraktions- und länderübergreifender Einigkeit die Regeln des Machterwerbs36 nach ihren Belangen: das Wahlrecht, die Größe der Parlamente, die Finanzierung von Parteien, Fraktionen und Parteistiftun33 H. Mayer, Art. 146. Ein unerfüllter Verfassungsauftrag?, in: H. H. von Arnim (Hrsg.), Direkte Demokratie, Berlin 2000, S. 67 ff. 34 So zuletzt C. Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, Vortrag am 4.10.2007 in Freiburg auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Hillgruber lehnte es allerdings ab, zur Erfassung der politischen Wirklichkeit Erkenntnisse der dafür zuständigen Wissenschaftsdisziplinen herauszuziehen, weil sie einem anderen wissenschaftlichen System angehörten – der exemplarische Fall eines „normativistischen Fehlschlusses“. Siehe z. B. A. Suchanek, Erfolgreiche Therapie ohne gute Diagnose? Zum Zusammenhang von normativer und positiver Analyse in der Ökonomik, in: M. Held (Hrsg.), Normative Grundfragen der Ökonomik. Folgen für die Theoriebildung, Frankfurt a. M. 1997, S. 189 (192 f.). 35 So – allerdings noch bezogen auf die Parteien statt auf deren politische Klasse – M. Greven, Die Parteien in der politischen Gesellschaft, in: O. Niedermayer/R. Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung, Opladen 1993, S. 277 (290, 292). 36 R. Wildenmann, Regeln der Machtbewerbung (1963), in: ders., Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln, Meisenheim a. G. 1968, S. 70 ff.
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gen, die Versorgung von Politikern, die Vergabe von Posten durch Wahl oder Ernennung, den Zuschnitt des Föderalismus und des Kommunalrechts, kurz: Sie prägt die Struktur der politischen Willensbildung insgesamt. Wirth prangerte auf dem Hambacher Fest den Egoismus der Könige, der Fürsten und ihrer Kamarilla an, die sich aus bloßem Eigeninteresse, aus „Eitelkeit“, „Herrschsucht“ und „Wollust“, der Einführung von Volkssouveränität und Demokratie entgegenstemmten und brandmarkte sie sogar ungeniert als die eigentlichen Hochverräter.37 Doch ist die Lage bei uns so ganz anders? Hat sich nicht hier und heute eine politische Klasse gebildet,38 die grundlegenden Institutionen ebenfalls, wenn auch meist ohne Anwendung physischer Gewalt, aus egoistischem Streben nach Macht, Posten, Einfluss und Geld verdorben hat? Mittels – über Partei- und föderale Grenzen hinweg reichender – politischer Kartelle39 hat die politische Klasse an den Schalthebeln der staatlichen Macht ihre Interessen direkt in Gesetze, Haushaltstitel und Verfassungsvorschriften umgesetzt. Sie hat die Regeln des Machterwerbs Stück für Stück ihren Bedürfnissen angepasst und sie dabei in weiten Teilen in ihr Gegenteil verkehrt. Die Sicherung der eigenen Existenz und die Immunisierung gegen Kontrolle seitens der Wähler droht in letzter Konsequenz die Richtung der politischen Willensbildung umzukehren, die in der Demokratie ja eigentlich von unten nach oben verlaufen sollte.40 37
Hüls, Johann Georg August Wirth (Anm. 19), S. 277 f. K. von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993, S. 30 ff.; J. Borchert/L. Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien, in: Politische Vierteljahresschrift 1995, S. 609, 613 ff.; C. Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, Baden-Baden 1990, 2. Aufl., 1994, S. 144 ff., 271 ff.; H.-D. Klingemann/R. Stöss/B. Weßels (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991; T. Leif/H.-J. Legrand/A. Klein, Die politische Klasse in Deutschland, Bonn 1992; H. Rebenstorf, Die politische Klasse, Frankfurt a. M. 1995; H. H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben, München 1997; ders., Das System (Anm. 31); L. Golsch, Die politische Klasse im Parlament, Baden-Baden 1998; J. Borchert (Hrsg.), Politik als Beruf. Die politische Klasse in westlichen Demokratien, Opladen 1999; H. H. von Arnim/R. Heiny/S. Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit. Systemmängel im deutschen Parteienstaat aus demokratietheoretischer Perspektive, FÖV-Discussion Paper Nr. 35, Speyer 2006, S. 19 ff. 39 Siehe hierzu: R. S. Katz/P. Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy – The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1995, S. 5 ff.; M. Reichel, Das demokratische Offenheitsprinzip und seine Anwendung im Recht der politischen Parteien, Berlin 1996; D. Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen 1997; von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern (Anm. 38), Kapitel 6. 40 Siehe hierzu: Katz/Mair, Changing Models of Party Organization (Anm. 39), S. 5 ff.; von Arnim, Das System (Anm. 31), S. 287 ff. 38
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3. Moderner Absolutismus Die Parteien, in denen die politische Klasse der Berufspolitiker das Sagen haben, nutzen die staatlichen Macht-, Personal- und Geldmittel, über die sie verfügen, dazu, ihre Position fast unangreifbar zu machen und verkörpern auf diese Weise geradezu eine moderne Form des Absolutismus. Sie sind auf höchst raffinierte Weise „legibus absolutus“: von der Bindung an die für alle geltenden Normen befreit. Formal unterliegen sie zwar den Gesetzen, doch die machen sie selbst – in ihrem Sinne.41 Formal unterliegen sie auch der Verfassung, doch die Richter, die die Verfassung interpretieren und damit verbindlich erklären, was sie besagt, bestimmen sie selbst – nach ihren Vorstellungen.42 Zudem wird den Bürgern, die verfassungswidrige Regelungen vors Gericht bringen wollen, die Klagebefugnis vorenthalten – nach dem von den Parteien aufrechterhaltenen Prozessgesetz. Und wo kein Kläger, da auch kein Richter: Gerichte können bekanntlich nicht von sich aus tätig werden. Die Parteifinanzen unterliegen zwar formal der Kontrolle durch Wirtschaftsprüfer, doch werden nur weniger als ein Promille der Parteigliederungen überprüft – so legt es eine von den Parteien gemachte Vorschrift fest.43 4. Selbstbedienung aufgrund mangelnder Kontrollen Kein Wunder, dass die politischen Parteien in diesem weitgehend kontrollfreien Raum ihre direkte und indirekte Staatsfinanzierung gewaltig aufgebläht haben, so dass sie – im Vergleich zu Parteien anderer Staaten – wie im Schlaraffenland leben.44 Als die deutschen Parteien 1959 ihre Staatsfinanzierung einführten, war das eine europäische Premiere – und wäre sogar eine Weltpremiere gewesen, hätten nicht Argentinien und Costa Rica schon vorher ihre Parteien staatlich finanziert.45 Kein Wunder, dass sich rechts- und verfassungswidrige Praktiken in großer Zahl und Intensität breitgemacht haben: Spenden werden, im Vertrauen 41 BVerfGE 40, 296 (327): Entscheidung des Parlaments „in eigener Sache“; BVerfGE 85, 264 (291 f.): Kontrollmangel wegen kollusiven Zusammenwirkens von Regierung und Opposition; H. H. von Arnim, Parteienfinanzierung, Wiesbaden 1982, S. 46 ff. 42 H. H. von Arnim, Die deutsche Krankheit. Organisierte politische Unverantwortlichkeit?, in: G. H. Gornig/U. Kramer/U. Volkmann (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Gemeinde, Festschrift für Werner Frotscher, Berlin 2007, S. 267 (274). 43 § 29 Abs. 1 Satz 1 PartG. Dazu H. H. von Arnim, Die neue Parteienfinanzierung, in: DVBl. 2002, S. 1065 (1075). 44 R. von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger (Anm. 16), S. 152. 45 von Arnim, Das System (Anm. 31), S. 106.
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darauf, dass sich kein antragsbefugter Kläger findet, in einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Höhe steuerlich begünstigt.46 Die Veröffentlichung von Großspendern wird, wenn es opportun erscheint, leichter Hand umgangen.47 Obergrenzen für die Staatsfinanzierung entwerten die Parteien, indem sie ihren Hilfsorganisationen umso mehr Staatsgeld zuschustern.48 Der Bach des öffentlichen Geldes an Parlamentsfraktionen und Parteistiftungen ist zu einem reißenden Strom angeschwollen. Die Zahlungen haben sich in den letzten vier Jahrzehnten vervierzigfacht.49 Die Zahl der Mitarbeiter von Abgeordneten wurde epidemisch ausgeweitet,50 und diese Mitarbeiter werden massenhaft missbraucht, indem sie in rechtswidriger Weise für Parteiarbeit abgestellt werden. Die professionalisierte Kerntruppe der Parteien, die Parlamentsabgeordneten und Regierungsmitglieder, bieten einen ganz ähnliches Bild: Sie haben sich nicht nur gewaltige Überversorgungen bewilligt, sondern neben ihrem Gehalt noch hohe steuerfreie Pauschalen, deren Verfassungswidrigkeit auf der Hand liegt.51 Aber, wie gesagt: Wo kein Kläger, da auch kein Richter. Ein wirksames Gesetz gegen Abgeordnetenkorruption, das eine Konvention der Vereinten Nationen längst vorschreibt, wird vom Bundestag seit Jahren blockiert.52 Bislang kann ein Lobbyist einem Abgeordneten einen ganzen Sack voll Geld andienen, ohne etwas anderes zu riskieren, als dass der einen rauswirft. Abgeordnete verdingen sich als Cheflobbyisten von Großunternehmen oder finanzstarken Verbänden und dienen so ungeniert zwei Herren, was die Betroffenen – mangels entsprechenden gesetzlichen Verbots, das sie aber selbst erlassen müssten, – als „ganz legal“ verteidigen.53 Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre sind gleichzeitig Abgeordnete54 und beziehen ungerührt zwei Gehälter und später – aufgrund unzu46
von Arnim, Die neue Parteienfinanzierung (Anm. 43), S. 1065 (1070 f.). H. H. von Arnim, Das System, Taschenbuchausgabe, München 2004, S. 391. 48 H. H. von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 2. Aufl., München 1996, S. 134 ff. 49 von Arnim, Das System (Anm. 31), S. 106 ff. 50 H. Meyer, Das fehlfinanzierte Parlament, in: P. M. Huber/W. Mößle/M. Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, Symposium zum 65. Geburtstag von Peter Badura, Tübingen 1995, S. 17. 51 H. H. von Arnim, Politik, Macht, Geld, München 2001. 52 S. Wolf, Kritische Analyse zum Korruptionsbekämpfungsgesetz, in: ZRP 2007, S. 44 (46). 53 H. H. von Arnim, Der gekaufte Abgeordnete, in: NVwZ 2006, S. 249 (253 f.). 54 Dazu kritisch H. Meyer, Die Stellung des Parlaments in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 117 (127 ff., Rn. 23 ff.); I. von Münch, Minister und Abgeordneter in einer Person: die andauernde Verhöhnung der Gewaltenteilung, in: NJW 1998, S. 34 f. 47
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reichender Anrechnung – oft auch zwei Pensionen.55 Kanzler, Minister und politische Spitzenbeamte wechseln in hochbezahlte Führungspositionen von Großunternehmen – offenbar als nachträgliches Dankeschön dafür, dass sie deren Belange vorher im Amt gefördert haben.56 5. Kolonisierung von Staat und Verwaltung durch gezielte Ämterpatronage Die illegale Vergabe von Posten im öffentlichen Dienst grassiert.57 Das dient nicht nur der Versorgung von Parteisoldaten, sondern auch der Absicherung der Herrschaft. Politiker und Parteien versuchen vor allem die Kontrollinstanzen mit ihren Leuten zu durchsetzen; mit unterschiedlichem Erfolg zwar – es gelingt ihnen noch nicht immer und überall, aber leider immer öfter. Betroffen sind: hohe Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, die Spitzen der Rechnungshöfe, wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalten, Sachverständigenkommission sowie sonstige Einrichtungen der wissenschaftlichen Politikberatung und vieles andere. Damit werden diejenigen Bereiche „kolonisiert“, die die Politik eigentlich überwachen sollten. Das schwächt die Kontrolle gerade in Bezug auf solche Fehlentwicklungen, die die politische Klasse bewirkt, und unterläuft den Gedanken der Gewaltenteilung. Auch der geistigen Korruption wird Vorschub geleistet. Wer die parteipolitische Schere im Kopf hat – ob Redakteur, Schulleiter, Verwaltungsbeamter, Richter oder Professor –, verliert aufgrund des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Machthabern leicht jede Produktivität, von Objektivität ganz zu schweigen.58 6. Mangelndes Wahlrecht und deformierter Föderalismus: Organisierte Unverantwortlichkeit Die Verfassungsgebung durch das Volk ist die eine, die periodisch wiederkehrende Wahl der Abgeordneten, frei und unmittelbar durch das Volk, ist die andere große Forderung der demokratischen Bewegung. Diese Forderung hat im Laufe der Zeit immer noch mehr an Gewicht gewonnen, weil 55
von Arnim, Politik, Macht, Geld (Anm. 51), S. 19 ff., 84 ff. H. H. von Arnim, Nach-amtliche Karenzzeiten für Politiker?, in: ZRP 2006, S. 44 ff. 57 H. H. von Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980; ders., Auswirkungen der Politisierung des öffentlichen Dienstes, in: C. Böhret/H. Siedentopf (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungspolitik, Berlin 1983, S. 219 ff. 58 von Arnim, Das System (Anm. 31), S. 170 ff. 56
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die Bedeutung und der Einfluss des Staates sich vervielfacht haben: Vor 175 Jahren nahm die Obrigkeit kaum zehn Prozent des Sozialprodukts durch Steuern und Abgaben in Anspruch. Heute sind es rund 50 Prozent. Auch die Interventionen des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft haben zugenommen. Entsprechend gewachsen sind das Interesse und der Wunsch der Bürger, mitzubestimmen, was der Staat wie und wofür tut. Dazu haben auch das zunehmende Selbstbewusstsein der Bürger und die „partizipatorische Revolution“,59 die durch den sogenannten Wertewandel ausgelöst wurden,60 beigetragen. Doch wie sieht es mit dem demokratischen Fundamentalrecht der Bürger in der Praxis aus? Die Vielzahl der Wahlen zum Bundestag und zum Europäischen Parlament, zu sechzehn Landesparlamenten und zu tausenden von Kreistagen, Stadt- und Gemeindevertretungen erweckt zwar den Eindruck, die Bürger hätten unheimlich viel zu sagen, aber der Schein trügt. Das Wahlrecht wurde im Laufe der Jahrzehnte – jedenfalls auf den staatlichen Ebenen und der Europaebene – immer mehr entwertet. Früher konnte der Bürger immerhin zwischen zwei unterschiedlichen Parteilagern wählen: den Sozialdemokraten und liberal-konservativen Kräften. Inzwischen sind die Unterschiede zwischen Union und SPD aber fast völlig abgeschliffen. Beide verfolgen, genau genommen, eine sozialdemokratische Politik.61 Hinzu kommt, dass die Parteien uns ein Wahlsystem aufgezwungen haben, das die Zurechenbarkeit politischer Maßnahmen erst recht erschwert – bis hin zur Unmöglichkeit. Der Kern der Demokratie besteht mit den Worten Raimund Poppers darin, dass die Bürger die Möglichkeit bekommen, schlechte Regierungen ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Doch dafür muss der Bürger in die Lage versetzt werden, zu erkennen, wem er welche politische Entscheidung verdankt. Voraussetzung ist also die Erkennbarkeit der politischen Verantwortung. Der Hauptmangel unseres politischen Systems, so wie es sich über die Jahrzehnte entwickelt hat, ist, dass eine solche politische Verantwortung regelmäßig nicht erkennbar ist, sondern im Gestrüpp der verflochtenen Zuständigkeiten total zerfließt.
59 Z. B. W. Bürklin, Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Betätigung, in: K. Starzacher/K. Schacht/B. Friedrich/T. Leif (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie?, Köln 1992, S. 18 ff. 60 H. Klages, Werteorientierungen im Wandel, Frankfurt a. M./New York 1984, S. 39 ff. 61 Siehe dazu auch das von R. Dahrendorf geprägte Wort vom „sozialdemokratischen 20. Jahrhundert“.
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a) Responsible party government? Wir kennen zwei Grundmodelle zur Sicherung politischer Verantwortung in der Demokratie. Das eine Modell ist das der verantwortlichen Parteienregierung („responsible party government“). Hier wählen die Bürger zwischen alternativen Parteien, von denen eine die Mehrheit im Parlament besitzt und die Regierung stellt. Sind die Bürger mit ihren Leistungen unzufrieden, so wählen sie die Mehrheitspartei bei den nächsten Parlamentswahlen ab und bringen die Opposition an die Macht. Indes: Für den Bürger ist es in unserem mehrfach geschichteten Gemeinwesen mit seinen vielen verschiedenen Ebenen fast unmöglich, den Überblick zu behalten, weil die staatlichen Ebenen untereinander vielfach verflochten sind. Das macht dem Wähler die Orientierung praktisch unmöglich. Woher soll er – angesichts des verschachtelten Kompetenzwirrwarrs – noch wissen, welche Ebene für welche Themen zuständig ist? Zudem haben wir ein Wahlrecht, das die politische Zurechenbarkeit erst recht erschwert. Regierungen kommen – aufgrund des vorherrschenden Verhältniswahlrechts – fast immer nur durch Koalitionen von zwei oder mehr Parteien zustande. Regierungswechsel erfolgen meist nicht durch Wahlen, sondern durch neue Koalitionen. (Davon gab es im Bund bisher nur eine Ausnahme: der Regierungswechsel von 1998.) Koalitionsabsprachen werden aber erst nach der Wahl, hinter dem Rücken der Wähler, getroffen. Hinzu kommt: Nach unserem System muss – auch nach der Föderalismusreform – der Bundesrat den wichtigsten Bundesgesetzen zustimmen, sonst können sie nicht wirksam werden, und der Bundesrat war vor 2005 meist mehrheitlich in der Hand der Opposition. Dann ist die Regierung auf die Opposition angewiesen. Die Opposition aber neigt leicht dazu, aus machtpolitischen Gründen der Regierung jeden Erfolg zu missgönnen und sie mit ihrem Nein an die Wand fahren zu lassen. Stimmt der Bundesrat aber doch zu, verschwimmt erst recht die Verantwortung.62 Den „Landesfürsten“ kommt die Macht des Bundesrats zwar entgegen, denn sie gewinnen auf diese Weise die Möglichkeit, sich auf Bundesebene zu profilieren, und dort wird nun mal die politische Musik gespielt. All das geht aber auf Kosten der Landesparlamente, die dadurch an Einfluss verlieren, und besonders auf Kosten der Bürger, die nicht mehr durchblicken, und damit zu Lasten der Funktionsfähigkeit des ganzen Systems. In der Landespolitik ist die Verflüchtigung der Verantwortung fast noch größer. Denn die sechzehn Bundesländer stimmen ihre Politik in länder62 Zum Ganzen H. H. von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, München 2000, Teil 2.
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übergreifenden Gremien, wie der Kultusministerkonferenz, untereinander ab. Es gibt fast tausend derartige Koordinierungsgremien, in denen Gesandte der Regierungen und Verwaltungen der Länder sich absprechen. Das bindet dann faktisch die Regierungen und entmachtet die Landesparlamente noch weiter (von den Landesbürgern ganz zu schweigen). Denn die Regierungsfraktionen wollen ihre Regierung, die an den Absprachen mit den anderen Ländern festhält, nicht desavouieren, und der Opposition fehlen meist die nötigen Informationen, um fundiert Kritik zu üben. Zudem sind ihre Parteigenossen in anderen Bundesländern an der Regierung und damit an den länderübergreifenden Absprachen beteiligt. (Deshalb ist auch von den zusätzlichen Kompetenzen, welche die Länder durch die kleine Föderalismusreform bekommen haben, nicht viel zu erwarten.) Alle diese Formen der „Politikverflechtung“ bewirken, „dass am Ende niemand mehr weiß, wer für welche Entscheidung überhaupt verantwortlich zu machen ist.“ (Warnfried Dettling). Der Wähler kann gute Politik nicht mehr mit dem Stimmzettel belohnen und schlechte Politik nicht bestrafen, wie es die Demokratie verlangt. Es herrscht ein Zustand organisierter Unverantwortlichkeit,63 ein Ausdruck, der nicht etwa von Revoluzzern stammt, sondern sich auch in einem Reform-Papier der beiden CDU-Politiker Roland Koch und Jürgen Rüttgers und in der Abschiedsrede des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau findet. Erfolge rechnet sich jeder zu, für Misserfolge sind dagegen immer die anderen verantwortlich. Weil alle beteiligt sind, trägt in Wahrheit niemand die Verantwortung. Das ist für die politische Klasse zwar angenehm. Ihr Berufsrisiko wird stark gemindert. Deshalb hat sie die Verantwortungsscheu ja auch zum System gemacht. Umgekehrt werden aber Bürger und Wähler vollends orientierungslos und die Steuerungsfähigkeit des Systems weitgehend aufgehoben. b) Responsible persons government? Wird es für den Wähler nun zunehmend unmöglich (und ganz „systematisch“ auch unmöglich gemacht), zwischen den einzelnen Parteien zu unterscheiden, ihnen eine bestimmte Politik zuzurechnen und sie dafür verantwortlich zu machen, sollten sie zumindest die Personen bestimmen können, die politische Ämter innehaben. Damit sind wir beim zweiten Modell der Wettbewerbsdemokratie: der Regierung verantwortlicher Personen („responsible persons government“). Hier ist es weniger wichtig, für welches Programm die Partei steht als welche Personen zur Wahl stehen. 63 H. H. von Arnim (Hrsg.), Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?, Berlin 2004.
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Doch in Wahrheit kann der deutsche Wähler nicht einmal über die Personen, die ihn in den Parlamenten vertreten sollen, entscheiden. Die meisten Abgeordneten stehen in Deutschland – aufgrund parteiinterner Nominierungen – schon lange vor der Wahl eindeutig fest. Viele Wahlkreise gelten als „sicher“. Hier kann die dominierende Partei den Bürgern auch höchst mittelmäßige Abgeordnete aufzwingen. In anderen Fällen ist der Ausgang im Wahlkreis zwar ungewiss. Doch die Kandidaten sind zusätzlich über die Parteiliste abgesichert, so dass sie in das Parlament kommen, auch wenn sie im Wahlkreis verlieren.64 Von der grundgesetzlich vorgeschriebenen freien und unmittelbaren Wahl durch die Bürger kann ehrlicherweise nicht mehr die Rede sein.65 Vor einiger Zeit war ich mit den beiden Bundestagsabgeordneten Peter Altmaier und Dieter Wiefelspütz in einer Fernseh-Talkrunde. Es ging um unser Wahlsystem. Dabei sind beide Abgeordnete selbst typische Beispiele für die Abschottungstendenz gegenüber dem Wähler. Peter Altmaier von der CDU war zwar bei der Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Saarlouis dem SPD-Kandidaten Ottmar Schreiner unterlegen, Altmaier kam aber dennoch ins Parlament, weil die CDU ihn auf der saarländischen Landesliste abgesichert hatte. Dieter Wiefelspütz von der SPD trat im Wahlkreis Hamm-Unna II an, einem sicheren Wahlkreis seiner Partei, den er erwartungsgemäß mit hohem Vorsprung gewann. Im selben Wahlkreis kandidierten auch noch Laurenz Meyer (CDU) und Jörg van Essen (FDP). Diesen beiden tat ihre Niederlage im Wahlkreis aber überhaupt nicht weh, weil sie beide sichere Plätze auf den Listen ihrer Parteien innehatten und deshalb von vornherein feststand, dass auch sie in den Bundestag einziehen würden. Der heftige Wahlkampf in Saarlouis, Hamm-Unna II und Hunderten anderen Wahlkreisen war nur ein inszeniertes Scheingefecht, das die Wähler darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie in Wahrheit nichts zu sagen haben. Damit ist die ganze Konzeption von der repräsentativen Demokratie, wie sie dem Grundgesetz zugrunde liegt, in Wahrheit ohne Fundament. Die Bürger können die Abgeordneten nur dann als ihre Repräsentanten ansehen und die von ihnen beschlossenen Gesetze nur dann als bindend anerkennen, wenn sie ihre Vertreter wirklich gewählt haben, frei und unmittelbar, wie es das Grundgesetz ja auch ausdrücklich vorschreibt. Genau das ist aber nicht der Fall. Wer ins Parlament kommt, wird von den Parteien bestimmt. Das Parteienmonopol ließe sich nur aufbrechen, wenn man die starren Parteilisten beseitigen würde. Zugleich müsste man Vorwahlen einführen, 64
H. H. von Arnim, Wahlen ohne Auswahl – Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordneten, in: ZRP 2004, S. 115 ff. 65 H. H. von Arnim, Wählen wir unsere Abgeordneten unmittelbar?, in: JZ 2002, S. 578 ff.
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damit den Wählern auch in sicheren Wahlkreisen eine Auswahl verbleibt. Volksbegehren und Volksentscheid müssten auch auf Bundesebene eröffnet werden. Solange dies nicht geschieht, hat der Bürger – jedenfalls auf den oberen Ebenen – wenig zu sagen. Das könnte man ja, vielleicht, äußerstenfalls, noch hinnehmen, wenn dadurch die Handlungsfähigkeit der Regierungsmehrheit gestärkt würde. Doch auch hier ist, wie gesagt, Fehlanzeige zu vermelden. Die Regierung ist auf alle und jeden angewiesen, und das schwächt ungemein. Nicht politische Handlungsfähigkeit, sondern Blockademacht ist charakteristisch für unser System. Die Schwäche der Regierungen verschafft anderen – extrakonstitutionellen – politischen Akteuren umso größeres Gewicht. 7. Politische Korrektheit Die politische Klasse hat also selbst die für die repräsentative Demokratie schlechthin konstitutiven Wahlen nach ihren Interessen gestaltet und dadurch pervertiert. Der Einfluss der politischen Klasse geht aber weit über die Festlegung der formalen Regeln hinaus. Sie hat auch die Einrichtungen, die das politische Denken prägen, fest im Griff. Die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, die Parteistiftungen und die meisten Volkshochschulen sind in ihrer Hand. Kaum ein Leiter einer größeren Schule, der nicht auch unter parteipolitischen Gesichtspunkten berufen wird, Führungskräfte der öffentlich-rechtlichen Medien werden nach Parteibuch bestellt. Die politische Klasse vergibt Ämter mit dem höchsten Ansehen bis hin zu den Bundes- und Landesverfassungsrichtern. Sie bevorzugt ihr nahe stehende Wissenschaftler bei ehrenvollen Berufungen und prestigeträchtigen Gutachten und Prozessvertretungen und spart nicht mit Dankbezeugungen für wissenschaftliche Doktrinen, die den bundesdeutschen Parteienstaat in möglichst hellem Licht erstrahlen lassen. Die politische Klasse verleiht alle Arten von Orden und Ehrenzeichen und verpflichtet sich so fast alle zur Dankbarkeit, die öffentlich etwas zu sagen haben. Das erleichtert es ihr umgekehrt, eine Sprachregelung der politischen Korrektheit zu schaffen. Diejenigen, die gegen den Stachel löcken und an die Wurzel gehende Kritik an den Verhältnissen üben, werden als politisch inkorrekt gebrandmarkt, notfalls auch persönlich diffamiert und ins politische oder berufliche Abseits gestellt. Und wenn dann gar einer vom inneren Kreis der Berufspolitiker sich zu einer Fundamentalkritik aufrafft, wie der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner eingangs erwähnten Parteienschelte, wird das von der politischen Klasse und (fast) allen ihren unzähligen Zuarbeitern als Ausdruck von Undankbarkeit, ja von Verrat hingestellt. Berufspolitiker verfügen damit – als einzige Berufs-
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gruppe überhaupt – nicht nur über die gesetzlichen und wirtschaftlichen, sondern weitgehend auch über die ideologischen Bedingungen ihrer eigenen Existenz. Die realen Machtverhältnisse sprechen der geschriebenen Verfassung Hohn. Die politische Klasse ist so drauf und dran, sich den Staat vollends zur Beute zu machen – mit tiefgreifenden Rückwirkungen auf das politische System und die politische Kultur insgesamt. 8. Direkte Demokratie als Instrument „legaler Revolution“ zur Domestizierung der politischen Klasse Kennzeichnend für unsere Republik ist eine klaffende Diskrepanz zwischen verfassungsrechtlichem Anspruch und tatsächlicher Wirklichkeit. Die grundlegenden Regeln des Machterwerbs wurden im Laufe der Zeit von der politischen Klasse nach ihren Belangen derart gestaltet, dass sich die Frage stellt, ob und inwieweit von einer „Regierung durch und für das Volk“66 wirklich noch die Rede sein kann. Annemarie Renger hatte auf der 150-Jahr Feier 1982 als eine der ganz wenigen Rednerinnen auf die Gefahr hingewiesen, die von allzu viel Macht in den Händen einer anonymen politischen Klasse und einer „Demokratie kleiner Eliten“ ausgeht, die „gewöhnliche Parteimitglieder“ weggraulen, zum Vertrauensverlust bei den Bürgern führen und den „Sinn für das Gemeinwohl“ erlahmen lassen67 – Hinweise, die seitdem an Berechtigung eher noch gewonnen haben. Die politische Klasse hat sich in parteiübergreifender Einigkeit die Regeln des Machterwerbs und Machterhalts wie das Wahlrecht, den Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie die spezifisch deutschen föderalistischen Strukturen nach ihren Interessen zugeschnitten.68 Das hat dem politischen Wettbewerb seine Steuerungsfunktion zum großen Teil genommen.69 Als Gegengewicht kommt meines Erachtens nur das Volk selbst in Betracht. Nur der wahre demokratische Souverän ist in der Lage, den angemaßten in die Schranken zu weisen. Anders als vor 175 Jahren bedarf es dazu zum Glück keiner blutigen Revolution mehr, und die Befürworter solcher Reformen werden auch nicht ins Gefängnis geworfen. Es reicht, die Instrumente der direkten Demokratie, mit denen die Verhältnisse bereinigt werden könnten, entschlossen zu gebrauchen, und zwar an den strategischen Stellen, das heißt, bezogen auf die Re66
So die klassische Definition der Demokratie durch Abraham Lincoln. Zitiert nach Staats-Zeitung Rheinland-Pfalz vom 1.6.1982. 68 H. H. von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, Taschenbuchausgabe, München 2002, Kapitel 2. 69 von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern (Anm. 38); ders., Das System (Anm. 31). 67
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geln des Machterwerbs.70 Dies ist auch die Auffassung einiger prominenter Staatsrechtslehrer, was in der wissenschaftlichen und der öffentlichen Diskussion bisher allerdings völlig untergegangen ist.71 Auf Landesebene ist es bereits möglich, solche „legalen Revolutionen“ durchzuführen, auf Bundesebene müssen Volksbegehren und Volksentscheid erst noch eingeführt werden. Damit würde auch wirkliche Volkssouveränität eingeführt. Denn das Nicht-Gebrauch-Machen von der Möglichkeit, das Grundgesetz jederzeit zu ändern, könnte vernünftigerweise als Einverständnis mit dessen aktuellem Inhalt interpretiert werden.72 IV. Warum steht Hambach nach wie vor im Schatten? Angesichts der Modernität der Hambacher Forderungen erstaunt es heute immer wieder, warum dieses Fanal der Freiheit, der Einheit Deutschlands und Europas, dem wir zudem unsere bundesrepublikanischen Farben schwarz-rot-gold verdanken, nicht im Mittelpunkt unserer kollektiven Erinnerung steht, hatte doch schon Carlo Schmid treffend bemerkt, dass wir Deutschen „nicht sehr viele Tage zu feiern“ haben, „an denen eines Kampfes des Volkes, das seine Freiheit und Einheit gegen die sture Obrigkeit behauptet, gedacht werden“ kann.73 Der Grund für das Schattendasein des Hambacher Fests scheinen mir teils schleichende, teils gezielte „Geschichtsund Erinnerungspolitiken“74 zu sein, die nur eins gemeinsam hatten: Sie gingen alle zu Lasten Hambachs. Schon zu ihrer Zeit stießen die Hambacher auf den Widerspruch der Wortführer des Liberalismus. Karl von Rotteck, dessen Schüler und Freund 70 von Arnim/Heiny/Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit (Anm. 38), S. 65 ff. mit weiteren Nachweisen. 71 E.-W. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl., Heidelberg 2005, S. 41; ders., Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: G. Müller (Hrsg.), Staatsorgansiation und Staatsfunktion im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel u. a. 1982, S. 301, 316; P. Lerche, Grundfragen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, in: P. M. Huber/W. Mößle/M. Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie (Anm. 50), S. 179, 186 f.; K. Vogel, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Vortrag auf der katholischen Akademia in Bayern am 25.9.1992 in München, Typoskript, S. 18. 72 H. Abromeit, Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt a. M. 1999, S. 20 f.; H. H. von Arnim, Das System (Anm. 31), S. 260 f. 73 C. Schmid, Hambacher Fest, in: Die Pfalz am Rhein 30 (1957), S. 74. 74 E. Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1999.
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Siebenpfeiffer ursprünglich gewesen war, distanzierte sich nachdrücklich vom Hambacher Fest. Als Mitglied der Zweiten Badischen Kammer, die 1831 neu gewählt worden war,75 war er gegen Volkssouveränität und gegen Republik, die, wie er – die Schrecken der Französischen Revolution vor Augen – meinte, nur durch eine „schauerliche“ Revolution erlangt werden könnten, was ihm – Napoleon im Blick – aber auch dann ungewiss erschien.76 Die Vorbehalte des Liberalismus hatten darüber hinaus noch einen ganz anderen Grund: Leute wie Siebenpfeiffer und Wirth waren in seiner Sicht von vornherein verdächtig, weil sie nicht dem Bild vom Besitzbürger entsprachen, der damals allein als wirtschaftlich und politisch mündig anerkannt war und dem deshalb allein das Wahlrecht zugestanden wurde.77 Siebenpfeiffer, Sohn eines Schneiders und früh verwaist, hatte sich zu einem Studium der Philosophie und des Rechts entbehrungsreich durchkämpfen müssen. Wirth war es genauso gegangen. Auch er war in seiner Studentenzeit fast mittellos gewesen und hatte sein Jurastudium schließlich abbrechen müssen.78 Beiden wurde vorgeworfen, sie verdienten keinerlei Vertrauen, da sie – mangels Besitzes – mit ihren revolutionären Forderungen nichts riskierten79 – eine These, die angesichts der Vernichtung ihrer gesellschaftlichen Existenz, die Siebenpfeiffer und Wirth schließlich erlitten, geradezu zynisch erscheint. Doch wer wie Siebenpfeiffer und Wirth allen volljährigen Männern – von Frauen war ohnehin noch nicht die Rede – das Wahlrecht geben wollte, wurde damals – und über das ganze 19. Jahrhundert hinweg bis ins 20. Jahrhundert hinein – schlicht als „linksextrem“ und politisch nicht ernst zu nehmen verschrien. Nach den harten Reaktionen der Staatsmacht auf das Hambacher Fest – Verschärfung der Pressezensur, Einmarsch des Militärs, Verhaftung, Kerkerhaft und Verurteilung der beiden Anführer Siebenpfeiffer und Wirth und Massenentlassung von Beamten80 – wollten auch die Pfälzer selbst nichts mehr von den aufmüpfigen Hambacher Ideen wissen, sondern als brave Untertanen der monarchischen Obrigkeit huldigen. Das fand seinen demonstrativen Ausdruck darin, dass sie 1842, also zehn Jahre nach dem Hambacher Fest, die Ruine des Schlosses dem bayerischen Kronprinzen Maximilian zum Hochzeitsgeschenk machten, sie zu diesem Zweck aber in „Maxburg“ umbenannten und sie so als Erinnerungsort deutscher Freiheitsbewegung erst einmal verschenkten.81 75 76 77 78 79 80 81
Gembries, Karl von Rotteck (Anm. 22), S. 96. Gembries, Karl von Rotteck (Anm. 22), S. 97. von Arnim, Staatslehre (Anm. 7), S. 78 ff. Hüls, Johann Georg August Wirth (Anm. 19), S. 55 ff. Gembries, Karl von Rotteck (Anm. 22), S. 102. Fisch, Das Hambacher Fest (Anm. 4), S. 108. Ebd., S. 103, 108.
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Der Blick der deutschen Öffentlichkeit stand im 19. Jahrhundert ohnehin im Banne der preußisch-österreichischen Rivalität um die Vorherrschaft. Und im Zeichen der deutschen Einigung unter Führung von Bismarcks Preußen gerieten die Forderungen und die Aktivitäten der Hambacher erst recht ins Abseits. Dominierende Historiker und Staatsrechtslehrer waren staatstreu bis zur wissenschaftlichen Selbstaufgabe. Ihnen war die Erinnerung an die radikal-liberalen, „linksextremen“ Proteste zutiefst zuwider. Heinrich von Treitschke, offizieller Historiograf des preußischen Staates und Verkörperung des klassischen Typus des staatsfrommen deutschen Professors, verherrlichte völlig vorbehaltlos die preußische Staatsidee und den Reichskanzler Bismarck. Treitschke war Apologet des Gottesgnadentums und entschiedener Gegner jeder Demokratisierung. Er ließ, soweit er das Hambacher Fest in seinem ungeheuer einflussreichen Werk „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“ überhaupt erwähnte, kein gutes Haar daran.82 Siebenpfeiffer und Wirth hatten agitiert, sie hatten es gewagt, die Mängel des monarchischen Systems zu benennen und sich gegen die Autoritäten zu stellen. Sie hatten mit der ganzen Existenz für ihre Ideen büßen müssen – ganz anders als mit Würden überschüttete Lehrstuhlinhaber, die der Obrigkeit nach dem Munde reden. Siebenpfeiffer hatte schon zu seiner Zeit die allzu große Regierungsfreundlichkeit mancher Professoren kritisiert, ihr „ekelhaftes Lobhudeln der Fürsten“ und die „konstitutionelle Lüge“, mit der sie am Prinzip des Gottesgnadentums festhielten.83 Treitschke und seine Gesinnungsgenossen mussten sich noch Jahrzehnte später davon persönlich getroffen fühlen und entgalten es ihm und den anderen Hambachern auf ihre Weise. Ähnlich wie Treitschke waren auch öffentliche Wortführer der Staatsrechtslehre eingestellt. Philipp Zorn nannte die Hohenzollern das „ruhmvollste aller Herrschergeschlechter der Erde“.84 Friedrich Julius Stahl, der 1840 auf persönlichen Wunsch des neuen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen worden war,85 verherrlichte in einer Monographie das „monarchische Prinzip“.86 Paul Laband argumentierte den Verfassungsbruch Bismarcks mit einem formalen Kunstgriff hinweg, und 1893 versicherte ihm der Kaiser huldvoll, er bedauere, bei Laband keine Vorlesungen gehört zu haben.87 82 H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. IV, 1889 (zitiert nach der Ausgabe von 1929), S. 247. Siehe auch Wadle, Philipp Jakob Siebenpfeiffer (Anm. 17), S. 91. 83 Zitiert nach Gembries, Karl von Rotteck (Anm. 22), S. 99. 84 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 301. 85 Ebd., S. 152 f. 86 F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845.
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Die Systemnähe der Staatsrechtslehre mag in der Natur des Staatsrechts als geronnener Politik liegen. Sie zeigte sich besonders drastisch in den beiden deutschen Diktaturen: 1933 bis 1945 unter dem Naziregime und 1945 bis 1990 in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR.88 Auch heute ist Systemkritik, mag sie auch noch so berechtigt sein, regelmäßig nicht Sache der Hauptrichtungen der Staatsrechtslehre.89 Als sich die Freiburger Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 2007 mit dem Thema „Das Staatsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit“ befasste, wurde ausgiebig über Methoden der Verfassungsinterpretation gesprochen, aber selbst offensichtliche Abweichungen der Wirklichkeit von der Norm – wie mangelnde Souveränität des Volkes90 und ihr praktischer Übergang auf die politische Klasse, parteipolitische Ämterpatronage,91 fehlende Unmittelbarkeit der Parlamentswahlen etc. – wurden weder in den beiden Referaten noch in der ausführlichen Diskussion behandelt. Wir Staatsrechtslehrer haben uns eben „das Verfassungsprinzip ‚Parteienstaatlichkeit‘ mit viel zu weit gehenden Konsequenzen aufschwätzen lassen“, wie Klaus Schleich schon 1978 selbstkritisch bekannte.92 Große Teile der Politikwissenschaft93 und der Geschichtswissenschaft suchen ihre Kritiklosigkeit gegenüber Systemmängeln94 beispielsweise mit irrealen plu-
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M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Anm. 84), S. 342 f. B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, in: JZ 2007, S. 556. Zur deutschen Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus auch: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 60 (2001), S. 9 ff. 89 Bemerkenswert allerdings eine Petition von 86 deutschen Staatsrechtslehrern an den Bundesrat im Jahre 1995, mit der sie – zum Unwillen wohl der Mehrheit auf der Wiener Staatsrechtslehrertagung – dazu beitrugen, dass der Versuch des Bundestags, den Diätenartikel des Grundgesetzes im eigenen Interesse zu entschärfen, am Nein des Bundesrats scheiterte. Dazu H. H. von Arnim, Das neue Abgeordnetengesetz, 2. Aufl., Speyer 1997 (Speyerer Forschungsberichte Nr. 169), S. 18 f. 90 C. Hillgruber nannte die Volkssouveränität zwar eine Fiktion (siehe oben Anm. 34), ohne dass diese Aussage aber vertieft oder problematisiert worden wäre. 91 Nur D. Murswiek sprach in einem Diskussionsbeitrag das Thema parteipolitische Ämterpatronage kurz an, ohne aber in der weiteren Diskussion irgendeine Resonanz zu erhalten. 92 VVDStRL 37 (1979), S. 157. 93 Dazu H. H. von Arnim, Der Staat als Beute, München 1993, S. 324 ff.; ders., Fetter Bauch regiert nicht gern (Anm. 38), S. 105 ff.; ders., Das System (Anm. 31), S. 211 ff. 94 Kritisch gegenüber der Parteinahme des mainstreams der Politikwissenschaft für den status quo auch M. T. Greven, Aktualität und Bedeutung einer kritischen Politikwissenschaft nebst Bemerkungen zur Pluralismustheorie, in: R. Eisfeld, Streitbare Politikwissenschaft, Baden-Baden 2006, S. 7 (10 ff.). 88
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ralistischen Harmonievorstellungen95 zu rechtfertigen96 und korrigierende Gemeinwohlkonzepte97 verächtlich zu machen.98 Hinzu kommen nach wie vor Vorbehalte gegen die „linksextremen“ Hambacher, wobei man übersieht, dass die Verhältnisse sich seitdem völlig gewandelt haben und was früher links war, heute in der Mitte angekommen ist. Die dominanten Zweige der Wissenschaften von Staat und Politik pflegen die Dinge aus der Sicht derer, die das Staatsrecht machen, der Regierenden, zu betrachten und nicht aus der Sicht der Bürger. Dabei läge eine den Hambachern entsprechende Perspektive heute umso näher. Hambach könnte zum schwarz-rot-goldenen Symbol einer stolzen Demokratiegeschichte werden. Sie könnte Symbol dafür werden, dass Demokratie niemals perfekt, niemals voll erreicht ist, dass wir immer auf dem Weg sind und deshalb Reformen immer wieder erforderlich sind. Anzeichen für einen gewissen Wandel in der Erinnerungskultur schienen sich in den 80er Jahren anzubahnen. Seit der Vereinigung und der Verlagerung der Hauptstadt nach Berlin scheint dagegen eine erneute „Borussifizierung“ der Nationalgeschichte um sich zu greifen.99 Dass gerade die Wissenschaft vom Staat und von der Politik „kein Geschäft für Leisetreter und Opportunisten“ sein sollte, hat E. Fraenkel, einer der großen deutschen Politikwissenschaftler der Anfangszeit der Bundesrepublik, betont. Fraenkel fährt fort: „Eine Politikwissenschaft, die nicht bereit ist, ständig anzuecken, die sich scheuen wollte, peinliche Fragen zu stellen, die davor zurückschreckt, Vorgänge, die kraft gesellschaftlicher Konvention zu arcana societatis erklärt worden sind, rücksichtslos zu beleuchten, und die es unterlässt, freimütig gerade über diejenigen Dinge zu reden, über die ‚man nicht spricht‘ “, habe „ihren Beruf verfehlt.“100 95
Dazu kritisch von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen (Anm. 29), S. 148 ff.; T. Leif/R. Speth (Hrsg.), Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden 2003, Einführung der Herausgeber, S. 7 (16). 96 So etwa M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974; ders., Staatsrechtslehre und Politik, Heidelberg 1996, S. 21 ff. 97 H. H. von Arnim/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin 2004. 98 Siehe zum Beispiel U. von Alemann, Die Woche vom 18.8.1994, S. 8; dazu von Arnims Erwiderung, Die Woche vom 15.9.1994, S. 39. Ähnlich die SPD-Schatzmeisterin I. Wettig-Danielmeier, Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht der Sitzung vom 12.11.1993, S. 16410: „Der Ruf nach Gemeinwohl kaschiert immer noch den Ruf nach dem Obrigkeitsstaat.“ Vgl. auch A. Gunlicks, Newsletter of the Conference Group on German Politics, March 1994, S. 5: „ ‚The people‘ (Is there really such a thing?) and ‚the common good‘ (How does one define it?)“. 99 So wohl mit Recht Schunk/Nestler, Der Wandel der Hambach-Erinnerung (Anm. 8), S. 241 (248). 100 E. Fraenkel, in: ders., Reformismus und Pluralismus, Hamburg 1973, S. 337 (344).
Erhebungen des Bundesrechnungshofs im Bereich der Steuerverwaltung Dieter Engels Heinrich Siedentopf hat in seinem Wirken Fachgrenzen überwunden: jene, die bisweilen zwischen Wissenschaft und Praxis bestehen, und jene, welche die Terrains von Legislative, Exekutive, Judikative und auch externer Finanzkontrolle markieren. Seine Arbeit als Wissenschaftler und Hochschullehrer, vor allem aber seine Tätigkeit als Schriftleiter der DÖV war und ist erkennbar dem Ziel gewidmet, Erkenntnisse aus allen diesen Bereichen zusammenzuführen und einander fruchtbar zu machen. Ihm gilt daher in Dankbarkeit der nachfolgende Bericht, der von Spannungsfeldern zwischen Bund und Ländern, aber auch von dem Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft, von Parlament und Verwaltung, von Justiz und Rechnungshöfen handelt – einem Zusammenspiel, welches darauf ausgerichtet ist, den verfassungsrechtlich verankerten Grundsätzen der Vollständigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung1 Geltung zu verschaffen2. I. Die rechtlichen Grundlagen Der Bericht nimmt seinen Ausgang 1949 mit der Verabschiedung des Grundgesetzes. Aufgrund einer Intervention der Militärgouverneure3 legten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Steuerverwaltung in die Hände der Länder, nicht des Bundes. Mit Ausnahme der in Art. 108 Abs. 1 GG 1 Vgl. hierzu BVerfGE 84, 233 – Zinsbesteuerung –; zu der in diesem Zusammenhang grundlegenden Bedeutung des Gleichheitssatzes, der zu Recht als „magna Charta des Steuerrechts“ gilt, vgl. K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I. Wissenschaftsorganisatorische, systematische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 1993, S. 314. 2 Zu der Bedeutung, welche die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung für die Steuermoral hat, vgl. J. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 418. 3 Vgl. hierzu die Leitsätze, welche die drei Besatzungsmächte in den sog. Frankfurter Dokumenten vom 1. Juli 1948 niedergelegt hatten. Zu weiteren Einzelheiten vgl. W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung. Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen. Heft 70. 2002, S. 91 bis 105; ferner: Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung: Probleme beim Vollzug der Steuergesetze. Stuttgart 2006, S. 21 f.
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genannten Zölle, Finanzmonopole und bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern werden seitdem die Steuern gemäß Art. 108 Abs. 2 GG durch Landesfinanzbehörden verwaltet. Soweit die Steuern dem Bund entweder – wie die Versicherungssteuer – ganz zufließen oder ihm – wie die Umsatz- und die Einkommensteuer – zum Teil zustehen, werden die Landesfinanzbehörden nach Art. 108 Abs. 3 GG im Auftrag des Bundes tätig. Dies bedeutet viererlei: – Sie sind Landesverwaltungen, da auch Auftragsverwaltung Landesverwaltung ist4. – Sie unterliegen der Bundesaufsicht hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit und der Zweckmäßigkeit ihres Handelns, und zu diesem Zwecke kann der Bundesminister der Finanzen Bericht und Vorlage der Akten verlangen sowie Beauftragte entsenden, Art. 85 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 108 Abs. 3 S. 2 GG. – Zum Weiteren unterstehen sie den Weisungen des Bundesministers der Finanzen gemäß Art. 85 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 108 Abs. 3 S. 2 GG. – Zudem kann die Bundesregierung allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, und zwar mit Zustimmung des Bundesrates, soweit die Verwaltung der Steuern den Landesfinanzbehörden obliegt, Art. 108 Abs. 7 GG. II. Weisungsrechte des Bundesministers der Finanzen? So klar dieses Regelungssystem auf den ersten Blick ist, so sehr enthält es Tücken im Detail. Denn es stellte sich sehr schnell die Frage, was unter dem Weisungsrecht des Bundesministers der Finanzen nach Art. 85 Abs. 3 i. V. m. Art. 108 Abs. 3 S. 2 GG zu verstehen sei: nur die Einzelweisung5 an eine Landesfinanzbehörde oder auch eine allgemeine Weisung, durch welche die Finanzbehörden aller Länder zu einer bestimmten Handlung oder Unterlassung verpflichtet werden? Die Frage beschäftigte zunächst nur die Wissenschaft, und es war Theodor Maunz, der 1961 die Auffassung vertrat, mit dem Weisungsrecht nach Art. 85 Abs. 3 GG sei nur die Einzelweisung, nicht die allgemeine Weisung gemeint6. Das Argument für diese Auslegung des Art. 85 Abs. 3 GG lautete: Wäre die allgemeine Weisung erfasst, so könnte der Bundesminister 4
Vgl. nur BVerfGE 63, 1 (43). Die Zulässigkeit einer Einzelweisung ist unbestritten, vgl. W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung (Anm. 3), S. 132. 6 Th. Maunz, in: Maunz-Dürig: Kommentar zum Grundgesetz (1961) Art. 85 Rn. 28. 5
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der Finanzen die Regelung des Art. 108 Abs. 7 GG umgehen, nach der allgemeine Verwaltungsvorschriften – erstens – nur mit Zustimmung des Bundesrates und – zweitens – nur von der Bundesregierung, nicht von ihm alleine erlassen werden dürfen; denn eine allgemeine Weisung und eine allgemeine Verwaltungsvorschrift lassen sich kaum unterscheiden, und folglich bräuchte der Bundesminister der Finanzen einer von ihm erlassenen Regelung nur den Namen „allgemeine Weisung“ zu geben, um die Kautelen des Art. 108 Abs. 7 GG zu umschiffen. Die Länder machten sich aus naheliegenden Gründen die Auffassung von Theodor Maunz zu eigen und vertraten fortan gegenüber dem Bundesminister der Finanzen die Auffassung, er sei ihnen gegenüber gemäß Art. 108 Abs. 3 GG ausschließlich zu Einzelweisungen, nicht zu allgemeinen Weisungen befugt. Der Bundesminister der Finanzen teilte diese Ansicht zwar – in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur7 – nicht, sah sich jedoch faktisch durch die Haltung der Länder in seinen Aufsichtsrechten erheblich beeinträchtigt. Denn die praktischen Konsequenzen der von Theodor Maunz vertretenen Auffassung sind unübersehbar. Sie wirken sich vor allem dann aus, wenn dem Bundesminister der Finanzen ein Fehler, den eine Landesfinanzbehörde bei der Steuererhebung begeht, bekannt wird, und er der Auffassung ist, es könne sich um ein „typisches“ Vollzugsproblem handeln, das einer allgemeinen, für alle Länder geltenden Lösung durch Weisung – beispielsweise zur Auslegung von Steuervorschriften oder zum Steuerverfahren – bedürfe: Wenn ihm hierzu die allgemeine Weisung versperrt wäre, so bliebe nur der Weg über den Erlass einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift nach Art. 108 Abs. 7 GG – ein Weg, der wegen der Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat aus Sicht des Bundesministers der Finanzen nicht nur steiniger, sondern im Ausgang auch unsicher ist. III. Die sog. Staatssekretärsvereinbarung Mit Rücksicht auf diese Situation suchten Bund und Länder nach einem praktischen Ausweg. Sie fanden ihn mit der sog Staatssekretärsvereinbarung von 1970, in der sie „auf der Grundlage eines kooperativen Föderalismus“8 und „ohne Präjudiz für die unterschiedlichen Rechtsstandpunkte“ Folgendes vereinbarten: 7 Vgl. F. Klein, in: von Mangoldt/Klein: Das Bonner Grundgesetz, Band III, 1974, Art. 85 IV 2 b) bb); P. Badura, Staatsrecht. 2. Aufl. 1996 Rn. G 43; A. Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 85 Rn. 20. 8 Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 16. Dezember 1969 an den Vorsitzenden der Finanzministerkonferenz der Länder.
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„1. Bei den Steuern, die von den Landesfinanzbehörden im Auftrag des Bundes verwaltet werden, treten an die Stelle der bisherigen koordinierten Ländererlasse künftig Schreiben des Bundesministers der Finanzen an die obersten Finanzbehörden der Länder. 2. Vor Übersendung der Schreiben an die obersten Landesfinanzbehörden der Länder wird den Ländern Gelegenheit gegeben, zu dem Entwurf Stellung zu nehmen. Der Bundesminister der Finanzen gibt solche Schreiben nur heraus, wenn die Mehrzahl der Länder keine Einwendungen dagegen erhoben hat [. . .].“9
Nüchtern betrachtet waren mit dieser Vereinbarung die Aufsichtsrechte des Bundesministers der Finanzen erheblich beschnitten. Denn ein Weisungsrecht, das nur besteht, wenn die Anzuweisenden keine Einwände haben und nicht widersprechen, ist kein Weisungsrecht mehr. Es zwingt vielmehr den Anweisenden zur Kooperation mit dem Anzuweisenden. Und deshalb sah sich auch der Bundesminister der Finanzen in der Folgezeit einem erheblichen Koordinations- und Kooperationsdruck ausgesetzt, der seinen praktischen Ausdruck darin findet, dass heute 50 Bund-Länder-Gremien damit befasst sind, Fragen der Steuererhebung zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und den Ländern abzustimmen. IV. Die Staatssekretärsvereinbarung und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung Die grundgesetzliche Regelung, ihre Auslegung durch die Wissenschaft und die hierdurch veranlassten Vereinbarungen der Praxis führten demnach zu abgeschwächten Aufsichts- und Weisungsbefugnissen des Bundesministers der Finanzen und zu verwaltungsaufwändigen Abstimmungsprozessen zwischen Bund und Ländern. Schon allein dies böte genügenden Anlass zur Klage. Doch bedeutsamer als dies ist die Frage, ob in der so festgelegten föderativen Praxis und der konkreten Ausgestaltung der Steuerauftragsverwaltung die Grundsätze der Vollständigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung de facto noch Geltung haben. Diese Frage konnte lange Zeit nicht befriedigend beantwortet werden. Man erkannte zwar die Gefahr, dass die Länder mangels eigener finanzieller Interessen den Vollzug der Steuergesetze vernachlässigten10; es gab auch eine Reihe von Anhaltspunkten, dass die Länder die Steuergesetze unterschiedlich auslegten und ein und dieselbe Rechtsfrage je nach Bundesland unterschiedlich beantworteten, ohne dass der Bundesminister der Finanzen hiergegen schnell und wirksam vorgehen konnte11. Auch wurde 9
Sog. Staatssekretärsvereinbarung vom 15. Januar 1970. Vgl. hierzu Bundesrechnungshof, Bemerkungen 1990, BT-Drs. 11/7810 Textziffern 43 bis 46; Bemerkungen 1991, BT-Drs. 12/1150 Textziffern 27 und 28. 10
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deutlich, dass hierdurch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und vor allem auch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen Schaden nehmen können, wenn in einem Land lege artis verfahren, in einem anderen dagegen der Steuerschuldner schonender behandelt wird. Aber ein wirksames Gegenmittel gegen solche Ungleichbehandlung in unterschiedlichen Ländern gab es jedenfalls aus Sicht der Steuerschuldner nicht, da diese keine Möglichkeit wirksamer gerichtlicher Gegenwehr besitzen, weil der Gleichheitssatz an den jeweiligen Landesgrenzen endet und ein Steuerschuldner sich deshalb nicht auf die Praxis in einem anderen Land berufen kann12. V. Die Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofes und die Prüfungsrechte der Landesrechnungshöfe im Bereich der Länderfinanzbehörden Vor diesem Hintergrund stellte sich für den Bundesrechnungshof schon sehr früh die Aufgabe zu prüfen, ob der Bundesminister der Finanzen seiner Fach- und Rechtsaufsicht gegenüber den Steuerverwaltungen der Länder sachgerecht nachkommt, insbesondere ob er sicherstellt, dass die dem Bund zustehenden Steuereinnahmen vollständig erhoben und die Grundsätze der Vollständigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung eingehalten werden. 1. Das Recht des Bundesrechnungshofs, diese Fragen zu prüfen, folgt aus Art. 114 GG i. V. m. §§ 88 ff. BHO13. Nach diesen Vorschriften hat der Bundesrechnungshof die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes zu prüfen. Hierunter fällt nicht nur die Prüfung der Ausgaben, sondern – wie § 89 Abs. 1 Nr. 1 BHO ausdrücklich hervorhebt – auch die Prüfung der Einnahmen. Dabei hat sich die Prüfung gemäß § 90 BHO auf die Einhaltung der für die Haushalts- und Wirtschaftsführung geltenden Vorschriften und Grundsätze zu beziehen. Hierzu zählen auch die Vorschriften der Art. 108, 85 Abs. 3 und 4 GG über die Rechte und Pflichten des Bundesministers der Finanzen im Rahmen der Steuerauftragsverwaltung. Dementsprechend ist der Bundesrechnungshof zu der Prüfung berufen, ob und in welcher Weise der Bundesminister der Finanzen die ihm gegenüber den 11 Vgl. hierzu Bundesrechnungshof, Bemerkungen 1986, BT-Drs. 10/6138, S. 74; Bemerkungen 1987, BT-Drs. 11/872 Textziffern 44 bis 46; Bemerkungen 1988, BTDrs. 11/3056 Textziffer 37; Bemerkungen 1990, BT-Drs. 11/7810 Textziffern 46 und 47. 12 Vgl. hierzu auch BFHE 144, 9, 14. 13 Vgl. hierzu und zum Folgenden: H. G. Zavelberg, Die Kontrolle der Steuerund Abgabenerhebung durch den Bundesrechnungshof, in: P. Kirchhof/K. Offerhaus/H. Schöberle (Hrsg.): Steuerrecht – Verfassungsrecht – Finanzpolitik. Festschrift für F. Klein. Köln 1994, S. 1141.
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Landessteuerverwaltungen obliegende Fach- und Rechtsaufsicht zu dem Zwecke sachgerecht ausübt, dass die dem Bund zustehenden Steuern vollständig und gleichmäßig entsprechend dem geltenden Steuerrecht erhoben werden. 2. Indes stellt sich für die Prüfung dieser Fragen ein intrikates Problem: Ohne die Kenntnis der Praxis der Landesfinanzbehörden kann gar nicht beurteilt werden, ob der Bundesminister der Finanzen sachgerecht handelt. Aus diesem Grunde ist es für die Prüfungen des Bundesrechnungshofes erforderlich, dass er die Praxis der Landesfinanzbehörden kennt, also Einblick in deren Tätigkeit nehmen darf. Ein solches Recht ist nicht selbstverständlich, weil es auf den ersten Blick föderalen Grundsätzen zuwiderläuft, dass ein Bundesorgan – der Bundesrechnungshof – Einblick in Verwaltungsvorgänge auf der Landesebene erhält. Und doch gibt die Bundeshaushaltsordnung dem Bundesrechnungshof dieses Recht: Denn nach § 91 Abs. 1 Nr. 2 BHO darf er „bei“ Stellen außerhalb der Bundesverwaltung prüfen, wenn sie Bundesmittel verwalten. Diese Voraussetzungen sind für Prüfungen bei Landessteuerverwaltungen erfüllt. Denn die Landesfinanzbehörden sind Stellen außerhalb der Bundesverwaltung, weil – wie § 1 Abs. 4 VwVfG zu entnehmen ist – der Begriff „Stelle“ auch Behörden und damit auch die Landesfinanzbehörden erfasst. Sie verwalten auch Bundesmittel; dies folgt aus Art. 108 Abs. 3 GG, der ausdrücklich sagt, dass die Landesfinanzbehörden, indem sie die dort genannten Steuern erheben, diese für den Bund verwalten. 3. Das hiernach aus § 91 Abs. 1 Nr. 2 BHO folgende Erhebungsrecht besagt freilich nicht, dass der Bundesrechnungshof das Verhalten der Landesfinanzbehörden prüfen darf. Seinem Prüfungsrecht unterliegt vielmehr insoweit alleine der Bundesminister der Finanzen, so dass Gegenstand der Prüfung ausschließlich die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes ist. Nur zu diesem Zwecke gibt § 91 Abs. 1 Nr. 2 BHO dem Bundesrechnungshof die Befugnis, bei den Landesbehörden Auskünfte einzuholen, Unterlagen einzusehen und auf diese Weise Erkenntnismöglichkeiten bei Stellen außerhalb der Bundesverwaltung zu nutzen. Prüfungsadressat ist hiernach alleine der Bundesminister der Finanzen, nicht die jeweilige Landessteuerverwaltung. Sie zu prüfen, ist alleine dem jeweils zuständigen Landesrechnungshof vorbehalten. Das entsprechende Prüfungsrecht folgt dabei aus der jeweiligen Landesverfassung und der Landeshaushaltsordnung, die Vorschriften enthält, welche den §§ 88 ff. BHO inhaltlich entsprechen. Demnach sehen sich die Landesfinanzverwaltungen der Tätigkeit von zwei Organen der externen Finanzkontrolle ausgesetzt: den Erhebungen des Bundesrechnungshofes und den Prüfungen des jeweiligen Landesrechnungshofes. Aber auch diese Situation ist in der Bundeshaushaltsordnung bedacht. Sie regelt in § 93 Abs. 1, dass gemeinsam geprüft werden soll, wenn für die
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Prüfung sowohl der Bundesrechnungshof als auch ein Landesrechnungshof zuständig ist14. VI. Die Erhebungen im Bereich der Landesfinanzverwaltungen: erste Phase Auf diesen gesetzlichen Grundlagen führten sowohl der Bundesrechnungshof als auch die Landesrechnungshöfe15 in den 90er Jahren zahlreiche Prüfungen durch. Wesentliches Ergebnis war unter anderem, dass sich der Verdacht erhärtete, – die Belastungsgleichheit der Steuerbürger sei nicht mehr gewährleistet, weil die jeweiligen Landesfinanzverwaltungen gleiche Sachverhalte unterschiedlich beurteilten16, – die dem Bund zustehenden Steuern würden nicht vollständig erhoben17, – Verzerrungen des Finanzaufkommens der Länder und damit auch des Finanzausgleichs würden nicht verhindert18 und – der Bundesminister der Finanzen könne seiner parlamentarischen Finanzverantwortung nach Art. 114 Abs. 1, Art. 108 Abs. 3, Art. 84 Abs. 3 14
Auf der Basis dieser Vorschrift haben der Bundesrechnungshof und die Landesrechnungshöfe für die Prüfung der Steuern im Mai 1970 Vereinbarungen über ihre Zusammenarbeit getroffen, die sog. Trierer Empfehlungen, welche die Arbeitsplanung und die Abstimmung über Prüfungsvorhaben sowie die Erhebungen, die Unterrichtung über Prüfungserkenntnisse und ihre Verwertung betreffen. Die Trierer Empfehlungen sind abgedruckt in: E. Heuer/D. Engels/M. Eibelshäuser (Hrsg): Kommentar zum Haushaltsrecht. Band 2 Teil VIII/1.3. 15 Eine Übersicht über einschlägige Prüfungserkenntnisse der Landesrechnungshöfe findet sich in: Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung: Probleme beim Vollzug der Steuergesetze (Anm. 3), S. 39 f. 16 Bemerkungen 1992, BT-Drs. 12/3250 Textziffern 28 und 29; Bemerkungen 1993, BT-Drs. 12/5650 Textziffern 40 sowie 44 bis 47; Bemerkungen 1994, BTDrs. 12/8490 Textziffern 57 und 65; Bemerkungen 1995, BT-Drs. 13/2600 Textziffern 38, 41, 46; Bemerkungen 1996, BT-Drs. 13/5700 Textziffern 48 und 51; Bemerkungen 1997, BT-Drs. 13/8550 Textziffern 50 und 55; Bemerkungen 1999, BT-Drs. 14/1667 Textziffern 25, 80, 82. 17 Vgl. Bundesrechnungshof: Bemerkungen 1991, BT-Drs. 12/1150 Textziffern 27 und 28; Bemerkungen 1992, BT-Drs. 12/3250 Textziffer 30; Bemerkungen 1993, BT-Drs. 12/5650 Textziffern 39, 41, 42, 46, 47; Bemerkungen 1994, BT-Drs. 12/8490 Textziffern 57 bis 64 und Textziffer 66; Bemerkungen 1995, BT-Drs. 13/2600 Textziffern 39 und 40 sowie 44 bis 47; Bemerkungen 1996, BT-Drs. 13/5700 Textziffern 49, 51, 55, 56, 57, 59; Bemerkungen 1997, BT-Drs. 13/8550 Textziffern 49, 50, 52, 55, 56; Bemerkungen 1998, BT-Drs. 14/29 Textziffern 73 bis 82; Bemerkungen 1999, BT-Drs. 14/1667 Textziffern 76 bis 82. 18 Vgl. Bundesrechnungshof: Bemerkungen 1991, BT-Drs. 12/1150 Textziffer 26; Bemerkungen 1994, BT-Drs. 11/8490 Textziffer 65.
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und 4 GG nicht in vollem Umfang genügen19, weil er die Landesfinanzverwaltungen nicht anweisen, sondern mit ihnen nur im Rahmen der sog. Staatssekretärsvereinbarung kooperieren könne. VII. Gegenwehr der Länder: Parlament und Wissenschaft als Streithelfer des Bundesrechnungshofes 1. Diese Befunde waren für den Bundesrechnungshof ab 1999 Anlass, die Prüfung der Erhebung der Steuern, die dem Bund ganz oder teilweise zustehen, zu intensivieren. Hatte er sich bis dahin damit begnügt, Erhebungen gemäß § 91 Abs. 1 Nr. 2 BHO im Wesentlichen bei den unteren Landesfinanzbehörden durchzuführen, so versuchte er nunmehr, auch Erkenntnisse bei den obersten Landesfinanzbehörden und bei den Oberfinanzdirektionen zu gewinnen. Dem widersetzen sich die Länder vehement20. Insbesondere der Freistaat Bayern verneinte entsprechende Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofes. Zur Begründung berief er sich darauf, das Grundgesetz sehe bei der Steuerauftragsverwaltung neben dem Aufsichtsrecht des Bundesministers der Finanzen nach Art. 108 Abs. 3, Art. 85 Abs. 3 und 4 GG kein Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofes gegenüber den Ländern vor. Die Befugnis des Bundesrechnungshofes umfasse derartige Erhebungen schon deshalb nicht, weil sie einen unzulässigen Eingriff in die Länderhoheit und eine Verletzung des Art. 109 GG bedeuteten, der die getrennte Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern vorschreibe. Im Übrigen sei der Bundesrechnungshof nach § 93 Abs. 1 BHO allenfalls zu einer gemeinsamen Prüfung mit dem jeweiligen Landesrechnungshof befugt. 2. Diesen Einwänden schloss sich die Mehrzahl der Länder an21, und die Meinungsverschiedenheiten konnten auch in der Folge nicht gütlich beigelegt werden. Zwar schalteten sich der Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages und auch der Bundesminister der Finanzen in 19 Vgl. Bundesrechnungshof: Bemerkungen 1995, BT-Drs. 13/2600 Textziffer 43; Bemerkungen 1996, BT-Drs. 13/5700 Textziffern 50 und 52. 20 Der entsprechende Beschluss der Finanzministerkonferenz vom 1. März 1999 lautet: „Die Finanzminister(innen) der Länder stellen fest, dass das Aufsichts- und Weisungsrecht bei der Auftragsverwaltung von Gemeinschaftssteuern vom Bundesminister der Finanzen ausgeübt wird . . .. Die Ausübung dieses Rechts wurde durch eine Vereinbarung zwischen den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder im Jahre 1970 konkretisiert. Die hierauf gegründete Verwaltungspraxis hat sich in der Vergangenheit bewährt. Neben dem Weisungs- und Aufsichtsrecht des Bundesministers der Finanzen ist in der Verfassung kein Prüfungs- und Erhebungsrecht des Bundesrechnungshofes vorgesehen, so dass auch keine förmliche Prüfungsanordnung ergehen kann . . .“. 21 Allerdings ließen einige Länder unter Wahrung ihres Rechtsstandpunktes auch weiterhin örtliche Erhebungen des Bundesrechnungshofes zu.
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die Diskussion mit dem Ziel ein, die Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofes zu sichern: So beauftragte der Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages 1999 Wolfgang Löwer mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens zu verfassungsrechtlichen Fragen der Steuerauftragsverwaltung. Wolfgang Löwer kam in seinem im Jahre 2000 vorgelegten Gutachten zu dem Ergebnis, der Bundesrechnungshof habe im Bereich der Steuerauftragsverwaltung das Recht zur Durchführung örtlicher Erhebungen bei den Finanzbehörden der Länder22. Hierauf bekräftigte der Rechnungsprüfungsausschuss die „Befugnisse des Bundesrechnungshofes zur Durchführung von örtlichen Erhebungen in allen Bereichen der Steuerverwaltung der Länder, soweit die Sachverantwortung der Bundesexekutive gegenüber den Ländern reicht.“23 Im Ergebnis trug diese konzertierte Aktion von Parlament, Wissenschaft und Verwaltung jedoch nicht dazu bei, den Konflikt zwischen Bundesrechnungshof und den Ländern einvernehmlich zu beenden. 3. Über die Gründe, welche die Länder zu ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Bundesrechnungshof bewogen, mag man spekulieren. Verständlich wird ihre Position indes, wenn man das Augenmerk auch auf die Staatssekretärsvereinbarung und die durch sie bedingte geübte Praxis lenkt. Sie führten dazu, dass die bisherigen Beanstandungen des Bundesrechnungshofes gegenüber dem Bundesminister der Finanzen zum Vollzug der Steuergesetze weitgehend folgenlos blieben. Denn der Bundesminister der Finanzen reagierte auf Prüfungen des Bundesrechnungshofes im Steuerbereich häufig mit dem Hinweis, er werde das betreffende Problem mit den Länderfinanzministerien erörtern. Das Ergebnis war dann nicht selten enttäuschend, weil das Bundesministerium der Finanzen nach diesen Erörterungen bisweilen mitteilte, es habe die Angelegenheit mit den Ländern zwar mündlich und schriftlich beraten; die Länder seien jedoch nicht bereit, der vom Bundesrechnungshof dargelegten Auffassung zu folgen. 4. In dieser Situation beharrte der Bundesrechnungshof auf seiner seit je vertretenen Ansicht24, dass Art. 108 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 85 Abs. 3 und 4 GG dem Bundesminister der Finanzen das Recht gebe, notfalls im Wege der allgemeinen Weisung für eine ordnungsgemäße Steuererhebung Sorge zu tragen. Diese Auffassung untermauerte auch Wolfgang Löwer in dem erwähnten Gutachten mit der Begründung, der Bundesminister der Finanzen habe ein weitgehendes Weisungsrecht im Rahmen der korrigierenden Bun22 W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung (Anm. 3), S. 19 bis 68. 23 Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 8. Dezember 2000. 24 Schreiben des Bundesrechnungshofes an den Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 5. März 1992.
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desaufsicht; deshalb sei „insbesondere dann, wenn ein geltender Maßstab (Gesetz, Verwaltungsvorschrift, [. . .] verbindliche Rechtsprechung) durch den Landesvollzug verletzt wird, [. . .] die allein auf den Bundeswillen gestützte Korrektur im Weisungswege verfassungsrechtlich ermöglicht“25. Dieser Auffassung schloss sich der Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages an. Er forderte am 8. Dezember 2000 das Bundesministerium der Finanzen auf, bei der Wahrnehmung seiner Aufsichtsrechte in der Steuerverwaltung von den Rechten auszugehen, die Wolfgang Löwer aufgezeigt habe, und das Instrument der korrigierenden Bundesaufsicht nach Art. 85 Abs. 4 GG zu nutzen und durchzusetzen, um Fehler bei der Bearbeitung von Steuerfällen durch die Länder zu beseitigen. 5. Hiermit verfolgten der Rechnungsprüfungsausschuss und der Bundesrechnungshof zwei Ziele: – zum einen, dass der Bundesrechnungshof durch seine Erhebungen im Länderbereich mögliche Vollzugsdefizite ermitteln und gegenüber dem Bundesminister der Finanzen benennen kann; – zum anderen, dass sodann der Bundesminister der Finanzen in Kenntnis dieser vom Bundesrechnungshof ermittelten Sachverhalte in der Lage ist, ggf. durch Weisung korrigierend einzugreifen. In der Sache bedeutete dieser Weg den Abschied von der Staatssekretärsvereinbarung mit ihrem Zwang zur Kooperation und der den Ländern eröffneten Möglichkeit, sich der korrigierenden Bundesaufsicht zu entziehen. Im Ergebnis wäre hiernach die Position des Bundes gestärkt, die der Länder geschwächt worden, und vor diesem Hintergrund mag man ihre beharrliche Weigerung verstehen, dem Bundesrechnungshof die Türen ihrer Finanzverwaltungen gänzlich zu öffnen: Denn ohne den Einblick des Bundesrechnungshofes in die Länderfinanzverwaltungen liefe auch das Weisungsrecht des Bundesministeriums der Finanzen leer, weil es mangels personeller und sachlicher Ressourcen gar nicht in der Lage wäre, einen bundesweiten Überblick über die Praxis des Steuervollzuges zu gewinnen: Hierzu bedarf es vielmehr der Erkenntnisse des Bundesrechnungshofes, und so gesehen war und ist dessen Recht, Erhebungen im Bereich der Länderfinanzverwaltungen durchzuführen, eine der tragenden Säulen, auf denen die Durchsetzung der Grundsätze der Vollständigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ruht.
25 W. Löwer, Verfassungsrechtsfragen der Steuerauftragsverwaltung (Anm. 3), Seite 195.
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VIII. Die gerichtliche Durchsetzung der Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofes Mit Blick hierauf entschloss sich der Bundesrechnungshof im Jahr 2001, sein Erhebungsrecht gegenüber dem Freistaat Bayern gerichtlich durchzusetzen. Das Bundesverwaltungsgericht stellte auf seine Klage sodann im März 2002 fest, dass im Bereich der Steuerauftragsverwaltung der Länder eine Landesfinanzbehörde gemäß § 91 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BHO „Erhebungsobjekt des Bundesrechnungshofes“ sein könne26. Das hiernach bestehende Erhebungsrecht im Bereich der Steuerauftragsverwaltung begründete das Bundesverwaltungsgericht mit dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, der systematischen Stellung und der Ratio des § 91 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BHO, nach der es verfehlt wäre, „gerade im Bereich der Steuerauftragsverwaltung die Erhebungsbefugnis des Bundesrechnungshofes an den Verbandsgrenzen enden zu lassen. Dies würde einen vom Gesetzgeber nicht gewollten prüfungsfreien Raum schaffen [. . .], obwohl die Notwendigkeit, die Landesfinanzbehörden in die Erhebungen des Bundesrechnungshofes einzubeziehen, auf der Hand liege“. In diesem Zusammenhang setzte sich das Bundesverwaltungsgericht auch mit der Frage auseinander, ob die – unbestrittene – Prüfungsbefugnis der Landesrechnungshöfe nicht ausreiche, eine ordnungsgemäße Steuerverwaltung sicherzustellen. Im Ergebnis verneinte das Gericht diese Frage: Zwar blieben unstreitig die Landesrechnungshöfe befugt, in diesem Sektor Prüfungen durchzuführen. Diese könnten aber eine Finanzkontrolle durch den Bundesrechnungshof nicht ersetzen. Denn: Nur eine Erhebungskompetenz, die nicht an den Grenzen der Landesverwaltung haltmache, könne finanzwirksame Vollzugsungleichheiten erfassen, die sich unvermeidlich einstellten, wenn die Steuerverwaltungshoheit auf 16 Bundesländer aufgeteilt sei27. Diese Auslegung des § 91 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BHO kollidiere auch nicht mit dem Grundgesetz28. Denn Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG enthalte einen „Generalauftrag“ für eine effektive Finanzkontrolle, der vom Bundesrechnungshof nur dann erfüllt werden könne, wenn ihm auch gegenüber Landesfinanzbehörden, die Bundesmittel verwalteten, Ermittlungsbefugnisse eingeräumt seien. Allerdings – so das Bundesverwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der von Wolfgang Löwer und auch vom Bundesrechnungshof vertretenen Auf26 BVerwG, Urteil vom 6. März 2002 – 9 A 16/01 –, veröffentlicht in: BVerwGE 116, 92; DÖV 2002, 701; DVBl 2002, 1223; NVwZ 2002, 988; BayVBl 2002, 533. Die Entscheidung ist besprochen von M. Winkler, in: JA 2002, 931. 27 BVerwG (Anm. 26), Entscheidungsgründe Seite 5. 28 Vgl. hierzu und zu dem Folgenden BVerwG (Anm. 26), Entscheidungsgründe Seite 8.
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fassung – sei die Erhebungskompetenz des Bundesrechnungshofes in zweierlei Hinsicht begrenzt: Zum einen seien die Landesbehörden nicht Prüfungsadressat, sondern nur Erhebungsobjekt; denn Zweck der Erhebungen sei allein die Prüfung der Finanzverantwortung des Bundesministeriums der Finanzen. Zum anderen habe der Bundesrechnungshof den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens zu beachten, wobei ausreichend sei, wenn er – wie im konkreten Fall geschehen – den zuständigen Landesrechnungshof über seine beabsichtigte Erhebung unterrichte und diesem damit Gelegenheit gebe, eine gemeinsame Prüfung gemäß § 93 BHO zu verlangen. IX. Erhebungen des Bundesrechnungshofes bei den Landesfinanzbehörden: zweite Phase In der Folge führte der Bundesrechnungshof eine Fülle von Erhebungen bei den Finanzbehörden der Länder durch. Wesentliche Ergebnisse sind29: 1. Die personellen Ressourcen der Länderfinanzverwaltungen sind sehr unterschiedlich. So schwanken die Fallzahlen für die Bearbeitung einer Lohn-/Einkommensteuererklärung erheblich: Während ein Angehöriger der Finanzverwaltung in einem Land pro Jahr 972 Steuererklärungen bearbeitet, sind es in einem anderen 2720. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit pro Steuererklärung beträgt bezogen auf alle Länder weniger als 20 Minuten. Daraus erklären sich erhebliche Mängel in der Bearbeitung; in einzelnen Ländern liegt die Fehlerquote bei 50 v. H. Die Finanzbehörden sind bisweilen nicht mehr in der Lage, eine halbwegs geordnete Prüfung der Steuerklärungen sicherzustellen; so gibt es in einzelnen Finanzämtern sog. „grüne Wochen“ oder Durchwinktage, an denen eine angemessene Bearbeitung nicht mehr stattfindet. 2. Ähnliche Befunde zeigen sich auch in weiteren Bereichen der Steuerverwaltungen der Länder. So führen die Finanzämter bei den sog. Einkunftsmillionären Außenprüfungen in nur geringen Umfang durch, obwohl diese Prüfungen, wenn sie erfolgen, Mehreinnahmen von durchschnittlich 135.000 Euro pro Verfahren erbringen30. Ferner werden Umsatzsteuersonderprüfungen nur selten durchgeführt; bundesweit liegt die Prüfungsquote seit Jahren bei durchschnittlich 2 v. H., so dass die umsatzsteuerlich geführten Unternehmen im Schnitt nur alle 50 Jahre mit einer Sonderprüfung 29
Vgl. hierzu: Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung: Probleme beim Vollzug der Steuergesetze (Anm. 3), S. 13 bis 87; dort sind die wesentlichen Ergebnisse der Erhebungen des Bundesrechnungshofes im Bereich der Steuerauftragsverwaltung zusammengefasst und ausführlich dargestellt. 30 Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2006, BT-Drs. 16/3200 Textziffer 57.
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rechnen müssen31. Im Übrigen weist die Steuerfahndung in den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede in Organisation und personeller Ausstattung auf32. 3. Alles dies führt im Ergebnis dazu, dass der Grundsatz der Vollständigkeit der Steuerhebung nicht mehr sichergestellt ist. Ursache hierfür mag auch sein, dass einerseits die Länder die Kosten der Steuerverwaltung zu tragen haben, ihnen andererseits die erzielten Steuereinahmen nur zu einem – ggf. geringen – Teil letztlich verbleiben. 4. Zu den organisatorischen und verfahrensmäßigen Mängeln kommt hinzu, dass die Arbeit in den Veranlagungsstellen durch die komplizierte Streuerrechtslage erschwert wird. Derzeit gelten ca. 100.000 Steuervorschriften, die zudem häufig reformiert werden; so hat beispielsweise § 52 EStG in 13 Jahren 53 Änderungen erfahren, und das Einkommensteuerrecht ist in den Jahren von 1999 bis 2006 in 100 Änderungsgesetzen angesprochen worden. Die Anwendung des Steuerrechts reglementieren zudem – auf der Basis der Staatssekretärsvereinbarung – derzeit 4427 geltende Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen, ferner weitere Handbücher, Richtlinien und Verwaltungsregeln; darüber hinaus ergehen alljährlich zahlreiche Entscheidungen der Finanzgerichte grundsätzlichen Inhalts. Angesichts dieser Fülle der zu beachtenden Normvorgaben ist es den Bearbeitern kaum mehr möglich, sich einen verlässlichen Überblick über die geltende Rechtslage in den jeweiligen Veranlagungsjahren zu verschaffen. 5. Folge dieser Situation ist, dass das Steuerrecht unterschiedlich ausgelegt und angewendet wird. Es kommt bisweilen vor, dass Finanzämter zu demselben Sachverhalt unterschiedliche Aussagen treffen, unterschiedliche Zusagen geben33 oder unterschiedlich in der Bearbeitung verfahren34. Dabei 31
Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2006, BT-Drs. 16/3200 Textziffer 49. Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2000, BT-Drs. 14/4226 Textziffer 65; hier sind allerdings zwischenzeitlich durchaus Verbesserungen eingetreten. 33 Ein Beispiel hierfür bietet der in den Bemerkungen 2002 des Bundesrechnungshofes, BT-Drs. 15/60 Textziffer 76, mitgeteilte Sachverhalt. 34 Vgl. hierzu Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2004, BT-Drs. 15/4200 Textziffer 34 mit Feststellungen zur sog. Zinsabschlagsteuer. Hier hatten zahlreiche Steuerpflichtige über deutsche Bankinstitute Geld und Wertpapiere im Ausland angelegt und die Erträge dem deutschen Fiskus entzogen. Nach der Aufdeckung dieser sog. Bankenfälle konnten das Bundesministerium der Finanzen und die Länderfinanzbehörden eine einheitliche Bearbeitung nicht sicherstellen. Ähnliches gilt für die sog. Freistellungsaufträge, die Steuerpflichtige gegenüber den Banken in Höhe der Sparerfreibeträge abgeben können. Die Banken übermitteln entsprechende Kontrollmitteilungen an das Bundeszentralamt für Steuern, das diese Mitteilungen an die zuständigen Landesfinanzverwaltungen übermittelt, wenn die steuerfrei gezahlten Kapitalerträge das Freistellungsvolumen überschreiten. Die Länder verfahren allerdings bei der Auswertung dieser Mitteilungen höchst unterschiedlich, indem sie ihrerseits 32
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mögen auch Eigeninteressen der Länder im Spiele sein, beispielsweise heimische Unternehmen steuerlich zu schonen. So ist der Bundesrechnungshof bei seinen Erhebungen in einem Land auf sog. „Aspekte einer verbesserten Unternehmens- und Bürgerorientierung der Steuerverwaltung“ gestoßen, durch die den Finanzämtern ein maßvoller Gesetzesvollzug vorgegeben wurde – mit dem Hinweis darauf, dass „kein Platz für eine rein fiskalische Sicht bei der Festsetzung und Erhebung von Steuern“ und ein „weitgehender Verzicht auf Belege und unnötige Kontrollen“ angezeigt sei. Bedenken sorgfältig arbeitender Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten zerstreuen diese Aspekte, die auch den betroffenen Unternehmenskreisen bekannt gemacht worden sind, damit, dass „bei sachgerechten und gut begründeten Entscheidungen [. . .] die weit verbreitete Sorge, etwa eine Strafvereitelung im Amt zu begehen, unberechtigt“ sei. 6. Den ungleichen und unvollständigen Steuervollzug hat das Bundesministerium der Finanzen nicht verhindern können. So ist es ihm und den Länderfinanzverwaltungen nicht einmal gelungen, eine bundeseinheitliche Software zur Verwaltung der Steuerdaten zu entwickeln und zu implementieren; das Projekt FISCUS ist endgültig im Jahre 2005 gescheitert – nach 13 Jahre währenden Bemühungen und nach Ausgaben von 400 Millionen Euro35. Ursache für die fehlende Durchsetzungsmacht des Bundesministeriums der Finanzen ist die nach wie vor strittige Frage seines allgemeinen Weisungsrechts nach Art. 108 Abs. 3 i. V. m. Art. 83 Abs. 4 GG und die auf der Staatssekretärsvereinbarung beruhende Praxis. Der auf der Basis dieser Vereinbarung beschrittene kooperative Weg hat nach Auffassung des Bundesrechnungshofes die unbefriedigende Situation herbeigeführt, in der nicht mehr sichergestellt ist, dass die Steuern – nach einheitlichen Grundsätzen, – in einheitlicher Verwaltungspraxis – vollständig und bei allen Steuerpflichtigen gleichmäßig erhoben werden. X. Reformvorschläge des Bundesrechnungshofes Zur Erreichung dieser Ziele hat der Bundesrechnungshof in den Jahren 2002 bis 2006 eine Reihe von Reformvorschlägen unterbreitet36. Sie umfassen neben – wie der Bundesrechnungshof meint: eigenmächtig – sog. Bagatellgrenzen festlegten, unterhalb derer sie die Verfahren nicht weiter verfolgen. 35 Näher: Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung: Probleme beim Vollzug der Steuergesetze (Anm. 3), S. 83 ff. Ob mit dem neuen Vorhaben KONSENS das Ziel einer einheitlichen Software erreicht wird, bleibt abzuwarten.
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– einer durchgreifenden Vereinfachung des Steuerrechts, – der Implementierung eines bundesweit einheitlichen vollelektronischen Veranlagungsverfahrens, – der Intensivierung der Umsatzsteuer-Sonderprüfung und – der Erhöhung der Prüfungsdichte der Betriebsprüfung37 vor allem – die Einrichtung einer Bundessteuerverwaltung, auf die die Verwaltungskompetenz der Gemeinschaftssteuern von den Ländern übertragen wird. Dieser Vorschlag setzt eine Änderung des Grundgesetzes und umfangreiche organisatorische Änderungen im Bundesministerium der Finanzen und in dessen Geschäftsbereich voraus, weil im Rahmen der Bundessteuerverwaltung die Betreuung von derzeit 678 Finanzämtern zu übernehmen wäre. Doch dieser Aufwand wäre lohnend. Die Einführung einer Bundessteuerverwaltung würde nicht nur dem Grundsatz der gleichmäßigen Steuererhebung eher gerecht werden können als die bisherige Steuerauftragsverwaltung; sie würde vielmehr auch zu erheblichen Steuermehreinnahmen führen, deren Höhe auf ca. 11 Mrd. Euro jährlich geschätzt wird38. Trotz dieser Aspekte war dem Bundesrechnungshof bewusst, dass sein Vorschlag politisch nur schwer durchsetzbar ist. Er hat deshalb – hilfsweise – vorgeschlagen, – dem Bundesminister der Finanzen wirksame Weisungsrechte, insbesondere das Recht zur allgemeinen Weisung zu übertragen. Doch die Verwirklichung auch dieses Vorschlages stößt auf hohe Hürden: Denn wenn nach wie vor strittig ist, ob Art. 108 Abs. 3 i. V. m. Art. 85 Abs. 3 GG dem Bundesminister der Finanzen ein allgemeines Weisungsrecht gibt, dann kann diese Streitfrage nur auf dreierlei Weise gelöst werden: – zum einen durch Einlenken der Länder, wozu diese bislang nicht bereit sind – zum anderen durch verbindliche Klärung durch das Bundesverfassungsgericht, dessen Anrufung aber in der Vergangenheit wegen der kooperativen Praxis vermieden worden ist, und schließlich 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung: Probleme beim Vollzug der Steuergesetze (Anm. 3), S. 15 bis 17; dort sind die Vorschläge zusammengefasst dargestellt. 37 Hierzu gehört auch die Einführung eines IT-gestützten Risikomanagement-Systems, das die Auswahl der zu prüfenden Betriebe und Unternehmen erleichtert. 38 Kienbaum Management Consultants GmbH, Abschlussbericht – Quantifizierung der im Falle einer Bundessteuerverwaltung bzw. einer verbesserten Kooperation, Koordination und Organisation der Länderverwaltungen zu erwartenden Effizienzgewinne. Berlin 2006.
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– durch Änderung des Grundgesetzes, die jedoch nur mit Zustimmung des Bundesrates, also letztlich der Länder möglich ist. XI. Der Stand der Reform 1. Die durch die sog. Föderalismuskommission I vorbereitete Reform des Grundgesetzes hat diese Vorschläge nicht aufgenommen. Die Reform hat allerdings im Ergebnis dazu geführt, dass dem Bundesministerium der Finanzen 2006 durch das Finanzverwaltungsgesetz ein Weisungsrecht gegenüber den Finanzverwaltungen der Länder im Bereich der Steuerauftragsverwaltung eingeräumt worden ist, welches sich auf einheitliche Verwaltungsgrundsätze, gemeinsame Vollzugsziele und Regelungen zur Bund-Länder-Zusammenarbeit bezieht und auch das Recht umfasst, allgemeine fachliche Weisungen zu erteilen, § 21 a Finanzverwaltungsgesetz. Die Weisung ist nach dieser Vorschrift allerdings nur dann wirksam, wenn die obersten Finanzbehörden zustimmen, wobei die Zustimmung als erteilt gilt, wenn nicht die Mehrheit der Länder widerspricht. Eine vergleichbare Regelung enthält nunmehr auch § 20 Abs. 1 S. 2 Finanzverwaltungsgesetz für den bundeseinheitlichen Einsatz von IT-Programmen; auch hier sieht die Vorschrift ein Weisungsrecht des Bundesministeriums der Finanzen vor, das allerdings ebenfalls unter dem Vorbehalt steht, dass die Mehrheit der Länder nicht widerspricht. Ob diese Regelungen den gewünschten Effekt haben, ist zweifelhaft. Denn in der Sache sind sie die – nun in Gesetz gegossene – Staatssekretärsvereinbarung, so dass nach wie vor gilt: Ein Weisungsrecht, dessen Akzeptanz von dem Angewiesenen abhängt, ist kein wirksames Weisungsrecht. Der Bund wird also weiterhin auf die freiwillige Mitarbeit der Länder angewiesen bleiben, und er kann sich im Ergebnis nicht durchsetzen, wenn eine Mehrheit der Länder seinen Maßnahmen widerspricht. Im Übrigen dürften diese Änderungen des Finanzverwaltungsgesetzes kaum die allgemeinen Probleme wie zum Beispiel die personalintensive Abstimmung von Richtlinien, Handbüchern und Verwaltungsregeln lösen. 2. Der Bundesrechnungshof ist daher nach wie vor der Auffassung, die Einführung einer Bundessteuerverwaltung sei der geeignete Weg, die bisherige unbefriedigende Situation zu ändern. Er vertritt diese Ansicht nunmehr in dem Verfahren der sog. Föderalismuskommission II, die ihn gebeten hat, u. a. auch zu den Fragen der Entbürokratisierung und der Effizienzsteigerung bei der Verwaltung der Gemeinschaftssteuern gutachtlich Stellung zu nehmen. Dafür, dass die Politik diesen Ball aufnimmt, gibt es Anzeichen; jedenfalls treten auch die Mitglieder der Bundesregierung in der Föderalismuskommission II dafür ein, die Verwaltungskompetenz für die Bundessteuerverwaltung auf den Bund zu übertragen, weil sie die Ansicht teilen,
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dass „eine wesentliche Ursache für unbestritten vorhandene Defizite im Steuervollzug [. . .] die Aufspaltung von Gesetzgebungs- [. . .] und Verwaltungskompetenz bei der Auftragsverwaltung“ ist39. 3. Wie dem auch sei: Schon heute zeigt die lange Geschichte des Versuchs, die Mängel der Steuerauftragsverwaltung zu beheben, eines sehr deutlich: dass die Notwendigkeit, dicke Bretter beharrlich zu bohren, nicht nur – wie Max Weber meinte40 – das Los der Politik, sondern auch der externen Finanzkontrolle ist. Zum Erfolg von Reformen bedarf es offensichtlich eines sehr langen Atems, geduldiger Beharrlichkeit und des Zusammenspiels von Parlament, Exekutive, Judikative, Wissenschaft und Rechnungshöfen – eines Zusammenspiels, das immerhin zu dem ersten Etappensieg geführt hat, nämlich: dass nunmehr die Erhebungsrechte des Bundesrechnungshofes im Bereich der Steuerauftragsverwaltung gesichert sind und dass infolge seiner nunmehr möglichen und durchgeführten Erhebungen der Reformbedarf ganz deutlich geworden und wohl auch akzeptiert ist41. So gesehen, darf gehofft werden, dass eines nicht zu fernen Tages Bund und Länder, Parlament, Wissenschaft, Exekutive und auch die externe Finanzkontrolle das Ziel der vollständigen und gleichmäßigen Erhebung der Steuern erreichen.
39 Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Kommissionsdrucksache 005. 40 M. Weber, Politik als Beruf, S. 82: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ 41 Vgl. hierzu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 8. Februar 2007, BT-Drs. 16/4302, S. 2.
Demokratie und Rechtsstaat in der Verfassung Rumäniens Detlef Merten* I. Demokratie und Rechtsstaat sind die Eckpfeiler moderner Verfassungsstaatlichkeit. Beide Prinzipien stellen in der Regel nicht nur Fundamentalgrundsätze einer Verfassung dar, sondern haben insbesondere in den jüngeren Verfassungen Ostmitteleuropas und Südosteuropas Eingang in die Staatsdefinition selbst gefunden. Nicht nur Rumänien bezeichnet sich in Art. 1 Abs. 3 seiner Verfassung1 als einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Die Formel vom „demokratischen Rechtsstaat“ kehrt auch in den Verfassungen Polens, der Slowakei, Tschechiens, Ungarns, der Ukraine und Sloweniens wieder. Allerdings sind die Bürger im Verfassungsstaat nur dann ausreichend geschützt, wenn zu den formalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie das materiale Prinzip der Freiheit hinzutritt: Der moderne Verfassungsstaat ist ein freiheitlicher Rechtsstaat und eine freiheitliche Demokratie, weshalb auch die rumänische Verfassung in Art. 1 Abs. 3 die Staatsdefinition in einem Relativsatz sogleich dahin erläutert, dass u. a. die Würde des Menschen, die Rechte und Freiheiten der Bürger sowie die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gewährleistet sind. Allein das Prinzip Freiheit als Summe der einzelnen Grundrechte und Grundfreiheiten, wie sie auch in Titel II der rumänischen Verfassung verankert sind, kann sicherstellen, dass auch ein demokratischer Rechtsstaat fundamentale Freiheiten seiner Staatsbürger einschließlich der Minderheiten achtet. Eine res publica perfecta bedarf der Freiheitlichkeit als eines dritten Eckpfeilers der Verfassung, der das rechtsstaatliche und das demokratische Prinzip material stützt. * Der Beitrag ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den Verf. am 30.6.2005 in Bukarest auf einer internationalen Tagung über „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Rumänien und der Europäischen Union“ gehalten hat. Der Anmerkungsapparat ist auf das Notwendigste beschränkt. 1 Vom 21.11.1991 in der Fassung des Gesetzes 429/2003, in Kraft getreten am 29.10.2003.
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Diese Freiheit wird heutzutage zwar vielfach dem Rechtsstaat als materiales Element implantiert. Das hat jedoch zur Folge, dass der Schutz der Menschenwürde und der individuellen Freiheit dann als Zielsetzung des Rechtsstaats selbst definiert wird und es zu einer Vermischung von Prinzipien kommt. II. Der Begriff „Rechtsstaat“ ist ein deutscher Begriff, der dann zum Baustein moderner Verfassungen wurde. Er ist mit dem englischen Prinzip der „rule of law“ nur in Teilen vergleichbar2. Aus sich heraus ist der Begriff „Rechtsstaat“ nur mit Mühe verständlich. Daher muss auf die Geschichte und die Dogmatik des Verfassungsrechts zurückgegriffen werden, um die einzelnen Elemente der Rechtsstaatlichkeit zu gewinnen. Vom Wortlaut her sagt „Rechtsstaat“ nicht mehr, als dass das Gemeinwesen ein Staat des Rechts sein soll, der dem Recht, also heutzutage insbesondere den Gesetzen, verpflichtet ist. Werden Recht und Gesetz zum Mittelpunkt des Staates, so stellt dies zugleich eine Absage an die Macht, an die politische Zweckmäßigkeit und an den Willen einzelner Personen oder Gruppen dar. Dies hat die Verfassung von Massachusetts von 1780 in ihrem Art. 30 betont, in dem sie eine Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen forderte („to the end it may be a government of laws and not of men“). Damit ist eine der wichtigsten Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, nämlich die Gesetzesherrschaft oder genauer der Vorrang des Gesetzes angesprochen, der im 20. Jahrhundert dann durch einen Vorrang des Verfassungsgesetzes ergänzt wurde. Vorrang des Gesetzes bedeutet, dass ein bestehendes verfassungsmäßiges Gesetz von allen Staatsgewalten zu beachten ist. Darin ist das Parlament eingeschlossen, das zwar Gesetze ändern oder aufheben kann, bis zu diesem Zeitpunkt aber an die bestehenden Gesetze gebunden ist und sich nicht über sie hinwegsetzen darf. Vorrang des Verfassungsgesetzes heißt, dass insbesondere auch die Legislative in vollem Umfang der Verfassung verpflichtet ist und dass letztere nur vom verfassungsändernden Gesetzgeber modifiziert werden kann. Insoweit stimmen das Rechtsstaatsprinzip und die rule of law überein, da auch diese den Vorrang des vom Parlament beschlossenen Gesetzes fordert. Zum Vorrang der Verfassung und der Gesetze bekennt sich auch die rumänische Verfassung nach der Verfassungsänderung von 2003 in ihrem Art. 1 Abs. 5. 2 Vgl. hierzu Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58 (2003), S. 1 ff.
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In der Theorie wird der Grundsatz der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns uneingeschränkt bejaht, in der täglichen Anwendung muss er sich aber immer wieder bewähren, und es gibt Bereiche, in denen Verfassungsverstöße evident sind. Das gilt vor allem für die Vergabe öffentlicher Ämter, für die nach dem Willen des Grundgesetzes die Besten auszuwählen sind. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere bei Einstellungen und Beförderungen im öffentlichen Dienst Bewerber mitunter nicht wegen ihrer Qualität, sondern wegen ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit bevorzugt werden („Ämterpatronage“).
III. Das ureigenste Anliegen des Rechtsstaates, nämlich die Gewaltentrennung, ergibt sich nicht aus dem Begriff, sondern wird nur anhand der historischen Entwicklung deutlich. Geschichtlich gesehen ist Rechtsstaat der Gegenbegriff zum Machtstaat, zum Staat des Absolutismus, wie er insbesondere im Ançien régime in Frankreich seine Ausprägung gefunden hatte. Die Vereinigung aller Staatsgewalt in einer Hand, wie sie sich dann in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts wiederholt, war eine Bedrohung der bürgerlichen Freiheit. Montesquieu, der zunächst in den „Persischen Briefen“ und dann grundsätzlicher in seinem 1748 erschienenen epochalen Werk „Vom Geist der Gesetze“ Gewaltenteilung und Gewaltentrennung behandelt hatte, zieh insbesondere die Türkei eines furchtbaren Despotismus, weil dort die drei Staatsgewalten in der Person des Sultans vereinigt seien. Dabei war deutlich, dass die orientalische Einkleidung nur die Kritik am Ançien régime bemänteln sollte. In Preußen hatte er vor allem Friedrich den Großen beeinflusst, der sich nach dem Erscheinen des Werkes Montesquieus immer häufiger weigerte, zivilgerichtliche Urteile abzuändern und damit sogenannte Machtsprüche zu erlassen. In seinen politischen Testamenten begründet er dies theoretisch: Es stehe dem Herrscher nicht zu, bei den Prozessentscheidungen seine Autorität zu nutzen; die Gesetze sollten allein regieren, und die Pflicht der Herrscher solle sich darauf beschränken, sie zu schützen. Zentrales Anliegen der Gewaltentrennungslehre ist die Verhinderung von Machtmissbrauch. Montesquieus anthropologische Grundthese lautet, dass jeder Mensch, der Macht hat, verleitet wird, sie zu missbrauchen; um Machtmissbrauch zu verhindern, müsse die eine Macht die andere Macht hemmen („il faut que le pouvoir arrête le pouvoir“); aus diesem Grunde dürfe die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt nicht in einer Hand ruhen, wie auch die richterliche von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt zu trennen sei. Die französische Erklärung der Menschen-
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und Bürgerrechte von 1789 erhebt die Lehren Montesquieus dann in den Rang eines Verfassungssatzes und formuliert in Art. 16, dass eine Gesellschaft ohne Verankerung der Gewaltentrennung keine Verfassung habe. Zur Gewaltentrennung bekennen sich auch die Bill of Rights von Virginia von 1776 und die schon erwähnte Verfassung von Massachusetts von 1780. In der rumänischen Verfassung heißt es nach der Änderung von 2003 in Art. 1 Abs. 4, dass der Staat entsprechend den Prinzipien der Trennung und des Gleichgewichts der Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – aufgebaut ist, und schon nach der Revolution von 1989 hatte der „Rat der Front der nationalen Rettung“ in einem 10 Punkte-Programm u. a. die Verwirklichung des Prinzips der Gewaltenteilung gefordert. Die rumänische Verfassung wird den Vorstellungen Montesquieus besser gerecht als andere Verfassungen. Denn Art. 1 Abs. 4 spricht wörtlich von den „Prinzipien der Trennung und des Gleichgewichts der Gewalten“, wie auch Montesquieu immer wieder gefordert hatte, die Gewalten sollten einander mäßigen und begrenzen. Damit hat er ein System von Wirkung und Gegenwirkung, von „checks und balances“ gefordert, wie es später im amerikanischen „Federalist“ heißt. Eine Trennung der Gewalten fordert Montesquieu nur an einer einzigen Stelle, und nur hier verwendet er das Verbum „séparer“: Es geht um die Trennung der richterlichen Gewalt von der Legislative und der Exekutive. Und in der Tat steht und fällt die Rechtsstaatlichkeit im ganzen mit der Neutralität und Unparteilichkeit der Judikative und der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter, zu denen sich auch der jetzige Art. 124 der rumänischen Verfassung bekennt. Eine ähnlich strikte Trennung der Gewalten ist für das Verhältnis von Legislative und Exekutive nicht erforderlich und nicht einmal möglich, da insbesondere in der parlamentarischen Demokratie die Regierung als Spitze der Exekutive von der Legislative gewählt wird oder zumindest eines parlamentarischen Vertrauensvotums wie nach Art. 85 der rumänischen Verfassung bedarf. Dabei kommt es regelmäßig auch zu personalen Verflechtungen, da Regierungsmitglieder oftmals ein Abgeordnetenmandat innehaben, wie dies auch nach Art. 71 Abs. 2 der rumänischen Verfassung zulässig ist. Für das Verhältnis von erster und zweiter Gewalt ist es daher nur bedeutsam, dass zwischen ihnen eine Gewaltenbalance oder ein Gewaltengleichgewicht besteht und eine einseitige Vorherrschaft des Parlaments über die Exekutive ausgeschlossen ist. Daher hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass dem Demokratieprinzip nicht fälschlich ein Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts entnommen werden könne3 und dass keinesfalls ein Defizit an Demokratie vor3
BVerfGE 68, 1 (87); 49, 89 (124 f.).
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liege, „wenn die Exekutive im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten auch ausschließliche Befugnisse zu weittragenden, möglicherweise existentiellen Entscheidungen besitzt“4. Gerade die organisatorische und funktionale Unterscheidung und Trennung der Gewalten, so das Bundesverfassungsgericht, ziele auch darauf ab, „daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“, und sie wolle „auf eine Mäßigung der Staatsgewalt insgesamt hinwirken“5. Dieses Postulat wird auch als Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur bezeichnet. An dieser Stelle zeigt sich schon, dass die beiden Verfassungsgrundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit harmonisiert werden müssen. Da in einem demokratischen Verfassungsstaat alle Staats- und Verfassungsorgane demokratisch legitimiert sind, kann eine Staatsgewalt gegenüber der anderen keine Vorherrschaft mit der Begründung beanspruchen, sie sei besser, weil unmittelbarer durch das Volk legitimiert als andere Gewalten6. Des Weiteren unterscheidet sich die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gewaltenbalance auch graduell von der englischen rule of law, die anders als die deutsche Rechtsstaatlichkeit mit der Parlamentssouveränität eng verknüpft ist. Demzufolge kommt der Legislative nach englischer Lehre auch ein größeres Übergewicht im Verhältnis zu den zwei anderen Gewalten zu. War doch – jedenfalls bis vor kurzem – für die „rule of law“ eine Bindung des Parlaments an ein höheres Verfassungsgesetz ebenso undenkbar wie die gerichtliche Nichtigerklärung eines Parlamentsgesetzes wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht. Allerdings bahnt sich in England seit einigen Jahren hier ein Umdenken an, welches in dem Human Rights Act von 1998 einen ersten Ausdruck gefunden hat. IV. Ein weiteres wesentliches Element des Rechtsstaatsgrundsatzes ist der sogenannte Vorbehalt des Gesetzes, bei dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie miteinander verschränkt sind. Dieser Vorbehalt des Gesetzes ist im übrigen auch Bestandteil der englischen rule of law. Vorbehalt des Gesetzes meint, dass Eingriffe in Freiheit und Eigentum, also Einschränkungen der individuellen Freiheit, eines förmlichen Gesetzes, also eines Parlaments4 5 6
BVerfGE 68, 1 (89). BVerfGE 68, 1 (86). Hierzu auch BVerfGE 49, 89 (125).
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gesetzes, bedürfen oder zumindest ihre Grundlage in einem solchen Gesetz finden müssen. In die rumänische Verfassung hat dieser Vorbehalt des Gesetzes in Art. 53 Abs. 1 Eingang gefunden, wonach die Ausübung von Rechten und Freiheiten nur durch Gesetz und nur unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt werden kann. Historisch geht der Vorbehalt des Gesetzes auf das Steuerbewilligungsrecht der Stände zurück, das sich im Zeitalter des Konstitutionalismus zu einem Mitwirkungsrecht der Kammern erweitert. Gesetze können nur noch unter Zustimmung der Kammern zustande kommen, so dass den Repräsentanten des Bürgertums ein entscheidendes Mitbestimmungsrecht gesichert ist. Der Grundgedanke dieses „Vorbehalts des Gesetzes“ ist, dass die Repräsentanten des Volkes einem freiheitsbeschränkenden Gesetz nur dann ihre Zustimmung geben werden, wenn dies angemessen und erforderlich ist. Damit ist der Vorbehalt des Gesetzes ein Bollwerk gegen die monarchische Exekutive, später gegen die Exekutive schlechthin. Erst das 20. Jahrhundert zeigt dann, dass die Repräsentanten des Volkes dessen Freiheit auch bedrohen können, so dass nunmehr auch eine Bindung der Legislative an das übergeordnete Verfassungsgesetz erforderlich wird. Hier handelt es sich um den schon erwähnten Vorrang des Verfassungsgesetzes. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahrzehnten diesen Vorbehalt des Gesetzes zu einer – allerdings immer noch umstrittenen – Wesentlichkeitstheorie erweitert. Diese Theorie besagt, dass das Parlament nicht nur über Freiheitseingriffe, sondern über alle wesentlichen Entscheidungen selbst durch Gesetz befinden müsse. Dabei soll „wesentlich“ insbesondere das sein, was für die Grundrechte wesentlich ist. Damit ist nun eine formell-gesetzliche Grundlage auch für andere Bereiche, z. B. die Leistungsverwaltung, erforderlich. Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf das Demokratieprinzip verfängt nicht, da in einem demokratischen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung jede der drei Gewalten über einen eigenständigen Bereich verfügen muss und es in den eigenen Worten des Gerichts keinen „allumfassenden Parlamentsvorbehalt“ geben darf. Unter Berufung auf die Wesentlichkeitstheorie hat beispielsweise der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen7 für die Zusammenlegung des Innen- und des Justizministeriums in diesem Land ein förmliches Gesetz gefordert, wodurch erheblich in die Organisationsgewalt der Exekutive eingegriffen wurde. Kritik an der Wesentlichkeitstheorie ist auch deshalb laut geworden, weil nicht berechenbar ist, welche Fragen wesentlich sind und damit eines formellen Gesetzes bedürfen und welche als unwesentlich zu qualifizieren sind. 7
Urt. vom 9.2.1999, DÖV 1993, S. 427 ff.
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Die Möglichkeiten, die Freiheit des Bürgers durch Parlamentsgesetz zu beschränken, sind in dem letzten halben Jahrhundert in ganz erheblicher Weise durch eine dogmatische Figur eingegrenzt worden, die zum Teil aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, teilweise auch auf das Prinzip Freiheit gestützt wird: Gemeint ist das Übermaßverbot oder das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Nach diesem Prinzip sind Freiheitsbeschränkungen durch Gesetz oder durch Einzelakt nur dann verfassungskonform, wenn sie geeignet, erforderlich und proportional sind, das heißt wenn das Ausmaß des Eingriffs in einem vernünftigen und angemessenen Verhältnis zur Beschränkung der Freiheit steht. Entsprechende Regelungen finden sich auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach Einschränkungen bestimmter Rechte nur zulässig sind, soweit sie in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind. Die rumänische Verfassung nimmt in Art. 53 Abs. 1 diesen Gedanken auf, begnügt sich jedoch nicht mit der leerformelartigen Schrankenklausel der Europäischen Menschenrechtskonvention. Stattdessen führt sie die Gründe für eine erforderliche Freiheitseinschränkung enumerativ auf, z. B. zum Zwecke der Verteidigung der nationalen Sicherheit. Art. 53 Abs. 2 verlangt weiterhin, dass eine Einschränkung, gemessen an dem Sachverhalt, der sie verursacht hat, verhältnismäßig sein muss. Als äußerste Grenze wird sodann die Existenz des Rechts oder der Freiheit genannt, die nicht berührt werden darf. Das entspricht der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, wonach ein Gesetz Grundrechte nicht in ihrem Wesensgehalt beschränken darf. Im freiheitlichen Rechtsstaat muss also das freiheitsbeschränkende Gesetz immer ein verhältnismäßiges und angemessenes Gesetz sein, das nicht unnötig, überproportional und unzumutbar in die Freiheiten des Bürgers eingreifen darf. V. Neben dem Verhältnismäßigkeitsgebot ergeben sich aus dem Prinzip des freiheitlichen Rechtsstaates weitere inhaltliche Vorgaben für Gesetze. Sinn der Rechtsstaatlichkeit ist die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Gesetzes, das nicht im Einzelfall durchbrochen werden darf, sondern bis zu einer Änderung im formellen Verfahren gültig und allgemeinverbindlich sein muss. Als Konsequenz hieraus folgt, dass das Gesetz zunächst für den Bürger klare, bestimmte und erkennbare Anordnungen treffen und nicht widerspruchsvoll, irreführend oder missverständlich sein darf. In der Praxis ist es allerdings um diese Gesetzesverständlichkeit in bestimmten Bereichen des Verwaltungsrechts, insbesondere im Sozialrecht und im Steuerrecht, schlecht bestellt. Dass der Bürger seine Steuerschuld
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selbst herausfinden oder der Enkel dem Großvater die Rente berechnen kann, ist in den meisten Fällen eine Illusion. Die Unüberschaubarkeit des Rechtsstoffs, die in einem politischen Mehrebenensystem durch Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft zusätzlich erschwert wird, ist ein oft beklagtes Defizit. Anzumerken ist jedoch, dass die Forderung nach Rechtsverständlichkeit nicht nur ein politisches Postulat, sondern ein Verfassungsgebot ist. Von Rechtsstaats wegen müssen Gesetze für den Bürger im wörtlichen und im übertragenen Sinn einsehbar sein. Daher droht dem Gesetzgeber ein gerichtliches Verdikt der Verfassungswidrigkeit, wenn er seine oftmals sowohl handwerklich als auch inhaltlich mangelhafte Gesetzesqualität beibehält und allenfalls darauf achtet, dass Gesetze geschlechtsneutral formuliert sind. Mit dem rechtsstaatlichen Gebot der Berechenbarkeit des Gesetzes hängen schließlich das Verbot der Rückwirkung und der Vertrauensschutz des Bürgers zusammen. Wenn der Bürger sich mit dem Gesetz arrangieren soll, dann darf dieses nicht in abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit eingreifen. Insbesondere dürfen Strafgesetze nicht mit rückwirkender Kraft Straftatbestände schaffen oder Strafandrohungen verschärfen. Dieser gemeineuropäische Satz „nulla poena sine lege“ folgt zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip, selbst wenn er sich nicht ausdrücklich im Verfassungstext findet. Die rumänische Verfassung trägt dem in Art. 15 Abs. 2 Rechnung, wonach das Gesetz nur für die Zukunft gilt mit Ausnahme vorteilhafterer Straf- und Verwaltungsgesetze. Da das Rechtsstaatsprinzip jedoch nur nachträgliche Belastungen für den Bürger ausschließt, können sich alle nichtbelastenden Regelungen rückwirkende Kraft beilegen, ohne gegen das aus dem Rechtsstaatsgrundsatz folgende Vertrauensschutzprinzip zu verstoßen, das im Übrigen auch vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung angewandt wird. VI. Schließlich lässt sich dem Rechtsstaatsprinzip entnehmen, dass die Gebote des Vorrangs des Gesetzes und des Vorrangs des Verfassungsgesetzes in irgendeiner Weise gerichtlich kontrolliert werden müssen, um wirksam zu sein. Die Verpflichtung aller Staatsgewalt auf Gesetz und Verfassung reicht nicht, wenn nicht eine unparteiische Instanz über deren Einhaltung wacht. Damit gehört ein wie auch immer gearteter Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt sowie zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zum modernen Rechtsstaat. Theoretisch kann die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze von jedem zuständigen Gericht wahrgenommen oder bei Obergerichten konzentriert werden. Zweckmäßigerweise wird hierfür jedoch in den modernen Verfassungen eine eigene Ver-
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fassungsgerichtsbarkeit verankert, wie sie sich auch in der rumänischen Verfassung in Titel 5 findet. Selbstverständlich ist die gerichtliche Kontrolle der Gesetze für das Parlament und für die politischen Parteien unbequem, weshalb immer wieder richterliche Zurückhaltung auch unter Hinweis auf das Demokratieprinzip gefordert wird. Diese These ist jedoch unrichtig, da moderne Staaten, wie auch Rumänien, nicht als totale, sondern als rechtsstaatlich gezähmte Demokratien verfasst sind, in denen die demokratische Legitimation verfassungsstaatlich geregelt ist. Daher hat die vom Volk gewählte Legislative den Vorrang der Verfassung zu beachten, dessen Einhaltung die Verfassungsgerichtsbarkeit lediglich kontrolliert und garantiert. Solange eine Verfassung existiert, hat im Verfassungsstaat nicht das Volk, sondern die Verfassung das letzte Wort, und sind deshalb die Verfassungsrichter zu Recht die Hüter der Verfassung. VII. Das Demokratieprinzip gründet auf der Volkssouveränität, die das monarchische Gottesgnadentum als Legitimationsgrundlage abgelöst hat. Träger der Souveränität ist grundsätzlich das Staatsvolk, das nicht mit der jeweiligen Bevölkerung gleichzusetzen ist. Das Staatsvolk wird formal durch die gemeinsame Staatsangehörigkeit, material durch den Willen zur Zusammengehörigkeit als Schicksalsgemeinschaft und in Generationenverbundenheit gekennzeichnet. Zur Volkssouveränität bekennt sich auch Art. 2 Abs. 1 der rumänischen Verfassung, die darüber hinaus in Art. 2 Abs. 2 klarstellt, dass keine Gruppe und keine Person die Souveränität im eigenen Namen ausüben dürfen. Das Demokratieprinzip fordert, dass die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lässt und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden muss8. Entscheidend ist immer die Legitimation durch das Staatsvolk, nicht die Legitimation durch Gruppen oder Verbände, wie Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Berufsvereinigungen, von denen auch Art. 9 der rumänischen Verfassung handelt. Hatte der auch in seiner Überschrift auf „Gewerkschaften“ beschränkte Art. 9 in seiner alten Fassung noch betont, dass die Gewerkschaften bei der Verteidigung der Rechte und der Förderung der beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeitnehmer mitwirken, so verdeutlicht die Verfassung in ihrer jetzigen Fassung zutreffend, dass die genannten Vereinigungen zum Schutz der Rechte und der Förderung der Interessen ihrer Mitglieder beitragen. 8
BVerfGE 89, 155 (182).
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Diese Mitwirkung ist korporatistisch, nicht demokratisch legitimiert und kann unter Umständen sogar antidemokratische Folgen zeitigen. So hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst bei der Personalauswahl und bei der Beförderung dazu führen kann, dass der zuständige Minister seiner parlamentarischen Verantwortung nicht gerecht zu werden vermag, weil er an Entscheidungen demokratisch nicht legitimierter Organe gebunden ist9. Es ist daher festzuhalten, dass Demokratie keine Herrschaft der Betroffenen, sondern eine Herrschaft des Staatsvolks darstellt. Wenn die Verfassung in der Formel des demokratischen Rechtsstaates sich zu beiden Prinzipien bekennt, so muss bei gegenläufigen Tendenzen eine Synthese gesucht werden. Demokratischer Rechtsstaat bedeutet, dass das Gesetz als zentrales Herrschaftsinstrument demokratisch legitimiert sein muss, also auf den Willen des Staatsvolkes zurückgeführt werden kann. Das schließt die entscheidende Mitwirkung demokratisch nicht legitimierter Organe, wie sie in der konstitutionellen Monarchie gegeben war, aus. Umgekehrt aber muss die demokratische Willensbildung sich in rechtsstaatlichen Formen, also insbesondere im Rahmen der Verfassung bewegen, die für Rumänien die Ausübung durch Vertretungsorgane und durch Referendum vorsieht (Art. 2 Abs. 1). Insbesondere bei der Gesetzgebung unterliegt das Repräsentativorgan den durch die Verfassung gezogenen formalen und materialen Grenzen, wie sie durch rechtsstaatliche Elemente, aber auch durch die im einzelnen gewährten Grundrechte und Grundfreiheiten gezogen sind. Die auch in der rumänischen Verfassung vorgesehene Verfassungsgerichtsbarkeit ist Element demokratischer Rechtsstaatlichkeit und nicht Antipode demokratischer Willensbildung des Volkes.
9 Vgl. BVerfGE 93, 37 (76 ff.); auch VerfGH Rheinland-Pfalz, AS 24, 321 (342 ff.).
Rudolph Delbrück – Präsident des Bundesund Reichskanzleramts 1867–1876 Rudolf Morsey I. Zur Quellenlage Die Grundlage dieses Beitrags bildet ein Referat im Rahmen einer von der Otto-von-Bismarck-Stiftung (Friedrichsruh) am 17./18. Mai 2007 in Bad Kissingen veranstalteten Tagung „Bismarck und seine Mitarbeiter“.1 Mit der Behandlung des mir gestellten Themas „Rudolf Delbrück“ konnte ich an meine münsterische Dissertation „Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890“, erschienen 1957, anknüpfen.2 Die darin getroffenen Aussagen über die Rolle Delbrücks als Chef der Bundes- bzw. Reichszentralbehörde beim Auf- und Ausbau der obersten Reichsverwaltung beruhten auf einer breiten archivalischen Quellengrundlage und sind auch nach 50 Jahren noch keineswegs ‚überholt‘; denn zu diesem Thema sind keine neuen Quellen bekannt geworden – abgesehen von solchen über Delbrücks Rolle als Unterhändler Bismarcks bei seinen diplomatischen Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten im Vorfeld der Reichsgründung, im September 1870.3 Die Bismarck-Forschung hat durch die 1997 erfolgte Errichtung der bundeseigenen Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh einen quasi institutionellen Aufschwung erfahren: Durch die weitere Erschließung und Öffnung des umfangreichen Bismarck-Nachlasses und den Aufbau einer Dauer1 Eine erheblich erweiterte und entsprechend belegte Fassung erscheint in dem von U. Lappenküper und M. Epkenhans herausgegebenen gleichnamigen Sammelband in den Schriften der Otto-von-Bismarck-Stiftung 2008. 2 Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890, K. von Raumer (Hrsg.), Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 3, 1957; vgl. ferner ders., Bismarck und die Reichsverwaltung, in: DVBl. 1965, S. 257–262; ders., Die öffentlichen Aufgaben im Norddeutschen Bund und im Reich (1867–1914), in: K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-C. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 128–137; ders., Die Erfüllung von Aufgaben des Norddeutschen Bundes und des Reiches durch Behörden des Reiches, ebd., S. 138–186. 3 O. Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, hrsg. und ergänzt von A. Scharff, 1958. In dem posthum erschienenen Werk des 1955 verstorbenen Kieler Historikers Becker ist mein Buch von 1957 nicht mehr berücksichtigt.
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ausstellung in Friedrichsruh, die Veranstaltung wissenschaftlicher Tagungen sowie die kürzlich begonnene Herausgabe einer „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ (NFA) von Bismarcks Werken.4 Sie enthält neben einer Auswahl bisher bereits veröffentlichter Dokumente auch neuerschlossene Quellen. Damit ergänzt sie die Ausgabe der Gesammelten Werke (GW) Bismarcks in 19 Großbänden („Friedrichsruher Ausgabe“), die zwischen 1924 und 1935 erschienen ist und wegen ihrer Materialfülle unverzichtbar bleibt. Demgegenüber enthält eine Jahrzehnte später in neun Bänden vorgelegte Auswahledition (WiA), „Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862“ (= Ernennung Bismarcks zum Vorsitzenden des preußischen Staatsministeriums)5, keine neuen Quellen. In der nahezu uferlosen Bismarck-Literatur wird die Biographie von Otto Pflanze, die in der amerikanischen Erstausgabe drei Bände umfasste6, für längere Zeit maßgeblich bleiben. In den erwähnten Editionen wie in der Bismarck-Literatur erscheint Martin Friedrich Rudolph Delbrück überwiegend mit dem Geburtsadel – obwohl er erst 1896 nobilitiert worden ist – und zudem mit unterschiedlich geschriebenem Vornamen: Rudolf bzw. Rudolph. Im Register der Memoiren „Erinnerung und Gedanke“ (GW, Bd. 15) fehlt sogar sein Vor- und Rufname: Rudolph.7 Zwei Jahre nach Delbrücks Tod (1903) sind seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden erschienen. Sie enden jedoch bereits 1867, in dem Zeitpunkt, in dem der damals 50-jährige Autor in unser Blickfeld tritt.8 Die Memoiren lassen Arbeitsweise und Lebensverhältnisse einer durch die Nähe zum preußischen Hof begünstigten Familie ebenso erkennen wie ein sorgfältig gepflegtes Netzwerk von Beziehungen, das Delbrück quasi „ererbt“ hatte. Bis heute fehlt ein Lebensbild Delbrücks, wohl auch deswegen, weil ein Restnachlass nur Unterlagen zur preußischen Handelspolitik enthält. Deswegen ist immer noch auf die 20-seitige Vita zu verweisen, die Karl Helfferich 1906 verfasst hat. Nach dessen Urteil gehört Delbrück, den er noch gekannt hatte, zu den „großen Männern, deren Namen für alle Zeit mit der Geschichte der Wiedergeburt Deutschlands im 19. Jahrhundert verbunden sein werden“.9 4 K. Canis u. a. (Hrsg.), Abt. III: 1871–1898. Schriften, Bd. 1 (1871–1873), bearb. von A. Hopp; Bd. 2 (1874–1876), bearb. von R. Bendick, 2004–2005. 5 G. A. Rein u. a. (Hrsg.), 1962–1983. 6 (Bd. 1:) Der Reichsgründer (bis 1875); (Bd. 2:) Der Reichskanzler (ab 1875), 1997/98. Amerikanische Erstausgabe: Bismarck and the Development of Germany. 3 Bde, Princeton, N.Y. 1990. 7 Bd. 15: Erinnerung und Gedanke. Kritische Neuausgabe von G. Ritter und R. Stadelmann, 1935, S. 684. Danach übernommen in die WiA-Ausgabe (Anm. 5), Bd. 8B, hrsg. von R. Buchner und G. Engel, 1983, S. 304. 8 Lebenserinnerungen des Staatsministers Rudolph von Delbrück 1817–1867. 2 Bde., 1905.
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Die frühe Würdigung Helfferichs blieb jahrzehntelang unbeachtet, selbst in der 1936 veröffentlichten, wesentlich auf Delbrück bezogenen Arbeit von Eberhard von Vietsch, „Die politische Bedeutung des Reichskanzleramts für den inneren Ausbau des Reiches von 1867 bis 1880“.10 Ich habe sie in meiner bereits erwähnten Dissertation, in der ich die von Vietsch benutzten Quellen erheblich ergänzen konnte, benutzt.11 Seitdem wurde es wieder still um Delbrück. So fehlt ein eigener Beitrag in den „Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648–1945“ von 1991. Dort ist Delbrücks Biogramm in sieben Zeilen abgehandelt.12 In der 2004 erschienenen Monographie von Helma Brunck „Bismarck und das Preußische Staatsministerium 1862–1890“ ist zwar viel von Delbrück die Rede, allerdings nur auf der Grundlage spärlicher älterer Quellen. Die Verfasserin kennt weder Helfferichs Kurzvita noch die Dissertation von Vietsch und erwähnt meine Arbeit nur im Literaturverzeichnis. Für Bismarcks Wertschätzung seines engen Mitarbeiters Delbrück gibt es Belege, hingegen kein Zeugnis von seiner „rechten Hand“ über dessen Verhältnis zum Regierungschef. Der Kanzler kritisierte bekanntlich lieber, als dass er lobte, war misstrauisch und launisch. Sein Umgang mit Spitzenbeamten litt unter seiner häufigen Abwesenheit von Berlin, aber auch unter seiner, wie es der sächsische Staatsminister Richard Frhr. von Friesen formuliert hat, „zeitweiligen Unnahbarkeit aus Gesundheitsrücksichten“ und seiner geistigen Überlegenheit, nicht minder unter dem Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit; auch Delbrück besaß für Bismarck nicht „die Stellung eines in alles eingeweihten Vertrauten und ständigen Beraters von dauerndem Einfluß“.13 II. Delbrücks Vita bis 1867 Martin Friedrich Rudolph Delbrück, 1817 in Berlin geboren, entstammte dem „hauptstädtisch-protestantischen Beamtenmilieu“.14 Seine Familie stellte in drei Generationen nacheinander evangelische Geistliche. Sein Vater Friedrich Delbrück war 1800–1809 Prinzenerzieher der nachmaligen 9 In: A. Bettelheim (Hrsg.), Deutsches Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog. Bd. 9, 1906, S. 365–391, hier S. 381. 10 Es handelte sich um eine Leipziger phil. Dissertation, gedruckt in Borna. 11 Helfferichs Vita ist, im selben Jahr, auch zitiert bei H. Heffter, Delbrück, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, 1957, S. 579 f. 12 K. G. A. Jeserich und H. Neuhaus (Hrsg.), Persönlichkeiten der Verwaltung, Stuttgart 1991, S. 504. 13 Erinnerungen an Bismarck, 4. Aufl., 1904, 6 f. Dazu vgl. das Kapitel „Untergebene und Kollegen“ bei O. Pflanze, Reichsgründer (Anm. 6), S. 560–564. 14 E. Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, 1986, S. 70.
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Könige Friedrich Wilhelm IV. sowie Wilhelm I. gewesen. Aus dieser Zeit behielt er persönliche Beziehungen zur Berliner Hofgesellschaft. Rudolph Delbrück verlor in seinem sechsten Lebensjahr seine Mutter, im 13. auch seinen Vater. Er wurde in der Familie eines Onkels, Gottlieb Delbrück, Kurator der Universität Halle, „untergebracht“15, zu dessen elf Kindern (aus zwei Ehen). Er studierte, mit finanzieller Hilfe des Kronprinzen, in Halle, Bonn und Berlin Rechtswissenschaft, Geschichte, Geographie und Volkswirtschaft. Sein Berufsziel, die preußische innere Verwaltung, erreichte Delbrück 1842, nach drei juristischen Examina, eingeschlossen einen einjährigen Militärdienst in Berlin. Der 25-jährige Regierungsassessor entschied sich für das Finanzministerium, wechselte bald in das Handelsamt und 1848 in das neu geschaffene Handelsministerium. Dort wurde Delbrück zum Spezialisten für Handelsbeziehungen und seit Oktober 1859, als Ministerialdirektor, die treibende Kraft der preußischen Zoll- und Freihandelspolitik zur Schaffung einheitlicher Verkehrs- und Wirtschaftspolitik im „bundestäglichen Deutschland“, unter preußischer Dominanz. Obwohl weiterhin Junggeselle, nahm Delbrück am gesellschaftlichen Leben in Berlin rege teil, kannte Gott und alle Welt. In seinen Memoiren formulierte er die sittliche Grundlage seines Handelns: „In der bewußten Hingabe meiner Persönlichkeit an die im Staat verkörperte Allgemeinheit sah ich meine Pflicht, und in der Erfüllung dieser Pflicht die Aufgabe meines Lebens.“16 Delbrück galt als Verkörperung der liberalen Geheimratsbürokratie und beherrschte das Handelsministerium unter drei Ressortchefs. Er besaß keinen politischen Ehrgeiz, wohl aber Machtwillen zur Durchsetzung seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen. 1851 traf Delbrück in Frankfurt mit Bismarck zusammen. Seitdem hätten sie sich, wie er in seinen Memoiren formuliert, „in dem besten Einvernehmen“ befunden und seien in ständiger, wenngleich lockerer Verbindung geblieben.17 1858 schlug Delbrück ein Mandat zum preußischen Abgeordnetenhaus aus, zwei Jahre später auch die Absicht des Staatsministeriums, ihn in das Herrenhaus berufen zu lassen. 1862 lehnte er die Ernennung zum Handelsminister ab, weil er andernfalls die Fortsetzung ‚seiner‘ Handelspolitik gefährdet sah: „Sie war ein Stück meiner selbst geworden, das ich nicht opfern konnte.“18 Nach 1862 verblieb der Geheimrat in seiner Stellung als 15
So Helfferich, Delbrück (Anm. 9), S. 366. Delbrück, Lebenserinnerungen (Anm. 8), Bd. 1, S. 202. 17 Ebd., S. 295. 18 Ebd., Bd. 2, S. 236. Dazu Bismarcks Hinweis gegenüber Robert Lucius von Ballhausen am 14.4.1872: Delbrück würde sich „hängen“, wenn er auf seine derzei16
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enger Mitarbeiter Bismarcks, der die bisherige Freihandelspolitik fortsetzte. 1865 lehnte er den ihm angebotenen Adel ab, um seine Zugehörigkeit zum Bürgertum nicht zu verlieren. Bei der Gründung des Norddeutschen Bundes war Delbrück maßgeblich an der Schaffung des neuen Zollvereinsvertrags mit den Südstaaten beteiligt. Nach Annahme der Verfassung konnte er darauf rechnen, „nach ein paar Jahren“ seine Laufbahn als preußischer Handelsminister zu beschließen“.19 Es kam jedoch anders, nachdem im März 1867 der Konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes den preußischen Verfassungsentwurf entscheidend verändert hatte. Durch den neugefassten Art. 17 wurde die Stellung des zunächst vorgesehenen Titular-Bundeskanzlers – als Vorsitzender des Bundesrats und Leiter seiner Geschäfte, der jedoch dem preußischen Außenminister unterstellt blieb –, zu einem verantwortlichen Regierungschef ‚hochgestuft‘. Daraufhin musste der Außenminister, Bismarck, dieses Amt, das bisher dem preußischen Diplomaten Karl Friedrich von Savigny zugedacht war, in Personalunion übernehmen; denn in dieser Funktion instruierte er die preußischen Stimmen im Bundesrat. Nach Annahme der Bundesverfassung informierte Bismarck am 18. Juni 1867 das preußische Staatsministerium über seine Absicht, für die ihm – auf Beschluss dieses Gremiums – zugefallene Leitung der Bundesgeschäfte ein eigenes Amt zu errichten. Am 9. Juli 1867 nannte er als dessen mögliche Leiter dem Unterstaatssekretär im Außenministerium, von Thile, acht Kandidaten, darunter Delbrück.20 Von ihm erwartete er – wie er Thile zehn Tage später mitteilte – „arbeitenden Beistand“, wollte es aber dem Geheimrat überlassen, ob er „dann mehr Bund- oder mehr Handelsministerium spielt, den Accent hier oder dorthin legt, den Titel Vicekanzler führt oder mich nur factisch vertritt . . .“.21 Der Vorschlag Delbrück stammte von einem Mitarbeiter im Außenministerium, Robert von Keudell. Er entsprach Bismarcks Vorgabe, einen Mann zu suchen „womöglich von bürgerlicher Herkunft, der in Zoll- und Handelssachen vorzugsweise erfahren“ sei.22 So erhielt Delbrück am 22. Juli 1867, via Thile, die Anfrage, ob er die Vertretung des Bundeskanzlers „würde übernehmen wollen, ob die Wahl mehrerer Vertreter, je nach den verschiedenen Zweigen [der Verwaltung], sich empfehlen möchte“ und ob tige Tätigkeit verzichten müsse; er sei mit seiner „jetzigen Stellung ganz zufrieden“. GW, Bd. 8, S. 34. Ähnlich in: GW 15, S. 620. 19 Delbrück, Lebenserinnerungen (Anm. 8), Bd. 2, S. 399. 20 GW, Bd. 6a, S. 421 f. 21 GW, Bd. 14,2, S. 732 f. 22 GW, Bd. 7, S. 165.
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Delbrück das neue Amt neben seiner Stellung im Handelsministerium würde wahrnehmen können. Nach Delbrücks Vorstellungen, die er Bismarck am 24. Juli 1867 übermittelte, sollte der Bundeskanzler, neben dem Vorsitz im Bundesrat, die gesamte Verwaltung des Bundes führen und die ihm in Art. 4 der Verfassung zugesprochenen Befugnisse wahrnehmen, und zwar ohne (Mit-)Beteiligung des Bundesrats oder seiner Ausschüsse. Der Geheimrat hielt es nicht für möglich, die neue Behörde neben seinen „preußischen Direktorialgeschäften“ zu leiten und überließ dem Kanzler die Entscheidung, in welcher von beiden Stellungen er „nützlichere Dienste leisten“ könne.23 Daraufhin fand sich Delbrück wenig später an der Spitze des neuen Bundeskanzleramts wieder, das durch einen Präsidialerlass Wilhelms I. vom 12. August 1867 errichtet wurde.24 III. Präsident des Bundeskanzleramts (1867–1871) Der neue „Präsident“, wie seine Amtsbezeichnung lautete – verschönt durch die rasch erfolgte Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat („Exzellenz“) –, war der erste Mitarbeiter des Bundeskanzlers für die gesamte innere Bundesverwaltung und vertrat ihn zugleich in der Leitung des Bundesrats. Er begann seine Arbeit mit Schwung im Sinne der Ausdehnung des Einflusses der Zentralbehörde, pflegte dabei jedoch seine Verbindungen zu den preußischen Ministern und ihren Spitzenbeamten. Als Bismarck ihm im Oktober 1869 zusätzlich die Leitung des Finanzministeriums anbot, lehnte Delbrück den „Bundesfinanzminister“ ab. Er wollte sich nicht auf die politische Ebene drängen lassen und schlug seinen Freund Otto Camphausen vor, den Leiter der Preußischen Seehandlung, der das Ressort erhielt. In diesem Zusammenhang bezeichnete Bismarck am 22. Oktober 1869 gegenüber Wilhelm I. den Chef des Kanzleramts als „fast unersetzlich“, da er der Einzige sei, der außer ihm selbst „mit allen Zweigen der Bundesgeschäfte in laufendem Verkehr“ stände.25 Nach der Ernennung Camphausens erhielt Delbrück, quasi als Kompensation für seinen Verzicht, Ende Oktober 1869 den Rang eines preußischen Staatsministers, aber ohne Portefeuille. Zugleich bot Bismarck ihm an, auch Immediatberichte und Präsidialakte mitzuzeichnen, soweit sie die Bundesfinanzen beträfen, „um die moralische Verantwortung“ mitzutragen.26 Delbrück wollte sich jedoch nicht als Gegengewicht gegen Preußen einsetzen 23 24 25 26
Delbrück, Lebenserinnerungen (Anm. 8), Bd. 2, S. 400 f. GW, Bd. 6c, S. 15 f. GW, Bd. 6b, S. 156. Morsey, Oberste Reichsverwaltung (Anm. 2), S. 59.
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lassen. Unstrittig ist sein erheblicher Anteil an der Vereinheitlichung des neuen Wirtschafts- und Rechtsraums wie am Aufbau eines zentralen Verwaltungsstaats. Gegenüber den Einzelstaaten praktizierte er eine Amtsführung, die über den Bundesrat lief und damit verfassungskonform war, in seinen Wirkungen jedoch ohne politische Dynamik. Sie erwies sich im Spätherbst 1870, bei den von Delbrück erfolgreich geführten Verhandlungen mit den Regierungen der süddeutschen Staaten zur Bildung des Reiches, als „politisch in höchstem Maße zur Vollendung der Reichseinheit“.27 In München erlebte Hugo Graf zu Lerchenfeld-Koefering damals den Berliner Emissär als „preußischen Bürokraten in seiner besten Form“: kenntnisreich, von enormer Arbeitskraft, in den Formen korrekt und verbindlich, stets auf die Sache gerichtet, aber kühl und leidenschaftslos; zum politischen Führer habe Delbrück der leidenschaftliche, dämonische Zug gefehlt.28 Großherzog Friedrich I. von Baden würdigte Delbrücks „große Begabung“, stieß sich aber an seiner „geschäftlichen Glätte“, der jeder „höhere Schwung“ zu fehlen scheine.29 Nach dem Urteil von Eugen Richter kam bei Delbrück, einem „kleinen, kühlen Herrn“, alles, was er sagte, „sehr nüchtern, trocken und geschäftsmäßig“ heraus.30 Diese geschäftliche Nüchternheit zeigte sich, als der Reichstag am 5. Dezember 1870 die Verträge zur Gründung des Reiches behandelte. Delbrück eröffnete diese denkwürdige Sitzung mit einem langen Bericht über die Entstehung des Vertragswerks. Erst später – und zwar auf eine offensichtlich „bestellte Frage“ eines Abgeordneten hin – verlas er den historischen Kaiserbrief Ludwigs II. an Wilhelm I. „in dem trockenen, rein geschäftsmäßigen Tone, in dem er überhaupt gewohnt war, dem Reichstage Mitteilungen zu machen“. Während Friesen diesen Vorgang als „würdelos“ empfand31, bemängelte Bismarck die „fehlerhafte Regie“.32 Zwei Tage später jedoch lobte er Delbrück, gegenüber dem Großherzog von Baden, als den einzigen Mann, von dem er sagen könne, dass er „in allen Teilen seines Amtes vollständig orientiert“ sei; Delbrück besäße eine ungewöhnliche Befähigung, „die Geschäfte zu leiten und zu erledigen“. Da27
Vietsch, Bedeutung (Anm. 10), S. 43; Becker, Ringen (Anm. 3), S. 529 ff. Erinnerungen und Denkwürdigkeiten 1843 bis 1925, 1935, 46. 29 H. Oncken (Bearb.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854–1871. Briefe, Denkschriften, Tagebücher. Bd. 2, 1927, S. 168. 30 Im alten Reichstag. Erinnerungen, 1894, S. 145. Hermann Wagener bezeichnete Delbrück als einen „klugen und sehr unterrichteten Mann“. Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis 1866 und von 1873 bis jetzt, 1884, S. 62. 31 Nach H. Freiherr von Friesen (Hrsg.), Richard Freiherr von Friesen, Aus meinem Leben. Bd. 3, 1910, S. 221. 32 Nach Becker, Bismarcks Ringen (Anm. 3), S. 787. 28
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gegen sei er „kein Mann von eigenem Entschluß, und besonders in größeren politischen Fragen ängstlich und zaudernd, wenn er auf eigene Verantwortung handeln“ solle.33 Drei Wochen vorher hatte Bismarck, aus Versailles, seine Frau Johanna gebeten, Delbrück mitzuteilen, „und zwar der Wahrheit entsprechend, wie dankbar ich seine rastlose und erfolgreiche Arbeitskraft bewundere“. Die Singularität dieses Lobes unterstrich er mit dem Zusatz: „Du weißt, daß meine Anerkennungsfähigkeit nicht groß ist . . .“.34 IV. Im Reichskanzleramt (1871–1876) Auch unter der neuen Reichsverfassung blieb Delbrück, im Verbund mit Camphausen, der bisherige Spielraum zur Gestaltung der liberalen Wirtschaftspolitik. Seine Behörde, im Mai 1871 in Reichskanzleramt umbenannt, wurde um die Zuständigkeit für Elsaß-Lothringen, das neue Reichsland, erweitert. Sie vertrat seitdem die Funktionen eines kombinierten Handels- und Finanzministeriums in der Reichsverwaltung. Im Bundesrat leistete Delbrück weiterhin den „Löwenanteil“ der Arbeit.35 Unter dem 6. Mai 1872 notierte Baronin Spitzemberg, eine kluge Beobachterin des gesellschaftlichen Lebens, nach einer Begegnung bei Keudells: „Delbrück, sonst doch das Urbild des steifen, verknöcherten Beamten, erstaunte mich durch seine Lebendigkeit und seine unglaubliche Belesenheit in allen Romanen und Dichtungen, die er liest, wenn er abends 10 Uhr nach einem hart durchgearbeiteten Tage nach Hause kommt!“36 Die bisher ausschließlich positiven Urteile des Kanzlers über Delbrücks Arbeit wurden wenig später von ersten, noch vereinzelten Unmutsäußerungen begleitet. So bemängelte er, dass Gesetzesvorlagen ohne Beteiligung mittlerer und kleiner Staaten in Angriff genommen worden seien. Mit seiner Absicht, die Exekutive des Reiches und dessen finanzielle Selbständigkeit zu stärken, distanzierte er sich vom Chef des Kanzleramts, der eigene Anträge („Präsidialvorlagen“) scheute und auf dem verfassungsmäßig vorgesehenen Gang (über die Verbündeten Regierungen) beharrte, wovon Preußen profitierte. Gleichwohl sprach Bismarck am 25. Januar 1873 im Abgeordnetenhaus dem „Kollegen“ Delbrück sein Vertrauen aus, nachdem der Ab33
Oncken, Friedrich I. (Anm. 29), S. 235. Jahre später hieß es, dass Delbrück „manche Vorzüge“ gehabt habe, aber keinen „politischen Sinn und Instinkt“. 16.11.1881 zu Moritz Busch. GW, Bd. 8, S. 431. 34 16.11.1879. GW, Bd. 14,2, S. 800. 35 H. Ritter von Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. Bd. 2, 1897, S. 110. 36 R. Vierhaus (Hrsg.), Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin von Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Kaiserreichs, 5. Aufl. 1989, S. 134.
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geordnete Rudolf Virchow beiläufig die verfassungsmäßig unklare Stellung des Kanzleramts-Präsidenten getadelt hatte.37 Im weiteren Verlauf dieses Jahres häuften sich kritische Äußerungen Bismarcks über die „passive Haltung“ Delbrücks und des Reichskanzleramts. So hieß es am 21. April 1873, in kleinem Kreis: Jeden Dienstag stelle er die Kabinettsfrage, sonst bringe er weder Delbrück noch den Bundesrat zum Arbeiten.38 Ähnlich einige Wochen später, wiederum zu Robert Lucius Frhr. von Ballhausen: Delbrück „erledige ja die Sachen, aber ob immer richtig, sei doch zweifelhaft“.39 Im Spätherbst monierte er das Verfahren des Reichskanzleramts, das Reich als eine „Art von Zusatz zu dem preußischen Staatsorganismus“ anzusehen und deswegen Preußen Vorrechte einzuräumen.40 Während sich der Kanzler als sichtbarer Träger aktiver Reichspolitik verstand, trat Delbrück weiterhin eher als preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat in Erscheinung. Auch wenn Bismarck inzwischen mit seinem Reichseisenbahn-Projekt gescheitert war, hatte er die Errichtung eines Reichseisenbahnamts als neuer Aufsichtsbehörde erreicht. Damit war zum ersten Mal eine (Fach-)Abteilung des Reichskanzleramts zu einem eigenen Reichsamt verselbständigt worden und absehbar, dass der Kanzler diesen Weg fortsetzen würde – gegen Delbrücks Intentionen. Zudem verschärfte er seine Kritik an dessen zu wenig (reichs-)‚dynamischem‘ Verhalten, dessen einzelne Stufen hier nicht näher aufgezeigt zu werden brauchen.41 Als Bismarck weitere Möglichkeiten zu einer Stärkung der Reichsexekutive nicht genutzt sah, wurde er deutlicher. Am 1. Dezember 1874 bezeichnete er im Reichstag den „heutigen Geschäftsumfang“ des Reichskanzleramts als auf die Dauer zu groß für eine einzelne Persönlichkeit und plädierte für die Verselbständigung weiterer Ressorts.42 Seitdem häuften sich seine Beschwerden. Im Frühjahr 1875 kritisierte Bismarck gegenüber dem sächsischen Staatsminister von Friesen, dass Delbrück, dessen „umfassende Kenntnisse und unermüdliche Arbeitskraft“ sowie seine „großen Verdienste“ er „unbedingt“ anerkannte, seine Stellung „ganz falsch“ auffasse; er habe, als sein Untergebener, „nur seine Anordnungen und Ideen, nicht aber seine eigenen Ideen und Entschließungen“ aus37
GW, Bd. 11, S. 287. GW, Bd. 8, S. 79. 39 Ebd., S. 84. 40 Morsey, Oberste Reichsverwaltung (Anm. 2), S. 73. 41 Eine Reihe weiterer kritischer Äußerungen ebd., S. 74 Anm. 7. Ungewöhnlich war Bismarcks Kritik vom 27.3.1874 gegenüber Lucius, dass Delbrück „ewig mit Juden konferiere“. GW, Bd. 8, S. 111. 42 GW, Bd. 11, S. 372 f. 38
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zuführen. Dies verkenne Delbrück „aber gänzlich“, träte selbst nach außen als „eine maßgebende und entscheidende Persönlichkeit“ auf und habe es erreicht, auch als solche angesehen zu werden. Das aber könne er sich nicht gefallen lassen; denn es schade seinem, Bismarcks, Ansehen und erschwere ihm seine Stellung: „Er hätte daher längst schon gern mit ihm gebrochen, aber er könne dies noch nicht, denn Delbrück sei ihm zurzeit noch unentbehrlich, er habe jetzt niemand, den er an dessen Stelle setzen könne.“43 Im Juli 1875 – nach einer gegen Bismarcks wirtschaftliche Interessenbindungen gerichteten Artikelserie der konservativen „Kreuzzeitung“ über „Die Ära Bleichröder – Delbrück – Camphausen“, die Aufsehen erregt hatte – äußerte der Kanzler erste Zweifel auch an der von Camphausen und Delbrück gestalteten Wirtschaftspolitik. Er kritisierte, dass Delbrück ihn nicht genügend unterstütze und in seiner „lakonischen Art“ ihm, dem „kranken Mann“, zu viele Entscheidungen überlasse; im Übrigen hielt er nicht jede von Delbrück und Camphausen „getroffene Maßregel für richtig“.44 V. Zunehmende Kritik Bismarcks Bismarcks Kritik an seiner Amtsführung hat Delbrück sehr wohl wahrgenommen. Im Juni 1875 scheint er seinen Rücktritt ins Auge gefasst zu haben45, vielleicht aus Gesundheitsrücksichten. Jedenfalls erfuhr der württembergische Staatsminister von Mittnacht am 21. August 1875 von Bismarck, dass Delbrück besorgt sei, andernfalls „von einem Gehirnleiden befallen zu werden“. Auf den Einwand Mittnachts, dass dessen Ausscheiden für die Geschäfte des Bundesrats wie für die preußischen Belange „ein großer Verlust“ sein würde, wurde Bismarck deutlicher: Im Reichskanzleramt sei „zu viel vereinigt, die Maschine sei ihm zu mächtig“ geworden, Delbrücks Persönlichkeit präge sich im „ganzen Geschäftsgang zu sehr aus“. Notwendig sei die Verselbständigung weiterer Abteilungen des Reichskanzleramts zu selbständigen Reichsämtern (unter Kontrolle des Kanzlers), damit die die von den Liberalen seit Jahren geforderten Reichsministerien verhindert würden.46 Ähnlich argumentierte Bismarck Ende Oktober 1875 gegenüber Lucius, ging aber dabei noch einen Schritt weiter: Delbrück setze ihm wegen einer Minderung seiner Kompetenzen „bei den meisten Gelegenheiten passiven 43
GW, Bd. 8, S. 145 f. 18.7.1875 gegenüber dem Staatssekretär des Reichsjustizamts, Heinrich von Friedberg. GW, Bd. 6c, S. 62. 45 Nach einer Tagebucheintragung des Kronprinzen. Vietsch, Bedeutung (Anm. 10), 67. 46 GW, Bd. 8, S. 149. 44
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Widerstand“ entgegen und sei zudem „nicht mehr gesund und stark genug“, um sich bei seinen Beamten „durchzusetzen“. Schließlich wolle er alles allein in der Hand behalten und missbrauche gelegentlich sogar seinen Einfluss gegen ihn.47 Von nun an verschärfte Bismarck seine Kritik, auch durch lancierte Presseartikel, und sprach im November, gegenüber Rudolf von Bennigsen, gar von der „Herrschsucht“ Delbrücks, der es nicht zulasse, das Reich mit selbständigen Ämtern zu organisieren.48 In diesen Tagen verzeichnete der Reichskanzler sogar mehrfach „tadelnde Kritik“ Bleichröders an Maßnahmen Delbrücks.49 In der „Deutschen Rundschau“ vom 15. November 1875 war von dessen erschütterter Stellung die Rede.50 Ab Januar 1877 schied eine weitere (Fach-)Abteilung, das Reichspostamt, aus dem Verbund des Reichskanzleramts aus. Nach wie vor scheute Bismarck jedoch davor zurück, den ihm unbequem gewordenen Mitarbeiter seinerseits abberufen zu lassen. Stattdessen lancierte er am 11. Dezember 1875 in einer parlamentarischen Abend-Soiree den Gedanken, sämtliche deutschen Eisenbahnen durch das Reich zu erwerben – eine politische Sensation. Nicht minder brisant war sein nachgeschobener Hinweis auf die Notwendigkeit neuer „Reichsministerien“: „Das alles werde natürlich nicht abgehen ohne eine Verkleinerung Delbrücks.“ Nur einen Tag später empfahl Bismarck dem konservativen Abgeordneten Karl Frhr. von Stumm-Halberg, die Regierung wegen ihrer Zollpolitik nur „kräftig“ anzugreifen, Delbrück wolle er ihnen „preisgeben“. Den eigentlichen Grund dafür erfuhr der freikonservative Abgeordnete Fred Graf Frankenberg: Das Reichskanzleramt glitte ihm aus der Hand, Delbrück wüchse ihm über den Kopf. Die derart verschärfte Demontage seines Mitstreiters hatte tiefere Ursachen. Sie stand in Zusammenhang mit dem inzwischen unter Führung des freikonservativen Abgeordneten Wilhelm von Kardorff begonnenen Kreuzzug für eine Schutzzollpolitik, der in der öffentlichen Meinung und schließlich auch bei Bismarck zu einem „radikalen Wechsel der handelspolitischen Auffassung“ führte.51 Ihn aber wollte Delbrück, als Symbolfigur des freihändlerischen (Beamten-)Liberalismus, nicht mittragen, einem absehbaren Sturz jedoch zuvorkommen. Am 14. April 1876 reichte er Wilhelm I., unter Umgehung des Reichskanzlers, seinen Abschied ein, begründet mit Gesund47
Ebd., S. 156. Überliefert bei E. Feder (Hrsg.), Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers, 1932, S. 314. 49 Am 31.10.1875 gegenüber Lucius. GW, Bd. 8, S. 157 f. 50 Jg. 5, 488; Morsey, Oberste Reichsverwaltung (Anm. 2), S. 78, auch für die folgenden drei Zitate. 51 Helfferich, Delbrück (Anm. 9), S. 387 f. 48
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heitsrücksichten52 – was allgemein bezweifelt wurde. Er nannte ihm aber gleichzeitig auch, was unbekannt blieb, deren Ursache: Die „in ungebrochenem Flusse sich befindende Ausbildung der Reichsinstitutionen“ stelle neue Aufgaben an den Präsidenten des Reichskanzleramts, „deren Lösung eine frische und kräftige Initiative“ erfordere.53 Delbrücks Rücktritt wurde am 24. April 1876 bekannt und erregte – wie Eugen Richter notierte – „ungeheueres Aufsehen“. Zwei Tage später vermutete Richter im Abgeordnetenhaus, dass Delbrück wegen des Reichseisenbahn-Projekts Bismarck „den Rücken gekehrt habe“. Er rühmte die seit Jahrzehnten bekannte „Überzeugungstreue“ und Sachkenntnis des zurückgetretenen Kanzleramts-Präsidenten.54 Daraufhin beeilte sich Bismarck zu versichern, dass zwischen Delbrück und dem Kaiser wie zwischen Delbrück und ihm „auch nicht ein Schatten von einer Meinungsverschiedenheit über irgendeine der schwebenden Fragen“ zutage getreten sei.55 Dabei hatte ihn kein anderer als der Regierungschef politisch aus dem Amt gedrängt56, ein Verfahren des Ministersturzes, das er schließlich „zur Kunstform“ verfeinerte.57 52 Nach Bismarcks Mitteilung gegenüber Lucius am 27.4.1876 hat ihm der Kaiser diesen „Brief“ nicht mitgeteilt („vielleicht stände etwas für ihn [Bismarck] Unangenehmes darin“) und auch nicht seine Antwort. GW, Bd. 8, S. 171. 53 Vietsch, Bedeutung (Anm. 10), S. 69 f. Nach einer Information von Eugen Richter soll die „nächste Umgebung Delbrücks“ von seinem Entlassungsgesuch dadurch Kenntnis erhalten haben, „daß Delbrück seine Gattin kurzer Hand aufforderte, ihn zu begleiten und eine Privatmietwohnung zu besichtigen“. Reichstag (wie Anm. 30), S. 144. 54 Reichstag (Anm. 30), S. 142 f. Im Tagebuch der Baronin Spitzemberg vom 24.4.1876 ist von der „Aufregung“ über Delbrücks Rücktritt die Rede: „Näheres über die Gründe weiß man noch nicht, jedenfalls sind es persönliche Zerwürfnisse mit dem Fürsten, vielleicht mit der Frage der Reichseisenbahnen zusammenhängend.“ Tagebuch (Anm. 36), S. 156. 55 GW, Bd. 11, S. 449. Bei Pflanze heißt es, Bismarck habe seit einem Jahr auf Delbrücks Sturz hingearbeitet, jetzt aber dem Reichstag eine „ergreifende Eloge auf den in Ungnade Gefallenen“ vorgetragen. Reichskanzler (Anm. 6), S. 64. Am 1.4.1877 erklärte Bismarck gegenüber Moritz Busch, dass Camphausen und Delbrück diejenigen Minister gewesen seien, „die ihre Ansichten meinen Plänen nicht anbequemen wollten“. GW, Bd. 8, S. 204. Am 31.3.1878 gab Bismarck gegenüber Wilhelm von Kardorff zu, dass „unsere Handelspolitik der innere Grund“ für die Trennung von Delbrück gewesen sei. Ebd., S. 254. 56 Nach einer Äußerung Bismarcks vom 18.1.1896 gegenüber dem Afrikareisenden Eugen Wolf hat er 1876 „Delbrück und Genossen“ wegen deren „unglückseliger Freihandelstheorie auf den Kopf getreten“. WiA (Anm. 5), S. 232. Vgl. auch L. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, 1980, S. 549, wonach der Reichskanzler alles getan habe, um die Gründe für Delbrücks „Schritt und seinen eigenen Anteil an der ganzen Sache“ zu verwischen. 57 Pflanze, Reichsgründer (Anm. 6), S. 563.
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Der Kaiser zeigte am 23. Mai 1876 „ein wahrhaftes Bedauern“ über die Absicht von Delbrücks „dienstlichem Rücktritt“ – dessen erste Information durch den Reichskanzler ihn bereits „unangenehm berührt“ habe –, lobte Delbrücks „große Gewissenhaftigkeit“ und sprach von einer durch sein Ausscheiden erzeugten „schweren Lücke“ in der Reichsadministration. Er entließ ihn am 29. Mai „schweren Herzens“ zum 1. Juni aus seinen „Ämtern“58 und verlieh Delbrück das Großkreuz des Roten Adlerordens mit Eichenlaub.59 Die Presse würdigte Arbeitsleistung und Verdienste des ausgeschiedenen Spitzenbeamten. VI. Abschied und Ruhestand In der Öffentlichkeit wurde der unerwartete Abgang dieses „Generalstabschef der Freihändler“60 noch kaum als Systemwechsel empfunden, zumal Camphausen als preußischer Finanzminister im Amt blieb. Dennoch war die „Ära Delbrück“ beendet. Die Bismarck nahestehende Presse versuchte, das Entlassungsgesuch, wie Eugen Richter kritisierte, „in unwürdiger Weise ins Komische zu ziehen“. Sie deutete an, dass Delbrück – der erst ein Jahr zuvor, durchaus ‚standesgemäß‘, geheiratet hatte, und zwar Elise von Pommer-Esche, Tochter des verstorbenen preußischen Oberpräsidenten der Rheinprovinz – „auf Verlangen seiner Schwiegermutter die Entlassung eingereicht habe“.61 Besser informiert war Johanna von Bismarck, die bereits am 24. April 1876 Lucius mitgeteilt hatte: Delbrück habe sich „schon längere Zeit kaput gefühlt“ und sich nicht mehr durch eine „neue Reichstagssession gänzlich auspressen lassen“ wollen; „er gehe ab, um sich seiner Gattin noch einige Jahre zu erhalten“.62 In den Memoiren Delbrücks heißt es dazu: „Ich wurde mir bewußt, daß ich ihr [seiner Frau, sie war 23 Jahre jünger als er und Witwe gewesen] nicht das war, was ich sein wollte, und dieses Bewußtsein, wenn es auch durchaus nicht der Grund meines Scheidens aus dem Dienste war, hat mir den ernsten Entschluß erleichtert.“63 Erleichtert war aber auch der Reichskanzler. Gleichwohl warf er ihm Steine nach. Seine Äußerung vom 1. November 1876 „Der deutsche Beamte gehört zuerst dem Ressort, ist das be58 O. Vf., Einige Erinnerungen an den Staatsminister Rudolf von Delbrück, in: Deutsche Rundschau 116, 1903, S. 35–45, hier S. 45 (Abdruck des Schreibens). 59 Morsey, Oberste Reichsverwaltung (Anm. 2), S. 81. 60 H. Ritter von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier. Bd. 2: 1847–1879, 1895, S. 216. 61 Reichstag (Anm. 30), S. 144. 62 Freiherr Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, 1920, S. 87. 63 Lebenserinnerungen (Anm. 10), Bd. 2, S. 408.
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friedigt, dem Stammlande und höchstens des Sonntags dem deutschen Vaterlande“64, dürfte auf Delbrück gezielt gewesen sein. Der inzwischen 59-Jährige war nicht bereit gewesen, seinen „zurückhaltenden Konstitutionalismus“ zugunsten einer dynamischen Reichspolitik aufzugeben.65 Er schwieg jedoch über die Gründe seines Rücktritts, Bismarck nur in der Öffentlichkeit. In internen Äußerungen überwogen kritische Urteile über die von Delbrück („einer mächtigen Persönlichkeit“)66 in seinem Amt konzentrierte „Macht“.67 Nach einem späteren Diktum hat er sich bereits 1875 von dessen „Banden losgelöst“.68 In seinen Memoiren ist vom „Bruch mit Delbrück“ die Rede69 und damit klar, wer diesen Bruch bewirkt hat, an einer anderen Stelle vom „scharfen Widerspruch“ zwischen ihnen, in dessen Folge Delbrück die Konsequenzen gezogen habe.70 Wiederholt erwähnte er als Rücktrittsgrund Delbrücks dessen Befürchtungen vor einem „Schlaganfall“ bzw. einer „Gehirnerweichung“ und legte Wert auf die Feststellung, dass nicht er sich von Delbrück, sondern dieser sich von ihm getrennt habe.71 Dabei hatte der Präsident des Reichskanzleramts sein Rücktrittsgesuch erst eingereicht, nachdem der von ihm ins Auge gefasste Nachfolger, der frühere hessische Staatspräsident und Bevollmächtigte zum Bundesrat, Karl von Hofmann (1827–1910), ihm seine Zusage übermittelt hatte (am 4. April 1876).72 Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt begann für Delbrück ein neuer Lebensabschnitt: „Er war reich an ruhigem Glück, aber arm an erwähnenswerten Begebenheiten.“73 Seine Mitgliedschaft im Reichstag 1878–1881, als fraktionsloser Abgeordneter für Jena, blieb Episode. Ein Angebot Bismarcks vom Februar 1878 zur Übernahme des preußischen Finanzministeriums lehnte Delbrück ebenso ab wie das des Handelsministeriums, unter 64
An Frhr. von Friesen. GW 14,2, S. 879. Vietsch, Bedeutung (Anm. 10), S. 58. 66 Am 17.12.1877 gegenüber Rudolf von Bennigsen. GW, Bd. 14,2, S. 890. 67 Am 21.12.1877 zu Bernhard Ernst von Bülow. GW, Bd. 6c, S. 94. 68 Am 6.5.1889 zu Heinrich Ritter von Poschinger. GW, Bd. 8, S. 658. 69 GW, Bd. 15, S. 379. 70 Ebd., S. 480. 71 Am 27.4.1876 gegenüber Lucius (GW, Bd. 8, S. 171) und später auch gegenüber anderen Gesprächspartnern. Ebd., S. 303, 395, 569. 72 Morsey, Reichsverwaltung, DVBl. 1965 (Anm. 2), S. 260. Vietsch hatte es noch als „sehr zweifelhaft“ bezeichnet, dass Delbrück selbst Hofmann vorgeschlagen habe. Bedeutung (Anm. 10), S. 73. Nach Pflanze hat Bismarck „behauptet“, dass Delbrück seinen Nachfolger vorgeschlagen habe. Reichskanzler (Anm. 6), S. 80. In den meisten Bismarck-Biographien wird auf den Wechsel nicht eingegangen. 73 Lebenserinnerungen (Anm. 8), Bd. 2, S. 408. 65
Rudolph Delbrück – Präsident des Bundes- und Reichskanzleramts 1867–1876
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Verweis auf „unzulängliche Gesundheit“.74 Er behielt noch über Jahre hin den Vorsitz des „Vereins für die Beförderung des Gewerbefleißes“, den er bereits seit 1858 innehatte, und übernahm dazu in den 1890er Jahren den Ehrenvorsitz des damals begründeten „Vereins zum Schutz der Deutschen Goldwährung“.75 Nachdem die Juristenfakultät der Universität Leipzig Delbrück bereits im Mai 1873 die Ehrendoktorwürde verliehen hatte, erfolgte 1896 schließlich – anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Reiches – die längst überfällige Nobilitierung, die Wilhelm II. früher wiederholt abgelehnt hatte.76 In der Gründungs- und Aufbauphase des Norddeutschen Bundes wie des Deutschen Reiches war der Präsident ihrer zentralen Verwaltungsbehörde der „geschätzteste Mitarbeiter“ des Kanzlers77 gewesen, ein „Vize-Bismarck“ oder auch „Quasi-Vizekanzler“. 1876 jedoch hatte er für den Gründungskanzler des nach ihm benannten Reiches seine Schuldigkeit getan. Ein Dank von ihm blieb aus.
74 Das erklärte Bismarck am 23.3.1878 Lucius (GW, Bd. 8, S. 250) und am 11.8.1878 Mittnacht. Ebd., S. 267. 75 Helfferich, Delbrück (Anm. 9), S. 390 f. 76 Erwähnt bei Spitzemberg, Tagebuch (Anm. 36), S. 296. 77 So F. Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, 1978, S. 244.
Frei – sozial – auch sicher? Sicherheit als Rechts- und Verfassungsprinzip im Wandel zur „neuen Staatlichkeit“* Rainer Pitschas I. Entwicklungslinien neuer Muster von Staatlichkeit 1. Der überforderte Risikostaat Als Norbert Blüm, ehemaliger Sozialminister in den Regierungen unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts vollmundig ausrief: „Unsere Renten sind sicher“, antwortete ihm ein vorwitziger Zuhörer aus dem Publikum mit der Frage „und unsere?“1 Beide Protagonisten der Szene wussten offenkundig, warum sie das Vertrauen in die gesetzliche Alterssicherung betonten bzw. in Frage stellten. Denn nichts ist so unbeständig an der sozialen Sicherheit wie die Zusage „sicherer“ Altersversorgung durch die staatliche Rentenversicherung.2 Gleiches gilt heute im Zeitalter der lebensgefährdenden Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Weder innere noch äußere Sicherheit lassen sich staatlicherseits voraussehbar garantieren3. Doch bleibt wie bei der sozialen Sicherung die Frage, ob alle möglichen und zumutbaren Anstrengungen zur Abwehr der Bedrohung tatsächlich unternommen worden sind, um Sicherheit und Wohlfahrt des entwickelten (National-)Staates zu gewährleisten4. In beiden Fällen ist an die Stelle der Gewissheit über die Zukunft die Ungewissheit des Risikostaates und seiner Steuerung getreten. * Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 02.07.2007 in der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg gehalten habe. 1 Handelsblatt v. 24.06.1987. 2 „Bescheidenheit bei Voraussagen über die Zukunft“ fordert deshalb zu recht W. Schmähl, Entwicklungstendenzen der deutschen Alterssicherung im internationalen Vergleich. Jüngere Erfahrungen und Perspektiven für die Zukunft, in: S. Fisch/U. Haerendel (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland, Berlin 2000, S. 351, 367. 3 J. Friedrichs, The European Fight against Terrorism and Drugs: International Police Cooperation, London 2007; W. Schäuble, Der wehrfähige Rechtsstaat, in: R. Pitschas/A. Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für R. Scholz, Berlin 2007, S. 97, 101 f., 106 f.
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Differenzierter noch verhält es sich mit der technischen Sicherheit. Sie bildet nicht nur eine Rahmenbedingung risikobezogenen Staatshandelns, sondern auch einen Qualitätsausweis hoheitlicher Regulierung.5 So sind z. B. für das an den Zielen von § 1 EnWG6 orientierte künftige Regime der Anreizregulierung Qualitätsvorgaben unverzichtbar, um der Gefahr gegenzusteuern, dass unter den Bedingungen wirksamen Wettbewerbs nur unzureichend in die Sicherheit der Netze investiert wird. Manche analysieren die Situation der mangelnden Erwartungsstabilisierung in der Rentenversicherung bzw. der Ungewissheit einer Gefahr für Leib und Leben oder auch der Nichtbeherrschbarkeit „technischer Realisation“ (Forsthoff) als das Ende des Staates. Die Globalisierung des 20./21. Jahrhunderts überwältige den Staat, so heißt es; sie offenbare seine Grenzen und schwäche ihn.7 Andere stellen dagegen der (überzogenen) Untergangsprognose eine Kontinuitätsbehauptung entgegen: Die Globalisierung begleite den Aufstieg des modernen Staates seit dem 15. Jahrhundert; heute werde sie vom Staat mehr als früher kontrolliert, sie stärke diesen deshalb.8 Jedenfalls ist der Veränderungstrend von Staat und Staatlichkeit, letztere als effektive Herrschaftsausübung durch Zuweisung von Entscheidungs- und Organisationskompetenz sowie Letztverantwortung gekennzeichnet,9 unübersehbar. Beide entwickeln sich auseinander – auch um den skizzierten Lebensrisiken entgegenzutreten. „Staat“ und „Staatlichkeit“ als spezifische Funktionsmuster der Herrschaft über andere beginnen sich zu trennen. Der Staat verfügt nicht mehr uneingeschränkt über das, was ihn bisher aus4 Zu dieser Einheit von „Sicherheit“ als integrativer Wertidee siehe nur F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 140 ff., 149; speziell zur Perspektive der inneren Sicherheit vgl. C. Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 151, 156 ff., 173 ff.; R. Pitschas, Polizeirecht im kooperativen Staat. Der Schutz innerer Sicherheit zwischen Gefahrenabwehr und kriminalpräventiver Risikovorsorge, in: Ders. (Hrsg.), Kriminalprävention und „Neues Polizeirecht“. Zum Strukturwandel des Verwaltungsrechts in der Risikogesellschaft, Berlin 2002, S. 241, 262 ff. 5 R. Czada, Legitimation durch Risiko-Gefahrenvorsorge und Katastrophenschutz als Staatsaufgaben, in: G. Simonis/R. Martinsen/T. Saretzki (Hrsg.), Politik und Technik. Analyse zum Verhältnis von technologischem, politischem und staatlichem Wandel am Anfang des 21. Jahrhunderts, Wiesbaden 2001, S. 319, 322 ff. 6 I. d. F. des Zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts v. 07.07.2005 (BGBl. I S. 1970). 7 Vgl. etwa J.-M. Guéhenno, Das Ende der Demokratie, München 1994. 8 Siehe statt anderer: S. Krasner, Sovereignty. Organized Hypocrisy, Princeton 1999. 9 P. Genschel/B. Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Heft 20–21/2007, S. 10 f., 12 f.
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gezeichnet hat, nämlich über die Macht, kollektiv-verbindliche Entscheidungen allein zu treffen, diese nur auf sich gestellt verlässlich umzusetzen und die Versorgung mit Kollektivgütern allein und durchgängig zu verantworten. Stattdessen erleben wir am Beispiel der Internationalisierung und Privatisierung spezifische Transformationen des Staates, die von „neuen Formen des Regierens“ begleitet werden, wie sie die sozialwissenschaftliche Governance-Diskussion beschreibt10 und die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung damit „einzufangen“ sucht.11 2. „Privatisierung“ des Staates Ist daher der Staat aus der Rolle des Leviathan herausgetreten und zum Partner des Bürgers geworden, so gehen begleitend – und durch die je eigene Ordnung der Privatheit sowie durch die Flucht aus dem überforderten Risikostaat mit verursacht – Prozesse der „Zerfaserung“ von Staatlichkeit einher. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass – zumeist im Zuge der bereits erwähnten Europäisierung und Internationalisierung staatlicher Kompetenzen sowie durch die anhaltende Privatisierung hoheitlicher Aufgaben12 – handlungsmächtige weitere und nicht-staatliche Verantwortungsträger Einzelkompetenzen und Aufgabenkomplexe nach Maßgabe ihrer Werteorientierung an einer „Kultur der Privatheit“ (Hassemer) und im Wege einer sog. „Verantwortungsteilung“ zwischen Staat und Gesellschaft übernehmen. Es entstehen gleichsam private Träger von Staatlichkeit.13 Wir können insofern von einer Privatisierung des Staates sprechen. Interessanterweise soll allerdings nach Auffassung weiter Kreise der Staatsrechtslehre die Letztverantwortung für freiheitsbeeinträchtigendes Handeln und Entscheiden nicht ebenso privatisiert oder internationalisiert werden, sondern ungeteilt beim Staat verbleiben. Abgesehen von dem Widerspruch, in den dieses Postulat mit dem Theorem der „Verantwortungsteilung“ gerät,14 10 Vgl. S. Leibfried/M. Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates, Frankfurt a. M. 2006. 11 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts. Band I, München 2006, § 1 Rn. 68 f.; vgl. im Kontext von „Global Governance“ auch R. Pitschas, Dezentralisierung und Good Governance – Zivilgesellschaftliche Entwicklung im Konflikt mit dem effizienten Staat, in: W. Thomi/M. Steinich/W. Polte (Hrsg.), Dezentralisierung in Entwicklungsländern, Baden-Baden 2001, S. 125 ff. 12 Dazu umfassend W. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, Tübingen 2002. 13 Näher noch und mit Einzelnachweisen Genschel/Zangl, Zerfaserung von Staatlichkeit (Anm. 9), S. 12 f.; s. ferner W. Leisner, „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts. Von der „Hoheitsgewalt“ zum gleichordnenden Privatrecht, Berlin 2007. 14 Zum Konzept der „Verantwortungsteilung“ siehe nur H.-H. Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffent-
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ist das Ergebnis solcher gegenläufigen Bewegungen eben die „Zerfaserung“ von Staatlichkeit. Ihr allerdings soll die ebenso postulierte „Gewährleistungsverantwortung“ des Staates für die Versorgung mit Kollektivgütern wie z. B. Sicherheit und Wohlfahrt bei gleichzeitiger Suche nach adäquaten Formen des Regierens im sog. Gewährleistungsstaat Einhalt gebieten.15 Denn es gälte, wie argumentiert wird, die disparaten, sektoral und funktional beschränkten Entscheidungs- und Organisationsakte internationaler bzw. privater Institutionen oder Akteure zu integrieren, zu koordinieren und in ebenso gemeinwohlverpflichtete wie effektive und effiziente Wirkung zu setzen. 3. Öffentliches Verantwortungsmanagement als „riskante“ Privatisierungsfolge Das dadurch dem Staat zugewiesene Verantwortungsmanagement16 mag diesen, wie z. B. die Ergebnisse der bisherigen Verwaltungsmodernisierung ansatzweise belegen, durchaus stärken. Doch wird er zugleich dem Risiko des Verlustes staatlicher Steuerungskapazität durch „externalisierende“ Aufgabenprivatisierung einschließlich damit einhergehender Kompetenzdezentralisierung ausgesetzt. Nicht von ungefähr sieht sich denn auch die ehedem vorherrschende, aber schwindende Funktion des Staates als Ordnungsgarant kritisiert. Über weite Strecken habe der Staat den Schutz der Ordnung als Kriterium seines Handelns aufgegeben, die Verteilungspolitik beherrsche stattdessen die politische Agenda. Ordnungspolitik sei allenfalls noch ein Thema unverbindlicher Polit-Rhetorik.17 Freilich muss die Kritik noch tiefer ansetzen. Der Wandel der Staatlichkeit birgt latente gemeinschafts- und verfassungsrechtliche Probleme. Wenn etwa lichem und privatem Sektor; in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, Baden-Baden 1999, S. 13, 20 ff. 15 Vgl. insoweit für die innere Sicherheit BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07, Urteilsumdruck Rn. 201 ff., 277 ff. und die Diskussion bei G. F. Schuppert, Der Gewährleistungsstaat – modisches Label oder Leitbild sich wandelnder Staatlichkeit?, in: ders. (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, Baden-Baden 2005, S. 11 ff.; zur Kritik siehe nur R. Pitschas, Neues Verwaltungsrecht im partnerschaftlichen Rechtsstaat?, in: DÖV 2004, S. 231, 232; ders., Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts (Anm. 11), Band II, München 2008, § 42 Rn. 11 ff., 13, 16. 16 Dazu näher R. Pitschas, Verantwortungskooperation zwischen Staat und Bürgergesellschaft. Vom hierarchischem zum partnerschaftlichen Rechtsstaat am Beispiel des Risikoverwaltungsrechts, in: K.-P. Sommermann/J. Ziekow (Hrsg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, Berlin 2002, S. 223, 256, 261, 265. 17 G. Kirsch/G. Lohmann, Ordnung ist die ganze Zukunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 06.09.1997, S. 15.
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die Versorgung mit Gas, Wasser, Elektrizität, die Vorhaltung von Bahnverbindungen, Krankenhäusern und Telefonnetzen oder auch das Angebot von Bildung, Autobahnen und Personennahverkehr (Daseinsvorsorge) zunehmend an private Leistungsanbieter delegiert wird, entschwinden die Bindungskräfte grundgesetzlich garantierter Sozialstaatlichkeit i. S. einer sozialen Infrastruktur.18 Ähnliche Probleme stellen sich, wenn private Sicherheitsdienste für öffentliche Sicherheit in Kaufhäusern, Zügen, Großgaststätten und Einkaufspassagen sorgen und Datenverarbeitung in private Hand gerät19 oder auch private Versicherungsunternehmen zur staatlichen Alterssicherung ergänzende Altersversorgung anbieten („Riester“- und „Rürup-Rente“)20 – und was der Beispiele noch sind. Bei alledem ist schließlich die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob nicht beispielsweise der Rückgang der hohen Polizeidichte und hoheitlichen Sicherheitsleistung mit der Folge einer Privatisierung des staatlichen Sicherheitsangebots die Kernaufgabe der Gewährleistung innerer Sicherheit für alle Bürger bedroht, weil im Verlauf dieser Prozesse statt des Staates die Kaufkraft bzw. der Markt über den Fortbestand der physischen Existenz und Unversehrtheit der Bürger entscheiden (Stichworte: „gated communities“, privatisierte Strafanstalten, „no-go-areas“).21 Nicht von ungefähr unterliegt dieser Wandel zur „neuen Staatlichkeit“ kritischen Anfragen. Denn die Struktur bestehender ökonomischer Ungleichheit in der Gesellschaft wird in eine soziale Ungleichheit der Nutzer von Sicherheit, Mobilität u. a. m. überführt. Andere Kritiker wiederum sehen die Funktionsfähigkeit des Staates durch sich ausbreitende Korruption und mafiöse Strukturen der privat-öffentlichen Vernetzung unterminiert.22 Sich selbst überlassene Elendsviertel und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in den Städten legen zudem die Ankunft der „Dritten“ in der „Ersten Welt“ (die „Versüdlichung des Nordens“) nahe.23 Die Grenzräume des Übergangs 18 R. Pitschas, Kommunale Daseinsvorsorge im europäischen Binnenmarkt – Grenzen der Liberalisierung kommunaler Dienstleistungen in der europäischen Wettbewerbsgesellschaft, in: ders./J. Ziekow (Hrsg.), Kommunalwirtschaft in Europa der Regionen, Berlin 2004, S. 33, 44 ff.; ferner G. Kirchhof, Rechtsfolgen der Privatisierung. Jede Privatisierung lockert, löst öffentlich-rechtliche Bindungen, in: AöR 132 (2007), S. 215 ff. 19 M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Tübingen 2002, S. 290 ff., 298 ff.; W. Hassemer, Partner Staat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 05.07.2007, S. 6. 20 Vgl. B. Jährling-Rahnefeld, Verfassungsmäßigkeit der Grundrente, Frankfurt a. M. 2002, S. 170 ff., 178 ff. 21 P. Hanser/T. v. Trohta, Ordnungsformen der Gewalt, Köln 2002, S. 340, 353. 22 Zu dieser Netzwerkkorruption siehe nur H. H. v. Arnim/R. Heiny/S. Ittner, Korruption. Begriff, Bekämpfungs- und Forschungslücken, FÖV Discussion Papers No. 33, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, 2006, S. 29. 23 U. Menzel, Die neue Politisierung der Entwicklungspolitik, in: Entwicklungspolitik, Nr. 14/15, 2004, S. 20, 23.
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vom Wohlstand zur Armut, von Sicherheit zu Unsicherheit verwischen sich, wozu der Übergang zur privaten Alterssicherung à la longue seinen Teil beitragen dürfte. 4. Verfassungsprobleme der Zuordnung von Freiheit und Sicherheit als Konsequenz „neuer Staatlichkeit“ Insgesamt rücken die Realphänomene der Unsicherheit die Erfüllung jener verfassungsrechtlich geprägten Aussage in weite Ferne, wonach „umfassende soziale Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum, Steigerung des Lebensstandards nicht nur staatlich freigesetzte und ermöglichte, sondern vom Staat unmittelbar zu verwirklichende und gewährleistende Ziele“ (Böckenförde) darstellen.24 Statt dessen prägt heute die skizzierte „Zerfaserung des Staates“ ein allmählich heraufziehendes Verfassungsproblem der Entwicklung begrenzter Staatlichkeit aus, weil dem „Kernstaat“ die soeben beschriebene Zielverwirklichung zu misslingen scheint und die ihm in „Public Private Partnership“ verbundenen Akteure der Zivilgesellschaft andere Ziele verfolgen. Daraus formiert sich zunächst und einerseits eine tiefreichende und breite Problemschicht der Verfassungsunverträglichkeit neuer Muster von Staatlichkeit, die teilweise, was die Bewältigung von Lebensrisiken anbelangt, schon dem Staat in seiner „klassischen“ Form vertraut war, nämlich als Frage nach der Verbindung von Freiheit und Sozialität durch das Verfassungsrecht.25 Allerdings schien in der Verfassungsformel des „sozialen Rechtsstaates“ trotz aller Widerstände bis in die Gegenwart die Konkurrenz von „frei“ und „sozial“ als zwei grundlegenden normativen Konzepten der gerechten Gestaltung von Politik, Recht und Staat durch Verfassunggebung aufgelöst. Doch der Schein trügt. Stattdessen offenbart sich in der sozialen Wirklichkeit ein wachsendes Unbehagen an dem gegenwärtigen und politikleitenden Freiheitsverständnis, das von einem ungestillten Bedürfnis nach sozialer Sicherheit i. S. von bestandsfestem Sozialschutz für jedermann und nach innerer Sicherheit, verstanden als Schutz vor krimineller Bedrohung begleitet wird. Darin spiegelt sich zugleich und andererseits als weitere Problemschicht im Zuge der Privatisierung von Staatlichkeit das dem modernen Staat immanente Spannungsverhältnis von gleicher Freiheit und Sicherheit wider, wie am Beispiel der Einbeziehung privater Krankenversicherungen in den Pflichtversiche24
E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 211. 25 Dazu grundlegend aus historischer Perspektive J. Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006; zur verfassungsrechtlichen Fragestellung siehe statt anderer C. Enders und E. Wiederin, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, in: VVDStRL 64 (2005), S. 7 ff., 53 ff.
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rungsschutz, aber auch im Feld der inneren Sicherheit deutlich wird. Wachsende Herausforderungen an ihre Gewährleistung durch den internationalen Terrorismus26 verdichten das Verlangen nach mehr Sicherheit. Überdies stellt sich die Frage nach der im Verhältnis zur Freiheit künftig noch verfassungsrechtlich zulässigen Reichweite staatlicher Sicherheitsvorsorge einschließlich der Anstrengungen um Prävention immer drängender.27 Den Kern dieser Debatten bildet gegenwärtig zwar die Frage nach der Abwehrfunktion der Grundrechte gegen ein Übermaß staatlicher Freiheitsgefährdung durch Sicherheitsvorsorge. Die Diskussion hierzu bleibt indes verkürzt, wenn nicht auch und zugleich das gegebene Untermaß in der sozialen Sicherung, in der Bekämpfung des Verbrechens oder auch in der Bewahrung technischer Sicherheit in den Blick genommen wird. Die Komplexität des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit lässt sich weder auf die Formel „Sicherheit durch Freiheit“ reduzieren28 noch ist staatliches Eintreten für „positive Freiheit“ durch Förderung substantieller Ansprüche unproblematisch. Der Vorrang des freiheitlichen Sozialstaates bleibt zu beachten.29 Wir begegnen deshalb einem doppelten Verfassungsproblem staatlich beschützter individueller Freiheit, die ihrerseits Grund und Grenze der Gewährleistung sozialer, innerer und technischer Sicherheit durch den Staat bildet. Im hiesigen Zusammenhang des Wandels der Staatlichkeit interessiert vor allem das durch die Privatisierung des Staates herbeigeführte (partielle) Untermaß des Schutzes individueller Sicherheit. Denn das Maß der jeweiligen Sicherheitsgewähr steht im „begrenzten“ Staat seinerseits in einem inneren Zusammenhang mit der bereits aufgeworfenen Frage nach der sozialen Gleichheit staatlich und/oder privat dargebotenen Schutzes. Wie die voraufgehend skizzierten Problemlagen zeigen, kommt es unter den Bedingungen neuer Muster von Staatlichkeit zur strukturellen Verknüpfung bzw. Infragestellung von gleicher Freiheit, gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Sozialschutz und persönlicher Sicherheit. Oder anders formuliert: Die Frage ist, ob Schutz vor Kriminalität, Schutz vor den Fährnissen der Globalisie26 H. Münkler, Die neuen Kriege, 6. Aufl., Reinbek 2003; W. Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt a. M. 2005, S. 114 ff. 27 BVerfG (Fn. 15), Rn. 251; E. Denninger, Polizeiaufgaben, in: H. Lisken/E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., München 2007, Rn. 1 ff., 10; W. Hetzer, Verschleppung und Folter: Staatsraison oder Regierungskriminalität?, Trier 2006, S. 21 ff. 28 Deshalb ist in der Tat „Freiheit . . . mehr und anderes als eine Folge von Sicherheit“, so zutreffend Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 4), S. 165. 29 R. Scholz, Sozialstaat und Globalisierung, in: Festschrift für H. Steinberger, Heidelberg 2002, S. 611, 621, 623 ff.; A. Wimmel, Sind sozialpolitische Interventionen aus liberaler Perspektive wertvoll?, in: ZfPol 50 (2003), S. 53 ff.
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rung und Schutz vor sozialer Deklassierung im „privatisierten“ Staat noch immer demselben Grundstock erfließen, nämlich der in der Verfassung objektiv-rechtlich geborgenen Zuordnung von „Freiheit“ und „Sicherheit“, die den rechtsstaatlichen Zusammenhang von „frei“ und „sozial“ ergänzt.30 Doch auch im Wandel der Staatlichkeit will das Grundgesetz individuelle Sicherheit als verfassungsprinzipiell geschuldet und mit dem unverzichtbaren Maß an gleicher Freiheit abgewogen, d. h. gleiche Freiheit in Sicherheit mit dem bestandskräftigen Schutz der sozialen Ansprüche aller Bürger und derer auf technische Sicherheit verbunden wissen.31 Diese These gilt es im Folgenden zu entfalten. II. Der „begrenzte“ Sozialstaat 1. Gleiche Freiheit als Sozialform Im „klassischen“ sozialen Rechtsstaat stellt sich die aufgeworfene Problematik nicht. Die staatliche Ordnung sieht sich als allseits verbindliche Freiheitsordnung begründet.32 Das in dieser von Verfassungs wegen enthaltene „Freiheitsprogramm“ gilt für alle Menschen gemeinsam und zusammen, also als gleiche Freiheit. Freie Entfaltung gestattet daher weder die Existenz eines grenzenlos Starken, den Verweis unter das Existenzminimum noch die Tyrannei der (demokratischen) Mehrheit. Stets ist die möglichst gleiche Freiheit als „allgemeines Prinzip des Rechts“ (Kant) zu achten. In dieser Geltung enthält zwar das Freiheitsprinzip auch ein Grundmaß an individueller Eigenverantwortung für die freie Entfaltung der Persönlichkeit.33 Wird aber auf die zuvor skizzierte Weise die Freiheit der Person von der Verfassung als statusprägende Sozialform konstituiert, so umfasst sie für den einzelnen auch die Pflicht und Befugnis, selbst und eigenständig für sozialen Risikoschutz zu sorgen. In diesem auf die Lebensrisiken bezogenen „Primat der Selbstverantwortung“ (Zacher) schwingt allerdings und nicht 30 In diese Richtung auch Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 4), S. 161, 180 f. 31 Ähnlich im Ausgangspunkt W. Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 101, 129 ff. m. Anm. 170. 32 Vgl. R. Gröschner, Die Republik, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band II: Verfassungsstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 23 Rn. 50 ff. 33 Näher dazu mit Nachw. aus der Rspr. des BVerfG R. Pitschas, Soziale Sicherungssysteme im „europäisierten“ Sozialstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band II, Tübingen 2001, S. 827, 828 f., 835 f.
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zuletzt die Anfrage mit, wie viel Freiheit man braucht, um wirklich frei zu sein. Die Antwort hierauf verweist auf das Problem der sozialen Freiheit. Wo der Verfassungsstaat durch ihn gewährleistete Freiheit als Sozialform konstituiert, lässt sich diese m. a. W. nicht mehr nur als Quelle negatorischer Abwehr fassen, sondern sie muss die soziale Dimension und deren prozesshaften sowie zielgerechten Schutz in ihre grundrechtliche Garantiegesamtheit einbeziehen.34 2. Freiheitlichkeit als Grund und Grenze des klassischen Sozialstaats Damit tritt die freiheitliche und egalitäre Sozialstaatlichkeit in den Blick. Das Freiheitsprinzip legt selbst den Grund für deren Existenz, indem es die Architektur der Gesellschaft an den Auftrag des Staates zur Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit in Wohlstand (und Sicherheit) unter Abwehr jeglicher Not bindet. Dementsprechend gewährleistet das Grundgesetz den sozialen Rechtsstaat. Das in diesem geborgene soziale Staatsziel begreift das Bundesverfassungsgericht als verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive an alle Staatsfunktionen, Kraft demografischer und rechtsstaatlicher Verantwortung im Bundesstaat die „schädliche(n) Auswirkungen schrankenloser Freiheit zu verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftiger Weise zu fordernden Maß zu verwirklichen“.35 Vor allem dem parlamentarischen Gesetzgeber fällt dabei, wie das Gericht wiederholt betont hat, die Aufgabe zu, diesen Gestaltungsauftrag zu konkretisieren, um der „unaufhebbaren und grundsätzlichen Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des Einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung“ gerecht zu werden.36 Daraus ist unter der Geltung des Grundgesetzes zweierlei zu folgern: Einerseits hat der „freiheitliche“ Sozialstaat für die soziale Realisation des Freiheitsversprechens einzutreten, d. h. individuell fehlende Freiheitschancen tatsächlich zu schaffen. Denn Freiheit zu behaupten, setzt individuelle Vorsorgefähigkeit und strukturell die Möglichkeit zur eigenständigen Absicherung von sozialen Risiken, z. B. durch berufliche Erwerbstätigkeit, voraus. In dieser Perspektive begründet Freiheit staatliche Sozialverantwortung mit der Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und auf soziale Gleichheit. Andererseits bleibt der „freiheitliche“ Sozialstaat subsidiär. Gegenüber der 34 Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 31), S. 131; H. M. Heinig, Paternalismus im Sozialstaat, in: M. Anderheide/P. Bürkli u. a. (Hrsg.), Paternalismus und Recht, Tübingen 2006, S. 157 (179 ff.). 35 BVerfGE 5, 85 (206). 36 BVerfGE 10, 354 (371); 52, 264 (274) und öfter.
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freiheitsrechtlich zugewiesenen individuellen Sozialverantwortung tritt der staatliche Sozialschutz zurück.37 Schon frühzeitig hat das Bundesverfassungsgericht deshalb darauf hingewiesen, dass es nicht Sache des Sozialstaats sei, „den Staatsbürger fürsorglich zu zwingen, zur Vermeidung von Enttäuschungen die Wahrnehmung von Chancen zu unterlassen, so lange das damit verbundene Risiko nicht zu einer schwerwiegenden Selbstgefährdung führt oder zu Lasten anderer oder der Allgemeinheit geht“.38 M. a. W. fordert der auf Freiheit bezogene Sozialstaat, dass Bürger und Gesellschaft durch eigene Maßnahmen selbst risikoschützende Eigenvorsorge wahrnehmen können und sollen. Die (Mit-)Verantwortung des Staates für soziale Vorsorge bleibt gleichwohl bestehen. Das Verfassungsprogramm „frei“ und „sozial“ setzt in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) der Verwirklichung von Sozialstaatlichkeit erst oberhalb eines relativen Sicherungsniveaus eigenständig Grenzen.39 3. Sozialstaatlichkeit und „Kultur der Privatheit“ Wirkt das Freiheitsprinzip nach alledem und in differenzierter Weise als Grund und Grenze des Sozialstaats, so knüpfen daran zentrale Fragen nach der künftigen Gestaltung einer staatlichen Ausgleichsordnung unter den Bedingungen neuer Muster von Staatlichkeit und angesichts neuer Formen des Regierens an. Verständlich ist zunächst, dass in einer „Kultur der Privatheit“ die individuelle Eigenverantwortung für soziale Sicherheit unter Wachstum der Subsidiarität staatlicher Hilfe zunimmt. Sozialstaatliche Angebote – mittelbar oder unmittelbar, durch „Agenturen“ des Staates oder auch (nur) durch „Anreize“ ausgeübt („fördern und fordern“) – bedürfen keiner erheblichen Rechtfertigung mehr. Die Ausgestaltung der sozialstaatlichen Förderungs- und Forderungsarrangements muss jedoch immer eine „Hilfe zur Freiheit“ zum Gegenstand haben, die sich an den effektivitätsund effizienzorientierten Forderungen privater Vorsorgeverantwortung ausrichtet. Sie zieht deshalb stets Fragen nach dem noch gebotenen oder doch schon verbotenen Maß des staatlich organisierten Ausgleichs nach sich. Antworten hierauf wie auf dadurch bewirkte gesellschaftliche Ungleichheiten sind Elemente der Fortschreibung gegenwärtiger Sozialstaatsinterpre37 Dazu näher R. Pitschas, Der „neue“ soziale Rechtsstaat. Vom Wandel der Arbeits- und Sozialverfassung des Grundgesetzes, in: F. Ruland/B. Baron v. Maydell/ H.-J. Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für H. F. Zacher, Heidelberg 1998, S. 755, 763 ff. 38 BVerfGE 18, 257 (267); 59, 172 (213). 39 H. M. Heinig, Menschenwürde und Sozialstaat, in: P. Bahr/H. M. Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, Tübingen 2006, S. 251, 268 ff., 287 ff.
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tation zu einer freiheitlichen Verfassungstheorie des subsidiären Sozialstaats.40 Dies gilt etwa für den Streit um den „Service Public“ ob seiner Verankerung in der Daseinsvorsorge und angesichts deren Ablösung,41 aber auch für die Folgen „neuer“ Governance-Modi: Inwieweit, so lautet die Frage, dürfen private Akteure Governance-Leistungen einschränken bzw. bereitstellen, ohne dass im Hintergrund der Staat dafür sorgen muss, dass die bereitgestellten Güter in gesicherter Qualität auch allen Bürgerinnen und Bürgern zugute kommen?42 Sind deshalb die Regelungen zur Berücksichtigung vergabefremder Kriterien im deutschen und europäischen Vergaberecht nicht zuletzt ein prinzipieller Ausdruck des europäischen Diskriminierungsverbots?43 Die praktische Bedeutung der Fragestellung zeigt sich überdies am Beispiel der Modernisierung von Städten durch „Business Improvement Districts (BID’s)“ als Problem einer sozialverträglichen Stadtentwicklungsplanung.44 Schließlich bedürfte die durch öffentlich-rechtliche Kooperationspartnerschaften („Sicherheitspartnerschaften“) unter Heranziehung privater Sicherheitsfirmen hergestellte öffentliche Sicherheit staatlicher „Umhegung“ der Art, dass soziale Ungleichheit der Sicherheit vermieden wird.45 Dem „klassischen“ Verfassungskonzept des demokratischen und sozialen Rechtsstaats sind hierzu keine wirklich gültigen Aussagen zu entnehmen. Nicht zuletzt deshalb gerät demokratische Legitimation im Zuge der Entwicklung begrenzter Staatlichkeit in gefährliche Untiefen; auch die Privatisierung des sozialen bzw. des persönlichen Schutzes führt zu neuen Span40 Vgl. auch P. Derleder, Rechtsstaat – Sozialstaat – Kulturstaat, in: KJ 2007, S. 110, 118 f., 122; Heinig, Paternalismus (Anm. 34), S. 175, 181; Scholz, Sozialstaat und Globalisierung (Anm. 29), S. 618 ff.; dazu zählt selbstverständlich auch die „Europäisierung“ der Sozialstaatlichkeit, vgl. W. Kahl, Freiheitsprinzip und Sozialprinzip in der Europäischen Union, in: H. Bauer/D. Czybulka u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für R. Schmidt, München 2006, S. 75 ff. 41 J.-C. Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, Tübingen 2001, S. 111 ff., 353 ff., 395 ff. 42 Ebenso T. Risse/U. Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Neue Formen der Staatlichkeit (Anm. 9), S. 3, 8; Heinig, Menschenwürde und Sozialstaat (Anm. 39), S. 290 ff. 43 Bejahend u. a. M. Meißner, Der wettbewerbliche Dialog, in: R. Pitschas/J. Ziekow (Hrsg.), Vergaberecht im Wandel, Berlin 2006, S. 83, 92 f. 44 M. Huber, Business Improvement Districts – Neue Instrumente auf der Schnittstelle zwischen Städtebau und Wirtschaftsförderung, in: DVBl. 2007, S. 466, 474; R. Pitschas, BiD – Ein Beitrag zu modernen Stadtentwicklung, in: C. Graf/M. Paschke/R. Stober (Hrsg.), Rechtsrahmen der Business Improvement Districts, Hamburg 2007, S. 77, 84 ff. 45 H. Lisken/E. Denninger, Die Polizei im Verfassungsgefüge, in: dies. (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, Abschnitt C, 4. Aufl., München 2007, Rn. 175 ff.
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nungen im Verfassungsprogramm einer gleichen und sozialen Freiheit. Es scheint so, als ob das Modernisierungsparadigma einer „neuen Staatlichkeit“ zunehmend Dysfunktionalitäten sozialstaatlicher Freiheitsbestimmung hervorruft, die rechtsprinzipieller Abwehr bedürfen. III. Die Verbürgung der Freiheit im Wandel der Staatlichkeit Bedarf schon insofern und aus gesellschaftsstrukturellen Gründen der soziale Rechtsstaat erneuerter theoretischer Durchdringung, so weist darüber hinaus die Entwicklung der sozialen Wirklichkeit noch in eine andere Richtung. Die Idee der Freiheit hat angesichts wachsender sozialer Disparitäten und Sicherheitsrisiken im Inneren und Äußeren, innerhalb der Gesellschaft wie im Realhandeln des Staates, an Tragfähigkeit verloren.46 1. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit Verwiesen wird zum Beleg dessen auf die Erkenntnisse der Demoskopie. Meinungsforscher vermitteln ein klares Stimmungsbild in der deutschen Bevölkerung davon, wonach diese sucht. Vor die Wahl gestellt, würden knapp 60 % der Deutschen es bevorzugen, in einer Gesellschaft zu leben, in der die sozialen Unterschiede weitaus geringer als derzeit seien. Nur ein Drittel der Befragten würde um möglichst großer Entfaltung ihrer Freiheit willen auch ein größeres Maß an Ungleichheit hinnehmen wollen.47 Darin spiegelt sich ein erhebliches und verbreitetes Unbehagen an der in der Bundesrepublik Deutschland gewährleisteten realen Freiheit wider. Diese wird von vielen Bürgern in ihren tagtäglichen Auswirkungen als mitleidlos kalt oder, mehr noch, als eigentliche Bedrohung des persönlichen Status empfunden. Viele Menschen in Deutschland sehen ihr Bedürfnis nach sozialem Schutz, nach Ordnung und Gewissheit staatlicher Sicherheitszusagen durch die Entwicklung begrenzter Staatlichkeit bzw. durch die Politik vermehrter Eigenverantwortung bei fehlenden Verwirklichungschancen in Frage gestellt. 46 Hinweise hierzu bei C. Wagner, Die Menschen suchen nach dem, was Halt gibt, in: FAZ v. 12.03.2007, S. 10; noch aus anderer Perspektive spricht P.-A. Albrecht von einem durch „Rechtserosionen“ vollzogenen „Ausverkauf der Freiheit“ und „der Entwicklung zur Sicherheitsgesellschaft“, vgl. ders., Die vergessene Freiheit, 2. Aufl., Berlin 2006, S. 11; ebenso Derleder, Rechtsstaat – Sozialstaat – Kulturstaat (Anm. 40), S. 116 f. 47 Wagner, Die Menschen suchen (Anm. 46), S. 10; zu den Gefährdungen der „Kultur der Freiheit“ siehe auch U. Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 47 ff.
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2. Divergierende Sicherheitserwartungen als gesellschaftlicher Wertekonflikt In der Bewertung dieses Ergebnisses der Meinungsforschung offenbaren sich unterschiedliche Wertevorstellungen, die an die Politik adressiert werden. Einerseits, so wird postuliert, verliert die Idee der Freiheit spürbar an Bedeutung, wenn ihr der Ruf nach staatlicher Autorität und Ordnung, nach Bewahrung und Vertrauensstabilisierung entgegengesetzt wird, um die Ergebnisse des sozialen Fortschritts bestandssicher zu stellen. Stabilität und Vertrauen werden als Voraussetzung für Freiheit und Wandel deklariert. Und gerade die Schwachen bedürften, so heißt es, in dieser Perspektive des besonderen Schutzes staatlicher Autorität. Nicht von ungefähr hat der neue Staatspräsident Frankreichs in einer seiner Reden formuliert, die staatliche Ordnung anzugreifen hieße, „die Schwächsten in Gefahr zu bringen“.48 Zu bedenken ist allerdings und andererseits, dass es ohne Freiheit keine Garantie der Menschenwürde gibt.49 Das zurückgehende Bekenntnis zur Freiheitlichkeit und Dynamik staatlicher Entwicklung einschließlich Globalisierung und Privatisierung rührt daher an den Grundfesten von Staat und Gesellschaft. „Bewegung“ statt durchgängig „beharrender Ordnung“ ist nämlich ein essentielles Element freiheitlicher Gesellschaften. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Unter der Geltung deren Grundgesetzes müssen deshalb das Konzept der Freiheit mit dem ihr ersprießenden Primat der zivilgesellschaftlichen Eigenverantwortung und das ausgreifende Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit in Einklang miteinander gebracht werden. 3. Verfassungshistorische Kontingenz moderner Staatlichkeit Dem „klassischen“ Verfassungskonzept des demokratischen und sozialen Rechtsstaates ist dies in seiner verfassungshistorischen Kontingenz bislang nicht gelungen. Im Grundgesetz ist zwar „Freiheit“ als ein herausragender Verfassungswert verankert; dagegen fehlt es an einer vergleichbaren textlichen Ausprägung der „Sicherheit“ als Grundwert.50 Daraus aber einen Vorrang für das Freiheitsdenken abzuleiten, schiene mir verfehlt. Sicherheit als gleichrangiger Staatszweck beruht auf der geschichtlich im Rahmen mo48 Zitat bei M. Oppermann, Wie brennt seine alte Wunde?, in: FAZ v. 03.05.2007, S. 38. 49 Siehe statt aller Heinig, Menschenwürde und Sozialstaat (Anm. 39), S. 260 f., 279. 50 Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 31), S. 129 f. m. w. Nachw.; s. allerdings auch BVerfGE 49, 24 (56 f.); BVerwGE 49, 202 (209).
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derner Staatswerdung vermittelten Entstehung zentraler Staatsziele bzw. -zwecke und daraus konkretisierter Staatsaufgaben, die einer zeitgemäßen – und d. h. am Wandel zur gegenwärtigen Staatlichkeit orientierten – Revision harrt. So bestand die große politische Leistung des modernen Staates im 16. Jahrhundert darin, ein Gewaltmonopol zu schaffen und auf dieser Grundlage die Sicherheit der Bürger voreinander zu gewährleisten. Dadurch, dass die Übergriffe der Bürger gegeneinander institutionell unterbunden wurden, konnte die nächste Aufgabe angegangen werden, den Schutz des Bürgers vor den Übergriffen der Staatsgewalt herzustellen, also Freiheit zu gewährleisten. Mit Recht verweist Josef Isensee darauf, dass „diesem Ziel . . . die Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Demokratie (gedient haben).“ Darin liege „die politische Leistung des 18. Jahrhunderts. Der moderne Staat differenziert sich damit zum demokratischen Rechtsstaat aus“.51 Mit der Liberalisierung der Gesellschaft und dem industriellen Fortschritt fällt dann und drittens dem Staat die Notwendigkeit zu, die Menschen vor den Risiken der Marktgesellschaft zu schützen. In Wahrnehmung dieser Aufgabe hat der bürgerliche Rechtsstaat Verantwortung für die soziale Sicherheit übernommen und sich in den sozialen Rechtsstaat gewandelt. „Frei“ und „sozial“ geronnen zum Rechtsprinzip.52 Die politische Leistung des 21. Jahrhunderts muss nunmehr darin bestehen, im Wandel zur „neuen Staatlichkeit“ diese Entwicklung gegen äußere und innere, auch gewalttätige Infragestellungen zu verteidigen. Staatliche Verantwortung für (soziale) Sicherheit meint dann nicht zuletzt den Schutz vor sozialem Abstieg im Globalisierungsprozess nach Maßgabe sozialer Gerechtigkeit. Entsprechende Ängste breiten sich gerade insoweit aus. Die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft verlieren offenkundig ihre Bindungskraft als Garanten für soziale Sicherheit in Deutschland. Dadurch entsteht ein Legitimationsproblem der sozialen Sicherung. Denn deren individuelle Akzeptanz gründet ungeachtet der Eigenverantwortung des Einzelnen auf der Verlässlichkeit ihrer Institutionen und der Gewissheit von sozial gerechtem Schutz einschließlich einer gewissen Einträglichkeit angesparter Beitragsmittel.53 51 Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 591, 630 f.; folgerichtig das Plädoyer von Isensee für ein „Grundrecht auf Sicherheit“, vgl. ders., Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin/New York 1983. „Sicherheit“ als Staatszweck geht aber darüber hinaus, s. etwa Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 31), S. 130 ff. mit Verweis auf J. Limbach in Anm. 167. 52 Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip (Anm. 25), S. 56. 53 Dazu näher U. Werner, Rentenniveau und Grundgesetz, in: M. v. Wulffen/O. E. Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln/Berlin/München 2004, S. 625, 633 ff.
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Schlagen aber die Erwartungen darauf fehl, und gehen sogar selbstverantwortlich getätigte Vorsorgeinvestitionen wie die in die „Riester“- oder „Rürup-Rente“ verloren, so verursacht das dadurch enttäuschte Vertrauen der Privatversicherten ein Legitimitätsproblem staatlicher Institutionen bzw. der staatlichen Gewährleistungsverantwortung. Gleiches gilt für die innere Sicherheit in Bezug auf die (präventive) Sicherheitsvorsorge. Die verfassungshistorische Entwicklung moderner Staatlichkeit bedarf deshalb ihrer zeitgemäßen Ergänzung durch einen sicherheitsprinzipiellen Rahmen. IV. „Sicherheit“ als verfassungsrechtlicher Gewährleistungsmodus im Wandel zur „neuen Staatlichkeit“ 1. „Sicherheit“ als freiheitskomplementärer Staatszweck „Sicherheit“ ist als historisch begründeter und dem Grundgesetz „eingewachsener“ Staatszweck anzuerkennen, dem entsprechende staatliche Aufgaben bzw. Gewährleistungen entspringen. Die daraus für den demokratischen Gesetzgeber erfließende Option zur Stärkung der Sicherheitsanstrengungen darf deshalb im Falle ihrer (intensiven) Umsetzung nicht als Abkehr vom „rechtsstaatlichen Ausgangspunkt“ geschmäht werden.54 In diesem Sinne harrt die freiheitliche Verfassungstheorie des sozialen Rechtsstaates ebenfalls noch ihrer Ergänzung. Dabei geht es nicht darum, das Prinzip der Freiheit durch Sicherheit als Verfassungswert zu konsumieren. Vielmehr sieht sich die Komplementarität beider Staatszwecke unter Anerkennung der Zuordnung von Freiheit und Sicherheit als Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers – ungeachtet neuer Formen des Regierens, etwa in Gestalt der sog. „Police-Private-Partnership“ – betont.55 Die gegenwärtig gewählte gesetzgeberische Option für Sicherheit im Spannungsfeld mit dem Konzept der Freiheit ist sonach verfassungslegitim, obwohl in der Reichweite noch immer unzureichend.56 Sie folgt der Frage, was der Gesellschaft Sicherheit gibt, wenn diese des Schutzes vor Terrorismus, vor Entwertung der individualisierten sozialen Vorsorge oder der Qualitäts54 So aber Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 4), S. 175 m. Anm. 115; allgemeiner noch zur Diskussion um die Reichweite der „Sicherheit als Staatszweck“ s. V. Götz, Innere Sicherheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV: Aufgaben des Staates, 3. Aufl., Heidelberg 2006, § 85 Rn. 3 ff. (S. 671, 673 f.). 55 R. Stober, Sicherheit für Wirtschaft und Gesellschaft zwischen Staat und Privat, in: R. Pitschas/R. Stober (Hrsg.), Staat und Wirtschaft in Sicherheitswerken, Köln/Berlin/Bonn/München 2000, S. 77, 103 ff. 56 Anders dagegen BVerfG (Fn. 15), Rn. 242 ff.; w. Nachw. bei M. Möstl, Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts, in: DVBl. 2007, S. 581, 587 f.
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sicherung technischer Entwicklungen bedarf. Vernünftigerweise ist dies nicht ein „Sicherheitsstaat“. 2. „Sicherheit“ als Legitimitätsvoraussetzung „neuer Staatlichkeit“ Ist aber Sicherheit ein Grundwert der Verfassung, so stellt sie sich im Feld der Rechtssetzung und -anwendung als konkretisierungsbedürftiges Rechts- und Verfassungsprinzip dar.57 Es verlangt nach seiner Umsetzung. Das Bundesverfassungsgericht hat den darauf gegründeten Geltungszusammenhang von freiheitlichem Staat und Sicherheitsgewähr durchweg betont. Für die soziale Sicherung hat das Gericht z. B. stets hervorgehoben, dass es sich bei der „Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung um einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang handelt.“58 Über den Umweg eines gemeinwohllegitimierten Institutionenschutzes wird die Pflicht des sozialen Rechtsstaates aktualisiert, im Verlauf der „sozialen Realisation“ (Forsthoff) die Gewissheit und das Vertrauen gegenüber staatlichen Sicherheitszusagen zu stabilisieren und damit delegitimierende Erwartungsenttäuschungen von Verfassungs wegen zu begrenzen. Auf diese Weise wird allerdings nur ein Element des notwendigen Schutzes durch staatliche Vorsorgeinstitutionen garantiert. Die Frage stellt sich, ob dieser Schutz z. B. bei der Privatisierung der Alterssicherung ebenfalls existiert, oder ob sich in diesem Fall der Einzelne lediglich auf seine vertragliche Zusicherung bzw. deren Nichterfüllbarkeit, aber eben nicht auf deren Effektivität berufen kann. Eine Antwort hierauf mag zunächst auf die „Ausfallrisiken“ der Privatrechtsform verweisen. Das Verfassungsprinzip „Sicherheit“ gilt indes kraft der Ausstrahlung des Grundgesetzes auch im Raum der „neuen Staatlichkeit“. Insoweit entstehen übergreifende öffentlich-rechtliche Bindungen des Privatrechtssektors. Partnerschaft ist jedenfalls nicht lastenfrei; das entspricht ihrem konnexen Wesen. Deshalb bestimmt der Staat – und nicht die privaten Versicherungen, die Alterssicherungsprodukte anbieten –, welchen Mindestanforderungen diese genügen müssen. Gleiches gilt für die Sicherung der Leistungszusage. Die dem Bürger auferlegten Lasten staatlicher Modernisierungsentscheidungen haben Teil an einem dem Sicherheitsprinzip erfließenden und strukturwirksamen sowie übergreifenden Vertrauensschutzgebot, das auch individualisierte Vertrauensschutzerwartungen in privatisierte Alterssicherung nach Maßgabe des Sicherheitsgrundsatzes umfasst. Zwar finden sich immer wieder Ver57 Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit (Anm. 31), S. 130 f.; als „Staatsziel“ bezeichnet es Götz, Innere Sicherheit (Anm. 54), Rn. 24. 58 BVerfGE 103, 172 (184 f.); zuvor bereits BVerfGE 70, 1 (30); 82, 209 (230).
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suche, den Vertrauensschutz (in der sozialen staatlichen Sicherung) als einen eigenständigen Verfassungsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw. aus Art. 2 I GG zu entfalten.59 Doch hilft diese „Krücke“ dort nicht weiter, wo es um Sicherungsbelange begrenzter Staatlichkeit geht. Für sie bedarf es des Rückbezugs auf Sicherheit als Verfassungsprinzip. 3. Rechtliche Konsequenzen für die innere Sicherheit Fragt man nach den rechtlichen Konsequenzen solcher Zuordnung von (gleicher und sozialer) Freiheit und Sicherheit, so sei abschließend und in Auswahl wiederum auf die Felder der inneren und sozialen Sicherheit hingewiesen. In der Bundesrepublik Deutschland benennt das Grundgesetz als Fundament des verfassungsnormativen Sach- und Schutzzusammenhanges von Freiheit und Sicherheit explizit und einerseits die „Verbrechensbekämpfung“ (Art. 73 Nr. 10 GG) sowie die Organisation und Aufgabenstellung der Sicherheitsbehörden, d. h. der Polizei, Verfassungsschutzämter und Nachrichtendienste. Daraus resultiert eine weitreichende gesetzgeberische Option für Sicherheitsvorsorge im Spannungsverhältnis zum Konzept der Freiheit.60 Auf der anderen Seite wird der Schutz der sozialen Sicherheit im „begrenzten“ Sozialstaat, soweit er privatisiert worden ist, vor allem der Aufsicht durch Sozialversicherung anvertraut.61 In diesem dimensionalen Verständnis schützt verfassungsprinzipielle Sicherheitsgewähr sowohl das Systemvertrauen in den Fortbestand der Ansprüche auf soziale Sicherung und auf Schutz von Leib und Leben als auch die individuellen Bestandserwartungen in die eigene soziale Sicherung sowie ferner Ansprüche auf aktive Vorkehrungen zur „inneren Sicherheitsvorsorge“ einschließend vorbeugender Verbrechensbekämpfung durch den „wehrfähigen Rechtsstaat“.62 Jeweils erfließt dem Verfassungsprinzip Sicherheit eine entsprechende Gesetzgebungspflicht des Verfassungsstaates mit dem Ziel, Sicherheit zugunsten der Ordnung und Bewahrung gesellschaftlicher Freiheit durch strukturelle Abwägung zwischen Sicherheitserfordernissen und Eingriffstiefe zu gewährleisten. Diese Aufgabe unterliegt in ihrer Wahrnehmung einem gesetzgeberischen Optionenermessen.63 Es 59
Vgl. nur BVerfGE 97, 271 (286); 100, 271 (284). Vgl. BVerfGE 109, 279 (350); BVerfG (Fn. 15), Rn. 243; Götz, Innere Sicherheit (Anm. 54), Rn. 23 ff.; zum Ausgleich von Sicherheitserfordernissen und Grundrechtseingriffen, ebd., Rn. 28 ff. 61 Jährling-Rahnefeld, Verfassungsmäßigkeit der Grundrente (Anm. 20), S. 171 ff. 62 Schäuble, Der wehrfähige Rechtsstaat (Anm. 3), passim. 63 Zu dessen Herleitung s. Pitschas, Soziale Sicherungssysteme (Anm. 33), S. 863 f. 60
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darf vom Bundesverfassungsgericht nicht dadurch konterkariert werden, das z. B. durch richterliche Strukturgebung der gesetzlich verankerten Vorfeldbefugnisse in den Polizeigesetzen der Normbefehl umgeprägt wird.64 Insoweit unterliegt das Gericht einem vom Verfassungsprinzip „Sicherheit“ ausstrahlenden Zurückhaltungsgebot bei der Kompetenzwahrnehmung. V. Zusammenfassung und Thesen Resümieren wir die Knotenpunkte der Argumentation. Am Beginn der hiesigen Überlegungen steht die Beobachtung, dass im Globalisierungsprozess veränderte Muster von Staatlichkeit den Staat in seiner „klassischen“ Gestalt ablösen. Es bilden sich politische Regelungs- bzw. Steuerungsformen heraus, die in der sozialwissenschaftlichen Governance-Diskussion als „neue Formen des Regierens“ beschrieben und in der Staats- und Verwaltungsrechtslehre im Begriff der „neuen Staatlichkeit“ abgebildet werden. Entlang der Entwicklungslinien dieser Debatte zeigt sich, dass ihr Beweggrund die Fragen nach Leistungskraft und Legitimität des Staates im Zeitalter der Globalisierung sind. Als Antwort stellt sich heraus, dass der überforderte (Risiko-)Staat im Wege der Aufgabenprivatisierung und Kooperation nach Partnern in der Zivilgesellschaft sucht, die sich als neue und nichtstaatliche Träger von „Staatlichkeit“ i. S. der Übernahme ehedem hoheitlicher Entscheidungs- und Organisationskompetenzen etablieren. Dadurch „zerfasert“ der klassische Staat; es kommt zu Räumen begrenzter Staatlichkeit und neuer Nachfrage nach „Sicherheit“. Mit dieser empirischen Wahrnehmung geht einerseits die Beobachtung einher, dass in der Gesellschaft das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, nach dem Schutz vor Kriminalität, Unrecht und Lebensrisiken wächst. Der Ruf nach Aktualisierung des Staatszwecks „Sicherheit“ gerät in ein ausgedehntes Spannungsfeld mit dem Konzept der staatlich zu gewährleistenden Freiheit. Zugleich und andererseits wachsen dem Staat neue Aufgaben darin zu, die disparaten, Ungleichheiten hervorrufenden und sektoral wie funktional beschränkten Sach- und Organisationsentscheidungen privater Instanzen im Rahmen der „Public-Private-Partnership“ zu koordinieren, zu integrieren und gesamtheitlich zur Wirkung zu bringen. Darin liegt nunmehr der Kern seiner Gewährleistung des Gemeinwohls durch ganzheitliches Verantwortungsmanagement. Die Folge dessen ist eine gewisse aufwachsende Zentralität, jedenfalls aber eine veränderte Rolle des Staates. Allerdings werfen die Entwicklung neuer Staatlichkeit und der damit verbundene Funktionswandel des Regierens gehaltvolle Fragen nach ihrer 64 Vgl. etwa BVerfGE 110, 33 (68); 113, 348 (382 ff.); 115, 320 (357 ff.) – Rasterfahndung; BVerfG (Fn. 15), Rn. 227, 249–261.
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verfassungsrechtlichen Durchdringung auf. Zu ihnen zählt das Problem bestandssicherer Erfüllung der individuellen Sicherheitserwartungen angesichts steigender Riskanz von Bedrohungen sowie sozialer und anderer Schutzversprechen durch private Akteure. Das Verfassungskonzept des „klassischen“ sozialen Rechtsstaates hält hierzu mit der überkommenen und prioritären Verbindung grundgesetzlicher Freiheitsvorstellungen zur Sozialstaatlichkeit („frei“ und „sozial“) keine befriedigenden Antworten bereit. Nicht von ungefähr ist zum verfassungsrechtlichen Stellenwert der „Sicherheit“ die Rede von „Textlücken“ im Grundgesetz. Dessen Interpretation bedarf deshalb der Ergänzung. Sicherheit erweist sich als freiheitskomplementärer Staatszweck und als verfassungsrechtlicher Gewährleistungsmodus im Wandel zur neuen Staatlichkeit. Der entscheidende Aspekt hierbei liegt zum einen darin, künftig auch in den Räumen begrenzter Staatlichkeit für jene Leistungen individuelle Anspruchsgleichheit und Erwartungsstabilität zu gewährleisten, die – wie bei der kapitalgedeckten privaten Alterssicherung und der unternehmensgebundenen privaten Sicherheitsvorsorge – in dem komplexen Geflecht kooperativer Herrschaftsstrukturen, in denen Kollektivgüter produziert werden, den Bedingungen marktförmiger Bereitstellung und der Einflussnahme klientelistischer Netzwerke unterliegen. Zum anderen steuert das Verfassungsprinzip „Sicherheit“ die Abwägungsvorgänge bei dem erforderlichen Ausgleich zwischen staatlichen Sicherheitsanstrengungen und Grundrechtseingriffen. Ihm erfließt insoweit auch ein (verfassungs-)richterlich adressiertes Gebot zum kompetenzgerechten und -wahrenden Rechtsschutz. Staatlich aufgegebene Sicherheitsvorsorge erweist sich dadurch als ein der neuen Staatlichkeit immanentes Muster von Ordnung und Bewahrung der gesellschaftlichen Freiheit qua strukturbezogener Abwägung. Das Verfassungsprinzip „Sicherheit“ formuliert darüber hinaus allgemeine Rechtsgrundsätze des Gleichheits- und Vertrauensschutzes. Es fungiert im Ergebnis sowohl als Kontinuitätsgewähr privater sozialer Sicherung wie als Legitimationsquelle eines wehrhaften Rechtsstaates.
Bürgernähe der Verwaltung Günter Püttner I. Das Prinzip „Bürgernähe“ In den Verwaltungswissenschaften war seit längerem immer wieder die Forderung nach „Bürgernähe der Verwaltung“ laut geworden, allerdings unterschiedlich intensiv. In dem durchaus repräsentativen Werk „Öffentliche Verwaltung in Deutschland“, herausgegeben von Klaus König und dem Jubilar,1 taucht der Begriff nur an einer untergeordneten Stelle auf2 und wird nicht eigentlich thematisiert. Ebenso verhält es sich in dem Werk von Schuppert,3 wo nur die unten zu behandelnde Bürgerorientierung nach der Berliner Regelung genannt wird. Auch bei Thieme4 findet man zum Thema nichts, bei Reichard5 wenigstens einen kurzen Hinweis; Renate Mayntz6 beschränkt sich ebenfalls auf eine knappe Bemerkung. Wer aber daraus schließen wollte, Bürgernähe sei allenfalls ein Randthema der Verwaltungslehre, übersieht doch die praktische Bedeutung der Thematik und blendet die vielen Debatten, die bei Tagungen darüber geführt wurden, unangemessen aus der Betrachtung aus. Aber es gibt auch in der Literatur Stimmen, die dem Thema Bürgernähe mehr Aufmerksamkeit widmen als die eingangs genannten Autoren. So kennzeichnet Helmut Lecheler7 im Zusammenhang mit Bürokratiekritik die Bürgernähe der Verwaltung als „das große Ziel, das die staatliche Verwaltung . . . von den Politikern gestellt bekommt“, und er fügt einige Erläuterungen an. Im Handbuch „Kommunalpolitik“ findet sich ein von Dieter Grunow verfasster Abschnitt 1 Vgl. K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden 1996/97; auch W. Hoffman-Riem (Hrsg.), Bürgernahe Verwaltung, Neuwied/Darmstadt 1979. 2 Im Beitrag von W. Seibel, Verwaltungsreformen, in: König/Siedentopf, (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland (Anm. 1), S. 87 (99). 3 G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000 (S. 954). 4 W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl., Köln 1984. 5 C. Reichard, Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Verwaltung, 2. Aufl., Berlin 1987 (S. 61 f.). 6 R. Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 2. Aufl., Heidelberg 1978 (S. 245). 7 H. Lecheler, Verwaltungslehre, Stuttgart 1988, S. 103 f.
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„Leistungsverwaltung: Bürgernähe und Effizienz“ mit einer ausführlichen Würdigung des Konzepts Bürgernähe.8 Im gleichen Sinne behandelt Norbert Wimmer im Zusammenhang mit dem Bürokratieproblem den Grundsatz der Bürgernähe.9 Ausführlich geht auch Bernd Becker auf die „Verbesserung“ von Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit ein.10 Bürgernähe ist also durchaus ein Thema. Aber was meint „Bürgernähe“ genau? Nähe signalisiert räumliches Nahesein; das Gegenteil wäre Bürgerferne. Doch welche Distanz im einzelnen kann gemeint sein? Und: Die Bürger befinden sich normalerweise nicht an einem Ort versammelt, dem dann die Verwaltung nahe sein könnte, sondern verteilen sich auf die Fläche, sei es der Gemeinde, sei es des Kreises oder einer noch größeren Verwaltungseinheit. Logischerweise kann die Verwaltung nicht allen Bürgern gleich nah sein. Wo sie sich auch platziert, immer ist sie einigen Bürgern sehr nah und vielen anderen deutlich ferner. Allein schon diese Tatsache gibt Anlass, dem Konzept Bürgernähe Vorsicht entgegenzubringen. Aber auch unter sachlichen Gesichtspunkten stellen sich manche Fragen. Möchte der Bürger wirklich „die“ Verwaltung oder genauso alle Verwaltungen in seiner Nähe angesiedelt sehen? Einige sicherlich, die Feuerwehr, den Rettungsdienst, die Schule, das Kulturzentrum usw. Aber andere Verwaltungen, namentlich Ordnungsverwaltungen, sähe mancher Bürger lieber in der Ferne platziert als in der Nähe, z. B. das Radargerät, das die Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen überwacht. Bürgernähe ist offensichtlich nicht ein allgemeingültiges Ideal; es bedarf einiger Differenzierungen.11 Insbesondere verbietet es sich, Bürgernähe im Sinne von Kumpanei mit dem Bürger als erstrebenswert zu betrachten. Gewiss gibt es Beispiele legitimer Bürgernähe in diesem Sinne, so die Präsenz des Bürgermeisters auf Volksfesten und Feierlichkeiten. Aber schon das zu enge Zusammenrücken des Bürgermeisters mit den führenden Personen im Schützenverein oder im Rotary-Club stößt auf gewisse Bedenken, weil später bestimmte Verwaltungsentscheidungen nicht mehr ganz unbefangen gefällt werden könnten. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass vielen Bürgern in manchen Fällen die Annäherung von Verwaltungsvertretern gar nicht recht war oder ist. Die bei der seinerzeitigen Volkszählung geplanten oder verwirklichten Haus8 D. Grunow, Leistungsverwaltung: Bürgernähe und Effizienz, in: H. Wollmann/R. Roth (Hrsg.), Kommunalpolitik, Opladen 1999, S. 396 ff. (S. 402 f.). 9 N. Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre, Wien 2004, besonders S. 162 ff. (auch S. 388, 403 im Hinblick auf Verwaltungsreform). 10 B. Becker, Öffentliche Verwaltung, Percha 1989, S. 933 f. 11 Vgl. hierzu und zum folgenden den Hinweis in meiner Verwaltungslehre, 4. Aufl., München 2007, S. 245 f. mit Anm. 43.
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besuche stießen auf erbitterten Widerstand, und nicht viel anders reagieren manche Sozialhilfeempfänger auf Hausbesuche von Sozialarbeitern. Man muss also wohl zwischen willkommener und nicht willkommener Bürgernähe unterscheiden. Und überhaupt hat es mit der „Nähe“ so seine Bewandtnis. Auf der niedersächsischen Landkreisversammlung am 15. März 2007 in Göttingen kennzeichnete der Präsident des Niedersächsischen Landtages in einem Grußwort die Bürgernähe als Mund-zu-Mund-Beatmung mit dem Bürger, eine doch etwas peinliche Form von Nähe. Oder hat der Redner vielleicht an einen solchen Kontakt mit einer schmucken Bürgerin gedacht? Dann aber fragt sich: II. Wo bleiben die Bürgerinnen? Seit einiger Zeit greift ja die Mode um sich, neben der männlichen Form immer auch die weibliche ausdrücklich zu nennen. Man spricht von Kollegen und Kolleginnen (oder besser Kolleginnen und Kollegen), von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, usw. Auch in die Gesetze hat diese Ausdrucksweise bereits Eingang gefunden, so besonders in die Schulgesetze der Länder; dort ist die Rede von Schülerinnen und Schülern, von Lehrerinnen und Lehrern, von Schulleiterin und Schulleiter.12 Deshalb fällt es heute fast schon auf, dass es die Bürgerinnen in den einschlägigen Beiträgen nicht gibt. Bei der Bürgernähe mag das aus dem gerade genannten Grund verständlich sein, aber warum spricht man nur von Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren, Bürgerbeauftragten, Bürgerbüros usw., ohne den Bürgerinnen Referenz zu erweisen? Liegt es vielleicht daran, dass viele der Begriffe, z. B. die „Bürgernähe“, älter sind als der Trend zur Verwendung auch der weiblichen Form? Nicht unbedingt, denn es gab auch schon früher Lehrer und Schüler, ehe die Ausdrucksweise „Lehrerinnen und Lehrer“ oder „Schülerinnen und Schüler“ üblich wurde. Da es in vielen Bürgerinitiativen auch als Kunden in den Bürgerbüros recht viele Frauen gibt, fragt sich schon, weshalb der „gender mainstreaming“ gerade hier Halt gemacht hat. Es könnte natürlich sein, dass die Eiferer dieses Trends den Bürgerbereich übersehen haben, aber auch, dass die Sprach-Konservativen, denen bekanntlich die moderne Doppelform gegen den Strich geht, hier erfolgreich Widerstand geleistet haben, wie auch an anderen Stellen. Es wäre lohnend, dem einmal nachzuspüren; aber hier ist dafür nicht der Ort. Zurück zur Bürgernähe! 12 Vgl. als Beispiel das Berliner Schulgesetz vom 26.1.2004, GVBl. S. 26, § 15, §§ 46 ff., § 67, § 69; ebenso die Schulgesetze der anderen Länder (einschließlich Bayern).
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III. Von der Bürgernähe zur Bürgerfreundlichkeit Die dargestellten Probleme, die es mit der „Bürgernähe“ gibt, haben viele Beteiligte veranlasst, statt von „Bürgernähe“ von „Bürgerfreundlichkeit“ zu sprechen.13 Aber darin liegt nicht nur ein Wandel der Terminologie, es findet auch eine deutliche Akzentverschiebung statt. Die bürgernahe Verwaltung kann freundlich, aber auch bedrängend sein; die bürgerfreundliche Verwaltung muss nicht unbedingt besonders nah sein, sie kann auch aus guten Gründen etwas entfernter platziert sein. So kann z. B. die Kraftfahrzeugzulassungsstelle einer Stadt durchaus kundenfreundlich etwas entfernt vom Stadtzentrum an verkehrsgünstiger Stelle mit reichem Parkplatzangebot angesiedelt sein.14 Wichtig für die Bürgerfreundlichkeit ist im Übrigen die Gestaltung des Zugangs zu den Verwaltungsabteilungen und der Öffnungszeiten, Punkte, die mit dem Stichwort Bürgernähe nicht erfasst werden. In vielen Fällen verlangt aber die Bürgerfreundlichkeit auch nach hinreichender Bürger-Nähe (z. B. des Sozialamts), womit sich beide Begriffe überschneiden. Es fragt sich allerdings, welche Konsequenzen aus dem Grundsatz der Bürgerfreundlichkeit (und übrigens auch Bürgernähe) für Verwaltungen mit wenig oder gar keinem Bürgerkontakt, wie z. B. Landes- oder Bundesministerien, zu ziehen sind. Zunächst einmal obliegt es diesen oberen Verwaltungen, ihnen nachgeordnete Behörden zu bürgerfreundlichem Verhalten anzuregen. Aber es gibt manch weitere Gelegenheiten, bürgerfreundlich zu handeln. Zu denken ist beispielsweise an eine entsprechende Gestaltung von Verlautbarungen oder Informationsbroschüren, z. B. seitens der Kulturministerien bezüglich der möglichen Schulwege im Lande. In diesen Fällen darf allerdings Bürgernähe nicht in Populismus oder gar in indirekten Wahlkampf übergehen; manches Eigenlob und manches Großfoto der Ministerin/ des Ministers fordern eine kritische Betrachtung heraus. Bürgerfreundlichkeit schließt auch Bürgerbeteiligung ein,15 eher jedenfalls als Bürgernähe. Aber damit tut man sich nach wie vor schwer. Die Verwaltung mag in normalen Zeiten den Bürgern noch so freundlich Beteiligungsmöglichkeiten anbieten – die meisten ziehen andere Beschäftigungen vor. Nur wenn eigene Interessen betroffen oder gefährdet sind, wachen die Bürger auf und melden sich zu Wort. Dann aber sind der Bürgerfreundlichkeit Grenzen gesetzt; oft muss die Verwaltung im Allgemeininteresse hart bleiben und auch unpopuläre (bei den Anwohnern unbeliebte) Projekte 13 Vgl. besonders G. B. Müller, Die bürgerfreundliche Verwaltung, Stuttgart 1980, wo auch die nachfolgend genannten Einzelheiten behandelt sind. 14 So z. B. in Speyer, dort verbunden mit einem Bürgerbüro. 15 So jedenfalls Müller, Die bürgerfreundliche Verwaltung (Anm. 13), S. 17 ff.
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durchsetzen. Hier wird zugleich eine gewisse Ambivalenz von Bürgerfreundlichkeit sichtbar. Was einer Gruppe eine Wohltat ist, wie die bequeme Flughafennutzung, bereitet der anderen Gruppe, den Anliegern, Verdruss. Man kann es nicht jedem recht machen. IV. Der neue Begriff „Bürgerorientierung“ Vielleicht verursacht durch diese Probleme taucht seit einiger Zeit in der Literatur16 und dann im Gesetz, nämlich in dem Berliner VerwaltungsReform-Grundsätze-Gesetz17 der Begriff „Bürgerorientierung“ auf. Er erscheint etwas blass, umfasst aber sicherlich wie der Begriff Bürgernähe nicht nur freundliche Orientierung, sondern auch unfreundliches, auf den Bürger gerichtetes Handeln.18 Hier wie bei den anderen Begriffen taucht die weibliche Form nicht auf, beim Berliner Gesetz überraschend, weil im gleichen Paragraphen von „gender main streaming“ die Rede ist.19 Was Bürgerorientierung im Einzelnen Neues bringen soll, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Möglicherweise signalisiert der neue Begriff lediglich ein Abrücken von der emotionalen Komponente, die in Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit mitschwingt. Es fragt sich allerdings, welchen Zugewinn diese Objektivierung erbringen kann. Im Berliner Gesetz fungiert der Begriff als eine Art Leitprinzip oder Verwaltungsziel, wobei offen bleibt, welche konkreten Folgerungen sich ergeben sollen. Der Bürger fungiert hier nur noch als eine Art Merkposten; ihm wird signalisiert, dass er nicht vergessen ist, aber mehr auch nicht. Die Begriffe Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit wirken da doch zupackender. Aber man muss abwarten, welcher Begriff sich durchsetzt. V. Bürgernähe und Verwaltungsgliederung Wer die verschiedenen Aspekte von Bürgernähe Revue passieren lässt, dem fällt auf, dass auch Auswirkungen auf die Verwaltungsgliederung, auf den Verwaltungsaufbau und auf die Zuständigkeitsordnung gegeben oder ins Auge gefasst sind. Zumindest Verwaltungen mit beträchtlichem Publikumsverkehr sollen möglichst nah am Bürger angesiedelt sein. Im deut16
Vgl. Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre (Anm. 9), S. 355. Gesetz vom 21.12.2005, GVBl 2006, S. 10, § 1. 18 Man fühlt sich an den Spruch eines österreichischen Kollegen erinnert, der in Andeutung an Art. 20 GO zu witzeln pflegte: Alle Staatsgewalt geht auf das Volk los! 19 Soweit ersichtlich sind hier erstmals englische Termini ins deutsche Gesetz aufgenommen worden; aber das wird nicht das letzte Mal sein. 17
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schen Verwaltungsaufbau bedeutet das, dass so weit wie möglich die Gemeinden als lokale Behörden zuständig sein müssen und nur, wenn sich das nicht umsetzen lässt oder die Qualität der Verwaltungsarbeit über Gebühr leiden würde, eine höhere Instanz. In diesem Sinne wird eigentlich in Wissenschaft und Politik immer – manchmal unter dem Stichwort Subsidiarität – die Ansiedlung der Verwaltungszuständigkeit bei den unteren Behörden gefordert und befürwortet. Aber bekanntlich hat es gleichwohl einen Wanderungsprozess der Aufgaben von unten nach oben gegeben, überwiegend fachlich motiviert. Immer wieder wurde unter dem Stichwort „Funktionalreform“ versucht, dem entgegenzuwirken und Aufgaben wieder nach unten zu verlagern. Der Erfolg dieser Bemühungen hielt sich bekanntlich in Grenzen. Wer Kompetenzen nach unten abgeben soll, reagiert nicht immer begeistert. Ein Beispiel aus jüngster Zeit kann verdeutlichen, worum es geht. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen legte in diesem Frühjahr einen Plan zur „Absenkung der Einwohnerschwellenwerte“ vor. Das sollte konkret bedeuten, dass nun auch Gemeinden ab 20 000 Einwohnern (statt bisher ab 25 000) ein eigenes Jugendamt, Bauamt und/oder Rechnungsprüfungsamt einrichten könnten. Das rief den nordrhein-westfälischen Landkreistag auf den Plan. In einer Presseerklärung vom 14. März 200720 erklärte dieser zwar zunächst: „Wir sind für alle Initiativen aufgeschlossen, die zu mehr Bürgernähe beitragen“, aber dann ging es zur Sache. Die Presseerklärung fährt nämlich fort: „Wenn das aber dazu führt, dass eine kaum noch überschaubare Zuständigkeitszersplitterung zwischen den Kreisen und ihren Gemeinden entsteht, wird das die kommunale Familie nachhaltig schädigen und die Bündelungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise in Frage stellen“. Es ist dann noch weiter vom Ausscheren aus dem Solidarverband Kreis und Rosinenpickern die Rede, sowie dann: „Es würde zu kommunaler Wilderei, zu gemeindlichem Kannibalismus aus puren eigennützigen Motiven ohne Rücksicht auf kommunalübergreifende Interessen führen . . .“. Vor einer „weiteren Atomisierung der kommunalen Verwaltungskraft“ wird dann noch gewarnt. Bürgernähe als Zeichen von „gemeindlichem Kannibalismus“ und von Atomisierung der Verwaltung(skraft), das ist nicht nur starker Tobak, das ist auch eine ganz neue Sicht dieses Prinzips, die man in der Literatur bisher vergeblich suchte. Vor allem vor der Mund-zu-Mund-Beatmung mit Kannibalen muss nachdrücklich gewarnt werden. Aber nehmen wir Abschied vom Kannibalismus, um die Lesefreude nicht zu sehr zu beeinträchtigen. Ein anderer Punkt soll noch angesprochen wer20
Abgedruckt im Eildienst des Landkreistages Nordrhein-Westfalen 2007, S. 118.
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den. Bürgernahe Verwaltung durch untere Verwaltungseinheiten setzt nicht unbedingt voraus, dass diese Einheiten rechtlich selbständig sind und über das Selbstverwaltungsrecht verfügen. Statt Verwaltungs-Dezentralisation kann es auch schlichte Verwaltungs-Dekonzentration geben. Ob ein unteres, bürgernahes Jugendamt von einer zur Selbstverwaltung berufenen Gemeinde getragen oder als Außenstelle einer höheren Verwaltung betrieben wird, ist unter dem Gesichtspunkt der Bürgernähe gleichgültig. Das bedeutet zum Beispiel, dass es auch in Frankreich, wo man von Selbstverwaltung immer noch nicht viel hält, durchaus bürgernahe Verwaltung geben kann. Bürgernähe kann, auch wenn man es bedauern mag, nicht mit Selbstverwaltung gleichgesetzt werden. Damit soll nicht abgestritten werden, dass kommunale Selbstverwaltung wesentlich zur Entwicklung und Stärkung bürgernaher Verwaltung beitragen kann und in Deutschland sicherlich beiträgt. Der Wert von Selbstverwaltung wird durch die Tatsache, dass es auch ohne sie Bürgernähe geben kann, nicht geschmälert. VI. Ausblick Nicht alle Probleme der Bürgernähe konnten in diesem kurzen Beitrag gewürdigt werden. Beispielsweise bleibt das Thema einer bürgernahen oder besser bürgerfreundlichen Sprache ausgesperrt, über das es einiges zu sagen gäbe.21 Das gleiche gilt von dem Kontakt-Klima zwischen Verwaltung und Bürger, dessen Pflege Aufmerksamkeit verdient. Der früher autoritäre Stil ist zwar durchweg einem freundlichen Umgangston gewichen, aber damit sind nicht alle Schwierigkeiten guten Kontakts aus dem Weg geräumt. Für die Forschung und Verwaltungsberatung ist noch ein weites Feld offen. Abschließend soll noch auf einen Punkt hingewiesen werden, der in den gängigen Ausführungen zur Bürgernähe meistens fehlt, das bürgerschaftliche Engagement.22 Dieses hat allerdings unmittelbar mit bürgernaher Verwaltung nichts zu tun; vielmehr betrifft es umgekehrt eine gewisse Nähe des Bürgers zur Verwaltung oder, besser, zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben. Wenn dieses Engagement hier aufgeführt wird, dann bedeutet das, dass Bürgernähe der Verwaltung keine Einbahnstraße sein soll, sondern mit einer entsprechenden Annäherung des Bürgers an die öffentlichen Angelegenheiten einherzugehen hat. 21 Müller, Die bürgerfreundliche Verwaltung (Anm. 13) erwähnt es (S. 13 f., S. 27 ff.). Einiges dazu findet sich auch in meiner Verwaltungslehre (Anm. 11). 22 Es ist bei Müller, Die bürgerfreundliche Verwaltung (Anm. 13) erwähnt (S. 17 ff.); vgl. auch L. Schwalb/H. Walk (Hrsg.), Local Governence – mehr Transparenz und Bürgernähe, Wiesbaden 2007, S. 95 ff.
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Nun ist allerdings in den letzten Jahren vielfach über das Zurückgehen des früher verbreiteten bürgerschaftlichen Engagements geklagt worden. Es hat Appelle hoher Staatsrepräsentanten zur Wiederbelebung der Mitarbeit der Bürger gegeben. Soweit man sehen kann, gibt es auch tatsächlich jetzt wieder mehr Bürger-Engagement im öffentlichen Bereich.23 Wenn das zutrifft, kann im Ergebnis von einem gegenseitigen Näheverhältnis von Verwaltung und Bürger gesprochen werden. Damit eröffnet sich zugleich eine Perspektive für die weitere Pflege des Prinzips Bürgernähe der Verwaltung. Es gibt keine schroffe Trennung von öffentlicher Verwaltung einerseits und Bürgern andererseits, sondern Bürgernähe bezeichnet nicht zuletzt eine Verschränkung und ein Zusammenwirken beider. Der bürgernahe Staat kann so ein humaner Staat sein und als solcher Zukunft haben.
23 So war kürzlich zu erfahren, dass in einem (klein-)städtischen Freibad Bürger(innen) ehrenamtlich je für einige Stunden die Aufsicht übernehmen, weil das Geld für bezahlte Kräfte nicht ausreicht.
Ewigkeit im Kontext der Rechtfertigung von Verfassungen Gerd Roellecke „Das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als Berechtigtes zeige“, schreibt Hegel1. Das geltende Recht kann dieser Forderung leicht nachkommen. Es zeigt sich als Berechtigtes, wenn es der Verfassung entspricht. Genau das meint Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“. Art. VI Abs. 2 der US-Verfassung von 1787 sieht das fast ebenso. Daraus ziehen die Verfassungen handfeste Konsequenzen. Zum Beispiel sind sie in übersichtlichen Texten aufgezeichnet – für England und die Europäische Union gelten allerdings Besonderheiten –, damit sich jeder Bürger darauf berufen kann und die Richter sich darauf beziehen müssen.2 Das Grundgesetz ist mit dem Vertextungsgebot besonders weit gegangen. Verfassungsänderungen müssen den Wortlaut des Grundgesetzes ändern (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG), und eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen muss nach Inhalt, Zweck und Ausmaß im ermächtigenden Gesetz bestimmt werden (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG). I. Das Zuhöchstsein der Verfassung Eine Verfassung kann sich aber nicht in gleicher Weise wie das Gesetzesrecht als Berechtigtes zeigen. Als höchste Norm hat sie logischerweise keine Norm über sich, die sie begründen könnte. Das ist vor allem durch die Wiedervereinigung deutlich geworden,3 war aber schon vorher klar. 1 Grundlinien der Philosophie des Rechts § 317 Zusatz, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werkausgabe, Band 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 485. 2 Vgl. G. Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: derselbe, Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien/Köln 1989, S. 37, 63. 3 Vgl. R. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: HStR I, 3. Aufl. Heidelberg 2003, § 8 Rn. 96 ff., S. 315, 349 ff.; H. Huba, Theorie der Verfassungskritik am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung, Berlin 1996, S. 21–41.
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Wenn man mit Kant4 postuliert, nur der allgemeine vereinigte Volkswille könne verbindliche Gesetze schaffen, kann allein das Volk eine Verfassung geben. Viele Autoren behaupten denn auch, das Volk müsse über eine Verfassung abstimmen,5 obwohl weder das amerikanische Volk über die amerikanische Verfassung von 1787 (Art. VII Abs. 1) noch das deutsche über das Grundgesetz von 1949 (Art. 144 Abs. 1 GG) abgestimmt hat und sich beide Verfassungen ganz gut bewährt haben. Beide Texte behaupten in ihren Präambeln allerdings, das Volk hätte die Verfassungen gegeben. Ob und inwiefern das für die USA stimmt, lassen wir offen.6 Für das Grundgesetz hätte eine der historischen Wahrheit entsprechende Präambel lauten müssen: „Nach der vernichtenden Niederlage des Deutschen Reiches 1945 haben die Siegermächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen. 1947 brach die Siegerkoalition auseinander. Am 1. Juli 1948 verpflichteten die Militärgouverneure der westlichen Besatzungsmächte die Ministerpräsidenten der inzwischen neugebildeten westlichen deutschen Länder, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Dieser Parlamentarische Rat wurde auf Weisung der Militärgouverneure von den Landtagen gewählt. Er hat das folgende Grundgesetz am 8. Mai 1949 verabschiedet. Die Militärgouverneure haben es am 12. Mai 1949 genehmigt.“7
Von dieser historischen Wahrheit weicht die Präambel des Grundgesetzes in der heute wie in der vor der Wiedervereinigung geltenden Fassung so offensichtlich ab, dass man sich fragen muss, warum die Präambel bis heute keine Proteste ausgelöst hat, sondern hingenommen worden ist. Einer Antwort kommt man mit der Gegenfrage näher: Was wäre die Alternative gewesen? Wir haben es bereits betont: die Geschichte. Aber hätte eine wahre Geschichtserzählung an der Geltung des Grundgesetzes und an seinem Erfolg etwas geändert? Wahrscheinlich nicht. Eine Präambel wie die hier präsentierte hätte höchstens gestört, weil sie die Akzeptanz des Grundgesetzes geschwächt hätte. Das bedeutet, mit der herrschenden Lehre8 ist davon auszugehen, dass „verfassunggebende Gewalt“ und „Volk“ normative Bedeu4 Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 46, in: I. Kant, Werke in sechs Bänden, hrsgg. von W. Weischedel, Band IV, Darmstadt 1963, S. 432. 5 Mußgnug, Zustandekommen (Anm. 3) Rn. 97 ff.; U. Storost, Das Ende der Übergangszeit. Erinnerung an die verfassunggebende Gewalt, in: B. Guggenberger/T. Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991, S. 172–185. 6 B. Zehnpfennig, Einleitung zu: A. Hamilton/J. Madison/J. Jay, Die Federalist Papers, hrsg. von B. Zehnpfennig, 2. Aufl., München 2007, S. 1, 2. 7 Vgl. Mußgnug, Zustandekommen (Anm. 3) Rn. 97; G. Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992 S. 929, 930. 8 Vgl. D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978; H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, HStR VII § 158 Rn. 5, 34.
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tung haben. Sie sind Schlusspunkte der Rechtfertigung der Verfassung und erinnern von weitem an Hans Kelsens „Grundnorm“9. Für eine „Grundnorm“ ist die „verfassunggebende Gewalt des Volkes“ freilich zu real. Bei „verfassunggebender Gewalt“ kann man fragen, was eigentlich mit „Volk“ gemeint ist. Eine Ethnie, wie sie Völkerkundler beobachten? Kaum. Ethnien sind traditions- und naturgeprägte Gruppierungen, deren normative Erheblichkeit gesondert festzustellen wäre. Gruppenmerkmale gleich welcher Art wird man allerdings erwarten dürfen, weil ein Volk als solches wahrnehmbar sein muss. Aber auch eine Gruppe mit spezifischen Merkmalen ist noch kein Volk im Rechtssinne. Ihr fehlt das Normative, sei es als Pflicht, sei es als Recht. Im Prinzip geht es beim Volk um den Übergang von der Natur zur Setzung, zur Kultur. Dafür gibt es zwei Modelle: die Entscheidung (Wille) und die Entwicklung (Geschichte), für die hier Rousseau und Hegel stehen.10 II. Wille und Geschichte Nach Rousseau11 schaffen Macht und Gewalt keine Normen, auch nicht, wenn sie Gewohnheit werden. Macht kann aus der Sicht des Unterworfenen rechtswidrige Sklaverei oder rechtmäßiger Gehorsam bedeuten. Die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht muss vorher getroffen werden. „Deshalb würde es vor der Untersuchung des Aktes, durch den ein Volk einen König wählt, angemessen sein, den Akt zu prüfen, durch den ein Volk eben ein Volk ist, denn da dieser Akt dem anderen notwendigerweise vorausgehen muß, so ist er auch die eigentliche Grundlage der Gesellschaft.“ Dieser Akt ist freilich völlig leer. Er rechtfertigt noch nicht einmal das Mehrheitsprinzip und lässt nur Einstimmigkeit zu.12 Vielmehr ist zu prüfen, wie der Akt der Selbstkonstitution zur Gesellschaftlichkeit führt. Das Ergebnis ist bekanntlich die aliénation totale, „das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit“. Die aliénation totale birgt für den Einzelnen kein Risiko. Da sich jeder völlig unterwirft, kann keiner den anderen unterdrücken. Aber dieses Ergebnis ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass der Einzelne als Einzelner für sich entscheidet und sich mit der Entscheidung selbst überwindet. Er öffnet sich 9
Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 199 ff. Dazu die gehaltvolle Studie von R. Bubner, Der Akt der Selbstkonstitution des Volkes nach Rousseau und die Verfassung des Rechtsstaates nach Hegel, in: derselbe, Drei Studien zur politischen Philosophie, Heidelberg 1999, S. 9–27. 11 Der Gesellschaftsvertrag I 5 und 6. 12 Deshalb kann dieser Akt nicht Basis einer Verfassung sein, wie Bubner, Selbstkonstitution (Anm. 10) S. 16, meint. 10
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für die anderen und relativiert sich selbst. Diese Selbstüberwindung ist ethisch gut und begründet deshalb die Normativität. Der Einzelne bringt sich gleichsam selbst zum Opfer, ein altes christliches Motiv. Dadurch wird er zum reinen Altruisten. Wenn auch alle anderen Altruisten werden, ist ein Gesellschaftsvertrag möglich. Das heißt, Normativität ist Selbstlegitimation durch einen Akt der Selbstüberwindung, durch ein Opfer. Wir brauchen nicht nach dem Realitätsbezug des Rousseau’schen Konzeptes zu fragen. Bereits Hegel13 hat den theoretischen Fehler gesehen. Rousseau habe den Willen, der in der Tat das Prinzip des Staates sei, nur in der bestimmten Form des einzelnen Willens gefasst. Der Staat erscheine deshalb lediglich als das Gemeinschaftliche. „So wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat.“ Hegel vermisst bei Rousseau den Grund, aus dem sich der Einzelne selbst überwinden soll. Er selbst kennt den Grund: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, das heißt, die höchste Stufe der realen Vergemeinschaftung. „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen“, ein Leben in der Allgemeinheit. Deshalb interessiert sich Hegel außerordentlich für die staatlichen Einrichtungen, besonders für die Verfassung. Aber er ist weit davon entfernt, die Einrichtungen mit dem Staat zu identifizieren. Jede muss sich für sich „als Berechtigtes zeigen“, auch die Verfassung. An seiner Interpretation der Verfassungsgestaltung kann man erkennen, wie er sich die Normativität der Verfassung denkt: „Eine andere Frage bietet sich leicht dar: wer die Verfassung machen soll. Diese Frage scheint deutlich, zeigt sich aber bei näherer Betrachtung sogleich sinnlos. Denn sie setzt voraus, daß keine Verfassung vorhanden, somit ein bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei. Wie ein Haufen, ob durch sich oder andere, durch Güte, Gedanken oder Gewalt, zu einer Verfassung kommen würde, müßte ihm überlassen bleiben, denn mit einem Haufen hat es der Begriff nicht zu tun. – Setzt aber jene Frage schon eine vorhandene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung, und die Voraussetzung einer Verfassung enthält es unmittelbar selbst, daß die Veränderung nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen könne. – Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“14 Eine Verfassunggebung im Sinne einer „Neukonstitution“ gibt es 13 14
Hegel, Rechtsphilosophie (Anm. 1) § 258, Werke 7, S. 400. Hegel, Rechtsphilosophie (Anm. 1), § 273 am Ende, Werke 7, S. 439.
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für Hegel also nicht, weil jede gemeinsame Entscheidung eine Verfassung voraussetzt, die die Entscheidungsfähigkeit begründet, durch die also – um es mit Rousseau zu sagen – ein Volk ein Volk und ein Entscheidungsgremium ein Entscheidungsgremium ist. Es gibt nur Verfassungsänderungen. Das gilt selbst bei Revolutionen. „Alle Revolutionen, in den Wissenschaften nicht weniger als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist [. . .] seine Kategorien geändert hat.“15 Die Verfassung muss diesen Änderungen zwar folgen, aber sie bleibt bei sich selbst. Da sich Normativität nur aus Normativität ergibt, kann es keinen Ruck zur Selbstüberwindung geben, der Normativität begründen müsste, und daher auch keinen Unterwerfungsoder Gesellschaftsvertrag. Hegel ist der Antikontraktualist schlechthin.16 Normativität ist Geschichte. Deshalb „hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab“, und deshalb hat jedes Volk „die Verfassung, die ihm angemessen ist“.17 Hegel sieht aber den Widerspruch zwischen Geschichte und Setzung und will ihn mit Ideologie, mit einer Vergöttlichung der Verfassung überbrücken. Diese Erwägung ist verständlich, wenn auch problematisch.18 Sie hat vor allem Sinn für das Zuhöchstsein einer Verfassung und für das damit verbundene Rechtfertigungsproblem. Aber „Göttlichkeit“ beschreibt mehr einen Widerspruch als seine Auflösung. Hegel verwendet den Begriff, um die Einheit von Natur und Freiheit zu bezeichnen19 oder von Einheit und Allgemeinheit oder als Götterkreis.20 Immer geht es darum, natürliche Wirkungen in ihrer besonderen Mächtigkeit zu begreifen und zu deuten. In diesem Sinne kann man auch der Verfassung eine besondere Kraft zuschreiben. Aber das ist eine quasireligiöse Lösung des Legitimationsproblems, die der Konstruktion einer verfassunggebenden Gewalt insofern ähnelt, als auch die verfassunggebende Gewalt ins radikal Unbestimmte verweist, weil niemand weiß – und darin hat Hegel Recht –, wer oder was sie entscheidungsfähig macht. Hasso Hofmann21 hat die ver15 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Zweiter Teil, die Naturphilosophie, in: Hegel, Werke (Anm. 1), Band 9, S. 20. 16 Treffend Bubner, Selbstkonstitution (Anm. 10), S. 17. 17 Hegel, Rechtsphilosophie (Anm. 1), § 274, Werke 7, S. 440. 18 Näher Roellecke, Verfassunggebende Gewalt (Anm. 7), S. 933. Die Vergöttlichung der Verfassung erinnert übrigens an die frühere „Wertejudikatur“ des Bundesverfassungsgerichtes; vgl. BVerfGE 7, S. 198, 205 (Lüth); Hasso Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, in: JöR 51 (2003) S. 1, 8. 19 Vgl. Entwürfe über Religion und Liebe (1797/98), in: Hegel, Werke (Anm. 1), Band 1, S. 242. 20 Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Hegel, Werke (Anm. 1), Band 13, S. 230, 231. 21 Wesen der Verfassung (Anm. 1), S. 9.
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fassunggebende Gewalt deshalb einen Mythos genannt. Aber ein Mythos liegt quer zur Geschichte, muss nachträglich erfunden werden und widerspricht der Geschichtlichkeit von Verfassungen.22 Beide Legitimationsversuche wirken heute etwas einfach, vor allem der Rousseaus. Ihm geht es nur um ein „Ja“ oder „Nein“ zur politischen Hierarchie. Wenn das „Ja“ ausbleibt, ist die Hierarchie gefährdet, und wenn die Machtausübung willkürlich wird, ist nichts mehr zu machen. Hegel23 hat Rousseau daher mit Recht vorgeworfen, die schlechten Abstraktionen der französischen Revolution mitbewirkt zu haben. Das scheint man Hegels Verknüpfung von Verfassung und Geschichte nicht vorwerfen zu können. Alle Verfassungen müssen sich mit Geschichte rechtfertigen. Aber alle können es auch. Die Stalin’sche Verfassung von 193624 und die DDR-Verfassung von 1968/7425 haben sich als historisch notwendig dargestellt und sind doch relativ kurzfristig gescheitert. Wenn solche missbräuchlichen Interpretationen so leicht zu bewerkstelligen sind, muss das an den Theorien liegen. III. Stabilität statt Legitimation? Niklas Luhmann26 hat die Kritik an den traditionellen Legitimationsbegründungen auf den Begriff gebracht. In einer eindringlichen historischen Kurzanalyse hat er gezeigt, dass das Problem der Legitimation darin besteht, die Rechtfertigung politischer Macht nach außen abzustützen. Noch die frühe Neuzeit hatte die Legitimation mit dem Satz „Alle Legitimität ist von Gott“ religiös gesichert. Mit der Funktionalisierung der Gesellschaft, insbesondere mit der Entkoppelung von Religion, Recht und Politik war das nicht mehr möglich.27 Die Berufung auf die Vernunft, die die religiöse Legitimation ersetzen sollte, hat nur zu dem geführt, was die Klassiker vermeiden wollten, zur Selbstreferenz und damit zur Selbstlegitimation. Vermeiden wollten sie Selbstlegitimation, weil sie glaubten, sie öffne der Will22 Näher G. Roellecke, Zur Semantik von Verfassungstexten, in: H. Kopetz/J. Marko/K. Poier (Hrsg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Graz 2004, S. 169, 174 ff. 23 Rechtsphilosophie (Anm. 1), § 258, Werke 7, S. 400. 24 Ausgabe Verlag Kultur und Fortschritt, (Ost)Berlin 1950, S. 48: Stalin über die Verfassung. 25 In: I. von Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Stuttgart 1991, S. 1–23, Präambel. 26 N. Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: N. Achterberg/W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, in: ARSP Beiheft 15, Wiesbaden 1981, S. 65–83. 27 Vorher schon gleichsinnig, aber vom Standpunkt der Rechtsphilosophie aus H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, Berlin 1977, S. 60–77.
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kür Tür und Tor. Selbstlegitimation ist aber systemstrukturell nicht zu vermeiden. Alle lebenden Systeme entwickeln selbstreferentielle Verhältnisse, weil sie nur im Kontakt mit sich selbst auf ihre Umwelt reagieren können. Jeder kann das im Prinzip an sich selbst erkennen. Auf Anstöße von außen reflektieren wir, das heißt, treten wir mit uns selbst in Kontakt. Das Ergebnis dieser Reflexion erscheint als eigene Entscheidung. Anders ist autonomes Leben nicht möglich. In diesem Sinne muss auch die Politik primär auf sich selbst reagieren, wenn sich ihre Umwelt bemerkbar macht. Nimmt sie die Vorstöße der Umwelt einfach hin, mag sich in der Politik zwar einiges ändern, willkürfreier oder zuverlässiger wird sie aber nicht. Selbst wenn man eine weitere Größe einführt, zum Beispiel das Volk oder die Beherrschten, werden die Verhältnisse nicht berechenbarer. Herrschende und Beherrschte werden sich zwar aufeinander einstellen, aber in welcher Richtung sich beide bewegen, weiß man nicht. Erst bei einer dreiteiligen Binnendifferenzierung des politischen Systems, etwa in Politik, Verwaltung und Publikum, stellen sich Stabilitäten ein, weil jeder Teil jeden Teil beobachten muss und die ausschließliche Beobachtung eines anderen durchbrochen ist. Die Dreier-Beobachtung muss unterschiedlichen Ansprüchen von zwei Seiten genügen, schließt deshalb ein kurzfristiges Aufeinandereinstellen aus, kostet Zeit, verzögert Änderungen und stabilisiert dadurch die gesamten Verhältnisse. Dieser Effekt wird durch einen „Gegenkreislauf der Macht“ verstärkt,28 der durch das Handeln der politischen Akteure entsteht. Jede Machtausübung ist auf Mitwirkende angewiesen, auf Helfer, Informanten und Unterworfene. Diese Mitwirkenden geraten in Bewegung, wenn Macht ausgeübt wird. Nur orientiert sich die Bewegung nicht am Gesamtsystem, sondern am konkreten Machthaber. Dadurch entsteht die Gegenläufigkeit. Schließlich wird das Gesamtsystem noch dadurch verstärkt, dass es seine intern-zirkulären Interdependenzen unterbricht, etwa das gegenseitige Beobachten der Binnendifferenzierungen, indem es seine Umwelt internalisiert oder seine Selbstreferenz externalisiert, beides zwei Seiten desselben Vorgangs. Externalisierungen können Bezugnahmen auf die öffentliche Meinung, auf Personen oder auf das Recht sein. Die Bindung durch selbstgemachte Geschichte (Historisierung) ist eine weitere Möglichkeit, Interdependenzen mit einer externen Beziehung zu durchbrechen. Luhmann29 sieht und will, dass seine Theorie das klassische Legitimationskonzept aufhebt.30 „Die klassische Frage nach der Rechtfertigung des 28
Luhmann, Selbstlegitimation (Anm. 26) S. 74. Luhmann, Selbstlegitimation (Anm. 26) S. 79–82. 30 Ob ihm das gelungen ist, ist allerdings fraglich. Der Sammelband von W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie 29
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Staatshandelns hatte unter der Prämisse gestanden, dass das Handeln nicht seinerseits die Rechtfertigung rechtfertigen könne. Genau das Gegenteil behauptet die Theorie der selbstreferentiellen Konstitution des politischen Systems.“ Deshalb sei „zu fragen, wie das politische System selbst sich auf Indeterminierbarkeiten in seinen Grenzbeziehungen einstellt“. Weiter zu spezifizierende Antworten auf diese Fragen wären: Kreditierung von Macht, Teilnahme von Beteiligten und genauere Einstellung von Externalisierungen auf die Umwelt des politischen Systems. Freilich ist Luhmann selbst sein schärfster Kritiker. Er weiß, dass er nicht über Legitimation im klassischen Sinne als „Rechtfertigung“ gehandelt hat, sondern über die Stabilität moderner politischer Systeme. Er hat nicht Normativität entfaltet, sondern reale Zusammenhänge beschrieben. Allerdings hat er nicht das Thema verfehlt. Auch dem klassischen Legitimitätskonzept ging es um Stabilität, nach dem Wahlspruch des österreichischen Kaisers Franz I. (1804 – 1835): Iustitia fundamentum regnorum. Nur nennt die staatsrechtliche Dogmatik das Phänomen nicht Stabilität, sondern Kontinuität.31 Jedenfalls sucht jede Herrschaft „den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu wecken und zu pflegen“.32 Ein Recht zur Herrschaft festigt und erleichtert die Machtausübung. Das haben bisher noch alle Politiker gewusst, bis zu Hitler, der legal (!) an die Macht kommen wollte.33 Unter dem Aspekt der Stabilität hat Luhmann aber mehr und Besseres anzubieten als Recht: strukturierte soziale Unterstützung, keinen Konsens zwar, wie ihn die Verfechter der verfassunggebenden Gewalt für nötig halten, aber doch empirisch und theoretisch überprüfbare Beziehungen, die die relative Dauerhaftigkeit politischer Macht erklären können. Luhmanns „Selbstlegitimation“ könnte man sogar als Rezeptbuch für Politiker lesen, wenn die Schrift nicht zugleich verdeutlichte, dass die soziale Realität für Rezepte zu komplex ist. Trotzdem bleibt eine offene Frage. Zwar werden in den letzten Jahren Staat und Verfassung nicht mehr streng geschieden,34 aber in Gerichtsverfahren und in der politischen Praxis ist die Verfassung selbstverständlich ein Rechtsgesetz, das eine rationale Argumentation und rechtliche Entscheidungen erlaubt. Verfassungsrecht versetzt Politik und Rechtssystem in die Lage, das gesamte positive Recht nach verfassungsmäßig und verfassungswidrig zu unterscheiden35 und gleichsam über seine Geltung hinaus zu legiund Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 1996, orientiert sich durchweg noch am klassischen Legitimationskonzept. 31 Repräsentativ E. Klein, Staat und Zeit, Paderborn 2006, bes. S. 20 f. 32 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. (Studienausgabe) Tübingen 1976, S. 122. 33 Vgl. J. C. Fest, Hitler. Der Führer, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 537. 34 Zum Problem grundlegend H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999, S. 1065–1074.
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timieren oder zu delegitimieren. „Verfassungsmäßig“ bedeutet immer auch „politisch akzeptabel“, weil die Politik das Verfassungsmäßige akzeptieren muss. Unser Problem ist freilich, dass die Verfassung selbst als positives Recht nach Rechtfertigung verlangt. Ihre Berechtigung als Grundordnung eines legitimen Staates leistet diese Rechtfertigung gerade nicht. Verfassungen kann man ändern, Staaten nur schlecht und jedenfalls in anderen Verfahren. Ein Staat und sein Verfassungsrecht können also auseinander fallen, und für diesen Fall sollten wir wissen, ob eine Verfassung Befolgungsansprüche erheben darf oder nicht. Deshalb darf man nicht nur nach der Legitimation des Staates, man muss daneben und ohne Bezugnahme auf den Staat nach der Legitimation der Verfassung fragen.36 Die Unterscheidung von Staat und Verfassung ist freilich eine starke Vereinfachung, die den Blick auf die historische und evolutionäre Bedeutung der Verfassung einschränkt. Aber ohne diese Einschränkung gewinnt man keine Klarheit.37 Formal ist die Unterscheidung leicht durchzuführen. Man braucht die Verfassung nur als positives Recht neben dem Staat zu betrachten, wie etwa das Verwaltungsverfahrensgesetz oder das Strafgesetzbuch, also als spezifische Grundlage für rechtliche oder politische Entscheidungen. Die inhaltliche Unterscheidung von Staat und Verfassung fällt erheblich schwerer, weil sie bedeutet, die Verfassung von ihrer Funktion zu lösen, Politik zu ermöglichen und zu begrenzen. Funktional gesehen dient die Verfassung dem Machterhalt und der Machtbegrenzung. Auf Macht kann es aber nicht ankommen, wenn es um die Richtigkeit von Befolgungsansprüchen geht.38 Das heißt, der Bezug zur Macht muss ausgeblendet werden. Im Bezug zur Macht bestand freilich gerade der besondere Reiz und Realismus der Luhmann’schen Theorie. Aber die Berücksichtigung der Macht führt unweiger35 Näher N. Luhmann, Die Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176, 189. 36 Damit ist zugleich eine materialistisch-marxistische Antwort auf die Frage nach der Legitimation einer Verfassung ausgeschlossen. Interdependenzen zwischen Recht und Wirtschaft sind selbstverständlich nicht zu leugnen. Aber sie werden strukturell immer wieder unterbrochen. Das verkennt bei seiner sonst kritischen Bewertung der marxistischen Rechtstheorie H. Klenner, Karl Marx über Legitimationskriterien von Verfassungslegalitäten, in: Brugger, Legitimation (Anm. 30), S. 97–110. 37 Die schöne und instruktive Übersicht über die derzeitige Verfassungsdiskussion von H. M. Heinig, Offene Staatlichkeit oder Abschied vom Staat?, in: Philosophische Rundschau 52 (2005), S. 191, 209 ff., kommt denn auch zu ernüchternden Ergebnissen. Heinig konstatiert einen Mangel an methodischem Bewusstsein. 38 Das übersieht Klein, Staat und Zeit (Anm. 31), S. 21 mit weiteren Nachweisen. Dass Macht eine erhebliche Rolle spielt, ist selbstverständlich richtig, wie man den Beobachtungen Kleins überhaupt zustimmen kann. Analytisch muss man aber zwischen Macht und Recht unterscheiden, wenn man die Rechtfertigungsfrage beantworten will.
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lich in eine soziologische Betrachtungsweise und damit zu der Selbstlegitimation, die Luhmann gezeigt hat. Die Fruchtbarkeit dieses Erklärungsmodells ist zwar nicht zu bestreiten, aber wir benötigen einen Ansatz, an dem wir die Normativität der Verfassungen festmachen können. Einen solchen Ansatz hat Hasso Hofmann39 in der Auseinandersetzung mit Max Weber in einer Präzision des Legitimitätsbegriffes gesehen. Legitimation sei zu verstehen „in dem normativen Sinne der Rechtfertigung staatlicher Herrschaft aus einem einzigen, allgemein-verbindlichen Prinzip“. Das ist kühn, weil das Kriterium des einzigen Prinzips zwar Normativität erzwingt, aber die Möglichkeiten der Rechtfertigung arg beschränkt. Hofmann hat denn auch keine Legitimitätsformel für die Verfassung gefunden, die seinen Ansprüchen genügte. Auf der anderen Seite ist faktisch feststellbare Stabilität keine zureichende Antwort auf die Frage nach der Legitimität. Da nichts ewig ist, kann Stabilität theoretisch jederzeit kippen. Normativität dagegen ist kontrafaktische Erwartung und schließt alle Alternativen so gründlich aus, dass ein Ende der Normativität theoretisch nicht abzusehen ist. Die Probleme der Stabilität sind also tatsächlich auszublenden. Die Frage ist allein, wie die Normativität der Verfassung zu begründen ist. IV. Standpunkt und Methode Die Ausblendung der Macht aus der Diskussion um die Legitimation der Verfassung bedarf der Erläuterung. Zunächst ein Beispiel. Einen großstädtischen Verschiebebahnhof kann man von verschiedenen Standpunkten aus betrachten. Ein Bahnangestellter wird seine Sicherheit und seine Umschlagschnelligkeit rühmen. Ein Künstler wird von der Graphik fasziniert sein, die die Gleise zeichnen. Und ein Volkswirt wird das Verhältnis von Kosten und Leistung preisen. Selbstverständlich können die Urteile auch umgekehrt oder unterschiedlich ausfallen. In jedem Falle sehen alle denselben Bahnhof, alle haben Recht und trotzdem entsteht kein objektives Bild, das jedem Zuhörer oder Zuschauer auch nur eine ähnliche Vorstellung vermittelte.40 Wenn man über Bahnhöfe reden will, muss man also erklären, welchen Standpunkt man einnimmt. Dann besteht die Chance, sich mit den Zuhörern oder Zuschauern zu einigen und ihnen ein einheitliches und – gemessen am Standpunkt – objektives Bild des Bahnhofes zu vermitteln. Entsprechendes gilt für Verfassungen. Man kann Verfassungen als Politiker sehen, als Philosoph, Soziologe, Ökonom, Politologe oder Staatsrecht39
Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung (Anm. 27), S. 21. E. von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: H. von Foerster u. a. (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 1998, S. 9–39, bes. S. 29 ff. 40
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ler, aber auch als Literat, Religionswissenschaftler, Massenpsychologe oder Historiker. Die Bilder, die aus den einzelnen Beobachtungen entstehen, sind meist richtig, wenn man sie auf den Standpunkt des Beobachters bezieht. Besonders häufig kommen Unstimmigkeiten in historischen Darstellungen oder Ableitungen vor, weil der Standpunkt schon die Wahrnehmung von Tatsachen beeinflusst. Seit einigen Jahren werden Verfassungen auch vom Standpunkt der Kultur aus betrachtet,41 was immer man darunter versteht. Da „Kultur“ unbestimmt ist und auch nicht bestimmt werden kann, weil sie auf universalen Vergleich angelegt ist,42 ist allerdings zu befürchten, dass der Standpunkt „Kultur“ die Verfassungsverhältnisse mehr verdunkelt als erhellt und die Verfassung tiefer in den Streit der Meinungen zieht als ihrer parteipolitischen Neutralität gut tut. Für die Legitimation einer Verfassung kommt es jedenfalls wie bei Verschiebebahnhöfen darauf an, den Standpunkt deutlich zu benennen, von dem aus sie beobachtet wird. Hier wird der rechtspositivistische Standpunkt des Richters oder Bürgers eingenommen, der bei der Entscheidung eines Falles die Verfassung anwenden soll. In der Anwendungssituation interessiert sich der Richter für die Verbindlichkeit der Verfassung, also für ihre Rechtfertigung. Die „Weltgesellschaft“, die „Konstitutionalisierung des internationalen Rechtes“ oder der „Formwandel der Staatlichkeit“ beschäftigen ihn dagegen nicht, zumal ihm das Grundgesetz ausdrücklich sagt, dass er das internationale Recht zu beachten hat (Art. 23, 24, 25 GG). V. Neubeginn und Erwartungen Mit diesen Einschränkungen wird der Raum für Rechtfertigungen so eng, dass zunächst die Voraussetzungen der Argumentation festzuhalten sind: Verfassungen sind positive Rechtsnormen, die Politik ermöglichen und begrenzen sollen. Zur Ermöglichung gehören die Organisation von Politik und die Fähigkeit, Recht zu generieren, sowie, das gesamte Recht nach verfassungsmäßig und verfassungswidrig zu unterscheiden. Zur Begrenzung gehört auch die Ausdifferenzierung wichtiger Lebensbereiche wie Person, öffentliche Diskussion, Religion, Familie, Wirtschaft und Wissenschaft durch Grundrechte. 41
Vgl. den Literaturüberblick von Heinig, Offene Staatlichkeit (Anm. 37), S. 209 ff. Ein Beispiel für die Einführung von Kultur in die Rechtstheorie bietet: W. Gephart, Recht als Kultur, Frankfurt a. M. 2006; dazu die Rezension von G. Roellecke, Warum Kultur den Wilden verschlingt, FAZ vom 25. September 2006 Nr. 233 S. 37. 42 N. Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: derselbe, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, Frankfurt a. M. 1995, S. 31, 35 ff.; siehe auch Luhmann, Jenseits von Barbarei, daselbst S. 138, 145 ff.
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Verfassungen in diesem Sinne sind – um mit Hegel zu sprechen – „gemacht“. „Als Berechtigtes“ zeigen sie sich nicht schon dann, wenn sie funktionieren. Im Funktionieren steckt die Machtfrage, die wir ausgeblendet haben. Vielmehr kommt es auf die Fähigkeit der Verfassung an, Änderungen des geltenden Rechtes zu rechtfertigen. Denn das geltende Recht ist richtiges Recht, weil es verfassungsmäßig ist. Das gilt auch für vorkonstitutionelles Recht (vgl. Art. 123 Abs. 1 GG). Zu beantworten ist also die Souveränitätsfrage43: Was rechtfertigt das Recht, das positive Recht zu ändern? Diese Frage kann man zunächst damit beantworten, dass man das Änderungsrecht als radikalen Neubeginn versteht. Radikal neu beginnen kann man nur, wenn man die Vergangenheit ausblendet und allein in die Zukunft schaut. Dann darf und muss man in einem grundlegenden Sinne entscheiden, also im weiten Feld des Ungewissen eine Marke setzen. Die Orientierung, die solch eine freie Setzung schafft, ist Grund genug, sie für richtig zu halten. Wichtig ist das vor allem für die Interpretation von Revolutionen. Die Frage nach der Legitimation erledigt sich aber nur, wenn man mit der Ausblendung der Vergangenheit wirklich ernst macht. Sobald man auch nur nach der Herkunft oder dem Recht des Entscheiders oder nach der Angemessenheit der Entscheidung fragt, unterstellt man eine Kontinuität der Verhältnisse, welche die Vergangenheit wieder einblendet und die Rechtfertigungsfrage erneut aufwirft. Den Anschluss an die Vergangenheit sucht aber jede politische Aktion. Einen „reinen“ Anfang gibt es nicht, weil normative Ansprüche verständlich werden wollen und sich deshalb auf historisch gewachsene Interessen oder Vorverständnisse einlassen müssen. Ohne eine gewisse Kontinuität ist keine Gesellschaft möglich. Neubeginn oder Änderung sind deshalb lediglich Standpunkte, die man einnimmt, wenn man sagen will, ob man eine Rechtfertigung für notwendig hält oder nicht. Historisch ist allerdings keine Revolution ersichtlich, die nicht in einer Kontinuität mit der „überwundenen“ Ordnung gestanden hätte. Für die Französische Revolution hat das am trefflichsten Alexis de Tocqueville in „Der alte Staat und die Revolution“ gezeigt. Selbst die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges haben nach Kriegsende an die deutsche Staatsgewalt angeknüpft.44 Das Recht, das Recht zu ändern, kann nur durch Umstände begründet werden, die nicht mit dem Recht identisch und in diesem Sinne extern sind. Auf diese Umstände muss sich das Recht als lebendes System beziehen. 43 Vgl. G. Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: D. Murswiek/U. Storost/H. A. Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch, Berlin 2000, S. 15, 26. 44 Vgl. „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ vom 5. Juni 1945.
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Wenn es dabei Recht bleiben will, müssen die externen Umstände rechtlich akzeptabel sein. Sie dürfen also nicht Unrecht sein. Legitimation gesetzten Rechtes meint daher genau das, was Luhmann Legitimation durch Externalisierung nennt.45 Anders ist Legitimation in der Tat nicht vorstellbar. Nur unterscheiden sich die Legitimationen von Staat und Verfassung. Für den Staat als Organisation der Politik geht es um seine eigene Stabilität. Ihm kommt es deshalb auf soziale Unterstützung an. Für die Verfassung geht es dagegen um ihre Normativität. Sie muss daher externe Normen in Anspruch nehmen. Etwas anderes als Normen kann sie nicht akzeptieren, zum Beispiel nicht Geschichtsdeutungen wie in der Präambel und im Kapitel 1 „Politische Grundlagen“ der DDR-Verfassung 1968/74, die allerdings wohl normativ gemeint waren. Die inhaltlich bestimmten Normen, die eine Verfassung „als Berechtigte“ zeigen, muss man folglich zunächst in der Verfassung selbst suchen oder sich durch die Verfassung darauf verweisen lassen. Ein der positiven Verfassung vorausgehendes und von ihr unabhängiges Legitimationsprinzip ist nicht zu erkennen. Die Positivität, also die jederzeitige Änderbarkeit der Verfassung, lässt auch Bezugnahmen auf die unterschiedlichsten Normen zu. In konstitutionellen Monarchien beziehen sich die Verfassungen eben auf die Stellung des Monarchen, in rechtsstaatlichen Demokratien auf das Volk und auf Menschen- oder Grundrechte. Fraglich ist allerdings, wie die Legitimität einer Verfassung genauer zu prüfen ist. Eine Antwort fällt leichter, wenn man Norm und Recht im Sinne der Systemtheorie fasst.46 Danach beginnt Normbildung mit Erwartungen von Erwartungen. Eine Norm liegt vor, wenn Verhaltenserwartungen kontrafaktisch stabilisiert sind, das heißt, gegen kognitive Enttäuschungen durchgehalten werden. Recht ist die kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen. Auf Einzelheiten kommt es nicht an. Wesentlich ist, Normen haben es mit gegenseitigen Erwartungen von Erwartungen zu tun. Wenn Verfassungen Normen in Anspruch nehmen, beziehen sie sich also auf Erwartungen von Menschen, einfacher: auf das, mit dem die Leute rechnen und das sie erhoffen, nicht einfach auf Fakten. Insofern sich das Grundgesetz mit seiner Präambel selbst legitimieren will, beruft es sich also nicht platt auf vergangene Ereignisse, auf Geschichte, sondern auf die Erwartungen, die nach den geschichtlichen Ereignissen zu erwarten waren.47 Die etwas „idealistische“ Auslegung der Präambel durch die herrschende Lehre48 ist daher berechtigt. Auf faktische Geschichte und positive Rechtslage musste sich dagegen die oktroyierte preußische Verfassung vom 31. Ja45
Vgl. oben zu Anm. 28. Siehe N. Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl., Opladen 1983, S. 33, 43, 105. 47 Dazu weiterführend S. Kirste, Verfassunggebung als Anfang des Rechts – zeitlich symmetrische Selbstbestimmung und asymmetrische Selbstbindung, Manuskript 2007 unter III, demnächst im Jahrbuch des öffentlichen Rechts 56 (2008). 46
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nuar 1850 berufen. Ihre Schöpfer wussten wie jedermann, dass die Leute von einer Verfassung das erwarteten, was die Paulskirchenversammlung gewollt hatte, und dass die preußische Verfassung diese Erwartungen weitgehend enttäuschte. Also konnten sie sich nicht auf Erwartungen des Volkes beziehen. Die Schöpfer des Grundgesetzes aber kannten die normativen Erwartungen und Hoffnungen der Deutschen. Nach dem Ende des verlorenen Zweiten Weltkrieges erwarteten und erhofften die Deutschen Sicherheit und Recht, nicht „Innovationen“. Das Urverbrechen der Nationalsozialisten war der Versuch gewesen, aus der Entwicklung der westlichen Gesellschaft auszusteigen. Folgerichtig hat sich das Grundgesetz um eine Reintegration in die Völkerrechtsgemeinschaft bemüht und sich dabei an der deutschen Verfassungsgeschichte orientiert, die – abgesehen vom Nationalsozialismus – keine übleren politischen Erfahrungen enthält als die Verfassungsgeschichten der europäischen Nachbarn Deutschlands auch. Außerdem hat der Parlamentarische Rat nach bestem Wissen Vorkehrungen gegen die Wiederkehr einer Diktatur getroffen, in vollem Bewusstsein, dass gegen Geschichte nicht viel zu machen ist. In der Begründung zur so genannten „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG, nach der Föderalismus, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat nicht aufgehoben werden dürfen, heißt es anrührend nüchtern: „Eine Revolution kann und soll dadurch nicht verhindert werden. Eine revolutionäre Bewegung kann gegebenenfalls auch neues Recht schaffen, aber sie soll nicht imstande sein, eine ihr selbst fehlende Legitimität und Rechtsqualität [. . .] zu ersetzen durch Berufung auf ihr äußerlich ‚legales‘ Zustandekommen“.49 Das bedeutet: Wir, der Parlamentarische Rat, sind von der Legitimität des Grundgesetzes überzeugt, seine Stabilität und die der Bundesrepublik können wir aber nicht garantieren. Das ist richtig. Das Widerlager der Normen, mit denen sich eine Verfassung legitimiert, bilden nicht Werte – was immer das ist –, sondern öffentliche Meinung und Geschichte, Philosophien oder politische Theorien nur, soweit sie zur öffentlichen Meinung zu rechnen sind. Mit anderen Worten, die Normen müssen sozial abgestützt sein. Die soziale Unterstützung kann nicht durch Positivierung der legitimierenden Normen ersetzt werden. Jede Legitimation begrenzt insofern die Änderbarkeit des positiven Rechtes, als sie Änderungen außerhalb des legitimierten Bereiches für illegitim erklärt. Das positive 48 T. Maunz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Präambel Rn. 12 ff.; J. Rühmann, in: D. C. Umbach/T. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Heidelberg 2002, Präambel Rn. 17 ff. 49 K.-B. v. Doemming/R. W. Füsslein/W. Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR 1 (1951) S. 586.
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Recht kann aber nicht über seine eigene Änderbarkeit verfügen. Was gesetzt ist, kann auch wieder entfernt werden. Das gilt auch für Art. 79 Abs. 3 GG. Das Gegenargument der herrschenden Lehre: Wenn Art. 79 Abs. 3 GG nicht der Änderung entzogen wäre, könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Schranken der Verfassungsänderung beseitigen,50 ist zwar logisch wahr, sagt aber nicht mehr, als in Art. 79 Abs. 3 GG steht, und folgt dem Muster: Es ist verboten, das Verbot zu übertreten. Vielmehr belegt Art. 79 Abs. 3 GG, dass die Selbstlegitimation einer Verfassung nicht unmittelbar durch positives Gesetz erfolgen kann. Art. 79 Abs. 3 GG mag nicht aufgehoben werden können. Er kann aber ausgelegt werden51 und liefert dadurch die Legitimation des Grundgesetzes der Rechtsprechung aus. Mindestens enthält er die Gefahr, Streitigkeiten über Legitimationsprinzipien zu fördern, die die ausgeblendeten Bezüge zur Ereignisgeschichte wieder einblenden und dadurch Systemvertrauen erschüttern. Wenn sich Selbstlegitimation nicht einfach positiv fixieren lässt, drängt sich allerdings die Frage auf, wie sie anders stabilisiert werden kann. Diese Frage hat Stephan Kirste52 mit der eben so einfachen wie fruchtbaren Einsicht beantwortet, Verfassunggebung setze neue Anfänge. Sie bestimme das Selbst des Volkes neu und binde für die Zukunft, indem sie das Jetzt und das Morgen beschreibe. Die Vergangenheit wird gleichsam ausgeblendet. Dadurch werden Alternativen zum geltenden (Verfassungs)Recht ausgeschlossen. Die Idee des Neuanfangs hebt auch Hegels Argument auf, eine Abstimmung über eine Verfassung sei nicht möglich, weil die Abstimmung eine Verfassung im Sinne einer Mindestorganisation voraussetze. Insofern ermöglicht die Idee des Neuanfangs auch Volksabstimmungen über eine Verfassung. Eine andere Frage ist, ob Volksabstimmungen nicht viel zu viel Geschichte transportieren, als dass sie einen Neuanfang symbolisieren könnten. Aber das mag offen bleiben. Trotzdem fehlt der These, Verfassunggebung setze einen grundsätzlichen Anfang, der Schluss-Stein. Wie bereits betont,53 kann es keinen absoluten Neubeginn, keine „Stunde Null“ geben, weil bei absolutem Anfang keine 50
Siehe jüngst wieder H. Wilms, Staatsrecht I, Stuttgart 2007, Rn. 48, Zu Auslegungsmöglichkeiten J. Isensee, Schlussbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 146, in: HStR VII § 166 Rn. 68. Hier soll die Diskussion über Art. 79 Abs. 3 GG nicht fortgesetzt werden. Aber der Gedanke, Art. 79 Abs. 3 GG regele die verfassungsstaatliche Souveränität, mutet etwas fremd an angesichts der Tatsache, dass die Bundesrepublik bei Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht souverän war. 52 Kirste, Verfassunggebung (Anm. 47) unter V. Siehe auch S. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, Berlin 1998. 53 Oben zu Anm. 44. 51
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Kommunikation mehr möglich wäre. Schon die Sprache relativiert jeden Anfang. Außerdem können Zeit und (Ereignis)Geschichte nicht einfach getrennt werden. Geschichte läuft ständig neben der Zeit her und drängt der Zeit immer wieder die Ereignisse auf.54 Die bloße Ausrufung des Anfangs genügt daher nicht. Der Anfang muss auf Dauer gestellt werden. Das geschieht auch, und zwar durch den Ewigkeitsanspruch, mit dem Verfassungen aufzutreten pflegen. Verfassungen wollen immer gelten, auch wenn die Änderung von Einzelheiten nicht ausgeschlossen ist. Der Ewigkeitsanspruch erklärt den Anfang für unverrückbar und damit zum Maßstab für alle Rechtsänderungen. Er ist die Zukunft des Anfangs. Allerdings kann sich auch der Ewigkeitsanspruch der Geschichte nicht völlig entziehen. Wenn er zu oft und zu dicht hintereinander erhoben wird, verliert er seine Verbindlichkeit, selbst wenn es bei jeder „Selbstverewigung“ Tote gab. Alexis de Tocqueville55 spottet über die „neun oder zehn Verfassungen, die in Frankreich seit sechzig Jahren auf ewige Zeiten eingeführt worden sind“. Beurteilt man die Legitimation nach dem Ewigkeitsanspruch von Verfassungen waren die Verfassungen der konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts schlecht legitimiert. Am klügsten war die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849, die ein Muster für die folgende Verfassunggebung werden sollte.56 Sie berief sich nicht auf die Legitimität der Monarchen, sondern knüpfte an den Deutschen Bund an und bezog sich so auf die beteiligten deutschen Staaten. Damit hing die Legitimität der Paulskirchenverfassung aber nicht einfach an der Legitimität der Einzelstaaten, sondern an ihrer Zusammenfassung, an der Zukunft der einen deutschen Nation. Die Souveränitätsfrage konnte offen bleiben. Über die materielle Rechtfertigung entschied der Inhalt der Verfassung. Für eine Übergangszeit war das eine kluge Lösung, die denn auch von den späteren deutschen Verfassungen mehr oder weniger deutlich übernommen wurde. In den einzelstaatlichen Monarchien dagegen musste die Souveränitätsfrage im Sinne der Monarchen beantwortet werden, weil die Monarchen sie bereits in Art. 57 der Wiener Schlussakte vom 8. Juni 1820 ausdrücklich in Anspruch genommen hatten. Die Souveränität zeigte sich freilich schon damals als schwache Legitimation. Im Grunde weist sie die Legitimationsfrage nur zurück, und das genügt gerade für eine Übergangszeit nicht.57 Noch schwächer war die Stel54 Grundlegend N. Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems – Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System. Talcott Parsons’ Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1979, S. 32, 40 ff. 55 A. de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution (1856), München 1978, S. 68. 56 Vgl. G. Roellecke, Von Frankfurt über Weimar und Bonn nach Berlin, in: JZ 2000, S. 113–117.
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lung der regierenden Häuser. Sie verdankten ihre staatsrechtliche Position anfänglich ausschließlich dem Alten Reich. Nachdem das Alte Reich 1806 geendet hatte, regierten die Häuser nur noch kraft einer bereits erodierenden Tradition, eines Gottesgnadentums, an das niemand mehr glaubte, und kraft eines positiven Verfassungsrechtes, das das Volk kaum verstand und das die wichtigsten Monarchen nicht wollten. Das Verfassungsrecht hatte auch weniger die Aufgabe, den politischen Apparat zu tragen, als vielmehr, einen Ausgleich zwischen den politischen Gruppierungen herzustellen.58 Seine Legitimation war schwach. Das Problem der konstitutionellen Monarchie waren aber nicht ihre Verfassungen, sondern die Stabilität ihrer Staaten. VI. Zusammenfassung 1. Damit die Politik allen neuen Problemen mit Hilfe des Rechtes begegnen kann, muss das Recht positiv, das heißt jederzeit nach allen Richtungen änderbar sein. Die Änderungsmöglichkeiten dürfen jedoch nicht zur Willkür führen. Deshalb gibt ihnen die Verfassung Grund und Form. Rechtsänderungen sind gerechtfertigt, wenn und soweit sie der Verfassung entsprechen. Das kann logisch jedoch nicht für die Verfassung selbst gelten. Weil sie grundlegende und höchste Norm ist, kann es keine positive Norm geben, die sie rechtfertigt. 2. Die Verfassung lässt sich nicht mit einer verfassunggebenden Gewalt rechtfertigen (Rousseau), weil die Einheit einer verfassunggebenden Gewalt nicht begreiflich zu machen ist. Die Rechtfertigung der Verfassung der Geschichte zu überlassen (Hegel), wird ihrer Positivität nicht gerecht und zwingt dazu, das Rechtfertigungsproblem ideologisch zu lösen. 3. Das Problem, das sich für die Rechtfertigung von Verfassungen aus Setzung und Geschichte ergibt, hat Niklas Luhmann mit seiner „Theorie der selbstreferentiellen Konstitution des politischen Systems“ gelöst. Diese Theorie setzt auf Selbstlegitimation, Inanspruchnahme der politischen Kräfte durch den politischen Prozess selbst und auf soziale Unterstützung. Sie ist aber vornehmlich an der Stabilität des Systems, also an der Macht interessiert und vernachlässigt die normative Seite der Verfassung. 4. Für die normative Rechtfertigung von Verfassungen ist der Gedanke an Macht auszublenden, der Gedanke der Selbstlegitimation jedoch aufzunehmen. Stephan Kirste hat gezeigt, dass man Verfassungsgebung am 57
Näher Roellecke, Souveränität (Anm. 43), S. 17 f. Dazu immer noch grundlegend E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: derselbe, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 273–305, bes. S. 291 ff. 58
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besten zeitlich als Neubeginn beschreibt. Damit kann sich eine Verfassung in der Tat auf ihre Umwelt einstellen und sie nach verfassungswidrig/verfassungsmässig sortieren. Der bloße Neubeginn orientiert, indem er Alternativen ausblendet und Vertrauen in die Zukunft begründet. 5. Der einfache Neubeginn reicht freilich nicht aus. Die Geschichte nagt an ihm, sowohl als Vergangenheit wie als mitlaufende beobachtbare Realität. Verfassungen pflegen dem Anfang, den sie setzen, deshalb mit einem Ewigkeitsanspruch Dauer zu verleihen. Die Verewigung des Anfangs rechtfertigt die normative Verbindlichkeit der Verfassung.
Legislative Handlungsmöglichkeiten und Handlungspflichten nach der Föderalismusreform Edzard Schmidt-Jortzig Heinrich Siedentopf hat sich im vergangenen Jahrzehnt mehrfach mit Fragen der Staatsreform beschäftigt. Dabei spielten die Wandlungsbedarfe überkommener Staatlichkeit in der europäischen Integration eine vorrangige Rolle, und das Hauptaugenmerk lag auf der Verbesserung und Straffung des Verwaltungssektors.1 Aber die Modernisierung speziell des bundesstaatlichen Ansatzes in Deutschland war dabei allenthalben mit einbezogen. Denn in Deutschland muss er wegen Art. 79 Abs. 3 GG nun einmal das Fundament für Reformüberlegungen zu jeder Staatsfunktion abgeben. Ein besonderer Schwerpunktbereich Siedentopfs, nämlich der öffentliche Dienst,2 wird davon ja auch gezielt erfasst, weil die zugehörende Regelungshoheit sich zwischen Bund und Ländern abschichtet und ein Ausbau der Landesbefugnisse also (neue) Disparitäten hervorzurufen vermag, die störend aber auch belebend wirken können. Die sogenannte „Föderalismusreform“ ist mithin gewissermaßen ein Querschnittsproblem Siedentopfscher Forschung und soll deshalb hier in einem speziellen Aspekt beleuchtet werden. Dass die Neuverteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern und vor allem die Neustrukturierung der bundesstaatlichen Gesetzgebungstypen Hauptgegenstand der Föderalismusreform 20063 1 Vgl. nur die Dokumentationen der von Siedentopf gestalteten und organisierten Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquien: Europäische Integration. Modernisierung des Staates, Speyer 1998; Europäische Integration. Modernisierung des Staates, Speyer 1999; Staatsreform. Europapolitik, Speyer 2000; Modernisierung von Staat und Verwaltung. Reform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Speyer 2001. Auch: Siedentopf, Verwaltung 2000. Modernisierungskonzepte in europäischen Staaten, Krefeld 1992. 2 Beispielsweise Siedentopf, Zweckrationalität und Opportunität bei der Dienstpostenbewertung, Speyer 1976; Bewertungssysteme für den öffentlichen Dienst, Baden-Baden 1978 (2. Aufl. 2004); Personalbemessung in der Ministerialverwaltung, Speyer 1979; Public personal management in Asian Civil Services, Speyer 1983; Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung, Speyer 1989. 3 (52.) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 (BGBl. I S. 2034). – Die nachfolgenden Darlegungen folgen den Ausführungen, die der Verfasser am 15.6.2007 auf dem „11. Schleswiger Forum zum Öffentlichen Recht“ vorgetragen hat.
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waren, ist bekannt. Man versprach und verspricht sich davon eine Stärkung der Landespolitik, ein größeres Landesgewicht im Bundesstaat und vielleicht einen Einstieg in den Wettbewerbsföderalismus. Wie weit sich diese Hoffnungen allerdings realisieren, lässt sich noch nicht absehen. Schon während des Reformprozesses wurde ja deutlich, dass nicht wenige Bundesländer respektive die Landespolitiker sich letztlich vor der neuen Gestaltungsfreiheit durchaus scheuen, weil die eben auch größere Verantwortung bedeuten würde. Und dass die Menschen in Deutschland zwar intensiven Regionalpatriotismus pflegen (vor allem wenn an den Bestand ihres Landes gerührt werden soll), aber die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet tunlichst gleichförmig haben wollen, ist ebenfalls eine bekannte Erscheinung. Vorerst jedenfalls sieht es so aus, als würden nur wenige Länder sich bei der Eigengestaltung stärker engagieren. Und das scheinen möglicherweise auch nur jene zu sein, die größenmäßig und wirtschaftlich einigermaßen kräftig dastehen. I. Legislative Handlungspflichten Wirkliche Gesetzgebungs-Notwendigkeiten – wohlgemerkt: rechtlicher Art – ergeben sich aus der Föderalismusreform allein zunächst nicht. Wo immer Gesetzgebungszuständigkeiten vom Bund auf die Länder übergegangen sind, gelten die bis dahin erlassenen Bundesgesetze als solche fort. Das stellt Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG unmissverständlich klar. Die betreffenden Bundesregelungen können künftig allerdings durch Landesrecht ersetzt werden, aber müssen es eben auch nicht (Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG). Und für die gegenteilige Konstellation gilt dasselbe: Landesgesetze, für welche die Regelungszuständigkeit nun auf den Bund übergegangen ist,4 gelten solange als Landesrecht fort, wie der Bund nicht eigene Vorschriften an ihre Stelle setzt (Art. 125a Abs. 3 GG); aber auch er ist dazu nicht verpflichtet. Erst recht besteht diese Regel schließlich dort, wo eine Bundeszuständigkeit durchaus auch künftig gegeben ist, die betreffende Kompetenz aber aus der (jetzt abgeschafften) Rahmenzuständigkeit in die ausschließliche oder konkurrierende Bundesregelungshoheit überwechselt: Art. 125b Abs. 1 Satz 1 und 2 GG.5 Hier können jetzt die Länder – zum Teil nach gewisser Ka4
Das betrifft vor allem die Materien: Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus in bestimmten Fällen (neuer Art. 73 I Nr. 9a GG) sowie Apothekenwesen, Recht der Medizinprodukte und der zur Lebensmittelgewinnung dienenden Tiere (neuer Art. 74 I Nr. 19 und 20 GG). 5 Das gilt einerseits (jetzt ausschließliche Bundeskompetenz) für das Melde- und Ausweiswesen sowie den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland, andererseits (jetzt konkurrierende Bundeszuständigkeit) das Statusrecht der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften sowie der Richter in
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renzzeit – abweichendes Recht setzen (Art. 125b Abs. 1 Satz 3 i. V. m. 72 Abs. 3 Satz 1 GG), aber sie müssen es eben nicht. Für die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienste der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen sowie der Richter in den Ländern hinsichtlich der Statusrechte und -pflichten (mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung) wird freilich nicht einmal dieses Modifizierungsrecht eingeräumt. Insgesamt herrscht für die Landesgesetzgeber in dem Bereich also ein „Mikadoprinzip“: Wer sich nicht rührt, der kommt auch nicht in Verantwortungsschwierigkeiten. Rechtliche, d.h. nicht nur mögliche politische Zwänge zur Gesetzgebung kann es danach durch die Föderalismusreform lediglich in Verbindung mit anderen Auslösungsfaktoren geben. 1. Fortwirkende Ausformungspflichten Dazu gehört als erste zunächst die Ausfüllungs- und Detaillierungsnotwendigkeit für die als Rahmengesetze erlassenen und (nun in anderer Form) weitergeltenden Bundesgesetze. Nach Art. 75 Abs. 3 GG a. F. waren die Länder ja verpflichtet, „innerhalb einer durch das (Rahmen)Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen“. Und dazu gehörten alle Regelungen, durch die „das Gesetzgebungswerk über den zu ordnenden Gegenstand (erst) in sich geschlossen und vollziehbar wird“.6 Ob solche Ausgestaltungspflichten tatsächlich in irgendeinem Land noch unerledigt sind, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Das scheint jedoch ziemlich unwahrscheinlich, denn die betreffenden Bundesrahmengesetze sind alle schon des längeren in Geltung, und von irgendeiner Folgepflichtvernachlässigung der Länder war bisher nichts zu hören. Rein abstrakt aber bestünden solche „Verpflichtungen der Länder zur Gesetzgebung“ eben fort (Art. 125b Abs. 1 Satz 2 GG). 2. Extern hervorgerufene Vollzugserfordernisse Als weitere nun mittelbar entstandene Gesetzgebungspflicht der Länder sind solche Obligatorien aufzuführen, die durch europäische Rechtsetzung oder völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst werden, zum Wirksamwerden ihres Gegenstandes eine nationale Umsetzung oder Transformation benötiden Ländern (ohne Laufbahnen, Besoldung und Versorgung), Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse, Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege sowie Bodenverteilung, Raumordnung und Wasserhaushalt. 6 BVerfGE 4, 115 (130).
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gen und in der betreffenden Regelungszuständigkeit sich zwischen Bund und Ländern durch die Föderalismusreform verändert haben. Bekanntlich ist die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten Sache des Bundes (Art. 32 Abs. 1 GG). Und deshalb hat er auch eine entsprechende internationale Vertragsabschlusskompetenz, und zwar selbst dort, wo Gegenstände der Landesgesetzgebung betroffen sind. Damit wird hier ohne weiteres auf die sogenannte zentralistische Ansicht abgestellt, die in auswärtigen Angelegenheiten neben der nach Art. 32 Abs. 3 GG bestehenden singulären und gebundenen Vertragsabschlusskompetenz der Länder stets zugleich eine konkurrierende Befugnis des Bundes annimmt.7 Diese Frage soll hier aber nicht vertieft werden, weil die Praxis sich längst mit der geschilderten Version arrangiert hat und das Nebeneinander der Kompetenzen nach dem Lindauer Abkommen von 19578 handhabt. Soweit Gegenstände der Bundesgesetzgebung in dem völkerrechtlichen Vertrag geregelt werden, erfolgt jedenfalls die notwendige legislative Zustimmung und Transformation in Form eines Bundesgesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG). Und soweit Gegenstände der Landesgesetzgebung betroffen sind, muss die den Bundespräsidenten zum Vertragsabschluss ermächtigende Zustimmung zwar ebenfalls durch ein Bundesgesetz erteilt werden, die Transformation in nationales Recht bedarf jedoch einschlägiger Landesgesetze.9 Da die Länder durch die Föderalismusreform nun eine Reihe von Regelungskompetenzen hinzugewonnen haben, würde also hier auch die entsprechende Transformationsgesetzgebung neu auf sie zukommen. Verfassungsrechtlich ist ein Gesetzgeber zwar nie zur betreffenden legislatorischen Zustimmung verpflichtet, aber völkervertragsrechtlich, also im Außenverhältnis, besteht eine solche Pflicht – und zwar des Bundes für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt – allemal. Deshalb wird bei einem 7 Dazu ausführlich M. Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl., Heidelberg 2004, Rn. 126 ff.; und im einzelnen etwa R. Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, Heidelberg 1992, § 174 Rn. 17 ff.; K. Stern, Auswärtige Gewalt und Lindauer Abkommen, in: Festschrift Carl Heymanns Verlag, Köln 1995, S. 231 ff.; S. Magiera, Außenkompetenzen der deutschen Länder, in: K. Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung, Berlin 1997, S. 97 ff.; oder H.-J. Papier, Abschluss völkerrechtlicher Verträge und Föderalismus, in: DÖV 2003, S. 265 ff. 8 Verständigung zwischen der Bundesregierung und den Staatskanzleien der Länder über das Vertragsschließungsrecht des Bundes v. 14.11.1957 (in Lindau), in: BullBReg 1957, S. 1966. 9 Ausführlich W. Rudolf, Mitwirkung der Landtage bei völkerrechtlichen Verträgen und bei der EG-Rechtssetzung, in: Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für K. Carstens, Bd. 2, Köln 1984, S. 757 ff.; ders., Völkerrechtliche Verträge über Gegenstände der Landesgesetzgebung, in: Rechtsfragen im Spektrum des Öffentlichen. Festschrift für H. Armbruster, Berlin 1976, S. 59 ff.
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beabsichtigten Vertragsabschluss des Bundes über Landesgesetzgebungsgegenstände (um von vornherein eine Übernahmeverweigerung der Länder und damit eine Nichterfüllung der völkerrechtlichen Bundes-Vollzugspflicht zu vermeiden) zuvor gemäß Nr. 3 des Lindauer Abkommens das Einverständnis der Länder eingeholt und die dann gegebene Länderpflicht zur Umsetzungs- und Ausführungsgesetzgebung aus dem Grundsatz der Bundestreue hergeleitet.10 Ganz ähnlich zeigen sich die Verhältnisse bei der umsetzungsbedürftigen Normgebung der Europäischen Union, also bei europäischen Richtlinien nach Art. 249 Satz 3 EGV. Auch hier haftet die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat für die Umsetzung,11 innerstaatlich aber muss diese Pflicht von den nach der Legislativzuständigkeit berufenen Gesetzgebern erfüllt werden. Bei neu gewonnenen Regelungskompetenzen sind dafür nach der Föderalismusreform also die Länder zuständig. Dass im Übrigen die Verfassung auch hier Vorkehrungen trifft, um ein Auseinanderdriften der europäischen Interessen oder Pflichten des Bundes und der Interessen der ggf. umsetzungsverpflichteten Länder zu vermeiden, sei nur der Vollständigkeit halber noch erwähnt (Art. 23 Abs. 4 bis 6 GG). Namentlich an der ausgeprägten Einschaltung der Länder in die europapolitische Willensbildung des Bundes via Bundesrat hat ja die Föderalismusreform trotz verbreiteter Forderungen12 nichts geändert. Selbstverständlich rückt aber ggf. auch der Bund in entsprechende Umsetzungspflichten ein, wenn ihm nach der Föderalismusreform die innerstaatliche Gesetzgebungszuständigkeit zugewachsen ist. 3. Ermächtigungsnotwendigkeit für Grundrechtseingriffe Eine letzte Möglichkeit mittelbarer Gesetzgebungspflichten nach der Föderalismusreform kann sich aus verfassungsrechtlichen Bedingungen ergeben. Eine solche Konstellation tritt dann ein, wenn aus Gründen des Gesetzesvorbehalts für bestimmte Staatstätigkeiten zwingend ein Gesetz von10 Auch hierzu Schweitzer, Staatsrecht III (Anm. 7), Rn. 460 m. Nachw. Im wirklichen Konfliktfall könnte die Ausführungsgesetzgebung vom Bund durch legislative Ersatzvornahme im Wege des Bundeszwangs nach Art. 37 GG vorgenommen werden. 11 Das folgt ipso iure aus der Struktur der Europäischen Union und ist ausdrücklich in Art. 10 EGV niedergelegt. Das Grundgesetz spricht insoweit von der „gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes“ (Art. 23 V 2 und VI 2). 12 Siehe nur Schmidt-Jortzig, Zur Europatauglichkeit des Grundgesetzes zwölf Jahre nach Maastricht, in: K. Dicke/S. Hobe/K.-U. Meyn u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum J. Delbrück, Berlin 2005, S. 621, 628 ff. m. w. Nachw. in Anm. 22.
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nöten ist und nun die entsprechende Gesetzgebungszuständigkeit auf den anderen bundesstaatlichen Handlungspartner übergegangen ist. Als Beispiel mag der Jugendstrafvollzug gelten. Seit langem wird ja rechtspolitisch gefordert, dass dieser besonders sensible Bereich eine eigenständige Gesetzesgrundlage brauche. Und nachdem das Bundesverfassungsgericht zudem rechtsdogmatisch schon vor Jahren ein Gesetz für das Jugendstrafverfahren verlangt hat,13 wurde diese Notwendigkeit nun unlängst auch für den Jugendstrafvollzug autoritativ festgestellt.14 Die Zuständigkeit zur Regelung des (gesamten) Strafvollzugs ist aber durch die Föderalismusreform von der konkurrierenden Gesetzgebungshoheit des Bundes, der bisher ein Jugendstrafvollzugsgesetz nicht zustande bringen konnte, auf die Länder übergegangen. Nun müssen sie also das legislative Obligo erfüllen. II. Legislative Handlungsmöglichkeiten Sind mithin wirkliche, unmittelbare Gesetzgebungspflichten nach der Föderalismusreform nicht auszumachen, gibt es Chancen zur normativen Gestaltung um so reichhaltiger. Gerade das war ja auch die Absicht der Föderalismusreform 2006. Man wollte die Regelungshoheiten zwischen Bund und Ländern entflechten und dadurch die politische Bewegungsfähigkeit des Bundesstaates wieder vergrößern. 1. Veränderte Regelungshoheiten Wo auf diese Weise den beiden föderativen Partnern, Bund und Ländern, Gesetzgebungszuständigkeiten zugewachsen sind, haben sie jeweils auch neue legislative Optionen gewonnen. Ob und wie sie diese ausnutzen, ist nun allein Sache praktischer Politik. Bleiben die staatlichen Akteure untätig, ist nichts verschlagen, mitunter kann dann aber der föderative Counterpart tätig werden. a) Zunächst einmal ist dabei zu registrieren, dass trotz aller Länderfreundlichkeit der Reform auch der Bund neue Gesetzgebungszuständigkeiten errungen hat.15 Das betrifft die Kompetenztitel „Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalpolizeiamt“ in bestimmten Fällen (neuer Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG),16 „Recht des Apothe13
BVerfGE 107, 104 (120) Ls. 3. BVerfGE 116, 69 ff. 15 Dazu bereits oben mit Anm. 4. 16 Vgl. C. Tams, Die Zuständigkeit des Bundes für die Abwehr terroristischer Gefahren, in: DÖV 2007, S. 367 ff. 14
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kenwesens, der Arzneien (und) der Medizinprodukte“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG)17 oder das Recht der zur Lebensmittelgewinnung dienenden Tiere (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG).18 Andere neu anmutende Notierungen bei den Kompetenzen der konkurrierenden Bundes-Gesetzgebungszuständigkeit scheinen demgegenüber nur präzisere oder differenziertere Fassungen der alten Zuschreibung zu sein.19 Im Übrigen ist dem Bund auch dadurch gewiss neuer Regelungsspielraum zugewachsen, dass mit der Neufassung von Art. 72 Abs. 2 GG für manche Materien seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit ausdrücklich die strenge Erforderlichkeitsklausel außer Anwendung gesetzt wurde (weshalb hier der Unterschied zur ausschließlichen Legislativkompetenz wohl nur noch taktisch vorhanden ist). Die betreffenden Rechtszuwächse des Bundes resultierten jedenfalls nicht aus irgendwelchen Kompensationsbestrebungen, sondern entsprachen wirklich sachlichen Einsichten. Allgemein politisch freilich ist abzusehen, dass der Bund etwa bei den BKA-Befugnissen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismusses gesetzgeberisch zügig aktiv werden wird, in anderen Bereichen dagegen eher langsamer plant. b) Für die Länder fallen die Zuständigkeitsgewinne ansatzgemäß ungleich größer aus. Und sie kommen dadurch zustande, dass entweder aus der jetzt abgeschafften Bundes-Rahmengesetzgebung einige Kompetenztitel gänzlich wegfallen bzw. bei der Neuzuteilung ausdrücklich ausgenommen sind oder dass auch bei der konkurrierenden Bundesgesetzgebung im Bereichskatalog nun bestimmte bisher aufgeführte Materien gestrichen bzw. expressis verbis ausgegrenzt werden. Zur ersten Variante zählt etwa das im Reformprozess heiß umkämpfte Laufbahnrecht der Beamten der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Aber ebenso gehören hierher die nicht auf Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse sich beziehenden allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse oder das Melde- und Ausweiswesen. Zur zweiten Variante sind der Strafvollzug (inklusive des Rechts des Untersuchungshaftvollzugs) zu rechnen sowie das Versammlungsrecht, das Heimrecht und aus dem früheren Globaltitel „Recht der Wirtschaft“ das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von 17 Sofern diese Regelungsbereiche nicht bereits von der bisherigen Pauschalbezeichnung „Verkehr mit Arzneien“ miterfasst waren, was die Begründung zum Föderalismusreform-Gesetzentwurf indessen verneint (Bundestags-Drucks. 16/813, S. 13 „Zu Doppelbuchstabe jj“). 18 Die sprachlich etwas unglückliche Formulierung in der Verfassungsvorschrift hätte man gewiss vermeiden können. 19 So in Art. 74 I GG etwa bei Nr. 18 (bisher: „Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen“) oder Nr. 26 (bisher: „Künstliche Befruchtung beim Menschen“).
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Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte, außerdem das Recht der Flurbereinigung, der nicht-städtebauliche Grundstücksverkehr und das landwirtschaftliche Pachtwesen oder der Schutz vor „verhaltensbezogenem Lärm“. All diese Regelungsfelder fallen damit nach Art. 70 Abs. 1 GG grundsatzgemäß in die Landeszuständigkeit zurück. Wo und wieweit die Länder hier allerdings schon bald oder überhaupt gesetzgeberisch tätig werden, lässt sich kaum prognostizieren. Maßgeblich wird neben substanzieller Zuspitzung der Sachverhalte und/oder tagespolitischem Druck gewiss der selbstgestalterische Ehrgeiz der Landespolitiker sein und damit auch ihre entsprechende Verantwortungsbereitschaft. Erstes Anstrengungsziel wird dabei neben dem Dienstrecht der Landes- und Kommunalbeamten voraussehbarerweise auch etwa das Heimrecht sein.20 Dass die Länder zudem, wo der Bund neue konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen erhalten hat, noch weitere Gestaltungsmöglichkeit besitzen, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat“ (Art. 72 Abs. 1 GG), sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Diese generelle Regelungsgelegenheit bestand ja auch bisher schon, sie erstreckt sich jetzt nur u. U. auf andere Materien. Hinzuweisen bleibt schließlich noch auf zweierlei. Zum einen werden die bis zum Inkrafttreten der Föderalismusreform (1.9.2006) nicht wahrgenommenen „alten“ legislativen Handlungsmöglichkeiten in keiner Form irgendwie für die Zukunft konserviert. Fort gelten nur erlassene Gesetze, nicht aber bloße Optionen. Die Föderalismusreform wollte insoweit einen wirklichen Zwischenstrich ziehen und die föderative Staatlichkeit neu justieren. Bekanntlich wurde davon ja beispielsweise auch der Bundesgesetzgeber so überrascht, dass er mit einem Gesetzesbeschluss in „neu“ entstandene Verfassungswidrigkeit hineinrutschte, ohne es zu bemerken.21 Zum anderen lässt die geänderte Verfassung in einem schmalen Ausschnitt immerhin Reaktionsmöglichkeiten der föderativen Gegenseite zu, wenn ein Gesetzgeber von seiner neu gewonnenen Regelungszuständigkeit keinen Gebrauch macht. Das ist für den Bereich vorgesehen, in welchem der Bund bei Materien der abgeschafften Rahmenzuständigkeit jetzt als konkurrierender Gesetzgeber Vollregelungen (und nicht nur Grundsatzfestlegungen) vornehmen könnte, dies aber vorerst nicht tut, sondern es bei den 20 So etwa auch W. Försterling, Kompetenzrechtliche Probleme nach der Föderalismusreform, in: ZG 2007, S. 36, 59 ff. 21 Verbraucherinformationsgesetz (Bundestags-Drucks. 16/1408), vom Bundestag am 29.6.2006 beschlossen (StenBer. 16/4053 D) und dann vom Bundespräsidenten laut Entscheid vom 8.12.2006 (Bundesrats-Drucks. 584/06) wegen „klaren Verstoßes“ gegen den von der Föderalismusreform gerade neu ins Grundgesetz aufgenommenen Art. 84 I 7 nicht ausgefertigt.
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ja weiter geltenden alten Rahmenvorschriften belässt. Dann nämlich dürfen die Länder nach Art. 125b Abs. 1 Satz 3 GG beim Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine), der Bodenverteilung und der Raumordnung für ihren Bereich abweichende Regelungen treffen.22 Die Föderalismusreform will hier augenscheinlich auch insoweit eine grundsätzliche Remedur schaffen, als der Bund nicht einmal durch Untätigbleiben die alte Rechtslage perpetuieren können soll. 2. Rückholbefugnis der Länder Legislative Handlungsmöglichkeiten entstehen durch die Föderalismusreform im Übrigen aber noch durch das neue Abweichungs- oder Rückholrecht des jeweils bundesstaatlichen Gegenspielers. Für den Bund ist dies Instrument nur bei den wenigen jetzt ihm zugeordneten früheren Landesmaterien verwirklicht, bei denen die bisherigen Regelungen als Landesrecht fortgelten.23 Für die Länder jedoch ist hier ein breites neues Gestaltungsfeld eröffnet worden. Und dieser neue Gesetzgebungstyp bedarf noch besonderer Beachtung. Der Zuwachs erfolgt in zweierlei Form. Zum einen kann die Rückholbefugnis durch ein Bundesgesetz eingeräumt werden. Das gab es gemäß Art. 72 Abs. 3 GG a. F. (jetzt: 72 Abs. 4) und 125a Abs. 2 Satz 2 GG24 auch bereits vor der Föderalismusreform; hieran hat sich nichts geändert. Diese Länderbefugnis ist aber kaum sehr stark, weil sie vom entsprechenden politischen Zugeständnis des Bundes abhängt. Zum anderen ist die Rückholbefugnis für die Länder jetzt auf andere Felder ausgedehnt worden und unmittelbar in der Verfassung, also obligatorisch vorgesehen. In einem schmalen Ausschnitt gab es auch das schon vorher, nämlich dort, wo der Bund für das von ihm erlassene Recht nach einer Neuzuteilung der Regelungsbereiche die Zuständigkeit verloren hat, das bestehende Recht aber als Bundesrecht fortgelten soll (Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG a. F.).25 Jetzt ist diese Ersetzungsbefugnis auch auf andere Fälle eines Verlusts der BundesGesetzgebungsbefugnis ausgedehnt worden. Und vor allem gibt es das legislative Rückholrecht der Länder jetzt für bestimmte Regelungsgegenstände eo ipso.26 In materieller Hinsicht, also für Sachregelungen, gilt dies 22 Die Einschränkung des Art. 125b I 3 GG bezüglich der Materien in Art. 72 III Nrn. 2, 5 und 6 GG erscheint allerdings nicht so ganz einsichtig, weil nach Gebrauchmachen des Bundes von seiner erweiterten, neuen Gestaltungszuständigkeit die Länder-Abweichungsmöglichkeit ohnehin schon nach Art. 72 III 1 GG besteht. 23 Art. 125a III 2 GG (s. o. mit Anm. 4). 24 Beide Regelungen sind durch das (42.) Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146) eingeführt worden. 25 Dazu generell bereits oben vor Anm. 4.
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bei den in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 GG aufgeführten Materien und in formeller, organisatorischer Hinsicht, wenn der Bund beim ländereigenen Vollzug von Bundesgesetzen (Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG) ausnahmsweise eigene Vorschriften für Behördeneinrichtung und/oder Verwaltungsverfahren erlassen hat.27 Die Rückholbefugnis, die auf eine Idee der Länder-Ministerpräsidenten zurückgeht,28 ist in der Sache auf das Abweichen oder die Ersetzung von Bundesrecht bezogen. Beide Gegenstandsbeschreibungen bezeichnen dabei dasselbe, nämlich die Veränderung von drittgesetztem Recht. Für sie wird hier als Oberbegriff der Terminus „Rückholbefugnis“ oder „Rückholrecht“ verwendet,29 mit dem systematisch der Wiedergewinn der ursprünglich ja gemäß Art. 70 Abs. 1 GG ohnehin den Ländern zukommenden Gestaltungshoheit Betonung findet. Mit der neu geschaffenen Handhabe wird also nicht agiert, sondern reagiert. Man will das vorangegangene legislative Tun des anderen föderativen Partners umformen, korrigieren, partiell außer Geltung 26 Wenn auch durch (z. T. potenzierte) zeitliche Sperren erschwert: Art. 72 III 2 sowie 125b I 3 und II GG. 27 Dass die überhaupt nur als Ausnahme zugelassene bundesgesetzliche Organisationsregelung ihrerseits eine Art Abweichungsbefugnis darstellt, hier also eine doppelte facultas alternativa angelegt ist und diese Verkomplizierung des Grundsatzes aus Art. 84 I 1 GG zu einem dogmatisch nur schwer zu entwirrenden Geflecht führen dürfte, soll hier nicht vertieft werden. Dazu pauschal Schmidt-Jortzig, Die fehlgeschlagene Verfassungsreform, in: ZG 2005, S. 16, 20 ff.; oder ders., Die Entflechtung der Verantwortlichkeiten im Beziehungsgefüge des deutschen Bundesstaates, in: H.-J. Blanke/W. Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, Tübingen 2005, S. 59, 64 ff. 28 Entschließung v. 6.5.2004 (Drucks. 0045 der gemeinsamen ‚Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung‘): „Möglichkeit des Zugriffs“ auf einzelne Bundesregelungen; und zuvor Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz v. 27.3.2003, Anlage I. 1. Pate hatte dazu offenkundig der Vorschlag des ehemaligen Bremer Senators Ernst Heinsen von 1976 gestanden (Sondervotum zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“, Bundestags-Drucks. 7/5924, S. 137 f.); und ihm folgend dann Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“, Entflechtung 2005. Zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsfähigkeit im deutschen Föderalismus (2000), S. 24 f.; w. Nachw. bei H. Schulze-Fielitz, Stärkung des Bundesstaates durch Herabzonung von Gesetzgebungskompetenzen?, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU, Stuttgart 2001, S. 117, 134, Anm. 92. 29 In der Fachdiskussion ist daneben (außer von „Abweichungs- oder „Ersetzungsrecht“, wie das Instrument dann eher das Wirkungsziel beschreibend in der Verfassung Aufnahme fand) noch von einem „Zugriffsrecht“ der Länder bzw. einer „Vorrang“- oder einer Bundes-„Auffanggesetzgebung“ die Rede. Zur terminologischen Lage H.-J. Dietsche/S. Hinterseh, Ein sogenanntes Zugriffsrecht der Länder – „konkurrierende“ Gesetzgebung beim Wort genommen? Zur Entwicklung einer verfassungsrechtlichen Diskussion, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 187 ff.
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setzen.30 Man geht – bildlich gesprochen – auf reglementorischen Konfrontationskurs zu dem legislativen Vorleister und erhält die Möglichkeit, die Konkurrenz mit ihm (jedenfalls vorerst) zu eigenen Gunsten zu entscheiden. Die systematischen Vorteile des Rückholrechts sind klar. Ein rechtloser Zustand bleibt allemal vermieden, denn es wird ohne weiteres davon ausgegangen, dass der vorbefugte Bund allemal die regelnde Initiative ergreift und die eher zögerlichen Länder eine Normierung durch ihn nicht blockieren können. Sie bleiben auf ihre Reaktionsbefugnis verwiesen, sind dort für ein entsprechendes Rückholvorhaben aber auch völlig frei, können es also ebenso gut unterlassen. Und für die Art der normativen Abwandlung sind keine Grenzen gesetzt, man kann theoretisch die Bundesregelung gänzlich ersetzen, aber auch nur Randkorrekturen anbringen.31 Die gegenüberstehenden systematischen Bedenklichkeiten liegen freilich ebenfalls auf der Hand. Die ursprüngliche Einheitlichkeit des Bundesrechts zerfasert. Das jeweils geltende Recht ist nicht ohne die Ausgangsregelung des Bundes zu erfassen und zu verstehen, was die Sache zusätzlich kompliziert macht. Außerdem hat ja auch der Bund noch eine „Kontermöglichkeit“. Denn er kann nun seinerseits das abweichende Länderrecht aushebeln, indem er nachträglich eine gegenläufige und dann bis auf weiteres vorgehende Neuregelung vornimmt; das ergibt sich aus Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG. Und wenn nun ein Land hartnäckig bleibt und erneut legislatorisch abweicht, kann es tatsächlich zu einer Art „Ping-Pong-Gesetzgebung“ kommen.32 Das zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Land exakt geltende Recht wird also u. U. nur mühsam noch auszumachen sein. Vor allem aber löst die Formel, dass „im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vorgeht“, die bundesstaatliche Grundregel auf, dass Bundesrecht Landesrecht bricht (Art. 31 GG).33 Und das erschüttert nicht 30 Weshalb auch von einer „umgekehrten konkurrierenden Gesetzgebung“ gesprochen wird; bspw. M. Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, in: ZG 2003, S. 297, 303; oder C. Maiwald (Hrsg.), Grundgesetz. Text. Föderalismusreform mit Begleitgesetz und Einführung, Heidelberg 2006, S. XV. 31 Inhaltliche Unbegrenztheit der Abweichungsgesetzgebung attestieren auch C. Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, in: NVwZ 2006, S. 1209, 1213 vor III.; oder M. Stock, Konkurrierende Gesetzgebung, postmodern: Aufweichung durch „Abweichung“, in: ZG 2006, S. 226, 237. 32 Siehe auch F. Vorholz, Die geplante Föderalismusreform sorgt für Verwirrung, in: DIE ZEIT v. 1.2.2006, S. 30; oder R. Müller, Klare Trennung oder Pingpong?, in: FAZ v. 1.7.2006, S. 6. – Das gleiche Szenario ist zudem nach Art. 84 I 3 GG möglich. 33 Die neue Regelung legt jetzt freilich keinen Geltungs-, sondern einen Anwendungsvorrang für das jeweils spätere Recht fest; richtig J. Ipsen, Die Kompetenzver-
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nur die bisherige föderative Statik nachhaltig, sondern bringt auch Unsicherheit in die Rechtsanwendung. Verfassungspolitisch ist die Einführung des Länder-Rückholrechts nach Art. 72 Abs. 3 GG im Übrigen ein typischer Kompromiss, der die Dinge nicht richtig zur Klärung bringt, sondern in der Schwebe hält.34 Die erfassten Regelungsmaterien, die bisher der Bundesrahmenzuständigkeit unterfielen, hätten bei einer wirklichen Entflechtung von Bundes- und Landespolitik beherzt den Ländern (oder dem Bund) zugeordnet werden können. Sollte aus Einheitlichkeitsgründen aber doch der primäre Bundeszugriff aufrechterhalten bleiben, ohne dass die Länder zu kategorisch ausgeschlossen würden, wäre eine konkurrierende Bundes-Gesetzgebungszuständigkeit in der überkommenen Form unter Geltung der strengen Erforderlichkeitsklausel angebracht gewesen. Beide Male könnten wenigstens Gesetze „aus einem Guss“ entstehen, bei denen der Gesetzgeber das maßgebende Konzept entwickelt und dieses dann auch geschlossen verwirklicht. Wenn mit dem Länder-Rückholrecht jetzt beide föderativen Handlungssubjekte sich gegenseitig in die Parade fahren können, sind Wertungswidersprüche, teleologische Unklarheiten und tatbestandliche Unstimmigkeiten zu erwarten.35 Der manteilung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusreform, in: NJW 2006, S. 2801, 2804. 34 Konkret war die Abweichungsgesetzgebung für die Länder das Surrogat zur Auflockerung bei der Erforderlichkeitsklausel für den Bund. 35 Eher skeptisch auch Schulze-Fielitz, Stärkung des Bundesstaates durch Herabzonung von Gesetzgebungskompetenzen? (Anm. 28), S. 117, 135 f.; Möstl, Neuordnung (Anm. 30), S. 303 ff.; G. Robbers, Entwicklungsperspektiven des Föderalismus, in: M. Brenner/P. M. Huber/M. Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. Festschrift für Peter Badura, Tübingen 2004, S. 431, 440 f.; R. Scholz, Zur Reform des bundesstaatlichen Systems, ebd., S. 491, 497 f.; P. Badura, Der Bundesstaat und die Frage seiner „Modernisierung“, in: J. Bröhmer u. a. (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg Ress, Köln 2005, S. 1123, 1131; D. Merten, Die Reform der funktionalen Kompetenzverteilung im Bund-Länder-Verhältnis, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates (Anm. 27), S. 73, 84 f.; Stock, Konkurrierende Gesetzgebung (Anm. 31), S. 232 ff. Hingegen insgesamt eher positiv (bei z. T. freilich Kritik im Detail) P. M. Huber, Klare Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Gutachten D für den 65. DJT, in: Verhandlung des 65. DJT 2004, Bd. I, S. D 11, 59, 70; ders., Das Bund-Länder-Verhältnis de constitutione ferenda, in: Blanke/Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates (Anm. 27), S. 21, 30 ff.; ders., Reform der Kompetenzen, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2005/I, S. 27, 40; H. Meyer, Arbeitsunterlage 0096 der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat (Anm. 28), S. 6 f.; A. Benz, Drucks. 0071 – neu – der gemeinsamen Kommission, S. 3; F. W. Scharpf, Drucks. 007 ebd., S. 9 f., und Drucks. 0087, S. 2 ff.; oder L. Mammen, Der neue Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht, in: DÖV 2007, S. 376 ff.
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gelnde Mut zur klaren Zuordnung der Gesetzgebungszuständigkeit hat also eine Konstellation gezeitigt, die viele juristische Streitigkeiten nach sich ziehen wird. III. Bilanz Die neue Beweglichkeit der Gesetzgebung kann sich belebend auf die Politik – und namentlich die der Länder – auswirken. Sie kann aber auch Unsicherheiten zur Folge haben und damit die Furcht vor Regelungsschritten befördern, weil man ihre Folgewirkungen eben nicht übersehen kann. Das muss die Praxis zeigen. Spekulationen helfen hier wenig. Kaum sicherer sind auch Prognosen über die inhaltliche Auswirkung der neuen legislativen Möglichkeiten. Werden die Länder ihre gewonnene Gestaltungsmacht dazu nutzen, Bundesregelungen auf breiter Front zu ersetzen, und dabei womöglich die Bundesstandards allemal unterbieten (sog. „Schäbigkeitswettbewerb“)? Oder werden sie doch nur recht selektiv vorgehen und dann Bundesstandards eher überbieten? Je nach politischem Standpunkt mag man das eine befürchten oder das andere erhoffen, zumal alles ja auch von der Parteienkonkurrenz noch überwölbt wird. Beim Umweltrecht, wo die pessimistischen Erwartungen besonders laut wurden, war es bisher jedenfalls empirisch überhaupt nicht so, dass immer der Bund für die höheren Standards gestritten und die Länder gebremst hätten; etliche Anregungen und Vorstöße kamen vielmehr jeweils von ihnen. Und – um ein weiteres Beispiel zu nennen – beim Strafvollzug kann der Zugewinn an Gestaltungshoheit bei den Ländern auch Modernisierungsanstöße, prozedurale Innovationen oder Sicherheitsgewinne fördern. Alles wird von dem konkreten Verantwortungswillen des Gesetzgebers abhängen, und da sind Vorurteile wenig hilfreich. Sicher ist nur, dass ein Bundesstaat nicht a priori auf Gleichförmigkeit aus sein muss, sondern von seiner Vielfalt lebt. Das Ebenmaß des einheitlichen Zentralstaates wird im Bundesstaat durch Unruhe, Konkurrenz und Vielfalt ersetzt. Und das ist nicht Gefahr, sondern Chance. Eindeutig erscheint bei allem, dass die Föderalismusreform mit ihren verschiedenen legislativen Handlungspflichten und Handlungsmöglichkeiten noch viel juristische Arbeit nötig macht. Forschung, Praxis und Rechtsprechung werden damit ihr Tun haben. Und das ist auch für die Verwaltungsreform und ihre Förderung durch Heinrich Siedentopf eine reichhaltige Perspektive.
Zehn Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz in Thailand: der Verwaltungsakt in der Rechtsprechung der thailändischen Verwaltungsgerichtsbarkeit* Pensri Wongsaree I. Einleitung Siam bzw. Thailand war bis ins Jahr 1932 eine absolute Monarchie. Durch einen unblutigen Militärputsch wurde es in eine konstitutionelle Monarchie überführt.1 Die erste Verfassung2 trat im Jahre 1932 in Kraft. Die Amtszeit von König Rama V. von 1868 bis 1910 war für die Entwicklung des thailändischen öffentlichen Rechts von entscheidender Bedeutung, denn er hat nicht nur die Sklaverei abgeschafft, sondern auch Reformen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit angestoßen.3 In der thailändischen Verfassung finden sich im Wesentlichen Regelungen über die Staatsorgane, ihre Aufgaben sowie ihre Kompetenzen. Mit der im Jahre 1997 in Kraft getretenen Verfassung4 werden die Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährleistet. * Ich bedanke mich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., die meinen Forschungsaufenthalt am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer vom 17. Juni bis 13. Juli 2007 finanziell unterstützt hat, damit ich diesen Beitrag erstellen konnte. Ich bedanke mich auch bei meiner Freundin, Frau Petra Kempf für ihre sorgfältigen sprachlichen Korrekturen. Diesen Beitrag widme ich Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, der nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht mein Lehrer war, sondern von dem ich direkt und indirekt auch viel Wertvolles über das Leben gelernt habe. 1 Vgl. D. Morell/C. Samudavanija, Political conflict in Thailand: Reform, Reaction, Revolution, Cambridge 1981, S. 14 f.; Y. Saenguthai, Allgemeine Verfassungsprinzipien, 8. Aufl., Bangkok 1983, S. 39; S. Chauythia, Allgemeine Verfassungsprinzipien, 2. Aufl., Bangkok 1992, S. 44 (thailändisch). 2 B. E. 2475 (1932) (B. E. steht für Buddish Era. Diese Zeitrechnung, die dem thailändischen Gesetzesblatt zugrunde liegt, beginnt mit dem Tod Buddhas 543 Jahre vor Christi Geburt.). 3 Kurze Übersicht zur Entwicklung des Öffentlichen Rechts in Thailand, s. P. Wongsaree, Gesetzliche Regelung und Praxis des verwaltungsrechtlichen Vertrages, Speyer 2003, S. 5 ff.; s. a. C. Sawangsadi, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 215 ff. 4 B. E. 2540 (1997).
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Ferner werden den Bürgern mit dieser Verfassung auch ausdrücklich Grundrechte und Grundfreiheiten eingeräumt. Nach dem Militärputsch im September 2006 wurde diese Verfassung allerdings außer Kraft gesetzt.5 Trotz der langen Anstrengungen zur Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit in Thailand besteht weiterhin das Problem der Korruption von Politik und Verwaltung. Durch den Verfassungstext allein kann die Rechtsstaatlichkeit nicht verwirklicht werden, wenn die Verwaltung in der Praxis ihrerseits die Verfassungsprinzipien, insbesondere die Gesetzmäßigkeit ihres Handelns, nicht befolgt. Das Verwaltungshandeln bedarf daher konkreter rechtsstaatlicher Regelungen, wie sie beispielsweise durch eine Verfahrensordnung garantiert werden können. Das thailändische Gesetz über das Verwaltungsverfahren6 (GVwVf) ist noch sehr jung. Ursprünglich waren die Vorschriften des Verwaltungsrechts über den Erlass von Verwaltungsakten und das Verwaltungsverfahren in verschiedenen einfachgesetzlichen Bestimmungen geregelt. Die zahlreichen Gesetze regelten jedoch das Verwaltungsverfahren unterschiedlich. Diese Unterschiede führten zu einer Rechtsunsicherheit, die die Bürger belastete. Im Jahre 1991 entschied man sich schließlich, ein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz zu entwerfen.7 Der Staatsrat und die durch ihn ins Leben gerufene Kommission zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs spielten eine wichtige Rolle in der Entstehungsgeschichte des thailändischen Verwaltungsverfahrensgesetzes. Sie beschlossen unter anderem, sich im Rahmen ihrer Arbeiten näher mit dem (Bundes-)Verwaltungsverfahrensgesetz zu befassen, und zogen zu diesem Zweck auch deutsche Experten hinzu.8 Der Jubilar, Herr Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, Professor Dr. Karl-Peter Sommermann und Dr. Christoph Hauschild waren zunächst zwischen 1992 und 1996 als deutsche Delegation mehrmals in Thailand. Im Rahmen dieser Aufenthalte wurde die Ausarbeitung des Gesetzentwurfs erfolgreich beraten.9 Dieses Gesetz schafft 5 Der Militärputsch begann am 19. September 2006. Hierzu auch L. P. Schmidt, Auslandsinformationen, Sankt Augustin, 15. März 2007, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.; abrufbar unter: http://www.kas.de/wf/de/33.10436/. 6 B. E. 2539 (1996). 7 Vgl. C. Wongwattanasarn, Das Verwaltungsverfahrensrecht, Bangkok 1997, S. 163 (thailändisch). 8 Ausführlich s. P. Wongsaree, Gesetzliche Regelung und Praxis des verwaltungsrechtlichen Vertrages, Speyer 2003, S. 5 ff. 9 Ausführlich siehe H. Siedentopf/K.-P. Sommermann/C. Hauschild, The Rule of Law in Public Administration: The German Approach, Speyerer Forschungsberichte 122, 3. Aufl., Speyer 1994; H. Siedentopf/C. Hauschild/K.-P. Sommermann, Law Reform and Law Drafting, Speyerer Forschungsberichte 129, Speyer 1993; H. Siedentopf/C. Hauschild/K.-P. Sommermann, Modernization of Legislation and Implementation of Laws, Speyerer Forschungsberichte 142, 2. Aufl., Speyer 1994. Mit den deutschen Experten wurden in den folgenden Jahren weitere Dialogveranstaltun-
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erstmals eine einheitliche Regelung des thailändischen Verwaltungsverfahrens. Die starke Ausrichtung am deutschen Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976 zeigt sich unter anderem an den Bestimmungen über den Verwaltungsakt (Kamsangtangpokkrong).10 Ferner sind rechtsstaatliche Grundsätze wie das Recht auf Akteinsicht, das Anhörungsrecht sowie der Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit im Zusammenhang mit der Regelung über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten geregelt. Das Gesetz wurde 1996 vom Parlament verabschiedet. Zur Gewährleistung der Umsetzung der neuen Verfahrensbestimmungen wird in § 7 ausdrücklich ein Ausschuss über das Verwaltungsverfahren als Beratungsorgan bei der Anwendung des Gesetzes vorgesehen. Seine Aufgabe ist in § 11 genauer geregelt.11 Außerdem trat das Gesetz erst 180 Tage nach der Bekanntgabe im Gesetzesblatt in Kraft, so dass sich alle thailändischen Behörden auf die neue gesetzliche Regelung des Verwaltungsverfahrens besser vorbereiten und die Verwaltungsreform umsetzen konnten. Die Einführung des Verwaltungsverfahrensgesetzes stellt insgesamt eine der wichtigsten Phasen in der Entwicklung des thailändischen Verwaltungsrechts dar. Die Bestimmungen über die Verwaltungsgerichtsbarkeit finden sich im Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsordnung (GVwGO)12, das 1999 in Kraft trat. Mit diesem Gesetz wurden erstmals in der Geschichte Thailands verwaltungsrechtliche Streitigkeiten13 eigen organisiert, in denen Fragen der Gesetzgebung und der Schaffung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit erörtert wurden. 10 Im Detail hierzu vgl. Ausführungen in Teil III des vorliegenden Beitrags. 11 Der Ausschuss ist verpflichtet, nur fachlich zu beraten. Der Ausschuss hat vier wichtige Aufgaben, nämlich (1) die Abgabe von Empfehlungen, (2) Konsultierungsaufgaben, (3) die Abgabe von Vorschlägen zum Erlass von Rechtsverordnungen, also als Initiativorgan und (4) Berichtsaufgaben. Vgl. C. Wongwattanasarn, (Anm. 7), S. 175 ff. (thailändisch). 12 B. E. 2542 (1999). 13 § 9 (1) GVwGO regelt die Streitigkeiten, in denen über die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme einer Behörde oder eines Amtsträgers gestritten wird, entweder in Bezug auf den Erlass einer Satzung oder einer Verordnung oder einer anderen Maßnahme – wegen eines Handelns ohne oder wegen Überschreitung der rechtlichen Befugnisse und Pflichten. (Einbezogen sind auch Streitigkeiten hinsichtlich fehlender Übereinstimmung mit dem Gesetz oder der Form oder dem Verfahren, welches für die betreffende Maßnahme vorausgesetzt wird.) – oder bei böswilligem Handeln oder Handeln in einer Weise, welche Diskriminierung erkennen lässt, oder bei unnötigen Verfahren oder bei Verfahren, die eine übermäßige Belastung für die Öffentlichkeit verursachen oder eine fehlerhafte Ausübung des Ermessens darstellen. § 9 (2) GVwGO betrifft Streitigkeiten bezüglich der Erfüllung der Aufgaben einer Verwaltungsbehörde oder eines Amtsträgers entweder wegen Vernachlässigung oder wegen Verzug. Der Unterschied zwischen beiden Fällen liegt darin, dass im ersten Fall ein Amtsträger noch nicht entschieden hat, insofern also keine Handlung vorliegt.
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ner dafür eigens eingerichteten Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Entscheidung übertragen. Das Verwaltungsgericht nahm mit der Einrichtung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs und dem Zentralen Verwaltungsgericht in Bangkok am 9. März 2001 seine Arbeit auf. II. Verwaltungsgerichtsbarkeit im Überblick Für den ausländischen Leser ist es vor der rechtsvergleichenden Betrachtung im Hauptteil des Beitrags sicher von Interesse, etwas über die Praxis der thailändischen Verwaltungsgerichte zu erfahren. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren und des Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsordnung zeigt sich die Entwicklung des Verwaltungsrechts sehr gut anhand der Rechtsprechungspraxis, insbesondere den Klagestatistiken. Die Verwaltungsgerichte begannen im Jahre 2001 ihre Arbeit mit insgesamt 100 Richtern. Die thailändischen Verwaltungsgerichte haben gemäß § 7 GVwGO einen zweistufigen Instanzenzug, der vom Obersten Verwaltungsgerichtshof und den Verwaltungsgerichten der Ersten Instanz gebildet werden. Die erstinstanzlichen Gerichte setzen sich aus dem Zentralen Verwaltungsgericht in Bangkok und den derzeit sieben regionalen Verwaltungsgerichten zusammen. Nach dem GVwGO sollten insgesamt 17 erstinstanzliche Verwaltungsgerichte im Gesamtgebiet Thailands eingerichtet werden. Aufgrund eines Mangels an qualifizierten Verwaltungsrichtern und eines staatlichen Sparplans wurde dies bisher jedoch nicht verwirklicht.14 Derzeit gibt es 17 höchste Richter und insgesamt 129 Richter in den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten. Diese Anzahl von Verwaltungsrichtern genügt dabei kaum, der stetig festzustellenden Zunahme von verwaltungsrechtlichen Klagen nachzukommen. Betrachtet man die wachsende Anzahl der Klagen, so erkennt man die Notwendigkeit die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie ursprünglich geplant, weiter auszubauen, damit den Klägern ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden kann.15 Im ersten Arbeitsjahr des Obersten Verwaltungsgerichtshofs wurden 25 direkte Klagen,16 17 Berufungen gegen Urteile und § 9 (3) GVwGO bezieht sich auf Streitigkeiten bezüglich der Staatshaftung und Amtshaftung. § 9 (4) GVwGO befasst sich mit der Klage aus Verwaltungsverträgen. § 9 (5) regelt, dass die Verwaltungsgerichte kraft älterer Gesetze zuständig sind. 14 C. Sawangsadi, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 224. 15 Fundstelle: Jahrbericht 2005 der Verwaltungsgerichte und Büro der Verwaltungsgerichte.
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342 Beschwerden gegen Beschlüsse eingereicht, die meisten dieser Beschwerden richten sich gegen Beschlüsse durch die die Klage als unzulässig abgewiesen wurde. Die Anzahl der direkten Klagen zwischen 2001 bis Ende 2005 bleibt insgesamt konstant. Im Jahr 2001 sind 25 in den darauf folgenden Jahren sind 29, 17, 32 und im Jahr 2005 dann 19 direkte Klagen zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu ist eine eindeutige Zunahme von Berufungsurteilen zum Obersten Verwaltungsgerichtshof zu erkennen.17 Die Anzahl der Rechtsmittelurteile ist von 17 im Jahre 2001 auf 905 im Jahre 2005 angestiegen. Diese Tendenz ist auch bei den gegen Beschlüsse eingelegten Beschwerden zu verzeichnen.18 Gleichzeitig gab es allein beim Obersten Verwaltungsgerichtshof im Jahr 2005 insgesamt 1.808 neu anhängige Verfahren – 19 direkte Klagen, 905 Berufungen gegen Urteile und 884 Beschwerden gegen Beschlüsse. Im letzten Jahr 2006 stieg die Anzahl der Fälle weiter auf 1.994. Ferner sind bereits in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 1.100 Fälle beim Obersten Verwaltungsgerichtshof eingereicht worden. Betrachtet man die Anzahl der Erledigungen, so wurden 2005 1.189 Fälle durch Urteil oder durch Beschluss entschieden. Im Jahr 2006 konnte die Zahl der Erledigungen sogar auf insgesamt 3.814 verdoppelt werden. In diesem Jahr wurde in den ersten fünf Monaten bereits 725 Fälle entschieden.19 Bei den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten gehen jedes Jahr insgesamt über 3.000 neue Klagen ein. Im ersten Jahr waren es sogar 5.311 Klagen.20 Die Erledigungszahl der erstinstanzlichen Gerichte liegt im Schnitt bei 3.000 Fällen.21 Die Klageeingänge beim Zentralen Verwaltungsgericht Bangkok, das größte erstinstanzliche Verwaltungsgericht, sind im Vergleich hierzu höher. Im Jahr 2005 wurde hier zwei Mal häufiger geklagt. 16 Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 GVwGO ist das höchste Verwaltungsgericht zuständig, die Rechtmäßigkeit von Rechtsverordnungen, die durch Kabinettbeschlüsse erlassen worden sind, zu überprüfen. 17 Es waren 17 Berufungsurteile im Jahre 2001. In den darauf folgenden Jahren waren es 107, 291, 609 und zuletzt – im Jahre 2005 – 905 Berufungsurteile. 18 Im Jahre 2001 gab es 342 Berufungen von Beschlüssen. Im Jahr 2002 ist die Anzahl der eingelegten Berufungen gegen Beschlüsse auf 827 angestiegen. Die Anzahl der Berufungen gegen Beschlüsse von 2001 bis 2005 ist wie folgt: 342 in 2001, 827 in 2002, 953 in 2003, 793 in 2004 und 884 in 2005. Fundstelle: Jahresbericht 2005 der Verwaltungsgerichte und des Büro der Verwaltungsgerichte. 19 Fundstelle: www.admincourt.go.th. 20 2002 waren es 4.256, 2003 4.249, 2004 3.620 und 2005 4.349 Klageerhebungen. 21 Die Anzahl der Entscheidungen der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte in den Jahren 2001 bis 2005 in chronologischer Reihenfolge: 1.996, 3.327, 3.681, 3.555 und 3.819. Fundstelle: Jahresbericht 2005 der Verwaltungsgerichte und des Büros der Verwaltungsgerichte.
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Im Jahr 2006 stieg beim Zentralen Verwaltungsgericht die Anzahl der Klageerhebungen auf insgesamt 2.329. Die Anzahl der neu eingereichten Klagen scheint sich dabei auf mehr als 200 Fälle im Monat einzupendeln.22 Diese Tendenz hat sich auch in diesem Jahr bestätigt.23 Die Anzahl der Erledigungen liegt im Zeitraum von Januar 2005 bis Mai 2007 bei 1.649, 1.993 und 725 Fällen, wobei festzuhalten bleibt, dass beim Zentralen Verwaltungsgericht in Bangkok insgesamt 83 Richter beschäftigt sind. Wie bereits erwähnt gibt es bisher sieben regionale Verwaltungsgerichte (VG), nämlich das VG Chiang Mai, das VG Songkhla, das VG Nakhon Ratchasima, das VG Khon Khaen, das VG Phitsanulok, das VG Rayong und das VG Nakhon Si Thammarat. Im Vergleich zum Zentralen Verwaltungsgericht möchte ich exemplarisch noch die statistischen Daten von zwei regionalen Verwaltungsgerichten darstellen: das Verwaltungsgericht Chiang Mai im Norden Thailands, das auch seit 2001 besteht und das Verwaltungsgericht Nakhon Si Thammarat, im Süden Thailands, welches am 15. August 2002 als das zuletzt gegründete regionale Verwaltungsgericht seine Arbeit aufnahm. Die Zahl der anhängigen Klagen im Zeitraum von Januar 2004 bis Mai 2007 beträgt im Verwaltungsgericht Chiang Mai, das mit sieben Richtern arbeitet – 269 im Jahr 2004, 326 im Jahr 2005, 325 Fälle im Jahr 2006 und bereits 155 Fälle in den ersten fünf Monaten des Jahres 2007. Die Anzahl der erledigten Fälle stellen sich im Vergleich dazu wie folgt dar: 206 Erledigungen im Jahr 2004, 224 Erledigungen im Jahr 2005, 239 Erledigungen im Jahr 2006 und bereits 91 bis Mai 2007. Im Zeitraum zwischen Januar 2004 und Mai 2007 sind beim Verwaltungsgericht Nakhon Si Thammarat 2004 235 Klagen, 2005 349 Klagen, 2006 319 Klagen und in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 108 Klagen eingereicht worden. Die Anzahl der Erledigungen ist grundsätzlich vergleichbar mit den Erledigungszahlen in Chiang Mai, mit dem Unterschied, dass das Verwaltungsgericht in Nakhon Si Thammarat nur mit sechs Richtern besetzt ist.24 Die im Jahr 2005 anhängigen Streitigkeiten richten sich in der überwiegenden Anzahl gegen Verwaltungsentscheidungen im Bereich des Grundeigentums, des Rechts über Bodenschätze und des öffentlichen Sachenrechts. Diese Rechtsfragen umfassen in der Statistik 1.017 Fälle. Danach kommen die Streitigkeiten über das Beamtenrecht, das öffentliche Dienstund Disziplinarrecht, mit insgesamt 855 Fällen. Ferner häufen sich auch die 22 Im März waren es 258, im Mai 238 im Juli 213 und im November 204 neue Fälle. 23 Klageerhebungen im Jahre 2007 von Januar bis Mai: 186, 206, 258, 210 und 238. 24 Anzahl der Entscheidungen des Verwaltungsgerichts in Nakhon Si Thammarat im Zeitraum von Januar 2004 bis Mai 2007: 161-267-196-53; Fundstelle: www. admincourt.go.th.
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Klagen gegen Verwaltungsentscheidungen über Enteignungen und deren Entschädigung und Klagen wegen Staats- und Amtshaftung.25 517 Klagen wurden 2005 im Bereich der staatlichen Verwaltung und des Kommunalrechts erhoben. An nächster Stelle stehen 418 Klagen im Bereich von Verwaltungsverträgen und im Bereich des Beschaffungs- und Vergabewesens. Die Streitigkeiten über das Baurecht, Stadtplanungsrecht, Fabrikrecht, Immissionsschutzrecht und Umweltrecht stand mit 296 Klagen an sechster Stelle der Klagestatistik von 2005.26 Das Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die Aufnahme der Arbeit durch die Verwaltungsgerichte stellte die thailändische Verwaltungsrechtspraxis vor neue Aufgaben. Eine Herausforderung war dabei die Einführung des Verwaltungsakts, denn nur beim Vorliegen eines als Verwaltungsakt zu qualifizierenden Handeln, werden die Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes angewandt. Im Folgenden werden Ausführungen über die Entwicklungen des Verwaltungsaktbegriffs durch die thailändische Rechtsprechung gemacht. III. Der thailändische Verwaltungsakt Wie oben bereits kurz erwähnt, wurde dem thailändischen Verwaltungsakt im Gesetz über das Verwaltungsverfahren der deutsche Verwaltungsaktbegriff des Verwaltungsverfahrengesetzes zugrundegelegt. In § 5 GVwVf ist der Verwaltungsakt (Kamsangtangpokkrong) definiert: „als die Ausübung von Hoheitsgewalt auf rechtlicher Grundlage durch einen Amtsträger, um zwischen Personen (d.h. einem Hoheitsträger und einer Einzelperson) auf Dauer oder zeitweise Rechtbeziehungen zu begründen, durch die der Rechte- oder Pflichtenstatus des einzelnen geändert, übertragen, gesichert, aufgehoben oder sonst betroffen wird, so z. B. eine Anordnung, Erlaubnis oder Genehmigung, die Entscheidung über einen Widerspruch, eine Bescheinigung und die Eintragung in ein Register, kein Verwaltungsakt ist der Erlass einer Verordnung oder Satzung.“
Im Einzelfall ist nicht immer einfach feststellbar, ob ein Verwaltungsakt vorliegt. Zunächst ist zu beurteilen, ob das behördliche Handeln einen Regelungsgehalt hat. Ferner wird zwischen einer Maßnahme mit unmittelbarer Rechtswirkung nach Außen und einer rein innerdienstlichen Anordnung unterschieden. Nach der überwiegenden Rechtsprechung ist die Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission gegen einen Beamten kein Verwaltungsakt. Denn diese Anordnung wird als rein innerdienstliche Wei25
Im Jahr 2005 waren bzgl. dieses Klagegrundes 665 Fälle anhängig. Fundstelle: Jahresbericht 2005 der Verwaltungsgerichte und des Büros der Verwaltungsgerichte. 26
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sung betrachtet. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof ist jedoch trotzdem der Auffassung, dass der Verwaltungsrechtsweg nach § 9 GVwGO auch in diesen Fällen eröffnet ist. Der Verwaltungsgerichtshof versteht § 9 GVwGO in einem weiten Sinn, so dass der Verwaltungsrechtsweg nicht nur im Fall der Annahme eines Verwaltungsakts eröffnet ist, sondern auch bei Klagen gegen sonstige hoheitliche Maßnahmen beschritten werden kann. Im Folgenden werden exemplarisch einige strittige Beispiele aus der Rechtsprechung dargestellt. Im Mai 2003 stellte der Oberste Verwaltungsgerichtshof seine Zuständigkeit im Fall einer Klage gegen die Einsetzung einer Ermittlungskommission fest, obwohl das Verfahren nach dem Disziplinarrecht als behördeninternes Verfahren anzusehen ist. Die Klage wurde jedoch als unzulässig abgewiesen, da der Kläger nicht klagebefugt war. Das Gericht argumentierte in diesem Verfahren, dass der klagende Beamte nicht schon allein aufgrund des Verdachts eines Dienstvergehens in seinen Interessen oder Rechten verletzt sei und deshalb die Klagebefugnis nicht vorläge.27 In einem weiteren Fall aus demselben Jahr, wurde die Zulässigkeit der Klage vom Obersten Verwaltungsgerichtshof auch angenommen.28 Es ging dabei um die Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission gegen einen Polizeibeamten. Im Disziplinarverfahren nach thailändischem Recht muss der Dienstvorgesetzte die Ermittlungskommission im Falle eines Dienstvergehens einsetzen. Das Oberste Verwaltungsgericht hat diese Anordnung als Verwaltungsakt (Kamsangtangspokkrong) nach § 5 GVwVf betrachtet. Das Gericht hat in diesem Fall jedoch nicht genauer erklärt, weshalb es diese Anordnung als Verwaltungsakt ansieht. Die Klage wurde jedoch insgesamt als unzulässig abgewiesen, da der Kläger gegen die Maßnahme zuvor keinen Widerspruch eingelegt hatte. In einem weiteren Fall entschied der Oberste Verwaltungsgerichtshof über die Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission durch Beschluss vom 4. Oktober 2006 Folgendes: Nach dem Rechtssatz des § 9 thailändischen GVwGO ist das Verwaltungsgericht zuständig, über verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zu entscheiden. Die Klage hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Anordnung (Kamsang) einer Behörde, umfasst nicht nur Streitigkeiten über einen Verwaltungsakt, sondern es wurde höchstrichterlich festgestellt, dass diese Klage auch die Kontrolle der Rechtmäßigkeit jeder sonstigen behördlichen Maßnahme umfasst. 27
Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 221/2546 (2003), Beschluss vom 07.05.2003. 28 Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 347/2546 (2003), Beschluss vom 20.08.2003.
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Der Kläger ist nach der thailändischen GVwGO klagebefugt, wenn die behördliche Maßnahme ihn in seinen Interessen oder Rechten (möglicherweise) verletzt oder belastet. In einem dem Obersten Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fall erließ der Dienstvorgesetzte eine Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission gegen den Kläger (Nr. 25/2004). Nachdem der Kläger hiergegen begründeten Widerspruch eingelegt hatte, wurde diese Anordnung durch den Dienstvorgesetzten aufgehoben. Im Anschluss daran erließ der Dienstvorgesetzte eine neue Anordnung über die Einsetzung einer Ermittlungskommission (Nr. 76/2004). Die Kommission kam aufgrund ihrer Ermittlungen zum Ergebnis, dass das Disziplinarverfahren eingestellt werden sollte, da keine Dienstpflichtverletzung festgestellt werden konnte. Im Jahr 2006 erließ der Dienstvorgesetzte eine erneute Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission gegen den Kläger (Nr. 149/2006) und hob die vorhergehende Anordnung Nr. 76/2004 auf. Der Kläger erhob gegen diese Anordnung Klage, da er sie als rechtswidrig betrachtete. Im Mittelpunkt der Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs stand die Frage, ob der Kläger durch die Anordnung Nr. 149/2006 in seinen Interessen oder Rechten verletzt worden sei. Das Gericht bejahte in diesem Fall die Möglichkeit einer Interessenverletzung, da die erneute Anordnung sich nachteilig auf gesetzlich zulässige und mögliche Gehaltserhöhungen des Klägers auswirken könnte. Voraussetzung zur Annahme einer möglichen Interessens- oder Rechtsverletzung im Fall der Einsetzung einer Ermittlungskommission ist nach den Ausführungen des Gerichts, dass die Einsetzung schon angeordnet wurde und der Kläger eine Gehaltserhöhung erwartete. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied daher, dass das Interesse des Klägers in diesem Fall durch die Einsetzung einer Ermittlungskommission verletzt wurde, auch wenn diese Interessensbzw. Rechtsverletzung nicht so konkret ist wie im Fall des Erlasses eines Verwaltungsakts.29 Diese Argumentation wurde durch den Obersten Verwaltungsgerichtshof bestätigt. In einem Fall aus dem Jahr 2006 entschied der Oberste Verwaltungsgerichtshof erneut über eine Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission. Er betonte, dass nach dem Gesetz durch die Anordnung der Einsetzung zunächst nur das Verfahren in Gang gesetzt würde, um einen Verwaltungsakt bzw. eine Disziplinarverfügung zu erlassen. Durch diese erste Anordnung wird der Kläger noch nicht in seinen Interessen oder Rechten verletzt. In der reinen Anordnung zur Einsetzung einer Ermittlungskommission ist noch kein Verwaltungsakt nach dem thailändischen Verwaltungsverfahrensgesetz zu sehen.30 29 Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 636/2549 (2006), Beschluss vom 04.10.2006.
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IV. Das Anhörungsrecht gemäß § 30 GVwVf in der Rechtsprechungspraxis Durch § 3031 des Verwaltungsverfahrensgesetzes sowie § 28 Abs. 1 des deutschen VwVfG wird das rechtsstaatliche Prinzip einer Anhörung bzw. eines Anspruchs auf ein faires Verfahren verwirklicht.32 Mit einer vor Erlass einer Verwaltungsentscheidung erfolgten Anhörung können insbesondere für den Betroffenen Überraschungsentscheidungen vermieden werden.33 § 30 Abs. 1 GVwVf regelt im Grundsatz, dass das Anhörungsrecht den Beteiligten bzw. der Partei zusteht.34 Die Behörde muss vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts der Partei Gelegenheit geben, von den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen Kenntnis zu nehmen und sich zu diesen zu äußern. Die Behörde muss im Nachhinein die Erwägungen der Partei beim Erlass der Entscheidung berücksichtigen. § 30 Abs. 2 GVwVf sieht Ausnahmen von der Anhörungspflicht in § 30 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 vor. So kann nach § 30 Abs. 3 GVwVf von der Anhörung abgesehen werden, wenn ein zwingendes öffentliches Interesse der Anhörung entgegensteht. Gemäß § 30 Nr. 6 können weitere Ausnahmebestimmungen durch die Exekutive erlassen werden. Vergleicht man § 30 GVwVf mit § 28 des deutschen VwVfG, so kann man feststellen, dass die Anhörungspflicht in beiden Rechtsordnungen nur beim Erlass von belastenden Verwaltungsentscheidungen in Form eines Verwaltungsakts besteht. Realakte, vorbereitende Maßnahmen oder auch ver30 Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 640/2549 (2006), Beschluss vom 04.10.2006. 31 Vgl. § 30 Abs. 2 GVwVf, wonach nach pflichtgemäßem Ermessen von der Anhörung abgesehen werden kann, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, insbesondere wenn, 1. eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr in Verzug, der Abwendung eines schwerwiegenden Schadens für eine Person oder sonst aufgrund öffentlichen Interesses als notwendig erscheint; 2. durch die Anhörung die gesetzlich festgelegen Fristen zum Erlass eines Verwaltungsakts nicht eingehalten werden können; 3. von den tatsächlichen Angaben einer Partei, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht abgewichen wird; 4. eine Anhörung, offensichtlich nicht möglich ist; 5. eine Maßnahme zur Verwaltungsvollstreckung getroffen werden soll; 6. andere Ausnahmefälle durch Rechtsverordnung bestimmt werden. 32 Vgl. P. Weides, Die Anhörung des Beteiligten im Verwaltungsverfahren, in: JA 1984, 650. 33 Vgl. H. J. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG Kommentar, 6. Aufl., München 2001, § 28 Rn. 1. 34 In dem thailändischen Gesetz über das Verwaltungsverfahren, wird der Begriff der Partei und der Behörde definiert. Die Definition der Partei ist an den Beteiligtenbegriff in § 13 des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes sehr angelehnt.
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waltungsinterne Mitwirkungsakte fallen nicht in den Anwendungsbereich der Normen. Auch die Ausnahmeregelung vom Anhörungsrecht gemäß § 30 Abs. 2 Nr. 3 GVwVf entspricht der Einschränkung der deutschen Bestimmung in § 28 Abs. 3 VwVfG, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn ihr ein zwingendes öffentliches Interesse entgegensteht. Hinsichtlich der Form sind weder in § 30 GVwVf noch in § 28 VwVfG besondere Anforderungen geregelt, so dass sie in beiden Verwaltungsrechtsordnungen mündlich oder schriftlich erfolgen kann. Es gibt zwei geringfügige Unterschiede zwischen § 30 GVwVf und § 28 VwVfG. Zunächst ist festzuhalten, dass § 30 Abs. 2 Nr. 6 GVwVf eine in der thailändischen Gesetzgebungspraxis übliche Bestimmung enthält, wonach die Exekutive zum Erlass einer Rechtsverordnung zur Regelung weiterer Ausnahmetatbestände ermächtigt wird. Einen weiteren Unterschied enthält § 30 Abs. 2 Nr. 4 GVwVf35, wonach von einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn sie „offensichtlich nicht möglich ist“. Diese Bestimmung bleibt auslegungsbedürftig, da sie keine genauen Umstände nennt, wann die Behörde eine Anhörung der Partei für unmöglich halten darf. Betrachtet man zum Vergleich § 28 Abs. 2 Nr. 4 des deutschen VwVfG, geht es in diesem Fall der Ausnahmeregelung um die Anhörung im Fall von Massenentscheidungen. Der Grund hierfür liegt in den praktischen Schwierigkeiten der Durchführung einer Anhörung in diesen Fällen.36 Man könnte so bei der Anwendung und der Auslegung des § 30 Abs. 2 Nr. 4 GVwVf die in § 28 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG genannten Fälle berücksichtigen. Eine Erklärung für die Unbestimmtheit dieses Ausnahmetatbestandes des § 30 VwVfG könnte sein, dass der Definition des thailändischen Verwaltungsakts zwar der deutsche Verwaltungsaktbegriff als Vorbild zugrundegelegt wurde, das thailändische Gesetz jedoch keine Bestimmung über eine Allgemeinverfügung im Sinne von § 35 S. 2 VwVfG enthält. Entsprechend wurde dann der Wortlaut von § 30 Abs. 2 Nr. 4 GVwVf umformuliert. In der Durchführung der Anhörung der Beteiligten durch die Verwaltung lassen sich einige Schwierigkeiten in der Umsetzung und Einhaltung dieses grundlegenden Prinzips des Verwaltungsverfahrens erkennen. Hierzu folgen nun einige Beispiele, die den Verwaltungsgerichten zur Entscheidung vorlagen. Eine der bekanntesten Entscheidungen zum Anhörungsrecht im Verwaltungsverfahren ist der Fall „Mae-Ay“.37 Dieses Urteil wurde mit großem Interesse erwartet, da es in diesem Fall 866 Kläger gab. Der Sachverhalt ist 35
Text des § 30 Abs. 2 GVwVfG in Anm. 31. W. Clausen, in: H.-J. Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar, 7. Aufl., München 2000, § 28 Rn. 21. 37 Urteil Nr. O. 117/2548 (2005). 36
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wie folgt: Im Jahr 1977 gab es einen Brand im District Mae-Ay in der Provinz Chiang Mai. Bei diesem Brand wurden die Unterlagen des Einwohnermeldeamtes teilweise zerstört. In die Zuständigkeit des thailändischen Einwohnermeldeamtes fällt nicht nur die Registrierung der Bewohner, sondern auch die Ausstellung von Personalausweisen. Die Kläger beantragten ihre Registrierung, die von der Behörde jedoch abgelehnt wurde, da die betreffenden Akten aufgrund des Brandes nicht mehr vorhanden waren. Zu dieser Zeit war noch eine Deklaration38 der Revolutionsgruppe in Kraft, wonach Personen, die vor 1992 in Thailand geboren waren und ein Elterteil mit birmanesischer Staatsangehörigkeit hatten, die thailändische Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Die Kläger hatten aufgrund dieser Regelung Angst, ihre Staatsanghörigkeit zu verlieren und aus Thailand ausgewiesen zu werden. Sie beantragten daraufhin, die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit, welche mit einer vorübergehenden Eintragung ins Melderegister verbunden war. Im Jahr 1992 wurde die Deklaration Nr. 337 dann aufgehoben. Die Staatsangehörigkeit der Kläger war somit wieder allein durch ihren Geburtsort in Thailand gesichert. Sie beantragten daraufhin, dass sie in das Hausregister eingetragen werden. Die Behörde erteilte die Anordnung zur Änderung der Staatsangehörigkeit der Antragsteller im Melderegister und die Aufnahme der Namen von insgesamt 1.243 Personen im Hausregister. Ferner beantragten die Kläger auch die Ausstellung eines Personalausweises. Im April 2001 entstand aufgrund der Ausstellung einer Vielzahl von Personalausweisen der Verdacht, dass hier ein Fall von Korruption vorlag. Die daraufhin angeordnete Untersuchung ergab, dass die Anträge zur Aufnahme in das Hausregister von 1.243 Personen fehlerhaft gestellt worden seien, da die Personen keine thailändische Staatsangehörigkeit besäßen, sondern vielmehr einer Minderheit angehörten. Die Behörde hat aufgrund der Untersuchungen die Personen daraufhin aus dem Hausregister gelöscht. Sie war der Ansicht, dass die Betroffenen nicht in ihren Rechten verletzt seien. Die Behörde stützte ihre Entscheidungen dabei auf die fehlerhaft gestellten Anträge, was sie nach Ansicht der Behörde von einer vorherigen Anhörung der Kläger entband. Dies wurde auch damit begründet, dass nach den Bestimmungen des Gesetzes über Hausregister,39 Namen und Daten von Personen, die rechtswidrig im Register stehen, durch die Behörde gelöscht werden können. Darüber hinaus ergebe sich aus diesem Gesetz auch keine ausdrückliche Regelung über eine vorherige Anhörung. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied den Fall mit folgenden Erwägungen: Das Verwaltungsverfahrensgesetz umfasst den Zeitraum von der Vorbereitung bis zum Erlass eines Verwaltungsakts. Soweit spezialgesetz38 39
Nr. 337, B. E. 2515 (1972). B. E. 2534 (1991).
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liche Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren fehlen oder einen geringeren Standard aufweisen, muss die Behörde gemäß § 3 die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes anwenden. Die Behörde entschied nach dem Außerkrafttreten der Deklaration auf erneuten Antrag der Kläger, diese ins Melderegister aufzunehmen. Diese Genehmigung wurde dabei auf die Behauptung der Kläger gestützt, dass sie vorher die thailändische Staatsangehörigkeit gehabt hätten. Durch diese Genehmigung erwachsen den Klägern Rechte und Pflichten, wie beispielsweise die thailändische Staatsangehörigkeit, die damit verbundene Eintragung in die verschiedenen Register und insbesondere auch die Möglichkeit, einen Personalausweis zu beantragen. Diese Genehmigung stellt einen Verwaltungsakt gemäß § 5 GVwVf dar. Durch die danach von der Behörde erlassene zweite Anordnung zur Löschung der Namen und Daten über die Kläger aus dem Hausregister wurde den Klägern die thailändische Staatsanghörigkeit entzogen und sie mussten ihre Personalausweise zurückgeben. Die erste Anordnung war damit auch hinfällig geworden. Diese zweite Anordnung erließ die Behörde jedoch ohne vorherige Anhörung der Kläger, obwohl sie für die Kläger eine belastende Maßnahme darstellt und die Kläger daher gemäß § 30 GVwVf zuvor hätten angehört werden müssen. Die zweite Anordnung war daher rechtwidrig und der frühere Rechtszustand der Betroffenen wiederherzustellen. In einem weiteren Beispiel geht es um eine Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs40 über die Rechtmäßigkeit einer Nutzungsuntersagung und einer damit verbundenen Abbruchverfügung. Die zuständige Gemeindebehörde erlangte von einem ohne Baugenehmigung fertig gestellten Gebäude Kenntnis. Sie erließ daraufhin gemäß § 40 Abs. 1 Baugesetz41 eine Anordnung über das Verbot der baulichen Nutzung. Ferner erließ die Behörde auch eine Anordnung über den Abriss des Gebäudes gemäß § 42 des Baugesetzes. Die Behörde war der Ansicht, dass das Gebäude aufgrund der bestehenden Baumängel nicht nachträglich genehmigt werden konnte. Der Bauherr legte hiergegen Widerspruch ein. Der Widerspruch wurde von der Widerspruchsbehörde abgelehnt. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied, dass es sich sowohl bei der Anordnung des baulichen Nutzungsverbots und auch bei der Anordnung zum Abriss des Gebäudes um einen Verwaltungsakt gemäß § 5 GVwVf handelt. Das thailändische Baugesetz von 1979 enthält keine speziellen Verfahrensbestimmungen über den Erlass einer baurechtlichen Verwaltungsentscheidung. Gemäß § 3 GVwVf42 ist somit das allgemeine Verwaltungsver40
Nr. O. 36/2547 (2003). B. E. 2522 (1979). 42 Vgl. § 3 GVwVf, wonach die spezialgesetzliche Verfahrensregelung, soweit sie einen geringeren Standard aufweist, nicht angewendet wird, sondern das allgemeine 41
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fahrensgesetz anzuwenden, und entsprechend § 30 GVwVf muss vor dem Erlass einer für den Antragsteller nachteiligen baurechtlichen Verwaltungsverfügung die betroffene Partei gehört werden. In diesem Fall hat die Gemeindebehörde die Anordnungen zum Nutzungsverbot und zum Abbruch des Gebäudes, einen in die Rechte des Klägers eingreifenden Verwaltungsakt, erlassen, ohne ihm die Gelegenheit einzuräumen, zu den Tatsachen Stellung zu nehmen. Die Begründung der Verfügungen wurde allein auf die Tatsache gestützt, dass der Bau ohne Baugenehmigung erfolgt war. Es wurden von der Behörde keine Ausführungen über die tatsächlich von dem Gebäude ausgehenden Gefahren gemacht. Ferner wurden von der Behörde auch keine Möglichkeiten erwogen, wie der Bau durch nachträgliche Baumaßnahmen in einen den baurechtlichen Anforderungen entsprechenden Zustand versetzt werden könnte. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied, dass die Anordnungen aufgrund der unterbliebenen vorherigen Anhörung des Klägers rechtswidrig sind. In einem weiteren Fall hatte der Oberste Verwaltungsgerichtshof über die Zulässigkeit eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu entscheiden.43 Der Antragsteller war Eigentümer eines Grundstücks, das in einem Gebiet liegt, welches von einer Landwirtschaftsreform betroffen war. Durch den Ausschuss wurde am 9. Juli 2004 entschieden, dass das Grundstück des Klägers teilweise außerhalb der Projektgrenzen der Landwirtschaftsreform lag. Dem Kläger wurde darüber eine entsprechend geänderte Urkunde ausgestellt. Der Kläger behauptete, dass die von der Behörde zunächst ausgestellte Urkunde über das von ihm bewirtschaftete Grundstück richtig sei und er ferner dieses nun auch seit zehn Jahren besessen und entsprechend genutzt hätte. Die Entscheidung des Ausschusses sei daher rechtwidrig, da die Behörde ihre Entscheidung auch aufgrund einer einseitig erfolgten Tatsachenermittlung getroffen hätte. Der Kläger stellte daraufhin einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das Oberste Verwaltungsgericht hat die Entscheidung44 des Ausschusses als Verwaltungsakt gemäß § 5 GVwVf charakterisiert. Die Behörde räumte selbst ein, dass sie kein Anhörungsverfahren durchgeführt habe. Sie war der Meinung, dass sich der ihrer Entscheidung zugrundezulegende Sachverhalt schon aus den Antragsunterlagen zur Erteilung der Urkunde des Landwirtschaftsreformgrundstücks ergebe. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof gab Verwaltungsverfahrensgesetz Anwendung findet. Soweit das speziellere Gesetz jedoch einen höheren Verfahrensstandard hat, muss die Behörde diesen befolgen. 43 Nach dem thailändischen GVwVf hat der Widerspruch gemäß § 44 grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, der Kläger muss daher einen Antrag auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Verwaltungsakts stellen. 44 Beschluss des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 504/2548 (2005).
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dem Antrag statt und ordnete die aufschiebende Wirkung mit folgenden Ausführungen an: Die Antragsunterlagen enthielten nur Angaben über persönliche Daten des Klägers, die Größe des Grundstücks, die Art der Nutzung, die vom Kläger beantragt wurde, und eine Einverständniserklärung des Antragsstellers, etwaigen rechtlichen Verpflichtungen bei der Nutzung des Grundstücks nachzukommen. Anhaltspunkte über den Grund der Aufhebung der ursprünglich erteilten Nutzungsbescheinigung gingen aus der Urkunde nicht hervor. Dem Antrag zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung wurde stattgegeben. Das thailändische GVwVf regelt sowohl formellrechtliche als auch materiellrechtliche Grundsätze des Verwaltungsverfahrens. Der Grundsatz auf rechtliches Gehör wird ausdrücklich in § 30 GVwVf normiert. Das Anhörungsgebot schützt den Bürger bei der Verwirklichung seiner Rechte gegenüber der Behörde im Verfahren zum Erlass eines ihn belastenden Verwaltungsakts. Die drei hier vorgestellten Fälle zeigen, dass die Behörde Schwierigkeiten bei der Anwendung der Beteiligtenrechte im Verwaltungsverfahren hat und diese daher häufig auch unberücksichtigt bleiben. Ein Grund könnte darin liegen, dass die Behörde den Sinn der Anhörung nicht richtig erfasst hat und die neuen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrengesetzes in der Behördenpraxis noch ungewohnt und fremd sind. Die Nichtberücksichtigung des Anhörungsgebots wird daher in vielen Fällen unabsichtlich geschehen. Dies zeigt sich insbesondere im letzten Fall, wo die Behörde selbst darauf hinweist, dass sie dem Anhörungsgebot nicht nachgekommen ist. Außerdem könnte die Nichtbeachtung der allgemeinen Verwaltungsverfahrensbestimmungen auch damit erklärt werden, dass die Behörden gewohnt sind, spezialgesetzlichen Bestimmungen den Vorrang einzuräumen, hier jedoch gerade häufig keine entsprechenden Vorschriften vorhanden sind. Im Fall „Mae-Ay“ beruht die zweite Anordnung auf der „Deklaration über den Mae-Ay District“, wonach die Löschung der persönlichen Daten aus dem Melderegister die Aberkennung der thailändischen Staatsangehörigkeit nach sich zieht und die Meldung im Hausregister rechtswidrig werden lässt. Diese Anordnung ist beim District veröffentlicht. Die Behörde hatte die Kläger nicht angehört, bevor sie die persönlichen Daten der Kläger aus dem Hausregister gelöscht hat. In dieser Anordnung ist somit ein belastender Verwaltungsakt zu sehen, denn den Klägern wurde damit auch die thailändische Staatsangehörigkeit entzogen und sie mussten ihre Personalausweise zurückgeben. Der Sinn der Reglung von § 30 GVwVf wird an diesem Beispiel sehr deutlich. Der Bürger soll vor Verwaltungsentscheidungen, die in seine Rechte eingreifen, von der Absicht der Behörde Kenntnis erlangen, und ihm soll die Möglichkeit gegeben werden, hierzu Stellung
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zu nehmen und seine Rechte zu verteidigen. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt das Anhörungsrecht gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG zur Anwendung, wenn mit dem Verwaltungsakt die Rechtsstellung des Beteiligten zu seinem Nachteil verändert wird.45 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn, wie vorliegend, eine einzelne Verwaltungsentscheidung so weitreichende Folgen wie die Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte nach sich zieht. Die Behörde hat vorliegend zu Unrecht den Ausnahmetatbestand von § 30 Abs. 2 Nr. 3 GVwVf ihrer Entscheidung zugrundegelegt, da sie meinte, die Anordnung verletze keine Rechte der Kläger und von einer Anhörung könne daher abgesehen werden. Zum Ausnahmetatbestand gemäß § 30 Abs. 2 Nr. 4 GVwVf, der hier auch in Betracht gekommen wäre, hat sie keine Ausführungen gemacht. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine Allgemeinverfügung in Sinne von § 35 S. 2 VwVfG. Die Anordnung über die Löschung der Daten im Hausregister im Fall „Mae-Ay“ wurden offenkundig nicht mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen. Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte diese Anordnung zwar ein gleichartiger Verwaltungsakt sein, da es auch nur um eine einzige Anordnung handelte, die jedoch 1.243 Personen betraf. Diese Anordnung hängt im Gegensatz zu einer Allgemeinverfügung jedoch von unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen ab, so dass der hier zum Vergleich herangezogene Ausnahmetatbestand von § 28 Abs. 2 Nr.4 VwVfG auch nicht einschlägig wäre. Vor Erlass dieser belastenden Anordnung war die Behörde deshalb verpflichtet, die Kläger bzw. alle anderen Betroffenen anzuhören. Die Anhörung wurde in dieser Entscheidung vom Obersten Verwaltungsgerichtshof trotz der Vielzahl der Fälle als unentbehrlich angesehen. Der Oberste Verwaltungsgerichthof betonte dabei ausdrücklich die rechtsstaatliche Funktion des Anhörungsrechts zum Schutz der Bürger gegenüber dem Staat. V. Beispiele bezüglich der materiellrechtlichen Hinsicht Der vorhergehende Teil zeigt Beispiele aus der Rechtsprechungspraxis der thailändischen Verwaltungsgerichte zur formellen Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten. Im Folgenden sollen noch zwei Beispiele hinsichtlich der Prüfung der materiellrechtlichen Rechtmäßigkeit von Behördenentscheidungen aufgegriffen werden. Im ersten Beispiel geht es um die Ablehnung eines Bewerbers bei der Staatsanwaltschaft wegen seiner körperlichen Behinderung.46 Der Sachver45 BVerwG vom 14.10.1982, vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., München 2006, § 19 Rn. 20; H. J. Bonk, in: P. Stelkens/H. Bonk/M. Sachs, VwVfG Kommentar, 6. Aufl., München 2001, § 28 Rn. 26.
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halt ist wie folgt: Der Kläger war lange als Rechtanwalt tätig. Er hatte sich bei der Staatsanwaltschaft als Staatsanwalt auf Probe beworben. Es gab ein medizinisches Gutachten, in dem eine körperliche Behinderung des Bewerbers festgestellt wurde. Der Ausschuss, der die Eignung der Bewerber prüfte, war der Ansicht, dass der Kläger aufgrund des ärztlichen Gutachtens nicht für die ausgeschriebene Stelle geeignet sei und lehnte ihn daher ab. Das Zentrale Verwaltungsgericht wies die vom Kläger erhobene Klage als unbegründet ab. Der Kläger legte hiergegen zum Obersten Verwaltungsgerichtshof Berufung ein. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof bezog sich in seiner Entscheidung47 auf Art. 30 der thailändischen Verfassung von 1997. Art. 30 normiert den Gleichheitssatz sowie ein Diskriminierungsverbot, das alle staatlichen Organe bindet. Außerdem regelt Art. 30 Abs. 3, „dass niemand wegen seiner Herkunft, seiner Abstammung (. . .), seines Körperzustands oder seiner Gesundheit (. . .) benachteiligt oder bevorzugt werden darf“.
Das Gericht argumentierte, dass ein ärztliches Gutachten insoweit nur als eine Grundlage der behördlichen Entscheidungsfindung zu betrachten sei. Die Beklagte habe im vorliegenden Fall jedoch der Entscheidung das ärztliche Gutachten ohne Rücksicht auf die tatsächliche Leistungs- und Arbeitsfähigkeit des Klägers zugrundegelegt und die Bewerbung daraufhin abgelehnt. Obwohl der Kläger eine körperliche Behinderung hat, sei darin kein unmittelbares Hindernis bei der Ausübung der Tätigkeit eines Staatsanwaltes zu erkennen. Zumal der Kläger bereits langjährig als Rechtsanwalt tätig war. Die Ablehnung der Einstellung des Klägers durch die Beklagte sei daher aus unzureichenden und nicht nachvollziehbaren Gründen erfolgt. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof stellte eine Diskriminierung fest. Die Entscheidung der Beklagten war daher rechtswidrig und aufzuheben. Der Klage wurde mithin statt gegeben. Interessant an diesem Fall des Obersten Verwaltungsgerichtshofs war die Frage, ob das Gericht die Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit des Verwaltungsakts überprüfen darf. Ähnlich wie Art. 3 Abs. 3 GG sieht Art. 30 der thailändischen Verfassung ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot im Hinblick auf eine körperliche oder geistige Behinderung vor. Das Gericht ist der Ansicht, dass die vorliegende Begründung der Beklagten zur Ablehnung der Einstellung des Klägers nicht ausreichend ist. Die tatsächliche Arbeitsfähigkeit des Klägers ist überhaupt nicht in Betracht gezogen 46
C. Sawangsagdi, International Dialogue on Administrative Reforms: The ThaiGerman Dialogue on Administrative Reform, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 229. 47 Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. O. 142/2547 (2004).
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worden. Der behördlichen Entscheidung wurde nur das ärztliche Gutachten zugrunde gelegt. Wichtig ist jedoch, dass der Kläger zuvor bereits als Rechtsanwalt tätig war. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Art der Tätigkeit eines Rechtsanwalts und Staatsanwalts vergleichbar ist und der Kläger deshalb geeignet sei, die Aufgabe eines Staatsanwalts auszuüben. Fehlt es an einer eigenständigen Auseinandersetzung und Bewertung der Leistungsmöglichkeiten des Klägers, ist die behördliche Entscheidungsbegründung unzureichend. Eine entsprechende Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Sachverhalt gebietet insbesondere auch das ausdrückliche Diskriminierungsverbot in Art. 30 der thailändischen Verfassung. In einem weiteren Beispiel ging es um die Vergabe von Stipendien. Der Kläger bewarb sich an der Universität für ein Stipendium zur Promotion im Ausland. Nach der Satzung der Universität erfolgt zunächst eine Aufnahmeprüfung. Die Bewerber müssen bei der schriftlichen Prüfung in Englisch sowie bei der fachlichen Prüfung mindestens jeweils 60 % der möglichen Punkte erreichen. Nach erfolgreichem Abschluss werden sie zu einem persönlichen Interview geladen. Der für das Auswahlverfahren zuständige Ausschuss hatte die Bestimmungen insofern geändert, dass auch Bewerber, die beim Fremdsprachentest nur 50 % erreichten, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhielten. Nach dieser Bestimmung wurden insgesamt drei Personen ausgewählt. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied,48 dass die Satzung der Universität die Behörde bindet. Der Ausschuss für Auswahlprüfungen sei nicht befugt, andere Regeln außer den geltenden Vorschriften der Universität anzuwenden. Die Anordnung bezüglich der Auswahl der Stipendiaten sei deshalb rechtswidrig. Es bestünde ansonsten die Gefahr, dass der Ausschuss willkürlich eine andere Regel erlassen und anwenden könnte. Betrachtet man diesen Fall, stellt er sich auch als Problem der materiellen Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts dar. Es ging um die Anordnung des Rektors der Universität bezüglich der Vergabe der Stipendien für einen Auslandsaufenthalt. Die Universität ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts. Die Anordnung wird auf der Grundlage des Prüfungsergebnisses vom Ausschuss für die Auswahlprüfung erlassen. Die Anordnung hat Außenwirkung. Sie wurde als rechtswidrig erachtet. Denn die ausgewählten Kandidaten sind nach der Satzung der Universität nicht qualifiziert. Die Satzung regelt, dass die Bewerber bei der schriftlichen Prüfung in Englisch sowie bei der fachlichen Prüfung mindestens 60 % erreichen müssen. Die Behörde bzw. der Ausschuss für Auswahlprüfung erließ mit seiner Änderung eine neue Regelung. Dafür hatte er jedoch keine Ermächtigung. 48
Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. O. 173/2547 (2004).
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Ein weiteres interessantes Beispiel der Rechtssprechung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs49 sind die Erwägungen über die Nichtigkeit von Verwaltungsakten. In diesem Urteil ging es um die Amtshaftung eines Beamten. Die Behörde hat im thailändischen Recht die Möglichkeit, von dem einzelnen Beamten den Schadensersatz direkt und ohne vorherige Klage einzufordern.50 Gemäß § 57 GVwVf stellt die Anordnung zur Zahlung einer Geldforderung einen Verwaltungsakt dar. Zum Erlass einer solchen Anordnung muss der Beamte die Amtpflichtverletzung mit Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit begangen haben. Die Behörde bzw. der Dienstherr muss, bevor er die Anordnung erlässt, das Finanzamt über den Fall in Kenntnis setzen, damit dieses die Amtspflichtverletzung und die Höhe des Schadens überprüft. Die Behörde vernachlässigte im vorliegenden Fall diese Pflicht und erließ direkt die Anordnung. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof entschied, dass die Anordnung offensichtlich und schwerwiegend fehlerhaft sei und man diesen Fall rechtlich so zu behandeln habe, als ob kein Verwaltungsakt vorläge. Nach dem thailändischen Gesetz über das Verwaltungsverfahren gibt es keine ausdrückliche Regelung über die Nichtigkeitsgründe von Verwaltungsakten, wie man sie in § 44 VwVfG findet. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof sagte zwar nicht ausdrücklich, dass der Verwaltungsakt nichtig sei. Es wird jedoch betont, dass die Anordnung offensichtlich und schwerwiegend fehlerhaft ist, und daraus die Rechtsansicht abgeleitetet, dass dieser Fall so zu behandeln sei, als ob kein Verwaltungsakt vorläge. Aufgrund dieser höchstrichterlichen Argumentation kann man sagen, dass der Verwaltungsakt nichtig ist, denn er hat keine Rechtswirkung entfaltet bzw. seine Rechtwirkung hat von vornherein nicht bestanden. VI. Zusammenfassung Das thailändische Verwaltungsrecht hat in den letzten zehn Jahren wesentliche Neuerungen erfahren. Zunächst trat das thailändische Verwaltungsverfahrensgesetz im Jahr 1996 in Kraft. Im Anschluss daran wurden im Jahr 1999 die ersten Verwaltungsgerichte eingerichtet, die seit 2001 ihre gerichtlichen Aufgaben wahrnehmen. Die Einführung des GVwVf und die Aufnahme der Arbeit durch die thailändische Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen in engem Zusammenhang. Das Gesetz zum Verwaltungsverfahren wird dabei von den Verwaltungsgerichten nicht nur durchgesetzt, sondern auch zukunftsweisend ausgelegt und weiterentwickelt. 49
Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Nr. 47/2546 (2003). Nach § 12 des Gesetzes über die Amtshaftung und die Staatshaftung, B. E. 2539 (1996). 50
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Die Klagestatistiken zeigen, dass die Bürger die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber der Verwaltung erkennen und dieser Einrichtung vertrauen. Obwohl die Verwaltungsgerichtsbarkeit erst seit ein paar Jahren ihre Tätigkeit aufgenommen hat, sind einzelne Urteile exemplarisch herausgegriffen worden, um zu zeigen, dass sie schon heute neben der Durchsetzung und Auslegung des GVwVf darüber hinausreichende Verwaltungsrechtsgrundsätze entwickelt hat, um Gesetzeslücken, wie beispielsweise im Fall der Nichtigkeit von Verwaltungsakten, zu schließen. Das Urteil über die Ablehnung der Beschäftigung eines körperlich behinderten Rechtsanwalts zeigt darüber hinaus, dass auch die Verfassungsgrundsätze, hier der Gleichheitssatz, vom Verwaltungsgericht herangezogen und konkretisiert werden. Im deutschen Verwaltungsrecht ist neben der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die Rechtslehre von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung des Verwaltungsrechts. Auf diesem Wege sind Verwaltungsrechtsgrundsätze entstanden und von der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchgesetzt worden.51 Interessant und richtungsweisend für die thailändische Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dabei, dass in deutschen Gerichtsentscheidungen nicht nur auf die rechtlichen Grundlagen Bezug genommen wird, sondern auch Lehrbücher und wissenschaftliche Abhandlungen einen wichtigen Bestandteil der gerichtlichen Argumentation bilden. Dieses Phänomen ist in der thailändischen Rechtsprechung nicht festzustellen. Bisher wird auf die ständige Rechtsprechung verwiesen, auf Lehrmeinungen wird in der thailändischen Rechtsprechung kaum Bezug genommen.
51 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., München 2006, § 2 Rn. 10.
Beobachtungen beim Demokratietransfer Wolfgang Zeh Ein Schwerpunkt der Arbeit und ein besonderes Anliegen sind für Heinrich Siedentopf die Vermittlung des deutschen Verwaltungsrechts und Verwaltungssystems im internationalen Raum. Neben den Diensten, die er dadurch der deutschen Verwaltung im Allgemeinen und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften im Besonderen erbringt, liegt darin eine nicht hoch genug zu schätzende Unterstützung von Ländern, die sich um Aufbau oder Weiterentwicklung einer sowohl effizienten als auch demokratischrechtsstaatlichen Verwaltung bemühen. Zugleich nützt das dem Ansehen Deutschlands in der Welt, welches sich, neben dem Respekt für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz wesentlich auf das Politik- und Verwaltungssystem der Bundesrepublik gründet. Die deutsche Verwaltung im Ausland darzustellen heißt, sie im Kontext von Verfassung und Regierungssystem zu erläutern. Schon damit ist klar – noch abgesehen von geschichtlichen, politischen, sozialen, mentalen Rahmenbedingungen in den zu beratenden Ländern –, dass es nicht genügen würde, etwa eine Art Blaupause der deutschen Institutionen und Prozeduren ohne Bezug auf Geschichte und Gesellschaft anzubieten. Es kommt zudem darauf an, im Vergleich mit den eigenen Gegebenheiten die Besonderheiten des jeweiligen Landes zu erkennen, sich lernend auf sie einzulassen und zu prüfen, inwieweit und mit welchen Abwandlungen deutsche Beispiele geeignet sein könnten, dort überhaupt richtig verstanden, in die je eigenen Bedingungen eingeordnet und mit den politischen Voraussetzungen kompatibel gemacht zu werden – das alles jedoch keineswegs ohne die Erwägung, dass diese anderen politischen und sonstigen Voraussetzungen ihrerseits Anstöße zu Veränderungen erfahren können, wenn attraktive Teilelemente, zum Beispiel der öffentlichen Verwaltung, eben nur zusammen mit weiterreichender politischer Veränderungsbereitschaft implementierbar sind. Das gilt für administrative Strukturen und Fähigkeiten ebenso wie für solche des Gerichtswesens, der Gesetzgebung oder des Mediensektors. Die Dinge sind eng verflochten und bilden füreinander jeweils Einflussfaktoren, Variablen und Randbedingungen. Auch deshalb wird von Deutschland aus auf zahlreichen Sektoren Beratung im Ausland geleistet, und es ist möglich, dass die dabei gemachten Erfahrungen überall ähnlich sind im Sinne der
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soeben skizzierten Erfordernisse. Im Folgenden werden daher einige Beobachtungen auf dem Felde der Vermittlung parlamentarischer Institutionen und Prozeduren in knapp zusammengefasster und freilich nur fragmentarischer Form dargestellt. Sie sind gewonnen in über dreißig Beratungsmissionen, die der Verfasser dieser Zeilen seit dem weltpolitischen Umbruch ab 1989/90 in Staaten vor allem Mittelost- und Südosteuropas, aber auch Asiens und Afrikas absolviert hat.
I. Zur Akzeptanz politisch-administrativer Beratung aus Deutschland Im Zuge der Wiedervereinigung Europas und der Umformung der weltweiten politischen Beziehungen ab 1989/90 ist Deutschland in einem Maße zur Unterstützung und Beratung von politischen Wandlungsprozessen gebeten, ja gedrängt worden, das zunächst überrascht, dann motiviert und schließlich erfreut hat. Es ging nicht nur – freilich auch – um materielle Aufbauhilfe besonders für Staaten, die sich aus dem System des Warschauer Pakts gelöst hatten und sich westlichen Werten von Freiheit und Demokratie teils wieder, teils auch erstmals zuwandten. Es wurde dort von Anfang an erkannt, dass dies vor allem auch den Erwerb von methodischen und strukturellen Kenntnissen und Kompetenzen erforderte, welche die fehlenden oder verschütteten Erfahrungen mit Rechtsstaat und Parlamentarismus zunächst notdürftig ersetzen und dann möglichst im Schnellgang erzeugen sollten. Auch in Ländern außerhalb Europas war die Vermittlung deutscher Erfahrungen lebhaft gefragt, wenn es um Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse ging (Wahlrecht, Stellung und Verfahren des Parlaments, Justiz- und Polizeireformen, Aufbau von Verfassungsgerichten, Kontrolle von Nachrichtendiensten u. a.m.). Die Gründe für das besondere Interesse für deutsche Erfahrungen und Beispiele, die geradezu zu einem Exportartikel wurden (wohlgemerkt mit den eingangs skizzierten Voraussetzungen einer nur bedingten und angepassten Übertragbarkeit), sind von Land zu Land unterschiedlich, weisen aber für bestimmte, größere oder kleinere Gruppen von Staaten auch Gemeinsamkeiten auf. 1. Ein übereinstimmender Grund für die Erwartung der Nützlichkeit deutschen Erfahrungswissens liegt in der Anerkennung, welche die Entwicklung der Bundesrepublik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute international gefunden hat. In Deutschland selbst hat man oft nicht recht gewagt, sich die Erfolge in dem Maße selbst zuzuschreiben, in dem es vom Ausland aus geschieht. Dort werden der wirtschaftliche Wiederaufstieg nach 1945/49, der Ausbau des Sozialsystems, das hohe Maß an innerem und äußerem Frieden, das weitgehende Ausbleiben von Regierungskrisen,
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der öffentliche demokratische und verfassungsrechtliche Grundkonsens, die rückhaltlose Orientierung auf die europäische Integration nebst kooperativer Führungsrolle in ihr, die Wiedervereinigung nebst relativ zügiger Bewältigung ihrer Wirtschafts- und Strukturfolgen allesamt als Leistungen gewertet, die auf weitblickende Entscheidungen, effiziente Organisation und kluges Verhalten zurückzuführen sind. Auch wenn wir selbst die Dinge differenzierter und unter Vermeidung jeglicher Selbstzufriedenheit betrachten – was ja seinerseits auch eine vernünftige und geschickte, im Ausland manchmal mit Augenzwinkern als sehr geschickt betrachtete Haltung ist –, jedenfalls aus der Sicht weniger glücklicher Länder müsste von einem solchen Land das eine oder andere zu lernen sein. Was übrigens gerade die deutsche Wiedervereinigung betrifft, hat sich Südkorea in den Folgejahren intensiv vor allem mit den wirtschaftlichen Konsequenzen der Integration eines planwirtschaftlich zugrunde gerichteten Landes beschäftigt und die deutsche Entwicklung in zahlreichen Begegnungen von Parlamentariern und Experten studiert. 2. Ein weiterer Grund, aus dem Beratung aus Deutschland willkommen ist, betrifft besonders Länder in Asien und Afrika. Es handelt sich um solche Länder, die sich von ihren ehemaligen Kolonial- oder Interventionsmächten, deren Verhalten noch gut in Erinnerung ist, weiter emanzipieren oder mindestens deren wirtschaftlich und kulturell und oft gerade im Verwaltungssystem noch stark fühlbarem Einfluss etwas entgegensetzen wollen. Da bietet sich Deutschland, dessen koloniale Aktivitäten infolge des Ersten Weltkriegs weiter zurückliegen, als gleichsam neutrale Macht an, zumal im Lichte der ihm zugeschriebenen Leistungen. So wurde zum Beispiel seitens frankophoner Länder in Afrika, aber auch besonders von Südafrika, deutsche Beratung gesucht, wenn es um politischadministrative Reformansätze ging. Manchmal führte das zu delikaten Situationen, wenn etwa seitens des betreffenden Landes gegenüber international in Demokratisierungsprozessen engagierten Agenturen und Stiftungen zur Bedingung einer geplanten Mission gemacht wurde, dass das Team auch einen deutschen Experten umfassen müsse. Vor Ort kam es dann gelegentlich zu einem – vom besuchten Land oft gern gesehenen und auch angeregten – Wettbewerb um die überzeugendere Darstellung der verschiedenen nationalen Modelle. An welcher jeweils national bewährten Prozedur das beratene Land sich dann orientieren sollte, blieb ihm auf der Basis solcher Vergleichsmöglichkeiten überlassen. Nicht immer ist die Entscheidung so leicht wie in einem Fall, in dem es um die Frage ging, wie im Parlament der Streit der Fraktionen um die Besetzung des Vorsitzes der verschiedenen Ausschüsse gelöst werden könne. Der US-amerikanische Vertreter empfahl das im Kongress bewährte Senioritätsprinzip, hatte aber übersehen, dass es
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sich um ein Land handelte, das erst im Begriff war, ein (neues) Parlament aufzubauen und es folglich noch keine Reihenfolge des Dienstalters von Abgeordneten geben konnte, sodass sich ein anderes Verfahren – die proportionale Verteilung der Vorsitze gemäß der Mitgliederzahl der Fraktionen – durchsetzte. In Südostasien wird der Beratung aus Frankreich und England und ebenso der aus den USA – hier infolge des Vietnamkriegs – in explizit politischparlamentarischen Fragen ebenfalls nicht das unbefangene Vertrauen entgegengebracht wie derjenigen aus Deutschland. Das hat dort noch einen besonderen Zusammenhang, der sozusagen als eine List der Geschichte wirkt. Die ehemalige DDR hatte nämlich im Rahmen von Comecon und Warschauer Pakt bei der Interessenvertretung und beeinflussenden Unterstützung in anderen Staaten einige Länder in dieser Region (daneben auch Tibet) zu betreuen. Das hat Beziehungen und Sympathie der politischen, administrativen, wirtschaftlichen und technologischen Fachleute dieser Länder zu Deutschland geschaffen, die fortwirken und heute für politische Beratung genutzt werden können (bei der übrigens Restbestände der ehemals gemeinsamen Ideologie nur noch eine marginale Rolle spielen). So sprechen auffallend viele Partner in Vietnam, Kambodscha und Laos mehr oder weniger gut deutsch, weil sie in Leipzig oder Berlin studiert haben, und sind besonders aufgeschlossen für Informationen und Erkenntnisse aus Deutschland. Etwas anders liegt es in Indonesien, wo seit langem gute – aber durchaus noch ausbaufähige – Beziehungen schon mit dem ehemaligen Westdeutschland bestanden, die ihrerseits auf ältere historische Vorlieben deutscher Kreise in Literatur, Geographie und Forschung für dieses Land zurückgehen. In neuerer Zeit wurde das auch durch den deutschen Bali-Tourismus unterstützt, aber nicht nur dadurch. Der zeitweilige Präsident Habibie hatte in Aachen Ingenieurswissenschaft studiert und mit der Promotion abgeschlossen, und er stützte seine innenpolitischen Reformen im Wahl- und Parlamentsrecht wesentlich auf anhaltende Beratung aus Deutschland. 3. Für die Länder Mittelost- und Südosteuropas, zunehmend aber auch für angrenzende nicht – aus deren Sicht: noch nicht – europäische Staaten (Kaukasusregion) kam und kommt ein weiteres Motiv hinzu, das mit Europa und mit Deutschlands Position als zentral gelegene und bevölkerungsstärkste Macht innerhalb Europas gekennzeichnet werden kann. Weithin wird angenommen, Deutschland sei aus diesen gleichsam natürlichen Gründen der wichtigste Partner innerhalb der EU, wenn es um das Heranrücken an diese gehe, um privilegierte Handelsbeziehungen und Assoziierungen. Die geographische Position Deutschlands als nächster westlicher Nachbar trägt zusätzlich zu der Vorstellung bei, der Weg zu den europäischen und transatlantischen Familien führe über Deutschland.
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In der ersten Phase der Neuvereinigung Europas war das für die unmittelbaren östlichen Nachbarn vollends zweifelsfrei. In Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Slowenien spielte deutsche Beratung und Aufbauhilfe bei der (Rück-)Gewinnung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen eine bedeutende Rolle. Als dort die ersten Schritte getan waren, folgten in deren nördlich-östlicher und südöstlicher Nachbarschaft weitere Länder (Estland, Lettland, Litauen, Ukraine, Albanien, Bulgarien, Rumänien, Mazedonien), die im Rahmen ihrer Bemühungen um westliche Unterstützung regelmäßig zum Ausdruck brachten, dass sie beratende Zuwendung besonders auch von Deutschland erwarteten. Dabei fiel übrigens gelegentlich die interessante Beobachtung an, dass die Transformationsländer der ersten Phase schon wenige Jahre später in Ländern der nächsten Phase als Berater auftraten, beispielsweise Ungarn in Albanien, und dort politische und administrative Strukturelemente lebhaft empfahlen, die sie kurz zuvor ihrerseits aufgrund von Empfehlungen aus Deutschland – in unterschiedlicher Differenzierung – eingeführt hatten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Interesse von Ländern in (Re-)Demokratisierungsprozessen an deutscher Beratung und Unterstützung noch immer deutlich das Maß dessen übersteigt, was aufgrund von personellen und anderen Ressourcen leistbar ist. In diesem Zusammenhang muss auch einmal hervorgehoben werden, welche engagierte Arbeit die deutschen Parteistiftungen – neben vielen anderen Akteuren – in der internationalen Beratung leisten. II. Grundsätzliches zur Übertragbarkeit von Modellen Es wurde schon angedeutet, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen in zu beratenden Ländern ein schlichtes Angebot von Blaupausen nicht zulassen, jedenfalls nicht erfolgreich erscheinen lassen. Das bedeutet indessen nicht, dass der Transfer von anderwärts bewährten Modellen generell unmöglich und hoffnungslos wäre, dass also jeder Modernisierungs- und Demokratisierungsansatz in einem Transformationsland ganz neu und eigenartig entworfen werden müsste oder auch nur könnte. Vielmehr zeigt die langfristige Geschichte der Ausbreitung des Parlamentarismus, dass Länder unterschiedlicher Standards voneinander gelernt, attraktive Modelle aus anderen Ländern übernommen oder nachgebildet haben, freilich meist mit Abwandlungen und Anpassungen, die sich manchmal erst im weiteren Verlauf und Gebrauch durchgesetzt oder erwiesen haben. Gewiss sind gerade Parlamente als repräsentative Institutionen in ihrer je eigenen Kultur verwurzelt. Sie haben aber auch übergreifende staatstheoretische Wurzeln, und sie weisen gewisse organisatorische Erfordernisse
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mit typischen historischen Fortentwicklungen auf, entlang derer sie sich vergleichen und auf unterschiedliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen abstimmen lassen. So konnten Volksversammlungen sich gegenseitig auch über weitere Entfernungen und kulturelle Grenzen hinweg beeinflussen. In den politischen Aufbruchs- und Parlamentarisierungsschüben des 19. Jahrhunderts im kontinentalen Europa lässt sich ein Weg des Transfers parlamentarischer Einrichtungen und Übungen von England nach Frankreich und Belgien und von da aus nach Deutschland (Paulskirche) verfolgen. Im gleichen Zeitraum haben Länder in Lateinamerika sich an Institutionen des US-amerikanischen Systems (Präsident und Kongress mit zwei Kammern) orientiert. Im frühen 20. Jahrhundert lässt sich ein starker Einfluss der britischen und französischen Repräsentationsmodelle auf die Kolonien dieser Länder beobachten, der noch lange und teilweise bis heute nachwirkt (beispielsweise hat Neuseeland erst vor wenigen Jahren das aus England übertragene Mehrheitswahlrecht verlassen und es durch ein am deutschen Modell ausgerichtetes Proportionalwahlrecht ersetzt; und im Plenarsaal des Parlaments von Jamaica hängt an der Stirnseite noch immer ein Porträt der Queen, und die Sitzungen werden genau nach dem Ritus im britischen Unterhaus eröffnet). In jüngster Zeit ist die Übernahme von Teilmodellen westeuropäischer parlamentarischer Demokratien, darunter häufig von Deutschland, in Mittelosteuropa ganz offensichtlich. Zu allen Zeiten sind Modelle repräsentativer politischer Systeme aus anderen Ländern übernommen worden, aber eben (nur) als Modelle, nicht als fertige Schnittmuster. Sie waren anzupassen, zuzuschneiden auf die je besonderen und aktuellen Rahmenbedingungen, die oft sehr unterschiedlich waren und sind. Aktuell existieren unter diesen historischen und politischen Rahmenbedingungen einige ernste und schwerwiegende Restriktionen für die Übermittlung wirkungsvoller Regelungsmodelle und Verfahrensformen im verfassungsrechtlichen sowie politisch-organisatorischen Bereich. Einige davon scheinen generalisierbar zu sein und werden deshalb vor die Klammer gezogen, bevor länder- und regionenspezifische Besonderheiten erörtert werden. 1. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Fähigkeit und Bereitschaft in Transformationsländern zur Übernahme von demokratischen politischen Verfahren scheint die Frage zu sein, ob und wie lange das Land in seiner Geschichte Erfahrungen mit Parlamentarismus hat machen können. Nach diesem Kriterium lässt sich eine deutliche Hierarchie der betreffenden Länder beobachten. Je näher eine parlamentarische Phase der politischen Geschichte an demokratische Grundpositionen herangereicht hat, je länger sie andauerte und je stärker die Bevölkerung sich mit ihr identifiziert hatte, desto unmittelbarer und selbstverständlicher gelingt der Dialog zwischen politischen Akteuren dieser Länder und Beratern aus demokratisch-par-
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lamentarisch verfassten Staaten. Je weniger davon vorhanden war, desto häufiger treten Fehlinterpretationen und Missverständnisse dargestellter Verfassungsnormen, Verfahrensformen und Gestaltungsmöglichkeiten auf. Am deutlichsten tritt das in Ländern hervor, die niemals einen historischen Abschnitt, etwa im Zuge der europäischen Parlamentarisierungs- und Demokratisierungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, erlebt haben, in dem öffentlicher und friedlicher politischer Meinungskampf in institutioneller, nämlich parlamentarischer Form möglich gewesen wäre. In solchen Ländern kann schon die Erörterung oppositioneller Rechte von politischen Minderheiten auf Unverständnis oder Ungläubigkeit stoßen oder – eine gewissermaßen rationalere Form dieser Verständnislosigkeit – dahin gedeutet werden, dass man sich als Regierung in stabilen Wohlstandsländern eine Opposition leisten oder „halten“ könne, weil deren Gegnerschaft ungefährlich oder nicht wirklich ernst gemeint sei. Demokratie wird aus dieser Sicht oft schlicht mit Mehrheitsherrschaft gleichgesetzt. Dass das Mehrheitsprinzip in vielen nicht demokratischen Epochen und Institutionen angewandt wird und dass Demokratie erst mit der Gewährleistung der freien Betätigung politischer Minderheiten beginnt, ist unter solchen Umständen schwer zu vermitteln. Umgekehrt wird in diesen Ländern die Rolle der Opposition ebenfalls missverstanden, meist im Sinne einer verfassungsrechtlichen Lizenz zur bedingungslosen Bekämpfung gegnerischer Parteien vorzugsweise – aber durchaus nicht nur – der regierenden Mehrheit. Die Vorstellung, auch als Opposition permanent die Fähigkeit und Bereitschaft zum seriösen Regieren und Verwalten vorweisen zu sollen, löst dann eher Befremden aus. Was sich in derartigen Diskussionen zeigt, ist die fehlende Erfahrung mit einem demokratisch-parlamentarischen Grundkonsens und, folgerichtig, das fehlende gegenseitige Vertrauen darauf, dass das freie und demokratische System als solches nicht zur Disposition steht. 2. Eine weitere grundlegende Bedingung für das Verständnis parlamentarischer Formen der Politik, die mit der soeben behandelten häufig zusammenhängt, liegt in dem Ausmaß, in welchem ein Land in seiner Geschichte staatlich selbständig gewesen ist. Wer niemals die eigenen Angelegenheiten selbst regeln, die Aufgaben selbst angehen und die Machtmittel und Ressourcen selbst verantwortlich gebrauchen konnte, hat Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass über den richtigen Weg und die zu treffenden Entscheidungen gestritten werden kann und dass für diesen Streit faire und friedenswahrende Regeln nötig sind. Wer nicht selbst entscheiden kann, braucht keine Entscheidungsverfahren und kann nichts lernen über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Verantwortung sowie die daraus sich ergebenden tief reichenden Folgerungen für die Philosophie des Politischen.
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Diese Situation betrifft in Afrika und Asien ehemals kolonisierte Länder und in Europa vor allem einige des früheren sowjetischen Machtblocks. In diesen liegt es aber oft so, dass schon vor den zentralistischen Entscheidungs- und Weisungsstrukturen der Sowjetunion keine staatliche Selbständigkeit vorhanden war, die wesentlichen Vorgaben für Verwaltung, Wirtschaft, Sozialsystem und Kultur vielmehr von außen oder oben kamen, sei es vom russischen Zarenreich, von der Donaumonarchie, von osmanischer Herrschaft oder von deutschen und skandinavischen Adelsgeschlechtern. Besonders in den Fällen, in denen die Historie des Landes oder der Region eine nie unterbrochene Kette wechselnder Fremdherrschaft zeigt, fällt die Umorientierung auf selbst zu gestaltende, zu verantwortende und fortzuentwickelnde parlamentarische Entscheidungsverfahren schwer. 3. Mit den soeben behandelten grundsätzlichen Rahmenbedingungen hängt eine dritte meist zusammen: das Ausmaß gesellschaftlicher Selbstorganisation und selbständiger gesellschaftlicher Interessenwahrnehmung. Parlamentarismus und mit ihm moderne Verwaltung stützen sich auf sie, haben sie nicht nur zuzulassen oder in Rechnung zu stellen, sondern sind auf sie angewiesen. Gesetzgebung und Verwaltung in modernen, hoch differenzierten und pluralistischen Gesellschaften müssen, um akzeptiert zu werden und wirksam sein zu können, die gesellschaftliche Differenzierung abbilden und ihre Aktivitäten einbeziehen, und treiben sie dadurch zugleich weiter. In Ländern mit geringer gesellschaftlicher Selbstorganisation – durch Vereine, Berufsverbände, Gewerkschaften, Organisationen der Wirtschaft, Stiftungen, wissenschaftliche Vereinigungen, Schriftstellerverbänden, Bürgerinitiativen, Interessengruppen aller Art – fehlt diese Erfahrung des Zusammenwirkens bei Staat und Bürgern gleichermaßen. Aus der Sicht der Politik, auch wo sie reformorientiert ist und sich demokratisch-parlamentarisch entwickeln möchte, erwartet man von organisierter pluralistischer Partizipation eher Unübersichtlichkeit, Störungen, Verzögerungen und Handlungseinschränkungen denn hilfreiche Lernimpulse und Legitimitätszufuhr. Aus der Sicht der Bürger empfindet man Ratlosigkeit aufgrund des Fehlens bekannter und geübter Methoden der Adressierung von Interessen an Staat und Verwaltung, und gelegentlich auch Unbehagen und Wagnis bei der Vorstellung, eigene Interessen frei auszusprechen und ihre Förderung selbst mit in die Hand zu nehmen. Die verdeckte, gerade nicht offen organisierte Interessenförderung durch Verhaltensweisen, die wir manchmal etwas oberflächlich „Korruption“ nennen, ist natürlich kein Ersatz für die Mitwirkung, die parlamentarische Prozeduren benötigen, sondern behindert deren Entwicklung. In einigen Transformationsländern haben Mitarbeiter internationaler Einrichtungen sowie wirtschaftlicher Unternehmen und humanitärer oder kulturpolitisch aktiver Organisationen einheimische politisch aktive, meist jün-
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gere und fortschrittlich gestimmte Bürger dabei unterstützt, Zusammenschlüsse zu bilden und mit NGOs zusammenzuarbeiten. Damit wurden Wandlungsprozesse vorangetrieben, gelegentlich in durchaus aggressiver Weise (z. B. „Rosenrevolution“ in Georgien, „orange Revolution“ in der Ukraine). So verständlich das Bestreben erscheinen mag, die für parlamentarische Demokratien nötige gesellschaftliche Basis auf diese Weise gleichsam künstlich oder im Schnellverfahren herbeizuschaffen, so ungewiss scheint jedoch, ob eine im gesamtgesellschaftlichen Grundkonsens voranzubringende demokratisch-parlamentarische Entwicklung von diesem Verständnis von „Zivilgesellschaft“ langfristig Nutzen ziehen wird (ein ohnehin fragwürdiger Begriff, soweit er für den staatlich-institutionellen und damit auch den parlamentarischen Bereich einen diffusen nicht-zivilen, also irgendwie militärischen Gegenbegriff insinuiert). III. Spezifische Bedingungen, Erwartungen und Restriktionen Nicht alle Umstände, die bei der Beratung von Demokratisierungs- und Modernisierungsprozessen eine Rolle spielen, lassen sich generalisieren und damit systematisch in Rechnung stellen. Dazu sind die Verhältnisse zu unterschiedlich, treten die Bedingungen in zu verschiedenen Mischungen und Schwerpunkten auf. Nötig ist eine teilnehmende Beratung in dem Sinne, dass kein „Frontalunterricht“ stattfindet, sondern ein Austausch von Erfahrungen und Ideen, bei denen Experten aus beratenden Ländern sich erkennbar von ihren nationalen Modellen auch lösen können und so ein Beispiel dafür geben, dass es möglich ist, etwas anderes als das Gewohnte und Bekannte für vorstellbar zu halten. Auf diesem Wege kann es gelingen, die mitgebrachten Erfahrungen und Gestaltungsoptionen als anpassungsfähig auch an wesentlich andere Gegebenheiten darzustellen. Im Folgenden soll es, in allerdings eher unsystematischer Form, um einige dieser besonderen Gegebenheiten gehen. 1. Ein besonderes Problem beim Verständnis parlamentarischer Verfahren fällt gelegentlich in Ländern des früheren sowjetischen Machtbereichs auf, und zwar genau dann, wenn sie sich der Herrschaft des Rechts, rechtsstaatlichen und verfassungsstaatlichen Ordnungen zuwenden wollen. Es tritt dann eine Normgläubigkeit hervor, die, so verständlich und oft gutgemeint sie sein mag, ein Hindernis für den Umgang mit dem Parlamentarismus bilden kann. Mental spielt dabei wohl die Erfahrung aus der Vergangenheit eine Rolle, dass Normen auferlegt sind, dass sie von irgendwo oben oder außen kommen, dass sie nicht etwa von den Normunterworfenen selbst mitgestaltet und mitgetragen sind, sondern ihnen gegenüber durchgesetzt werden, wenn
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nötig auch gewaltsam. Derartige Vorstellungen von Rechtsnormen der parlamentarischen Gesetzgebung zugrunde zu legen, führt dann zu dem Wunsch, tendenziell alles, jede Fallkonstellation und jede denkbare Situation mit einer jeweiligen gesetzlichen Regelung erfassen zu wollen, weil es ja jetzt rechtsstaatlich und willkürfrei zugehen soll. Die so zustande kommende Erwartung einer geradezu naturwissenschaftlichen Präzision und Vollständigkeit des demokratisch zu erzeugenden Rechts gerät in Widerspruch nicht nur mit den realistischen Kapazitäten und Ressourcen parlamentarischer Rechtssetzung, sondern auch mit deren typischen Elementen wie Mitberücksichtigung abweichender Positionen und divergierender Interessen, Kompromisse und Nebenziele, kontroverse Interpretationen, Mitsprache von Betroffenen und auch nach dem Erlass anhaltende öffentliche Diskussion und Kritik. Das Ergebnis ist dann nicht selten Enttäuschung und Ungeduld, weil die Wirkung des neuen demokratisch erzeugten Rechts lückenhafter und ungenauer ist als erwartet. In einigen Ländern hat das nach einer ersten Phase der parlamentarischen und rechtsstaatlichen Neukonstituierung zu Ernüchterung und Zweifeln an der Gestaltungskraft der repräsentativen Demokratie geführt, bis hin zu nostalgischen Erörterungen über die bei aller Bedrückung und Ungerechtigkeit doch scheinbar eindeutigere und kraftvollere Normsetzung im alten System. Vor allem für das Parlamentsrecht und die parlamentarischen Verfahrensregeln im engeren Sinne ergeben sich daraus Schwierigkeiten. Es wird nur schwer verstanden und widerwillig akzeptiert, dass parlamentarische Geschäftsordnungen „leges imperfectae“ sind und sein müssen, dass sie von den Abgeordneten ganz alleine gemacht und fortentwickelt, in der Praxis auch flexibel interpretiert und an wechselnde Konstellationen angepasst werden müssen, und dass dafür ein Konsens aller parlamentarischen Gruppen und Kräfte über Fairness und gegenseitige Konzessionen nötig ist. Gefordert werden stattdessen klare, unwandelbare Vorschriften, von wem auch immer geschaffen, die „ein für alle Mal“ vorgeben, wie Konflikte behandelt werden, wer in welcher Situation Recht hat und wie alle Abgeordneten sich zu verhalten haben. Der Gedanke der Autonomie des Parlaments in seinem Binnenrecht ist in diesen Ländern regelmäßig neu – nicht verwunderlich, wo eine entsprechende autonome politische Position der parlamentarischen Versammlung im Regierungssystem fehlte –, oder er gründet sich allenfalls auf literarische und theoretische Einschätzungen. Daraus kann für Berater aus dem Ausland eine Versuchung zum schnellen Erfolg entstehen, die zugleich geeignet ist, die Erfolgschancen ihrer Mission längerfristig zu beschädigen. Nicht selten werden Experten auf diesem Feld nämlich deshalb besonders freudig willkommen geheißen und
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ihre Empfehlungen angenommen, weil von ihnen ein Ersatz für jene nicht mehr von oben kommenden Vorgaben erwartet wird. Die Vorgaben sollen nun eben von außen kommen, was fast ebenso funktioniert wie von oben. Man kann sich an etwas halten, braucht es nicht dauernd zu hinterfragen und muss es nicht alleine erarbeiten und sich trotz gegensätzlicher politischer Positionen darauf verständigen. Wer darauf eingeht und befriedigt wieder abreist im Glauben, es sei eine weitgehende und segensreiche Implementation der mitgebrachten und zuhause so bewährten Rezepte gelungen, hat dann lediglich dazu beigetragen, fehlerhafte Vorstellungen von parlamentarischer Rechtssetzung zu bestätigen und die mangelnde Bereitschaft zur Selbständigkeit zu perpetuieren. Die zunächst installierten und angewandten Regelungen können sich beim nächsten schwierigen Konflikt oder bei einem Wechsel der politischen Konstellation als Scheinerfolg erweisen. 2. Hinter dieser durch totalitäre Verhältnisse eingeübten Form von Normakzeptanz steht eine tiefere Dimension im staatstheoretischen und demokratietheoretischen Denken, die im kommunistischen Konzept der „Volksdemokratie“ und des „demokratischen Zentralismus“ eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie geht zurück auf eine Weichenstellung oder Spaltung der grundlegenden Vorstellungen von Demokratie, die sich bereits bei den aufklärerischen Vordenkern der bürgerlichen Revolutionen abzeichnet und dann in der französischen Revolution ab 1789 scharf und folgenreich hervortritt, sowohl in ihrer Praxis als auch in der begleitenden und verarbeitenden staatstheoretischen Diskussion. Diese Spaltung in zwei verschiedene Denkrichtungen lässt sich in den Begriffspaaren angelsächsisch versus kontinentaleuropäisch, „pragmatisch“ versus „rational“ und repräsentativ versus identitär zusammenfassen. Schon die Rousseau’sche „volontée générale“ enthält den Kern jener Einheitlichkeitsvorstellung, der im Verlauf der Revolution zur Identifizierung, schließlich zur Verkörperung des Volkswillens in der Assemblée nationale führte mit der Folge, dass diese als nicht irrtumsfähig, weil mit dem Volkswillen identisch, angesehen wurde und mithin jede oppositionelle Position als volksfeindlich zu bekämpfen und auszumerzen war. Dem steht die in der englischen Staatstheorie entwickelte pragmatische Repräsentationsvorstellung gegenüber, wie sie etwa von Edmund Burke nicht erst in seiner stellenweise empörten Kommentierung der Vorgänge in Frankreich dargeboten wurde, sondern schon zuvor in einer berühmt gewordenen programmatischen Rede im Unterhaus („All government, indeed every human benefit . . . and every prudent act is founded on compromise and barter . . .“, 1775). Schon in der französischen Revolution tritt die Legitimierung einer richtungsbestimmenden Avantgarde und der notwendigen Terrorisierung politischer Gegner hervor, wie wir sie später in kommunistisch begründeten
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Herrschaftsformen, besonders im Stalinismus, wiederfinden, mit ganz ähnlichen Argumenten der Rechtfertigung (Volkswille, historische Notwendigkeit) und dementsprechend ähnlichen Konzeptionen für Volksversammlung und Abgeordnetenmandat (keine Opposition, Mandat als bindender Auftrag der „Partei“, einstimmige Ergebnisse bei Wahlen und Abstimmungen). In der Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen englischen Kolonien in Nordamerika wurden demgegenüber die Handlungsfreiheit des Individuums, die Absetzbarkeit der Regierung und die Gewaltenteilung proklamiert. Auch in diesem Gegensatz liegt eine geistige Wurzel der weltpolitischen Spaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht zufällig lassen sich die nachhaltigen Spuren der beiden demokratietheoretischen Modelle in Deutschland besonders deutlich nachweisen, nicht nur durch einen Vergleich vor allem der ersten DDR-Verfassung mit dem Grundgesetz, sondern auch durch eine Analyse der Parlamentarismuskritik während eines halben Jahrhunderts der Geschichte der Bundesrepublik. In vielen Ländern des ehemaligen kommunistischen Machtbereichs ist die Nachwirkung dieses alternativlosen „volksdemokratischen“ Verständnisses von Parlamentarismus spürbar. Auch daraus erklären sich einige der oben vermerkten besonderen Bedingungen für die Vermittlung westeuropäischer Strukturen für Demokratie und Rechtsstaat. Es gibt noch keinen common sense dahin, dass Mehrheitsentscheidungen nur prozedural richtig sind, ohne es inhaltlich sein zu müssen, und sie insbesondere nicht im Besitz der „Wahrheit“ sind. Erfahrungen mit Pluralismus und Individualismus fallen erst seit einigen Jahren an, und es sind naturgemäß nicht nur erfreuliche. Dass auch das Unerfreuliche daran im Interesse der Vorteile davon in Kauf genommen und im Parlament, sogar in der Gesetzgebung abgebildet und ausgetragen wird, statt es zu unterbinden, ist schwer zu verstehen. Dass lange und beunruhigende Auseinandersetzungen mit gegnerischen politischen Absichten notwendig sein sollen, auch wenn diese erkennbar keine aktuelle Aussicht auf Verwirklichung haben und die oft dringenden Entscheidungen erschweren, verzögern und in Frage stellen, ist nicht leicht zu akzeptieren. Dass auch eine noch so kompetente wissenschaftliche Analyse keine Sicherheit verbürgt und Politik jetzt mehr denn je als die Notwendigkeit des Entscheidens unter Unsicherheit hervortritt, ist umso weniger zu begreifen, als politische Maßnahmen im früheren System mit naturwissenschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen und politökonomischen Notwendigkeiten legitimiert wurden. Auch aus diesen Zusammenhängen ist es zu erklären, warum immer wieder einmal im Rahmen von Transferbemühungen die Erwägung begegnet, es müsse – bei aller Orientierung an „westlichen Standards“ etwa des Europarats und der Europäischen Union für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie – etwas wie einen
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dritten Weg geben, der es ersparen könnte, mit den süßen auch die sauren Früchte erwerben zu müssen. 3. Eine andere restriktive Bedingung macht sich in afrikanischen, besonders auch in arabischen Ländern bemerkbar. Es wird dort gelegentlich vorgebracht, die angedienten demokratisch-parlamentarischen Verfahren seien Teil eines Gesamtkonzepts sogenannter westlicher Werte, die kulturell, mental und historisch nicht zu bestimmten Regionen und Ländern in anderen Teilen der Welt passten, vielleicht sogar mit politischen Hintergedanken oktroyiert werden sollten. Hier spielen bis zu einem gewissen Grade verständliche Ängste vor dem Fremden, Ungewohnten und teilweise auch moralisch Abgelehnten sowie das Unbehagen mit, welches jegliche Modernisierungsprozesse begleitet. Manchmal wird aber auch ein gleichsam archaischer Bewusstseinsstand im Hinblick auf Wert, Würde und Existenzrecht des Individuums, beispielsweise bei der Erörterung einer angeblichen Angemessenheit und Akzeptanz von Folterpraktiken oder unmenschlicher Haftbedingungen, sichtbar, der bei aller Erklärbarkeit aus Lebensbedingungen, Religion oder Tradition nicht das Raster bilden kann, an welches demokratische Strukturen angepasst werden sollten oder dürften. So weit geht die Adaptierbarkeit des demokratischen Parlamentarismus gerade nicht. Wo er sich bisher durchgesetzt hat, war und ist er mit angewiesen auf einen Bewusstseinsstand der Aufklärung, dem er im Zuge seiner weiteren Verbreitung seinerseits zu dienen hat. 4. In zahlreichen Schwellenländern verschiedener Weltgegenden wird die fehlende oder rudimentäre Erfahrung mit demokratischen und parlamentarischen Formen auch durch einen mentalen oder psychologischen Umstand verfestigt und verlängert (der freilich seinerseits wieder aus allen möglichen historischen und kulturellen Ursachen erklärbar sein mag). Es handelt sich um eine Art Machoverhalten und -verständnis in und auch gegenüber der Politik. Es tritt besonders deutlich – aber keineswegs nur – in Parlamenten und Regierungen auf, die einen niedrigen Frauenanteil haben. Letzteres ist nicht etwa in allen Transformationsländern gleichmäßig der Fall; es sind vielmehr insoweit beträchtliche Unterschiede zu konstatieren. So folgen den hier negativ führenden arabischen Ländern nicht solche in Asien und Afrika, sondern in Südosteuropa. Andererseits ist auch in demokratisch relativ gut entwickelten Ländern, zum Beispiel Südkorea, diese kämpferischmännliche Attitüde anzutreffen, ohne in jedem Fall mit einer geringen Präsenz von Frauen in der Politik korreliert zu sein. Dieses Verhaltensmuster ist von der Vorstellung geprägt, Politik sei letztlich ein harter Kampf, in dem Kompromisse anzusteuern oder zu akzeptieren ein Zeichen von Schwäche sei, welches vom Gegner sofort ausgenutzt werde und die eigene Durchsetzungskraft sowie den persönlichen Rang in
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der Hackordnung und das Ansehen bei Freunden und Gegnern beschädige. Es liegt auf der Hand, wie wenig diese Haltung zu den Bedingungen politischen Entscheidens in parlamentarischen Formen, insbesondere auch zu denen der Gesetzgebung, passt. Dabei geht es nicht nur um Fragen des demokratischen Stils und des Ansehens des Parlaments bei den Bürgern, sondern auch um solche der Inhalte. Abweichende politische Ansichten und Absichten müssen da nicht aus systematischen Gründen abgelehnt und bekämpft werden, etwa im Interesse einheitlich kontroversen Abstimmens von Regierungsmehrheit und Opposition in parlamentarischen Regierungssystemen, sondern weil der Gegner nicht Recht bekommen, der Konkurrent sich nicht durchsetzen darf, auch nicht gelegentlich. Je näher die allgemeine Mentalität noch bei archaischen Verhältnissen liegt, desto stärker macht sich das bemerkbar; so kann beispielsweise den höchsten Respekt ein Politiker genießen, der selbst früher noch bei revolutionären oder sonstigen gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligt war und nun, gealtert aber keineswegs zahm geworden, mit leicht herablassender Geste sich an der ihm eigentlich zu braven und umständlichen parlamentarischen Politik beteiligt. Das führt manchmal zu inhaltlich sinnlosen Streitigkeiten um ihrer selbst willen und zu Verhaltensweisen, die einem gedeihlichen innerparlamentarischen Umgang und der Außendarstellung des Parlaments nicht förderlich sind. Selbst wenn sie nicht immer ganz ernst gemeint und manchmal geradezu vorgeführt sind, um Mut, Temperament und Stärke zu demonstrieren, können sie einen negativen Einfluss auf die politische Bildung bei Bürgern und Öffentlichkeit ausüben. Politiker, die aus persönlicher Überzeugung oder qua Amt, etwa als Parlamentspräsidenten, an der Entwicklung kultivierterer Umgangsformen interessiert sind, fragen Berater aus dem Ausland nicht selten, welche Instrumente und Sanktionen gegen Abgeordnete man anwende, um die „parlamentarische Ordnung“ in Debatten und bezüglich der Erfüllung der Mandatspflichten durchzusetzen. Sie zeigen sich dann gelegentlich unbefriedigt oder ungläubig, wenn auf Grundkonsens, freies Mandat, persönliche Verantwortung des einzelnen Politikers und die Rolle der öffentlichen Meinung hingewiesen und dargelegt wird, man brauche in bewährten parlamentarischen Demokratien keine scharfen Disziplinierungsmittel wie Aberkennung des Mandats oder Entzug umfangreicher Anteile der Diäten gegen Obstruktion, Untätigkeit oder destruktives Debattenverhalten. 5. Missverständnisse bei der Vermittlung demokratischer Formen der Politik können sich auch aus einer spezifischen Erwartung ergeben, die in Transformationsländern sehr verbreitet ist und sich aus der historischen Korrelation von friedlicher und freiheitlicher sowie wirtschaftlicher Entwicklung ergibt. Das Beispiel der, wenn auch unterschiedlich und in unterschiedlichem Rhythmus prosperierenden, westlichen Demokratien trägt zu
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zwei gegensätzlichen und gleichermaßen kurzschlüssigen Kausalitätsvermutungen bei. Die eine besteht in der Annahme, eine durchgreifende Modernisierung und Demokratisierung der politischen Strukturen nach westlichem Muster erzeuge wirtschaftliche Wohlfahrt. Die andere geht umgekehrt davon aus, nur Wohlstandsländer seien in der Lage, demokratische und freiheitliche politische Strukturen hervorzubringen. Natürlich ist die Wirklichkeit weit komplizierter, lässt sich verkürzt wohl am ehesten mit dem Begriff der Wechselwirkung oder des Feed-back zwischen beiden Sphären erfassen. Wenn beide Fortschritte, der wirtschaftliche und der institutionell-demokratische, nur gemeinsam zu haben sind, wird die Frage umso schwieriger, wo am dringendsten anzusetzen ist und wie die gegenseitig sich beeinflussenden Entwicklungen wirkungsvoll gesteuert werden können. Zugleich wird erkennbar, dass in beiden Thesen oder Blickrichtungen etwas Richtiges liegt. Daher haben in den in Frage kommenden Ländern beide Seiten, die reformwillige und die reformskeptische, jeweils ein gutes Argument, um für oder gegen durchgreifende demokratisch-rechtsstaatliche Organisationsentscheidungen einzutreten. Die einen behaupten, nur dadurch könne es auch wirtschaftlich aufwärts gehen, die anderen, erst müssten unabdingbare wirtschaftlich-soziale Voraussetzungen geschaffen sein, und beide haben ein Stück weit zugleich Recht und Unrecht. Für die Rolle westlicher Berater bedeutet das, dass – erstens und ohnehin – nicht zu viel versprochen werden und zweitens jeder Erwartung widersprochen werden sollte, die Probleme ließen sich aus einem Punkte kurieren. Andererseits kann der einzelne Berater, der in der Regel spezialisiert ist, sei es auf Verfassungsrecht, Verwaltungsorganisation, Justizwesen, parlamentarische Verfahren und Wahlrecht oder Finanzwesen und wirtschaftliches Management, keine Gesamtschau sämtlicher verflochtener Elemente und gegenseitigen Bedingtheiten nebst Prognose wahrscheinlicher Wechselwirkungen anbieten. Es bleibt nur ein pragmatisches Vorgehen, welches an denjenigen identifizierbaren Kausalitätsbeziehungen ansetzt, die es tatsächlich plausibel gibt. Einzelne Elemente der staatsorganisatorischen und der wirtschaftlichen Sphären sind in ihren gegenseitigen Wirkungen durchaus einschätzbar. Zum Beispiel sind rechtsstaatliche Strukturen im steuerlichen, justiziellen und arbeitsrechtlichen Bereich eine regelmäßige Voraussetzung für Investitionsentscheidungen von Unternehmen aus dem Ausland, im Polizei-, Verkehrs- und Meldewesen für touristisches Interesse, im Zoll- und Grenzregime für die Handelsbeziehungen. Es kommt darauf an, konkrete Kausalzusammenhänge in der einen oder anderen Richtung aus den langjährigen Erfahrungen zu belegen, die in entsprechend entwickelten Ländern angefallen sind. Argumentativ besonders wirkungsvoll sind dabei Erfolgs-
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erfahrungen etwa aus benachbarten Ländern, die vor nicht langer Zeit von ähnlichen Bedingungen aus gestartet sind. So können immerhin Teilelemente des Modernisierungsprozesses in ihren gegenseitigen Bedingtheiten erklärt und diejenigen Maßnahmen bezeichnet werden, ohne die andere Entscheidungen nicht erfolgreich sind oder die bestimmte Wirkungen auf weitere staatliche oder soziale Gegebenheiten ausüben werden. Es versteht sich, dass dabei immer ein beträchtliches Maß an Prognose nebst ihren Unsicherheiten mitspielt, wie in allen Struktur- und Organisationsentscheidungen. Es ist jedenfalls in hohem Maße wünschenswert, dass die reformorientierten politischen Akteure in Transformationsländern davon überzeugt werden, Reformen im politischen System oder Verfahren als solche zu wollen und öffentlich zu vertreten, statt sie nur mit ökonomischen Heilserwartungen zu begründen. 6. Ein weiterer Faktor in der Sphäre von westlichen Beratern selbst ist bisher nur gestreift worden. Er kann ebenfalls Akzeptanz und Erfolg solcher Missionen beeinträchtigen und soll deshalb noch gesondert angesprochen werden. Es handelt sich um die Verhaftetheit des einzelnen Experten in seinem nationalen politischen System, den daraus sich ergebenden Verhaltensweisen und Gewohnheiten sowie den dahinter liegenden meist nicht reflektierten grundlegenden Überzeugungen, mit anderen Worten um die Kehrseite seines Expertentums. Diese Expertise aus einem lebenden, praktisch funktionierenden System qualifiziert ihn als Berater, macht ihn aber auch zum Repräsentanten gerade dieses Systems oder wenigstens der historischen und verfassungsrechtlichen Familie ähnlicher Systeme. So lässt sich häufig beobachten, wie schwer es Experten aus Präsidialsystemen fällt, ihre Erfahrungen in Ländern mit parlamentarischen Regierungssystemen verständlich zu machen und an die dortigen Gegebenheiten anzupassen. Dasselbe gilt in umgekehrter Richtung, was insbesondere auch dort eine Rolle spielt, wo Mischsysteme eingerichtet wurden, etwa ein vom Volk direkt gewählter Staatspräsident und zugleich ein im Proportionalwahlverfahren gewähltes Parlament. Die Grundmodelle kommen ohnehin selten vor; in den meisten Fällen werden Elemente aus beiden miteinander zu verbinden gesucht, etwa in der Vorstellung, man müsse und könne das Beste aus verschiedenen Regierungssystemen kombinieren und die jeweiligen Nachteile vermeiden. In solchen Fällen wäre es besonders wichtig, diejenigen Elemente zu identifizieren, die sich kombinieren lassen, und vor den anderen zu warnen, die nicht miteinander funktionieren können, oder, soweit das Regierungssystem schon verfassungsrechtlich verankert ist und auch nicht mehr zur verfassungspolitischen Diskussion steht, immerhin die systematischen Unverträglichkeiten aufzuzeigen, von welchen Probleme in der politischen Praxis ausgelöst werden. Das setzt freilich voraus, dass der
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Berater nicht nur Experte für sein nationales System und Verfahren ist, sondern auch rechtsvergleichende Kompetenzen sowie Erfahrungen aus verschiedenen Ländern mitbringt. Das ist nicht nur für die grundsätzlichen Elemente von Regierungssystemen von Bedeutung, sondern auch für ganz praktische Regelungen von Details der politischen Prozeduren, welche allerdings ihre Wurzel regelmäßig in den übergeordneten, meist auf Verfassungsebene normierten Systementscheidungen haben. So ist es beispielsweise nicht hilfreich, aus den parlamentarischen Geschäftsordnungen von Parlamenten verschiedener Länder die je für sich einleuchtend erscheinenden Regelungen zu kopieren und zu einer „idealen“ Ordnung für Plenardebatten, Ausschussstruktur, Gesetzgebungsverfahren und Regierungskontrolle zusammenzufügen. Nach allen Erfahrungen funktioniert das nicht, weil zu bestimmten verfahrensrechtlichen Arrangements im einen Bereich nur bestimmte, innerlich damit harmonierende Prozeduren im anderen passen, auch wenn diese für sich betrachtet nicht unmittelbar überzeugend erscheinen. Im Wahlrecht gibt es Elemente, etwa bei den Regelungen über die Kandidatur, die mit dem jeweiligen Wahlsystem inkompatibel sein können, selbst wenn sie als solche vernünftig erscheinen (z. B. hohe Unterschriftsquoren für Unterstützung von Kandidaturen oder Sperrklauseln in Mehrheitswahlsystemen). Letzten Endes kann jede Organisation von parlamentarischen, justiziellen oder Verwaltungsverfahren ihre endgültige Eignung für die jeweilige Gesellschaft und ihre spezifischen Rahmenbedingungen nur über Erprobung und Erfahrung gewinnen. Was durch Beratung und Beispiele aus dem Ausland zu gewinnen ist sind Startpunkte auf bereits avanciertem Niveau, die es ermöglichen, Umwege, Krisen und vielleicht auch Katastrophen zu ersparen, wie sie regelmäßig in den Ländern aufgetreten sind und deren Entwicklung immer wieder zurückgeworfen haben, die den ganzen Weg der demokratischen Modernisierung alleine finden, den Prozess von Versuch und Irrtum von Anfang an durchlaufen mussten. Experten aus stabilen rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaften sollten sich bewusst sein und das gegenüber ihren Partnern in Transformationsländern auch aussprechen, dass der diesbezügliche Status ihrer Herkunftsländer meist auf langen, verwickelten und oft gefahrvollen Wegen erworben und errungen wurde, dass es Rückschläge gegeben hat und immer wieder geben kann, dass Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit keine Zustände sind, die einmal eingeführt werden können, sondern dauerhaft entwickelt, korrigiert und immer neu bestätigt und befestigt werden müssen. Nur in diesem Bewusstsein können Transformationsländer langfristig von der Expertise aus den hochentwickelten pluralistischen Mediengesellschaften profitieren. Sie wollen und können nicht die gesamten und vielfältigen
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Wege der westlichen Welt seit dem späten 18. Jahrhundert nachvollziehen oder gar in originaler Ausdehnung als landesspezifische Versionen nachleben; sie wollen und müssen vielmehr Zeit und Umwege sparen. Ihre eigene Situation und der Zustand der Welt gibt ihnen – und sie geben sich selbst – weit weniger Zeit, als die Länder für ihre demokratische Entwicklung gebraucht haben, aus denen ihre Berater kommen. In diesem Interesse begegnen sie sich mit demjenigen der Staatengemeinschaft, die wünscht, dass Modernisierungsschübe schneller und unblutiger ablaufen mögen als in so vielen geschichtlichen Beispielen. Gewissermaßen als Ausgleich für diesen Druck haben die Transformationsländer aber auch die Chance, aus ihrer eigenen Geschichte, Kultur und Erfahrung neue Ideen, Varianten und Elemente zur Demokratieentwicklung beizusteuern und so zu ihrer immer weiter greifenden Eignung und Verbreitung beizutragen.
Kommunale Selbstverwaltung
Die demografische Krise Verwaltungswissenschaftliche Steuerungsansätze zur Bewältigung des demografischen Wandels in den Kommunen* Hartmut Bauer und Frauke Brosius-Gersdorf I. Problemaufriss Die Bewältigung des demografischen Wandels entwickelt sich im 21. Jahrhundert zu einer Schicksalsaufgabe unseres Gemeinwesens. Bemerkungen wie „Der Letzte macht das Licht aus“1, „Nach dem Mensch kommt der Wolf“2 oder „Go home and reproduce!“3 verdeutlichen schlaglichtartig den Ernst der Lage, in die der Bevölkerungswandel mündet: Anhaltend niedrige Geburtenraten, steigende Lebenserwartung und versiegende Zuwanderungsströme lassen die Bevölkerung der Bundesrepublik schrumpfen und altern. In dem mit rasanter Geschwindigkeit ablaufenden Prozess mag es für manchen eine sympathische Vorstellung sein, künftig mehr Platz zu haben und – wie mitunter zu lesen ist – „nicht ständig angerempelt“ zu werden4. Doch verkennt eine derart oberflächliche Sichtweise die gewaltigen Auswirkungen des demografischen Wandels auf Staat und Gesellschaft. Kaum ein * Für die technische Unterstützung namentlich bei der Einarbeitung der Schaubilder danken wir Herrn Steffen Beilke, für sprachliche Hilfe bei den Seitenblicken in die chinesische Verwaltungskultur Frau Wenguang Yu (Beijing/Frankfurt am Main). 1 Die Zeit vom 22.4.2004, abrufbar unter www.zeit.de/2004/18/demo?page=all. 2 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?, 2006, S. 46. 3 Rhein-Main-Zeitung vom 14.2.2006, S. 11. 4 W. Lotter, Dick und Doof, brand eins, Heft 5/2004, S. 48, 50. Noch immer wird selbst nach Einschätzung manches Politikers das demografische Problem „maßlos übertrieben“; siehe H. Mäding, Herausforderungen und Konsequenzen des demografischen Wandels für Kommunalpolitik und -verwaltung, in: H. Bauer/C. Büchner/O. Gründel (Hrsg.), Demographie im Wandel. Herausforderungen für die Kommunen, 2006, S. 29, 29. Aus guten Gründen tendieren derzeit freilich die politischen Akteure aller Ebenen wohl eher dazu, den demografischen Wandel zu einem zentralen Thema der europäischen Mehr-Ebenen-Politik zu machen; Näheres dazu bei H. Bauer, Demografische Herausforderungen für die Kommunen – Einführende Problemskizze, ebd., S. 11, 15 f. m. w. N.
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Hartmut Bauer und Frauke Brosius-Gersdorf
staatlicher Aufgabensektor und kaum ein gesellschaftliches Aktionsfeld werden nämlich von den Folgen des demografischen Umbruchs verschont bleiben. Dabei müssen sich insbesondere die Kommunen auf harte Belastungsproben einstellen. Denn Bevölkerungsrückgang und -alterung führen dazu, dass immer weniger Menschen kommunale Leistungen nachfragen und sich sowohl die Gegenstände als auch die Strukturen der Nachfrage ändern5; gleichzeitig bleiben die qualitativen Anforderungen an die Aufgabenerfüllung der Kommunen ebenso unverändert wie das zu versorgende Gebiet – und dies alles bei wegen der rückläufigen Einwohnerzahlen sinkenden kommunalen Einnahmen. Mit einiger Berechtigung ist daher seit geraumer Zeit von einer sich abzeichnenden demografischen Krise6 die Rede. Der vorerst nur skizzierte Befund legt es nahe, möglichst frühzeitig kommunale Gegenstrategien zu entwickeln. Ansatzpunkte dafür liefert die nicht zuletzt von Heinrich Siedentopf prominent vertretene und besonders gepflegte Verwaltungswissenschaft7. Mit ihren über den engeren spezifisch-juristischen Problemzugriff hinausweisenden Erkenntnisinteressen und Methoden ermöglicht die Verwaltungswissenschaft8 nämlich die Generierung von Optionen und Strategien zur Entschärfung der kritischen Bevölkerungsentwicklung, die sich jenseits bereits normativ vorgeformter Lösungsansätze bewegen, daneben etwaige rechtliche Direktiven aber auch abrunden und deren praktische Umsetzung erleichtern können. Das setzt eine Vergewisserung der demografischen Rahmenbedingungen voraus, die als rechtstatsächlicher Hintergrund zunächst allgemein kurz in Erinnerung zu rufen (II.) und anschließend in ihren Auswirkungen speziell auf die Kommunen zu analysieren sind (III.). Damit ist das Feld aufbereitet für die Diskussion von einzelnen ausgewählten kommunalen Steuerungsansätzen zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen (IV.), die ein zuversichtliches Resümee rechtfertigen (V.). 5 Allerdings sind davon nicht sämtliche Kommunen der Bundesrepublik in gleicher Weise betroffen, weil es wegen der zeitgleich zu beobachtenden Migrationsbewegungen in manchen Regionen zu Sonderentwicklungen bis hin zu einem Bevölkerungszuwachs kommt. Zu derartigen Sonderentwicklungen, die in diesem Beitrag nicht zentral aufzugreifen sind, siehe näher unten II. 6 Vgl. etwa T. Mayer, Die demographische Krise. Eine integrative Theorie der Bevölkerungsentwicklung, 1999; Landtag Brandenburg, 2. Bericht der Landesregierung zum demografischen Wandel, Demografischer Wandel in Brandenburg – Erneuerung aus eigener Kraft, BgbLT-Drucks. 4/1291, S. 18. 7 Siehe nur H. Siedentopf, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft, 1976, S. 1 ff.; ders., Verwaltungslehre, in: EvStL, 3. Aufl. 1987, Sp. 3847 ff. 8 Zu den kontrovers gebliebenen Funktionen der Verwaltungswissenschaft(en) siehe aus jüngerer Zeit etwa G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 41 ff.; C. Bumke, Verwaltungswissenschaft, in: EvStL, Neuausgabe 2006, Sp. 2632 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober/W. Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 13 f. m. w. N.
Die demografische Krise
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II. Demografische Entwicklungsszenarien Dass Prognosen unsicher sind, ist eine Binsenweisheit. Auf seriöse Prognosen über den demografischen Wandel trifft dies jedoch nur sehr eingeschränkt zu, weil sie auf solider Basis mit eher trägen Daten beruhen und daher recht verlässlich sind. Deshalb sollte es beunruhigen, dass die Vorausberechnungen zur Bevölkerungsentwicklung Deutschland einhellig nichts Gutes prophezeien. Während die Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten von 6,5 Milliarden im Jahr 20059 auf 9,1 Milliarden im Jahr 2050 anwachsen10 und nur mäßig altern wird,11 nimmt die Bevölkerung in Deutschland bereits seit einiger Zeit ab und wird älter. Die Bevölkerungszahl in Deutschland wird bis zum Jahr 2050 von 82,4 Millionen Einwohnern12 auf ca. 68,7 Millionen Einwohner zurückgehen.13 Gleichzeitig steigt das durchschnittliche Alter der in Deutschland lebenden Menschen von 42 Jahren14 auf etwa 50 Jahre15 an. Der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung sinkt von 20% auf ca. 15%, während sich der Anteil der Menschen über 65 Jahre von 19% auf über 30% erhöht.16 Besonders anschaulich ist die Abbildung (siehe Seite 388) der langfristigen Trends in der grafischen Darstellung17. Schuld an diesem Prozess sind in Deutschland drei ineinander greifende Entwicklungen, nämlich – die seit Vollendung des zweiten demografischen Übergangs zwischen 1965 und 197518 konstant niedrige Geburtenrate von etwa 1,4 Kindern 9 United Nations (Hrsg.), World Population Prospects. The 2004 Revision, Volume III, 2006, S. XIV – Tabelle 1. 10 Siehe United Nations (Hrsg.), World Population Prospects (Anm. 9), S. XIV u. Kap. I S. 8 (mittlere Prognosevariante). 11 Siehe United Nations (Hrsg.), World Population Prospects (Anm. 9), Kap. II S. 30 – Tabelle II.2 (mittlere Prognosevariante). 12 Siehe bezogen auf das Jahr 2005 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2003, S. 15. 13 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2006, S. 5, 15 (mittlere Prognosevariante). 14 So bezogen auf das Jahr 2005 Statistisches Bundesamt, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Anm. 13), S. 17 (mittlere Prognosevariante). 15 Statistisches Bundesamt, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Anm. 13), S. 17 (mittlere Prognosevariante). 16 Vgl. auch Statistisches Bundesamt, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Anm. 13), S. 22 f. (mittlere Prognosevariante). 17 Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2050. Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Bundes und der Länder zur Bevölkerungsentwicklung bis 2050, 2000, S. 14. 18 Zu Erscheinung und Verlauf des zweiten demografischen Übergangs in Deutschland eingehend H. Birg, Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren,
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Alter in Jahren
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80
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75
70
70
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65
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60
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55
50
50
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40
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35
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0 0
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600 800 1 000 Tausend Personen
1 000 800 600 Tausend Personen
400
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am 01.01.1999 und am 01.01.2050 Alter in Jahren 100 95
Männer
Frauen
90 85 80 75 70 65 60 55 50
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0
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je Frau,19 die ein Drittel unterhalb der für die Reproduktion des Volkes notwendigen Fruchtbarkeitsquote von 2,1 Kindern je Frau liegt (Stichwort: Fertilität), – der parallel fortwährende Anstieg des durchschnittlichen Lebensalters der Menschen (Stichwort: Mortalität)20, – und die in jüngerer Zeit ausgedünnten Zuwanderungsströme,21 durch die Deutschland bis vor einigen Jahren den fertilitätsgeleiteten Bevölkerungsrückgang kompensieren konnte22 (Stichwort: Migration). Der demografische Wandel, der in dieser Form einmalig in der Geschichte ist und dessen Ursachen noch nicht abschließend erforscht sind23, findet zwar überall in der Republik, aber nicht einheitlich in der ganzen Fläche statt. Grund hierfür ist, dass die gesamtdeutsche Entwicklung auch durch regional unterschiedlich ausgeprägte Zu- und Abwanderungsprozesse bestimmt wird, die die Folgen des Rückgangs und der Alterung der Bevölkerung in einzelnen Teilen des Landes noch vertiefen. Während einige Kommunen starken Wegzugsbewegungen – insbesondere junger Menschen – 2. Aufl. 2004, S. 49 ff.; ders., Historische Entwicklung der Weltbevölkerung, Informationen zur politischen Bildung Nr. 282 (2004), S. 4, 6. 19 Siehe Statistisches Bundesamt, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Anm. 13), S. 27 (mittlere Prognosevariante); dazu näher H. Grohmann, Alterssicherung im Wechsel der Generationen, in: H. Birg (Hrsg.), Auswirkungen der demographischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, 2005, S. 3, 5; J. Schmid, Bevölkerungsrückgang und demografische Alterung. Ein Problemaufriss mit Folgenabschätzung, Politische Studien 53 (2002), Sonderheft 2, S. 19, 25. 20 Siehe T. Bernöster, Grundlagen zur aktuellen Familienpolitik in Deutschland. Ein Plädoyer für eine ordnungspolitische Ausrichtung der Familienpolitik, 2000, Abb. 3a; W. Kösters, Weniger, Bunter, Älter, 2006, S. 51; Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Deutschland im Demografischen Wandel. Fakten und Trends 2005, 2005, S. 34. 21 Siehe Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, BT-Drucks. 14/8800 vom 28.03.2002, S. 22; Statistisches Bundesamt, 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Anm. 13), S. 46. 22 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Die demografische Lage der Nation (Anm. 2), S. 20. 23 Zu den – bislang nur teilweise hinlänglich erforschten – Ursachen des Bevölkerungswandels siehe W. Cornelißen, Kinderwunsch und Kinderlosigkeit im Modernisierungsprozess, in: P. A. Berger/H. Kahlert (Hrsg.), Der demographische Wandel. Chancen für die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, 2006, S. 137, 151 ff.; Institut für Demoskopie Allensbach, Einflussfaktoren auf die Geburtenrate, 2004, S. 14 ff.; L. Leisering, Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen – Generationenverhältnisse – politisch-institutionelle Steuerung, 1992, S. 77 ff.; Mayer, Die demographische Krise (Anm. 6), S. 234 ff.
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ausgesetzt sind, erleben andere Gebietskörperschaften Zuzüge.24 Zu beobachten sind dabei einerseits ein Gefälle zwischen großstädtischen Wachstumszentren und peripheren ländlichen Gebieten25 und andererseits ein starkes West-Ost-Gefälle26. Wegen dieser regionalen Disparitäten hat Ostdeutschland im Vergleich mit der „alten“ Bundesrepublik im demografischen Wandel „die Nase vorn“: Während Westdeutschland ein moderater Rückgang der Bevölkerung erwartet, werden für Ostdeutschland Bevölkerungsverluste zwischen 10% und 15% bis zum Jahr 2020 und von knapp 30% bis zum Jahr 2050 prognostiziert.27 Ein ähnliches Bild zeichnet sich für das Verhältnis der jüngeren zu den älteren Menschen ab. Während im Westen bis 2020 die Zahl der Jugendlichen unter zwanzig Jahren um fast 20% zurückgeht, erreicht der Osten den niedrigsten Wert schon 2010 bei einer Sonderbetroffenheit des ländlichen Raums mit einer Abnahme von ca. 30%.28 Der Anteil der über 60-Jährigen nimmt bis 2020 im Westen um weit mehr als 20% zu, im Osten aber sogar um über 30%.29 In manchen Regionen Ostdeutschlands ist die Entwicklung schon so weit fortgeschritten, dass sie bereits heute „leer“ und „grau“ daherkommen.30 Das Zukunftsszenario für 2020 lässt sich grafisch31 veranschaulichen: 24 Siehe dazu und zum Folgenden Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge und demografischer Wandel, 2005, Rn. 8 f. 25 Vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Die demografische Lage der Nation (Anm. 2), S. 10 ff., 48 ff. 26 Zu diesem West-Ost-Gefälle H. Mäding, Herausforderungen und Konsequenzen des demographischen Wandels für die Städte, in: H. Hill (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung – Zukunfts- oder Auslaufmodell? Beiträge der 72. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 24. bis 26. März 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2005, S. 20, 23 ff.; C. Schlömer, Bestimmungsfaktoren der zukünftigen räumlich-demographischen Entwicklung in Deutschland, in: P. Gans/A. Schmitz-Veltin (Hrsg.), Demographische Trends in Deutschland. Folgen für Städte und Regionen, 2006, S. 4, 11 ff.; zu den Unterschieden des demografischen Wandels in den einzelnen Bundesländern eingehend J. Roloff, Die demographische Entwicklung in den Bundesländern Deutschlands, 2000, passim. 27 Gemeinsamer Bericht der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (undatiert), Demographischer Wandel in Ostdeutschland: Auswirkungen und ausgewählte Handlungsansätze, abrufbar im Internet unter www.brandenburg.de/media/bm1.a.4478.de/ergebnisbericht.pdf. 28 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge (Anm. 24), Rn. 8. 29 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge (Anm. 24), Rn. 8. 30 So gelten Teile der Uckermark bereits heute als „entsiedelt“; vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Die demografische Lage der Nation (Anm. 2), S. 42 ff. 31 Quelle: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge (Anm. 24), Rn. 6.
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Kiel Schwerin
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Bremen Berlin
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Potsdam Magdeburg Düsseldorf
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Veränderung der Bevölkerungszahl zwischen 2002 und 2020/2050
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Wiesbaden Mainz
stark abnehmend leicht abnehmend
Saarbrücken
stabil © BBR Bonn 2005
Stuttgart
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100 km
Zürich
leicht zunehmend stark zunehmend Quelle: BBR-Bevölkerungsprognose 2002-2050/Exp
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Für die Zeit nach 2020 zeichnet sich eine weitere Verschärfung der Gefälle-Lagen mit einer Tendenz zur „Verinselung“ der bisher ausgedehnten Wachstumsregionen im Westen ab. Im Schaubild32 stellt sich das für 2050 entworfene Szenario wie folgt dar:
Kiel Schwerin
Hamburg
Szczecin
Bremen Berlin
Hannover
Amsterdam
Potsdam Magdeburg Düsseldorf Erfurt
Dresden Veränderung der Bevölkerungszahl zwischen 2002 und 2020/2050
Liège
Luxembourg
Praha
Wiesbaden Mainz
stark abnehmend leicht abnehmend
Saarbrücken Stuttgart München
100 km
Zürich
© BBR Bonn 2005
stabil Strasbourg
leicht zunehmend stark zunehmend Quelle: BBR-Bevölkerungsprognose 2002-2050/Exp
Innsbruck
32 Quelle: Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge (Anm. 24), Rn. 7.
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Hartmut Bauer und Frauke Brosius-Gersdorf
III. Auswirkungen des Bevölkerungswandels auf die Kommunen Diese einschneidenden demografischen Umwälzungen haben vielfältige Konsequenzen für die Gemeinden. Eine der gravierendsten Folgen sind die Einnahmeverluste, die der Rückgang und die Alterung der Bevölkerung mit sich bringen. Mit jedem Einwohner, den eine Gemeinde „verliert“, gehen beträchtliche Mindereinnahmen in ihrem Haushalt einher. Die Kommunen müssen sich nicht nur auf sinkende Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich, sondern auch auf einen Rückgang von weiteren an die Einwohnerzahl geknüpften Finanzzuweisungen einrichten.33 Die dadurch in die Kommunalhaushalte gerissenen Löcher werden durch eine Verringerung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer vertieft, die infolge der demografischen Veränderungen unweigerlich abnehmen wird.34 Nicht zuletzt wird auch das Aufkommen der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern sowie der sonstigen Kommunalabgaben mit der Einwohnerzahl zurückgehen.35 Gleichzeitig reduziert der Rückgang der Bevölkerung die Nachfrage nach kommunalen Leistungen. Durch die Verschiebung der altersmäßigen Bevölkerungszusammensetzung ändert sich zudem die Struktur der Nachfrage. Während der Bedarf an Angeboten für ältere und alte Menschen steigt, sinkt die Nachfrage nach Leistungen für Kinder und Jugendliche.36 Die qualitativen Anforderungen an die Angebote bleiben dagegen regelmäßig unverändert. Vor zusätzliche Probleme werden die Gemeinden dadurch gestellt, dass die Bevölkerungsabnahme in den meisten Gemeinden nicht linear, sondern ungleichmäßig verläuft, so dass regional unterschiedliche Besiedelungsdichten entstehen. Überproportional starker Einwohnerrückgang in manchen Gebieten, demografische Stabilität in anderen Teilen und mitunter Bevölkerungsanstieg in wieder anderen Gebietsteilen konfrontieren die Kommunen mit der Situation, dass in manchen Gegenden nur noch eine „Handvoll“ Einwohner zu versorgen ist, während in anderen Gemeindeteilen der Versorgungsbedarf unverändert fortbesteht oder sogar anwachsen kann. 33
Siehe nur H. Seitz, Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf die Finanzsituation des Freistaates Sachsen und seiner Kommunen, in: G. Milbradt/J. Meier (Hrsg.), Die demographische Herausforderung – Sachsens Zukunft gestalten, 2. Aufl. 2004, S. 20, 21. 34 Siehe hierzu W. Müller, Räumliche Auswirkungen des demographischen Wandels auf die öffentlichen Finanzen, in: Gans/Schmitz-Veltin (Hrsg.), Demographische Trends (Anm. 26), S. 84, 91 f. 35 Siehe nur Müller, Räumliche Auswirkungen (Anm. 34), S. 88 f., 93. 36 Zu diesen Konsequenzen des demografischen Wandels für die Kommunen eingehend M. Koziol, Folgen des demographischen Wandels für die kommunale Infrastruktur, DfK 43 (2004), S. 69 ff.; Mäding, Herausforderungen (Anm. 26), S. 29.
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Besonders instruktiv ist das Beispiel der kommunalen Infrastruktureinrichtungen in den Segmenten der Wasser- und Energieversorgung sowie der Abwasser- und Abfallentsorgung, die traditionell zu den kommunalen Aufgaben der Daseinsvorsorge gehören. Zwar könnte der unbefangene Betrachter dazu neigen, der Bevölkerungsschrumpfung positive Seiten abzugewinnen, weil eine Reduzierung des Wasser- und Energiebedarfs sowie des Abwasser- und Abfallaufkommens die Umwelt entlastet. So einfach liegen die Dinge bei genauer Betrachtung indes nicht. Denn der Einwohnerrückgang in einer Gemeinde führt nicht nur zu einer Absenkung des Wasser- und Energieverbrauchs sowie der Schmutzwasser- und Abfallmengen; vielmehr bewirkt die verminderte Nachfrage auch einen Anstieg der anteiligen Kosten für den Betrieb der Ver- und Entsorgungssysteme. Wegen der geringeren Auslastung weisen die auf einen größeren Bedarf ausgerichteten Anlagen Überkapazitäten auf.37 Da sich die Gesamtkosten für den Verbraucher zu etwa 80% aus Fixkosten für das Vorhalten der technischen Infrastruktur und nur zu ca. 20% aus verbrauchsabhängigen Kosten zusammensetzen, steigen die Infrastrukturkosten je Flächeneinheit bzw. je angeschlossenem Haushalt durch die Bereitstellung überdimensionierter technischer Anlagen.38 Sollen bestehende Überkapazitäten abgebaut und überflüssige Leitungen und Rohre entsprechend der verminderten Nachfrage zurückgebaut werden, ist auch dies mit beträchtlichen Kosten verbunden, zu denen sich Aufwendungen für eventuell notwendige Übergangsmaßnahmen addieren.39 Zugleich birgt die geringere Auslastung der technischen Infrastruktureinrichtungen Gefahren für die Qualität der Versorgung. So führt die bevölkerungsbedingte Abnahme des Wasserverbrauchs zu technischen Funktionsproblemen und Sicherheitsrisiken in den Netzen,40 die Qualitätssicherungs37 Vgl. P. Jakubowski/M. Koziol/J. Walther/E. Pahl-Weber/S. Marsch/U. Bauer, Rahmenbedingungen für die Rücknahme von Infrastruktur. Gutachten im Rahmen des ExWoSt-Forschungsfelds „Stadtquartiere im Umbruch“ (Arbeitspaket C), in: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), BBR Online-Publikation, September 2005, S. 2. 38 Vgl. H.-P. Tietz, Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Netzinfrastruktur, in: Gans/Schmitz-Veltin (Hrsg.), Demographische Trends (Anm. 26), S. 154, 160 f. 39 Zu den Kosten eines Rückbaus technischer Infrastrukturanlagen im Einzelnen Koziol, Folgen des demographischen Wandels (Anm. 36), S. 77 ff. Ein Anstieg der Gebühren und Entgelte für die Einwohner stellt einen (weiteren) Standortnachteil dar und führt ggf. zu (weiterer) Abwanderung. 40 Vgl. Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft e. V., Stellungnahme vom 14.12.2005 zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Grünbuch „Angesichts des demografischen Wandels – eine neue Solidarität zwischen den Generationen“, KOM (2005) 94 endg., S. 2; zu dem Grünbuch der Kommission „Angesichts des demografischen Wandels – eine neue Solidarität zwischen den Generationen“ vgl. Bauer, Demografische Herausforderungen (Anm. 4), S. 15 f.
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maßnahmen notwendig machen. Eine Überdimensionierung der Anlagen erhöht nämlich die Verkeimungsgefahr des Trinkwassers; dies kann die hygienische Qualität des Wassers beeinträchtigen, und zwar mit Folgeproblemen bis hin zur Behandlung des Abwassers in den Kläranlagen.41 Wird diesen Gefahren entgegengewirkt, indem die Leitungen häufiger gespült, Sicherheitschlorungen vorgenommen oder Rohrleitungen zurückgebaut werden, um die für die Keimfreiheit notwendige Durchlaufgeschwindigkeit des Wassers wiederherzustellen, fallen hierfür zusätzlich hohe Kosten an.42 Vergleichbare Probleme entstehen durch eine verringerte Nachfrage nach der Beseitigung von Abwasser, weil eine Reduzierung der Abflussmenge bzw. der Schmutzwasserfracht Ablagerungen in den Netzen mit sich bringt. Die Ablagerungen können Korrosionsprozesse einleiten, Geruchsprobleme verursachen und sogar Gefahren für die Gesundheit auslösen. Außerdem erhöht die Überdimensionierung der Anlagen die Gefahr einer Verschmutzung der Kläranlagen und bedroht so deren Leistungsfähigkeit.43 Sicherungsmaßnahmen, die diesen Gefahren gegensteuern, sind ebenso wie im Bereich der Trinkwasserversorgung mit erheblichen Kosten verbunden.44 Auch an den sozialen Einrichtungen der Gemeinden, namentlich in den Sektoren Bildung, Kultur, Sport und medizinische Versorgung, geht der demografische Wandel nicht spurlos vorüber. Die Dezimierung der Einwohner einer Gemeinde wirkt sich unmittelbar auf den Bedarf an kulturellen Einrichtungen wie Theatern, Museen oder städtischen Bibliotheken aus, so dass die Einnahmen aus der Benutzung dieser Einrichtungen zurückgehen, die Kosten für ihren Unterhalt aber konstant bleiben. Wegen des zurückgehenden Anteils der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung nimmt auch der quantitative Bedarf an Kindergärten, Jugendeinrichtungen, Schulen und Sportstätten ab. Den mit dem quantitativen Nachfragerückgang möglicherweise verbundenen Einsparungspotentialen steht der notwendige 41
Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft e. V., Stellungnahme (Anm. 40), S. 3. 42 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Aktion Demographischer Wandel. Kommunen und Regionen im Demographischen Wandel. Finanzpolitische Nachhaltigkeiten und Handlungsfähigkeiten auf kommunaler sowie regionaler Ebene, 2004, S. 18. 43 Eingehend zu diesen Gefahren Koziol, Folgen des demographischen Wandels (Anm. 36), S. 69 ff., der ergänzend auf mögliche negative ökologische Folgewirkungen aufmerksam macht. 44 Ein verminderter Versorgungsbedarf wirkt sich überdies auch auf die Energieversorgung, in Sonderheit auf die Versorgung mit Fernwärme aus. Dort erhöhen ein Nachfragerückgang und dadurch entstehende Überkapazitäten in den Erzeugungsanlagen die Gefahr steigender Wärmeverluste und kollabierender Dampfnetze wegen zu geringer Wärmeabnahme. Diesen Mängeln kann letztlich nur durch einen – kostenintensiven – Umbau (zu Heißwassernetzen) oder gar durch ein Abschalten der Netze entgegengewirkt werden.
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Auf- und Ausbau sozialer Einrichtungen für die wachsende Zahl älterer und alter Menschen gegenüber. Die Veränderung der Altersstruktur in den Kommunen löst nämlich ein vermehrtes Bedürfnis nach Pflegedienstleistungen sowie eine steigende Nachfrage nach alterspezifischer medizinischer Versorgung aus. Ein weiteres „Sorgenkind“ ist der Städtebau, dem die demografische Entwicklung Leerstände in den kommunalen Wohnungsbauten und Anpassungsdruck an veränderte Nutzungsbedarfe beschert. Sowohl die abnehmende Zahl als auch die sich wandelnde Altersstruktur der Bevölkerung schlagen unmittelbar auf den Bedarf an Wohnraum durch. Der Rückgang der Geburten reduziert den Anteil der Haushalte mit drei und mehr Personen und damit die Nachfrage nach größeren Wohnungen.45 Nach Schätzungen soll die Anzahl der Haushalte bis zum Jahr 2050 erheblich zurückgehen; davon werden die Mehrpersonenhaushalte überproportional stark betroffen sein.46 Die Zunahme des Anteils älterer Menschen verändert wegen der im Lebenszyklus variierenden Lebensformen außerdem die Anforderungen an die Beschaffenheit des Wohnraums. Infolgedessen beklagen viele Kommunen bereits heute veränderte Verhaltensweisen bei der Haushaltsbildung und -auflösung sowie wachsenden Wohnungsleerstand.47 Dies alles veranlasst umfangreiche Rück- und Umbaumaßnahmen, die – ähnlich wie in den anderen kommunalen Tätigkeitsfeldern – wiederum beträchtliche Kosten verursachen. IV. Kommunale Optionen und Strategien zur Bewältigung des demografischen Wandels Der demografische Wandel ist für die Kommunen und die Kommunalpolitik eine enorme Herausforderung. Die Gebietskörperschaften können der demografiebedingten Probleme nur Herr werden, wenn sie frühzeitig auf die sich ändernde Einwohnersituation eingehen und gezielt Strategien zum Umgang mit dem demografischen Wandel erarbeiten. Solche Strategien können sehr unterschiedlich angelegt sein. Im Kern kommen drei verschiedene Ausrichtungen in Betracht: Maßnahmen, die vorbeugend oder kurierend die Bevölkerungsentwicklung beim Schopfe packen und sie umzukehren suchen,48 Maßnahmen, die den negativen Folgen des demogra45 Siehe H. Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 4. Aufl. 2005, S. 138. 46 Birg, Die demographische Zeitenwende (Anm. 45), S. 138 – Schaubild 33. 47 Vgl. Birg, Die demographische Zeitenwende (Anm. 45), S. 137 f. 48 Zu dieser Strategie passen etwa Ansätze, die die Zahl der Geburten in Deutschland zu erhöhen suchen, oder Maßnahmen, die eine (weitere) Abwanderung
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fischen Wandels entgegentreten und sie abmildern wollen,49 und schließlich Maßnahmen zur Anpassung der kommunalen Aufgabenerfüllung an die sich wandelnde Einwohnersituation; dabei nehmen die zuletzt genannten Strategien die demografische Entwicklung mehr oder weniger als unumkehrbar hin und reagieren auf die veränderte Größe und Altersstruktur der Bevölkerung, indem sie (ressortbezogen oder -übergreifend) Stellschrauben in der Kommunalverwaltung neu justieren und auf diese Weise den Veränderungsprozess gestaltend begleiten. Selbstverständlich schließen sich die einzelnen Steuerungsansätze nicht wechselseitig aus. Vielmehr können sie je für sich oder kumulativ zum Einsatz kommen. Im Interesse bestmöglicher Wirksamkeit wird sich oftmals sogar eine effektverstärkende Kombination der grundverschiedenen Ansätze aufdrängen, um mit einem ganzen Bündel ineinander greifender und sich ergänzender Maßnahmen dem Bevölkerungswandel Paroli zu bieten. Gleichaus den Gemeinden vermeiden oder die Zahl der Zuwanderungen erhöhen wollen. Beispiele für Bemühungen zur Stabilisierung und Erhöhung der Einwohnerzahl sind Imagekampagnen der Gemeinden zur Steigerung ihres Ansehens und ihrer Attraktivität verbunden mit dem gezielten Versuch, die Gemeindeeinwohner an die Gemeinde zu binden und neue Einwohner zu gewinnen; so versucht (auf Landesebene) beispielsweise der Freistaat Sachsen, „verlorene“ Bürger mit der Parole „Sachse komm zurück“ zu locken (siehe die Webpage www.sachsekommzurueck.de). Weitere aus der Praxis gegriffene Beispiele sind besondere Angebote für Familien, mit denen etwa die Gemeinde Tiftlingerode Neubürger zu gewinnen sucht und die ihr zu gemeindegrenzenüberschreitender Berühmtheit verholfen haben – Tiftlingerode lockt neue Einwohner nicht nur mit günstigen Baugrundstücken, einer kostenlosen Kinderbetreuung durch den Bürgermeister höchstpersönlich und die unentgeltliche Bereitstellung von Kinderwagen und Strampelanzügen für junge Familien, sondern auch mit kostenlosen Lottoscheinen und der täglichen Versorgung mit frischen Brötchen zum Frühstück (siehe die Webpage der Gemeinde www.tiftlingerode.de). Zu der Notwendigkeit weiterer standortpolitischer Maßnahmen wie der Neuansiedelung von Wirtschaftszweigen J. Ragnitz, Demographischer Wandel in Sachsen: Implikationen für die Wirtschaftsförderung und den Infrastrukturaufbau, in: Milbradt/Meier (Hrsg.), Die demographische Herausforderung (Anm. 33), S. 44, 57 ff. 49 Im Zentrum einer Strategie zur Milderung der Folgen des demografischen Wandels stehen insbesondere Maßnahmen zur Erhöhung der Frauenbeschäftigungsquote [siehe Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Bevölkerung. Fakten – Trends – Ursachen – Erwartungen. Die wichtigsten Fragen, 2. Aufl. 2004, S. 64; J. Meier, Der demographische Wandel als Chance für einen gesellschaftlichen Innovationsschub, in: Milbradt/Meier (Hrsg.), Die demographische Herausforderung (Anm. 33), S. 14, 15; M. Wöhlcke/C. Höhn/S. Schmid, Demographische Entwicklungen in und um Europa – Politische Konsequenzen, 2004, S. 99] und zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität [siehe hierzu Deutscher Bundestag, Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 16/2190 vom 6.7.2006, S. 82, 87 ff.; B. Rürup, Bevölkerungsalterung und Wirtschaftswachstum: Hypothesen und empirische Befunde, in: Frankfurter Institut – Stiftung Marktwirtschaft und Politik (Hrsg.), Prosperität in einer alternden Gesellschaft, 2000, S. 83, 105 f.; K. Velladics, Generationenvertrag und demographischer Wandel, 2004, S. 85].
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wohl gibt es weder ein „Allheilmittel“ noch eine „Allzweckstrategie“ zur Lösung der demografiebedingten Probleme. Dem stehen schon die sachlichen Unterschiede und die Besonderheiten der vielfältigen kommunalen Aufgaben entgegen. Vor allem aber verbieten die uneinheitlichen regionalen Gegebenheiten allgemeingültige Einheitslösungen. Die einzelnen Gebietskörperschaften kommen daher nicht um die Erstellung aufgaben-, sach- und situationsbezogener Einzelfallanalysen herum, die die konkreten demografischen Rahmenbedingungen aufnehmen und damit erst die Grundlagen für die Auswahl der jeweils adäquaten Problemlösungsstrategie(n) schaffen. Die demnach gebotene Arbeit am und im konkreten Detail kann den Kommunen nicht abgenommen werden. Sie kann ihnen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht jedoch auf einer mittleren Abstraktionsebene erleichtert werden. Durch die Generierung von Optionen zur Bewältigung des demografischen Wandels oder zumindest zur Problementschärfung lassen sich nämlich Strategien präsentieren, diskutieren, bewerten und am Ende in einer Art „Instrumentenkasten“ zusammenstellen. Darauf können die kommunalen Akteure in der Auswahlsituation zugreifen, auch wenn die Strategien für den jeweiligen Einzelfall regelmäßig der Konkretisierung zugänglich und bedürftig sind. Derartige Strategien sind Gegenstand der folgenden Überlegungen. Im Vordergrund stehen Optionen zur Anpassung der Einrichtungen und des Leistungsspektrums von Gebietskörperschaften mit schrumpfender und alternder Bevölkerung. Die ausgewählten Handlungsoptionen sind weder abschließend noch überschneidungsfrei. Sie setzen zunächst an den klassischen Steuerungsebenen Personal, Organisation und Finanzen an (1), beschäftigen sich anschließend mit dem Steuerungsansatz einer ressortübergreifenden Entwicklungsplanung (2) und nehmen abrundend weitere Einzelaspekte demografiespezifischer Steuerung in den Blick (3). 1. Personal, Organisation, Finanzen Aufgabenübergreifende Konzepte zur Anpassung kommunaler Leistungen an die sich ändernde Bevölkerungssituation müssen an verschiedenen Stellschrauben der kommunalen Selbstverwaltung ansetzen. Aus konventioneller verwaltungswissenschaftlicher Sicht bieten sich dafür im ersten Zugriff vor allem die Steuerungsebenen Personal, Organisation und Finanzen an. Denn durch den gezielten Einsatz von Personal, die sachadäquate Optimierung der Verwaltungsorganisation und vorausschauende Finanzplanung können die Gemeinden demografische Gefahren frühzeitig entschärfen und sowohl quantitativ als auch qualitativ auf ein angemessenes und finanzierbares Niveau der kommunalen Aufgabenerfüllung hinarbeiten.
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a) Personal Der unaufhaltsame Schrumpfungs- und Alterungsprozess erfordert bereits heute gezielte personalpolitische Konzepte der Kommunen. Auf der Grundlage der gemeindebezogenen Bevölkerungsdaten muss der aktuelle und künftige Personalbedarf der Gemeinden nach Anzahl, Alter, Qualifikation und Funktion genau analysiert werden. Steht der künftige Bedarf fest, sind bedarfsgerechte ressortspezifische und ressortübergreifende Personalkonzepte zu erarbeiten, die im Einzelnen ausweisen, ob und in welchen Tätigkeitsfeldern ein Personalüberhang oder -defizit entstehen wird und welcher Qualifizierungsbedarf zu erwarten ist. Ein sozialverträglicher Personalabbau dürfte insbesondere in dem demografisch sensiblen Bildungssektor unumgänglich sein,50 um eine Erosion der kommunalen Leistungsfähigkeit zu vermeiden. Infolge des Rückgangs der Zahl der Kinder und Jugendlichen in den Gemeinden wird es für manche Kindertagesstätte und Schule, aber auch für Jugendheime und Sportplätze und damit für die in diesen Einrichtungen beschäftigten Erzieher, Lehrer, Jugendbetreuer und Sportwarte in dem bisherigen Umfang schon bald keinen Bedarf mehr geben. Auf der anderen Seite wird die verstärkte Nachfrage nach altenspezifischen Einrichtungen im Pflege- und Gesundheitssektor vielerorts eine Personalaufstockung erfordern. In zahlreichen Gemeinden wird die Zahl der Pflegeeinrichtungen und Krankenbetten ebenso zu erhöhen sein wie die Zahl der in diesem Bereich beschäftigten Ärzte und Pfleger. Eine Möglichkeit, den erhöhten Personalbedarf zu befriedigen, ist die Umschulung von in anderen Sektoren – etwa in Bereichen der Kinder- und Jugendbetreuung und im Schulsektor – abzubauendem Personal. Außerdem sind zur Wahrung personalpolitischer Anpassungsflexibilität verstärkt Möglichkeiten des Einsatzes zeitlich befristeter Beschäftigungsverhältnisse in Betracht zu ziehen. Und schließlich könnte ressortübergreifend im Sinne einer „Flexibilitätsvorsorge“ bei der Einstellung von Mitarbeitern deren variable Einsatzbereitschaft und -fähigkeit etwa nach dem Modell „heute Erzieher im Kindergarten – morgen Altenpfleger im Seniorenheim“51 angestrebt werden.
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Vgl. Seitz, Die Auswirkungen mit einer Analyse des demografisch Kindertagesstätten in Sachsen. 51 So das Beispiel von S. Tatje, strategisches Handlungsfeld, Paper Dresden, S. 5.
des Bevölkerungsrückgangs (Anm. 33), S. 32, bedingten Personalüberbestands im Bereich der Demographische Entwicklung als kommunales für den KGSt-Personalkongress Juni 2005 in
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b) Organisation Organisatorisch lässt sich der veränderten demografischen Situation vor allem durch eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit anderen Gebietskörperschaften oder mit privaten Anbietern bei der Erbringung öffentlicher Leistungen und dem Betrieb von Infrastruktureinrichtungen begegnen.52 Funktionsfähige Konzepte interkommunaler Gemeinschaftsarbeit können ebenso wie Mehr-Ebenen-Kooperationen Synergieeffekte freisetzen und zusammen mit Public-Private-Partnerships dazu beitragen, trotz der demografischen Entwicklungen die kommunalen Leistungsangebote in angemessenem Umfang aufrechtzuerhalten und wirtschaftlich tragfähig zu organisieren. Besonders geeignet für Kooperationsformen bei der Aufgabenerfüllung sind die Versorgung der Gemeindeeinwohner mit Wasser und Energie, aber auch die Entsorgung von Abwasser und Abfall. So können Abfallentsorgungsanlagen zentralisiert und die Abfallentsorgung in den Gemeinden von mehreren Gebietskörperschaften gemeinsam erledigt werden.53 Ähnliches gilt für die Organisation der Abwasserentsorgung und prinzipiell auch für die Versorgung der Gemeindebürger mit Trinkwasser und Energie.54 Durch eine interkommunale Kooperation können in diesen Infrastrukturbereichen die Kapazitäten an zentralen Orten gebündelt,55 Ressourcen gemeinsam genutzt, die erforderlichen Investitionen, die durch die Infrastrukturplanung und -unterhaltung anfallen, aufgeteilt und Kapazitäten am Markt günstiger eingekauft werden.56 So ist etwa eine effizientere und kostengünstigere Nutzung von Abfallentsorgungsanlagen denkbar, wenn Gemeinden, deren Einwohnerschaft wächst, die Anlagen einer anderen Gebietskörperschaft, 52 Ebenso P. Gans, Die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen – Auswirkungen auf Raumordnung, Siedlungs- und Verkehrsentwicklung, in: Milbradt/Meier (Hrsg.), Die demographische Herausforderung (Anm. 33), S. 158, 164; Seitz, Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs (Anm. 33), S. 36. 53 Vgl. auch T. Hebeler, Bevölkerungsentwicklungen als Herausforderung für Rechtspolitik und Gesetzgebung, ZG 2003, S. 218, 234; A. Schink, Abfallwirtschaft, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung. Optimierungspotentiale im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, 1998, S. 45, 55 ff.; zu den Grenzen interkommunaler Zusammenarbeit außerhalb des eigenen Gemeindegebiets F. Brosius-Gersdorf, Wirtschaftliche Betätigung von Gemeinden außerhalb ihres Gebiets, AöR 130 (2005), S. 392 ff. 54 Vgl. auch Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Öffentliche Daseinsvorsorge (Anm. 24), Rn. 55. 55 s. Tietz, Auswirkungen des demographischen Wandels (Anm. 38), S. 164. 56 Zu der mit solcher interkommunaler Kooperation verbundenen Standortkonzentration von Personal Seitz, Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs (Anm. 33), S. 42.
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die wegen des Rückgangs oder der Stagnation ihrer Einwohnerzahl freie Kapazitäten aufweisen, mitnutzen, statt in den Ausbau und die Unterhaltung eigener Anlagen zu investieren.57 Auch durch eine Zusammenführung mehrerer kleinerer Anlagen zu einer größeren Einheit können sich kostengünstige Möglichkeiten des Ausgleichs unterschiedlicher Versorgungsbedarfe zwischen benachbarten Gemeinden eröffnen. Allerdings müssen die Vorteile einer intergemeindlichen Aufgabenerledigung abgewogen werden mit den Vorzügen dezentraler Lösungen, die eine größere Flexibilität im Falle eines notwendigen Rückbaus oder einer Umnutzung technischer Anlagen gewährleisten und die hohen Fixkosten zentralisierter Systeme vermeiden.58 Sehr viel differenzierter muss die Frage interkommunaler oder öffentlichprivater Zusammenarbeit im Bereich sozialer Einrichtungen beurteilt werden. Ob intergemeindliche Zusammenarbeit oder Public-Private-Partnerships geeignete Organisationsformen zur effizienten, wirtschaftlichen und funktionsgerechten Aufgabenerfüllung darstellen, ist für jeden Infrastruktursektor getrennt und bisweilen auch innerhalb einzelner Sektoren differenziert zu beurteilen. So mag zwar der gemeinsame Betrieb von Museen, Theatern, Schwimmbädern oder Friedhöfen auf der Gemeindegrenze oder an zentralen Orten durchaus sinnvoll sein. Für Schulen oder Kindergärten, bei denen eine gewisse Dezentralität und Erreichbarkeit wichtig ist, mag dagegen interkommunale Kooperation ausscheiden oder mit keinerlei Effizienzgewinnen verbunden sein. Aus denselben Gründen drängt sich eine gemeinsame Aufgabenerledigung zusammen mit anderen Gebietskörperschaften auch im Bereich des Städtebaus nicht unbedingt auf. c) Finanzen Der demografische Wandel verlangt eine sorgfältige Kalkulation und Vorausplanung der kommunalen Finanzen. Zu schätzen sind die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten demografiebedingt entstehenden Mindereinnahmen und Mehrausgaben auf der einen Seite und die möglichen Einsparpotentiale auf der anderen Seite. Die Gemeinden müssen deshalb schon jetzt genau prüfen, wie sich ihre Einnahmen und Ausgaben bei sinkenden und alternden Einwohnerstrukturen in den nächsten Jahren (und Jahrzehnten) entwickeln werden und welche direkten und indirekten Kosten durch den notwendigen Rück- und Umbau von Überkapazitäten auf der einen Seite sowie den Auf- und Ausbau fehlender oder unzureichender Infrastruktur mittelund langfristig anfallen,59 daneben aber auch, welche Entlastungen der 57 58 59
Vgl. Schink, Abfallwirtschaft (Anm. 53), S. 55. Hierzu Koziol, Folgen des demographischen Wandels (Anm. 36), S. 81 f. Vgl. Seitz, Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs (Anm. 33), S. 34 ff.
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Kommunalhaushalt durch die Reduzierung von Infrastrukturangeboten und Versorgungsgebieten erfahren wird und welche ökonomischen Potenziale sich vor dem Hintergrund der veränderten demografischen Lage entfalten lassen. Auf der Grundlage solcher Überlegungen ist eine vorsichtige, vorausschauende Haushaltsplanung geboten, die etwaigen demografischen „Katastrophen“ der Zukunft trotzt und die Finanzierbarkeit der wichtigsten kommunalen Aufgaben selbst in schwierigen Zeiten sicherstellt. Gefordert ist deshalb ein demografiesensibler Mitteleinsatz mit einer entsprechend demografiesensiblen finanziellen Steuerung der Verwaltungstätigkeit. 2. Ressortübergreifende Entwicklungsplanung Gleichsam quer über die erörterten Steuerungsebenen hinweg setzen die verschiedenen Anpassungskonzepte eine aufgabenübergreifende planerische Beschäftigung mit der mittel- und langfristig absehbaren demografischen Entwicklung voraus. In Anlehnung an die verwaltungswissenschaftliche Strukturierung planerischer Entscheidungsprozesse sind in die prozessorientierte Entwicklungsplanung insbesondere eine sorgfältige Datenerhebung und -analyse, eine demografiespezifische Aufgabenüberprüfung und -anpassung sowie eine kontinuierliche Wirkungskontrolle einzustellen. Im Einzelnen: a) Datenerhebung und -analyse Eine erfolgreiche, systematische Implementierung demografiebezogener Programme in die Abläufe kommunaler Selbstverwaltung erfordert zuallererst zuverlässige Informationen über die demografischen Gegebenheiten vor Ort. Die Kommunen müssen die für sie einschlägigen Zahlen kennen. Am Anfang der Erarbeitung von Strategien zur Bewältigung des demografischen Wandels sollte daher die Erhebung grundlegender Daten über die aktuelle Situation und die künftige Entwicklung der Bevölkerung in der Gemeinde stehen. Eine solche Datenerhebung muss mit einer genauen Analyse der Ist-Situation beginnen, die Aufschluss über die aktuellen Geburtenzahlen in der Gemeinde, die Altersstruktur der Gemeindeeinwohner sowie die Zu- und Abwanderungsbewegungen im Gemeindegebiet gibt. Auf der Grundlage der aktuellen demografischen Daten und zurückliegender Veränderungen lässt sich unter Heranziehung von wissenschaftlich fundierten Hypothesen über die wahrscheinliche Entwicklung wesentlicher demografischer Faktoren (Fertilität, Mortalität, Migration)60 für die konkrete Kommune und be60
Dazu oben II.
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stimmte Zeitfenster die künftige Bevölkerungsentwicklung vergleichsweise verlässlich prognostizieren. Die Kenntnis der für sie relevanten demografischen Ausgangsdaten und Perspektiven versetzt die Gebietskörperschaften in die Lage, die Auswirkungen des Bevölkerungswandels auf die Zusammensetzung der Einwohner zu analysieren, die Zahl und Struktur der künftigen Haushalte abzuschätzen und den in den einzelnen Aufgabensegmenten zu erwartenden Bedarf an kommunalen Leistungen konkret zu ermitteln. Im Anschluss an solche Folgenanalysen lassen sich für die jeweilige Kommune aufgabenbezogene Gestaltungs- und Auffangkonzepte für die absehbaren demografischen Veränderungen erarbeiten und die dazu passenden Problemlösungsstrategien auswählen. b) Demografiespezifische Aufgabenüberprüfung und -anpassung Mit diesen Bemerkungen ist bereits die Brücke zu der gebotenen demografiespezifischen Aufgabenüberprüfung geschlagen. Diese Aufgabenkritik stellt sämtliche kommunalen Leistungen und Infrastrukturen auf den Prüfstand, identifiziert demografisch bedingte Anpassungsbedarfe, formuliert und definiert die dazugehörigen Zielvorstellungen, generiert und bewertet Alternativen für die Erreichung der Ziele und benennt die am Ende ausgewählten konkreten Maßnahmen für Anpassungen an den demografischen Wandel, in Sonderheit die Einzelmaßnahmen für den Rück-, Um- und Aufbau. Dazu müssen die Kommunen eruieren, bei welchen Einrichtungen etwa in der Ver- und Entsorgungswirtschaft innerhalb des gesetzten Prognosezeitraums Überkapazitäten auftreten, auf welche Mindestauslastung diese Einrichtungen ausgelegt sind61 und wie die bestehenden Infrastrukturen dem Bedarf flexibel angepasst werden können. Eine entsprechende Problemdiagnose muss in anderen kommunalen Tätigkeitsfeldern – namentlich in den Sektoren Bildung, Kultur, Sport, medizinische Versorgung und Städtebau – erfolgen, in denen sich infolge des Bevölkerungsrückgangs und alterungsbedingt in einigen Jahren teilweise ebenfalls überschüssige Kapazitäten, teilweise aber auch Infrastrukturlücken und Versorgungsdefizite auftun können. An diesen Diagnosen muss die weitere Planung ansetzen und darauf bezogene Therapiepläne entwickeln. Dazu sind für die einzelnen Aufgabenfelder konkrete Entwicklungspläne zu erarbeiten, die Art und Umfang der notwendigen Anpassungsmaßnahmen beschreiben und problemorientierte Lösungsansätze definieren. Zu solchen Lösungsansätzen kann die Konzen61 Siehe dazu Tietz, Auswirkungen des demographischen Wandels (Anm. 38), S. 156.
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tration von Standorten ebenso gehören wie die Flexibilisierung von Kapazitäten, die sektoral übergreifende Nutzung multifunktional ausgelegter Einrichtungen und der Abbau von Infrastruktur. Zu erarbeiten ist eine Streichund Erhaltungsliste, die festlegt, welche Einrichtungen schrumpfungsorientiert ab- oder zurückgebaut, welche unverändert aufrechterhalten bleiben, welche umgenutzt und welche aus- oder aufgebaut werden sollen. Am Ende des Entscheidungsprozesses ist konkret festzulegen, welcher Rück-, Umoder Ausbaubedarf räumlich und quantitativ besteht, welche Qualitätskriterien und Mindestinhalte für den Schrumpfungs- oder Wachstumsprozess gelten und mittels welcher organisatorischer Maßnahmen diese Bedarfe innerhalb welcher zeitlichen Horizonte befriedigt werden sollen. Zur exemplarischen Verdeutlichung: Hinterlässt der Bevölkerungswandel in einer Gemeinde im Segment der Wasserversorgung Überkapazitäten, ist differenziert festzulegen, welche Auslastung die Systeme erfordern, ob und welche Netzteile zurückgebaut werden sollen oder wie die bestehende Infrastruktur der demografischen Entwicklung flexibel angepasst werden kann62 und ob vorübergehend Maßnahmen zur Funktions- und Qualitätssicherung erforderlich sind. Hinsichtlich der räumlichen Dimension der Versorgung muss sorgfältig geprüft werden, in welchen Gebietsteilen bzw. bis zu welcher Einwohnerdichte es wirtschaftlich möglich und zumutbar ist, die Wasserversorgung aufrechtzuerhalten.63 Ist ein Rückbau der Netze in Teilen der Gemeinde unumgänglich, sind qualitative und quantitative Mindestanforderungen für den Rückbauprozess festzulegen – so zum Beispiel über technische Anschlussmerkmale, Verfügbarkeitsvorgaben und Qualitätsanforderungen. Auch die sozio-kulturellen Einrichtungen verlangen von der Kommunalpolitik zukunftsorientierte Planung, die bereits jetzt langfristig absehbare Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur aufnimmt und mögliche Strategien zur Abfederung abnehmender Bevölkerungszahlen und alternder Einwohner ersinnt. Bezogen auf den jeweiligen Aufgabensektor muss entschieden werden, ob und in welcher Anzahl Einrichtungen je Gemeindefläche und Einwohnerzahl künftig tragbar sind. Hinsichtlich der Mindestanforderungen an die Infrastruktur können Erreichbarkeitsstandards festgelegt (maximale Entfernung der Einwohner zur Einrichtung), Öffnungszeiten geregelt, Betreuungsstandards definiert (Qualifikation und Anzahl der Betreuer je Kunde) und weitere Gewährleistungsmerkmale bestimmt werden. Dass 62 Zu verschiedenen technischen Möglichkeiten, Wasser- und Abwasserleitungen an veränderte Bedarfe anzupassen, eingehend Tietz, Auswirkungen des demographischen Wandels (Anm. 38), S. 167 f. 63 Zum Fehlen einer flächendeckenden Versorgungspflicht der Gemeinden F. Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Daseinsvorsorge. Aufgabenwahrnehmung und Verwaltungsorganisation der Kommunen in Zeiten des Rückgangs und der Alterung der Bevölkerung, VerwArch 98 (2007), S. 317, 337 ff.
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dabei sowohl quantitativ als auch qualitativ für Krankenhäuser oder Schulen64 ein anderer Standard geboten ist als beispielsweise für Friedhöfe oder Sportstätten, liegt auf der Hand. Legen die demografischen Veränderungen gezielte Rück- und Umbauten nahe, kann die Schließung von Museen, Theatern, Jugendzentren und Schulen ebenso notwendig sein wie der Rückbau ganzer Stadtquartiere, aber auch die Umnutzung frei werdender Kapazitäten und deren Anpassung an veränderte oder neue Bedürfnisse – so etwa die Nutzung frei werdender Flächen für Zwecke der Landwirtschaft oder des Tourismus.65 In wachstumsorientierten Aufgabenfeldern sind flexible, multifunktionale Nutzungskonzepte bei der Neuerrichtung von Gebäuden in die Planung einzubeziehen, die es zulassen, Gebäudekomplexe ohne größere Umbaumaßnahmen der jeweiligen Bedarfssituation entsprechend zu nutzen – etwa „heute als Kindertagesstätte, morgen als Seniorenheim“ oder „heute als Einfamilienhaus, morgen als Mehrgenerationenhaus“.66 Mit Blick auf die räumliche Ausdünnung der Einwohnerstruktur, die viele Gemeinden erwartet, können planerische Lösungen auch darin bestehen, kommunale Leistungen „mobil“ oder „virtuell“ über das Internet anzubieten. Nicht nur Gesundheitsdienstleistungen können als mobile Dienste erbracht werden, bei denen Ärzte oder anderes medizinisches Personal zu den Bürgern „ins Haus“ kommen, sondern auch eine „rollende Stadtbibliothek“, virtuelle Museumsführungen, Wanderlesungen oder „fliegende“ Lehrkräfte sind denkbar. Manche dieser Vorschläge mögen heute noch gewöhnungsbedürftig erscheinen, werden aber schon bald Optionen sein, mit denen sich Gemeinden auseinandersetzen müssen und vielleicht anfreunden werden. c) Wirkungskontrolle Die Erkenntnis, dass sich die demografischen Veränderungen vergleichsweise zuverlässig vorhersagen lassen und die Kommunalverwaltung durch gezielte Planung und Entwicklung daran angepasst werden kann, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass sich Reaktionen auf den demografischen Wandel und deren Wirkungen nicht völlig punktgenau programmieren lassen. Mangels historischer Vorbilder und verfügbarer Erfahrungswerte bleibt 64 Zu möglichen Anpassungsszenarien im Bereich der Schulen C. Kramer/M. Nutz, Räumliche Auswirkungen des demographischen Wandels auf das Bildungsund Erziehungswesen, in: Gans/Schmitz-Veltin (Hrsg.), Demographische Trends (Anm. 26), S. 192, 195 ff. 65 Vgl. Ragnitz, Demographischer Wandel (Anm. 48), S. 56; zu den Chancen, die der demografische Wandel für die Belebung des Tourismus in Deutschland bietet, P. Reuber/G. Wolkersdorfer, Demographischer Wandel und Tourismus, in: Gans/ Schmitz-Veltin (Hrsg.), Demographische Trends (Anm. 26), S. 221, 230 ff. 66 Siehe auch Gans, Die Bevölkerungsentwicklung (Anm. 52), S. 164.
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stets ein Rest an Ungewissheit über die Erfolgsaussichten von Anpassungsmaßnahmen. Die Unvorhersehbarkeit von Schwankungen der demografischen Faktoren, die Unberechenbarkeit bevölkerungsexterner Einflussfaktoren und nicht zuletzt die fehlende Wirkungsforschung von noch in den Kinderschuhen steckenden ersten Praxisversuchen zur Adaptierung kommunaler Leistungen an die veränderte Bevölkerungssituation erschweren detailgenaue Problemlösungen.67 Deshalb sollte die Aufgabenüberprüfung und -anpassung von einer kontinuierlichen Wirkungskontrolle begleitet werden. Diese Kontrollen dienen der Evaluation der eingesetzten Handlungsoptionen, geben Aufschluss über Wirkung und Wirksamkeit der Maßnahmen sowie über den Grad der Zielerreichung und regen gegebenenfalls Korrekturen der einmal ausgewählten Strategien an.68 Im Zuge der Wirkungskontrolle festgestellter Korrekturbedarf kann zu Nachsteuerungen, zu modifizierenden Neujustierungen, zum Spannen sicherer Auffangnetze oder auch zu einer kompletten Umsteuerung veranlassen. 3. Weitere Einzelaspekte demografiespezifischer Steuerung Neben den eben vorgestellten Steuerungsansätzen finden sich in den Demografiedebatten eine ganze Reihe weiterer aufgabenübergreifender Vorschläge, die den Kommunen den Umgang mit den demografischen Herausforderungen erleichtern sollen. Dazu gehören insbesondere der „Demografiecheck“, die Einrichtung eines Demografieausschusses oder einer entsprechenden Stabstelle sowie die Intensivierung demografiespezifischer Kommunikation. a) Demografiecheck Der in der Diskussion wiederholt geforderte69 „Demografiecheck“ verfolgt das Anliegen, alle kommunalpolitischen Entscheidungen von gewisser Erheblichkeit einer Art „Demografieverträglichkeitsprüfung“ zu unterwerfen. Danach müssen sich die wichtigeren kommunalen Projekte eine genaue Untersuchung ihrer Sinnhaftigkeit, Tragfähigkeit und Finanzierbarkeit unter dem Blickwinkel der demografischen Entwicklung gefallen lassen.70 Bei 67 Vgl. in diesem Zusammenhang zu der Steuerbarkeit von Verwaltungshandeln nur W. Hoffmann-Riem, Steuerung und Stimulierung innovativen Verhaltens Privater durch die Verwaltung, in: H. Hill/H. Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht II. Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000, S. 239, 249. 68 Vgl. auch W. Hoffmann-Riem, Innovationssteuerung durch die Verwaltung: Rahmenbedingungen und Beispiele, Die Verwaltung 33 (2000), S. 155, 162, 168. 69 Siehe etwa C. Appel, LKV 2005, S. 377 ff.; Landtag Brandenburg, 2. Bericht der Landesregierung zum demografischen Wandel (Anm. 6), S. 27.
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sämtlichen größeren Vorhaben der Kommune ist die demografische Komponente mit zu bedenken, damit nicht am mittel- und langfristigen Bedarf und der künftigen Einnahmen- und Ausgabensituation vorbei geplant und investiert wird. In Entscheidungsverfahren über wichtigere Projekte fordert der „Demografiecheck“ jedenfalls prozedural die Berücksichtigung demografischer Gesichtspunkte; dadurch ruft er diese Aspekte immer wieder neu ins Bewusstsein und integriert die Bevölkerungsentwicklung als festen Prüfstein in kommunalpolitische Entscheidungsprozesse. Schon allein dies erfüllt eine gewisse Warnfunktion. Im Übrigen verdeutlicht ein Seitenblick auf die Umweltverträglichkeitsprüfung71 die in dem Steuerungsansatz eines „Demografiechecks“ steckenden Potentiale. Voraussetzung und Grundlage einer effizienten „Demografieverträglichkeitsprüfung“ ist die Entwicklung analytischer Instrumente, die es ermöglichen, die demografischen Folgen kommunaler Maßnahmen abzuschätzen und am tatsächlich prognostizierten Bedarf zu spiegeln. Hierfür kommt die verwaltungsinterne Erarbeitung von Leitfäden, Checklisten und computergestützten Demografieprüfprogrammen ebenso in Betracht wie die Inanspruchnahme externer Expertenkompetenz, die gewiefte Unternehmensberatungen schon heute feilbieten. b) Ausschuss bzw. Stabstelle für demografische Entwicklung Der von dem „Demografiecheck“ ausgehende Druck zur Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung in Entscheidungsverfahren lässt sich personell-organisatorisch durch die Errichtung einer auf demografische Entwicklungsplanung spezialisierten ressortübergreifenden Stabstelle bzw. – als funktionelles Äquivalent – eines Demografieausschusses verstärken.72 Personell-organisatorisch sollten kommunalpolitische Entscheidungen und Maßnahmen zwar „sachnah“ vornehmlich dem für die konkrete Sachmaterie zuständigen Gremium und/oder Kommunalbeamten obliegen. Zusätzlich könnte jedoch eine mit gebündelter demografischer Kompetenz ausgestattete Stabstelle bzw. ein entsprechender Ausschuss in die Entscheidungsfindung und -durchführung eingebunden werden. Dafür sind – im vorgegebenen rechtlichen Rahmen – unterschiedliche Gestaltungsvarianten denkbar, die von reinen Informations- und Beratungsfunktionen über Mitwirkungs70
Vgl. Seitz, Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs (Anm. 33), S. 36. Siehe etwa R. Sparwasser/R. Engel/A. Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, S. 162 ff. 72 Eine solche zentrale „Stabsstelle für demografische Entwicklungsplanung“ hat frühzeitig die Stadt Bielefeld errichtet, siehe dazu S. Tatje, Bielefeld stellt sich dem demographischen Wandel, der städtetag 2005, S. 39 ff. Zur Aufgabenbeschreibung der Stabstelle siehe die Webpage www.bielefeld.de. 71
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funktionen im Sinne von Anhörungspflichten, Rechten zur Stellungnahme oder Mitzeichnungsrechten bis hin zu Mitentscheidungsbefugnissen im Sinne eines echten Vier-Augen-Prinzips reichen. Letzteres wird freilich wegen der Befindlichkeiten der in der Sache zuständigen Fachgremien und -beamten nicht immer leicht zu realisieren sein. Jenseits der mitunter prekären institutionellen Einbindung in die kommunale Verwaltungsorganisation wäre in einem Demografieausschuss bzw. einer aus den einzelnen kommunalen Geschäftsbereichen herausgehobenen Stabstelle zumindest geballte Demografiekompetenz konzentriert. Ausschuss bzw. Stelle könnten deshalb die zentrale Anlaufstation für die mit Personal-, Organisations-, Finanz- und Planungsfragen betrauten Gremien bzw. Bediensteten sein und dazu beitragen, etwa bei herausgehobenen Projekten der Gemeinde demografieunverträgliche oder gar -feindliche Entscheidungen zu verhindern. Damit wäre bereits einiges gewonnen. Doch verträgt das Querschnittsthema Demografie keine sektorale Abkapselung. Deshalb sollte die Wirksamkeit des Ausschusses bzw. der Stelle zumindest durch die Ausbildung horizontaler Strukturen (z. B. Arbeitsgruppen) intensiviert werden. c) Wissen, Kommunikation und Erfahrungsaustausch Eine weitere Grundbedingung, um die demografischen Herausforderungen zu meistern, ist die Vermittlung von Wissen und Kompetenz im Umgang mit dem Bevölkerungswandel73. Das betrifft zunächst die „Binnenstrukturen“ der Kommunalverwaltungen. Regelmäßige Schulungen der Bediensteten, in denen sie die aktuelle Datenlage und neueste Bevölkerungsprognosen ebenso kennen lernen wie wissenschaftliche Studien und Evaluationsergebnisse demografiebezogener Maßnahmen, sind Voraussetzung und notwendige Vorbedingung dafür, dass sie in der Lage sind, ihre Entscheidungen an den demografischen Gegebenheiten auszurichten und die Folgen ihrer Entscheidungen richtig einzuschätzen. Ob das regelmäßige Update durch Fortbildungen, Vorträge oder Intranetinformationen erfolgt und ob damit verwaltungsinterne Demografiebeauftragte oder externe Experten betraut werden, bleibt letztlich jeder Gemeinde selbst überlassen und mag anhand der Größe und Struktur der Belegschaft sowie deren „Lernvorlieben“ entschieden werden. Bei der Auswahlentscheidung sollte freilich bewusst sein, dass etwa professionelle Demografie-Trainings für kommunale Entscheider dem Demografie-Thema im Verwaltungsalltag naturgemäß schon im Ansatz größere Aufmerksamkeit sichern als unattraktiv gestaltete Informationen über das Intranet. 73
Vgl. etwa Mäding, Herausforderungen (Anm. 4), S. 36.
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Ebenso wichtig wie das verwaltungsinterne Wissensmanagement ist die Kommunikation nach außen. Angesprochen ist damit zunächst der interkommunale Erfahrungsaustausch mit anderen Gemeinden im Inland, aber auch im europäischen Ausland, wo der demografische Wandel mittlerweile ebenfalls weit fortgeschritten ist.74 Neben „Lern- und Erfahrungspartnerschaften“75 mit anderen Gebietskörperschaften und in Mehr-Ebenen-Verbünden kann auch die Konsultation von mit demografischen Fragen befassten gesellschaftlichen Institutionen76 und der ortsansässigen Wirtschaft bei der Problemanalyse und -lösung helfen. Nicht zuletzt müssen die Kommunen ihr „Ohr“ eng am Bürger und der ortsansässigen Wirtschaft haben, um deren durch den Bevölkerungswandel bedingte Sorgen aufzunehmen, Wünsche aufzuspüren und sie so in den Prozess der demografiebegleitenden Problemlösungen einzubeziehen. In diesen Netzwerkstrukturen sind auch strategische Partnerschaften und institutionelle Verfestigungen etwa in Form von „lokalen Bündnissen für Familie“ denkbar, die die gesellschaftlichen Kräfte nicht nur konsultieren, sondern auch aktivierend in die Bewältigung des Bevölkerungswandels einbinden. V. Resümee und Ausblick Der demografische Wandel in Deutschland rüttelt an den Grundfesten der Kommunen. Um der Probleme Herr zu werden, die der Rückgang und die Alterung der Bevölkerung mit sich bringen, müssen die Gemeinden ihren Aufgabenbestand zukunftsorientiert an die veränderten demografischen Verhältnisse anpassen und über neue organisatorische Konzepte für die Bewältigung ihrer Aufgaben nachdenken. Die Herausforderung besteht darin, mutige und vorausschauende Lösungsansätze zur Gestaltung der demografischen Veränderungen zu erarbeiten. Dabei dürfen die Gemeinden vor dem vollständigen Rückbau einzelner kommunaler Einrichtungen ebenso wenig die Augen verschließen wie vor der Umsetzung flexibler, multifunktionaler Nutzungskonzepte für Infrastruktur und dem zeitigen Ausbau von Leistungen in wachstumsorientierten Märkten für ältere Menschen. Nehmen die Gemeinden diese Herausforderungen an und sind sie bereit, nicht nur die drohenden Gefahren des Bevölkerungswandels zu erkennen, sondern auch brach liegende und neue Potenziale zu erschließen, mit Routinen zu bre74 Siehe nur United Nations (Hrsg.), World Population Prospects (Anm. 9), Kap. III S. 33. 75 Zum Begriff K. Schmidt, Kommunen und Regionen im Demographischen Wandel – Eine Strategie für die Demographie!, 2004, S. 21. 76 Vorreiter demografischer Analysen und Lösungsmodelle speziell für Gemeinden ist etwa die Bertelsmann-Stiftung; siehe in diesem Zusammenhang deren Demografieportal im Internet www.wegweiser.demographie.de.
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chen, Experimente zu wagen und ihre Rolle partiell neu zu definieren, birgt der demografische Wandel nicht nur Gefahren, sondern bedeutet auch die Chance zum Aufbruch in eine zukunftsbezogene, kreative und innovationsfreudige Zeit. Das rückt auch die verbreitete Redeweise von der demografischen Krise in ein etwas anderes Licht. Aus der asiatischen Verwaltungskultur, mit der Heinrich Siedentopf seit langem einen intensiven Dialog pflegt,77 wissen wir, dass der Begriff „Krise“ keineswegs allein negative Konnotationen weckt. Das chinesische Schriftzeichen für Krise
ist transkribiert „Wei Ji“ und setzt sich zusammen aus dem Zeichen „Wei“ , das „Gefahr“ bedeutet, und dem Zeichen „Ji“
mit der Bedeutung von „Chance“. Nach dieser Lesart ist die demografische Krise nicht nur Herausforderung, sondern auch positiver Impuls für eine Verwaltungsmodernisierung, den die Kommunen möglichst frühzeitig offensiv aufgreifen sollten.
77 Siehe K.-P. Sommermann, Verwaltungsreform im internationalen Dialog, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung. Symposium aus Anlass der Emeritierung von Univ.Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, 2007, S. 209 ff.
Verfassungsstaatliche Textstufen in Sachen kommunaler Selbstverwaltung – eine Skizze Peter Häberle Einleitung Der Jubilar hat wie wenige andere die kommunale Selbstverwaltung zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht: als Wissenschaftler und als langjähriger Spiritus Rector der DÖV. Er hat sich methodisch kommunalwissenschaftlich im Kontext der „Verwaltungswissenschaften“ profiliert. Wenn im Folgenden im Sinne des Textstufenparadigmas gearbeitet wird, so geschieht dies im Dienste einer Bekräftigung dieser Ansätze. Die kommunale Selbstverwaltung1 sei im Folgenden nicht primär verfassungsgeschichtlich im Sinne der Verfassungsvergleichung in der Zeit skizziert, sondern als Komparatistik in den Verfassungsräumen der heutigen Zeit (Verfassungsvergleichung im Raum). So gegenwärtig jedermann die SteinHardenberg’schen Reformen (1808) als Klassikertexte unseres Themas sind, so überfällig ist eine Textstufenanalyse aus dem Heute. Dazu ermutigt nicht nur der Schweizer Klassikertext von A. Gasser „Gemeindefreiheit in Europa“ (1946) oder das Wort von den Kommunen als „europäische Verfassungsform“, dazu veranlasst auch das Schlagwort vom „Europa der Regionen und Kommunen“ und die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985)2 sowie wahlverwandte Dokumente aus jüngster Zeit. Das 1989 entwickelte „Textstufenparadigma“ geht den textlichen Ausprägungen nach, die ein Verfassungsthema im Laufe der Zeit durch wechselseitige Produktionen und Rezeptionen der Trias von Texten, Theorien und Praxis gefunden hat. Konkret: Eine neue bzw. totalrevidierte Verfassung (z. B. kantonal und föderal in der Schweiz) rezipiert die ältere und neue Judikatur und Praxis nicht nur aus dem eigenen Land, sondern auch aus anderen „fremden“ Verfassungsstaaten. Im Europa der Europäischen Union und im 1
Aus der unüberschaubaren Literatur zuletzt die Festschrift für Gernot Schlebusch, Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bewahrung, Bewährung und Entwicklung, H.-G. Henneke/H. Meyer (Hrsg.), Stuttgart 2006, sowie FS Faber, Die Gemeinde, Stuttgart 2007. 2 Dazu F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, Baden-Baden 1989.
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Europa des Europarates vollziehen sich solche Osmoseprozesse besonders intensiv. So werden Vorgaben oder Vorbilder aus dem Europarat in Osteuropa aufgenommen. Auch die Wissenschaft bzw. ihre Theorievorschläge können auf längere Sicht im eigenen Land oder im „Ausland“ zu einem Verfassungstext gerinnen. Dazu gibt es viele Beispiele. Genannt sei nur die „Bundestreue“ von R. Smend (1916) und die Judikatur des BVerfG bzw. des Tribunal Constitucional in Madrid sowie die EU-Diskussion um Regionalismustreue bzw. Solidarität und Loyalität heute. Nachstehend sollen nur besonders „gelungene“ Textstufen aus jüngster Zeit dargestellt werden (gelegentlich auf der Folie einfallsloser Beispiele). Sie mögen in Europa Vorformen von „gemeineuropäischem Kommunalverfassungsrecht“ sein, so wie es „Kommunales Kulturverfassungsrecht“, wissenschaftlich konzipiert seit 1979, gibt3. Sie können aber auch signifikante Unterschiede der einzelnen Verfassungsstaaten in Sachen kommunaler Selbstverwaltung zum Ausdruck bringen und Differenzierungen der verschiedenen nationalen Verfassungskulturen offenbaren.
Erster Teil: Typologische Bestandsaufnahme neuerer Garantien – Auswahl I. Schweiz (Kantonsverfassungen und Bundesverfassung) Die Schweiz darf wohl in Anspruch nehmen, im europäischen Raum die vitalste Gemeindewirklichkeit auszuleben4 (Stichwort gegliederte, bürgernahe Demokratie). Das zeigt sich zum Teil auch in den Texten der totalrevidierten Kantonsverfassungen. Hier eine kleine Auswahl, die belegt, dass die Schweizer Kantone zum einen die Gemeinden von vorneherein in fast alle Staatszielkataloge einbeziehen, zum anderen in ausführlichen Abschnitten das Thema „Kommunale Selbstverwaltung“ regeln. Die Verfassung des Kantons Schaffhausen (2000) sagt schon in Art. 3 Abs. 2: „Er (sc. der Kanton) erfüllt die ihm vom Bund übertragenen Aufgaben unter Wahrung seiner Interessen und derjenigen der Gemeinden.“ Beim Thema „Öffentliche Aufgaben“ (Art. 79 ff.) sind die Gemeinden durchweg einbezogen, etwa in Sachen Öffentlicher Friede und Sicherheit (Art. 80), Umwelt, Naturschutz (Art. 81) oder Raumplanung (Art. 82) und 3
P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, Heidelberg 1979. Auf eine Weise fortgeführt in: ders., Die europäische Stadt – Das Beispiel Bayreuth, in: BayVBl 2005, S. 161 ff. 4 Aus der Literatur: T. Fleiner, Landesbericht in: VVDStRL 36 (1978), S. 338 ff. (Gemeinde als „Ort genossenschaftlicher Demokratie“, „bürgernahe, menschliche Verwaltung“).
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Sozialhilfe (Art. 85). Es heißt fast stereotyp: „Kanton und Gemeinden sorgen für . . .“ (analog Art. 91 für Kultur und Heimatschutz, Art. 93 in Sachen „Rahmenbedingungen für eine leistungsfähige Wirtschaft“). Im späteren eigenen Abschnitt „Gemeinden“ (Art. 102 bis 107) verdienen besonders die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden (Art. 106) und die Zusammenarbeit mit den Kantonen Aufmerksamkeit (Art. 107). Sichtbar wird ein besonderes kooperatives Kommunalrecht. Ein Blick in die neue Züricher Verfassung (2005) ist besonders ergiebig. Schon eingangs sagt Art. 1 Abs. 4: „Der Kanton anerkennt die Selbstständigkeit der Gemeinden“. Art. 4 regelt die schon bekannte „Zusammenarbeit“. In einem weiteren Grundlagenartikel zur „Nachhaltigkeit“ (Art. 6) sind „Kanton und Gemeinden“ aufgerufen. Gleiches gilt für die Schaffung „günstiger Voraussetzungen für den Dialog zwischen den Kulturen, Weltanschauungen und Religionen“ (Art. 7). Im Kapitel zu den Sozialzielen sind wiederum die Gemeinden mit aufgerufen (Art. 19), und das eigene spätere Kapitel „Gemeinden“ regelt besonders detailliert die einschlägigen Themen (Art. 83 bis 93), etwa die „Volksrechte in der Gemeinde“ (Art. 86) und die Zusammenarbeit der Gemeinden in vielerlei Form (Art. 90 bis 93). Auch an die Subsidiarität ist gedacht (Art. 97). Bei der großen Aufgabentafel der Art. 100 bis 124 sind Kantone und Gemeinden im gleichen Atemzug angesprochen (etwa bei Umweltschutz, bei Wirtschaft und Arbeit oder bei der „Integration“: Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in gegenseitiger Achtung und Toleranz). Da es hier nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Erfassen der Tendenz der Textstufenentwicklungen im kommunalen Verfassungsrecht der Schweiz ankommt, nur noch einige Beispiele: Die Kantonsverfassung Graubünden (2003) denkt in ihrem Eingangsartikel 3 ganz eigen an die Sprachenfrage. Abs. 2 lautet: „Kantone und Gemeinden unterstützen und ergreifen die erforderlichen Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache“. Art. 64 spricht von „Förderung von interkommunaler Zusammenarbeit und Zusammenschluss“, Art. 65 umschreibt die „Gemeindeautonomie“. Im großen Abschnitt zu den „Öffentlichen Aufgaben“ schließlich sind die Gemeinden zusammen mit dem Kanton in allen Teilbereichen in die Pflicht genommen (etwa Raumplanung, Wirtschaftspolitik, Integration, Gesundheit, Familie, Sport). Ein Blick in die französische Schweiz ergibt Analoges. So tauchen die Kommunen in der Verfassung des Waadtlandes (2003) in vielen Themenfeldern auf: bei der Normierung der Zusammenarbeit (Art. 5 Abs. 2), im umfangreichen Aufgabenteil (Art. 59 bis 73). Im Kapitel zu den Kommunen schließlich (Art. 137 bis 157) ist mit großer Präzision das Themenfeld aufbereitet, zum Teil mit besonders glücklichen Formulierungen wie „patri-
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moine communal“ (Art. 139 lit. a). Auch ist an Gemeindefusionen und die vielen Formen interkommunaler Zusammenarbeit gedacht (Art. 151 ff. bzw. Art. 155). Im Ganzen: Vieles von dem, was in Deutschland auf Gesetzesebene in Sachen kommunaler Selbstverwaltung normiert ist, findet sich in der Schweiz auf Verfassungsstufe. Erneut sei die durchgängige und konsequente Einbeziehung der Kommunen bei den „Staatsaufgaben“ bzw. den „Sozialzielefeldern“ hervorgehoben. Die deutsche Dogmatik zu den Staatsaufgaben hat hier viel Nachholbedarf5. Die neue Bundesverfassung (1999) macht nur wenige Vorgaben (vgl. Art. 50)6. Im Staatsaufgabenteil („Zuständigkeiten“) heißt es stets: „Bund und Kantone fördern“. Im Folgenden sei entgegen dem Zeitablauf ein Rückblick auf die frühe Phase der Totalrevisionen in den Schweizer Kantonsverfassungen geworfen. Dabei darf die Verfassung des Kantons Jura (1977)7 gerühmt werden. Denn hier sind in den Staatsaufgabenkatalogen von Art. 17 bis 54 neben dem Staat meist auch die Kommunen einbezogen. Ihnen ist auch „Autonomie“ in sehr präzisen Grenzen eingeräumt (Art. 110 bis 120). Die in der deutschen Schweiz zu Recht als Pionierverfassung geltende Verfassung des Kantons Aargau (1980) denkt schon im Grundlagenteil an die kommunale Selbstverwaltung (§ 5 Abs. 2). Indessen sind im Abschnitt „Öffentliche Aufgaben“ die Gemeinden nur sehr punktuell in die Pflicht genommen (z. B. §§ 43 b – Heilquellen – und 45 – Raumplanung –). Die Kantonsverfassung Basel-Landschaft (1984) umschreibt in § 44 Abs. 3 sehr allgemein die Aufgaben der „Bürgergemeinden“ (z. B. Förderung des Kulturlebens) und sie erwartet vom Kanton auch die Förderung der Zusammenarbeit der Gemeinden (§ 48 Abs. 1). Im Folgenden seien nur noch einige prägnante Regelungen erwähnt: so die „Gemeindliche Volksinitiative“ in Art. 29 Kantonsverfassung Uri (1984), die Einbeziehung der Gemeinden in die reichen Staatsaufgaben-Artikel in der Kantonsverfassung Solothurn (1986) in Art. 92 bis 120, ähnlich §§ 62 bis 82 Kantonsverfassung Thurgau (1987), das „Fakultative Referendum“ in Art. 133 Kantonsverfassung Glarus (1988), die Berücksichtigung der Kommunen in Sachen „Sozialziele“ und „öffentliche Aufgaben“ in Art. 30 bis 50 Kantonsverfassung Bern (1993), die Heraushebung des Ge5 Vgl. etwa P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben, in: HdBStR III, 1988, § 57. 6 Aus der Literatur: Hj. Seiler, Gemeinden im schweizerischen Staatsrecht, in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, § 31. 7 Texte zitiert nach der Dokumentation in JöR 34 (1985), S. 303 ff.; 47 (1999), S. 171 ff.; 56 (2008), i. E.
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meindebürgerrechts in Art. 3 Kantonsverfassung Appenzell A. Rh. (1995) und die ideenreiche Behandlung der Themen des Kommunalverfassungsrechts in derselben Verfassung (Art. 100 bis 107), etwa in Sachen Finanzausgleich, Initiativrecht und Zusammenarbeit. Sichtbar werden Varianten und Konstanten in den Wachstumsprozessen des Schweizer Kommunalverfassungsrechts. Jeder Kanton behält eine eigene „Handschrift“, alle Kantone haben aber auch viel „Gemeinrecht“ geschaffen. II. Deutschland (Grundgesetz sowie west- und ostdeutsche Landesverfassungen) Das Verfassungsbild der kommunalen Selbstverwaltung, das das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 2 entwirft8, ist ebenso prägnant wie historisch gewachsen. Es ist ein textliches Konzentrat vieler historischer Entwicklungen, es eröffnet aber auch neue, insofern das gerade hier sehr kreative BVerfG z. B. ein rechtsstaatliches Gebot auf Anhörung vor Gemeindeneugliederungen erarbeitet hat [E 50 (50 f.); 195 (202 f.)]. Die vor dem Grundgesetz entstandenen Landesverfassungen enthalten einige schöpferische Textelemente ebenso wie nach der deutschen Einigung die neuen ostdeutschen Landesverfassungen Innovationen schufen, die erst eine „Textstufenanalyse“ dokumentieren kann. Die erste Großtat gelang früh dem Verfassunggeber Bayern (1946) mit dem Satz in Art. 11 Abs. 4: „Die Selbstverwaltung dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben.“ Dieser Satz machte Geschichte: Nach der Wiedervereinigung rezipierte ihn die Verfassung Mecklenburg-Vorpommern (1993) wörtlich (Art. 3 Abs. 2). Ebenfalls in den Kontext des Demokratieverständnisses gehört die viel spätere Verfassungsnovelle in Art. 12 Abs. 3 Verf. Bayern (1993): „Die Staatsbürger haben das Recht, Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden und Landkreise durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu regeln“. Art. 72 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern spricht allgemeiner und blasser in Satz 2: „Durch Gesetz können Formen unmittel8 Aus der unüberschaubaren Literatur: M. Nierhaus, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2002, Art. 28 Rdnr. 29 ff. Einige Aspekte in: VVDStRL 62 (2003): Referate von J. Oebbecke/M. Burgi, S. 366 ff., besonders in der Aussprache ebd. S. 460 ff.; G. Püttner, Kommunale Selbstverwaltung, in: HdBStR IV 1990, § 107; E. Schmidt-Aßmann, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, FS BVerfG 2001, Bd. II, S. 803 ff.; W. Blümel/R. Grawert, Gemeinde und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, in: VVDStRL 36 (1978), S. 171 ff.; T. Mann/G. Püttner (Hrsg.), Hdb der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Aufl., Heidelberg 2007.
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barer Mitwirkung der Bürger an Aufgaben der Selbstverwaltung geregelt werden . . .“. Eher den grundrechtsnahen Problembereichen gehört die Einrichtung der „kommunalen Verfassungsbeschwerde“ an, wie sie sich in Art. 76 Verf. Baden-Württemberg, in Art. 123 Verf. Saarland, in Art. 90 Verf. Sachsen (1992), Art. 80 Ziff. 2 Verf. Thüringen (1993), Art. 53 Ziff. 8 Verf. Mecklenburg-Vorpommern findet. Den rechtsstaatlichen und demokratischen Ideen zuzuordnen ist das neue Anhörungsrecht z. B. nach Art. 97 Abs. 4 Verf. Brandenburg (1992): „Die Gemeinden und Gemeindeverbände sind in Gestalt ihrer kommunalen Spitzenverbände rechtzeitig zu hören, bevor durch Gesetz oder Rechtsverordnung allgemeine Fragen geregelt werden, die sie unmittelbar berühren.“ Ähnlich lautet Art. 57 Abs. 6 Verf. Niedersachsen (1997); auch Art. 124 Verf. Saarland (1999) schreibt die Anhörung der Kommunen vor. Ein neuer Themenbereich, in dem die Verfassunggeber textlich an die Gemeinden „denken“, ist der Umweltschutz (so in Art. 12 Abs. 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, ähnlich Art. 69 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 29 a Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen). Überhaupt beziehen die neueren Verfassungen die Gemeinden gezielt in neue Staatsaufgaben ein (so in Bezug auf „Kunst, Kultur und Sport“: Art. 6 Verf. Niedersachsen, ähnlich Art. 18 Verf. Nordrhein-Westfalen, auch Art. 40 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 9 Abs. 3 Verf. Schleswig-Holstein, Art. 30 Verf. Thüringen). Art. 17 S. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen „erahnt“ den kulturellen Trägerpluralismus in den Worten: „Als Träger von Einrichtungen der Erwachsenenbildung werden neben Staat, Gemeinden und Gemeindeverbänden auch andere Träger, wie die Kirchen und freien Vereinigungen anerkannt.“ Unter dem Abschnitt „Staatsziele“ denkt die Verfassung Sachsen-Anhalt (1992) in vielen Teilfeldern neben dem Staat auch an die Kommunen: bei der Gleichstellung von Frau und Mann (Art. 34), beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 35 b), bei der Förderung von Kunst, Kultur und Sport (Art. 36 Abs. 1), beim Schutz kultureller und ethnischer Minderheiten (Art. 37), bei dem Thema Arbeit (Art. 39 Abs. 1) und bei dem Schutz vor Obdachlosigkeit (Art. 40 Abs. 2). Hier erfolgt eine bemerkenswerte Erstreckung neuer Staatsaufgaben auf die Kommunen schon von Verfassung wegen („Gemeindeaufgaben“). Im Ganzen: Es zeigen sich lebhafte konstitutionelle Entwicklungsprozesse im (z. T.) gemeindeutschen Kommunalverfassungsrecht, teils im Wege der Verfassungsänderung im Westen, teils in Gestalt neuer Verfassungen in Ostdeutschland. Dabei dürften die Textgeber teils voneinander „abgeschrieben“ haben, teils Konsequenzen aus der Judikatur des BVerfG von 1978/79 gezogen haben, z. B. Anhörung vor der Neugliederung von Gemeinden: Art. 88
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Abs. 2 S. 4 Verf. Sachsen; Art. 74 Abs. 2 S. 3 Verf. Baden-Württemberg; Art. 98 Abs. 2 und 3 Verf. Brandenburg; Art. 90 Verf. Sachsen-Anhalt (1992). Auch die Vorbildwirkung europäischer Texte ist zu vermuten. III. Österreich (gliedstaatliche Verfassungen) Die österreichischen Länder erarbeiten sich seit etwa einem Jahrzehnt sehr bewusst durch eigenständige Texte ein Mehr an Verfassungsautonomie. Das zeigt sich nicht nur an Europa-Artikeln, Gemeinwohl- und Staatsaufgabenklauseln9, es zeigt sich auch in Sachen kommunale Selbstverwaltung. Hier eine kleine Auswahl prägnanter Verfassungstexte. Besonders markant ist Art. 1 Abs. 1 Verf. Salzburg (1999), weil hier schon eingangs gesagt ist: „Das Land Salzburg bekennt sich . . . zu einer zeitgemäßen föderativen Ordnung zwischen dem Bund und den Ländern im Rahmen des Bundesstaates sowie den Gemeinden als lokalen Gebietskörperschaften“. Diese Hervorhebung ist fortgedacht in dem inhaltsreichen Abschnitt „Grundsätze des Gemeinderechts“ (Art. 51 bis 53), wobei auch das Kommunalwahlrecht von EU-Bürgern garantiert ist und der Gemeindeverband und der Österreichische Städteverbund für berufen erklärt werden, „die Interessen der Gemeinden des Landes zu vertreten“. Die Verfassung Steiermark (1960/2004) normiert bemerkenswerte Anhörungs- und Mitwirkungsrechte der Gemeinden an Gesetzgebung und Vollziehung (§ 18 Abs. 7 und § 48), ein eigenes „Fünftes Hauptstück“ befasst sich mit weitgehenden „Volksrechten in der Gemeinde“ (§ 49: Initiativrecht, Volksabstimmungen, Volksbefragungen). Die Verfassung Niederösterreich (1979) nennt die „Gemeinden und kleinen Gemeinden“ in Art. 4 Ziff. 1 (Subsidiarität). Die Verfassung Burgenland (1981) begnügt sich dem gegenüber mit an die deutschen Normen zur Selbstverwaltung der Gemeinden erinnernden Regelungen (Art. 84 und 85). Aussagekräftiger ist die Tiroler Landesordnung (1989). Sie sieht z. B. eine „Bürgermitbestimmung“ vor (Art. 76). Das Oberösterreichische Landesverfassungsgesetz (1920/1991) normiert eher konventionell das Recht der Gemeinde auf Selbstverwaltung (Art. 65), doch ist auch hier dem Oberösterreichischen Gemeindebund und dem Österreichischen Städtebund die Befugnis eingeräumt, „die Interessen der Gemeinde und Städte zu vertreten“ (Abs. 4). Das Verfassungsgesetz Vorarlberg (1999) schließlich nimmt sich wohl am sorgfältigsten des Themas an. Art. 72 bis 78 regeln eingehend unter 9 Dazu P. Häberle, Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich, in: JöR 54 (2006), S. 367 ff.
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dem Stichwort „Gemeinden“ deren Bestand, Begriff und rechtliche Geltung, Wirkungsbereich und Organisation, Volksabstimmung und Volksbefragung, Gemeindeverbände sowie Anhörung des Vorarlberger Gemeindeverbands. Damit scheint in Österreich die konstitutionelle Textstufenentwicklung vorläufig abgeschlossen zu sein. Im Vergleich zu den schweizerischen Kantonsverfassungen und den deutschen Länderverfassungen fällt freilich auf, dass bei den Staatsaufgaben stets vom Staat bzw. Land die Rede ist, die Kommunen sind textlich selten in diese Verfassungsaufträge einbezogen, was der Verfassungswirklichkeit sicher nicht entspricht (vgl. aber Art. 7 a Verf. Kärnten (1996); ihr Art. 3 Abs. 1 gliedert Kärnten in Gemeinden mit dem Recht auf Selbstverwaltung). Das Bundes-Verfassungsgesetz regelt die Materie ebenso unübersichtlich wie technisch (Art. 115 bis 120)10. IV. Andere Verfassungen in Europa Italien hat in einer Verfassungsänderung im Jahre 2003 eine beachtliche Innovation geschaffen. In Art. 5 Abs. 1 heißt es: „Die Republik ist eine Einheit . . .; sie anerkennt und fördert die lokale Selbstverwaltung.“ Art. 114 Abs. 1 lautet: „Die Republik ist in Gemeinden, Provinzen, Großstädte, Regionen und den Gesamtstaat gegliedert.“ Diese aufsteigende Linie mit der erstrangigen Nennung der Gemeinden bedeutet für diese eine Aufwertung. Beachtung verdient auch die Normierung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 118 Abs. 1 und 4) sowie der Finanzautonomie (Art. 119 Abs. 1). Frankreichs Verfassung der Fünften Republik (1958) nimmt sich in Art. 72 der „Gebietskörperschaften“ sehr detailliert an, in Abs. 4 sind ihnen sogar Experimentiermöglichkeiten eröffnet. Portugals Verfassung (1976) glückt eine besonders vorbildliche Textstufe in Art. 235 Abs. 1: „Zum demokratischen Aufbau des Staates gehört das Vorhandensein örtlicher Selbstverwaltungskörperschaften.“ Damit ist – fast analog zu Bayern – der Zusammenhang von Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung herausgestellt. Auch die Verfassung Schweden (1975/2003) postiert die kommunale Selbstverwaltung hoch. In § 1 Abs. 2 heißt es: „Sie (sc. die schwedische Volksherrschaft) wird durch eine repräsentative, parlamentarische Staatsform und kommunale Selbstverwaltung verwirklicht.“ Die Verfassung Belgien (1994/2002) stellt in Art. 162 für die provinzialen und kommunalen Einrichtungen bestimmte „Grundsätze“ auf. Hierzu gehören 10
Aus der Literatur: H. P. Rill, Landesbericht, in: VVDStRL 36 (1978), S. 342 ff.
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u. a. die Direktwahl der Gemeinderäte, die allgemeine Zuständigkeit für alles, was von „kommunalem Interesse“ ist, und die Öffentlichkeit der Sitzungen. Ein Blick auf die osteuropäischen Reformverfassungen, soweit sie zur EU gehören, wird aufschlussreich. Der Verfassung Lettland (1922/2003) ist hier eine neue und zugleich alte Textstufe geglückt. Im Abschnitt über die „Grundrechte“ heißt es in Art. 101: „Jeder Bürger Lettlands hat das Recht, sich an den Tätigkeiten des Staates und der örtlichen Selbstverwaltung zu beteiligen.“ (Als Arbeitssprache wird ebenso ausdrücklich für die örtliche Selbstverwaltung das Lettische fixiert.) Damit ist das schon bekannte „Grundrecht auf kommunale Selbstverwaltung“ konstitutionell Gestalt geworden! Auch andere osteuropäische Länder nehmen sich des Themas eingehend an, etwa §§ 154 bis 160 Verf. Estland (1992/2003), Art. 119 bis 124 Verf. Litauen (1992/2003) mit einem Appellationsrecht an das Gericht bei Verletzung der Rechte der „municipal councils“ (Art. 122), Art. 163 bis 172 Verf. Polen (1997), sogar mit Elementen direkter Demokratie (Art. 170). Die Verfassung Slowenien (1991/2003) nimmt sich der lokalen Selbstverwaltung schon in den „Allgemeinen Bestimmungen“ an (Art. 9). In Art. 43 Abs. 1 Verf. Ungarn (1949/2003) heißt es: „Die Grundrechte der örtlichen Selbstverwaltung (Art. 44 a) sind gleich.“ Art. 42 S. 2 lautet: „Die örtliche Selbstverwaltung ist die selbständige und demokratische Erledigung der die Gemeinschaft der wahlberechtigten Bürger betreffenden öffentlichen Angelegenheiten sowie die Ausübung der örtlichen Staatsgewalt im Interesse der Bevölkerung.“ Nimmt man Art. 44 Abs. 1 hinzu („die wahlberechtigten Bürger üben die örtliche Selbstverwaltung . . . aus“), so gelingt Ungarn die Konkretisierung der kommunalen Selbstverwaltung im Blick auf Demokratie und Grundrechte vorbildlich. V. Inkurs: Kommunale Selbstverwaltungen im „Text-Kontext“ von EU und Europarat Auf EU-Ebene kommen die Kommunen textlich nur in Art. 19 EGV (s. auch II-Art. 100 Verfassungsvertrag Entwurf von 2004) vor: in Gestalt des Kommunalwahlrechts der EU-Bürger. Das EU-Verfassungsrecht ist im Übrigen „gemeindeblind“ (anders der Europarat!). Immerhin haben die Länder in Deutschland im Ausschuss der Regionen von ihren 24 Stimmen drei den Kommunen überlassen11. Bemerkenswert ist, dass im Verfassungsgrundriss von J. Voggenhuber (2003)12 die Selbstverwaltung von Städten und Ge11 12
Vgl. R. Streinz, Europarecht, 7. Aufl., Heidelberg 2005, Rdnr. 176. Zitiert nach JöR 53 (2005), S. 604 ff.
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meinden als eine von „fünf Ebenen“ der „europäischen Demokratie“ ausgewiesen ist (sub. III Abs. 3). In den anderen Entwürfen wird man nicht fündig. Ganz anders ist das Bild im Verfassungsraum des Europarates. Die schon erwähnte Charta der kommunalen Selbstverwaltung13 spiegelt den hohen Stellenwert der kommunalen Selbstverwaltung in und für Europa wider, besonders in der Präambel (das Recht der Bürger auf Mitwirkung „kann auf der kommunalen Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden“, „zugleich wirkungsvolle und bürgernahe Verwaltung“, Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung „als wichtiger Beitrag zum Aufbau eines Europas, das sich auf die Grundsätze der Demokratie und der Dezentralisierung der Macht gründet“). Die folgenden Artikel arbeiten mit Texten wie „eigene Verantwortung zum Wohl ihrer Einwohner“ (Art. 3 Abs. 1), sie lassen Formen unmittelbarer Demokratie zu (Abs. 2 ebd.), normieren vorherige Anhörungsrechte (Art. 4 Abs. 6, s. auch Art. 5) und entwerfen im Ganzen ein kräftiges Bild effektiver kommunaler Selbstverwaltung. Die späteren Rahmenabkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften14 sprechen etwas weniger von den Kommunen (s. aber Präambel: „Gemeinden und Regionen Europas“), doch sind sie der Sache nach durch den technischen Oberbegriff „Gebietskörperschaften“ erfasst. Man darf fragen, wann und wie eine etwaige EU-Verfassung einzelne Themen aus dem reichen Textreservoir des Europarates aufgreift, etwa im Kontext der Demokratie und der Aufgaben-Artikel. Eine Ausstrahlung auf die jüngsten Kantonsverfassungen der Schweiz ist zu vermuten. VI. Exkurs: Ein Blick nach „Übersee“ Im Folgenden sei eine Auswahl konstitutioneller Texte aus Übersee dargestellt, um den „eurozentrischen“ Ansatz wenigstens tendenziell zu korrigieren. Zwar können nur Texte, nicht auch direkt Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit der kommunalen Selbstverwaltung vor Ort geschildert werden. Dank des schon erläuterten Textstufenparadigmas kommt jedoch mittelbar auch die Wirklichkeit ins Blickfeld, zumal dank des (weltweiten) Vergleichs. Nur die zugehörige Theorie (Wissenschaft) kann nicht erarbeitet werden. 13 Zitiert nach R. Streinz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, Bayreuth 2000, S. 107 ff. Aus der Lit.: D. Schefold, Der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch den Europarat, Liber amicorum L. Wildhaber, Baden-Baden 2007, S. 1057 ff. 14 Dazu R. Streinz (Hrsg.), Europarat (Anm. 13), S. 117 ff.; grundlegend M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, Berlin 2004.
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1. Lateinamerika Die frühe Verfassung von Peru15 erweist sich auch in anderen Texten und Kontexten als ungemein innovativ, etwa in Sachen „Grundrechte als Erziehungsziele“. Die örtliche Selbstverwaltung ist zwar im Kapitel 12 im Kontext der „Dezentralisierung“ normiert, doch ist den Gemeinden ein vorderer Platz eingeräumt; dies geschieht in Gestalt der Garantie ihrer „Wirtschafts- und Verwaltungsökonomie“ (Art. 252 Abs. 1), einer breiten Zuständigkeitsnorm (Art. 254) und eines bemerkenswerten Aufgabenkatalogs (Art. 253) mit Stichworten wie „Kultur, Erholung und Sport“, „Raumordnung und Städteplanung“. „Tourismus und Erhaltung der archäologischen und historischen Monumente“ wird ihnen im Zusammenwirken mit den Regionalorganen als Aufgabe zugewiesen. Eine neue Textstufe ist sichtbar in Art. 256: „Die Gemeinden fördern, unterstützen und regeln die Teilnahme der Bürger an der kommunalen Entwicklung“: Kommunale Partizipations- bzw. Demokratiepolitik. Die Verfassung Brasilien (1988)16 zeichnet sich durch ihre eigenständige Konzeption der „Stadtpolitik“ aus. Schon in Art. 18 § 4 heißt es: „Die Einrichtung, Eingliederung, Fusion oder Ausgliederung von Gemeinden sollen der „Bewahrung der Kontinuität und geschichtlich kulturellen Einheit der Stadtentwicklung (ambiente) dienen“, wobei sogar die vorherige Anhörung der direkt betroffenen Bevölkerung im Wege des Plebiszits zur Pflicht gemacht wird(!). Eine zusätzliche Überraschung ist das eigene Kapitel II in Titel VII mit der Überschrift „Stadtpolitik“ (Art. 182 und 183). Hier ist vom Ziel der „vollständigen Entfaltung der sozialen Funktion der Stadt“ die Rede. Auch werden die einzelnen rechtstechnischen Instrumente skizziert. Die derzeit wohl jüngste Verfassung in Lateinamerika, die Kolumbiens (1991)17, nimmt sich des „régimen municipal“ in den Art. 311 bis 321 besonders ausführlich an. Erwähnt sei nur die Eingangsnorm des Art. 311, der von den Aufgaben des „örtlichen Fortschritts“, der Förderung der „participación comunitaria“ und der Verbesserung des sozialen und kulturellen Wohls der Einwohner spricht. Einmal mehr wird sichtbar, wie „parallel“, „wahlverwandt“, vielleicht auch „rezeptiv“, im Verhältnis zu Europa Verfassungstexte in Sachen kommunaler Selbstverwaltung in Übersee sein können. 15
Zitiert nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. Zitiert nach JöR 38 (1989), S. 462 ff. 17 Zitiert nach L. López Guerra/L. Aguiar de Luque (Coord.), Las Constituciones de Iberoamérica, Madrid 1998. 16
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2. Afrika So „gesprächig“ manche Verfassungstexte aus Afrika sonst sind: Die kommunale Selbstverwaltung ist eher technisch formal, ja blass geregelt18 (vielleicht aus soziologischen Gründen). Die Verfassung Angola (1992), die sonst durchaus eine eigene Handschrift besitzt, sieht zwar ein eigenes Kapitel VII zu den „Gebietskörperschaften“ vor (Art. 145 bis 148). Sie denkt jedoch primär von der Dezentralisierung her und damit hierarchisch. Das Grundgesetz von Äquatorial-Guinea (1991) ist noch knapper (Art. 101 und 102). Von den Gebietskörperschaften, zu denen die „Munizipalitäten“ gehören, ist gesagt, sie wirkten bei der Realisierung von „staatlichen Aufgaben und von Verfassungszielen“ mit. Die Verfassung Benin (1990) sagt in Art. 153 durchaus neuartig: „Der Staat trägt Sorge für die harmonische Entwicklung aller Gebietskörperschaften auf der Grundlage der nationalen Solidarität, der regionalen Ressourcen und der interregionalen Ausgeglichenheit“. Die Gemeinden sind nicht eigens herausgestellt. Burkina Faso sagt in Art. 145 seiner Verfassung (1991/97): „Das Gesetz gewährleistet die demokratische Teilnahme der Bevölkerung an der Selbstverwaltung der Gebietskörperschaften.“ Damit ist die Rolle der Gemeinde für die Demokratie angedeutet. Das Ziel der „harmonischen und ausgeglichenen Entwicklung aller Kommunen auf der Grundlage der nationalen Solidarität“ ist immerhin der Verfassung von Burundi (1992) einen Artikel (179) wert. Etwas Neues wagt die Verfassung Gabun (1991/94) in ihrem Art. 112 a. Danach können „örtliche Volksbefragungen“, die spezifische, nicht in den Bereich der Gesetzgebung gehörende Probleme betreffen, auf Initiative entweder der gewählten Räte oder der betroffenen Bürger „organisiert“ werden. Hier findet sich nachgeschoben ein Stück unmittelbarer Demokratie auf kommunaler Ebene. Guinea Bissau spricht in Art. 105 der Verfassung (1984/93) u. a. davon, dass die Gebietskörperschaften auf der Teilnahme des Volkes beruhen und sich „auf die Initiative und die schöpferischen Fähigkeiten der örtlichen Gemeinschaften“ stützen. Die Verfassung von São Tomé und Príncipe (1990) sagt in Art. 115 Abs. 1: „Der demokratische Aufbau schließt in Übereinstimmung mit dem Gesetz . . . die Existenz von örtlichen Selbstverwaltungen als Organ der örtlichen Macht ein.“ 18 Zitiert nach H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, Berlin 1997.
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Die Verfassung des Tschad (1996), die sonst manche Innovation wagt (z. B. in der Präambel), widmet sich in Teil XI sehr ausführlich den dezentralisierten Gebietskörperschaften, wozu u. a. die „ländlichen Gemeinden“ und „Kommunen“ gehören (Art. 203). Typisch ist die Wiederkehr der schon bekannten Harmonieklausel (Art. 209). An Aufgaben sind u. a. genannt (Art. 210): die „ökonomische, soziale, sanitäre, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung sowie der Schutz der Umwelt.“ Im Ganzen fällt auf: Die afrikanischen Verfassungen denken die kommunale Selbstverwaltung primär nur von der Dezentralisierung her. Sie sorgen sich um die Harmonie mit dem Staat bzw. anderen Dezentralisierungseinheiten, bauen sie in den Katalog der öffentlichen Aufgaben ein, schreiben ihnen jedoch kaum den aus Europa bekannten hohen Rang19 im Kontext von Grundrechten und Demokratie zu. Ein etwas anderer „Geist“ weht, schon den Buchstaben nach, in der Verfassung Südafrikas (1996). In Kap. 7 ist das „Local Government“ in Art. 151 bis 164 höchst detailliert normiert mit reichen Aufgabenkatalogen und dem so glücklichen Stichwort wie „Municipalities in co-operative government“ (Art. 154)20. 3. Vereinigte Staaten von Amerika Die USA gelten als Land mit starkem „local government“21. Dies liegt angesichts der großen Bedeutung der Versammlungs-, Demonstrations- und Petitionsfreiheit22 sowie wegen des stolzen Demokratieverständnisses nahe. Aus den gliedstaatlichen Verfassungen der USA seien nur wenige eindrucksvolle Texte herausgegriffen. Die Verfassung von Massachusetts (1780): Art. LXXXIX, Art. II. Section 1 lautet: „Right of Local Self-Government. – It is the intention of this article to reaffirm the customary and traditional liberties of the people with respect to the conduct of their local government, and to grant and confirm to the people of every city and town the right of self-government in local matters, subject to the provisions of this article and to such standards and requirements as the general court may establish by law in accordance with the provisions of this article.“ 19 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2006, Bd. II, Art. 28 Rdnr. 43 spricht von „europäischem Gemeingut“. 20 Aus der Literatur: U. Karpen, Südafrika auf dem Weg zu einer demokratischrechtsstaatlichen Verfassung, in: JöR 44 (1996), S. 609 (620). 21 Dazu mit Nachweisen H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar (Anm. 19), Art. 28 Rdnr. 47 mit FN 220. 22 Dazu M. Quilisch, Die demokratische Versammlung, Berlin 1970, S. 40 f.
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In Section 2 wird ausdrücklich die „Local Power to adopt, revise or amend Charters“ garantiert. In den folgenden Abschnitten ist dieses Verfahren mit eindrucksvollen direktdemokratischen Elementen verbunden. Auch werden Grenzen für die kommunale Selbstverwaltung gezogen (Section 7). Die Verfassung von Florida (letzte Revision 1968) behandelt in Art. VIII das „Local government“. Die Verfassung von Vermont denkt schon in ihrer Urfassung von 1777 in Section XI an die Städte.
Zweiter Teil: Theorieaspekte Die bisherige Zusammenstellung der Verfassungstexte ist kein Selbstzweck, sie soll „Materialien“ liefern, die zu theoretischen Aussagen führen. Dabei sei zugestanden, dass die Auswahl der in den zeitgeschichtlichen Verfassungsräumen miteinander verglichenen Textstufen ihrerseits von einem (theoretischen) Vorverständnis geleitet sind. Diesem Zirkel kann kein verfassungsjuristisches Gehirn entgehen. Erinnert sei an das Klassikerzitat von Nicolaus von Cues (1488): „Comparativa est omnis investigatio.“ I. Das kommunale Verfassungsbild als Ausdruck grundrechtlicher Freiheit (seit 1849) Historisch ist der Zusammenhang zwischen kommunaler Selbstverwaltung und (politischer) Freiheit auch verfassungstextlich dokumentiert. Man erinnere sich der Regelung der Paulskirchenverfassung von 1849, in der von „Grundrechten“ der Gemeinden die Rede ist (Art. XI § 184). Hingewiesen sei auch auf die Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 b GG, vgl. auch für die Länder parallel Art. 76 Verf. BadenWürttemberg, Art. 100 Verf. Brandenburg. Die Kommunen sind auf dem Feld ihrer Selbstverwaltung ein Stück „Bürgerfreiheit“, nicht nur im Kleinen. Dieser ideelle Zusammenhang zwischen Bürgerfreiheit und Res publica kommt auch in jenen Verfassungen textlich zum Ausdruck, die für Unionsbürger das Kommunalwahlrecht eingeführt haben (so Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG). Man darf auch die „Gegenprobe“ machen: Totalitäre oder autoritäre Staaten wenden sich erfahrungsgemäß gerne und früh gegen die kommunalen Freiheiten vor Ort. „Groß“ gesprochen: Im Kleinen können Freiheiten geübt werden, die das große politische Gemeindewesen braucht. Auch deutet der Umstand, dass mancher Kommunalpolitiker später ein (großer) „Staatsmann“ wurde (K. Adenauer!), auf diesen Zusammenhang.
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II. Das kommunale Verfassungsbild als Element der Demokratie Dieser Theorieaspekt ist vielfältig „getextet“. Die Verfassungen haben dafür besonders schöne Formeln geprägt: an erster Stelle, wie erwähnt, Bayern. Demokratie, die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde als „kulturanthropologischer Prämisse“ des Verfassungsstaates, verstanden als Gemeinschaft der Freien, als „erste Partizipation“ der (Aktiv-)Bürger, muss im Kleinen gelebt werden, um auch „im Großen“ zu gelingen23. Demokratie sei hier als freiheitliche Demokratie, als offene „pluralistische“ verstanden, mit ihren Elementen der Menschenwürde, Toleranz und Solidarität, auch dem alternativen Wechselspiel von Mehrheit und Minderheit. Erst eine genaue Erarbeitung der Gemeindeordnungen, die die parlamentarischen Gesetzgeber zur Ausfüllung ihrer kommunalen Verfassungsgarantien geschaffen haben, könnte zeigen, dass dem so ist, bzw. könnte etwaige Defizite ausgleichen. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sind nur zum Teil schon ausdrückliches Thema der Verfassungstexte. Sie werden besonders in der Schweiz praktiziert. Sie hat die vielleicht lebendigste Bürgerfreiheit und Bürgerdemokratie, auch der Kommunen. An das Konnexitätsprinzip sei erinnert (z. B. Art. 87 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 93 Abs. 1 Verf. Thüringen; Art. 83 Abs. 3 Verf. Bayern).24 III. Das kommunale Verfassungsbild als Ausdruck kultureller Freiheit, eines offenen Kulturkonzepts und des kulturellen Trägerpluralismus Dieser theoretische Gewinn, der sich aus den miteinander verglichenen Verfassungstexten ziehen lässt, sollte nicht gering veranschlagt werden. Textlich in Art. 83 Abs. 1 Verf. Bayern „örtliche Kulturpflege“ angelegt, wurde er in der Wissenschaft vom Verfasser durch die Idee von einem „kommunalen Kulturverfassungsrecht“ ausgedeutet (1979) und von O. Scheytt durch das Wort zum „kommunalen Kulturrecht“ (2005) fortgeführt. Nicht wenige Verfassungstexte sind von solchem „Geist“ geprägt, d. h. sie erkennen den Zusammenhang von kommunaler Selbstverwaltung und 23
Treffend fragt H. F. Zacher, in: VVDStRL 36 (1978), S. 350 (Aussprache) danach, was „die Gemeinde für den Bürger sein kann“. U. Scheuner, ebd. S. 353 (Aussprache), sagt, dass die Gemeinden dem Bürger „nahe“ sind und „für ihn Aufgaben erfüllen“. 24 Aus der Lit.: T. Ammermann, Das Konnexitätsprinzip im kommunalen Finanzverfassungsrecht, Baden-Baden 2007.
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Kultur. Kulturpolitik in der Stadt (1979), kulturelle Daseinsvorsorge, kulturelle Städtepartnerschaften über Grenzen hinweg als Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit legen davon Zeugnis ab. Die Kommunen, rechtstechnisch als öffentlich-rechtliche Subjekte ausgestaltet, sind auch ein Element im reichen Bild des vom Verfasser so genannten kulturellen Trägerpluralismus’, der von den Theatern, Musikvereinen, Volkshochschulen, Kulturvereinen bis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften reicht. Das Projekt des Europarates aus den letzten Jahren („Bürgerschaft durch Bildung“) lebt nicht zuletzt aus dem kulturellen Zusammenhang heraus. IV. Das kommunale Verfassungsbild als Baustein der Europäischen Verfassung Im Stichwort vom „Europa der Regionen und Kommunen“, in den mannigfachen Texten des Europarates, die die Kommunen tendenziell einbinden wollen, kommt zum Ausdruck, dass die Kommunen in Theorie und Praxis als ein Baustein von Europa als Verfassungsgemeinschaft gelten dürfen. Gewiss, sie haben (noch?) kein eigenes Klagerecht vor dem EuGH, sie finden in den EU-Texten keinen Ausdruck, wohl aber in einem EU-Verfassungsentwurf: Gleichwohl bilden sie einen Grundpfeiler des „europäischen Projekts“. Nimmt man alle vier Theoriestränge zusammen, so zeigt sich, wie grundlegend die kommunale Selbstverwaltung für den nationalen Verfassungsstaat im Europa von heute ist. Dass die Europäisierung auch ursprünglich nur national gedachte Kommunen erfasst, zeigen viele Verfassungstexte, nicht nur zum Kommunalwahlrecht für EU-Bürger. Freiheit und Demokratie, Kultur und Europa spiegeln sich in ihrem spannungsreichen, aber fruchtbaren Zusammenwirken gerade auch in den Verfassungsgarantien zur kommunalen Selbstverwaltung wider. Gibt es auch noch keinen „Freiherrn vom Stein Europas“: Letztlich hat er bereits einen Weg gewiesen, der bis zur „Gemeindefreiheit Europas“ führen könnte. Mag die Europäische Gemeinschaft ein „unvollendeter Bundesstaat“ im Sinne W. Hallsteins sein, mag ihre „Finalität“ offen bleiben: Die Kommunen sind in all diesen Prozessen nicht nur innerstaatlich im Gesamteuropa Thema, sondern auch „Akteur“. Dass die Verfassunggeber so reiche Textbilder in ihrem Interesse geschaffen haben, zeichnet sie aus. Sie sollten stärker als bisher von der wissenschaftlichen Literatur beim Wort genommen und im Geist verarbeitet werden.
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Ausblick Es hat sich gezeigt, dass viele Aspekte, die in der einschlägigen Literatur ausgiebig, ja mitunter abundant diskutiert werden, in den Verfassungstexten längst besonders prägnant zum Ausdruck kommen. Die unverzichtbare Kürze und Knappheit, um die jeder Verfassunggeber ringen muss, kann zu besonders anschaulichen „Kristallisationen“ führen, die dem Schrifttum überlegen sind. Es kommt nur darauf an, den Textstufenvergleich entsprechend zu erarbeiten und die Zusammenhänge zu erkennen. Die wechselseitigen Befruchtungen der Textgeber, die Wirkungsweise der Trias von Texten, Theorien und Praxis bei ein und demselben Verfassungsthema, hier der kommunalen Selbstverwaltung, lässt einmal mehr erkennen, wie eng die Nationalstaaten bei der Ausgestaltung ihrer konstitutionellen Texte zusammenwirken, auch wenn sie dies meist nicht ausdrücklich erklären. Bei all dem sind originale Neuschöpfungen ebenso beachtlich wie kreative Rezeptionen. Auch einzigartige Innovationen, wie das ebenso frühe wie große Wort Bayerns (Verfassung von 1946: „Demokratie von unten nach oben“, rezipiert von Art. 3 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern), wobei m. E. nur das Hierarchiebild schief ist, seien herausgestellt. Im Ganzen ergibt sich, dass die kommunale Selbstverwaltung ein wesentliches Strukturelement des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe ist (es fehlt in fast keiner neuen Verfassung). Die einzelnen Länder arbeiten daran mit unterschiedlicher Liebe zum Detail oder Kraft zur Innovation. Als Element von politischer und kultureller Freiheit, als Baustein für Europa, ja vielleicht sogar als ein eines Tages das „Völkerrecht als Menschheitsrecht“ mitprägendes Element, ist die kommunale Selbstverwaltung ein wahrhaft großes Verfassungsthema – nicht nur für diesen kleinen Beitrag, der aus Achtung vor einer beeindruckenden Lebensleistung eines Wissenschaftlers aus Speyer geschrieben wurde. Wie gerne würde der Verfasser gerade ihn zum Konflikt zwischen dem Bürgerentscheid in Dresden (Waldschlößchenbrücke) und der UNESCO als Hüterin des Weltkulturerbes (2007) befragen. Strahlt etwa (wie?) das universale Kulturverfassungsrecht in das kommunale Kulturverfassungsrecht aus? „Brechen“ die Welterbe-Konvention (1972) bzw. die Beschlüsse ihres Kommitees als „soft law“ nicht den lokalen „Bürgerwillen als authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie“ (BVerfG) – so wie die allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht nur des Völkerrechts längst nicht vom Volk ausgehen? Jedenfalls ist mit der alten Souveränitätsideologie im Schnittpunkt zwischen Völkerrecht und Kommunalrecht nicht mehr zu arbeiten.
Der Kreis – Bindeglied zwischen Staat und Gemeinden Hans-Günter Henneke I. Aktualität, Relevanz und Einordnung der Themenstellung Nachdem ich mich im Rahmen des Symposiums aus Anlass der Emeritierung von Heinrich Siedentopf mit den „Kommunen im Staatsaufbau“1 anhand aktueller Fragestellungen zu befassen hatte, soll im Folgenden eine in diesen Kontext gehörende im Sommer 2007 von der Regierung des Saarlandes neu aufgeworfene und mit dem Verwaltungsstrukturreformgesetz – VSRG – vom 21.11.20072 zügig umgesetzte funktionalreformerische und verfassungsrechtliche Fragestellung mit bundesweiter Ausstrahlungswirkung vertiefend betrachtet werden, nämlich die nach der spezifischen Funktion der Kreise als Bindeglied zwischen Staat und Gemeinden. Mit dem VSRG wird angestrebt, die Effizienz des Staats- und Verwaltungshandelns sowie sonstiger öffentlicher Tätigkeiten deutlich zu erhöhen, wobei von einer langfristigen Schaffung einer Effizienzrendite von 20 % die Rede ist.3 Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine „Verschlankung der Kreisebene“ durch Hoch- bzw. Herabzonung bisher bei den Landkreisen einschließlich des Stadtverbandes Saarbrücken angesiedelter Aufgaben vorgenommen worden. 1. Hochzonung Bei Errichtung eines Landesverwaltungsamtes sind die Ausländer-, untere Kommunalaufsichts- und untere Standesamtsaufsichtsbehörde sowie die zentrale Bußgeldstelle für die Ahnung und Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten auf die Landesebene verlagert worden. Auf andere Landesämter sind die Aufgaben der unteren Lebensmittel-, Veterinär-, Bodenschutz-, Wasser- und Naturschutzbehörden hochgezont worden. Die von 1 H.-G. Henneke, Die Kommunen im Staatsaufbau, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Speyerer Forschungsbericht 252, 2007, S. 81 ff. 2 ABl. S. 2393 ff. 3 Saarl Landtags-Drucks. 13/1403, 2.
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Hubert Meyer am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns aufgeworfene Frage: „Länder zu Landkreisen?“4 stellt sich mithin auch im Saarland, wenn auch vor anderem realen Hintergrund. 2. Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben Doch damit hat die in der Gesetzesbegründung5 so bezeichnete „Verschlankung der Kreisebene“ noch nicht ihr Bewenden. Auch im Verhältnis zu den kreisangehörigen Gemeinden ist es bei den sog. Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben und ihrer Finanzierung über die Kreisumlage zu erheblichen Veränderungen gekommen, wobei die einfachgesetzliche Kreisaufgabenbestimmung im Saarland schon immer etwas anders als in den anderen Ländern gefasst war.6 a) Bisherige gesetzliche Regelung der Aufgaben . . . In § 143 Kommunalselbstverwaltungsgesetz (KSVG)7 hieß es bisher u. a. „(1) Selbstverwaltungsangelegenheiten sind die freiwillig übernommenen und die den Landkreisen durch Gesetz zur Pflicht gemachten Aufgaben der durch das Kreisgebiet begrenzten überörtlichen Gemeinschaft. Bei der Erfüllung der Aufgaben gilt § 5 Abs. 2 entsprechend.8 (2) Die Landkreise erfüllen die von ihnen bisher wahrgenommenen Selbstverwaltungsangelegenheiten kreisangehöriger Gemeinden. (3) Die Landkreise können mit Zustimmung der betreffenden Gemeinden weitere gemeindliche Selbstverwaltungsangelegenheiten übernehmen. Die Übernahme erfolgt durch Beschluss des Kreistages. 4 H. Meyer, Regionalkreisbildung: Länder zu Landkreisen?, in: DÖV 2006, S. 929. 5 Saarl Landtags-Drucks. 13/1403, 73. 6 Zu den Kreisaufgaben systematisierend: H.-G. Henneke, Kreisrecht, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 2007, S. 33 ff. m. Synopse 2 und Wiedergabe aller Gesetzestexte, S. 121 ff. 7 I. d. F. d. Bek. v. 27.6.1997 (ABl. S. 682), zul. geänd. d. G. v. 6.9.2006 (ABl. S. 1694, 1730). 8 § 5 Abs. 2 KSVG lautet: „Die Gemeinden haben insbesondere die Aufgabe, das soziale, gesundheitliche, kulturelle und wirtschaftliche Wohl ihrer Einwohnerinnen und Einwohner zu fördern. Hierbei haben sie die Belange des Natur- und Umweltschutzes zu wahren, die sportliche Betätigung ihrer Einwohnerinnen und Einwohner zu unterstützen, der Interessenvertretung von Kindern und Jugendlichen ein besonderes Gewicht beizumessen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verwirklichen. Sie können sich an Städtepartnerschaften beteiligen. Sie arbeiten mit benachbarten kommunalen Gebietskörperschaften anderer europäischer Regionen grenzüberschreitend zusammen.“
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(4) Die Zustimmung zur Übernahme weiterer gemeindlicher Selbstverwaltungsangelegenheiten ist nicht erforderlich, wenn die Übernahme notwendig ist, um einem Bedürfnis der Kreiseinwohnerinnen und Kreiseinwohner in einer dem öffentlichen Wohle entsprechenden Weise zu genügen, und die zu übernehmende Aufgabe das Leistungsvermögen der beteiligten Gemeinden übersteigt. In diesem Fall bedarf der Beschluss des Kreistages der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Kreistages sowie der Genehmigung der Kommunalaufsichtsbehörde.“
b) . . . und ihrer Finanzierung Zur Aufgabenfinanzierung über die Kreisumlage fanden sich in §§ 18–20 Kommunalfinanzausgleichsgesetz (KFAG) im Saarland untypisch ausführliche Regelungen insbesondere zur Genehmigung durch die Kommunalaufsichtsbehörde. In § 18 KFAG hieß es u. a.: „(1) Die Kreisumlage oder Stadtverbandsumlage wird im Rahmen der Haushaltssatzung für das jeweilige Haushaltsjahr ermittelt. Sie ist in einem einheitlichen Hundertsatz (Umlagesatz) der auf die kreisangehörigen oder stadtverbandsangehörigen Gemeinden entfallenden Umlagegrundlagen (Abs. 2) zu bemessen.“
§ 19 KFAG lautet: „(1) Der Umlagesatz für die Kreisumlage oder Stadtverbandsumlage bedarf der Genehmigung der Kommunalaufsichtsbehörde, wenn er den Umlagesatz des Vorjahres um mehr als einen halben Prozentpunkt oder 30 v. H. der Umlagegrundlagen überschreitet. (2) Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn 1. die im Haushalt des umlageerhebenden Gemeindeverbandes veranschlagten Ausgaben unabweisbar sind und 2. die dauernde Leistungsfähigkeit der umlagepflichtigen Gemeinden nicht beeinträchtigt wird. (3) Die Genehmigung kann versagt oder es kann ein niedrigerer als der beschlossene Umlagesatz genehmigt werden, wenn 1. die dauernde Leistungsfähigkeit der umlagepflichtigen Gemeinden gefährdet wird oder 2. ein Ausgleich zwischen dem zur angemessenen Aufgabenerfüllung notwendigen Ausgabebedarf des Gemeindeverbandes und seiner Gemeinden dies erfordert.“
Im Ländervergleich9 fällt auf, dass das saarländische Recht der Kommunalaufsicht sowohl bei der Aufgabenabgrenzung im kreisangehörigen Raum als auch bei der Kreisumlagefestsetzung erhebliche Einflussmöglich9 Dazu ausführlich: H.-G. Henneke, Die Kreisumlage – steuerähnliche gestaltbare Einnahmequelle der Landkreise für alle Aufgaben, in: Der Landkreis 2006, S. 382 ff. m. Synopsen auf S. 398 (400).
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keiten einräumt, was – im Ländervergleich völlig untypisch – dazu geführt hat, dass die relevanten sogenannten Kreisumlageprozesse im Saarland jeweils auf Klagen von Landkreisen gegen das Innenministerium auf Genehmigung des Kreisumlagesatzes10 zurückzuführen sind. c) Beabsichtigte Neuregelungen Mit dem VSRG ist sowohl § 143 KSVG neu gefasst als auch mit § 19a (neu) eine – weitere einschränkende – Regelung zur Finanzierung abweisbarer Aufgaben in das KFAG eingefügt worden. § 143 KSVG (neu) lautet nunmehr: „(1) Die Landkreise erfüllen in ihrem Gebiet die ihnen durch Gesetz zur Pflicht gemachten Selbstverwaltungsaufgaben der durch das Kreisgebiet begrenzten überörtlichen Gemeinschaft. Durch Gesetz kann ihnen die Erfüllung weiterer Selbstverwaltungsaufgaben zur Pflicht gemacht werden; dabei sind Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen. Verordnungen über die Durchführung solcher Gesetze bedürfen der Zustimmung des Ministeriums für Inneres, Familie, Frauen und Sport. (2) Die Landkreise erfüllen in ihrem Gebiet die freiwillig übernommenen überörtlichen Selbstverwaltungsaufgaben im Rahmen der Gesetz in eigener Verantwortung. (3) Ihre Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion können die Landkreise nur in Zusammenarbeit mit einzelnen oder mehreren kreisangehörigen Gemeinden wahrnehmen; eine Unterstützung durch andere Personen des öffentlichen Rechts oder Privatrechts ist zulässig . . . (4) Die Landkreise haben bei der Aufgabenerfüllung die gebotene Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der kreisangehörigen Gemeinden zu nehmen. Bei der Erfüllung der Aufgaben gilt § 5 Abs. 2 entsprechend.11 In Selbstverwaltungsangelegenheiten sind die Landkreise nur an die Gesetze gebunden.“
§ 19a KFAG ist in Abs. 1–3 wie folgt formuliert worden: „(1) Ist die dauernde Leistungsfähigkeit mindestens einer verbandsangehörigen Gemeinde gefährdet oder bereits beeinträchtigt, dürfen die Gemeindeverbände neben den nicht abweisbaren nur noch die Aufgaben des öffentlichen Personennahverkehrs nach dem Gesetz über den Öffentlichen Personennahverkehr im Saarland vom 29.11.199512 in der jeweils geltenden Fassung und der Tourismusförderung erfüllen sowie eine Ehrenamtsbörse einrichten und unterhalten. Für die Erfüllung abweisbarer Aufgaben, die in grenzüberschreitender Zusammenarbeit erfüllt werden, gilt Satz 1 entsprechend. Sonstige abweisbare Aufgaben dürfen die Gemeindeverbände im Rahmen ihrer Verbandskompetenz nur erfüllen, wenn der Gesamt10 OVG Saarland, Urt. v. 29.8.2001, AS RP 29, 255, sowie Urt. v. 19.12.2001, – 9 R 5/00 –. 11 Siehe oben Text zu Fn. 8. 12 ABl. 1996, 74.
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betrag der durch Erträge nicht gedeckten Aufwendungen 0,5% der Umlagegrundlagen gemäß § 18 Abs. 2 nicht überschreitet. Im Übrigen dürfen sie nur in kommunaler Zusammenarbeit erfüllt werden. Das gilt nicht für Aufgaben, die im Einvernehmen mit dem Bildungsbeirat erfüllt werden. (2) Über die Finanzierung der Aufgabenwahrnehmung nach Abs. 1 S. 4 ist eine Regelung zu treffen. Der Anteil des Gemeindeverbandes an der Finanzierung darf nicht mehr als 20 v. H. der durch Erträge nicht gedeckten Aufwendungen betragen. Die übrigen Beteiligten finanzieren die restlichen durch Erträge nicht gedeckten Aufwendungen . . . Beteiligen sich alle verbandsangehörigen Gemeinden an einer Zusammenarbeit, darf der Anteil des Gemeindeverbandes an der Finanzierung nicht mehr als 40 v. H. betragen. Dies gilt auch für die Aufgabenerfüllung in anderer öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Organisationsform. Bei Vorliegen besonderer Umstände dürfen die Landkreise mit Zustimmung aller kreisangehörigen Gemeinden einen höheren Anteil an der Finanzierung nach S. 5 übernehmen; im Regionalverband Saarbrücken ist die einstimmige Zustimmung des Kooperationsrates erforderlich. (3) Aufgaben, deren Erfüllung nach Abs. 1 unzulässig ist, sind bis zum 31.12. 2010 in eine kommunale Zusammenarbeit zu überführen oder abzubauen; bestehende Verträge sind anzupassen oder zu kündigen. Eine Finanzierung über die Kreis- oder Regionalverbandsumlage ist hierbei zulässig.“
d) Rechtsprechung des OVG Saarland soll Neuregelungen legitimieren Zur Begründung der grundlegenden Modifizierung des Verhältnisses von Landkreisen und kreisangehörigen Gemeinden sowohl hinsichtlich der Aufgabenzuständigkeit als auch hinsichtlich der Finanzierung wird zentral auf die defizitäre Haushaltslage der meisten kreisangehörigen Gemeinden und die diese reflektierende Rechtsprechung des OVG Saarland abgestellt. Dieses verbiete es, freiwillige Aufgaben über die Kreisumlage zu finanzieren, wenn dadurch nur eine kreisangehörige Gemeinde in ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gefährdet werde. Diese „Vorgabe der Rechtsprechung des OVG Saarland“13 berücksichtige der Gesetzentwurf, in dem die Erledigung freiwilliger Aufgaben der Kreise teilweise unter den Vorbehalt der Haushaltslage der kreisangehörigen Gemeinden gestellt werde. Wörtlich heißt es u. a.14: „Das OVG des Saarlandes hat in den Urteilen v. 29.8.2001 und 19.12.2001 die Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben durch die Landkreise mit der Folge einer Finanzierung der entstehenden Kosten über die Kreisumlage für unzulässig erklärt, wenn auch nur eine der kreisangehörigen Gemeinden in ihrer dauernden Leistungsfähigkeit gefährdet oder bereits beeinträchtigt ist (vgl. § 19 KFAG). Daraus 13 14
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ergab sich die Notwendigkeit, die den Kreisen zustehenden Aufgaben durch Änderung des § 143 KSVG zu reduzieren, um durch eine Reduzierung der Aufgaben eine Entlastung der Kreisumlage herbeizuführen. Insbesondere entfallen die historischen Aufgaben (Abs. 2 a. F.) und die von den Gemeinden übernommenen örtlichen Aufgaben (Abs. 3 und 4 a. F.). Die Landkreise nehmen künftig ausschließlich überörtliche Aufgaben wahr. Gleichzeitig war die verfassungsrechtliche Grenze einer Aufgabenreduzierung aus Art. 118 SVerf, 28 Abs. 2 GG zu beachten. Daher sind die Kreise auch künftig befugt, uneingeschränkt überörtliche freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben wahrzunehmen. Ihre künftig ausdrücklich normierte Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion können die Kreise auch weiterhin wahrnehmen, wenn dies im Rahmen einer Kooperation mit einzelnen oder allen Gemeinden geschieht. Durch die zwingende Kooperation mit den Gemeinden bei Wahrnehmung der Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion wird gewährleistet, dass die Gemeinden selbst als Partner einer solchen Kooperation auch über die damit verbundenen Ausgaben des Kreises mitentscheiden.“
Die Einfügung des § 19a KFAG wird ebenfalls direkt auf die Rechtsprechung des OVG des Saarlandes gestützt15: „Auf der Grundlage der Entscheidung des OVG des Saarlandes v. 29.8.2001 und 19.12.2001 zur Kreisumlage können die Kreise Ausgaben für abweisbare Aufgaben dann nicht mehr in die Kreisumlage einstellen, wenn hierdurch die dauernde Leistungsfähigkeit mindestens einer kreisangehörigen Gemeinde gefährdet oder sogar beeinträchtigt ist. Aus diesem Grund sah bereits das bislang geltende Recht in § 19 KFAG unter bestimmten Voraussetzungen eine Genehmigungspflicht für die vom Landkreis festgesetzte Kreisumlage vor.16 § 19a setzt früher an, indem der Kreis bestimmte freiwillige Aufgaben – die grundsätzlich ebenfalls über die Kreisumlage finanziert werden – dann nicht mehr wahrnehmen darf, wenn die dauernde Leistungsfähigkeit mindestens einer kreisangehörigen Gemeinde gefährdet oder sogar beeinträchtigt ist. In diesem Fall ist der Landkreis bzw. der Regionalverband auf die Wahrnehmung seiner pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben und der Auftragsangelegenheiten beschränkt. Hierdurch wird die Erhöhung der Umlage durch abweisbare Aufgaben reduziert, und zwar unabhängig von der Schranke des § 19 . . . Eine Ausnahme gilt weiterhin für die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben bei Zusammenarbeit zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden, wobei der Kreis bei Beteiligung einzelner Gemeinden nur maximal 20 v. H. der durch Erträge nicht gedeckten Aufwendungen tragen darf, aber bei Beteiligung aller Gemeinden im Kreis bis zu 40 v. H. Mit der Beteiligungsmöglichkeit von bis zu 20 v. H. besteht die Möglichkeit, der Anzahl der im jeweiligen Fall beteiligten Gemeinden Rechnung zu tragen . . .“
Bereits auf den ersten Blick mutet die mehrfache Inanspruchnahme des OVG Saarland zur Begründung der Notwendigkeit gesetzlicher Änderungen 15
Saarl Landtags-Drucks. 13/1403, 84 f. Es muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Entscheidungen des OVG Saarland auf der Grundlage des bisherigen § 19 KFAG ergangen sind und nicht umgekehrt § 19 KFAG eine Folge der Rechtsprechung des OVG ist. 16
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bei den Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben vor dem Hintergrund äußerst seltsam an, dass in den beiden in Anspruch genommenen Urteilen die klagenden Landkreise die Verwaltungsrechtstreite gegen das Innenministerium auf Kreisumlagegenehmigung unter Abänderung der erstinstanzlichen Urteile gewonnen haben, wobei seitens des OVG herausgestellt wurde, dass der Kommunalaufsichtsbehörde bei der Prüfung der Genehmigungsfähigkeit der Festsetzung des Kreisumlagesatzes kein Ermessen zuzubilligen ist, während den Kreisen bei der Prüfung, ob die Festsetzung des Umlagesatzes eine Beeinträchtigung oder Gefährdung der dauernden Leistungsfähigkeit einer Gemeinde eine die aufsichtsbehördliche Kontrolldichte beschränkende Einschätzungsprärogative zuzugestehen ist, wobei bereits bei zu erwartenden negativen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit nur einer einzigen der kreisangehörigen Städte oder Gemeinden die Genehmigung der Kreisumlage in Frage gestellt werden kann.17 3. Spezifische Funktion der Kreise und Aufgabenhochzonung im Ländervergleich Vergleicht man die funktionalreformerischen Maßnahmen der Regierung des Saarlandes, die sich zur Begründung hinsichtlich der Hochzonung von Aufgaben, die bisher auf der Kreisebene – also bei den fünf Landkreisen und dem Stadtverband Saarbrücken – angesiedelt waren, auf eine von mehreren Modellvarianten eines von ihr bei Joachim Jens Hesse in Auftrag gegebenen Gutachtens beruft, das nunmehr auch publiziert worden ist,18 mit den Funktionalreformprozessen in anderen Ländern,19 ist in diesen jeweils ein starker Trend zur Übertragung bisher staatlich auf der Ebene des Landes, der Bezirksregierungen oder durch Sonderbehörden wahrgenommener Aufgaben auf die Landkreise (und kreisfreien Städte) – zum Teil bei materieller Kommunalisierung der entsprechenden Aufgaben – festzustellen. Kommunalisierung, Stärkung der Bündelungsfunktion sowie der Einheit und Einräumigkeit der Verwaltung auf der Kreisebene bilden allenthalben die einschlägigen Stichwörter. Die Regierung des Saarlandes schlägt hier 17
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (255 f. Ls 2, 5, 8). J. J. Hesse, Aufgabenkritik, Funktional- und Strukturreform in den Flächenländern. Das Beispiel Saarland, Baden-Baden 2007, mit dem dort entwickelten „modifizierten Staatsmodell“, S. 408 f. 19 Vgl. dazu nur: H. Siedentopf/E. Laux, Funktionalreform in Sachsen, Baden-Baden 1998; K. Ruge, Verwaltungsreformen in den Bundesländern – ein Überblick, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommunale Verwaltungsstrukturen der Zukunft, Stuttgart 2006, S. 91 ff.; ders., Verwaltungsreformen in den Bundesländern, in: ZG 2006, S. 129 ff.; G. Schlebusch, Verwaltungsreform und Aufgabenbündelung auf kommunaler Ebene, in: Der Landkreis 2006, S. 839 ff. 18
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genau den gegenteiligen Weg ein, ist mit ihren Reformbestrebungen im Ländervergleich damit völlig isoliert und ignoriert geradezu die spezifische Funktion der Kreise als Bindeglied zwischen dem – in allen anderen Ländern allein aufgrund der räumlichen Größe von der kommunalen Ebene viel weiter entfernten – Staat einerseits und den Gemeinden andererseits, die Altbundespräsident Johannes Rau und Eberhard Schmidt-Aßmann besonders prägnant umschrieben haben. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau, mit dem Heinrich Siedentopf im Präsidium der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft zusammengewirkt hat, hat im Rahmen der Landkreisversammlung des Deutschen Landkreistages in Berlin am 9.11.2001 u. a. ausgeführt:20 „Wenn es die Landkreise nicht gäbe, müsste man sie erfinden! Nur wenige Schöpfungen der Verwaltungskunst haben sich so glänzend bewährt: Die Landkreise verbinden und vermitteln zwischen der staatlichen und der gemeindlichen Ebene. Sie bürgen für gleichmäßige Rechtsanwendungen. Sie sorgen auch in der Fläche für ein dichtes Netz der Daseinsvorsorge, für gute Bildungschancen und für ein attraktives kulturelles Angebot. Die Landkreise eröffnen Bürgerinnen und Bürgern wichtige demokratische Teilhabe und eröffnen ihnen Gestaltungsrechte. Sie sind auch eine gute Bezugsgröße für die gesellschaftliche Selbstorganisation . . . Kurz gesagt: Die Landkreise helfen wesentlich dabei, in ganz Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen . . . Für die meisten Menschen ist aber ‚ihr‘ Landkreis weit mehr als ein Dienstleister – er ist auch ein Stück Heimat. Die Fülle ihrer Aufgaben ist für die Landkreise Lust und Last zugleich. Zur Belastung wird sie, wenn die nötigen gestalterischen und finanziellen Spielräume verloren gehen. Das darf nicht geschehen. Darauf müssen alle achten: die Länder, der Bund und auch die Europäische Union. Einen föderalen Verschiebebahnhof zu Lasten der Landkreise, Gemeinden und Städte darf es gerade bei den Kosten nicht gehen.“
Eberhard Schmidt-Aßmann, der mit Heinrich Siedentopf gemeinsam jahrelang die Gesprächsleitung der Professorengespräche des Deutschen Landkreistages innehatte, hatte einige Jahre vorher wie folgt formuliert:21 „Für die schwierigen Verwaltungsaufgaben des ländlichen und des mittelstädtischen Raumes hat die deutsche Kommunalrechtsentwicklung dieses Austarieren zwischen Unmittelbarkeit und Distanz, zwischen allgemeinen und besonderen, zentralen und partikularen Interessen in einem Konzept eingefangen, dessen ‚kunstvoll ausgewogene dualistische Struktur‘ (Werner Weber) immer wieder hervorgehoben worden ist. Der Kreis schließt die Lücke zwischen staatlich-zentraler Aufgabenerfüllung einerseits und notwendiger ortsnaher und bürgernaher Aufgabenerfüllung 20 Bundespräsident Johannes Rau, Reden und Interviews, Band 3.1, 1.7.– 31.12.2001, Berlin 2002, S. 258 f.; ebenfalls abgedr. in: Der Landkreis 2001, S. 710. 21 E. Schmidt-Aßmann, Perspektiven der Selbstverwaltung der Landkreise, in: F. Schoch (Hrsg.), Selbstverwaltung der Kreise in der Deutschland, Köln u. a. 1996, S. 75 (80 f.).
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in den Gemeinden andererseits. Es geht darum, diese Gemengelage so zu organisieren, dass gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden können und eine verantwortliche, transparente, berechenbare und akzeptierte Aufgabenerfüllung gewährleistet ist. Der Kreis erweist sich also als das Bindeglied zwischen Staat und unterer kommunaler Ebene und ist eine Verwaltungsorganisation des Ausgleichs und der Ergänzung, aber auch der autonomen, also eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung eigener Angelegenheiten mit allen Vorteilen und Risiken dezentraler Leistungs- und Entscheidungsstrukturen.22 Nichts spricht dafür, dieses Konzept aufzugeben, in entscheidenden Punkten zu verändern oder durch Experimente mit unsicherem Ausgang zu beinträchtigen. Ländliche Räume sind mit ihren ökonomischen und ökologischen Problemen viel zu sensibel, um mit einer radikalen Änderung ihrer Verwaltungsstrukturen überzogen zu werden. Alle Reformen kommunaler Verwaltung haben sich in diesem Rahmen zu halten und dürfen die für den ländlichen und mittelstädtischen Verwaltungsraum typische Status- und Funktionenverbindung der Landkreise nicht auflösen. Diese Verbindung besteht aus einer Trias von Strukturelementen: Gebietskörperschaft, Gemeindeverband und untere Verwaltungsbehörde.23 Alle drei Elemente arbeiten die Organisationsprobleme zwischen Unmittelbarkeit und Distanz auf unterschiedliche Weise ab.“
Beiden ist in der Bewertung ebenso nachdrücklich Recht zu geben, wie der Regierung des Saarlandes zu raten war, die Hochzonung von Aufgaben noch einmal zu überprüfen. Dies ist nur in wenigen Teilbereichen geschehen. Verfassungsrechtlich kann mit Hilfe der Garantie kommunaler Selbstverwaltung insoweit allerdings kaum argumentiert werden.24 II. Die Neuregelung der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben und ihre Finanzierung Gänzlich anders verhält es sich insoweit mit der Aufgabenzuständigkeit im kreisangehörigen Raum.25 Die Verfassungsmäßigkeit der Wahrnehmungsbefugnis der Kreise hinsichtlich ausgleichender und ergänzender Aufgaben ist seit dem Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)26 vielfach hinterfragt, im Ergebnis aber in zahlreichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren in nahezu allen Bundesländern eindrucksvoll 22 A. von Mutius, Kreise als Gebietskörperschaft, Gemeindeverband und untere staatliche Verwaltungsbehörde, in: Der Landkreis 1994, S. 5 ff. 23 H.-G. Henneke, Möglichkeiten zur Stärkung der kommunalen Selbstverantwortung, in: DÖV 1994, S. 705 (707). 24 Dazu ausführlich: H.-G. Henneke, Sind Gemeindeverbände dem aufgabenumverteilenden Gesetzgeber schutzlos ausgeliefert?, in: DÖV 2002, S. 463 ff.; ders., Verfassungsrechtlicher Schutz der Gemeindeverbände vor gesetzlichem Aufgabenentzug im dualistischen und monistischen Aufgabenmodell, in: ZG 2002, S. 72 ff. 25 Dazu ausführlich: H.-G. Henneke, Aufgabenzuständigkeit im kreisangehörigen Raum, Heidelberg 1992. 26 BVerfGE 79, 127 ff.
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bestätigt worden.27 Den Schlusspunkt nach den grundlegenden Ausgleichsund Ergänzungsaufgaben auf der Grundlage landesrechtlicher Generalklauseln bestätigenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts28 hat neben dem Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (NdsOVG)29 ausgerechnet das Oberverwaltungsgericht (OVG) Saarland mit jenen beiden Entscheidungen vom 29.8.2001 und 19.12.200130 gesetzt, auf die sich die Regierung des Saarlandes als Kronzeugen für die massive gesetzliche Beschneidung kreislicher Aufgaben beruft. Wie konnte das geschehen? 1. OVG Saarland hat Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben nach § 143 KSVG anerkannt Das OVG Saarland hat in seinen beiden Entscheidungen aus dem Jahre 1991 den Diskussionsprozess zwischen 1988 und 2001 wie folgt zusammengefasst:31 „Hinsichtlich der mit der Frage der Wahrnehmungsbefugnis für diese Aufgaben aufgeworfenen Problematik, die vor allem nach Ergehen der Rastede-Entscheidung des BVerfG insbesondere in der Literatur äußerst kontrovers diskutiert wird, folgt der Senat der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wie sie insbesondere aus dem Beschluss vom 28.2.1997 (vgl. NVwZ 1998, 63 ff.) und im Übrigen den Beschlüssen vom 24.4.199632 und vom 3.3.1997 (NVwZ 1998, 66) hervorgeht. Danach ist der Gesetzgeber berechtigt, den Kreisen durch eine ‚generalklauselartige Ermächtigung‘ ohne Bezug auf eine bestimmte Sachmaterie Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben zuzuweisen, deren Wahrnehmung an die Voraussetzung mangelnder Leistungsfähigkeit der einzelnen Gemeinde geknüpft ist.“
Plakativ hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die Funktion der Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben auf den Punkt gebracht als „Wahrnehmung von anderenfalls wegen mangelnder Leistungsfähigkeit der Gemeinden brachliegenden Aufgaben.“33
Im Anschluss an die Wiedergabe der Rechtsprechung in anderen Ländern hat das OVG Saarland festgestellt:34 27 Dazu insbesondere: OVG Schleswig, DVBl. 1995, 469; BayVGH, BayVBl. 1996, 691; VerfGH NW, DVBl. 1997, 121; OVG Brandenburg, LKV 1998, 23; VfG Bbg, DVBl. 1998, 1290; StGH BW, VBl.BW 1998, 295 (298); VerfGH RhPf, DÖV 1998, 505 (507 ff.); OVG RhPf, DVBl. 1998, 846; ThürOVG, ThürVBl. 1999, 40; NdsOVG, DVBl. 1999, 842. 28 BVerwGE 101, 99 sowie BVerwG, NVwZ 1998, 63 sowie 66. 29 NdsOVG, DVBl. 2003, 278; NdsVBl. 2005, 124 sowie 151. 30 Dazu Fn. 10. 31 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (277 f.). 32 BVerwGE 101, 99 ff. 33 BVerwGE 101, 99 (106). 34 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (269).
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„Den saarländischen Landkreisen kommt nämlich – unter bestimmten Voraussetzungen – die vom Verwaltungsgericht vermisste Befugnis zur Wahrnehmung von Ergänzungsaufgaben und auch zur Wahrnehmung von Ausgleichsaufgaben zu.“
2. Überörtliche Aufgaben stehen im Fokus a) Gesetzlich gewollte Aufgabenüberschneidung Eingangs seiner Argumentation geht das OVG Saarland allerdings auf die überörtlichen Aufgaben nach § 140 Abs. 2 i. V. m. § 143 Abs. 1 S. 2 KSVG ein. Aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in § 143 Abs. 1 S. 2 KSVG bei der Aufgabenerfüllung nach § 143 Abs. 1 S. 1 KSVG die entsprechende Anwendung von § 5 Abs. 2, der in einer nicht abschließenden Aufzählung die gemeindlichen – also die örtlichen – Selbstverwaltungsaufgaben näher konkretisiert, vorgeschrieben habe, folge eine gesetzlich gewollte Überschneidung der Aufgaben der Gemeinden und der Gemeindeverbände, denen die Gemeinden zugehören, von der Materie der Aufgabe her. Insoweit erlaube einzig die räumliche Komponente der Aufgabenzuweisung an die Kreise anhand des Kriteriums der innerkreislichen überörtlichen Gemeinschaft die erforderliche Abgrenzung zwischen Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden einerseits und des Kreises andererseits. Der Kreis habe grundsätzlich die gemeindliche Befugnis für auf ihr Gebiet beschränkte Aufgabenwahrnehmungen zu respektieren. Die gesetzliche Aufgabenzuweisung lasse aber die Möglichkeit einer Überschneidung der Aufgaben zu, wenn nur – ausgehend von der gemeindlichen Allzuständigkeit in ihrem räumlichen Bereich – ein überörtlicher Bezug der Aufgabe vorliege, der die Annahme einer Kreiszuständigkeit – evtl. auch neben derjenigen der Gemeinde – rechtfertige, ohne der Gemeinde jene Allzuständigkeit unter Verletzung von Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG zu entziehen. Eine verbindliche Entscheidung darüber, ob eine überörtliche Zuständigkeit des Kreises in Anknüpfung an eine örtlich radizierte Aufgabe angenommen werden könne, erfordere eine umfassende Bewertung des jeweiligen Einzelfalls, „in die einzubeziehen ist, dass strukturelle Unterschiede bestehen, örtliche und überörtliche Belange im Laufe der Zeit einem Wandel unterliegen und sich örtliche und überörtliche Belange teilweise überlagern bzw. zu Teilen nebeneinander bestehen können. Lässt die als Aufgabe der Gemeinschaft erkannte Befriedigung eines nicht bereits ausdrücklich einem öffentlichen Verwaltungssubjekt gesetzlich konkret zugewiesenen Bedarfs, der von seiner Eigenart und der daraus resultierenden Betroffenheit der Menschen her über den räumlichen Bereich einer, mehrerer oder aller Gemeinden eines Kreises hinaus Wirksamkeit entfaltet, eine Erledigung im überört-
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lichen Rahmen als sinnvoll erscheinen, ist der Kreis berechtigt und verpflichtet, sich seiner als freiwilliger Selbstverwaltungsaufgabe anzunehmen, ohne dadurch die grundsätzlich für ihren räumlichen Bereich, auch wenn sich ein Bezugsobjekt der erkannten Aufgabenerfüllung dort (oder auch dort) befindet, räumlich zuständige Gemeinde in ihrem Selbstverwaltungsrecht zu verletzen.“35
Sodann fügt das OVG Saarland36 hinzu: „Die Aufgabenwahrnehmungskompetenz der Kreise kann sich auf Grund der gesetzlichen Zuweisung . . . je nach der Struktur eines Kreises und seiner Gemeinden darüber hinaus auch auf Bedarfe beziehen, die in dem Gebiet einer einzigen Gemeinde wurzeln, wenn und soweit ein überörtlicher Bezug im Einzelfall besteht und kompetenzbegründend für den Kreis durchschlägt.“
Illustriert wird diese Qualifizierung vom OVG Saarland am Beispiel ländlich strukturierter Kreise an der Vermarktung ihrer Natur- und Kulturlandschaft für den Tourismus. Eine sinnvolle Bewältigung der sich daraus ergebenden öffentlichen Aufgabenerfüllung erfordere eine erhaltende Pflege und touristische Erschließung der Landschaft. Diese könne zwar grundsätzlich von jeder Gemeinde für sich bewirkt werden; solle die Aufgabenbewältigung aber nachhaltige Wirkung für die Tourismusregion zeitigen, erfordere dies eine über die örtliche Gemeinschaft der Gemeinden und ihre Veranstaltungskraft regelmäßig hinausgehende, koordinierte und kraftvolle Aufgabenerfüllung, die allein der überörtlichen Gemeinschaft im Kreisverband möglich sei. Dies gelte entsprechend für die übrigen Aufgabenfelder, denen sich der Kreis bei entsprechender überörtlicher Bedeutung einer Einzelaufgabe auf Grund der Regelung in § 5 KSVG annehmen können solle. Dabei sei von entscheidender Bedeutung, dass sich die dort aufgeführten Aufgabenfelder überlagerten und wechselseitig beeinflussten und in vielfältiger Weise voneinander abhängig sein könnten. Eine schematische Kompetenzzuweisung auf Grund eines einzigen Kriteriums könne insoweit nicht vorgenommen werden. Vielmehr komme es auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls an. Bei den überörtlichen freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben handele es sich um ureigene Aufgaben der Kreise, die auch bei erkennbaren Überschneidungen mit dem gemeindlichen Bereich nicht als gemeindliche Aufgaben, insbesondere nicht als Ergänzungs- oder Ausgleichsaufgaben des Kreises zu qualifizieren seien.37
35 36 37
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (274 f.). OVG Saarland, AS RP 29, 255 (275). OVG Saarland, AS RP 29, 255 (276).
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b) Strittige Aufgaben sind i. d. R. überörtliche Aufgaben Im Rahmen der Subsumtion klassifiziert das OVG Saarland die streitbefangenen Aufgaben weitgehend als eigene überörtliche Aufgaben des Kreises und nicht als an die mangelnde Leistungsfähigkeit der jeweils begünstigten Gemeinden anknüpfende Ausgleichsaufgaben, wie sie das OVG Saarland ebenfalls für zulässig hält. Bei den Aufgaben sei nämlich festzustellen, dass sie dem sozialen, kulturellen oder wirtschaftlichen Wohl der Einwohner unter Einschluss der Belange des Natur- und Umweltschutzes dienten, weil sie über ihre Belegenheit in einer Gemeinde, in der die Aufgabenerfüllung konkret stattfinde, hinaus wesentlich auch auf das Prosperieren des Kreises zielgerichtet vorgenommen würden und damit der Gesamtheit der Einwohner des Kreises nutzten, auch wenn nicht jeder Einwohner zu jeder Zeit in gleicher Weise davon profitiere oder daran teilhabe. Dies gelte insbesondere für die Aufgabe der wirtschaftlich-touristischen Erschließung des Kreises, die ohne ein ortsübergreifendes Engagement nicht effektiv zu bewirken sei. So durfte der Kreis Kosten an eine Gemeinde für das Heimatmuseum erstatten. Auch durfte das einzige volkskundliche Museum im Kreis angesichts eines überörtlichen Bedürfnisses unter kulturellen und touristisch-wirtschaftlichen Aspekten unterstützt werden, weil insoweit eine überörtliche Aufgabenwahrnehmung vorlag. Wegen ihres auch überörtlichen Charakters wurde eine Beteiligung an den laufenden Kosten der Stadt- und Kreisbücherei als rechtmäßig erachtet, da dem Kreis die Versorgung der Kreiseinwohner mit Büchern und sonstigen Medien als eigene kulturelle Aufgabe obliege und diese Aufgabe vor allem dann für das Wohl der Kreiseinwohner von Bedeutung sei, wenn auf Grund der ländlichen Struktur des Kreises eine Zersplitterung in viele örtliche Gemeindebüchereien eine umfassende Versorgung mit derartigen Medien verhindern würde. Im Rahmen der Kompetenz zur „eigenverantwortlichen Beteiligung an der touristisch-wirtschaftlichen Daseinsvorsorge stehe es dem Kreis zu, durch Mittelbereitstellung für Dorfverschönerungsmaßnahmen die Attraktivität der Dörfer des Kreises für den Fremdenverkehr zu steigern. Auch wird eine Schuldendienstübernahme für die Erweiterung eines Panoramabades für zulässig erachtet; das Bad sei für die Freizeitgestaltung der Kreiseinwohner bedeutsam und stelle einen Mittelpunkt des touristischen Angebots des Kreises dar, das sich nicht nur in der Belegenheitsgemeinde auswirke. Vergleichbares wurde für die anteilige Verlustabdeckung für das Unternehmer- und Technologiezentrum angenommen, da sich das Projekt nicht eindeutig allein im örtlichen Bereich auswirke. An der Schaffung der zur Wirtschaftsförderung erforderlichen Infrastruktur dürfe sich der Kreis betei-
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ligen, wenn es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass sich die Förderung lediglich örtlich auswirke. Vergleichbare Erwägungen werden für die überörtlichen Aufgaben der Tourismusförderung und des Umwelt- und Naturschutzes unter Einschluss des wirtschaftlichen Aspekts der Förderung der landwirtschaftlichen Viehhaltung angestellt. Von überregionaler Bedeutung seien auch Maßnahmen der Förderung des kulturellen Wohls der Einwohner. Dem anerkennenswerten kulturellen Belang der musikalischen Erziehung innerhalb musikpflegender Vereine und Chöre durch Ermäßigung des Schulgeldes der Kreismusikschule, einer überörtlichen Einrichtung der musikalischen Bildung aller Jugendlichen des Kreisgebiets, trage die entsprechende Bezuschussung der Jugendarbeit der drei Spielmannszüge im Kreisgebiet Rechnung. Zuschüsse an Vereine und Verbände im Rahmen der Sportförderung seien durch den Aufgabenbereich der Förderung des sozialen Wohles der Einwohner des Kreises, zu dem auch die Förderung der körperlichen Ertüchtigung und Gesunderhaltung des Körpers gehöre, mit eindeutig überörtlichem Bezug als eigene Kreisaufgabe abgedeckt. 3. Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben nach § 143 KSVG a. F. Für das Saarland wurde herkömmlich formuliert, dass das KSVG von einer Art Bestandsschutzklausel des Landkreises für bisher wahrgenommene Selbstverwaltungsaufgaben ausgeht.38 Das OVG Saarland39 geht deutlich darüber hinaus, indem es feststellt, dass den saarländischen Landkreisen unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis zur Wahrnehmung von Ergänzungs- und auch von Ausgleichsaufgaben zukommt. Zu den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben nach § 143 Abs. 1 KSVG a. F. zählen nach den Darlegungen des OVG Saarland neben den überörtlichen Kreisaufgaben die dem Kreis zustehenden Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben. Anders als noch das Verwaltungsgericht gelangt das OVG Saarland zu dem Ergebnis, dass das KSVG den Landkreisen sowohl die Ausübung von Ausgleichs- als auch von Ergänzungsaufgaben zuweist, ohne damit die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG zu verletzen.40 Nach der anerkannten Rechtsprechung ist der Gesetzgeber berechtigt, den Kreisen durch eine generalklauselartige Ermächtigung ohne 38 F. Schoch, Die Kreise zwischen örtlicher Verwaltung und Regionalisierungstendenzen, in: H.-G. Henneke/H. Maurer/F. Schoch (Hrsg.), Die Kreise im Bundesstaat, Baden-Baden 1994, S. 9 (31); ders., Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, Stuttgart 1997, S. 205 ff. 39 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (269). 40 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (276).
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Bezug auf bestimmte Sachmaterien Ergänzungs- und Ausgleichsaufgaben zuzuweisen. Die Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion der Kreise erfordert, dass mit der strikt subsidiären Aufgabenzuweisung gemeindlicher Aufgaben an die Kreise das Ziel verfolgt wird, annähernd gleiche Lebensverhältnisse für die Bürger des Kreisgebietes durch Übernahme solcher konkreten Einzelaufgaben zu schaffen, die ohne das Eintreten des Kreises mangels Leistungsfähigkeit kreisangehöriger Gemeinden unerledigt blieben. Diese Herleitungen stimmen mit der überkommenen Rechtsprechung insbesondere des BVerwG überein. Zwar findet sich im KSVG keine ausdrückliche spezialgesetzliche Regelung, die es den Kreisen erlaubt, Ausgleichsaufgaben zu übernehmen. Das OVG Saarland entnimmt aber dem Gesetz eine dahingehende, nach der erwähnten höchstrichterlichen Rechtsprechung des BVerwG als genügend zu erachtende Ermächtigung in Form einer generalklauselartigen Aufgabenzuweisung für die Übernahme von Ausgleichsaufgaben durch den Kreis.41 Für die Zuweisung von Ergänzungsaufgaben arbeitet das OVG Saarland demgegenüber heraus, dass das saarländische Kreisrecht in § 143 Abs. 3 KSVG a. F. eine spezielle Ermächtigungsnorm enthielt, die ebenfalls eine Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG genügende Rechtsgrundlage darstellte. Aus verfassungsrechtlichen Gründen kommt die Wahrnehmung von Ergänzungsaufgaben aber nur in Anknüpfung an die mangelnde Leistungsfähigkeit der Gemeinden in Betracht. Auf Grund dessen hat das OVG Saarland § 143 Abs. 3 KSVG a. F. dahingehend verfassungskonform ausgelegt, dass der Leistungsmangel einzelner Gemeinden ursächlich für die Aufgabenübernahme sein und als Tatbestandsmerkmal hinzutreten muss. Dieses Erfordernis könne auch nicht durch die gemeindliche Zustimmung als ersetzt angesehen werden, da der Gemeinde eine Disposition über das subsidiäre Eintrittsrecht des Kreises nicht zustehe und sie sich den ihr selbst obliegenden Aufgaben nicht ohne den triftigen Grund mangelnder Leistungsfähigkeit für die in Rede stehende Aufgabenbewältigung entäußern dürfe.42 Diese Argumentationskette erinnert an die Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen (SächsVerfGH) zum Sachsen-Finanzverband.43 Dort hatte der SächsVerfGH herausgestellt, dass auch bei einer freiwilligen Übertragung ein Verfassungsverstoß vorliegen könne, da das verfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungssystem nicht dispositiv sei. Nach einer ausführlichen historischen Interpretation kommt das OVG Saarland zu dem Befund, dass der Gesetzgeber des KSVG, dem die Entscheidung über die Berechtigung der Kreise zur Wahrnehmung von Aus41
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (278). OVG Saarland, AS RP 29, 255 (280). 43 Dazu ausführlich: SächsVerfGH, DVBl. 2001, 293 m. Anm. Henneke = LVerfGE 11, 393. 42
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gleichs- und Ergänzungsaufgaben ebenso zusteht wie ggf. die Entscheidung über deren Inhalt, Umfang und Wahrnehmungsvoraussetzungen, die Ausgleichsaufgaben der Kreise, deren Entzug das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden weniger stark tangiert als die Wahrnehmung von ergänzenden Aufgaben, mit denen der Kreis gemeindliche Aufgaben zur Erledigung übernimmt, als Teil der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben angesehen und sie den Kreisen generalklauselartig zugewiesen hat. Demgegenüber habe er die ergänzenden Aufgaben, mit deren Wahrnehmung einschneidender in die gemeindlichen Belange eingegriffen werden könne, an die engen Übernahmevoraussetzungen des § 143 KSVG a. F. geknüpft. Eine Ergänzungsaufgabe dürfe der Kreis nur mit Zustimmung der betroffenen Gemeinde übernehmen. Dafür müsse ein ausdrücklicher Beschluss des Kreistages herbeigeführt werden.44 Das OVG Saarland fügt indes klarstellend hinzu, dass der überwiegende Teil der vom Verwaltungsgericht beanstandeten streitbefangenen Positionen gar nicht Ausgleichsund Ergänzungsaufgaben, sondern eigene überörtliche Aufgaben der Kreise betreffe. Das OVG Saarland hat damit keineswegs im Ergebnis festgestellt, dass die saarländischen Gemeindeverbände auf die Wahrnehmung der gesetzlichen Pflichtaufgaben beschränkt sind.45 4. Weitergeltung der bisherigen Rechtsprechung hinsichtlich der überörtlichen Aufgaben Da in der Neuregelung von § 143 KSVG die Regelung der überörtlichen Aufgaben unverändert geblieben und der Hinweis auf § 5 Abs. 2 KSVG ebenfalls in dieser Vorschrift erhalten geblieben, allerdings in den vierten Absatz verschoben worden ist, ist die Auslegung des OVG Saarland zu den überörtlichen Aufgaben an sich und zu ihrer Abgrenzung gegenüber den ergänzenden und ausgleichenden Aufgaben weiterhin heranzuziehen. Zahlreiche Aufgabenstellungen sind wegen ihrer (Auch-) Überörtlichkeit damit dem Problemkomplex der Zuweisung ausgleichender und ergänzender Aufgaben im Saarland entzogen, ohne dass es insoweit auf deren gesetzliche Ausgestaltung im Detail ankäme. Die Begründung zur gesetzlichen Neuregelung in § 19 Abs. 3 KSVG i. V. m. § 19a KFAG stellt die Kernaussagen und Argumentationslinien des 44
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (280). So aber A. Kramp-Karrenbauer, Materielle Einführung in das „Hesse-Gutachten“ durch die Innenministerin des Saarlandes, in: Hesse, Aufgabenkritik, Funktional- und Strukturreform in den Flächenländern (Fn. 18), S. 9 (12). 45
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von der Regierung des Saarlandes für die Neuregelungsnotwendigkeit ausdrücklich in Anspruch genommenen OVG Saarland zu den Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben völlig auf den Kopf. In der Gesetzesbegründung wird suggeriert, das OVG habe vom Gesetzgeber eine Beschränkung der freiwilligen Kreisaufgabenwahrnehmung gefordert, wenn über die Kreisumlagefinanzierung dieser Aufgabe die Leistungsfähigkeit nur einer einzigen kreisangehörigen Gemeinde beeinträchtigt werde. 5. Drei Restriktionsstufen Zur Erreichung des Zieles der „Verschlankung der Kreisebene“ ist ein gestuftes Instrumentarium normiert worden, welches in § 143 Abs. 2 KSVG allerdings die freiwillig übernommenen überörtlichen Aufgaben – und zwar in der vom OVG Saarland vorgenommenen Auslegung – unmittelbar noch nicht tangiert. a) Keine Übernahme von Ausgleichsaufgaben aus Eigenentschluss des Kreistages Die Ausgleichsaufgaben können aber anders als nach der bisherigen Auslegung durch die Rechtsprechung durch die Neuregelung in § 143 Abs. 3 KSVG, in welcher die den Kreisen bereits verfassungsunmittelbar zuerkannte Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion nochmals – und damit bundesweit einzigartig – einfachgesetzlich zuerkannt wird, die Landkreise nicht mehr aus eigenem Entschluss und mit eigenen Mitteln wahrnehmen. Die eigentliche Funktion der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben, nämlich die „Wahrnehmung von anderenfalls wegen mangelnder Leistungsfähigkeit der Gemeinden brachliegenden Aufgaben“ durch die Kreise, um auf diese Weise dafür zu sorgen, dass die Bürger innerhalb des Kreises sowie im Verhältnis zwischen Stadt und Land im Wesentlichen gleichwertige Lebensverhältnisse vorfinden,46 wird damit durch die gesetzliche Neufassung des § 143 Abs. 3 KSVG bereits nachhaltig entwertet, ja ausgehöhlt.
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b) Kreisweite Beschränkung zulässiger Aufgabenwahrnehmung bei fehlender Leistungsfähigkeit auch nur einer kreisangehörigen Gemeinde Noch restriktiver hinsichtlich der Zulässigkeit der Aufgabenwahrnehmung durch die Kreise erweist sich § 19a KFAG. Anders als es der Standort dieser Vorschrift im KFAG suggeriert, handelt es sich bei Abs. 1 nicht um eine Finanzierungsregelung, sondern um eine Bestimmung über die Zulässigkeit der Kreisaufgabenwahrnehmung. Bei Gefährdung der dauernden Leistungsfähigkeit auch nur einer einzigen kreisangehörigen Gemeinde – auf die Frage, wann diese vorliegt, ist sogleich47 einzugehen – zündet sozusagen die zweite Restriktionsstufe. Von den grundsätzlich in § 143 Abs. 2 KSVG für zulässig erklärten überörtlichen Kreisaufgaben dürfen die Kreise dann nur noch Aufgaben aus den enumerativ normierten Bereichen ÖPNV, Tourismus und Ehrenamtsbörse wahrnehmen – und zwar mit Ausschlusswirkung hinsichtlich der übrigen Aufgaben für das gesamte Kreisgebiet. M. a. W. wird auf diese Weise folgender gesetzlicher Mechanismus konstituiert: Je größer das innergemeindliche Leistungsfähigkeitsgefälle im Kreisgebiet ist, umso restriktiver wird die Kreisaufgabenwahrnehmung. Jede Unterdotierung einzelner kreisangehöriger Gemeinden im kommunalen Finanzausgleich seitens des Landes oder jede krass unwirtschaftliche, gemeindliche Aufgabenerfüllung führt also erst einmal zu einer kreisweiten Rückführung bisher zulässigerweise wahrgenommener freiwilliger Kreisaufgaben! Zudem wird in § 19a Abs. 1 S. 2 KFAG grundsätzlich auch für die überörtliche Aufgabe dekretiert, was in § 143 Abs. 3 KSVG bereits für die Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben normiert worden ist: „Darüber hinaus dürfen sie abweisbare Aufgaben nur in Form einer kommunalen Zusammenarbeit erfüllen.“ Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sind für Ausnahmefälle allerdings noch Modifikationen vorgesehen worden. c) Zwingende gemeindliche Eigenbeteiligung Die dritte Restriktionsstufe ist nicht mehr auf der Ebene der Zulässigkeit der Aufgabenerfüllung, sondern auf der der Aufgabenfinanzierung angesiedelt, kommt doch eine im Interesse der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gebotene vollständige Aufgabenfinanzierung der Kreise für die Wahrnehmung ausgleichender und ergänzender Kreisaufgaben über die Kreisumlage im Saarland nunmehr nicht mehr in Betracht. Stattdessen ist eine zwingende Eigenbeteiligungsquote der kreisangehörigen Gemeinden normiert worden, wozu gerade die Leistungsschwächsten in der Regel nicht 47
Dazu unten 7.
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in der Lage sein dürften. Auf diese Weise kommt es über den Modus der Kreisaufgabenfinanzierung zu einer weiteren Stufe der Kreisaufgabenwahrnehmungserdrosselung. 6. OVG Saarland hat Dilemma des einheitlichen Umlagesatzes erkannt . . . Diese ist von der in Bezug genommenen Rechtsprechung des OVG Saarland keineswegs intendiert. Dieses hat nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es interpretatorische Folge der bisherigen Regelungen in § 19 Abs. 2 und 3 KFAG sei, dass bereits bei zu erwartenden negativen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit nur einer einzigen der kreisangehörigen Städte und Gemeinden die Genehmigung in Frage gestellt werden könne. Das OVG Saarland fährt ausdrücklichlich fort:48 „Dies ist als Folge der gesetzlich gewollten Einheitlichkeit des Umlagesatzes und des Fehlens einer Bestimmung über eine variable Festsetzung des Umlagesatzes gegenüber . . . ‚notleidenden‘ Gemeinden hinzunehmen, auch wenn von einer niedrigeren Festsetzung des Umlagesatzes auch Gemeinden profitieren, deren Leistungsfähigkeit durch den ursprünglich höher vorgesehen gewesenen oder festgesetzten Umlagesatz weder beeinträchtigt noch gefährdet worden wäre.“
Mit diesen Ausführungen spielt das OVG Saarland zutreffend darauf an, dass in fünf anderen Ländern,49 insbesondere im benachbarten RheinlandPfalz, Differenzierungen zwischen den einzelnen kreisangehörigen Gemeinden nach den Umlagegrundlagen zulässig sind. Dies gilt daneben für Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. 7. . . . und gewährt Kreisen Einschätzungsprärogative bei gemeindlicher Leistungsfähigkeitsbeeinträchtigung Aus dem Befund der seitens der Rechtsprechung zu akzeptierenden gesetzlich statuierten Einheitlichkeit der Bemessungsgrundlage der Kreisumlage folgert das OVG Saarland hinsichtlich der Beeinträchtigung der dauernden Leistungsfähigkeit einer kreisangehörigen Gemeinde allerdings eine Einschätzungsprärogative des Landkreises, die seitens der Kommunalaufsichtsbehörde nur unter besonders eingeschränkten Kriterien korrigiert werden kann. Das OVG Saarland führt insoweit aus, dass das Innenministerium als Kommunalaufsichtsbehörde – anders als es für sich reklamiere – nicht berechtigt sei, ein Mitentscheidungsrecht bei der Festlegung des Umlagesatzes für sich in Anspruch zu nehmen. Die Zubilligung von Ermessen 48 49
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (268). Dazu ausführlich: Henneke, Die Kreisumlage (Fn. 9), S. 382 (400).
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sei unvereinbar mit der den Kreisen gem. Art. 28 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 119 Abs. 1 SaarlVerfG garantierten Finanzhoheit, die einer staatlichen Mitentscheidungs- oder Letztentscheidungsbefugnis im Genehmigungsverfahren von Verfassungs wegen entgegenstehe, da die Festsetzung des Kreisumlagesatzes Teil der den Kreisen zustehenden Finanzhoheit sei.50 Konkretisierend fügt es hinzu, dass § 19 Abs. 3 KFAG allein abweisbare Ausgaben betreffe. Jede andere Auffassung ließe sich mit der Finanzhoheit des Kreises nicht in Einklang bringen, da diese unverhältnismäßig beschnitten werde, wenn der Kreis unabweisbare Ausgaben schon wegen der bloßen Gefährdung der gemeindlichen Finanzausstattung (§ 19 Abs. 3 Nr. 1 KFAG) oder aus Gründen der Rücksichtnahme auf den gemeindlichen Ausgabebedarf (§ 19 Abs. 3 Nr. 2 KFAG) hintanstellen müsse.51 Bei dem Verbot der Beeinträchtigung bzw. Gefährdung der dauernden Leistungsfähigkeit der Gemeinden und ebenso bei dem Ausgleichsgebot handele es sich um durch unbestimmte Rechtsbegriffe geprägte offene Tatbestände, die angesichts der in ihnen vorausgesetzten prognostischen Bewertung dem Kreistag als dem für die Umlagefestsetzung zuständigen Organ eine dem Umfang der Kontrolle der Aufsichtsbehörde beschränkende Entscheidungs- oder Einschätzungsprärogative einräume.52 Diese Kriterien belegten eindeutig den Charakter der Beurteilung der Folgen der Umlagefestsetzung für die dauernde Leistungsfähigkeit der Gemeinden als komplexe Prognoseentscheidung und damit das Bestehen eines seitens des Landes nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraumes.53 Voraussetzung der Annahme einer Gefährdung der dauernden Leistungsfähigkeit sei die Wahrscheinlichkeit der diesbezüglichen Beeinträchtigung bei mindestens einer kreisangehörigen Gemeinde.54 Insoweit habe der Kreis allerdings eine Einschätzungsprärogative: „An den Grad der Wahrscheinlichkeit sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Insoweit fällt ins Gewicht, dass die Genehmigungsversagung in ein hochwertiges Rechtsgut, die verfassungsmäßig garantierte Finanzhoheit des Kreises, eingreift. Das wiegt im Hinblick darauf umso schwerer, als nach der Konzeption von § 19 Abs. 2 und 3 KFAG bereits Auswirkungen auf die Finanzlage einer einzigen Gemeinde des Kreises zur Reduzierung des Umlagesatzes zwingen können – die Vorschrift aber keine diesbezüglich gestufte Festsetzung erlaubt.55 In diesen Fäl50
OVG Saarland, AS RP 29, 255 (259 f.). OVG Saarland, AS RP 29, 255 (265). 52 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (266). 53 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (267). 54 OVG Saarland, AS RP 29, 255 (282 f.). 55 Dies ist erneut ein verkappter Hinweis auf die in den fünf vorgenannten Ländern eingeräumte Differenzierungsmöglichkeit beim Umlagesatz der Kreisumlage, die selbstverständlich auch dem saarländischen Gesetzgeber zu Gebote steht. 51
Der Kreis – Bindeglied zwischen Staat und Gemeinden
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len mutet die Bestimmung dem Kreis dann einen Teilverzicht auf die von ihm beanspruchbare Umlage und also eine Minderung seiner Finanzausstattung in einem Maße zu, das über das zum Schutz der Gemeinden vor der Aushöhlung ihres Selbstverwaltungsrechts Notwendige hinausgeht. Von daher erweist sich die in § 19 Abs. 3 Nr. 1 KFAG getroffene Regelung nur dann als mit dem auch bei Beeinträchtigungen der verfassungsmäßig garantierten Finanzhoheit der Kreise zu beachtenden Übermaßverbot vereinbar, wenn bei der Beurteilung das Vorliegen einer Gefährdung i. S. der Vorschrift ein heraufgestufter strenger Wahrscheinlichkeitsmaßstab angelegt wird.“
III. OVG Saarland-Rechtsprechung legitimiert gesetzgeberisches Vorgehen nicht Liest man die Entscheidungen des OVG Saarland aus dem Jahre 2001 richtig, enthalten diese geradezu ein nachdrückliches Plädoyer für eine gesetzliche Einführung von Differenzierungen nach Umlagegrundlagen bei der Kreisumlagefestsetzung, um auf diese Weise das Potenzial zur Kreisaufgabenfinanzierung auszuschöpfen, ohne dabei die dauerhafte Leistungsfähigkeit der schwächsten der kreisangehörigen Gemeinden zu beeinträchtigen. Über diese unübersehbare Zielsetzung der OVG-Rechtsprechung setzt sich das Verwaltungsstrukturreformgesetz einseitig zu Lasten der Kreise sehenden Auges hinweg und verschärft stattdessen das Konfliktpotential im kreisangehörigen Raum durch gesetzliche Schmälerung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgabe der Kreise weiter. Angesichts des deutlich sichtbar werdenden Abwägungsausfalls zugunsten schonenderer Alternativen hinsichtlich der Aufgabenwahrnehmungsbefugnis der Kreise liegen die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung auf der Hand.
Der hauptamtliche Bürgermeister als Beamter Janbernd Oebbecke I. Nach den Gemeindeordnungen der Länder werden Bürgermeister überall unmittelbar gewählt und meistens werden sie hauptamtlich tätig. Soweit dies nicht wie etwa in Nordrhein-Westfalen generell gilt, ist es jedenfalls dort vorgesehen, wo eine ehrenamtliche Ausübung des Amtes nach Einwohnerzahl1 oder kommunalverfassungsrechtlicher Stellung der Gemeinde2 nicht angebracht erscheint. Hauptamtliche Bürgermeister sind überall kommunale Wahlbeamte. Die beamtenrechtlichen Regelungen über die Bürgermeister sind das Thema dieses Beitrags. Die Bürgermeister sind eine vergleichsweise eher kleine Gruppe im öffentlichen Dienst. Aus verschiedenen Gründen erscheint es dennoch gerechtfertigt, das Thema zu behandeln. Wegen der Stellung der Städte und Gemeinden in der deutschen Verwaltung und wegen der Rolle, die die Bürgermeister dort spielen, verdient es Beachtung. Anders als die politisch-administrative und die kommunalverfassungsrechtliche Stellung der Bürgermeister sind die beamtenrechtlichen Aspekte bisher nur in geringem Umfang Gegenstand der Forschung gewesen; eine auf dieses Thema konzentrierte Monographie liegt, soweit ersichtlich, bisher nicht vor,3 und Aufsätze betreffen nur Einzelaspekte des Themas. Mit der Föderalismusreform haben die Länder die Zuständigkeit für die Besoldung und Versorgung der Beamten, die bisher beim Bund lag, hinzugewonnen; damit ist Raum für Neuregelungen auch im Recht der Bürgermeister, bei denen der Blick auf den Status quo und der Vergleich der Länderregelungen hilfreich sein können. 1 Die Schwellenwerte schwanken zwischen 1500 (§ 44 I GO Hess) und 10.000 Einwohnern (Art. 34 II GO Bay). Unterhalb dieser Werte kann die Gemeinde selbst über die Hauptamtlichkeit entscheiden. 2 Etwa Amtsfreiheit (§ 61 I 1 GO Bbg) oder Verbandsfreiheit (§ 51 II 1 GO RhPf). 3 Die Arbeiten von U. Lange, Der hauptamtliche Bürgermeister, Münster 1999, und M. Schrameyer, Der kommunale Wahlbeamte, Münster 2004, befassen sich hauptsächlich mit dem Kommunalverfassungsrecht und gehen nur auf wenige beamtenrechtliche Fragen ein.
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Die Untersuchung beginnt mit einem Blick auf die gesetzliche Ausformung (II). Mit klassischen beamtenrechtlichen Fragen geht es weiter: Beginn und Ende des Amtes (III), Besoldung und Versorgung (IV), schließlich Nebentätigkeiten (V). Den Abschluss sollen einige Überlegungen zu der rechtspolitischen Frage bilden, ob das geltende Recht einen angemessenen Rahmen für das Amt des Bürgermeisters bereitstellt (VI). II. Das Beamtenrecht der Bürgermeister stellt eine Sonderregelung zum Recht der kommunalen Wahlbeamten dar, welches seinerseits einen Spezialfall des Rechts der Zeitbeamten bildet. Zeitbeamte sind eine besondere Beamtengruppe. Der Sache nach geht es also um mehrfach gestufte Spezialregelungen: Beamte, Zeitbeamte, kommunale Wahlbeamte, Bürgermeister. Nicht wenige der für die Bürgermeister einschlägigen Regelungen sind zugleich Normen des Kommunalverfassungsrechts; es geht auch um das Gemeindeorgan Bürgermeister. Das gilt etwa für die Bestimmungen über die Amtszeit. Sie werden überall im Kommunalverfassungsgesetz, nicht im Beamtengesetz getroffen. Bei anderen Bestimmungen ist die Zuordnung nicht eindeutig: die Altersgrenze4 etwa regelt Niedersachsen in der Gemeindeordnung,5 die meisten anderen Länder im Landesbeamtengesetz.6 Auch die Regelungen über die Verpflichtung, sich einer Wiederwahl zu stellen, werden teils in der Gemeindeordnung,7 teils im Beamtengesetz8 getroffen. Der Regelungsort der gesetzlichen Bestimmungen macht deutlich, dass die dogmatische Trennung von Kommunalverfassungsrecht und Beamtenrecht in der Gesetzgebung nicht umfassend durchgesetzt ist. Soweit die Regelungen in den Beamtengesetzen erfolgen, werden sie gesetzestechnisch verschieden ausgeformt. Die eine Möglichkeit besteht darin, im jeweiligen Beamtengesetz nur die Abweichungen vom Recht der übrigen Beamten auf Zeit zu formulieren. Dementsprechend ordnen einige Länder 4 Die Festsetzung einer Altersgrenze ist verfassungsgemäß. Dazu BVerfG, Beschl. v. 25.7.1997 – 2 BvR 1088/97 –, in: NordÖR 1998, S. 87 f. Zur Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze von 68 Jahre für volksgewählte Bürgermeister: VerfGH RhPf, Beschl. v. 2.11.2006 – VGH B 27/06, VGH A 28/06 –, in: DÖV 2007, S. 117 ff.; OVG RhPf, Beschl. v. 20.9.2006 – 2 B 10951/06.OVG –, in: NJW 2006, S. 3658 ff. Zur Altersgrenze von 65 Jahren: BayVerfGH, Entsch. v. 29.4.1968 – Vf. 22-VII-66 –, VerfGHE BY 21, 83 ff. 5 § 61b S. 1 GO Nds. 6 s. etwa §§ 195 IV 1 LBG NRW; 183 II 2 LBG RhPf; 211 V 3 LBG Hess. 7 Etwa §§ 57c II Nr. 1 GO SchlH; 37 II 3 KVerf MV; § 61 IV 7 GO Nds. 8 Etwa §§ 160 I Nr. 4 LBG Sachs; 134 Nr. 6 LBG BW; 129 und 129a Nr. 3 LBG Saarl.
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in nur wenigen einzelnen Sätzen Abweichungen vom Recht der Zeitbeamten an.9 Die andere Möglichkeit besteht darin, mehr oder weniger ausführliche Sonderregelungen zu treffen. Das kann in einzelnen Vorschriften geschehen. So verfahren das Beamtenrechtsrahmengesetz10 und das Beamtenversorgungsgesetz11 im Hinblick auf die Zeitbeamten. Nordrhein-Westfalen12 und Sachsen13 haben Bestimmungen über die Bürgermeister in eigenen Abschnitten über die kommunalen Wahlbeamten. Im Saarland gibt es eine Sondervorschrift über die kommunalen Wahlbeamten, in der sich auch Regelungen über die Wahlbeamten finden, die von den Bürgern gewählt sind, also die Bürgermeister und Landräte.14 Baden-Württemberg hat im Abschnitt des Landesbeamtengesetzes über Beamte auf Zeit einen Unterabschnitt über die kommunalen Wahlbeamten und dort eine eigene Vorschrift über Bürgermeister;15 hier ist die eingangs dieses Abschnittes erwähnte vierfache Stufung im Gesetz ablesbar. Bayern und – weniger ausführlich – Thüringen haben spezielle Gesetze über kommunale Wahlbeamte erlassen, in denen auch die Regelungen über die Bürgermeister enthalten sind. Zwar kommen diese Gesetze nicht ohne Verweise auf das allgemeine Beamtenrecht aus; ihre Fassung ermöglicht es aber auch dem im Beamtenrecht weniger erfahrenen Leser, sich zusammenhängend über die für die kommunalen Wahlbeamten geltenden Bestimmungen zu informieren. Von den unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten – im Kommunalverfassungs- und im Beamtenrecht, innerhalb der Landesbeamtengesetze und in besonderen Gesetzen, mehr oder weniger ausführlich, deutlich abgesetzt oder in allgemeiner geltende Regelungen integriert – machen die Länder also sehr unterschiedlich Gebrauch. Überall verweigert die Gesetzgebung mindestens teilweise die Trennung von Kommunalverfassungsrecht und Beamtenrecht. Sie geht von einer einheitlichen Materie aus. III. Neben den besonderen Aufgaben, die ein Bürgermeister wahrnimmt, ist es vor allem die Volkswahl, die beamtenrechtliche Sonderregelungen erzwingt oder doch nahelegt. Beide Umstände müssen bei den Bestimmungen über den Beginn der Amtszeit berücksichtigt werden. 9
Etwa §§ 145, 147 LBG Bbg; 211 f. LBG Hess; 194 LBG Nds. §§ 95 ff. BRRG. 11 § 66 BeamtVG. 12 § 195 LBG NRW. 13 § 160 LBG Sachsen. 14 § 129a SaarlBG. 15 Etwa §§ 134 LBG BW. 10
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Ob eine Ernennung stattfindet, haben die Länder unterschiedlich entschieden. In Rheinland-Pfalz etwa wird sie durch den Amtsvorgänger, wenn er noch im Amt ist, sonst durch den allgemeinen Vertreter und in Ermangelung eines solchen durch ein Ratsmitglied16 vorgenommen.17 Gegen diese Lösung lässt sich einwenden, dass nach der Wahl durch das Volk eine materielle Entscheidung mit der Ernennung nicht mehr verbunden sein kann. Andere Länder haben von der in § 95 I 2 BRRG und auch im Entwurf des Beamtenstatusgesetzes18 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf eine Ernennung zu verzichten.19 Sie legen den Beginn des Amtes auf den Zeitpunkt der Annahme der Wahl20 oder den Amtsantritt.21 Im jedem Fall ist der frühest mögliche Zeitpunkt für den Beginn der Amtszeit das Ausscheiden des Amtsvorgängers; auch wenn die Wahl früher stattfindet, kann die Amtszeit des neuen gewählten Bürgermeisters vor diesem Zeitpunkt nicht beginnen.22 Wahlen können sich als ungültig erweisen. § 10 II BRRG sieht für diesen Fall die Regelungsmöglichkeit vor, dass die Berufung in das Beamtenverhältnis nichtig ist. Soweit die Landesgesetze in diesem Zusammenhang statt von Nichtigkeit23 davon sprechen, dass das Beamtenverhältnis des Bürgermeisters nicht wirksam zustande gekommen ist, kann wegen der auf die Nichtigkeitsfolge beschränkten Abweichungsermächtigung des bisher geltenden Rahmenrechts damit nichts anderes gemeint sein. Die Rechtsfolgen sind überwiegend nicht speziell geregelt.24 Auch wo keine Ernennung erfolgt ist, liegt es nahe, die bis zum Zeitpunkt der Feststellung der Ungültigkeit der Wahl vorgenommenen Amtshandlungen wie im Falle der nichtigen Ernennung für gültig zu halten.25 16
§ 54 GO RhPf. Ähnliche Regelungen in §§ 46 II GO Hess; 37 IV KVerf MV; 57c I GO SchlH. 18 § 6 des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz), Bundestags-Drucks. 16/4027, S. 8. 19 Art. 4 KWBG Bay; §§ 134 Nr. 1 LBG BW; 195 III 1 LBG NRW; 194 III 1 LBG Nds; 2 I ThürKWBG. 20 Etwa Art. 4 KWBG Bay; §§ 61 IV 3 LBG Nds; 195 III 1 LBG NRW. 21 §§ 42 III GO BW; 160 I Nr. 1 LBG Sachs; 51 III 2 GO Sachs; nicht leicht zu verstehen ist die Regelung in Sachsen-Anhalt, wo in § 58 III GO LSA bestimmt ist, dass die Amtszeit mit dem Amtsantritt beginnt, aber eine Ernennung durch den Vorsitzenden der Vertretung vorgesehen ist (§ 58 V GO LSA). 22 s. etwa § 61 IV 3 GO Nds; ähnlich § 195 III 1 LBG NRW. 23 So § 195 III 2 LBG NRW. 24 s. aber § 13 KWBG Bay. 25 So ausdrücklich Art. 13 V 1 KWBG Bay; § 195 III 2 Hs. 2 i. V. m. § 14 II 1 LBG NRW. 17
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Auch am Ende der Amtszeit ergeben sich verschiedene Besonderheiten. In vielen Ländern können Bürgermeister abgewählt werden; die verfassungsrechtlichen Zweifel daran haben sich mit dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12.199326 praktisch erledigt. Die Kommunalverfassungsgesetze treffen Regelungen darüber, wann der Bürgermeister im Falle der Abwahl27 aus seinem Amt ausscheidet, nämlich mit der entsprechenden Feststellung des Wahlausschusses.28 Wer nur noch zwei oder drei Jahre Amtszeit vor sich hat, wird bei einer Wahl für eine deutlich längere Amtszeit schwerlich gute Aussichten haben und deshalb häufig gar nicht antreten. Weil sich deshalb sonst ein faktisch deutlich früherer Ruhestand ergäbe, ist die Altersgrenze und damit der Eintritt in den Ruhestand überwiegend auf 68 Jahre29 und damit weiter als bei den übrigen Beamtengruppen hinausgeschoben. Erkennbar unterschiedlich schätzen die Gesetzgeber in den Ländern die Bedeutung der Vakanz ein. In einer Reihe von Ländern ist vorgesehen, dass das Dienstverhältnis fortbesteht, bis der Nachfolger sein Amt antritt;30 man will also einen nahtlosen Übergang gewährleisten. Die Regelung über die Fortführung der Amtsgeschäfte in Hessen etwa macht die Verpflichtung dazu davon abhängig, dass sie keine unbillige Härte darstellt und die Gemeindevertretung nichts anderes beschließt; sie ist auf drei Monate beschränkt.31 Andere halten eine Regelung über die Weiterführung der Amtsgeschäfte dagegen nicht für erforderlich.
26
BVerfG, Beschl. v. 20.12.1993 – 2 BvR 1327/87 –, in: NVwZ 1994, S. 473 ff. Zur Verfassungsmäßigkeit BVerwG, Urt. v. 15.3.1989 – 7 C 7/88 –, BVerwGE 81, 318 ff. mit Nachw. zur Gegenmeinung; gegen die Zulässigkeit auch Lange, Der hauptamtliche Bürgermeister (Fn. 3), S. 127 ff. 28 Etwa §§ 61a S. 6 GO Nds; 66 S. 7 GO NRW; 55 I GO RhPf; 51 VII 4 GO Sachs; 57d III GO SchlH. 29 Etwa §§ 147 II LBG Bbg; 129a Nr. 2 LBG Saarl; 160 I Nr. 2 GO Sachs. In Hessen liegt die Altersgrenze bei 71 Jahren (§ 211 V LBG Hess; ähnlich in Bayern wegen Art. 39 II GLKrWG Bay i. V. m. Art. 34 V GO Bay). In Nordrhein-Westfalen soll die Altersgrenze ganz aufgehoben werden (Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, Landtags-Drucks. 14/3979, S. 119 und 166 f.). 30 §§ 42 V 1 GO BW; 37 II 4 KVerf MV; 61 IV 6 GO Nds. 31 § 41 GO Hess. 27
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IV. Die genaue Einstufung der Bürgermeister in die A- oder B-Besoldung war schon bisher Sache des Landesrechts. Bis zum Inkrafttreten der Föderalismusreform hatten die Länder dabei aber die Vorgaben des Bundes in der „Verordnung über die Zuordnung der Ämter der hauptamtlichen Wahlbeamten auf Zeit der Gemeinden, Samtgemeinden, Verbandsgemeinden, Ämter und Kreise“32 zu beachten. Maßgebliches Kriterium war die Einwohnerzahl der Gemeinde; wo der Bürgermeister zugleich Vorsitzender der Vertretung ist, erweiterte sich der Spielraum. Bei einer maßgeblichen Einwohnerzahl von 25 001 reicht die Spanne nach dem Recht der verschiedenen Länder gegenwärtig von B 2 bis B 4, bei 100 001 Einwohnern von B 5 bis B 8. Die niedrigste Einstufung findet sich dabei nur in Ländern, in denen der Vorsitz in der Vertretung nicht beim Bürgermeister liegt, die höchste in Hessen und Nordrhein-Westfalen. In einigen Ländern hat die Vertretung einen gewissen Spielraum für die Einstufung. Künftig sind die Länder allein für die Besoldung zuständig. Damit sind rechtlich abweichende Gestaltungen, etwa eine Aufstockung, die Entwicklung einer besonderen Besoldungsordnung oder die Einführung von Leistungselementen möglich. Denselben Freiraum haben die Länder künftig bei der Regelung der Versorgung. Bei wirtschaftlicher Betrachtung ist die Versorgung ein hochwichtiger Bestandteil der Vergütung,33 sowohl aus der Sicht des Bürgermeisters wie aus der Sicht des Dienstherrn Gemeinde. Die Höhe der Versorgung richtet sich bisher nach dem Beamtenversorgungsgesetz des Bundes.34 Soweit dort keine Sonderregelungen35 getroffen sind, werden die Vorschriften über die Beamten auf Lebenszeit entsprechend angewandt,36 was eine große Zahl von Zweifelsfragen aufwirft.37 Voraussetzung für den Bezug von Ruhegehalt ist in jedem Fall, dass der Bürgermeister am Ende seiner Amtszeit nicht entlassen wird, sondern in 32 Verordnung v. 7.4.1978, BGBl. 1978, 468, zul. geänd. durch Art. 1 der VO v. 19.10.2001, BGBl. I 2697. 33 In diesem Sinne schon Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes, Baden-Baden 1973, Rn. 765. 34 Zu den Fragen, die sich mit dem Neuaufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Ländern ergeben, s. U. Ebeling, Dienst- und versorgungsrechtliche Stellung des kommunalen Wahlbeamten auf Zeit in Mecklenburg-Vorpommern, in: LKV 1992, S. 282, 285 f.; W. Kesseler, Minder-Versorgung kommunaler Wahlbeamter Ost, in: LKV 1998, S. 258 ff. 35 Solche Regelungen enthält § 66 BeamtVG. 36 § 66 I BeamtVG. 37 Dazu J. Oebbecke/D. Diemert, Die ruhegehaltsfähige Dienstzeit der kommunalen Wahlbeamten, in: DVBl. 2003, S. 1294 ff.
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den Ruhestand tritt. Vom Fall der Dienstunfähigkeit abgesehen erfolgt der Eintritt in den Ruhestand nach den Regeln für Lebenszeitbeamte nur mit Erreichen der Altersgrenze. Davon kann nach den bisher geltenden Regelungen des Rahmenrechts durch Gesetz für die Beamten auf Zeit, zu denen die Bürgermeister gehören, in zwei Richtungen abgewichen werden: Die Länder können vorsehen, dass der Beamte mit Ablauf seiner Amtszeit in den Ruhestand tritt38 und dass er entlassen wird, wenn er einer gesetzlichen Verpflichtung zur Weiterführung seines Amtes nicht nachkommt.39 Eine Reihe von Ländern40 hat für diesen Fall die Entlassung angeordnet. Die „Verpflichtung“ zur Wiederwahl dürfte rechtlich eher eine Obliegenheit als eine selbständig durchsetzbare Verpflichtung darstellen. Sie kommt mit dem Inhalt Wiederwahl,41 was die Kandidatur voraussetzen dürfte,42 oder auch als „Verpflichtung“ vor, der Aufsichtsbehörde gegenüber eine entsprechende Bereitschaftserklärung abzugeben.43 Ob solche Regelungen unter den Bedingungen der Direktwahl sinnvoll sind, kann man bezweifeln; wer erkennbar lustlos antritt, wird schwerlich befürchten müssen, vom Volk erneut gewählt zu werden. Deshalb erscheint es nachvollziehbar, wenn von der rahmenrechtlichen Möglichkeit kein Gebrauch gemacht und die erneute Kandidatur ganz der Entscheidung des Bürgermeisters überlassen wird.44 In Bayern kann der Dienstherr anordnen, dass der Anspruch auf Ruhegehalt bis zur Vollendung des 62. Lebensjahrs ruht, wenn sich der Beamte ohne wichtigen Grund nicht zur Wiederwahl gestellt oder die Wiederwahl nicht angenommen hat.45 Auch wenn diese Bestimmung wohl nicht ganz leicht zu handhaben ist, dürfte sie eine Hürde gegen die schlimmsten Missbräuche errichten. Nicht nur bedingt durch die unterschiedlich langen Wahlzeiten zwischen fünf Jahren in Nordrhein-Westfalen und bei entsprechender Regelung in der Hauptsatzung neun Jahren in Mecklenburg-Vorpommern differieren die Regelungen über den Eintritt in den Ruhestand bei Ablauf der Amtszeit recht 38
§ 96 I BRRG. § 97 BRRG. 40 s. §§ 134 Nr. 6 S. 2 LBG BW; 146 LBG Brbg; 34 Nr. 3 LBG MV; 185 III LBG Rh-Pf; 129 IV LBG Saarl; 160 I Nr. 4 S. 2 LBG Sachs; 57c II 2 GO SchlH; 6 II Nr. 3 ThürKWBG. 41 §§ 146 LBG Bbg; 211 II LBG Hess; 185 II LBG RhPf; 129 III i. V. m. 129a Nr. 3 LBG Saarl. In Mecklenburg-Vorpommern besteht nur einmal die Verpflichtung zur Wiederwahl (§ 37 II 4 KVerf MV); § 5 ThürKWBG sieht Ausnahmen bei Vorliegen eines wichtigen Grundes vor. Nach § 57c II Nr. 1 GO SchlH ist ein Wahlvorschlag eines Drittels der Gemeindevertreter Voraussetzung. 42 VG Frankfurt/Oder, Urt. v. 27.4.2006 – 2 K 2262/00 –, Juris. 43 So §§ 134 Nr. 6 S. 1 LBG BW; 160 I Nr. 4 S. 1 LBG Sachs. 44 Ausdrücklich §§ 195 II 3 LBG NRW, 61 IV S. 7 GO Nds. 45 Art. 123 KWBG Bay. 39
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stark. Eine größere Zahl von Ländern lässt den Ablauf der Amtszeit für den Eintritt in den Ruhestand genügen.46 Brandenburg verlangt zusätzlich ein Mindestalter von 45 Jahren.47 In drei Ländern kommt der Ruhestand beim Ende der Amtszeit nur unter weiteren zusätzlichen Bedingungen in Betracht. In Nordrhein-Westfalen etwa muss man entweder 18 Jahre ruhegehaltsfähige Dienstzeit oder acht Jahre ruhegehaltsfähige Dienstzeit und ein Lebensalter von 45 Jahren oder acht Jahre als Beamter auf Zeit aufweisen.48 Baden-Württemberg und Sachsen verlangen entweder 18 Jahre ruhegehaltsfähige Dienstzeit und 45 Lebensjahre oder zwölf Jahre als Beamter auf Zeit oder bei deutlich vorgerücktem Lebensalter49 sechs Jahre als Beamter auf Zeit.50 Bayern fordert eine „Wartezeit“ von zehn Jahren, in die u. a. auch Zeiten als ehrenamtlicher Bürgermeister eingerechnet werden, wenn die überwiegende Arbeitskraft eingesetzt wurde.51 V. Eher als bei Lebenszeitbeamten kann bei Bürgermeistern die Grenze zwischen amtlichem und privatem Leben, dienstlichem und nicht-dienstlichem Tun verschwimmen. Das liegt auch an ihrem großen zeitlichen Einsatz, der in den meisten Fällen das sonst im öffentlichen Dienst Übliche weit übersteigt. Vor allem aber liegt es am Amt des Bürgermeisters, dessen ohnehin sehr breite Zuständigkeit von der Öffentlichkeit als noch umfangreicher wahrgenommen wird, und danach in mancher Hinsicht sogar noch über die „All“zuständigkeit der Gemeinde hinausragt. Wenn es um die Nutzung von Dienstwagen52 oder um die Annahme von Vorteilen53 geht, kommt man rechtlich jedoch nicht ohne scharfe Abgrenzungen aus, weil der Beamte nur die gesetzlich bestimmte Vergütung erhalten darf und die Annahme von Vorteilen für die Dienstausübung strafbar ist. 46 § 65 I 1 GO NRW (fünf Jahre Amtszeit; die Landesregierung hat eine Verlängerung auf sechs Jahre vorgeschlagen); §§ 211 LBG Hess; 186 LBG RhPf; 6 I ThürKWBG (sechs Jahre Amtszeit); § 112a S. 1 LBG LSA (sieben Jahre); §§ 61b I GO Nds; 62 II LBG RhPf; 51 IV LBG Saarl (acht Jahre); § 37 II 1 KVerf MV (sieben bis neun Jahre). 47 § 146 S. 1 LBG Bbg. 48 § 195 IV LBG NRW. 49 Baden-Württemberg verlangt 63 Lebensjahre, Sachsen 62 Jahre. 50 §§ 131 LBG BW; 139 LBG Sachs. 51 Art. 28 KWBG Bay. 52 s. dazu etwa FG Saarland, Urt. v. 28.5.1991 – 1 K 106/91 –, Juris; VG Frankfurt, Urt. v. 3.8.2005 – 7 E 2234/04 (V) –, Juris; Dienstwagen des Bürgermeisters, in: KompolBl 1980, S. 1152. 53 Gegenwärtig spielt die Annahme von Vorteilen etwa eine Rolle im Zusammenhang mit der Teilnahme an Reisen auf Einladung Dritter („Lustreisen“).
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Ähnliche Abgrenzungsfragen werfen auch die Wahrnehmung von Funktionen für andere juristische Personen als die eigene Gemeinde und vor allem die dafür gewährten Leistungen auf. Sie werden unter dem Stichwort „Nebentätigkeiten“ diskutiert.54 Spätestens seit der Entscheidung des rheinland-pfälzischen Oberverwaltungsgerichts vom 13.12.2002 im Falle des früheren Bürgermeisters von Neuwied55 werden sie auch deutlich öffentlich wahrgenommen. Das erwähnte Stichwort „Nebentätigkeiten“ ist deshalb ziemlich missverständlich, weil es bei der Diskussion vor allem auch um die Abgrenzung von Hauptamt und Nebentätigkeit geht. Wird der Bürgermeister vom Gemeinderat durch Beschluss damit betraut, für die Gemeinde eine Funktion etwa in einer Gesellschaft auszuüben, oder ist im Gesetz oder in der Verfassung einer von der Gemeinde beherrschten oder beeinflussten juristischen Person, etwa der Satzung einer AG oder dem Gesellschaftsvertrag einer GmbH, festgelegt, dass der Bürgermeister eine Funktion qua Amt wahrnimmt, etwa dem Aufsichtsrat angehört, wird eine Tätigkeit im Hauptamt angenommen.56 Eventuelle Bezüge aus solchen Tätigkeiten hat er in vollem Umfang an die Gemeinde herauszugeben.57 Eine Nebentätigkeit liegt dagegen vor, wenn der Bürgermeister auf Feldern tätig wird, wo seine Tätigkeit nicht der Gemeinde zugute kommt, etwa als Prüfer im juristischen Staatsexamen, oder wenn er die Tätigkeit aufgrund einer von Dritten mit seinem Einverständnis getroffenen Entscheidung wahrnimmt. Nach dem Nebentätigkeitsrecht wird zwischen Nebentätigkeiten innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes unterschieden. Einnahmen aus Nebentätigkeiten im öffentlichen Dienst darf der Beamte 54 s. dazu K. Noack, Nebentätigkeit von kommunalen Wahlbeamten, in: Stadt und Gemeinde 1999, S. 269 ff.; M. Beckmann/J. Hagmann, Die Wahrnehmung von Nebentätigkeiten durch kommunale Spitzenbeamte, in: DÖV 2004, S. 937 ff.; J. Thiedemann, Pflicht der kommunalen Wahlbeamten zur Ablieferung von Nebentätigkeitsvergütungen an den Dienstherrn, in: Festschrift Driehaus, Herne 2005, S. 409 ff. 55 OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 13.12.2002 – 2 A 11104/02 –, in: DVBl. 2003, S. 617 ff.; zur erstinstanzlichen Entscheidung des VG Koblenz s. N. Meier, Zur Abführungspflicht von Aufwandsentschädigungen und Sitzungsgeldern für Aufsichtsrat- und sonstige Gremientätigkeiten in kommunalen Beteiligungsgesellschaften, in: VR 2003, S. 237 f. 56 Zur Abgrenzung s. etwa K. Fischer/J. Grittmann, Ablieferungspflicht von Vergütungen für Aufsichtsratstätigkeiten in kommunalen Unternehmen?, in: VBlBW 2004, S. 324 f.; VG Wiesbaden, Urt. v. 10.5.2006 – 8 E 2503/03 –, Juris Rn. 76; sowie die in Fn. 54 genannten. 57 Etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 13.12.2002 (Fn. 55), 617 ff.; Beckmann/ Hagmann, Die Wahrnehmung von Nebentätigkeiten durch kommunale Spitzenbeamte (Fn. 54), S. 939.
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nur in einer bestimmten Höhe behalten, muss überschießende Beträge abführen58 und die Pflicht zur Anzeige an den Dienstherrn59 erfüllen.60 Die Abgrenzung ist nicht immer einfach vorzunehmen. Wenn im Schrifttum mit der „Organisationsgewalt“ des Rates argumentiert wird,61 kann das jedenfalls nicht überzeugen, wenn dem Rat diese nicht ausdrücklich zugewiesen ist.62 Außerhalb ausdrücklicher gesetzlicher Regelung steht dem Rat eine solche Gewalt gegenüber dem volksgewählten Bürgermeister nicht zu. Praktische Unsicherheiten werden sich allerdings in manchen Fällen mit Hilfe der Überlegung ausräumen lassen, ob die Benutzung des Dienstwagens unentgeltlich zulässig ist63 und ob ein Wegeunfall wohl als Dienstunfall anzusehen wäre. Das Nebentätigkeitsrecht ist in den Ländern unterschiedlich ausgestaltet und macht neben der zwischen Hauptamt und Nebentätigkeit weitere Abgrenzungen erforderlich. So sind in allen Ländern bestimmte Tätigkeiten ausdrücklich von der Geltung des Nebentätigkeitsrechts ausgenommen.64 Auch der Begriff des „öffentlichen Dienstes“ ist überall Gegenstand näherer gesetzlicher Bestimmung. In Nordrhein-Westfalen etwa liegt eine Nebentätigkeit im öffentlichen Dienst auch vor, wenn der Beamte sie „im Hinblick auf seine dienstliche Stellung ausübt.“65 Ein rechtssicherer Umgang mit dieser Bestimmung ist kaum möglich. Der Beamte kann häufig nicht wissen, warum die Tätigkeit an ihn herangetragen wird; vielfach wird sich derjenige, der sie ihm überträgt, dazu keine Gedanken gemacht haben. Je58 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Ablieferungspflicht als solche, wie sie etwa von Fischer/Grittmann, Ablieferungspflicht von Vergütungen für Aufsichtsratstätigkeiten in kommunalen Unternehmen? (Fn. 56), S. 327 f. geäußert werden, sind unbegründet (BVerfG-K, Beschl. v. 16.1.2007 – 2 BvR 1188/05 –, Juris). 59 Dazu, dass es sich nicht um eine kommunal-, sondern eine beamtenrechtliche Pflicht handelt, s. VGH BW, Urt. v. 22.2.2001 – 1 S 786/00 –, in: NVwZ 2002, S. 229 ff. 60 Unvollständige Angaben können eine spätere Berufung auf Verjährung als rechtsmissbräuchlich ausschließen; s. VG Freiburg/Breisgau, Urt. v. 10.12.2003 – 7 K 426/03 –, Juris, Rn. 24 ff. 61 Beckmann/Hagmann, Die Wahrnehmung von Nebentätigkeiten durch kommunale Spitzenbeamte (Fn. 54), S. 943 unter Berufung auf einen Erlass des Innenministeriums NRW; Thiedemann, Pflicht der kommunalen Wahlbeamten zur Ablieferung von Nebentätigkeitsvergütungen an den Dienstherrn (Fn. 54), S. 415. 62 Noack (Fn. 54) weist auf S. 269 zu Recht auf die Grenzen des Kommunalverfassungsrechts hin. 63 Darum ging es im Falle von VG Gera, Urt. v. 30.9.2003 – 1 K 1017/02.GE –, Juris. 64 Dazu etwa Noack, Nebentätigkeit von kommunalen Wahlbeamten (Fn. 54), S. 270; Thiedemann, Pflicht der kommunalen Wahlbeamten zur Ablieferung von Nebentätigkeitsvergütungen an den Dienstherrn (Fn. 54), S. 415 f. 65 § 3 II Nr. 3 zweiter Fall NtVO NRW.
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denfalls bei Unternehmen, die über Erfahrungen mit der öffentlichen Hand verfügen, ist die Rechtsfolge „Abführungspflicht“ inzwischen meistens bekannt; ihre Auskunft wird gelegentlich schon deshalb am Ergebnis orientiert sein. Man kann zweifeln, ob die Gerichte über den Einzelfall hinaus nützliche Kriterien für die Beurteilung liefern können.66 Bayern hat durch einen Erlass des Finanzministeriums klargestellt, dass die Tätigkeit in Beiräten von Unternehmen, die nicht überwiegend in öffentlicher Hand sind, keine Nebentätigkeit im öffentlichen Dienst darstellt und eine Vergütung deshalb nicht abzuführen ist.67 Auch die Behandlung der Bezüge aus Tätigkeiten in kommunalen Sparkassen ist unterschiedlich.68 VI. Die hier unternommene Darstellung der Besonderheiten des Rechts der volksgewählten Bürgermeister ist alles andere als vollständig. So wurde bisher zum Beispiel nicht erwähnt, dass die Bürgermeister eine Aufwandsentschädigung erhalten69 und dass Sonderregelungen über den Dienstvorgesetzten gelten.70 Ob das für die Bürgermeister geltende Beamtenrecht mit all seinen Besonderheiten angemessene Regelungen trifft, lässt sich allerdings bezweifeln. Das gilt für die Frage, ob die Staffelung der Besoldung nach Einwohnerzahlen zu billigen Ergebnissen führt.71 Anforderungen und Anspruch des Amtes werden in der Tat häufig eher von Umständen wie der Finanzlage oder der Wirtschaftsstruktur einer Gemeinde bestimmt sein; diese lassen sich allerdings nur schwerlich normativ fassen, wie dies für eine gesetzliche Regelung notwendig ist. Welche Leistung dem Bürgermeister abgefordert wird, hängt u. a. auch davon ab, in welchem Umfang der Gemeinderat die Aufgabenwahrnehmung durch Eigengesellschaften beschlossen hat, die zusätzliche Termine 66 Zu einem mit dieser Absicht angestrengten Verfahren: P. Schilder, Klage zur Klärung, in: FAZ Nr. 34 v. 9.2.2007, S. 4; s. jetzt auch das in dieser Sache ergangene Urteil des VG Düsseldorf v. 24.8.2007 – 26 K 1055/07. 67 Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen v. 17.3.2005 – IB 2-0351.1-14 (FStBay 2005/213); als Beispiel ist ausdrücklich Eon Bayern erwähnt. 68 s. dazu Noack, Nebentätigkeit von kommunalen Wahlbeamten (Fn. 54), S. 271 f. Die nordrhein-westfälische Praxis sieht § 21 SpkG NRW, wonach die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Hauptverwaltungsbeamte ein Sitzungsgeld erhalten, als lex specialis an, wonach eine Abführung ausscheidet. Das ist seit der Föderalismusreform auch kompetentiell unbedenklich. 69 In Nordrhein-Westfalen beträgt sie je nach Gemeindegröße bis zu 760 DM (§ 5 I EingrVO NRW). 70 Dazu Schrameyer, Der kommunale Wahlbeamte (Fn. 3), S. 141 ff. 71 Ebeling, Dienst- und versorgungsrechtliche Stellung des kommunalen Wahlbeamten auf Zeit in Mecklenburg-Vorpommern (Fn. 34), S. 284.
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des Bürgermeisters notwendig machen und ihm zusätzliche Rechtskenntnisse im Handels-, Gesellschafts- und Betriebsverfassungsrecht abverlangen; dafür anfallende Vergütungen wird er, wie erwähnt, abführen müssen. Für Leistungszulagen ist mangels gesetzlicher Ermächtigung kein Raum.72 Ob der Bürgermeister am Tag der allgemeinen Kommunalwahl oder an einem gesonderten Termin gewählt wird und deshalb u. U. auch erhebliche Wahlkampfkosten73 aufbringen muss, bleibt überall unberücksichtigt. Mannigfache Schwierigkeiten ergeben sich bei der Anwendung des für Lebenszeitbeamte konzipierten Versorgungsrechts auf volksgewählte Bürgermeister mit ihrer häufig ganz anderen beruflichen Entwicklung. Mangels gesetzlicher Qualifikationsanforderungen werden Zeiten der Ausbildung und früherer Beschäftigung von der Rechtsprechung nicht auf die ruhegehaltfähige Dienstzeit angerechnet,74 weil sie den Auftrag des § 66 I BeamtVG zur „entsprechenden“ Anwendung der für die Lebenszeitbeamten geltenden Regelungen75 unangebracht eng versteht. Wird der Bürgermeister nicht wiedergewählt, was nicht unbedingt eigenem Verhalten, sondern auch einer politischen Großwetterlage geschuldet sein kann, und wegen nicht erfüllter Wartezeitregelung entlassen, wird er nachversichert. Wo die Bezüge des Bürgermeisters die Bemessungsgrenze für die Rentenversicherung übersteigen,76 entscheiden die Wähler mit der Wiederwahl also auch darüber, wie hoch der Wert der Versorgungsanwartschaft ist, die der Bürgermeister für seine zurückliegende Tätigkeit erhält. Tritt er in den Ruhestand, entscheidet etwa in Nordrhein-Westfalen der neu gewählte Rat darüber, wieweit „förderliche Zeiten“ angerechnet werden und so auf Kosten der Gemeinde das Ruhegehalt verbessern. Wird im manchmal recht früh eintretenden Ruhestand Zuverdienst erworben,77 weil der frühere Bürgermeister beruflich tätig sein will oder muss, greift die Regelung über die Anrechnung von Erwerbseinkommen78 mit der Folge, dass 72
VGH BW, Beschl. v. 4.10.2005 – 4 S 1799/94 –, Juris. Dazu schon H. Siedentopf, Ist in Nordrhein-Westfalen die Erstattung von Wahlkampfkosten auf kommunaler Ebene rechtlich zulässig?, Düsseldorf 1967; jüngst: J. Oebbecke, Wahlkampfkosten des hauptamtlichen Bürgermeisters, in: ZRP 2006, S. 227 ff. 74 BVerwG, Urt. v. 28.2.2007 – 2 C 18/06 –, in: NVwZ-RR 2007, S. 469 ff.; OVG Nds., Urt. v. 11.6.2007 – 5 LB 32/07 –, Juris. 75 Dazu Oebbecke/Diemert, Die ruhegehaltsfähige Dienstzeit der kommunalen Wahlbeamten (Fn. 37), S. 1294 ff. 76 Zu diesem Problem schon Bericht der Studienkommission (Fn. 33), Rn. 808. 77 Dazu J. Oebbecke/J. Wacker, Verfassungsfragen der Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes, in: DVBl. 1999, S. 426 ff. 78 OVG NRW, Urt. v. 18.8.2005 – 1 A 5012/04 –, in: ZBR 2006, S. 206 ff.; VG Minden, Urt. v. 22.9.2004 – 4 K 5359/03 –, Juris. 73
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ein wirtschaftlicher Anreiz, durch eigene Tätigkeit Geld zu verdienen und die vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse sinnvoll einzusetzen, nur in recht begrenztem Umfang besteht.79 Die Versorgungsregelung ist schließlich so unübersichtlich, dass die in der kommunalpolitischen Praxis häufig nur kurze Bedenkzeit vor einer Kandidatur eine Prüfung der versorgungsrechtlichen Auswirkungen in der Regel nicht erlauben wird. Bereits früh hat das BVerfG das Recht der kommunalen Wahlbeamten an einer „Grenzposition dieser Amtsträger zwischen Beamtenrecht und Kommunalrecht“ lokalisiert.80 In der Tat unterscheidet sich die Stellung eines Bürgermeisters, der „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Rahmen der Selbstverwaltung weitgehend frei und schöpferisch tätig“81 wird, grundlegend von der eines herkömmlichen Verwaltungsbeamten. Die Volkswahl hat das Element der Kommunal„politik“ weiter verstärkt. Die vom Recht der Lebenszeitbeamten ausgehende beamtenrechtliche Regelung mag dort, wo die Bewerber ganz überwiegend aus der Beamtenschaft kommen und gute Aussichten haben, so lange sie antreten, wiedergewählt zu werden,82 angemessen (gewesen) sein. Der volksgewählte Bürgermeister steht heute aber mindestens in größeren Gemeinden einem hauptamtlichen Politiker näher als einem Lebenszeitbeamten.83 Es lohnt sich deshalb darüber nachzudenken, wie ein dem Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters angemessener Status aussehen und wie er gesetzlich verfasst sein soll. Die Ausgestaltung des Bürgermeisteramtes muss dessen „Attraktivität für leistungsfähige und leistungsorientierte Persönlichkeiten mit innerer Unabhängigkeit, Überblick und der Fähigkeit zum Denken in Zusammenhängen erhalten und ausbauen.“84
79 Kritisch zur Anrechnung von Erwerbseinkommen schon Bericht der Studienkommission (Fn. 33), Rn. 840 f. 80 BVerfG, Beschl. v. 17.10.1957 – 1 BvL 1/57 –, BVerfGE 7, 155 (162). 81 OVG LSA, Urt. v. 9.12.1998 – A 4 S 1/98 –, Juris, Rn. 48. 82 So die Verhältnisse, die H.-G. Wehling/H.-J. Siewert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg, 2. Auflage, Stuttgart 1987, in den achtziger Jahren für die kleineren und mittleren Gemeinden (S. 138) in Baden-Württemberg beschrieben haben (S. 60 ff.). 83 In diese Richtung weist die in Nordrhein-Westfalen geplante völlige Aufhebung der Altersgrenze (Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, Landtags-Drucks. 14/3979, S. 119 und 166 f.). Bis 1970 galt in Baden-Württemberg keine Altersgrenze, s. Wehling/Siewert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg (Fn. 82), S. 41. 84 So H. Siedentopf (Hrsg.), Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung, Baden-Baden 1989, S. 253 für den öffentlichen Dienst.
Kommunale Spitzenverbände in Deutschland Geschichte, Stellung, Funktion Gunnar Schwarting I. Zur Entwicklung der kommunalen Spitzenverbände „Als Ausgangspunkt für die moderne kommunale Selbstverwaltung in Deutschland wird gemeinhin die preußische Städteordnung von 1808 des Reichsfreiherrn vom und zum Stein angesehen.“1 Auch wenn der Spielraum kommunaler Selbstverwaltung darin noch durchaus eng definiert wird – immerhin beginnt die preußische Städteordnung vom 19. November 18082 mit dem Artikel „Von der Obersten Aufsicht des Staates über die Städte“ – so hat doch der Geist bürgerschaftlichen Engagements, der mit dieser Ordnung geweckt wird, auf die weitere Entwicklung der Kommunalpolitik einen außerordentlichen Einfluss ausgeübt.3 Zwar ist das Reformmodell aus dem Jahre 1808 ohne den Zeitbezug – die Dominanz des napoleonischen Frankreich – nicht zu verstehen. Es hat jedoch auch danach die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung weit über sein Ursprungsland Preußen hinaus geprägt. Allerdings richteten sich die Stein’schen Ideen auf die einzelne Stadt; von der Sichtweise einer Gesamtheit der Städte oder gar aller Städte und Gemeinden war vom Stein noch weit entfernt. So standen namentlich in Preußen die staatlichen Behörden dem Gedanken eines Zusammenschlusses von Städten, erst recht im Sinne einer Interessenvertretung, skeptisch bis ablehnend gegenüber.4 Zu ersten, oft auch sporadischen Städtetagen kam es daher erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die förmliche Gründung von Städtetagen erfolgte dabei vielfach zunächst in den nicht-preußi1 J. Herres, „Passiven Gehorsam . . . kenne man am Rhein nicht.“ – Rheinische Städte und preußischer Staat im 19. Jahrhundert, in: F. J. Felten (Hrsg.), Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte, Stuttgart 2006, S. 65. 2 Zitiert nach: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810, Berlin 1822, S. 324. 3 So E. Becker, Entwicklung der deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände im Hinblick auf die Gegenwart, in: H. Peters (Hrsg.), Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956, S. 80.
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Gunnar Schwarting
schen Ländern, während es in Preußen erst 1896 zur Bildung eines „Allgemeinen Preußischen Städtetages“ kam. Mit dem Zusammenschluss deutscher Städte zum Deutschen Städtetag 1905 war dann der erste Schritt zur Interessenvertretung auf Reichsebene geleistet.5 Die spätere Bildung des Reichsverbandes Deutscher Städte 1910, des Reichsverbandes Deutscher Landgemeinden 19226 und des Deutschen Landkreistages 19227 rundete die Interessenvertretung der kommunalen Ebene schließlich ab. Zur Bildung umfassender Interessenvertretungen hatten nicht nur die drängenden Aufgaben auf lokaler Ebene während und nach dem Krieg beigetragen; die Verankerung kommunaler Selbstverwaltung in der Weimarer Reichsverfassung und die Erzberger’schen Finanzreformen waren wichtige Auslöser gemeinschaftlichen Handelns der Kommunen gegenüber dem Staat. Deren Bedeutung auch für die Gesetzgebung wurde dabei von Seiten der Reichsregierung durchaus erkannt und gefördert. So teilte Reichskanzler Brüning den kommunalen Spitzenverbänden mit, „. . . dass er den Reichsministern empfohlen habe, die kommunalen Spitzenverbände an den gesetzgeberischen Vorarbeiten so frühzeitig und umfassend zu beteiligen, als es die Rücksicht auf andere an der Gesetzgebung beteiligte Faktoren, besonders Reichsrat und Landesregierungen, gestattet.“8 II. Der Wiederaufbau der kommunalen Spitzenverbände nach 1945 und ihre regionale Verankerung Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die kommunalen Spitzenverbände auf Landes- wie auf Bundesebene rasch neu gebildet worden. Bereits im August 1945 wandte sich der Kölner Oberbürgermeister Dr. Adenauer an seine Kollegen in den Städten mit dem Gedanken einer Wiederbelebung der Arbeit des Deutschen Städtetages.9 Damit knüpfte er bewusst an die Weimarer Tradition an, die von einer institutionellen Fragmentierung kommunaler 4
Vgl. F. Geißelmann, Die Kommunalen Spitzenverbände, Berlin 1975, S. 16; zur Rolle der Städtetage am Rhein in den Jahren 1848/49 s. J. Herres, „Passiven Gehorsam . . . kenne man am Rhein nicht.“ (Anm. 1 ), S. 75 ff. 5 Zu einem knappen Abriss s. G. Schwarting, Der Deutsche Städtetag wird 100, in: F. J. Felten (Hrsg.), Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte, Stuttgart 2006, S. 90 f. 6 Dazu G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund, in: T. Mann/G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Berlin 2007, S. 965. 7 Die Bezeichnung „Deutscher Landkreistag“ wurde erst 1924 eingeführt, s. H. G. Henneke, Der Deutsche Landkreistag, in: T. Mann/G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Berlin 2007, S. 951. 8 O. Ziebill, Geschichte des Deutschen Städtetages, 2. Aufl., Stuttgart 1956, S. 56. 9 Ausführlicher O. Ziebill, Geschichte (Anm. 8), S. 67 ff.
Kommunale Spitzenverbände in Deutschland
Original: Stadtarchiv Mainz
Schaubild 1: Schreiben des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer vom 23.8.1945
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Interessen geprägt war. Der Gedanke einer gemeinschaftlichen Interessenvertretung aller kommunalen Gebietskörperschaften, der angesichts der ungeheuren Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit – Versorgung, Flüchtlinge, Wohnraum, Wiederaufbau – nahe gelegen hätte, war angesichts der Zwangsvereinigung der Spitzenverbände zum Deutschen Gemeindetag in der NS-Zeit zu diskreditiert.10 Recht bald fanden sich auch auf der Ebene der von den Alliierten geschaffenen neuen Länder kommunale Spitzenverbände zusammen. Dass dies für ein Land wie Rheinland-Pfalz mit seinen ganz unterschiedlichen historischen Regionen unmittelbar gelang, ist sicher besonders zu würdigen; so waren schon am Jahresende 1947 die auch heute noch bestehenden drei Verbände im Land – wenn auch noch mit etwas anderer Namensgebung – gegründet.11 Die Dreiteilung ist in den Ländern des früheren Bundesgebietes (mit Ausnahme des Saarlandes) beibehalten worden; in den neuen Bundesländern allerdings ist es gelungen, für die Städte und Gemeinden einen gemeinsamen Verband zu bilden. Überlegungen zu einer entsprechenden Fusion auf der Bundesebene nach der Wiedervereinigung12 sind hingegen nicht zum Tragen gekommen.13 III. Kommunale Spitzenverbände im Bund und in den Ländern Die Struktur der kommunalen Spitzenverbände ist – verglichen mit anderen europäischen Ländern – sehr komplex. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie der Deutsche Landkreistag sind „Verbände-Verbände“, d.h. sie sind Dachverband der entsprechenden Landesverbände.14 Demgegenüber kennt der Deutsche Städtetag die unmittelbare Mitgliedschaft von Städten, darunter auch die Stadtstaaten. Darüber hinaus sind die Städtetage in den Ländern selbst Mitglieder des Deutschen Städtetages; ihre Mitglieder werden beim Deutschen Städtetag als mittelbare Mitglieder geführt.15 Zu10
Vgl. G. Schwarting, Der Deutsche Städtetag (Anm. 5), S. 106. Zur Gründung insb. für den Städtetag ausführlicher G. Diehl, Der Städtetag Rheinland-Pfalz 1947 – 1997, in: C. Wolff/G. Schwarting (Hrsg.), 50 Jahre Städtetag Rheinland-Pfalz, Wiesbaden 1997, S. 90 ff.; zu den Schwierigkeiten in anderen Bundesländern s. am Beispiel Bayerns H. G. Henneke, Der Deutsche Landkreistag (Anm. 7), S. 955. 12 s. G. Schwarting, Der Deutsche Städtetag (Anm. 5), S. 96. 13 Als Beispiel für einen umfassenden Kommunalverband mag der schwedische Verband „Sveriges Kommuner och Landsting“ gelten (http://www.skl.se/artikel. asp?C=5605&A=11736). 14 s. G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Anm. 6), S. 970. 15 S. Articus, Der Deutsche Städtetag, in: T. Mann/G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Berlin 2007, S. 938; allerdings sind anders als dort dargestellt, die Städtetage in den Ländern keine regionalen Un11
Kommunale Spitzenverbände in Deutschland
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sätzlich erschwert wird das Bild noch dadurch, dass neun Verbände auf der Landesebene sowohl dem Deutschen Städtetag wie dem Deutschen Städteund Gemeindebund angehören (Schaubild 2).16 Die kommunalen Spitzenverbände sind durchweg eingetragene Vereine, die Mitgliedschaft ist für die einzelne Kommune insoweit freiwillig.17 „Obwohl die kommunalen Spitzenverbände keinen öffentlich-rechtlichen Status und keine Zwangsmitgliedschaft kennen, haben sie einen Organisationsgrad von nahezu 100 % erreicht.“18 An dieser Feststellung aus dem Jahr 1975 hat sich bis heute nichts geändert. Die Spitzenverbände werden insoweit von den Städten, Gemeinden und Landkreisen als ihre Interessenvertretung verstanden.19 Die Zusammenarbeit der kommunalen Spitzenverbände auf Bundes- und in der Regel auch auf der Landesebene konzentriert sich auf gemeinsame Stellungnahmen im Rahmen der Bundesvereinigung20 bzw. länderweiser Arbeitsgemeinschaften gegenüber Regierungen und Parlamenten. Darüber hinaus unterhalten die Spitzenverbände auf Bundesebene das gemeinsame kommunale Büro in Brüssel;21 das zusätzliche Kommunalbüro der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen wird gleichfalls von allen Spitzenverbänden dieser Länder getragen.22 Nur am Rande sei erwähnt, dass es daneben spezifische kommunalnahe Verbände gibt,23 die wie die Kommunalen Arbeitgeberverbände besondere Aufgabenstellungen übernehmen oder wie der Verband kommunaler Untertergliederungen des Deutschen Städtetages, sondern selbst Mitglieder dieses Verbandes. 16 Zur Mitgliedschaft des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, vgl. G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Anm. 6), S. 971. 17 Ausnahmen sind lediglich der Deutsche Städtetag als nicht eingetragener Verein, sowie der Bayerische Städtetag und der Bayerische Landkreistag als Körperschaften des öffentlichen Rechts. 18 F. Geisselmann, Spitzenverbände (Anm. 4), S. 20. 19 Zu einer interessanten Erörterung der Bindungskraft eines kommunalen Spitzenverbandes, s. D. Diemert, Steuerung im kommunalen Spitzenverband, VerwArch 96 (2005), S. 403 ff. 20 So G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Anm. 6), S. 974 für die Bundesebene, sowie G. Diehl, Städtetag Rheinland-Pfalz (Anm. 11), S. 101 für die Landesebene. 21 Dazu H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben der Kommunalen Spitzenverbände im Bundesstaat, in: T. Mann/G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Berlin 2007, S. 1004 f. 22 Vgl. C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände und der Schutz der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch Verfahren und Verfahrensgestaltung, Baden-Baden 2004, S. 239 f. 23 s. dazu H. G. Henneke, Der Deutsche Landkreistag (Anm. 7), S. 960.
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Gunnar Schwarting
Deutscher Städtetag
Deutscher Städte- und Gemeindebund
Deutscher Landkreistag
Gemeindetag SchleswigHolstein
Landkreistag SchleswigHolstein
Städtetag Niedersachsen
Städte- und Gemeindebund Niedersachsen
Landkreistag Niedersachsen
Städtetag NordrheinWestfalen
Städte- und Gemeindebund Nordrhein-Westfalen
Landkreistag NordrheinWestfalen
Städte- und Gemeindebund Hessen
Landkreistag Hessen
Gemeinde- und Städtebund Rheinland-Pfalz
Landkreistag RheinlandPfalz
Städtetag BadenWürttemberg
Gemeindetag BadenWürttemberg
Landkreistag BadenWürttemberg
Städtetag Bayern
Gemeindetag Bayern
Landkreistag Bayern
219 unmittelbare Mitgliedstädte sowie Berlin Bremen Hamburg
Doppelmitglieder Städteverband Schleswig-Holstein Städtetag Hessen Städtetag Rheinland-Pfalz Städte- und Gemeindetag Saarland
Landkreistag Saarland
Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern
Landkreistag MecklenburgVorpommern
Städte- und Gemeindebund Brandenburg
Landkreistag Brandenburg
Städte- und Gemeindetag Sachsen
Landkreistag Sachsen
Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt
Landkreistag Sachsen-Anhalt
Gemeinde- und Städtebund Thüringen
Landkreistag Thüringen
Schaubild 2: Kommunale Spitzenverbände in Deutschland (ohne sonstige und außerordentliche Mitglieder)
Kommunale Spitzenverbände in Deutschland
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nehmen oder die Sparkassen- und Giroverbände den Kommunen nahe stehende Organisationen vertreten. Für die kommunalen Spitzenverbände ist es daher erforderlich, ihre Arbeit mit diesen Verbänden zu koordinieren; dies geschieht vor allem durch personelle Verflechtungen. Beispiele für diese Aufgabe sind oder waren – die Umsetzung von Leistungsentgelten nach dem TVöD – die Einflussnahme auf die Ausgestaltung der Regulierung der Netznutzungsentgelte – die Auseinandersetzungen mit der Europäischen Kommission um die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Sparkassen. IV. Kommunale Spitzenverbände als Interessenvertretungen Die Aufgabenstellungen sind für alle Verbände in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich sehr ähnlich. Sie haben gegenüber ihren Mitgliedern eine Informationsfunktion, indem sie über neue Vorhaben, Programme oder Gesetzesinitiativen berichten. Daneben organisieren sie den Erfahrungsaustausch unter ihren Mitgliedern in erster Linie durch Ausschüsse, Arbeitskreise oder Tagungen. Diesen internen Aufgaben steht die Interessenvertretung nach außen gegenüber. Dies geschieht in immer stärkeren Maße über die Medien,24 wobei es keineswegs einfach ist, typische kommunale Themen einer breiteren Öffentlichkeit nahe zu bringen. Zunehmende Bedeutung erlangt im Übrigen auch die Präsenz der Spitzenverbände mit eigenen Informationsangeboten im Internet.25 Ihre wichtigste Funktion haben die kommunalen Spitzenverbände jedoch in der Interessenvertretung gegenüber den Ländern, dem Bund und der Europäischen Union. Zu den herausragenden Themen der Arbeit der kommunalen Spitzenverbände zählt daher die Verankerung ihrer Mitwirkungsund Beteiligungsrechte im gesetzgeberischen Verfahren. Dabei ist zwischen der Landes- und der Bundesebene deutlich zu unterscheiden. In den Ländern sind die Beteiligungsrechte der kommunalen Spitzenverbände – wenn auch mit unterschiedlicher Ausformung – gesetzlich verankert. Die rechtzeitige Anhörung der Verbände zu allen kommunalrelevanten Regelungen ist entweder in den Landesverfassungen,26 zumindest aber in den jeweiligen Gemeindeordnungen27 normiert. Darüber hinaus sind in den Geschäftsord24 25 26 27
So S. Articus, Der Deutsche Städtetag (Anm. 15), S. 944. s. G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Anm. 6), S. 972. So H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 987 ff. Vgl. C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände (Anm. 22), S. 192 ff.
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4 Säulen der Verbandsarbeit
Information
Erfahrungsaustausch
Interessenvertretung
Öffentlichkeitsarbeit
In Anlehnung an S. Articus, Der Deutsche Städtetag (Anm. 14), S. 942 ff.
Schaubild 3: Aufgaben kommunaler Spitzenverbände
nungen der Landesregierungen bzw. der Landtage die Verfahrensgänge für die jeweilige Beteiligung geregelt.28 Für die kommunalen Spitzenverbände ist es dabei entscheidend, hinreichend Zeit zu haben, um ihre eigenen Mitglieder bzw. ihre Gremien mit der jeweiligen Angelegenheit zu befassen.29 Da die Geschäftsstellen in den Ländern durchweg nur wenig Personal aufweisen, ist es notwendig, den Sachverstand aus den Mitgliedskommunen heranzuziehen, um finanzielle oder administrative Auswirkungen einzelner Regelungen abschätzen zu können. Dies soll – von Seiten der Länder oft verkannt – auch dazu dienen, den Vollzug von Gesetzen und Verordnungen praktikabel zu gestalten. In Rheinland-Pfalz ist für eine Stellungnahme in der Regel eine Frist von vier Wochen vorgesehen; das wird auch durchweg eingehalten.30 Dabei ist das Anhörverfahren zumeist zweistufig, d.h. der Stellungnahme gegenüber dem regierungsinternen Referentenentwurf folgt eine Stellungnahme in den zuständigen Ausschüssen des Landtages zu dem dann dort vorliegenden Regierungsentwurf. Abweichende Verfahren, wie die Einbringung von Gesetz28 Für Rheinland-Pfalz § 79 Abs. 4 GeschO-LT sowie §§ 11 und 16 der GGO der Ministerien und der Staatskanzlei. 29 So auch C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände (Anm. 22), S. 199 f. 30 So inzwischen in § 4 Abs. 2 Konnexitätsausführungsgesetz (KonnexAG) auch gesetzlich geregelt; andere Bundesländer haben längere Fristen, in Hessen beträgt die Frist gemäß § 2 Abs. 3 des Beteiligungsgesetzes mindestens 2 Monate.
Kommunale Spitzenverbände in Deutschland
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entwürfen durch die Fraktionen werden – insbesondere in dem Fall, dass die Regierungsfraktionen Einbringer sind – von den kommunalen Spitzenverbänden stets sehr kritisch betrachtet, da ihnen damit eine Stufe im Anhörverfahren vorenthalten wird. Wie wichtig es für die kommunalen Spitzenverbände ist, auf die Fristwahrung zu achten, zeigt ein Urteil des niedersächsischen Staatgerichtshofs zum kommunalen Finanzausgleich. In dem Gesetzgebungsverfahren waren außerordentlich kurzfristige Anhörungen terminiert worden. Das war für die Urteilsfindung dennoch unerheblich, denn: „Obwohl somit dem verfassungsrechtlich ausdrücklich verbürgten Anhörungsrecht im Gesetzgebungsverfahren nicht in vollem Umfang Rechnung getragen worden ist, führt das nicht zur Verfassungswidrigkeit des Finanzverteilungsgesetzes, weil sich die kommunalen Spitzenverbände auf dieses Verfahren eingelassen haben.“31 Wesentlich anders stellen sich die Verhältnisse auf der Bundesebene dar. Die Beteiligungsrechte der kommunalen Spitzenverbände sind lediglich in den Geschäftsordnungen der Bundesministerien und des Bundestages enthalten.32 Alle Versuche, die Beteiligung im Grundgesetz zu verankern, sind bisher auf den Widerstand namentlich der Länder gestoßen, die sich im Rahmen der Verfassungsordnung als die Sachwalter der Kommunen ihres Landes verstehen. Mit der Neuregelung des Art. 23 GG zur Beteiligung an Rechtssetzungsprozessen auf der europäischen Ebene sehen sie sich in dieser Position gestärkt.33 Auch in der Föderalismuskommission hat sich die kommunale Forderung nicht durchsetzen lassen.34 Insoweit kommt direkten Kontakten zu den Ministerien und zu den Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein noch größeres Gewicht als auf der Landesebene zu.35 Auch nach der Föderalismusreform I ist ein großer Teil der Gesetzgebungstätigkeit weiterhin im Bundesrat zustimmungspflichtig. Dort gibt es jedoch kein Anhörungsrecht der kommunalen Spitzenverbände; dies gilt erst recht für den Vermittlungsausschuss. In dieser Phase des Gesetzgebungsverfahrens können die kommunalen Spitzenverbände allenfalls über die Länder noch Einfluss nehmen. Hier kommt den kommunalen Spitzenverbänden auf der Landesebene eine zusätzliche eigenständige Bedeutung zu. In der Praxis werden daher nicht selten die Spitzenverbände in den Län31
StGH Nds Urteil vom 16. Mai 2001, StGH 6/99, 7/99, 8/99, 9/99, 1/00, S. 22. Zu den Bestimmungen im Einzelnen vgl. H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 994 ff. Zu einer kritischen Bewertung, vgl. C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände (Anm. 22), S. 217 ff. 33 So H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 998. 34 Hierzu und zu früheren Initiativen ausführlicher H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 1006 ff. 35 Dazu H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 1003 f. 32
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dern in Abstimmung mit den Bundesspitzenverbänden gegenüber ihren jeweiligen Landesregierungen tätig, um auf diese Weise die Entscheidungen im Bundesrat zu beeinflussen; diesem Weg ist angesichts des bereits fortgeschrittenen Verfahrensstandes jedoch nur begrenzt Erfolg beschieden. V. Interessenvertretung oder Lobbyismus? Auf der Bundesebene kommt ein zweites Manko hinzu. Während zu den Anhörungsverfahren in den Ländern ganz überwiegend Vertreter der kommunalen Spitzenverbände herangezogen werden, ist die Struktur und Zahl der Anzuhörenden bei den Bundesministerien bzw. den Ausschüssen des Deutschen Bundestages wesentlich umfangreicher. Die Argumentation der kommunalen Spitzenverbände droht in dieser Vielfalt nicht das Gehör zu finden, das ihr eigentlich zukommen müsste. Hinzu tritt ein enormer Zeitdruck bei der Beratung vieler, oft sehr komplexer Gesetze.36 Eine Beteiligung der kommunalen Praxis vor Ort ist angesichts dessen praktisch unmöglich. Dies ist ein Problem vor allem für die sog. Verbände-Verbände wie den Deutschen Landkreistag und den Deutschen Städte- und Gemeindebund, die lediglich auf die Erfahrungen ihrer Landesverbände zugreifen können. Demgegenüber hat der Deutsche Städtetag als Organisation mit unmittelbaren Mitgliedstädten die Möglichkeit, zu spezifischen Fragen, z. B. der Steuergesetzgebung, Fachleute aus einzelnen Mitgliedstädten heranzuziehen. Eine umfassendere Beteiligung ist aber auch dort nicht möglich. In der Gesamtschau ist die Form der Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände auf der Bundesebene mehr als unbefriedigend; einer sachgerechten Ausgestaltung von Rechtsnormen dienen diese Verfahren nicht. Fehlentwicklungen wie beim Übergang zum Arbeitslosengeld II hätten mit gründlicherer Beratung, ggf. auch Praxistests vermieden werden können. In der Öffentlichkeit, aber auch in der (Bundes-)Politik und in den europäischen Institutionen wird oft übersehen, dass die Kommunen Teil der Staatsorganisation sind und ihre Interessenvertretung damit auch nicht den Charakter des Lobbyismus besitzt. Dies wird nicht nur dadurch unterstrichen, dass die kommunalen Spitzenverbände in den Ländern (verfassungs-)rechtlich eine besondere Stellung einnehmen, auch die Einbindung der kommunalen Spitzenverbände in die Beratungen der Föderalismuskommission trägt „. . . der besonderen Bedeutung der Kommunen als durchgängiger dritter Verwaltungsebene im Ver36 Dies beklagt ausdrücklich H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 995.
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waltungsaufbau der Bundesrepublik Deutschland . . . Rechnung . . .“37 Hinzu kommt, dass die Verbände eine eigene demokratische Begründung ihrer Arbeit für sich beanspruchen können. Denn „. . . die Entscheidungsträger in den kommunalen Spitzenverbänden (können sich) in personell-organisatorischer Hinsicht auf eine ununterbrochene, starke Kette demokratischer Legitimation aus den Kommunalwahlen stützen. Die innerverbandliche Struktur ist auf eine demokratische Wahl der maßgeblichen Organe der Zusammenschlüsse angelegt.“38 Zu Recht spricht Henneke daher von den kommunalen Spitzenverbänden als „Repräsentanten öffentlicher Belange“39. VI. Von der Kommunalen Kammer zum Kommunalen Rat Um den Einfluss der kommunalen Ebene auf die Gesetzgebung zu stärken, ist in der Vergangenheit häufiger die Einrichtung einer sog. Kommunalen Kammer gefordert worden.40 Sie sollte dazu dienen, der kommunalen Ebene eine unmittelbare Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren zu ermöglichen. In der entschiedensten Ausprägung war gedacht, der Kommunalen Kammer sogar ein Vetorecht bei der Gesetzgebung – soweit kommunale Belange berührt seien – einzuräumen.41 Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken ist kritisch allerdings die Frage aufgeworfen worden, inwieweit ein solches Recht zu einer weiteren Erschwernis politischer Entscheidungsprozesse führen würde. In gewissem Sinne Vorbild war der bayerische Senat, der als zweite Kammer fungierte. Seine Besetzung war allerdings keineswegs auf die kommunale Ebene begrenzt, nur 10 % der Mitglieder wurden von den kommunalen Spitzenverbänden entsandt.42 Durch Volksentscheid aus dem Jahre 1998 ist der Senat zudem abgeschafft worden. Derzeit wird der Gedanke einer Kommunalkammer in dieser oder vergleichbarer Ausprägung daher auch eher verhalten betrachtet.43 37
H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 983. C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände (Anm. 22), S. 281. 39 H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 984. 40 Hierzu und zum Folgenden L. Holtkamp, Kommunale Beteiligung an Entscheidungsprozessen der Bundesländer, Zeitschrift für Parlamentsfragen 32 (2001), S. 23 f. 41 So noch jüngst das Wahlprogramm des Landesverbandes der Freien Wähler Rheinland-Pfalz zur Landtagswahl 2006, S. 4. 42 Vgl. L. Holtkamp, Kommunale Beteiligung (Anm. 40), S. 26. 43 Vgl. S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen am Normsetzungsprozess in Rheinland-Pfalz, Aachen 2002, S. 179 ff., der in dem Zusammenhang auf zahlreiche Probleme hinweist. 38
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Eine Sonderentwicklung hat der Gedanke jedoch in Rheinland-Pfalz erfahren. Dort ist 1996 der Kommunale Rat eingeführt worden, der gegenüber dem Landtag eine beratende Funktion ausübt.44 Formal kann er als Beirat des Innenministeriums angesehen werden,45 dessen Minister den Vorsitz im Kommunalen Rat hat. Er besteht aus 27 Mitgliedern, die zu jeweils einem Drittel von den kommunalen Spitzenverbänden benannt werden. Damit sollte der Befürchtung, der Kommunale Rat führe zu einer Schwächung der Verbände, entgegengewirkt werden. Sie haben deshalb auch die Aufgabe übernommen, die Arbeit ihrer Vertreterinnen und Vertreter in dem Gremium zu koordinieren. Dies ist umso wichtiger als nach den Besetzungsregeln des Kommunalen Rates mehr als die Hälfte der Mitgliedschaft aus dem Ehrenamt kommen muss, das mit der konkreten Arbeit der Spitzenverbände weit weniger eng verbunden ist als die hauptamtlichen Beschäftigten der Kommunalverwaltungen. Die Ministerien sind verpflichtet, alle kommunalrelevanten Vorlagen für Gesetze oder andere Rechtsvorschriften dem Kommunalen Rat vorzulegen. Dies sichert indirekt auch den kommunalen Spitzenverbänden noch einmal auf andere Weise ihre Beteiligungsrechte, da die Vorlagen an den Kommunalen Rat auch den Spitzenverbänden zugeleitet werden. Da zudem die Vorsitzenden der drei Spitzenverbände kraft Amtes dem Kommunalen Rat angehören, ist eine enge Verzahnung der Arbeit gelungen. Die Arbeit des Kommunalen Rates wird von seinen Mitgliedern hingegen weniger positiv beurteilt.46 Die Einflussmöglichkeiten werden als gering eingeschätzt, da die Veränderung von vorgelegten Rechtsvorschriften nur selten gelingt. Darüber hinaus wird die Befassung mit zu vielen – auch unwesentlichen – Rechtsvorschriften bemängelt Schließlich sind es aber auch die strikten Quoren, die für Beschlüsse des Kommunalen Rates bestehen, die hohe Anforderungen an die Entscheidungsfindung stellen. Um dem Votum des Kommunalen Rates besonderes Gewicht zu verleihen, aber auch um Zufallskonstellationen zu vermeiden, bedarf es der Anwesenheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder, um wirksame Beschlüsse fassen zu können. Diese benötigen dann wiederum eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Während die zweite Anforderung in der Regel erfüllt wird, mangelt es verschiedentlich an der Beschlussfähigkeit. „Das häufige Fehlen von Mitgliedern ist angesichts der Tatsache unverständlich, dass der Kommunale 44 Zum Kommunalen Rat grundlegend S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen (Anm. 43), S. 98 ff. 45 Ähnlich S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen (Anm. 43), S. 111. 46 So das Befragungsergebnis bei S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen (Anm. 43), S. 120.
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Rat ein Organ zur Durchsetzung kommunaler Interessen ist.“47 Das hat den Innenminister Ende 2006 veranlasst, an die kommunalen Spitzenverbände die Frage zu richten, ob nicht auch ein geringeres Quorum für die Beschlussfähigkeit zu akzeptieren sei.48 Diesen Schritt ist der Kommunale Rat dann jedoch nicht gegangen. VII. Der Kampf um das Konnexitätsprinzip Eine der kritischsten Fragen im Verhältnis zwischen staatlicher und kommunaler Ebene ist die Begründung neuer Aufgaben für die Kommunen durch den Gesetzgeber. Das bekannteste Beispiel dürfte die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz gewesen sein. Die Zuweisung neuer Aufgaben verursacht nicht nur finanzielle Lasten der Kommunen, sie schränkt auch die personellen und materiellen Ressourcen der Kommunen zur Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben ein. Daher hatten die kommunalen Spitzenverbände seit jeher die Einführung des Konnexitätsprinzips verlangt. Dabei steht der Gedanke, die Begründung neuer Aufgaben zu reduzieren, im Vordergrund. Mit der dem Konnexitätsprinzip immanenten Kostenfolge für die Auferlegung von Pflichten wird der Gesetzgeber veranlasst, sein eigenes Handeln kritisch zu prüfen.49 Die Einführung des Konnexitätsprinzips ist auf der Ebene der Länder inzwischen durchgängig gelungen.50 In Rheinland-Pfalz ist dies mit der Änderung der Landesverfassung am 27. Mai 2004 vergleichsweise spät erfolgt. Vorangegangen war eine Empfehlung der Enquête-Kommission „Kommunen“. „Überträgt nun das Land den rheinland-pfälzischen Gemeinden und Gemeindeverbänden die Erfüllung öffentlicher Aufgaben oder reglementiert es die Erfüllung bestehender oder neuer Aufgaben, so hat es gleichzeitig die Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen; dasselbe gilt auch für die Belastung der Kommunen mit Finanzierungs47
S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen (Anm. 43), S. 117. Schreiben von Staatsminister Bruch an die Kommunalen Spitzenverbände vom Dezember 2006. 49 Ob das Konnexitätsprinzip dazu führt, dass politische Innovationen gehemmt werden, lässt sich bisher nicht belegen. Diese These vertreten S. Benzing/C. Knill/M. Bauer, Hemmt das Konnexitätsprinzip politische Innovation?, DÖV 2007, S. 550 ff. Das von ihnen herangezogene Beispiel der Einführung der Doppik in Bayern ist nur begrenzt geeignet. Zwar hat Bayern zur Vermeidung von Konnexitätsfolgen die Wahlmöglichkeit zwischen Doppik und Kameralistik zugelassen; andere Bundesländer jedoch haben in Übereinstimmung mit den Kommunalen Spitzenverbänden keinen Anwendungsfall für das Konnexitätsprinzip gesehen. 50 Zu einem Überblick vgl. W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ – Die Einführung des Konnexitätsprinzips in Rheinland-Pfalz, der gemeindehaushalt 2006, S. 121 ff. 48
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pflichten. Führt die Erfüllung dieser Aufgaben und Pflichten zu einer Mehrbelastung der Gemeinden und Gemeindeverbände, ist ein entsprechender finanzieller Ausgleich zu schaffen.“51 Zur Konkretisierung ist ein Konnexitätsausführungsgesetz erlassen worden, das zunächst regelt, wann ein Fall von Konnexität überhaupt vorliegt. Besonders problematisch ist dabei der Fall, dass die Übertragung von Aufgaben auf Grund bundes- oder europarechtlicher Regelungen erfolgt. Das Konnexitätsprinzip greift hier nur insoweit, als dem Land ein eigener Gestaltungsspielraum gegeben ist. Als Beispiel kann die Umsetzung der Dienstleistungrichtlinie der Europäischen Union dienen. Danach ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, sog. Einheitliche Ansprechpartner zu schaffen, die als zentrale Anlaufstelle für Unternehmer fungieren, die Dienstleistungsaufträge in einer Region ausführen wollen. In Deutschland obliegt die Umsetzung den Ländern.52 Wenn und soweit sie die Kommunen mit dieser Aufgabe betrauen, anstatt sie einer eigenen Behörde zuzuweisen, nutzen sie ihren – dann auch konnexitätsrelevanten – Gestaltungsspielraum aus. Im Weiteren regelt das Gesetz Bagatellfälle, um eine gewisse Praktikabilität in der Handhabung zu gewährleisten. Regelungen, die keine wesentliche Mehrbelastung – dies sind 0,25 Euro je Einwohner – verursachen, sind von der Erstattungsregelung ausgenommen.53 Die Kostenermittlung obliegt dem für die jeweilige Regelung zuständigen Ministerium. Dabei ist eine gemeindespezifische Kostenschätzung nicht erforderlich; Durchschnittswerte sind zulässig.54 Kontrovers geführt wurde die Diskussion über die Art der Deckung der Kosten. Dabei war zwar unstrittig, dass ein Ausgleich aus Mitteln des Kommunalen Finanzausgleichs – eine in der Vergangenheit häufiger geübte Praxis – nicht in Betracht komme.55 Schwierig war hingegen der Vorschlag, die Schaffung von Einnahmequellen oder die Erweiterung bestehender Einnahmemöglichkeiten als Ausgleich heranzuziehen; die kommunale Seite sah nicht nur erhebliche Interpretationsschwierigkeiten, sondern auch die Gefahr eines Drucks zur Erhöhung öffentlicher Abgaben. Auch der Verweis auf Ausgabenersparnisse, die zur Deckung eines konnexitätsbedingten Mehraufwands in Betracht zu ziehen seien, wurde mit Skepsis aufgenommen.56 Das Land hat jedoch an diesen Bestimmungen festgehalten.57 51
W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 123. Art. 6 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU vom 27.12.2006. 53 Vgl. W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 123. 54 Vgl. W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 124. 55 So auch W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 125. 52
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Im Verfahren haben die kommunalen Spitzenverbände die Funktion des Interessenwahrers der Kommunen; ihre Stellung im Gesetzgebungsprozess ist damit erheblich gestärkt worden. Die Regelungsentwürfe sind ihnen mit einer Frist zur Stellungnahme von mindestens 4 Wochen zuzuleiten. Kommt es dabei zum Dissens über die Kostenverursachung, die Kostenfolgen oder die Kostendeckung, soll ein Konsensgespräch stattfinden.58 Dieser Fall ist in Rheinland-Pfalz beim Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder eingetreten und nach längeren Verhandlungen zufrieden stellend gelöst worden. Dabei hat es sich als sehr zweckmäßig erwiesen, dass das Finanzministerium von Anbeginn in die Gespräche eingebunden war. Alle Versuche, eine vergleichbare Regelung auf Bundesebene zu schaffen, sind hingegen gescheitert. Stattdessen ist es nunmehr durch Änderung von Art. 84 Abs. 1 GG vom 28. August 2006 dem Bund untersagt, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Damit erübrigt sich natürlich der Konnexitätsgedanke; ob damit eine für die Kommunen gute Lösung gefunden wurde, muss allerdings offen bleiben. Denn bisher direkte Beziehungen zwischen dem Bund und den Kommunen wie in der Städtebauförderung oder in der Gemeindeverkehrsfinanzierung sind nunmehr in die Obhut der Länder gegeben. Zwar sind die bisherigen Förderprinzipien zunächst festgeschrieben worden; auf längere Sicht bestimmen jedoch die Länder Struktur und Inhalt der jeweiligen Programme. VIII. Konsultation – neue Beteiligungsform? Ein nahezu „klassisches“ Feld der Auseinandersetzung zwischen Ländern und Kommunen ist der Finanzausgleich.59 Dabei geht es in erster Linie um die Dotation der Finanzausgleichsmasse, daneben aber auch um die Verteilung ungebundener und zweckgebundener Mittel. Nach zahlreichen, z. T. sehr willkürlichen Eingriffen in die Ausgleichsmasse hat die Rechtsprechung inzwischen die Wahrung kommunaler Belange vor allem durch prozedurale Anforderungen gestärkt. Den Beginn setzte ein Urteil des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg60, der vor Entscheidungen über den kommunalen Finanzausgleich einen verfahrensrechtlichen Schutz der kom56 So ist im Rahmen der Konnexitätsgespräche zum Ausbau der Tagesbetreuung in Kindertagesstätten das Vorziehen des Einschulungsalters als Entlastungsargument herangezogen worden. 57 Dazu W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 124. 58 Vgl. W. Müller/H. Meffert, „Wer bestellt, der bezahlt!“ (Anm. 50), S. 122. 59 Einen exzellenten Überblick über die Entwicklung in den einzelnen Bundesländern bietet der jährliche Gemeindefinanzbericht des Deutschen Städtetages in der Zeitschrift „der städtetag“. 60 Urteil vom 10. Mai 1999 – GR 2/97 –, BWGZ 1999, S. 530.
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munalen Selbstverwaltungsgarantie verlangte. Darauf hin hat das Land mit den kommunalen Spitzenverbänden am 17. Januar 2000 eine Vereinbarung zur Bildung einer paritätisch besetzten Finanzverteilungskommission abgeschlossen. Sie erstattet für den Fall einer vorgesehenen Veränderung des Finanzausgleichs dem Landtag einen Bericht.61 Eine ganz ähnliche Vereinbarung haben die kommunalen Spitzenverbände auch mit der Landesregierung in Rheinland-Pfalz am 15. März 2001 getroffen.62 Die Zusammensetzung und Arbeitsweise der rheinland-pfälzischen Finanzausgleichskommission entspricht dem baden-württembergischen Modell. Der Vorsitz wechselt jährlich zwischen der kommunalen und der staatlichen Seite; die Geschäftsführung obliegt dem Finanzministerium. Die Kommission soll vor allem „. . . die Grundlagen für einen aufgabengerechten vertikalen Finanzausgleich unter Berücksichtigung der Gleichrangigkeit der Aufgaben und der Leistungsfähigkeit des Landes und der kommunalen Gebietskörperschaften nachvollziehbar . . .“63 ermitteln. Im Anschluss daran können Vorschläge zur Änderung der Finanzverteilung zwischen Land und Kommunen dem Landtag und der Landesregierung unterbreitet werden. Dazu ist es allerdings bislang nicht gekommen, da Land und Kommunen über die dabei anzulegenden Maßstäbe, anders als offenbar in Baden-Württemberg, keine Einigung erzielen konnten. Auch wenn die Stellung der kommunalen Spitzenverbände als Repräsentanten der Kommunen durch die Bildung derartiger fester Kommissionen und ein verbrieftes Konsultationsrecht gestärkt wird, bleibt die Zusammensetzung unbefriedigend. Im Konfliktfall kommen keine Entscheidungen zustande, so dass der Landesgesetzgeber auf kein Votum zurückgreifen kann. In der Enquête-Kommission „Kommunen“ des Landtages Rheinland-Pfalz ist daher erwogen worden, die Finanzausgleichskommission um „neutrale“ Mitglieder zu erweitern. In Anlehnung zu der in Hessen getroffenen Regelung sollten dies der Präsident des Landesrechnungshofes und zwei Sachverständige mit besonderem finanz- oder rechtswissenschaftlichem Sachverstand sein.64 Die Kommission hat diesen Vorschlag allerdings abgelehnt, so dass es bei der oben geschilderten Zusammensetzung verbleibt.
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Der aktuelle Bericht datiert vom 13. Dezember 2006, LT-Drs. 14/724. Zu weiteren Beispielen vgl. H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 991 ff. 63 So der Wortlaut von § 2 Abs. 1 der Vereinbarung in Rheinland-Pfalz, darüber hinaus kann die Kommission auch Fragen des horizontalen Finanzausgleichs und den Umfang von Zweckzuweisungen beraten. 64 Vorschlag der Sachverständigen Prof. Schoch und Prof. Wieland; vgl. Bericht der Enquête-Kommission 14/1 „Kommunen“ LT-Drs. 14/4600, S. 46. 62
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IX. Kommunale Selbstverwaltung und Europa Ungelöst ist weiterhin die Frage der Interessenvertretung gegenüber der Europäischen Union. Zwar haben die kommunalen Spitzenverbände mit ihrem „Brüssel-Büro“ eine Repräsentanz auf der europäischen Ebene, sie verfügen jedoch nicht über die Ressourcen, um die Arbeit von Parlament und Kommission umfassend zu beobachten und zugleich frühzeitig die kommunalen Positionen aus Deutschland einzubringen. Zudem ist zu beachten, dass das „Brüssel-Büro“ keinen rechtlich abgesicherten Status im Entscheidungsverfahren der EU besitzt, wie dies für die kommunalen Spitzenverbände in Deutschland gilt, und insoweit auch kein privilegierter Gesprächspartner der Kommission oder des Parlamentes ist.65 Das für lokale Belange maßgebliche Gremium auf europäischer Ebene ist der Ausschuss der Regionen.66 Er hat zwar nur beratende Funktion, übt aber auf Grund seiner besonderen institutionellen Verankerung faktisch einigen Einfluss aus.67 Deutschland entsendet 24 Mitglieder in den Ausschuss; davon werden allerdings nur drei von den Kommunalen Spitzenverbänden nominiert. Die übrigen Sitze haben die Bundesländer für sich mit dem Argument reklamiert, sie seien die regionale Ebene in Deutschland.68 Hinzu kommt, dass aus europäischer Perspektive allenfalls die Betroffenheit der lokalen Ebene in allen Mitgliedstaaten von Bedeutung ist. Das erfordert die Koordination der deutschen Vorstellungen mit den Forderungen der Kommunen anderer Mitgliedstaaten. Das ist – in Anbetracht der sehr differenzierten Kommunalstrukturen in der Europäischen Union – keineswegs einfach. Über die gemeinsame Abstimmung von Positionen mit einzelnen Kommunalverbänden ist diese Koordination bisher nicht hinausgegangen. Zu der durchaus naheliegenden Lösung der Bildung eines kommunalen Spitzenverbandes auf der europäischen Ebene ist es bislang nicht gekommen. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) kann diese Funktion nicht ausfüllen, da er sich vor allem der Partnerschaftsarbeit und dem Erfahrungsaustausch widmet. Dieser Befund ist umso gravierender, als bei der späteren Umsetzung europäischer Rechtsnormen in das nationale Recht der Spielraum für eine kommunale Interessenvertretung außerordentlich gering ist. Nach dem Zusammenarbeitsgesetz, das die Anforderungen der Beteiligung der Bundes65
Dazu H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 1006. Zum Ausschuss ausführlicher C. Schrader, Die kommunalen Spitzenverbände (Anm. 22), S. 220 ff. 67 So S. Weinberg, Die Beteiligung der Kommunen (Anm. 43), S. 161. 68 Darüber hinaus wird argumentiert, die Stadtstaaten seien auch der kommunalen Ebene zuzurechnen. 66
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länder bei Vorhaben der Europäischen Union nach Art. 23 Abs. 7 GG bestimmt, müssten die Bundesländer ihre Kommunen in ihren Entscheidungsprozess zu europäischen Belangen einbeziehen. Eine solche Konsultation findet jedoch keineswegs kontinuierlich statt.69 Daher müssen die kommunalen Spitzenverbände auf der Bundesebene versuchen, die Bundesregierung oder die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Vorfeld von Entscheidungen für ihre Anliegen zu gewinnen. Da aber die kommunalen Fragestellungen oft nur einen Teilbereich erfassen, kann es durchaus geschehen, dass andere – aus Sicht der Bundesregierung oder des Europäischen Parlaments wichtigere – Themen dominieren. So ist bei der im Dezember 2006 verabschiedeten Dienstleistungsrichtlinie intensiv über die Frage diskutiert worden, ob die Entlohnung von Arbeitnehmern ausländischer Dienstleistungsanbieter nach dem Herkunftslandprinzip Geltung haben solle. Die für die Kommunalverwaltungen viel wichtigere Problematik, wie das „Normen-Screening“ oder die Einrichtung des sog. Einheitlichen Ansprechpartners zu bewältigen sind, traten dagegen völlig in den Hintergrund. X. Ausblick Die kommunalen Spitzenverbände haben ihre Position in den bald 150 Jahren seit den ersten Gründungen auf regionaler Ebene erheblich stärken können. Sie sind heute unumstrittene Sachwalter kommunaler Interessen und unverzichtbarer Bestandteil im demokratischen Entscheidungssystem. Mit der Verankerung des Konnexitätsprinzips und einer schrittweisen Verbesserung ihrer Beteiligungsrechte in den Ländern haben sie entscheidende Erfolge erzielen können. Dazu hat zweifellos die Professionalisierung der Verbände beigetragen, deren Geschäftsstellen über viele exzellente Fachkenner verfügen. Aber auch das Wirken der Verbände in die Wissenschaft70 hat dazu geführt, das Verständnis für kommunale Belange in der Fachöffentlichkeit zu stärken. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung vor allem zum Finanzausgleich die finanzielle Absicherung kommunaler Selbstverwaltung präzisiert und den Schutz kommunaler Interessen, insb. den Schutz lokaler Interessen gestärkt. 69
In Rheinland-Pfalz ist ein solches Verfahren seit vielen Jahren nicht (mehr) er-
folgt. 70 Hervorzuheben sind hier zunächst die Professorengespräche des Deutschen Landkreistages; vgl. dazu H. G. Henneke, Der Deutsche Landkreistag (Anm. 7), S. 957 f. Wichtig ist aber auch die langjährige Verbindung des Deutschen Städtetages zur DHV Speyer; mehrere Hauptgeschäftsführer waren hier während ihrer aktiven Zeit lehrend tätig.
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Gleichwohl sind die Einwirkungsmöglichkeiten der kommunalen Spitzenverbände gerade auf der Bundes-, noch stärker aber auf der europäischen Ebene noch unzureichend. Deshalb behält die Forderung, die Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände bei Entscheidungen des Bundes – unter Einschluss des Bundesrates – im Grundgesetz zu verankern,71 nach wie vor Gültigkeit. Ebenso wichtig ist die im Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag vorgesehene Konsultationspflicht der repräsentativen Verbände.72 Ob das allerdings auf die nationalen Repräsentanten oder aber eher gesamteuropäisch agierende Institutionen bezogen werden würde, muss an dieser Stelle offen bleiben. Schließlich stellt sich die Frage, ob nicht eine Einrichtung wie der Kommunale Rat in Rheinland-Pfalz ein geeignetes Forum zur Artikulation kommunaler Belange werden kann.73 Trotz der Skepsis, die gerade die Beteiligten diesem Gremium entgegenbringen, könnte mit institutionellen Verbesserungen die Durchsetzungskraft gestärkt werden. Hierzu könnte nicht nur eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit beitragen; zu denken ist auch an eine Berichtspflicht gegenüber dem Kommunalen Rat, wenn Regierung oder Landtag seinem Votum nicht folgen. Das allerdings setzt voraus, dass auch die kommunalen Vertreter in dem Gremium selbst eine aktivere Rolle als bisher spielen und mit Anträgen ihr Initiativrecht nutzen.
71 Dazu ausführlich H. G. Henneke, Funktionen und Aufgaben (Anm. 21), S. 1006 ff. 72 So G. Landsberg, Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Anm. 6), S. 975 f. 73 Eine ähnliche Ansicht vertritt L. Holtkamp, Kommunale Beteiligung (Anm. 40), S. 29 ff.
Kommunalrecht und Rechtsstaatsprinzip Rolf Stober I. Heinrich Siedentopf als Kommunalrechtsforscher Heinrich Siedentopf hat auf vielen Feldern im Spannungsbogen zwischen Verwaltungswissenschaft, Verwaltungsrecht, Verwaltungspolitik und Verwaltungspraxis gearbeitet. Zu seinen speziellen Forschungsinteressen gehört das kommunale Selbstverwaltungsrecht, das er mehrfach monographisch untersucht hat. Dabei lag ihm besonders die Stellung der Städte und Gemeinden im Gesamtgefüge der Staats- und Verwaltungsfunktionen am Herzen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, den Jubilar mit einem Beitrag zu ehren, der sich mit dem Verhältnis von Kommunalrecht und Rechtsstaat befasst. Dabei handelt es sich einerseits um ein klassisches Thema zwischen Verfassungs- und Selbstverwaltungsrecht. Andererseits befindet sich der Rechtsstaat ständig in Bewegung und bringt neue Facetten und Differenzierungen hervor, die das Recht optimieren und die nachfolgend aus zwei Perspektiven beleuchtet werden: Dem rechtsstaatlichen Status der Gemeindeangehörigen im Kommunalrecht und der Aufsicht über die Kommunen. II. Der rechtsstaatliche Status der Gemeindeangehörigen im Kommunalrecht 1. Abgrenzung der Rechtsstellung Der rechtsstaatliche Status der Gemeindeangehörigen ist von ihrer demokratischen und ihrer sozialstaatlichen Rechtsstellung zu differenzieren. Die rechtsstaatlich-verfahrensrechtliche Komponente gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass die Gemeindeangehörigen auf vielfache Weise auf die Hilfe der Kommunen zur Realisierung ihrer materiellen Rechte und insbesondere zur Verwirklichung ihrer Grundrechte angewiesen sind. Dieser Entwicklung haben die Gemeindeordnungen durch die Aufnahme entsprechender Rechtspositionen Rechnung getragen. Ferner sind technische und gemeinschaftsrechtliche Entwicklungen zu berücksichtigen.
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2. Einzelne Rechtspositionen a) Beratungs- und Auskunftsrecht für Einwohner Die Gemeinden sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Einwohner in Angelegenheiten ihres Aufgabenbereiches beraten sowie über Zuständigkeiten in Verwaltungsangelegenheiten Auskünfte erteilen. Sie haben ferner Ansprüche nach den Informationsfreiheitsgesetzen zu erfüllen: Die Grenze liegt bei der Rechtsberatung, zu der die Gemeinden nicht berechtigt sind. Der damit zusammenhängenden Informationsverantwortung kommen die Gemeinden durch die Schaffung von Bürgerberatungsstellen, Servicezentren und ähnlichen Einrichtungen sowie durch Internetangebote nach. b) Hilfe in Verwaltungsverfahren und Schaffung einheitlicher Ansprechstellen Die Gemeinden sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Verwaltungskraft ihren Einwohnern bei der Einleitung von Verwaltungsverfahren auch dann behilflich zu sein, wenn für deren Durchführung der Kreis oder eine andere Behörde zuständig ist. Ferner sollen die Gemeinden Anträge und Erklärungen, die bei dem Kreis oder anderen Stellen einzureichen sind, entgegennehmen und weiterleiten. Die Einreichung bei der Gemeinde gilt hinsichtlich der Fristwahrung als bei der zuständigen Behörde vorgenommen. Insoweit wird die Gemeinde als Einwohneranlaufstelle und als Serviceeinrichtung verstanden, die u. a. Briefkastenfunktion hat. Derartige Rechte dienen insbesondere einer bürgernahen Verwaltung, die nicht unter verwaltungsorganisatorischen Kompliziertheiten leiden soll. In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, die Verwaltungsdienstleistungen mehr zu bündeln und zu vernetzen. Endpunkt dieses auch von der Europäischen Gemeinschaft in Art. 6 der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt geforderten Konzeptes ist die Schaffung einheitlicher Ansprechstellen im Sinne von sog. One Stop Agencies1. Zur Zeit ist aber noch nicht geklärt, bei welchen Verwaltungsträgern diese Funktion angesiedelt wird. c) Rechtsstaatlich motivierte elektronische Kommunalverwaltung Eine rechtsstaatlich gut aufgestellte Kommunalverwaltung bedient sich darüber hinaus der zahlreichen modernen Möglichkeiten der elektronischen 1 Siehe näher R. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl., 2006, § 34 III 4; R. Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl., 2007, § 5 VIII m. w. N.
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Verwaltung (Electronic Government, Electronic Administration), um kommunalrelevante Rechte der Bürger und Einwohner zu realisieren. Beispiele: Die Bürger können über allgemein zugängliche Internet-Homepages der Kommunen jederzeit online Rechtsvorschriften, Förderprogramme, Pläne, Termine, Formulare für Genehmigungen, Anmeldungen und Ummeldungen abrufen und bearbeiten. Diese moderne Form der vernetzten Verwaltung entlastet von Behördengängen, gestattet einen leichten Zugang zur Verwaltung und erlaubt eine effiziente, serviceorientierte Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten. Sie trägt deshalb zu einer transparenten Verwaltungsführung auf der Kommunalebene bei. III. Staatliche Rechts- und Fachaufsicht 1. Rechtsaufsicht a) Grundlagen und Bedeutung Wenn sich die Bundesländer in Gemeinden gliedern und nach der Funktionenordnung die Verwaltung auch den Gemeinden obliegt (Art. 69 bwVerf., Art. 11 bayVerf., Art. 3 Abs. 2 nwVerf., Art. 117 saVerf.), dann ergibt sich aus dieser Aufteilung gleichzeitig die Verantwortung des Landes für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung durch die Gemeinden (Art. 75 bwVerf., Art. 83 Abs. 4 bayVerf., Art. 57 Abs. 5 ndsVerf., Art. 78 Abs. 4 nwVerf.). Die Beaufsichtigung und Überwachung der Gemeinde ist selbstverständliches Korrelat der Gewährleistung und Einräumung von Verwaltungsbefugnissen. Staatsdistanz heißt nicht Staatsfreiheit. Sie ergibt sich aus dem parlamentarischen System und der allgemeinen Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG, Art. 25 Abs. 2 bwVerf., Art. 2 Abs. 2 ndsVerf., Art. 3 Abs. 3 sächsVerf.). Diese Charakterisierung schließt es nicht aus, die Aufsicht über die Kommunen gleichzeitig als Essentiale der Selbstverwaltung zu qualifizieren, weil ein notwendiges Gegenstück zwangsläufig auch ein Teil der rechtsstaatlichen Vernetzung ist2. Die Kontrolle der Gemeinde gehört daher notwendig zum Körperschaftsstatus der Gemeinde3 und zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes sowie der jeweiligen Landesverfassungen. Allerdings muss die Überwachung der Kommunen nicht nach einem einheitlichen Muster 2
Unklar hinsichtlich der Einordnung W. Kahl, Staatsaufsicht, 2000, S. 498 ff. sowie W. Kluth in: Wolff/Bachof/Stober (Hrsg.), Verwaltungsrecht, Band 3, 5. Aufl., 2004, § 94 III 1. 3 BVerfGE 6, 104, 118; 78, 331, 341.
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erfolgen4. Sie ist vielmehr aufgabenbezogen und orientiert sich an dem jeweiligen Aufgabentyp bzw. danach, ob die Verwaltung dezentral oder lediglich dekonzentriert erfolgt. Insoweit ist zwischen Rechtsaufsicht und Fachaufsicht zu unterscheiden. Die Rechtsaufsicht (z. T. auch Kommunalaufsicht genannt) ist notwendige Bedingung und Folge der eigenverantwortlichen kommunalen Selbstverwaltung im Rahmen mittelbarer Staatsverwaltung5. Sie bezweckt eine Rechtmäßigkeitskontrolle und stellt sicher, dass die Gesetze beachtet werden (Art. 75 Abs. 1 bwVerf., Art. 83 Abs. 4 bayVerf., Art. 137 Abs. 3 heVerf., Art. 78 Abs. 4 nwVerf.). Da Staats- und Selbstverwaltung zwar organisatorisch getrennt sind, funktional jedoch eine Einheit bilden, muss der Staat letztlich dafür Sorge tragen, dass die Verwaltungsaufgaben innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung rechtmäßig durchgeführt werden und der auch in Art. 28 Abs. 2 GG angesprochene Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung eingehalten wird6. Bei den Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde (freiwillige Aufgaben und Pflichtaufgaben) ist der Staat grundsätzlich auf eine Rechtmäßigkeitsaufsicht beschränkt. Soweit Maßstäbe des Rechts fehlen, mangelt es der Rechtsaufsicht an einem Kontrollmaßstab7. Insoweit ist zu beachten, dass die Aufsichtsbehörde rechtsmethodisch die gleichen Schritte wie ein Gericht bei der richterlichen Kontrolle einer Verwaltungsentscheidung zu vollziehen hat. In diesem Sinne sind Ermessensfehler Rechtsfehler im Sinne des § 40 VwVfG, § 114 VwGO und Beurteilungsspielräume können nur hinsichtlich begangener Beurteilungsfehler geprüft werden8. Einen prognostischen Anteil enthält auch das Urteil über die gesundheitliche Eignung eines Bewerbers für den kommunalen Dienst. Wenn entsprechende Rechtsgrundlagen fehlen, darf die Aufsichtsbehörde nicht verlangen, dass die Gemeinde jeden Beamtenbewerber einem HIV-Test unterzieht9. 4
Siehe zu differenzierenden Ansätzen auch K.-P. Schröder, Grundfragen der Aufsicht in der öffentlichen Verwaltung, in: JuS 1986, S. 371 f. 5 Siehe näher U. Theobald, Beratende Äußerung des sächsischen Rechnungshofes zur Kommunalaufsicht vom Januar 2006 – Bericht und Ausblick, in: LKV 2007, S. 200 ff. 6 Siehe zur Entwicklung der Staatsaufsicht über die Gemeinden L. Schrapper, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und staatliches Genehmigungsrecht, 1992 und ferner S. Bethge, Parlamentsvorbehalt und Rechtssatz – Vorbehalt für die Kommunalverwaltung, in: NVwZ 1983, S. 577; D. Ehlers, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, in: DVBl. 1986, S. 912, 919. 7 BVerfGE 78, 331, 342 f.; siehe näher Stober, Verwaltungsrecht I (Anm. 1), § 31 III u. IV. 8 BVerfGE 78, 331, 343. 9 BayVGH, in: NJW 1989, S. 790.
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Sachlich ist Kommunalaufsicht Beobachtung und Beeinflussung einschließlich Berichtigung des Handelns, Duldens und Unterlassens des Selbstverwaltungsträgers10. Das bedeutet, dass die Aufsichtsbehörde nicht an Stelle der Gemeinde gestaltend und steuernd eingreifen darf. Allerdings kann die allgemein streng durchgeführte Trennung zwischen Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitsprüfung im Einzelfall verschwimmen. Das ist insbesondere der Fall, wenn Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte rechtssatzmäßig formuliert und vorgeschrieben werden. Sie geben dann in einem anderen Gewande den Kontrollmaßstab für die Rechtsaufsicht ab11. Grundgesetz und Landesverfassungen bieten den Gemeinden gegen eine derartige Rechtsetzung keinen Schutz. Systematisch ist zwischen der nachträglich wirkenden repressiven Aufsicht und der vor Vollendung eines gemeindlichen Rechtsaktes einsetzenden präventiven Rechtsaufsicht zu trennen12. Die Kommunalgesetze normieren unter dem Thema „Aufsicht“ zusammenhängend nur die repressive Rechtsaufsicht, während sich präventive Aufsichtsvorgänge verstreut in einzelnen Vorschriften finden. Für den Einsatzbereich der repressiven Aufsicht wird teilweise auch ein dreiphasiges Vorgehen empfohlen: Vorklärung, Korrektur- und Zwangsphase13. Es spiegelt jedoch nur deklaratorisch den für alle Aufsichtsmaßnahmen geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Staatsaufsicht und Selbstverwaltung stehen folglich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Weder darf die Aufsicht die verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstverwaltung aushöhlen, noch darf sich die Selbstverwaltung aus der in Art. 28 Abs. 2 GG festgelegten Verantwortung innerhalb der Staatsorganisation lösen. Es bedarf deshalb einer, wenn auch nur distanzierten, Kooperation zwischen der staatlichen Aufsichtsinstanz und der Gemeinde, die für den Träger der Aufsicht durch den auch in Art. 8 Abs. 3 Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ausdrücklich erwähnten14 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt wird. Denn es versteht sich von selbst, dass jede Form der Beaufsichtigung unter dem Vorbehalt 10 J. Salzwedel, Staatsaufsicht in der Verwaltung, in: VVDStRL 22 (1965), S. 213; Schröder, Grundfragen der Aufsicht (Anm. 4), S. 371; BVerwG, in: DÖV 1972, S. 723. 11 F. Schnapp, in: A. von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft: Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg-Christoph von Unruh, 1983, S. 881, 895. 12 Kluth, Verwaltungsrecht Band 3 (Anm. 2), § 94 III. 13 Siehe näher Kahl, Die Staatsaufsicht (Anm. 2), § 11 VI und im Anschluss J. Oebbecke, Kommunalaufsicht – nur Rechtsaufsicht oder mehr?, in: DÖV 2001, S. 406, 409. 14 Siehe dazu B. Schaffarzik, Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 2002, § 28.
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der Geeignetheit sowie des geringstmöglichen Eingriffs steht15 und es in jedem Fall einer sorgfältigen Abwägungsentscheidung unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit bedarf. b) Kommunalaufsicht und Gemeinschaftsrecht Aufgrund des anerkannten Vorrangs des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber dem Kommunalrecht leuchtet ein, dass die Kommunalaufsicht den Einklang des Kommunalrechts mit dem Gemeinschaftsrecht kontrollieren muss. Das ist deshalb zwingend erforderlich, weil die Kommunen ein essentieller Teil der mitgliedstaatlichen Verwaltung sind, die insbesondere im Interesse der Einheitlichkeit des Verwaltungsrechts im Verwaltungsbinnenmarkt als Bestandteil der gesamteuropäischen Verbundverwaltung die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben sicherstellen muss. Insofern ist die Kommunalaufsicht zugleich ein Garant des europäischen Gesetzesvollzugs auf der Lokalebene16. c) Kein Bürgeranspruch auf Einschreiten der Rechtsaufsicht In den bisherigen Ausführungen war nur von dem Rechts- und Aufsichtsverhältnis zwischen Staat und Gemeinde die Rede. Davon ist das Problem zu trennen, ob die Aufsichtsregeln auch das Rechtsverhältnis der Gemeindebürger gegenüber dem Staat tangieren. Die Gemeindeordnungen nehmen zur Frage der subjektivrechtlichen Ausgestaltung des Aufsichtsrechts keine Stellung. Deshalb ist der Bürgerstatus durch Auslegung der einschlägigen Vorschriften zu ermitteln. Dabei ist entscheidend, ob Aufsichtsbestimmungen mindestens auch im Interesse der Gemeindebürger erlassen sind17. Hierzu ist zu bemerken, dass die Aufsichtsnormen primär das Verhältnis Staat-Gemeinde festlegen. Sie sind Ermächtigungsgrundlage und Organisationsnorm. Sie sind nicht einmal beiläufig den Interessen der Bürger zu dienen bestimmt, weil sie – wie der eindeutige Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen zeigt – nur die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips und der sachgerechten Gemeindeverwaltung im Interesse der Einheitlichkeit der Verwaltung bezwecken. Dabei geht es ausschließlich um die Einhaltung der in den jeweiligen Gesetzen angelegten objektivrechtlichen Schranken des 15 D. Kallerhoff, Das kommunalaufsichtliche Beanstandungs- und Aufhebungsrecht in der Rechtsprechung des OVG NW, in: NWVBl. 1996, S. 53 f. 16 Stober, Verwaltungsrecht I (Anm. 1), § 1 I 3, § 3 IV, § 6 II, § 12 IV und § 17; D. Ehlers, Kommunalaufsicht und europäisches Gemeinschaftsrecht, in: DÖV 2001, S. 412 ff. 17 Siehe zu dieser Voraussetzung Stober, Verwaltungsrecht I (Anm. 1), § 43 IV 3.
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kommunalen Handelns18. Hinzu kommt, dass selbst die Aufsichtsbehörden nicht zum Einschreiten verpflichtet sind, weil grundsätzlich das Opportunitätsprinzip gilt. Angesichts dieser rechtsstaatlich motivierten, auf objektive Rechtmäßigkeit gerichteten Kontrolle haben Gemeindebürger keinen Rechtsanspruch auf Einschreiten der Aufsichtsbehörde19. Sie können allenfalls eine aufsichtsrechtliche Prüfung einer Angelegenheit anregen. Sie wäre als Aufsichtsbeschwerde zu qualifizieren, die aber keine Rechtswirkungen entfaltet20. Gleichwohl sind Kommunen gut beraten, Bürgerkritik in Stellen zu bündeln, die sich mit Beschwerdemanagement befassen. d) Aufsichtszwecke und Aufsichtsmittel aa) Kooperative und informelle Aufsicht Die Kommunalaufsicht verfolgt mehrere, teilweise divergierende Ziele. In der Literatur werden der Schutz-, der Kontroll-, der Förderungs- und der Vermittlungszweck genannt21. Diese Aufzählung entspricht einer Interpretation der Gesetzeslage. Die Aufsicht ist so auszuüben, dass die Rechte der Gemeinden geschützt und die Erfüllung ihrer Pflichten gesichert werden. Sie hat die Entschlusskraft und Verantwortungsbereitschaft der Gemeinden zu fördern sowie Erfahrungen bei der Lösung kommunaler Aufgaben zu vermitteln22. Die Überwachung soll möglichst ohne Konfrontation erfolgen und soweit wie möglich auf Kooperation gründen. Diesem Aufsichtsverständnis entspricht es, dass sich Aufsichtsvorgänge in der Praxis vielfach durch informelle Kontakte zwischen der Gemeinde und der Aufsichtsbehörde vollziehen23, etwa durch Beratungsgespräche24, Vorschläge, Anregungen, zeitliche Stu18 F. Schnapp, Zum Funktionswandel der Staatsaufsicht, in: DVBl. 1971, S. 481; siehe auch BVerwG, in: DÖV 1972, S. 723. 19 RpOVG, in: DÖV 1986, S. 152; A. Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl., 2003, Rn. 804. 20 Siehe auch F.-L. Knemeyer, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis (HKWP), Band I, 3. Aufl. 2007, § 15 I 5; BVerwG, in: DÖV 1972, S. 723; BVerfGE 31, 33, 42 und näher R. Stober, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 3, 2007, § 77. 21 Kahl, Die Staatsaufsicht (Anm. 2), S. 528 ff.; G. Schuppert, Staatsaufsicht im Wandel, in: DÖV 1998, S. 831 f. 22 OVG Lüneburg, in: NVwZ 1988, S. 464. 23 Siehe näher M. Ibler, in: Hoffmann/Kromberg u. a. (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung im Spiegel von Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, 1996, S. 201 ff.; Kahl, Staatsaufsicht (Anm. 2), S. 472 ff. 24 BVerfGE 58, 177, 195; J. Oebbecke, Beratung durch Behörden, in: DVBl. 1994, S. 147, 150.
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fenpläne oder durch Zielvereinbarungen im Rahmen eines Kontraktaufsichtsmanagements gesteuert werden. Erst wenn das informelle Verwaltungshandeln erfolglos bleibt, stellt sich die Frage nach förmlichen Rechtsinstituten und nach der zwangsweisen Durchsetzung des Rechts gegenüber der Gemeinde. Für diese Fälle existiert in den Gemeindeordnungen ein Instrumentarium, das je nach Eingriffsintensität von Informationsrechten bis zu „schweren Geschützen“25 (z. B. Ersatzvornahme, Staatsbeauftragte) variiert. Im Einzelnen bestehen länderbedingte Unterschiede. Typische Aufsichtsmittel sind: bb) Informationsrecht Die Rechtsaufsichtsbehörde kann sich über einzelne Angelegenheiten unterrichten, soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig ist. Während in der aufsichtsbehördlichen Verwaltungspraxis das Informationsrecht im Vordergrund steht, gewinnt bei gerichtlichen Auseinandersetzungen vornehmlich das Beanstandungs- sowie das Aufhebungsrecht an Relevanz26 (Vorlage von Akten, Erstellung von Berichten, Einsichtnahme in Protokolle, Durchführung von Prüfungen). Eine grundsätzliche Vorlagepflicht, etwa für alle Ratsbeschlüsse, kann hieraus jedoch nicht abgeleitet werden, weil das allgemeine Informationsrecht zu den repressiven, nicht zu den präventiven Aufsichtsmitteln gehört. cc) Beanstandungsrecht Die Aufsichtsbehörde kann rechtswidrige Beschlüsse und Anordnungen beanstanden und ihre Korrektur durch die Gemeinde verlangen, sofern die Gemeinde damit nicht erneut gegen das Gesetz verstoßen müsste27. Davon ist der Fall zu unterscheiden, dass eine kommunale Maßnahme nicht mehr rückgängig gemacht werden kann wie etwa bei einer rechtswidrigen Auftragsvergabe28. Hier ist eine Beanstandung zulässig. Die teilweise vorgesehene „aufschiebende Wirkung“ der Beanstandung gilt nicht für die Außenwirksamkeit des betreffenden Aktes. Sie enthält je25 Siehe dazu E. Schmidt-Aßmann/H. C. Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2005, S. 1, 39. 26 Kallerhoff, Beanstandungs- und Aufhebungsrecht (Anm. 15), S. 53 ff.; F. Cromme, Staatshaftung der Kommunalaufsichts- und Fachaufsichtsbehörden gegenüber Gemeinden, in: DVBl. 1996, S. 1230 ff. 27 Vgl. bayVGHE NF. 11 I. Teil, S. 10, 19 f.; nwOVG, in: NVwZ 1987, S. 155. 28 BwVGH, in: DÖV 2003, S. 125 f.
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doch ein Vollzugsverbot an die Gemeinde29. Die Beanstandung hat Anstoßfunktion. Die damit verbundene Feststellung der Rechtswidrigkeit soll der Gemeinde Gelegenheit zur Selbstkorrektur geben. dd) Anordnungsrecht Erfüllt die Gemeinde die ihr obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen nicht, so kann die Aufsichtsbehörde anordnen, dass die Gemeinde die notwendigen Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist nachholt. Das Anordnungsrecht ist das auf gemeindliches Unterlassen bezogene Gegenstück zum Beanstandungsrecht, das auf rechtswidriges Handeln reagiert30. ee) Ersatzvornahme Kommt die Gemeinde einem der vorstehend genannten Verlangen der Aufsichtsbehörde innerhalb einer bestimmten Frist nicht nach, so ist die zuständige Aufsichtsbehörde befugt, die notwendigen Maßnahmen an Stelle und auf Kosten der Gemeinde selbst durchzuführen oder einem Dritten zu übertragen31. Im Hinblick auf die Eingriffsintensität dieser Maßnahme kann sie jedoch nur bei fortwährendem pflichtwidrigen Unterlassen oder bei ausdrücklicher Ablehnung der Aufsichtsmaßnahme eingesetzt werden. Ferner ist es angebracht, die Ersatzvornahme zunächst anzudrohen32. Die Ersatzvornahme besteht also regelmäßig aus einem Doppelakt: Erstens handelt es sich um einen Verwaltungsakt gegenüber der Gemeinde, der die Ausübung des Aufsichtsmittels zum Regelungsgegenstand hat und die kommunale Willensbildung ersetzt. Zweitens liegt ein Akt vor, dessen Rechtsnatur sich aus seinem Regelungsumfeld heraus bestimmt und folglich Realakt, Akt der Normsetzung, aber auch privatrechtliche Willenserklärung sein kann33. ff) Weitere Aufsichtsmittel Länderweise unterschiedlich eingeführt sind darüber hinaus weitere Aufsichtsmittel für schwere Fälle, etwa die Bestellung eines Staatsbeauftragten, die Auflösung des Gemeinderates oder die vorzeitige Beendigung der Amts29
Kallerhoff, Beanstandungs- und Aufhebungsrecht (Anm. 15), S. 53, 55 ff. Schmidt-Aßmann/Röhl, Besonderes Verwaltungsrecht (Anm. 25), S. 40. 31 F. Schnapp, Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht als Verwaltungsakt, in: DÖV 1971, S. 659; nwOVG, in: NVwZ 1989, S. 400; heVGH, in: DÖV 1996, S. 928. 32 BVerwG, in: DVBl. 2004, S. 239, 247. 33 BVerwG, in: DVBl. 2004, S. 239, 247. 30
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zeit des Bürgermeisters34. Eine Zwischenstellung nimmt der von der Aufsicht eingesetzte Kommunalberater ein, der aber einer gesetzlichen Grundlage bedarf35. e) Voraussetzungen und Besonderheiten der Rechtsaufsicht aa) Anwendungsgrundsätze Die förmlichen Aufsichtsmittel dürfen nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angewendet werden. Soweit ausdrücklich festgelegt ist, dass zunächst das gemeindeinterne Kontrollsystem zu durchlaufen ist, sind diese Korrekturmöglichkeiten auszuschöpfen. Grundsätzlich dürfen Aufsichtsmittel nur eingesetzt werden, wenn sie dem öffentlichen Wohl dienen. Mit Ausnahme des Informationsrechts setzen alle Aufsichtsmaßnahmen rechtswidriges Gemeindehandeln voraus. An der Rechtswidrigkeit fehlt es, wenn der Gemeinde bei der Auslegung von Rechtsvorschriften ein Spielraum zusteht, wie das beispielsweise bei der Festsetzung des Hebesatzes für die Grund- und Gewerbesteuer36 der Fall ist. Die Rechtswidrigkeit folgt primär aus Vorschriften des öffentlichen Rechts. Verstöße gegen privatrechtliche Bestimmungen reichen jedenfalls dann nicht aus, wenn sie den Interessen des Privatrechtsverkehrs dienen37. Denn im Bereich der Kommunalaufsicht ist anerkannt, dass der Aufsicht die Sicherstellung öffentlich-rechtlicher Aufgabenerfüllung immanent ist38. Es ist daher mindestens ein öffentlich-rechtlicher Bezug erforderlich. Diese Auffassung lässt sich mit den verfassungsrechtlichen Bindungen der Gemeinde begründen. Dieser Zusammenhang ist vor allem gegeben bei verwaltungsprivatrechtlichem Handeln39, kommunaler Auftragsvergabe nach §§ 97 ff. GWB oder dem einschlägigen Verwaltungsrecht sowie bei privatrechtlichen Einstellungsverträgen40. 34
Siehe näher Kluth, Verwaltungsrecht, Band 3 (Anm. 2), § 94 III 2 c. L. Holtkamp, Kommunale Konsolidierung viel Aufsicht, wenig Strategie und Transparenz, in: VR 2006, S. 294 ff. 36 VG Köln, in: DÖV 2004, S. 845 und dazu I. Spiecker, Grenzen kommunalrechtlicher Weisungsbefugnis in Finanz- und Steuersachen, in: NVwZ 2005, S. 1276 ff. 37 Vgl. nwOVG, in: DVBl. 1963, S. 862 ff. 38 PrOVGE 45, 144; 70, 57. 39 VG Weimar, in: NVwZ-RR 2002, S. 137. 40 Siehe näher Gern, Deutsches Kommunalrecht (Anm. 19), Rn. 804; M. Wehr, Das Ermessen der Rechtsaufsicht über Kommunen, in: BayVBl. 2001, S. 705 ff.; bwVGH, in: NJW 1990, S. 136. 35
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Hingegen ist es bei privatrechtlichen Angelegenheiten Aufgabe der Betroffenen, die Einhaltung dieser Verpflichtungen selbst geltend zu machen und durchzusetzen. Dieses Aufsichtsverständnis hat teilweise ausdrücklich Eingang in aufsichtsrechtliche Vorschriften gefunden. Die Kommunalaufsicht ist grundsätzlich nach dem Opportunitätsprinzip ausgestaltet41. Danach ist es in das pflichtgemäße Ermessen der Aufsichtsbehörde gestellt, ob sie von einem ihr zur Verfügung stehenden Aufsichtsmittel Gebrauch machen will (sog. Entschließungsermessen). Sie kann, sie muss aber nicht tätig werden. Daneben besteht ein Auswahlermessen, bei dessen Realisierung die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des gemeindefreundlichen Verhaltens zu beachten sind42. Teilweise werden die einschlägigen „Kann-Vorschriften“ im Sinne einer Interventionspflicht43 ausgelegt bzw. es wird die Anwendung des Legalitätsprinzips verlangt oder auf die Rechtsfigur der Ermessensreduzierung auf Null verwiesen44. Diese Interpretation wird damit begründet, es könne nicht dem Ermessen der Aufsichtsbehörde überlassen bleiben, ob sie gegen klare Gesetzesverstöße einschreiten will. Aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung folge, dass die Aufsichtsaufgabe eine objektive, dem Ermessen der Behörde entzogene Inpflichtnahme begründe, bei Rechtsverstößen immer einzuschreiten. Gegen diese Ansicht ist einzuwenden, dass sich der Zweck der Staatsaufsicht nicht darin erschöpft, lückenlos und automatisch jeden Rechtsverstoß zu ahnden und schematisch jeden Gesetzesverstoß zu verfolgen. Vielmehr ist unter sorgfältiger Abwägung im Einzelfall zu berücksichtigen, inwieweit ein Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung einer Rechtsverletzung besteht. Nur bei Beachtung dieser Leitlinie kann sichergestellt werden, dass die Entschlusskraft und Verantwortungsbereitschaft der Gemeinden nicht über Gebühr eingeschränkt wird45. Ob dieses Interesse im Einzelfall vorliegt und in welchem Maße in diesem Zusammenhang die Gewährleistung einer gesunden Selbstverwaltung trotz einzelner Rechtsverstöße noch angenommen werden kann, lässt sich nicht generell beurteilen, sondern nur durch eine sorgfältige Abwägung der betroffenen Interessen. Die Aufsichtsbehörde muss stets das Gesamtverhalten des Selbstverwaltungsträgers vor Augen haben. Eine egalitäre Verfolgung gleicher Rechtsverstöße mit gleichen Aufsichtsmitteln würde das Verhältnis 41
Stober, Verwaltungsrecht, Band I (Anm. 1), § 23 V 3. Siehe näher OVG Lüneburg, in: NVwZ 1988, S. 466. 43 H.-U. Borchert, Legalitätsprinzip oder Opportunitätsgrundsatz für die kommunale Aufsicht?, in: DÖV 1978, S. 721; Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 I 2. 44 RpOVG, in: DVBl. 1988, S. 796 und näher Stober, Verwaltungsrecht, Band I (Anm. 1), § 31 IV 7 m. w. N. 45 BVerfGE 6, 104, 118; B. Andrick, Grundlagen der Staatsaufsicht über die juristischen Personen des öffentlichen Rechts, in: JA 1987, S. 546, 552. 42
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zwischen Staat und Kommunen zweifellos erschweren. Folglich ist die Aufsichtsbehörde grundsätzlich nicht in jedem Falle zum Einschreiten bei Rechtsverstößen verpflichtet46. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann allerdings vorliegen, wenn sich eine Kommune ein außenpolitisches Mandat anmaßt oder eine gemeinschaftswidrig gewährte Subvention nicht zurückfordert. Von der Frage nach dem Legalitätsprinzip der Kommunalaufsicht ist das Problem der Subsidiarität der Kommunalaufsicht zu trennen. So wird angenommen, die Funktion der Aufsichtsbehörde entfalle, wenn der Einzelne in der Lage sei, seine Rechte wahrzunehmen und damit eine Selbstkontrollfunktion auszuüben. Sofern ein subjektives öffentliches Recht bestehe, bedürfe es der Staatsaufsicht als Rechtswahrer nicht. Die Klagemöglichkeit des Bürgers habe Vorrang und der Staatsaufsicht komme eine Reservefunktion zu47. Für diese Ansicht spricht die breite Anerkennung subjektiver Rechte und die weitgehend uneingeschränkte Möglichkeit ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit im Rechtsstaat. Gegen diese Auffassung sind Bedenken anzumelden, weil das Institut der Aufsicht dadurch relativiert würde. Für eine derartige Funktionsverschiebung finden sich jedoch weder im Verfassungs- noch im Kommunalrecht irgendwelche Anhaltspunkte48. bb) Maßnahmen der Rechtsaufsicht als Verwaltungsakte Adressat der genannten Aufsichtsmaßnahmen ist das zuständige verfassungsmäßige Organ bzw. die Gemeinde als solche, die in ihrem Körperschaftsstatus dem Staat, hier also der Aufsichtsbehörde, im Außenverhältnis gegenübertritt49. Die Aufsichtsmaßnahmen sind im Allgemeinen als anfechtbare Verwaltungsakte zu qualifizieren50. Insbesondere besitzen sie Außenwirkung, soweit die Gemeinde in Selbstverwaltungsangelegenheiten als juristische 46
Vgl. auch Salzwedel, Staatsaufsicht (Anm. 10), S. 222. Schnapp, Funktionswandel der Aufsicht (Anm. 18), S. 480; vgl. auch nwOVG, in: DVBl. 1963, S. 862. 48 Ebenso K. Hassel, Subsidiaritätsprinzip und Kommunalaufsicht, in: DVBl. 1985, S. 697 ff.; Andrick, Grundlagen der Staatsaufsicht (Anm. 45), S. 546, 548. 49 Vgl. nwOVG, in: DVBl. 1981, S. 227 f.; siehe dazu auch rpOVG, in: DÖV 1996, S. 789. 50 Siehe A. Leidinger, Zur gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Kommunalaufsicht nach nordhrein-westfälischem Recht, in: H.-U. Erichsen (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes: Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, 1985, S. 257 ff.; und zum Streitstand Kallerhoff, Beanstandungs- und Aufhebungsrecht (Anm. 15), S. 53, 55; siehe näher Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, (Anm. 1), § 45. 47
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Person des öffentlichen Rechts im Rahmen eines Über-Unterordnungsverhältnisses betroffen ist. Das kann auch bei einem Vorgehen gegen rechtsaufsichtliche Informationsmaßnahmen der Fall sein, zumal das Unterrichtungsrecht faktisch weitgehend das einzig benutzte Aufsichtsmittel ist. Dann muss es den Gemeinden auch möglich sein, ein zu weit ausgenutztes Informationsrecht anzugreifen51. Anders verhält es sich bei Aufsichtsmaßnahmen im Rahmen der Fachaufsicht, soweit die Gemeinde hier intern als Teil der einheitlichen Staatsorganisation betroffen wird. Für den Erlass des Verwaltungsaktes sind, soweit die Kommunalgesetze keine gleichlautenden oder entgegenstehenden Verfahrensvorschriften enthalten, ergänzend die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder anzuwenden52. 2. Fachaufsicht: Begriff und Grundlagen Als Fachaufsicht, z. T. auch „Sonderaufsicht“ genannt53, bezeichnet man die besondere Aufsicht in Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises bzw. der Weisungsaufgaben. Die Gemeindeordnungen enthalten hierüber nur vereinzelt Vorschriften und verweisen im Übrigen auf die einschlägigen Fachgesetze54. Zutreffend wird deshalb festgestellt, dass Rechts- und Fachaufsicht nicht als klar abgrenzbare Aufsichtsalternativen gegenübergestellt werden können. Vielmehr lässt sich das Rechtsinstitut der Fachaufsicht nur dahin eingrenzen, dass es aus unterschiedlichen Ingerenzrechten besteht, die über eine ausschließliche Rechtskontrolle hinausgehen55. Das Wesen der Fachaufsicht liegt in der ihr zugeordneten Sachführungs- und Weisungsbefugnis. Sie ist letztlich Ausdruck der Aufgabeneinbindung in die Staatsverwaltung und der daraus resultierenden Staatsverantwortung für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung auf der unteren Ebene56. Sie ist im dualistischen Aufgabenmodell grundsätzlich unbeschränkt. Besonderheiten 51 Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 II 5; W. Fehrmann, Kommunalverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DÖV 1983, S. 311, 317; H. U. Erichsen, Kommunalaufsicht – Hochschulaufsicht, in: DVBl. 1985, S. 947; BVerwGE 60, 144. 52 R. Mögele, Das Zusammenspiel von Gemeinderecht und Verwaltungsrecht bei der rechtsaufsichtlichen Beanstandung gemeindlicher Verwaltungsakten, in: BayVBl. 1985, S. 519. 53 Vgl. zur Terminologie Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), S. 276; P. Benedens, Die Sonderaufsicht über kommunale Körperschaften in Brandenburg, in: LKV 2000, S. 89 ff.; M. Nierhaus, Die Gemeindeordnung des Landes Brandenburg – Einführung, Übersicht und erste kritische Analyse des Ersten, Zweiten und Vierten Kapitels, in: LKV 1995, S. 5 ff.; Kahl, Staatsaufsicht (Anm. 2), S. 555 ff. 54 Siehe näher T. Groß, Was bedeutet „Fachaufsicht?“, in: DVBl. 2002, S. 793 ff. 55 Groß, Fachaufsicht (Anm. 54), S. 793, 799. 56 Gern, Deutsches Kommunalrecht, (Anm. 19), Rn. 821 f.
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bestehen lediglich für Bayern57. Im monistischen Modell muss die Weisungsbefugnis dagegen für das einzelne Aufgabengebiet gesetzlich besonders verliehen sein. Weisungen erstrecken sich auch auf die Handhabung des gemeindlichen Ermessens und können vorrangig von Zweckmäßigkeitserwägungen der übergeordneten Behörden bestimmt sein58 (s. auch Art. 8 Abs. 2 Satz 2 Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung). Der Aufsicht kommt hier somit eine andere Funktion zu, weil repressive Kontrolle und präventive Steuerung zusammenfallen. Insbesondere die allgemeinen Weisungen in Verwaltungsvorschriften und Runderlassen zielen regelmäßig auf die Beeinflussung künftiger gemeindlicher Entscheidungen. Immanente Grenze aller Weisungsrechte ist die Sachbezogenheit. Das ergibt sich daraus, dass die Gemeinden bei der Erfüllung staatlicher Auftragsangelegenheiten untere Instanz der staatlichen Behördenhierarchie und damit zur Quasi-Staatsbehörde werden59. Wie die Gemeinde die organisatorischen Voraussetzungen dafür schafft, ist ihr dagegen selbst überlassen. Fachaufsicht ist nicht Dienstaufsicht. Die Fachaufsicht konzentriert sich zwar auf Weisungen. Voraussetzung hierfür sind aber häufig entsprechende rechtstatsächliche und rechtliche Grundlagen. Deshalb existieren in allen Gemeindeordnungen neben dem Weisungsrecht auch Informationsrechte. Die Weisungsrechte werden von den zuständigen Fachbehörden ausgeübt, die häufig mit den allgemeinen Aufsichtsbehörden identisch sind. Die Zuständigkeiten für die Fachaufsicht sind in den jeweiligen Fachaufgabengesetzen als Bauaufsicht, Schulaufsicht, Polizeiaufsicht oder Denkmalaufsicht60 normiert. Außer zur Ausübung des Weisungsrechts sind die Fachaufsichtsbehörden zu Eingriffen in den gemeindlichen Wirkungskreis nicht befugt. Kommt eine Gemeinde einer Weisung nicht nach, so ist allein die Rechtsaufsichtsbehörde zur Anwendung der allgemeinen Aufsichtsmittel berechtigt. Die Fachaufsichtsbehörden haben sich an sie zu wenden61. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern stehen den Fachaufsichtsbehörden spezielle Aufsichtsmittel zur Verfügung (§ 87 Abs. 3 und 4 mvKV). Sofern die Fachaufsicht nicht rechtmäßig ausgeübt wird, ist zu prüfen, ob eine Amtspflichtverletzung gegenüber der Gemeinde vorliegt, für die das 57
Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 III; BayVGH, in: DÖV 1978, S. 100 f. Vgl. Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 III; BVerwGE 96, 45, 56; BVerwG, in: DÖV 1996, S. 326 f. 59 D. Jesch, Rechtsstellung und Rechtsschutz der Gemeinden bei der Wahrnehmung „staatlicher“ Aufgaben, in: DÖV 1960, S. 739. 60 S. Werres, Kommunale Selbstverwaltung und denkmalrechtliche Anordnungen, in: DÖV 2005, S. 18 ff. 61 Vgl. Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 III A 3; siehe auch heVGH, in: NVwZ 1997, S. 304. 58
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Land nach Art. 34 GG, § 839 BGB haftet62. Das hat der BGH bejaht, obwohl die Amtshaftung eigentlich ein Institut im Verhältnis Staat – Bürger ist. Deshalb ist unklar, inwieweit es auch auf die Beziehung zwischen dem Staat und einem dezentralisierten Verwaltungsträger übertragen werden kann63. 3. Präventive Aufsicht a) Bedeutung und Formen Es wurde bereits dargelegt, dass die Aufsicht nicht notwendig darauf beschränkt ist, nachträglich berichtigend einzugreifen. Häufig ist es sinnvoller, Aufsichtsinteressen präventiv wahrzunehmen. Insbesondere die informellen Mittel der Beratung und Besprechung können vorbeugend eingesetzt werden. Einerseits sollte hier deshalb der eigentliche Schwerpunkt der Aufsichtstätigkeit liegen. Denn die präventive Aufsicht zielt darauf ab, repressive Maßnahmen überflüssig zu machen und dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Sie entspricht auch dem modernen Staatsverständnis, das sich als Präventionsstaat präsentiert. Andererseits besteht bei dem Einsatz der Mittel präventiver Aufsicht die Gefahr der schleichenden Steuerung, weil hier die notwendige Distanz zwischen Aufsichtsbehörde und Gemeinde schnell verlorengehen kann. Aus diesem Grund bedarf die präventive Aufsicht einerseits einer besonders sorgfältigen gesetzlichen Regelung und Handhabung, sofern diese Aufsichtsmittel für die Gemeinde verbindlich sind. Andererseits besteht eine als Schranke zu interpretierende Zurückhaltungspflicht der Aufsichtsverwaltung64. Sie muss sich auch dahin auswirken, zwingende Mittel auf Vorgänge zu beschränken, denen ein besonderes „Gefährdungs-“ oder „Mitsprachepotential“ innewohnt65. b) Anzeige- und Vorlagevorbehalte Die mildesten Mittel der präventiven Aufsicht sind Anzeige- und Vorlagepflichten. Bei ihnen handelt es sich um Rechtsinstrumente, die der Aufsichtsbehörde die Kontrolle erleichtern sollen. Sie bezwecken die Information der Aufsichtsbehörde. Da die Vorlagepflicht der Kontrolle der Gesetz62
BGH, in: DÖV 2003, S. 415 ff. Kritisch A. Mutius/A. Groth, Amtshaftung bei fehlerhafter kommunalaufsichtsbehördlicher Genehmigung privatrechtlicher Rechtsgeschäfte, in: NJW 2003, S. 1278 ff.; H. Meyer, Amtspflichten der Rechtsaufsichtsbehörde – staatliche Fürsorge statt Selbstverantwortung?, in: NVwZ 2003, S. 818 ff. 64 A. Leisner-Egensperger, Direkte Beratung von Gemeinden durch die Aufsicht, in: DÖV 2006, S. 761 ff. 65 Schmidt-Aßmann/Röhl, Kommunalrecht (Anm. 25), S. 44. 63
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mäßigkeit dient, entspricht es dem Gesetzeszweck, dass vorzulegende Gemeindebeschlüsse erst nach Bestätigung bzw. Nichtbeanstandung vollzogen werden. c) Genehmigungsvorbehalte Typische und klassische Mittel präventiver Aufsicht sind gesetzliche Genehmigungsvorbehalte. Sie sind als Genehmigungs-, Zustimmungs- oder Bestätigungsvorbehalt im Gemeinderecht (z. B. bei der Satzungsgebung und im gemeindlichen Wirtschaftsrecht) oder in Fachgesetzen (z. B. bei der gemeindlichen Bauleitplanung) enthalten. Angesichts der Vielzahl der Genehmigungsvorbehalte, den Forderungen nach mehr Deregulierung und Entbürokratisierung sowie einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung ist eine Tendenz festzustellen, Genehmigungsvorbehalte abzubauen66. Teilweise werden die Innenministerien deshalb ermächtigt, von der Genehmigungspflicht freizustellen oder stattdessen eine Anzeigepflicht vorzusehen. Die zuständige Aufsichtsbehörde hat Genehmigungsanträge zügig zu bescheiden, weil die Rechtsakte der Kommunen vor Erteilung der Genehmigung keine Rechtswirksamkeit erlangen. Dieses Erfordernis ist gewährleistet, wenn Genehmigungen nach Ablauf einer bestimmten Frist als erteilt gelten. Unklar ist, inwieweit die Aufsichtsbehörde auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist67. Nach Sinn und Zweck der einschlägigen Regelungen sind verschiedene Typen von Genehmigungsvorbehalten zu unterscheiden68: aa) Rechtliche Unbedenklichkeitserklärung Der übliche Genehmigungsfall beschränkt sich nur auf eine Rechtskontrolle. Die Genehmigung hat dann die Funktion einer rechtlichen Unbedenklichkeitserklärung. In diesen Fällen ist die Genehmigung zu erteilen, wenn der Rechtsakt die maßgeblichen Rechtsvorschriften beachtet69. Diese Rechtsfigur findet vor allem Anwendung, wenn der zu genehmigende Tat66 Siehe H. J. v. d. Heide, Der Abbau von Genehmigungsvorbehalten im Kommunal- und Baurecht, 1987; Beschlüsse des 58. DJT 1990, in: DVBl. 1990, S. 1343; siehe die Auflistung bei P.-P. Humpert, Genehmigungsvorbehalte im Kommunalverfassungsrecht, 1990, S. 16 ff. 67 Knemeyer, in: HKWP I (Anm. 20), § 15 IV; R. Bracker, in: A. von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft: Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg-Christoph von Unruh, 1983, S. 459 ff., 475 f. 68 Siehe näher Schrapper, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und staatliches Genehmigungsrecht (Anm. 6), S. 115 ff. 69 NwOVG, OVGE 19, 192 ff.
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bestand mit besonders großen Risiken für die Gemeinden verbunden ist oder wenn weitreichende juristische Folgen zu berücksichtigen sind. Das ist etwa bei Verpflichtungsermächtigungen der Fall. bb) Staatliche Mitentscheidung, Kondominium Von den Unbedenklichkeitserklärungen sind Genehmigungsvorschriften zu unterscheiden, die den Aufsichtsbehörden eine Zweckmäßigkeitsprüfung gestatten. In diesen Fällen müssen Gemeinde und Staat zusammenwirken. Man spricht deshalb auch von Kondominium oder res mixtae, weil die gemeinsame Verantwortungs- und Entscheidungszuständigkeit tangiert ist. Diese Tatbestände sind gegeben, wenn es darum geht, übergeordnete, vom Selbstverwaltungsrecht nicht mehr erfasste Gestaltungsinteressen zu verwirklichen70 und die Gemeinden vor unüberlegten Geschäften zu schützen. Man denke nur an die Veräußerung historisch, künstlerisch oder wissenschaftlich wertvoller Gegenstände des Gemeindevermögens, gemeindliche Gebietsänderungen (§ 9 Abs. 3 nwGO, § 18 Abs. 1 heGO, § 18 Abs. 2 nwGO), Kreditaufnahmen71 oder Kommunalleasing72. Allerdings setzt die Gewährleistung des Selbstverwaltungsrechts der Zweckmäßigkeit Grenzen. So sind Genehmigungen von Zweckverbänden und Kreisumlagen keine kondominialen Akte, weil die Bildung von Zweckverbänden Ausdruck der Kooperationshoheit und die Festlegung der Kreisumlagen eine politische Ermessensentscheidung ist73. Bei der rechtlichen Qualifizierung und Beurteilung kommunaler Genehmigungsvorbehalte ist neben Art. 28 Abs. 2 GG das Landesverfassungsrecht zu beachten, das teilweise die Staatsaufsicht außerhalb der Weisungsaufgaben ausdrücklich auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt (Art. 75 bwVerf., Art. 83 Abs. 4 bayVerf., Art. 78 Abs. 4 nwVerf.). Teilweise werden diese Klauseln nur auf die repressive Aufsicht und nicht auf die präventiven Aufsichtsvorgänge bezogen74. Das ist problematisch, weil es bei den meisten Genehmigungsmaßstäben des Gemeindewirtschaftsrechts vorrangig um örtliche Belange, um einen Schutz der Gemeinde vor sich selbst 70
NwOVG, in: NWVBl. 1990, S. 121. Siehe näher R. Weiß, Erwerb, Veräußerung und Verwaltung von Vermögensgegenständen durch die Gemeinden, 1991, S. 111 ff. 72 BGH, in: DÖV 2003, S. 415 ff. und dazu M. Elicker, Aufsichtsrechtliche Fragen der Kommunalleasing, in: DÖV 2004, S. 875 ff. 73 Ebenso D. Ehlers, Die Rechtsprechung zum nordrhein-westfälischen Kommunalrecht der Jahre 1984–1989, in: NWVBl. 1990, S. 80, 85; nwOVG, in: NWVBl. 1990, S. 121. 74 Vgl. D. Keller, Die staatliche Genehmigung von Rechtsakten der Selbstverwaltungsträger, 1976, S. 71 ff. m. w. N. 71
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geht. Fehlt es an detaillierten Normierungen, wie das etwa bei Art. 75 Abs. 1 Satz 2 bwVerf. und Art. 89 Abs. 2 sächsVerf. der Fall ist, dann ist zu diskutieren, ob eine Präventivkontrolle nicht dadurch erreichbar ist, dass man den Genehmigungsmaßstab aus einem weit zu interpretierenden Rechtsbegriff der „Wirtschaftlichkeit“ entnimmt und den Genehmigungsvorbehalt als Vertretbarkeitskontrolle qualifiziert75.
75 Vgl. Schmidt-Aßmann/Röhl (Anm. 25), S. 45; F. Schoch, Soll das kommunale Satzungsrecht gegenüber staatlicher und gerichtlicher Kontrolle gestärkt werden?, in: NVwZ 1990, S. 801, 805; Schrapper, Kommunale Selbstverwaltung und staatliches Genehmigungsrecht (Anm. 6), S. 120 ff.; nwOVG, in: KStZ 1983, S. 98; bayVerfGH, in: NVwZ 1989, S. 551 f.
Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch regelmäßigen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis Christof Wolff In diesem Jahr wird zum 250. Mal des Geburtstages des Freiherrn vom Stein gedacht, dessen Name die Adresse der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer schmückt. In vielen öffentlichen Reden wird dabei nicht nur das Leben und die Wirkung dieser geschichtlichen Persönlichkeit hervorgehoben, sondern natürlich vor allem auch betont, welchen hohen Stellenwert die von ihm geforderte kommunale Selbstverwaltung in Deutschland genießt. Gerne ist dabei von der „Schule der Demokratie in lebendigen Gemeinden“ die Rede. Untersucht man allerdings den aktuellen Status der kommunalen Selbstverwaltung in unserem föderal verfassten System näher, so kommt man zu ernüchternden Feststellungen, und die Euphorie von vielen Festtagsreden ist schnell verflogen. Meines Erachtens ist es eine wichtige Aufgabe für Wissenschaft und Praxis, die derzeitige Situation der kommunalen Selbstverwaltung in unseren Städten und Gemeinden näher zu untersuchen und ihre Chancen für die weitere Zukunft realistisch zu bewerten. Man wird es mir nachsehen, dass ich als langjähriger Oberbürgermeister und Vorsitzender des Rheinland-Pfälzischen Städtetages sowie als Mitglied des Präsidiums des Deutschen Städtetages in meiner Meinung befangen bin und für den Freiraum lokaler Demokratie auch in der Zukunft kämpfe. Dies vor allem deshalb, weil sich der Spielraum dessen, was von Städten und Gemeinden noch selbstständig in ihren Räten entschieden werden kann, quantitativ wie qualitativ immer unbedeutender wird. In den kommunalen Haushalten bewegt sich der frei gestaltbare Rahmen bei Einnahmen und Ausgaben meist unter 10 Prozent. I. Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung In der Vergangenheit hat die kommunale Selbstverwaltung eine immer stärkere Einschränkung aufgrund von drei wesentlichen Entwicklungen erfahren.
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1. Zunahme der Bürokratie und Gängelung durch Gesetze und Vorschriften Es sind nicht nur die gesetzlichen Vorschriften, sondern auch die meist dazu von Bund und Land erlassenen Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Richtlinien, die den kommunalen Spielraum immer stärker einengen. Kommunalen Bediensteten fällt es zumal immer schwerer, dem Bürger die Sinnhaftigkeit dieser Vorschriften zu vermitteln. Zusätzlich zu dieser Normenflut gibt es gut gemeinte politisch inszenierte Handreichungen, denen man klugerweise nachzukommen hat, um den übergeordneten Geldgeber nicht zu vergraulen. Will eine Gemeinde Fördermittel in Anspruch nehmen, muss sie alle diese Rahmenbedingungen nicht nur berücksichtigen, sondern meistens genau einhalten. Dabei wird deutlich, dass die Vorschriften für sich genommen ja oft nicht unsinnig sind, aber durch sie das Misstrauen dokumentiert wird, dass ohne diese Regeln die kommunale Verwaltung sich nicht auf dem rechten Weg befindet. Eines kommt allerdings erschwerend hinzu, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kommunalen Verwaltungen diese festen Regeln nicht nur als Zwangsjacke, sondern auch als ein Element der Sicherheit sehen. Wer sich nämlich an die Regeln hält, kann sich stets darauf berufen – ob gegenüber der Aufsichtsbehörde, dem Rechnungshof oder vor Gericht –, dass er den Sachverhalt so entschieden hat, wie er gesetzlich normiert ist. Ein weiteres Problem für die kommunale Selbstverwaltung sind sicher die ausgedehnten Fachbruderschaften in Landesbehörden und Ministerien, ein Begriff, der in Speyer an der Hochschule geprägt worden ist.
2. Verschärfung der strukturellen Finanzkrise Es ist hinlänglich bekannt, dass die Kommunen seit Jahren insgesamt, namentlich die Städte, in einer tiefen Finanzkrise stecken. Die aktuelle Lage, bezogen auf das Land Rheinland-Pfalz, muss als dramatisch bezeichnet werden. Der Kommunalbericht zur Haushaltslage der Gemeinden und Gemeindeverbände des Rechnungshofes des Landes Rheinland-Pfalz vom 16. April 2007 weist für die Kommunen einen Fehlbedarf in den Haushaltsplanungen für das Jahr 2006 in Höhe von insgesamt 1,98 Milliarden Euro aus. 1074 Kommunen von 2493, also über 40 Prozent haben einen defizitären Haushalt. Davon entfallen 63 Prozent auf die kreisfreien Städte, die Zentren im Land. Bedenkt man, dass rund ein Viertel der Bevölkerung des Landes in diesen Zentren der Versorgung für das Umland lebt, muss dies alarmieren. Auch wenn die Städte durch die wirtschaftliche Belebung zur Zeit ein „Gewerbesteuerhoch“ erfahren, führt dies leider nicht zu einem
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Ausgleich der Defizite. Zudem bleibt die Frage bestehen: Wie stellt sich im Übrigen die Haushaltssituation erst einmal dar, wenn die wirtschaftliche Situation sich wieder verschlechtern sollte? Die Finanzlage wird noch deutlicher, wenn man sich mit den Gesamtschulden und den durch die Gemeinden in Anspruch genommenen Kassenkrediten beschäftigt. Die Gesamtschulden stiegen im Lande Rheinland-Pfalz um 496 Millionen Euro oder 4 Prozent auf nunmehr 12,5 Milliarden Euro. Dies entspricht einer Pro-Kopf-Verschuldung von 3097 Euro. Da gleichzeitig auch die Schulden des Landes auf über 25 Milliarden Euro beziffert werden, kann hier nicht mit einer Finanzhilfe des Landes etwa über den kommunalen Finanzausgleich gerechnet werden. Im Bereich der Kassenkredite, die eigentlich ja nur kurzfristige Liquiditätsengpässe überbrücken sollen, ist ein Anstieg um 11 Prozent auf über 3 Milliarden Euro zu verzeichnen. Von dieser gigantischen Summe entfallen auf die 12 kreisfreien Städte fast 2 Milliarden Euro, das sind über 65 Prozent. Aus dieser großen Summe resultiert eine enorme Zinsbelastung. Allein bei den kreisfreien Städten entsprach das Volumen ihrer Kassenkredite fast den gesamten jährlichen Einnahmen der Verwaltungshaushalte.
3. Desinteresse und Lethargie der Bürger Leider ist insgesamt ein nachlassendes Bürgerengagement festzustellen. Da den einzelnen Bürger die Finanzkrise der Kommunen nicht persönlich trifft, nimmt er den beschriebenen skandalösen Sachverhalt sehr gelassen hin. Öffentliche Erregung und Proteste entstehen allerdings dann, wenn die Verwaltung bzw. der Rat Einschnitte im Leistungsangebot vornehmen und dies die Betroffenen unmittelbar zu spüren bekommen. Hier sind nicht nur Gebühren und Beitragsanhebungen gemeint oder die Streichung von finanziellen Leistungen, sondern zum Beispiel die Schließung von Kindergärten oder Schulen angesichts weiter sinkender Geburtenzahlen. Schließlich zeigt sich auch das Desinteresse bzw. die Resignation des Bürgers in einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen, in Stadt- und Gemeinderäten, insbesondere aber bei Urwahlen der Oberbürgermeister/-meisterinnen und Bürgermeister/-meisterinnen. Bedauerlicherweise hat sich die Wahlbeteiligung in den Städten aktuell etwa bei 40 Prozent eingependelt.
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II. Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis auf kommunaler Ebene Was ist bei dieser so beschriebenen Lage der kommunalen Selbstverwaltung vor Ort zu tun? Zu schnell und undifferenziert wird politisch dann nach notwendigen Reformen und strukturellen Änderungen gerufen. Notwendig erscheint mir hier gerade eine solide Bestandsaufnahme und Aufgabenkritik durch Wissenschaft und Praxis, um dann die jeweiligen Schritte wirkungsvoll in Angriff nehmen zu können. Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf gehörte in den zurückliegenden Jahrzehnten zu den Wissenschaftlern, die sich nicht nur um die ständige Verbindung und den Meinungsaustausch zwischen Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis gekümmert haben, sondern viele ganz konkrete Erfolge mit ihren Untersuchungen erreichen konnten. Er hat sich deshalb um die kommunale Selbstverwaltung in unserem Lande verdient gemacht. Seine Bestrebungen, die laufende Verwaltungsorganisation hinsichtlich ihrer Effizienz und Kosten ständig auf den Prüfstand zu stellen, führten für den Bürger zu wichtigen Verbesserungen. Dies kann beispielhaft an seiner Initiative und seinem Wirken für die Stadtverwaltung Landau nachgewiesen werden: Die Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Stadtverwaltung Landau in der Pfalz kann auf eine bereits langjährige Tradition zurückblicken. Sie begann Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit einer Arbeitsgemeinschaft zur Untersuchung des Mittelzentrums Landau im Zusammenhang mit der Funktionalund Gebietsreform. Damals konnte ich als Student bereits erleben, wie wichtig der Gedankenaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis ist, und wie sich damals bereits die Hochschule dafür stark machte. Im Rückblick kann ich feststellen, dass leider nicht alle Erkenntnisse, die damals gewonnen werden konnten, sich nach heftigen politischen Auseinandersetzungen in der Realität umsetzen ließen. Im August 2000 initiierte Herr Professor Heinrich Siedentopf in unserer Verwaltung Seminare mit dem Thema „Entwurf einer Personal- und Organisationsentwicklung einer Mittelstadt“. Auch hier standen wiederum die Ziele im Mittelpunkt, dem theoretischen Lehrstoff der Studierenden die praktischen Erfahrungen aus dem „Amtsalltag“ entgegenzusetzen und beide Seiten in einen für alle Beteiligten fruchtbaren Dialog zu bringen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der projektbezogenen Arbeitsgemeinschaft erhielten auf der einen Seite während der Lehrveranstaltungen in Speyer solides, theoretisches Wissen sowie auf der anderen Seite im Rahmen von Projekttagen vor Ort einen fundierten Einblick in die Praxis der Personal- und Organisationsstruktur einer Stadtverwaltung. An den Projekttagen vor Ort standen den Studierenden Praktikerinnen und Praktiker aus der Verwaltung
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zur Verfügung, die nicht nur in Form von Vorträgen ihre Erfahrungen zu den einzelnen Themenbereichen schilderten, sondern ausführlich und detailliert Fragen beantworteten und die unterschiedlichsten Problemstellungen diskutierten. Die Seminare fanden ihren Abschluss schließlich in Befragungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bzw. Führungskräften. Die Befragten hatten hier die Möglichkeit, sich zu den unterschiedlichen Themenbereichen zu äußern, wobei folgende Bereiche der Verwaltung intensiv behandelt wurden: 1. Veränderung von Verwaltungsstrukturen im Sinne der neuen Steuerungsmodelle In den vergangenen Jahren liefen bei der Stadtverwaltung Landau Bestrebungen, die Verwaltungsorganisation im Sinne der neuen Steuerungsmodelle zu reformieren. Hierzu erfolgte eine ausführliche Darstellung der sinnvollen Zusammenlegung von Ämtern, um größere und effizientere Verwaltungseinheiten zu schaffen. So wurden das Personalamt, die Datenverarbeitung und das Sachgebiet Brand- und Katastrophenschutz Abteilungen des Hauptamtes. Die früher selbstständigen Organisationseinheiten Stadtkämmerei, Stadtkasse, Steueramt- und Liegenschaftsamt sind nun unter dem Dach der Finanzverwaltung und Wirtschaftförderung zusammengefasst. Aus den Organisationseinheiten Rechtsamt, Ordnungs- und Umweltamt, Bürgerbüro und Standesamt wurde das Amt für Recht, Ordnung und Umwelt gebildet. Das Archiv und Museum, die Stadtbücherei und das Aufgabengebiet Kultur wurden zu Abteilungen des Amtes für Schulen, Kultur und Sport zusammengefasst. Hierdurch wurde die Anzahl der selbstständigen Ämter wesentlich reduziert, Reibungsverluste wurden vermindert oder gar abgebaut und die Entscheidungswege deutlich verkürzt. Außerdem ergaben sich Synergieeffekte allein daraus, dass in den größeren Abteilungen bzw. Ämtern die Abwesenheits- bzw. Urlaubsvertretung viel besser organisiert werden konnte. Im Wege der Veränderung der Verwaltungsstrukturen erfolgte auch eine verbesserte Kostentransparenz und Ressourcenverantwortung durch die Auflösung der Sammelnachweise für den Unterhalt der Grundstücke und baulichen Anlagen, die Bewirtschaftung der Grundstücke und das Büromaterial sowie durch die Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung in den Bereichen Baubetriebsamt, Friedhofsverwaltung, Datenverarbeitung, Feldwegeunterhalt sowie Jahr- und Wochenmärkte. Des Weiteren wurde der Eigenbetrieb „Entsorgungswerke Landau in der Pfalz“ und die eigenbetriebsähnliche Einrichtung „Städtischer Wohnhausbesitz“ gegründet, die bereits außerhalb des kameralen Haushaltes mit der Kosten- und Leistungsrechnung arbeiten. Die neuesten Veränderungen wurden seit dem Spätjahr 2006 im Zusammenhang mit der Umstellung auf die
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Doppik zum 1. Januar 2008 eingeleitet. Innerhalb dieses Prozesses wurde mit Beginn des Jahres 2007 der Eigenbetrieb „Gebäudemanagement“ gegründet, in den die frühere Hochbauabteilung und die eigenbetriebsähnliche Einrichtung städtischer Wohnhausbesitz eingegangen sind. Dem Eigenbetrieb wurden mit wenigen Ausnahmen der Unterhalt und die Bewirtschaftung des städtischen Wohnhausbesitzes, der Schulen, der Verwaltungsgebäude und sonstiger städtischer Gebäude übertragen. Auf diese Weise wurde auch das städtische Baubetriebsamt umstrukturiert. Alle technischen Bereiche, wie diejenigen der Gärtner, Maler, Straßenbauer und Stadionarbeiter, wurden aus den Fachämtern herausgelöst und im Baubetriebsamt zusammengefasst. Das Baubetriebsamt arbeitet kostenrechnend. Leistungen werden aufgrund von Aufträgen der Fachämter erbracht und nach Leistungserbringung abgerechnet. Als positive Weiterentwicklung und erfolgreiche Nutzung von Synergieeffekten kann festgestellt werden, dass es richtig war, das Baubetriebsamt als eigenständige Einrichtung aufzulösen und als Betriebszweig „Bauhof“ in den Eigenbetrieb der „Entsorgungswerke Landau in der Pfalz“ zu integrieren. Ein ganz wichtiger Punkt der Modernisierung unserer Verwaltung war die Einführung eines Bürgerbüros zum Januar 1997. Aufgrund des gewachsenen Verständnisses einer Verwaltung als einer Serviceeinrichtung für den Bürger wurden alle publikumsintensiven Aufgaben, die bis zu diesem Zeitpunkt auf viele Ämter verteilt waren, zusammengefasst und im Bürgerbüro konzentriert. Hiervon waren vor allem das Einwohnermeldewesen, Ausweis- und Passangelegenheiten, Steuerkarten, der Verkauf von Theater- und Schwimmbadkarten usw. erfasst. Dies war in Anbetracht der Tatsache, dass die Stadtverwaltung Landau, wie viele andere Verwaltungen, auf mehrere Dienstgebäude innerhalb der Stadt verteilt ist, ein Schritt in Richtung zu mehr Bürgerfreundlichkeit, schnelle Erreichbarkeit und Allzuständigkeit, was die Beratung anbelangt. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen wurde dann ebenfalls für alle Bauangelegenheiten, wie Baugenehmigungen, Baubescheide etc., ein Bürgerbüro im Stadtbauamt eingerichtet.
2. Personalverwaltung und Personalentwicklungskonzept Aufgrund der Tatsache, dass die Personalabteilung, ebenso wie die Organisationsabteilung, eine Abteilung des Hauptamtes ist, laufen beim Hauptamt sowohl alle organisatorischen als auch personellen Informationen und Entscheidungen zusammen. Dies bedingt schnelle, kurze Informations- und Entscheidungswege und die Reduzierung von Reibungsverlusten. Insoweit widmet sich das Hauptamt insbesondere folgenden Themenbereichen: Weiterbildungsmaßnahmen, Nutzen und Risiken von Rotationen, Richtzahlen
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und Leistungsindikatoren, dem Stand der EDV-Technik, der Motivation der Mitarbeiter, der Einführung von leistungsbezogener Bezahlung, dem Führen von Mitarbeitergesprächen, dem Beurteilungswesen etc. Die Bewertung von Stellen, gleich ob Stellen von Beamtinnen/Beamten oder tariflich Beschäftigten, wird durch die Stellenbewertungskommission durchgeführt. Die Stellenbewertungskommission ist ein ständiges Gremium, das nach Bedarf zusammentritt. In diesem Gremium arbeiten zwei Vertreter des Personalrates, der Leiter der Personalabteilung sowie der Leiter des Rechnungsprüfungsamtes zusammen. Den Vorsitz der Stellenbewertungskommission führt der Leiter des Hauptamtes. Letztentscheidend ist allerdings der Stadtvorstand. Die Handhabung von Stellenausschreibungen erfolgt nach einem klaren Prinzip. Um allen Bediensteten die Chance zu geben, sich auf innerhalb der Verwaltung freie Stellen zu bewerben und sich beruflich innerhalb der Verwaltung zu verändern, werden freie Stellen grundsätzlich intern, teilweise auch extern ausgeschrieben. Auch mit internen Bewerberinnen und Bewerbern werden Vorstellungsgespräche geführt. Hierdurch wird erreicht, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst genommen fühlen und der Anschein, dass bei Stellenvergaben „gemauschelt“ wird, erst gar nicht aufkommt. Die Rotation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird als Instrument der Personalführung gewertet, das seit vielen Jahren bei der Stadtverwaltung Landau in der Pfalz praktiziert wird. Die Rotation trägt dazu bei, die Innovationsfähigkeit und Flexibilität der Verwaltung zu erhalten. Sie soll insbesondere bei den jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Fähigkeit fördern, in größeren Zusammenhängen zu denken und „über den Tellerrand hinaus zu sehen“. Voraussetzung ist allerdings, dass die Prognose, die den Umsetzungen zugrunde liegt, positiv ist und die Rotation nicht gegen den Willen der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchgeführt wird. Dies würde zu Unverständnis und Unzufriedenheit führen und dem positiven Grundgedanken der Rotation zuwider laufen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind deshalb ausführliche Gespräche mit den Betroffenen. Hier zeigt sich, dass die Kommunikation mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein unerlässliches Instrument der Personalführung ist. Die Erfahrungen, die mit Rotationen gemacht wurden, sind insgesamt als positiv zu bewerten. Im Zusammenhang mit der Umsetzung des Personalentwicklungskonzeptes wurden Mitarbeitergespräche mit Zielvereinbarung verpflichtend eingeführt. Hierdurch sollen die Beziehungen zwischen der Mitarbeiterin/dem Mitarbeiter und der/dem Vorgesetzten verbessert sowie Offenheit und gegenseitiges Verständnis gefördert werden. Es soll gezielt der persönlichen Ent-
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wicklung dienen und die Zufriedenheit am Arbeitsplatz fördern. Einige Jahre nach Einführung ist festzustellen, dass der Erfolg der Mitarbeitergespräche im Wesentlichen vom Verhalten der Führungskräfte abhängt. Das Führen der Mitarbeitergespräche erfolgte teilweise sehr zögerlich und bedurfte mehrerer Erinnerungen und Hinweise auf den verpflichtenden Charakter und vor allem darauf, dass das Führen der Mitarbeitergespräche zur Personalführung und gerade zu den Aufgaben der Führungskräfte gehört. Um die weiteren Entwicklungen im Personalbereich zu dokumentieren und konkrete Schritte festzulegen, hat die Personalabteilung ein Personalentwicklungskonzept erarbeitet, das breite Zustimmung in den Gremien fand. Wesentliche Kernpunkte des Personalentwicklungskonzeptes sind das Beurteilungswesen, die Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das Führungskräftetraining, Schulung von Nachwuchskräften, die Qualifizierung der Ausbilderinnen/Ausbilder, die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Gleichbehandlung von Mann und Frau sowie die Schaffung von Leistungsanreizen. Wie bereits oben betont fanden die Seminare ihren Abschluss in einer Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bzw. Führungskräften durch die Studenten. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse, die sowohl positiven Bewertungen wie auch notwendige Handlungsbedarfe aufzeigten, wurden der Stadtverwaltung Landau in zusammengefasster, anonymer Form zur Verfügung gestellt. Dies war für die weitere Personalplanung und -bewirtschaftung ein wertvoller Beitrag. 3. Technikunterstützte Informationsverarbeitung Kein Element der neuen Steuerungsmodelle, aber ein wesentliches Hilfsmittel, ist die Technikunterstützung. Auch hierzu wurden in den vergangenen Jahren grundlegende Weichen gestellt. Mittlerweile sind alle Arbeitsplätze zu Computerarbeitsplätzen umgestaltet und an das interne Netz angeschlossen. Fast alle PC-Arbeitsplätze haben Internetanschluss. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten mit den Standardsoftwareprogrammen Word und EXCEL sowie dem Haushaltsprogramm OK.FIS und zahlreichen bedarfsorientierten Einzelprogrammen. Sie haben Zugriff auf das Kommunikationssystem Lotus-Notes, über das nicht nur die E-Mail Kommunikation läuft, sondern auch die Führung von Wiedervorlagen, die Urlaubsplanung und das interne Telefonbuch. IT ist ohne Zusammenarbeit und Kooperation nicht denkbar. Gerade in Rheinland-Pfalz mit seinen kleinteiligen Verwaltungsstrukturen kann die einzelne Kommune den Herausforderungen der Zukunft nicht begegnen. Selbstkritisch wird man sagen müssen, dass noch lange nicht alle Koope-
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rationsmöglichkeiten ausgelotet worden sind. Kooperation ist hierbei nicht nur interkommunal, sondern auch gemeinsam mit dem Land zu verstehen. Viele Prozesse sind inzwischen längst nicht mehr nur auf den kommunalen Bereich zu begrenzen, wie am Beispiel von Geodaten sehr schnell deutlich wird. Diese Daten werden immer wichtiger. Aus meiner eigenen Stadt kann ich darauf verweisen, welche guten Dienste ein vernünftiges Geoinformationssystem nicht nur bei der Aufnahme des Infrastrukturvermögens der Stadt für die Doppik geleistet hat und leistet. Das neue Geoportal, das kürzlich eröffnet wurde, bietet die Möglichkeit, Landesdaten und kommunale Informationen zusammenzuführen. Hier haben wir als Städte die Chance, diese Plattform zu nutzen, um der Bürgerschaft und der Wirtschaft die relevanten Daten zur Verfügung zu stellen. Das Land Rheinland-Pfalz hat in jüngster Vergangenheit nach BadenWürttemberg und Sachsen eine gemeinsame IT-Organisation entwickelt. Ein wichtiger Meilenstein ist in diesem Zusammenhang die Einführung des neuen Einwohnermeldesystems EWOIS, das in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der kommunalen Spitzenverbände mit ihrer Gesellschaft KommWis landesweit genutzt wird. Der Zugang zu jeder Kommunalverwaltung mit EWOIS über das Kommunalnetz ist der Schlüssel, um weitere Verfahren gemeinschaftlich zu organisieren. Genannt seien hier beispielsweise die Verfahren zur KfZ-Zulassung oder im Bereich der Ordnungswidrigkeiten. Ein weiterer Baustein ist die RLP-Middleware, die als Basisdienst für das E-Government anzusehen ist. Mit diesen Instrumenten (Signaturkarte, Zeitstempel, Postfach etc.) können wir erst ein echtes E-Government einführen, dass die Interaktion mit anderen (z. B. auch anderen Behörden) ermöglicht. Gerade angesichts der von mir geschilderten schlechten Situation bei den öffentlichen Kassen ist E-Government ein Weg, um effizientere Verwaltungsarbeit zu leisten. Insbesondere im Austausch mit anderen Behörden und Institutionen oder sogenannten „Power-Usern“ liegt ein beachtliches Effizienzpotential. Eine totale Abkehr von traditionellen Formen der Verwaltungsarbeit wird das aber nicht sein. 4. Budgetierung in den Stadtteilen und an den Schulen Für die Stadtteile und die Schulen wurden Budgets gebildet, die diese weitgehend eigenverantwortlich bewirtschaften. Durch die Festlegung, das ersparte Mittel bei dem jeweiligen Stadtteil bzw. der jeweiligen Schule zu einem bestimmten Prozentsatz zur freien Verfügung verbleiben, wurde ein Anreiz zum sparsamen Umgang mit den Haushaltsmitteln geschaffen. Die Budgetierung führte auch dazu, dass unterschiedlichste Arbeiten in Eigen-
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leistung vornehmlich von Vereinen erbracht wurden und hierdurch nicht nur Geld eingespart, sondern das ehrenamtliche Engagement und die Zusammenarbeit untereinander gestärkt wurde. Das rege Interesse an den projektbezogenen Arbeitsgemeinschaften, die ausgesprochen aktive Mitarbeit der Studentinnen und Studenten und die große Bereitwilligkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung entweder als Diskussionspartner oder für konkrete Interviews zur Verfügung zu stehen zeigte, dass Herr Professor Dr. Siedentopf den Bedarf, Lehre und Praxis einander näher zu bringen und wechselseitig zu befruchten nicht nur erkannt, sondern auch erfolgreich in die Tat umgesetzt hat. Dafür gebührt ihm abschließend die große Anerkennung und der Dank der Stadt Landau.
Öffentlicher Dienst
Comment rendre les hauts fonctionnaires «imputables» (accountable)? Jean-Luc Bodiguel En France, la notion de responsabilité est essentiellement liée aux obligations professionnelles de l’agent dont la transgression (notion de faute personnelle ou professionnelle) engage sa responsabilité civile ou pénale. Le contrôle administratif s’intéresse seulement à savoir si les choses ont été faites selon les règles et non pas à rechercher si le but poursuivi a été atteint. Lorsque l’on considère que sa responsabilité peut être engagée, non seulement en cas de faute, mais pour l’ensemble de ses actes de gestion, on aboutit à la notion nord américaine d’accountability que le Québec a traduit par «imputabilité». Tous les gouvernements ont mis en place des mécanismes institutionnels (cabinets ministériels, liberté de nomination et de révocation) pour avoir des hauts fonctionnaires favorables à leurs idées1. Mais l’imputabilité dépasse le concept de contrôle, qu’il soit politique ou administratif. Elle est complexe à définir car s’y mêle la responsabilité subjective de l’individu encadrée par son éthique professionnelle et la nature des rapports entre gouvernants et gouvernés. On se trouve devant un régime d’imputabilité lorsque les éléments suivants sont réunis: – un mandat comportant des objectifs et des priorités définis et clairement formulés; – une délégation de compétence et de moyens pour réaliser le mandat; – un système de mesure et d’appréciation du rendement la plus objective possible; – un système de sanctions et de récompense qui traduise le résultat de l’évaluation du rendement2. 1
J.-L. Bodiguel, De quelques techniques du contrôle politique des fonctionnaires en Europe et de leurs significations, in: Revue internationale des sciences administratives, 1986, p. 225, 239. En anglais: The political control of civil servants in Europe: some aspects, in: International Review of Administrative Science, 1986, p. 187, 200. 2 M. Patry, L’imputabilité des administrateurs publics, in: R. Parenteau (Dir.), Management public. Comprendre et gérer les institutions de l’Etat, Québec, 1992. p. 301, 322.
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L’apport nouveau de cette notion est d’obliger les responsables des administrations à rendre compte de leur gestion, ils sont comptables des responsabilités qui découlent du mandat qui leur a été confié3. On se trouve devant un système nouveau de gestion et de contrôle qui couvre la définition des politiques (ou programmes), leur mise en oeuvre, leur appréciation. Il doit en effet permettre la planification et l’établissement des priorités gouvernementales, leur transformation en programmes, la définition des normes et procédures, la délégation aux gestionnaires des pouvoirs nécessaires à la réalisation des programmes, l’établissement de dispositifs de contrôle et d’évaluation pour que les gestionnaires rendent des comptes à tous les niveaux, y compris devant le Parlement. La question de l’imputabilité est politique par nature, en plus d’être un fait de management; elle soulève des problèmes politiques de fond tels que la place et le rôle de l’administration dans l’appareil d’Etat, son contrôle par des acteurs politiquement responsables et les différents moyens institutionnels de ce contrôle. L’imputabilité implique en effet, dans son acception nord-américaine, un double contrôle, interne, par les supérieurs hiérarchiques et externe, par le pouvoir politique, le Parlement4. Elle est donc un processus long et difficile à mettre en place car elle affecte les structures tant politiques qu’administratives et les relations qu’elles entretiennent. Elle pose, dans une démocratie parlementaire, le principe de la responsabilité ministérielle dans la mesure où des fonctionnaires peuvent être mis en cause directement devant une commission parlementaire. Nous analyserons, dans un premier temps, la mise en œuvre de l’imputabilité interne avant de consacrer quelques développements à l’imputabilité externe. I. L’imputabilité interne Les réformes importantes initiées dans l’organisation administrative et son mode de fonctionnement ont eu comme conséquence de profondément renouveler la gestion des cadres supérieurs des administrations publiques. La déconcentration des décisions, une autonomie de gestion plus importante, l’importance accordée aux résultats, la responsabilisation des cadres sur ceux-ci exigent qu’ils soient capables de conduire ces changements. Est apparue la figure du manager, du gestionnaire, du leader opposée à l’ingé3 K. Kernaghan, Public service accountability re-examined in: CEPAQ, Débat sur l’imputabilité, Québec, 1984, p. 13, 24, F. Mosher, Democracy and the public service, New-York, 1968, p. 7, 10. 4 Les notions d’imputabilité interne et externe ne recouvrent pas exactement celles de contrôle de gestion qui s’occupe d’efficience interne et d’évaluation qui traite de l’efficacité externe de l’action publique, cf. Y. Meny/J.-C. Thoenig, Politiques publiques, 1989, p. 305.
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nieur et au généraliste plus aptes à concevoir qu’à mettre en œuvre. Cette «révolution» dans la nature du haut fonctionnaire a exigé, dans nombre de pays de l’OCDE, la mise en place de processus de sélection, de contractualisation ainsi que d’évaluation et de sanction différents de ceux des autres fonctionnaires. 1. Une structure particulière pour les cadres dirigeants Le groupe des cadres dirigeants a souvent été réuni dans une structure particulière qui les a unifiés pour mieux en assurer la gestion. Ainsi, aux Pays-Bas, tous les fonctionnaires des trois échelles de salaires les plus élevées (correspondant aux directeurs, directeurs généraux et leurs adjoints) sont regroupés, depuis le 1er janvier 1995, dans le Service d’administration générale (Algemeen Bestuursdienst), fort de 360 personnes (739 en 2001) divisés en trois groupes: le top management (échelon 19), puis les membres des échelons 17 et 18 ayant des fonctions d’encadrement et, enfin, les membres des échelons 15 et 16 vivier auquel une attention particulière est portée. Ce service manifeste la volonté d’une plus forte coordination de l’action publique (tous ces hauts cadres doivent se considérer autant comme faisant partie de l’administration tout entière que comme représentants de leur propre ministère) et le souci de l’amélioration des compétences de gestion de ces hauts fonctionnaires. En Nouvelle-Zélande, le State Sector Act de 19885 a divisé en deux le groupe des dirigeants: les secrétaires généraux (Chief Executive), recrutés sur leurs qualités de leadership et de bonne gestion, capables de gérer des structures très autonomes et soumis à l’évaluation de leurs performances; leurs adjoints et les responsables de niveau immédiatement inférieur (Senior Executive Service – SES) avec comme objectif de renforcer les capacités managériales de l’administration, d’améliorer la coordination et de favoriser la mobilité des cadres. Leur nombre est de 250–300. En Italie, le décret législatif du 31 mars 1998 (modifié en octobre 2002) les a soumis aux mêmes règles que la plupart des autres agents publics et les a classés en deux groupes: les dirigeants généraux au nombre de 400 et les dirigeants (4 000). Aux Etats-Unis, le Civil Reform Act de 1978 avait donné naissance au Senior Executive Service – SES (1979) comprenant 5 940 personnes sans compter 660 postes n’appartenant pas au SES. Le Canada, a créé, en mars 2001, l’Executive group, soit 3 600 cadres qui comprend les sous-ministres adjoints (ou délégués), les directeurs généraux, les directeurs et adjoints. Dans le cadre de la réforme Copernic, la Belgique, a créé un groupe comportant quatre niveaux de titulaires de mandat 5 Institut de la gestion publique et du développement économique, Réformer l’encadrement supérieur: l’expérience de sept pays, 2003, non publié.
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dont le plus haut est formé des 23 présidents du comité de direction d’un Service Public Fédéral (SPF)6 et présidents d’un service public de programmation (SPP). Le gouvernement conservateur australien avait créé en 1989 la Senior Executive Structure (SES) qui unifiait les conditions de recrutement, de promotion et d’évaluation. Le gouvernement britannique crée en 1996 le Senior Civil Service fort d’environ 3 200 hauts fonctionnaires qui s’appuie sur le vivier issu du programme Fast Stream. Une fois créée cette structure, il fallait préciser le mode de recrutement de ses membres. 2. Un processus de sélection Comment un gouvernement peut s’assurer d’avoir «la bonne personne», au bon poste et au bon moment? La stratégie de recrutement paraît largement reposée sur trois caractéristiques: une large ouverture aux candidatures externes (même si les hauts cadres venant du secteur privé restent largement minoritaires), des politiques actives en direction des femmes et, suivant les cas, des minorités, une faible exigence sur le niveau de formation requis (un diplôme de l’enseignement supérieur est généralement suffisant). Trois stratégies de recrutement sont possibles: un concours d’entrée, l’intervention d’un centre d’évaluation (assesment center) qui décèle les compétences personnelles à l’aide de tests et de mises en situation, le recours à un comité de sélection (ou de présélection) pour rendre la procédure transparente et objective. Il y a souvent intervention de ces deux dernières procédures comme en Belgique où les résultats de la procédure d’évaluation compte autant qu’un entretien devant un comité de sélection. En revanche, au Canada, les membres de l’Executive group sont normalement choisis par la Commission de la fonction publique, le recours à un centre d’évaluation n’intervient que pour l’accès aux plus hauts niveaux. Souvent les procédures sont différentes selon le niveau du poste. Pour le (ou les) poste (s) les plus élevé (s), la décision de l’autorité de nomination est précédée de l’intervention d’un comité de présélection qui établit une première liste de candidats, c’est le cas aux Pays-Bas pour le Top management group, en Nouvelle-Zélande où la décision du Secrétaire général en charge de l’administration et de la fonction publique (State Services Commissioner) est précédée du recours à des consultants en recrutement qui présélectionnent des candidats. L’Italie, dont l’objectif est également de dépolitiser l’administration, recrute des cadres jeunes par deux concours. L’ouverture sans restriction aux personnalités extérieures, comme aux Pays-Bas, n’entraîne pas un bouleversement; en 2001, seul 10% des cadres supérieurs néerlandais provenaient de l’extérieur. 6
La réforme Copernic a rebaptisé les ministères en «services publics fédéraux».
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Les mécanismes de recrutement reposent donc sur des processus variés qui peuvent être très sophistiqués comme celui qui a été mis en place aux Pays-Bas. A l’occasion d’une vacance, le ministère concerné procède à une description de la fonction; à l’aide d’un système automatisé contenant les données de carrière essentielles des cadres supérieurs, on dresse une première liste de candidats potentiels, liste qui sera ensuite réduite avant que n’interviennent des entretiens de sélection. Par ailleurs, se développe le «système de compétences ABD». Il repose sur 28 compétences couvrant tout le spectre des fonctions de cadre supérieur dans l’administration, divisées en 7 groupes de 4 compétences. Pour chaque poste, on détermine un certain nombre de compétences essentielles (de 7 à 9), le fonctionnaire visé doit exceller dans ces compétences spécifiques et posséder un niveau minimum pour les autres qualités requises. 3. Une contractualisation Tous ces pays se sont orientés vers une contractualisation de leurs cadres les plus élevés qui ne signifie pas automatiquement précarisation. L’idée de carrière reste très présente. Que le recrutement se fasse par un contrat à durée indéterminée ou par une nomination à vie, la fonction d’encadrement supérieur est confiée par un contrat ou une nomination à durée déterminée. Le système est assez proche de celui adopté en France pour les emplois fonctionnels de direction (sous-directeurs, chefs de service) qui ne peuvent être occupés que pour une période de trois ans renouvelable une fois. Le système belge de «fonctions sous mandat» est un bon exemple. Les emplois les plus importants sont, en quelque sorte, sortis de la carrière, comme les emplois à la discrétion du gouvernement en France, au profit d’un système de mandats à durée déterminée (6 ans renouvelables), accessibles aussi bien aux personnes internes qu’externes ayant une expérience de management. Ces mandats sont temporaires et conditionnés par l’obtention d’objectifs à atteindre. Les missions et obligations de gestion, les objectifs stratégiques et opérationnels et les moyens budgétaires attribués sont définis. Il peut être mis fin au mandat du fonctionnaire avant son échéance en cas de prestations jugées insuffisantes. Aux Pays-Bas, tous les membres du Service d’administration générale (Algemeen Bestuursdienst) ont des contrats de 3 à 7, ans renouvelables pour ceux dont les contrats sont de moins de 7 ans. Toutefois, si leur affectation aux différentes fonctions est à durée déterminée, leur nomination est permanente. C’est également le cas au Royaume-Uni où les cadres supérieurs britanniques signent deux contrats: un contrat à durée indéterminée et un contrat qui fixe la durée, les conditions d’emploi, ainsi que la perfor-
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mance attendue (Performance Agreement) dans le poste. Dans des pays comme le Canada ou les Etats-Unis, il n’y a pas de contrats spécifiques pour les cadres supérieurs, mais ils ne peuvent se maintenir qu’en fonction des performances et des résultats du service dont ils sont chargés. En Italie, les dirigeants signent un contrat de droit privé (de trois à cinq ans selon leur niveau) qui précise leurs objectifs, la durée de leur mission et leur rémunération qui est totalement contractualisé. Le dirigeant signe deux contrats, l’un d’une durée indéterminée avec son ministère employeur, l’autre d’une durée déterminée avec son supérieur hiérarchique pour la fonction qui lui est confiée. Ces contrats prévoient des procédures de gestion et d’évaluation des performances très contraignantes. 4. Des mécanismes d’évaluation et de sanction Dans la plupart des pays, il existe une évaluation de la performance qui prend en compte les résultats de l’organisation et la contribution du cadre à l’atteinte de ces résultats. L’évaluation est annuelle ou bi-annuelle et une évaluation plus complète est réalisée en fin de mandat ou de contrat et conditionne le maintien, voire la progression dans la carrière. Ces évaluations influent sur la part variable de la rémunération qui est de 11% au Royaume-Uni, de 15% en Nouvelle-Zélande et de 40% en Italie. La Belgique évalue ses managers tous les deux ans sur la base des objectifs définis dans le plan de management et le plan opérationnel. Le Canada y procède chaque année dans le cadre des priorités stratégiques fixées par le sous-ministre, le cadre étant évalué sur la base de critères de mesures du rendement qui servent à déterminer si les engagements ont été réalisés. Les membres du SES américain ont un plan de performance qui définit les objectifs à atteindre. L’évaluation est faite par le supérieur hiérarchique puis est transmise au Conseil d’examen des performances (Performance Review Board) composé de représentants de l’organisme et de personnalités extérieures. Le cadre peut obtenir des primes d’équipe ou générale et des primes individuelles, mais si son évaluation n’est pas satisfaisante, il peut soit être révoqué, soit transférer à un poste qui n’appartient pas au SES, soit transférer à un autre poste SES. Ces processus d’évaluation peuvent aboutir à la révocation avant la fin au mandat en cas de prestations jugées insuffisantes comme en Belgique. En Italie, le cadre est évalué annuellement et en fin de contrat. Sa rémunération est basée sur un élément fixe représentant 60% du total, une part de 20% correspondant à la responsabilité du poste selon une classification effectuée par le ministère et une autre part de 20% liée à l’atteinte des résultats. Les hauts cadres britanniques sont soumis à une évaluation spéci-
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fique «évaluation à 360%» où interviennent le supérieur hiérarchique direct, les collègues de même niveau de responsabilité, les subordonnés et parfois les usagers du service public. Aux Pays-Bas, l’objectif est de parvenir à une plus grande flexibilité (en particulier de salaire) conjuguée avec un jugement sur des résultats par rapport à des objectifs fixés au préalable de manière à pouvoir plus facilement muter (voire licencier) les hauts fonctionnaires du Service d’administration générale qui ne donneraient pas satisfaction dans un poste donné. La notion de carrière et de promotion est différente selon que l’on a affaire comme en Italie (et en France) à des cadres jeunes ou que l’on se trouve dans un système où les postes d’encadrement ne concernent que des postes de top managers. Il est évident qu’aux Etats-Unis, où les postes de SES sont des postes de sommet de carrière, il existe peu de possibilités de promotion. En Belgique, les hauts cadres doivent à l’issue de leur mandat repasser la procédure de recrutement sauf ceux qui ont obtenu la mention «très satisfaisant» à l’évaluation finale. Au Royaume-Uni où la durée moyenne d’occupation d’un poste est de 3 à 4 ans, le cadre peut soit postuler sur un autre emploi soit rester sur son poste à condition qu’il démontre les qualités requises pour le poste postulé ou un poste de responsabilité plus élevée. 5. Une efficacité douteuse? La relative jeunesse de la plupart de ces mécanismes empêche d’en étudier l’impact sur l’efficacité et l’efficience des administrations. Plusieurs de ces réformes sont fragiles et ne sont pas parfaitement implantées. Elles sont au milieu du gué car les changements culturels mettent de nombreuses années avant de produire des résultats. En Belgique, le malaise et le mal-être dus à la réforme Copernic sont persistants. Certains cadres supérieurs ont un sentiment de déclassement, l’autonomie des présidents des Services publics fédéraux (SPF – nouveau nom des ministères) dans la gestion de leur personnel est source de fortes inquiétudes. La place prise par les consultants est fortement critiquée et le personnel qui doit s’adapter à de nouvelles structures, de nouvelles carrières, de nouvelles procédures de travail avec une introduction massive des technologies de l’information et de la communication n’est pas en reste. Cette réforme coûteuse peut achopper sur les questions budgétaires qui pèsent lourd aujourd’hui. C’est la même chose en Italie où on estime que le chemin sera long dans les administrations centrales pour opérer un changement de culture. Certaines expériences incitent à une grande prudence car elles ne semblent pas toujours concluantes. Le programme de modernisation de l’admi-
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nistration centrale danoise, lancé en 1983, le montre. L’occupation temporaire des emplois de responsabilité a été un axe précoce de ces réformes (loi de 1969). Cependant, alors que tous les postes de dirigeants devaient être pourvus par mandat à durée déterminée, le système n’a été appliqué que dans de rares cas, victime à la fois de son coût, des distorsions qu’il introduisait entre hauts fonctionnaires et des difficultés de négociation lors du renouvellement des mandats. Un nouveau projet du ministère des Finances sur la politique de gestion du personnel d’encadrement dans les années 1990 avait prévu le renforcement des pouvoirs mais aussi des responsabilités des dirigeants. Sélectionnés en fonction de leurs compétences de gestionnaires, ils seraient, après une période d’essai, engagés sur des contrats résiliables pour garantir une plus grande flexibilité et une efficacité accrue. Leurs performances seraient, par ailleurs constamment évaluées et leurs salaires fixés en conséquence. De plus, les dirigeants auraient la faculté d’imposer des sanctions économiques à leurs subordonnés. On ne dispose pas d’un bilan de ce projet mais on doit constater que trente ans après le début de cette réforme, un constat clair de ses résultats se fait attendre. En Nouvelle-Zélande, le système mis en place en 1988 par le State Sector Act a largement échoué. L’échec est attribué à la perte d’éthique et d’esprit du service public en raison des allers-retours entre secteur public et secteur privé, ainsi qu’en raison de l’absence de souplesse du système. Les secrétaires généraux qui disposent par ailleurs d’une grande autonomie dans la rémunération de leurs autres collaborateurs, n’auraient pas les mêmes marges pour les membres du SES, les rémunérations offertes seraient trop insuffisantes pour les attirer. Un nouveau programme était prévu en 2001 pour remplacer ce mécanisme. L’objectif était, à nouveau, de constituer un vivier de dirigeants de qualité, capables de mener à bien la modernisation des services publics, d’augmenter le nombre de personnes susceptibles d’être nommées aux postes de secrétaires généraux et de renforcer l’attractivité du secteur public et de mieux coordonner l’action des agences. Une chose est de cerner précisément ce que doivent être les hauts cadres administratifs du XXIème siècle et une autre de mettre en place une structure et des mécanismes de gestion aptes à les produire. Or, ils sont plus nécessaires que jamais pour mener à bien les politiques incontournables de modernisation des administrations. II. L’imputabilité externe L’imputabilité externe sera étudiée à partir de l’exemple nord américain (Canada et province du Québec)7 très éclairant pour qui, en Europe, serait tenté de l’implanter.
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1. Les premières réflexions Au Canada, la première apparition de la notion d’imputabilité remonte à une commission Glassco de 1962 recommandant de: «laisse[r] la gestion aux gestionnaires» et d’adopter des normes objectives pour évaluer toute activité. Elle souhaitait évaluer l’efficacité générale des ministères et, en particulier, le rendement de leurs administrateurs8. Mais elle était consciente que l’obligation de rendre des comptes devait suivre la responsabilisation, c’est-à-dire l’allégement des contrôles centraux que les années 1930 et le seconde guerre mondiale avaient multipliés. Il faudra attendre le rapport de 1976 du vérificateur général dénonçant l’insuffisance des contrôles classiques et affirmant que le Parlement et le Gouvernement ne contrôlait plus de façon efficace l’utilisation des deniers publics pour voir réapparaître la notion. Mais, le rapport de la commission royale d’enquête sur la gestion financière et l’imputabilité (dit Lambert de 1979) qui s’en était suivi n’avait pas, malgré ses multiples recommandations dont quelques unes ont été mises en oeuvre, changé les choses. Au Québec l’imputabilité externe trouve son origine dans un rapport Claude Forget de 1977 suivi d’un rapport Michaud de 1979 sur la dissociation de la responsabilité politique du ministre de la responsabilité administrative du sous-ministre mais aussi dans l’impact de la commission Lambert au fédéral. Un rapport Vaugeois de 1982 recommandait que «le sous-ministre devait rendre compte au Parlement des activités courantes du ministère qui échappent, en pratique, à la surveillance du ministre». Dans la foulée, une commission parlementaire publiait un rapport en 1982 (rapport Bisaillon) Pour une fonction publique sensible aux besoins des citoyens, moderne, efficace et responsable. Tous ces rapports conseillaient l’adoption d’un régime d’imputabilité pour accroître l’efficacité et la maîtrise du gouvernement et du Parlement. 2. Une mise en place lente et difficile Même dans ces pays prédisposés en raison de leur culture, sa mise en place a été très lente et partielle. En 1984, le gouvernement fédéral canadien adoptait une philosophie de gestion fondée sur la responsabilité, la délégation de pouvoirs, l’incitation à une gestion créative et efficiente et une 7 L’auteur, par des séjours réguliers au Canada entre 1987 et 2000, a recueilli les témoignages de hauts fonctionnaires et réuni une importante documentation. 8 Commission royale d’enquête sur l’organisation du gouvernement (Glassco), Tome 1, La gestion de la fonction publique, Ottawa, Imprimeur de la Reine, 1962, p. 56–57.
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réduction des contraintes administratives, préalable à la mise en place de l’imputabilité9. Fin 1990, il publiait un livre blanc Fonction publique 2000, Le renouvellement de la fonction publique du Canada qui renouvelait la problématique de l’imputabilité. L’idée est que les fonctionnaires sont explicitement comptables envers leurs supérieurs et, en fin de compte, envers les ministres, de la qualité de leur travail, de l’utilisation de leur autorité, des ressources qui leur sont confiées et des résultats obtenus. Les méthodes portent sur l’unicité du budget par programme, la possibilité pour les gestionnaires de choisir les moyens les plus rentables d’exécution du travail, la possibilité de report à l’exercice suivant d’une partie du budget, les primes pour les augmentations de productivité, un retour de modernisation en cas d’économies, la délégation de pouvoirs au plus près du service aux clients, la formation, l’autorité accrue sur le personnel (affection aux postes de travail, promotion, déploiement). Dans le passage sur les sous-ministres, il ne semble plus question qu’ils soient soumis à une évaluation autre que celle de leur ministre et du Premier ministre (qui les nomme) ainsi que du greffier du Conseil privé, c’est-à-dire du responsable de la fonction publique10. Au Canada, on en restait donc à l’imputabilité interne. En revanche au Québec, la commission du budget et de l’administration dépose en décembre 1990 un rapport (dit Lemieux-Lazure) d’évaluation sur La loi de la fonction publique de 1983 qui préconise son amendement afin de: «prévoir l’obligation pour les sous-ministres de rendre compte par un témoignage direct devant les commissions parlementaires en l’absence du ministre responsable, des actes découlant d’un pouvoir délégué»11. Les sous-ministres étaient opposés à l’imputabilité externe12. Elle leur semblait une solution peu opportune car, dans les faits, les seuls pouvoirs qu’ils exerçaient étaient ceux qui leur étaient délégués par une autre instance responsable. Ils craignaient que les discussions portent surtout sur des sujets politiques en raison des liens très étroits entre les volets administratif et politique d’un dossier, pouvant placer le ministre dans une situation délicate. Il leur paraissait donc prématuré de développer un mécanisme d’imputabilité externe alors que le gouvernement n’avait pas encore établi un mécanisme d’imputabilité interne. En revanche, ils envisageaient avec faveur l’imputabilité interne en raison des liens d’imputabilité entre eux et le se9 Compte rendu de la 5e conférence intergouvernementale sur les politiques budgétaires, St. Andrews (Nouveau-Brunswick), 1986. 10 J.-L. Manion, La fonction publique de carrière au Canada, in: Revue internationale des sciences administratives, 1991, p. 413–426. 11 Commission du budget de l’administration, Au service du citoyen, la raison d’être de la fonction publique au Québec, rapport final, 17 décembre 1990. 12 Rapport au forum des sous ministres, Implantation d’un mécanisme d’imputabilité pour les sous-ministres, 26 septembre 1989, 8p + annexes.
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crétaire général du Conseil exécutif, porte parole du Premier ministre et du conseil des ministres. Elle aurait l’avantage sur le plan politique, de permettre au Premier ministre de s’assurer que les grandes priorités gouvernementales étaient prises en considération et, sur le plan administratif, elle conduirait à une plus grande précision des orientations permettant une meilleure responsabilisation, elle permettrait aux sous-ministres de mieux connaître les attentes de leurs «patrons» et de savoir à l’avance les critères qui serviraient à l’évaluation de leur performance. Leur forum concluait sur l’intérêt d’une imputabilité devant le secrétaire général. Le 15 juin 1993, le Parlement adoptait une Loi sur l’imputabilité des sous-ministres et des dirigeants d’organismes publics qui assoie le principe de la reddition de comptes administratifs de ces hauts fonctionnaires devant les commissions parlementaires: «un sous-ministre ou une personne exerçant les pouvoirs que la Loi sur la fonction publique attribue à un sous-ministre [. . .] sont, conformément à la loi, notamment en regard de l’autorité et des pouvoirs du ministre de qui chacun d’eux relève, imputables devant l’Assemblée nationale de leur gestion administrative». Une commission parlementaire devait les entendre au moins une fois par an pour discuter de leur gestion administrative et de toute autre matière de nature administrative relevant de ce ministère ou organisme, et signalée dans un rapport du vérificateur général ou du Protecteur du citoyen. Le gouvernement n’y était pas favorable au nom de la responsabilité ministérielle. La création d’une Commission de l’administration publique, en avril 1997, a cependant permis un véritable essor de l’imputabilité externe. En trois ans (jusqu’à juin 2000), la commission a déposé cinq rapports d’imputabilité à l’Assemblée contenant un total de 106 recommandations13 et un colloque a tenté de faire un bilan de l’application de la loi14. La Loi sur l’administration publique du 31 mai 2000 incorpore les dispositions de la loi de 1993 qu’elle abroge. Elle renforce les obligations des ministères. Ceux-ci doivent en effet déposer obligatoirement à l’Assemblée nationale un rapport annuel de gestion faisant état des résultats obtenus par rapport aux objectifs prévus dans leur plan stratégique et leur plan annuel de gestion des dépenses, rendus également obligatoires par cette loi. La commission doit entendre les sous-ministres et les dirigeants d’organismes, ainsi que le ministre s’il le juge opportun, au moins un fois par an afin de rendre des comptes sur leur gestion administrative. Cette loi rend donc les 13 Assemblée nationale, Québec, Comité de réflexion sur le travail des commissions, De la nécessité du contrôle parlementaire, Pour des commissions parlementaires stimulantes et performantes, juin 2000, p. 9. 14 Colloque «Des administrateurs publics imputables? Bilan, comparaison et perspectives», ENAP, 15 avril 1999.
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ministères imputables sur leur déclaration de services aux citoyens, leur planification stratégique et leur rapport annuel de gestion. Ce rapport précise le degré d’atteintes des résultats et constitue avec les autres documents des outils beaucoup plus précis qu’auparavant à la disposition des parlementaires. La transparence est plus grande et les «clientèles» comme les media pourront plus facilement interpeller les ministères. 3. Les limites intrinsèques du système Une première limite est liée à la qualité des documents dont les parlementaires disposent. Ils ne peuvent se référer qu’aux rapports du Vérificateur général dont la mission est de: «favoriser le contrôle parlementaire des fonds et autres biens publics en réalisant en toute indépendance la vérification des états financiers et l’évaluation de la gestion et de la reddition de comptes, tout en effectuant la promotion des saines pratiques dans ces domaines»15. Au Québec, son champ de compétence s’étend à plus de 200 ministères, organismes ou entreprises du gouvernement gérant plus de 65 milliards de $ et 15 organismes ou fonds exerçant des activités de nature fiduciaire (130 milliards de $ d’actifs). Les débats de reddition de compte du «Programme volontaire de départ à la retraite» de 1997 illustrent plus une vision comptable relativement étroite des choses qu’une appréciation des résultats obtenus par rapport au mandat donné. Le dialogue est donc parfois difficile entre un Vérificateur, sûr de ses chiffres, des gestionnaires qui répondent qu’ils ne correspondent pas au mandat reçu et portent en partie sur des éléments politiques sur lesquels ils n’ont pas à intervenir, et des parlementaires qui tentent de se faire une opinion sur des sujets très complexes. Une deuxième limite est liée aux contraintes inhérentes au secteur public. La fixation d’objectifs par le pouvoir politique est rarement faite dans des conditions telles qu’elle permette de procéder ultérieurement à une évaluation objective de la performance. Bien souvent d’ailleurs, celui-ci poursuit plusieurs objectifs, souvent flous qui doivent être décryptés par la bureaucratie. La complexité de l’appareil gouvernemental entraîne le plus souvent l’impossibilité d’assigner à un individu précis la responsabilité d’une décision partagée entre fonctionnaires, ministères, et fréquemment niveaux d’administration. Le rôle du haut fonctionnaire au sommet de la hiérarchie est en outre suffisamment ambigu pour lui laisser une liberté d’action beaucoup plus grande que ne l’exige le cadre conceptuel de l’imputabilité. Il peut d’ailleurs assez facilement se retrancher derrière l’absence d’une délégation d’autorité mise à mal par l’obligation d’équité et de cohérence des politiques et des programmes qui conduisent souvent à renforcer la centralisation. 15
Vérificateur général du Québec, Orientations stratégiques 2000–2003.
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4. L’obstacle constitutionnel à l’imputabilité externe La quête perpétuelle de l’imputabilité externe au Canada comme au Québec relève de l’attention portée à la société civile. Les gens voient à la télévision des fonctionnaires auditionnés par le Congrès aux Etats-Unis. Ils y acquièrent l’idée que le fonctionnaire peut rendre des comptes de sa gestion devant des parlementaires. D’où depuis 1980, les multiples tentatives pour essayer d’identifier une zone où le fonctionnaire devrait rendre des comptes. La difficulté vient de ce que les institutions sont inspirées par la Grande-Bretagne et non par les Etats-Unis; il y a donc une contradiction entre la responsabilité des ministres devant le Parlement qui est globale et la sphère de responsabilité propre aux administratifs. On bute sur la séparation entre le politique et l’administratif. L’histoire de l’imputabilité au Québec est celle de l’expérimentation: introduction, aménagement et réaménagement, réflexion sur les limites et les objectifs de l’imputabilité. La vision actuelle est loin de celle du début des années 1990 où l’imputabilité des fonctionnaires correspondait à celle des ministres. Aujourd’hui, l’idée prévaut que la nécessaire reddition des comptes du sous-ministre au ministre est suivie d’une séquence devant les parlementaires sans que ceux-ci puissent ni donner des ordres ni sanctionner les fonctionnaires. Ce serait en quelque sorte une participation des fonctionnaires à l’imputabilité des ministres devant les parlementaires. Dans les faits, il semble que les sous-ministres et présidents d’organismes aient été satisfaits du système de la loi de 1993. L’imputabilité leur permet de se justifier, de démontrer leur utilité et de contribuer ainsi à nourrir l’idée que la Fonction publique sert à quelque chose dans la société. En témoigne la satisfaction de ce président d’université: «J’ai comparu 8 heures à l’Assemblée nationale. C’est passionnant . . . Quand j’ai comparu, la nouvelle ministre de l’Education écoutait sur le ‘perroquet’ [bureaux où l’on peut écouter ce qui se dit dans les commissions] ce que j’allais dire de son prédécesseur. Des ministres ont vite vu que c’était très dangereux pour eux. Les ministres sont plus inquiets que les sous-ministres. Comme présidents d’université, on a été entendu pendant 15h. On s’était arrangé pour dire que les politiques gouvernementales n’étaient pas bonnes. C’est nous qui avons le contrôle de la situation, c’est une tribune qu’on nous donne». On voit, à cet exemple, les difficultés du système: il pose différemment la question des rapports entre le ministre et le sous-ministre et n’évacue pas celle de la séparation entre politique et administration. Le ministre a donc plus à craindre de l’imputabilité externe que cette dernière, surtout avec le contexte nouveau de la loi 2000 qui impose des obligations à long terme (les plans stratégiques assortis d’indicateurs de résultats) dangereuses à assumer.
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L’imputabilité sera ce qu’en fera le Parlement. Ou il accepte d’y jouer un rôle accru ou il y aura un essoufflement s’il ne s’y implique pas. L’homme politique s’intéresse plus à l’aspect politique des choses qu’à leurs aspects administratifs. Or là, les parlementaires ne peuvent faire de la politique et le jeu parlementaire et partisan ne trouve pas à s’exprimer dans ce mécanisme. Or, remarquait un interlocuteur: «La classe politique ici est typique du régime parlementaire britannique dans les colonies. Le parlementaire, et parfois le ministre, est une personne qui, la veille, pouvait être mon coiffeur. Il est facile d’être député ou ministre. Or ils n’ont guère de diplôme en gestion publique, donc ils se situent dans la politique partisane. Ils se servent d’un sujet pour en faire un débat partisan». Les députés de la majorité ne peuvent se faire valoir en raison de la discipline de parti, et ceux de l’opposition doivent montrer qu’ils ne sont pas toujours négatifs. Avec le développement de l’imputabilité, il faudra de plus en plus de commissions parlementaires pour entendre les fonctionnaires. Le Parlement aura-t-il la volonté et l’aptitude nécessaire pour contrôler l’administration alors qu’il s’intéresse plus à l’aspect politique des choses à leur aspect administratif? L’une des raisons du relatif échec de l’imputabilité externe réside dans le fait que la mise en cause de la responsabilité des administrateurs a été envisagée depuis le sommet de la hiérarchie pour se diffuser ensuite à tous les niveaux. On peut le comprendre dans le contexte des théories dominantes sur l’administration publique en vigueur dans les pays anglo-saxons. Telle qu’elle a été conçue, l’imputabilité suppose un responsable unique pour le ministère (sous-ministre, permanent secretary, secrétaire général) et la persistance des idées wilsoniennes sur la dichotomie affaires politiques/affaires administratives. Toucher au sommet pose immédiatement le problème, le plus souvent constitutionnel, de la responsabilité ministérielle. Un régime d’imputabilité des gestionnaires modifie la convention constitutionnelle qui assure la suprématie du pouvoir exécutif sur l’administration. Elle met en cause la subordination de l’administration «puisqu’elle implique un partage de responsabilité entre le pouvoir exécutif et l’administration»16. En effet, les réformes managérialistes britanniques n’ont pas remis en cause les relations ministres-civil servants. La fidélité envers les principes constitutionnels de la responsabilité ministérielle et de l’anonymat des fonctionnaires reste proclamée. On ne saurait voir, semble-t-il, dans la responsabilité en matière de gestion du personnel et de gestion financière du permanent secretary (personnel and accounting officer) une véritable imputabilité. Cette responsabilité est assez formelle, elle s’exerce au nom du ministre. L’instauration 16 A. Gélinas, La commission parlementaire: mécanisme d’imputabilité à l’égard des sous-ministres et des dirigeants d’organismes, in: Administration publique du Canada, 1984, p. 379.
Comment rendre les hauts fonctionnaires «imputables» (accountable)?
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des agences d’exécution a été un moyen de décharger le permanent secretary de cette responsabilité. Mais ces nouveaux mécanismes n’empêchent pas la réaffirmation de la responsabilité ministérielle. Aucun ministre ne pourra décliner sa responsabilité pour le travail d’une agence17 même si le rapport The Next Steps a prévu une diminution de la responsabilité ministérielle pour les activités des agences. Les ministres resteraient responsables des objectifs généraux des agences mais seraient déchargés de leur responsabilité en ce qui concerne les moyens mis en oeuvre pour les atteindre. Les Chief Executives pourraient, en revanche, être convoqués devant les commissions compétentes du Parlement. Il est clair pourtant que les ministres continueront de répondre des activités des agences et que les documents-cadres leur donneront les possibilités d’avoir les informations nécessaires. Conclusion L’imputabilité externe heurte par trop les principes constitutionnels de beaucoup de pays pour qu’elle puisse être acclimatée en Europe, même si reste toujours posée la question du contrôle de l’administration par les Parlements qui n’a guère reçu, jusqu’à présent, de solutions efficaces. Aussi bien ce sont les gouvernements qui doivent s’assurer de la responsabilisation et du contrôle de ses hauts fonctionnaires et c’est, à juste titre dans une démocratie, une préoccupation constante du pouvoir politique. La vogue du nouveau management public (NPM) a conduit à penser qu’on y trouverait des recettes pour les assurer. Mais, malgré des avancées certaines comme l’occupation temporaire des postes, assortie de mécanismes de sanctions/récompenses, il n’est pas certain que la contractualisation comme l’appel à des personnalités extérieures à l’administration puissent remplir tous les espoirs mis en eux. Faudrait-il se résoudre à en revenir à un simple contrôle politique du type de celui qui a toujours existé en France et qui a été récemment renforcé? Les lettres de mission explicitant les objectifs généraux ou particuliers assignés par le ministre au directeur ou au président d’un établissement, leur rôle et les moyens mis en œuvre, l’évaluation périodique de la mise en oeuvre des instructions, le cas échéant à l’occasion d’entretiens spécifiques avec les directeurs concernés, s’ajoutant à la présence constante, voire pesante, de membres du cabinet du ministre «harcelant» les directeurs et cherchant à prendre leur place au moindre faux pas constituent un stimulant sérieux à leur efficacité. Peut-être autant que la passage devant une commission parlementaire. 17 G.-K. Wilson, Perspectives pour la fonction publique en Grande-Bretagne, Major à la rescousse?, in: Revue internationale des sciences administratives, 1991, p. 371–392.
Leistungsorientierte Bezahlung im öffentlichen Dienst – Probleme und Lösungsansätze Hans Peter Bull I. Grundsatzdebatte und konkrete Reformen Die „Ressource Personal“ ist die wichtigste, um eine Organisation zu guten Leistungen zu bringen. Das richtige „Management“ des Personals stellt einen Schlüssel zum Erfolg dar. Über die Methoden des Personalmanagements wird daher in Zukunft wesentlich mehr zu sprechen sein. Auch im öffentlichen Dienst spielt dabei die Frage eine zentrale Rolle, ob und wie die Leistungen durch eine Neugestaltung des Bezahlungssystems gesteigert werden können und sollen. Leistungsorientierte Bezahlung gilt als ein Instrument, nicht nur die Beschäftigten für größere Anstrengungen nachdrücklicher zu belohnen, sondern auch allgemein zu höheren Leistungen zu motivieren. Ein weiterer Grund für die Forderung nach Leistungsorientierung folgt daraus, dass die deutsche öffentliche Verwaltung nach wie vor wesentlich von dem Bestreben geprägt ist, Regeln (Rechtsnormen) richtig anzuwenden, während insbesondere wirtschaftlich denkende Kritiker zusätzlich eine stärkere Ausrichtung an Ergebnissen fordert, also output- statt bloßer input-Orientierung. Heinrich Siedentopf hat die Leistungsbezahlung in der Vergangenheit eher skeptisch beurteilt;1 seine Argumente kehren in der aktuellen Diskussion wieder. Im Folgenden soll versucht werden, Chancen und Risiken der entsprechenden Reformansätze auf der Grundlage praktischer Erfahrungen einzuschätzen und nicht – wie so oft – zunächst einmal die Grundsatzdebatte über das Berufsbeamtentum zu wiederholen.2 Diese Debatte ist schon des1
H. Siedentopf/R. Koch, Zweckrationalität und Opportunismus bei der Dienstpostenbewertung, in: VerwArch 68 (1977), S. 99 (114). Ähnlich H.-W. Laubinger, Gedanken zum Inhalt und zur Verwirklichung des Leistungsprinzips bei der Dienstpostenbewertung bei der Beförderung von Beamten, in: VerwArch 83 (1992), S. 246 (257 ff.). 2 Dazu verweise ich auf eigene frühere Veröffentlichungen, insbes.: Positionen, Interessen und Argumente im Streit um das öffentliche Dienstrecht, in: Die Verwaltung 37 (2004), S. 327–352, sowie: Beamte – die vernachlässigten Hüter des Gemeinwohls?, in: DÖV 2007, S. 1029–1039; siehe auch: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur „Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufs-
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halb unfruchtbar, weil dabei regelmäßig von einer besonderen Stellung der Beamten ausgegangen wird. Die Unterscheidung zwischen Beamten und Tarifangestellten ist zwar nach geltendem Recht geboten und führt dazu, dass die Umsetzung von Maßnahmen der Personalverwaltung unterschiedliche Rechtsformen erfordert, aber die tatsächliche Ausgangslage ist gleich, die Notwendigkeit von Verbesserungen besteht für beide Gruppen, und die dazu geeigneten Mittel der Personalführung und des Personalmanagements müssen für beide nach den gleichen Grundsätzen entwickelt werden. Praktiker, die über Leistungssteigerungen, Verbesserung des Betriebsklimas, inner- und zwischenbehördliche Wettbewerbe usw. beraten, unterteilen das Personal richtigerweise nicht erst einmal nach Statusgruppen. II. Gründe für und gegen einen Wechsel des Bezahlungssystems 1. Alimentationsprinzip gegen Leistungsgrundsatz? Die Orientierung des Entgelts an den Leistungen ist im Recht des öffentlichen Dienstes bisher nicht üblich. Im Beamtenrecht gilt der „hergebrachte Grundsatz“ (Art. 33 Abs. 5 GG), dass der Dienstherr seine Beamten zu „alimentieren“ hat; Belohnungen für gute und negative Reaktionen auf schlechte Leistungen sind nicht vorgesehen – außer dass die Möglichkeit einer Beförderung bzw. ihrer Verweigerung besteht. Auch das Tarifrecht sah bisher keine Instrumente dafür vor, auf die Leistungen der Angestellten mit materieller Belohnung oder „Bestrafung“ zu reagieren; nur die Höhergruppierung oder die arbeitsrechtlichen Maßnahmen der Abmahnung und in letzter Linie der Kündigung standen zur Verfügung. In der Literatur wird gelegentlich der Eindruck erweckt, als verstoße die Einführung leistungsbezogener Elemente der Beamtenbesoldung gegen das Alimentationsprinzip und verändere das Berufsbeamtentum in seinem Kern.3 Der Beamte erhalte seine Bezüge als „Globalvergütung“ für die „volle Hingabe der Arbeitsleistung in beamtenrechtlicher Treue“4 bzw. für die Dienstbereitschaft, nicht für den konkret geleisteten Dienst.5 Auch das Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 GG) verlange keineswegs eine solche Änbeamtentums“, in: R. Chr. van Ooyen/M. H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 449–461; sowie: Bürokratieabbau und Dienstrechtsreform, in: DÖV 2006, S. 241–249. 3 Vgl. etwa D. Merten, Alimentationsprinzip und Beamtengesetzgebung, in: ZBR 1996, S. 353. Anders jedoch H. Siedentopf, Reformprozesse in der Verwaltung und Personalentwicklung, in: H. Hill (Hrsg.), Modernisierung – Prozess oder Entwicklungsstrategie?, 2001, S. 325 ff. (335 f.). 4 W. Leisner, Am Ende der Alimentation, in: DÖV 2002, S. 763 ff. (766). 5 Merten, Alimentationsprinzip (Anm. 3), S. 355.
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derung des Besoldungsrechts; die von einem Beamten gezeigte Leistung könne durch Beförderung honoriert werden, und außerdem sei das Leistungsprinzip bereits in den Dienstaltersstufen berücksichtigt, deren Sinn es sei, „die Lebens- und Berufserfahrung eines Beamten entsprechend zu würdigen“.6 Aber selbst strenge Traditionalisten erkennen heute bei allen Vorbehalten doch an, dass die Berücksichtigung der erbrachten Leistung mit dem Prinzip der Unterhaltssicherung vereinbar ist.7 Die „ethisch-verklärte Betrachtung des Beamtentums“ ist heute kaum noch vermittelbar; sie „weicht einer funktionellen Betrachtung, in der der Austausch von mess- und quantifizierbaren Leistungen das Verhältnis zwischen Dienstherren und Beamten bestimmt“.8 Dass die „volle Hingabe“9 an den Dienstherrn nicht mehr der wirklichen Mentalität der Beamtenschaft entspricht, kann auch ohne entsprechende demoskopische Umfragen festgestellt werden;10 sichere Anzeichen dafür finden sich in den zahllosen Forderungen der Beamtenvertreter, die (mit Recht) auf die Leistungen der Beamten für die Allgemeinheit abstellen. Das Denken in den Kategorien von Leistung und Gegenleistung – anders gesagt: der Anspruch, die wesentlichen Leistungen jeweils durch annähernd gleichwertige Gegenleistungen vergolten zu bekommen – beeinflusst also weithin auch die Vorstellungen vom Dienstverhältnis, nicht nur bei den Arbeitnehmern der Wirtschaft, son6
K. Pohl, Alimentation und Leistungsprinzip in der künftigen Beamtenbesoldung, in: RiA 1995, S. 261. 7 So zwar nicht ausdrücklich, aber implizit R. Summer, Leistungsanreize/Unleistungssanktionen, in: ZBR 1995, S. 125 (127); noch deutlicher in der Anerkennung leistungsbezogener Elemente des Bezahlungssystems ders., Gehen wir vorwärts oder gehen wir zurück?, in: ZBR 2002, S. 109 (111). Auch Pohl, Alimentation (Anm. 6), beanstandet die seinerzeit bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten leistungsabhängiger Zahlungen (Zulagen und Zuschläge wie Mehrarbeitsvergütung und nach den Sonderbestimmungen für Post und Telekom) nicht, lehnt aber jegliche Sanktion von Schlechtleistungen (Herabstufung) ab. 8 J. Lorse, Eckpunktepapier „Neue Wege im Dienstrecht“: Wie verbindet man Eckpunkte zu Grundlinien einer Reform?, in: DÖV 2005, S. 445–457 (447). Gegen die „am marktwirtschaftlichen Denken orientierten“ neuen Entwicklungen („Privatisierung des Beamtenrechts“) wendet sich u. a. A. Janssen, Die zunehmende Privatisierung des deutschen Beamtenrechts als Infragestellung seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: ZBR 2003, S. 113 (115). 9 Mit Recht wird diese Formulierung daher im künftigen Beamtenstatusrechtsgesetz durch die Worte „voller persönlicher Einsatz“ ersetzt (§ 35 des Entwurfs eines Beamtenstatusgesetzes, BT-Drs. 16/4027 v. 12.1.2007); s. dazu auch B. Lemhöfer, Nach der Föderalismusreform: Das kommende Beamtenstatusgesetz für Länderund Gemeindebeamte, in: RiA 2007, S. 49 ff. (50). 10 Schon vor Jahrzehnten stellte W. Schick umstandslos fest, dass die Auffassung, auf der das Alimentationsprinzip beruht, nämlich „das totale Aufgehen des Beamten in den Interessen seines Dienstherrn“, heute nicht mehr „stimmt“ (Beamtentum – Beamtenrecht – Beamte, in: JZ 1970, S. 449 [451]).
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dern auch bei denen des öffentlichen Dienstes, wie die heftigen Diskussionen um die Angemessenheit der Bezüge beweisen. Das bedeutet, dass die Beamtenbezüge eben nicht mehr als leistungsunabhängige „Besoldung“ verstanden werden können, sondern als „Bezahlung“, d. h. als Gegenleistung des Dienstherrn für geleistete Arbeit (oder – bei bestimmten Diensten – für die Dienstbereitschaft) angesehen und entsprechend gestaltet werden. Das ist auch international die herrschende Tendenz.11 Da sich überdies – wie Heinrich Siedentopf schon vor längerer Zeit schrieb – die amtsbezogene Besoldung „weitgehend von der tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeit des Bediensteten gelöst hat“,12 besteht Änderungsbedarf. Die Beamten dürfen für ihre Leistungen eine angemessene und marktgerechte Gegenleistung erwarten.13 Einer Mindestsicherung als „Alimentation“ bedarf es dann nicht. Der Arbeitsmarkt wird gerade für die hochqualifizierten Funktionen, die für den öffentlichen Dienst repräsentativ sind, günstige Konditionen schaffen, und auch in vielen anderen Funktionen wird bald wieder Nachwuchsmangel herrschen, so dass die Bewerber gute Chancen haben. 2. Beförderung als Alternative zur leistungsorientierten Differenzierung? Die Aussicht auf Beförderung bzw. Höhergruppierung kann zweifellos ebenfalls zu besseren Leistungen anreizen, ist aber keineswegs überall und stets das sich anbietende Mittel zur Honorierung guter Leistungen. Zum einen sind Beförderungen durch das Laufbahnrecht eingeschränkt. Vor allem aber fehlen die nötigen Stellen. Dass sie nicht geschaffen werden, ist nicht nur Folge der staatlichen Finanznot. Beförderungsämter dürfen nach § 25 BBesG grundsätzlich nur eingerichtet werden, „wenn sie sich von den Ämtern der niedrigeren Besoldungsgruppe nach der Wertigkeit der zugeordneten Funktionen wesentlich abheben“. Das folgt auch aus dem Grundsatz des § 18 S. 1 BBesG, wonach die Funktionen der Beamten, Richter und Soldaten „nach den mit ihnen verbundenen Anforderungen sachgerecht zu bewerten und Ämtern zuzuordnen“ sind. Wird der Grundsatz ernst genommen, dass nur auf höherwertige Funktionen befördert werden darf, so entfallen die Beförderungsmöglichkeiten für 11 Ch. Demmke, Leistungsbeurteilung bei Einführung leistungsorientierter Besoldung: Erste europäische Erfahrungen, in: ZBR 2007, S. 81. 12 H. Siedentopf, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Bewertungssysteme für den öffentlichen Dienst, 1978, S. 5. 13 Dazu auch H. P. Bull, Von der amtsangemessenen Alimentation zur leistungsgerechten Bezahlung, in: Dokumentation 15. Deutscher Verwaltungsrichtertag Weimar 2007, S. 291 ff.
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zahllose Beamte.14 So müssen ausgezeichnete Lehrer Schulleiter oder Schulräte werden, um in den Genuss höher bewerteter Stellen zu kommen, und den Schulen werden auf diese Weise die besten Kräfte entzogen. Polizeimeister und -kommissare, die ihre Aufgaben pflichtgetreu erfüllen, müssen zu Ober- und Hauptmeistern und -kommissaren befördert werden, ohne dass sich diese Aufgaben „wesentlich“ ändern. Man hat versucht, diese Schwierigkeiten durch Veränderungen des Stellenschlüssels und durch „Stellenbündelung“ zu umgehen. Sogar Beförderungen in das zweite Beförderungsamt ohne Funktionswechsel waren „häufig“.15 Bereits im Jahre 1975 sollte diese „Fehlentwicklung“ unterbrochen werden – letztlich wohl ohne durchschlagenden Erfolg, wie Schwegmann/Summer erkennen lassen.16 Die Praxis erfindet fragwürdige Konstruktionen, um Beförderungen zu rechtfertigen. Es wird also ständig gegen das Gesetz verstoßen – weil eben das Bedürfnis der Beamten, von Zeit zu Zeit „voranzukommen“, als legitim anerkannt ist, es aber an anderen Mitteln fehlt, diesem Bedürfnis gerecht zu werden. Danach ist klar, dass die Beförderung keinen Ersatz für eine differenziertere Reaktion auf die erbrachte Leistung darstellt. 3. Praktische Schwierigkeiten Gegen die Leistungsorientierung im Beamtenrecht – und ebenso gegen die gleiche Neuorientierung im Tarifrecht – werden auch viele praktische Einwände ins Feld geführt. Manche dieser Äußerungen rühren offensichtlich von dem emotionalen Unbehagen her, dass die Sonderstellung des öffentlichen Dienstes angetastet werde; man will verständlicherweise nicht mit gewinnorientierten Privatunternehmen auf eine Stufe gestellt werden und meint, die Leistungsbeurteilung sei im Kern mit Wesensmerkmalen des öffentlichen Dienstes unvereinbar. Hinzu kommt die stets vorhandene Angst vor Veränderungen – man weiß, was man hat, aber nicht, was kommt . . . Das wichtigste Gegenargument besteht darin, dass die Leistungen der Beschäftigten nicht hinreichend genau gemessen werden könnten.17 Daher sei 14 Vgl. dazu auch H. P. Bull, Bürokratieabbau und Dienstrechtsreform, in: DÖV 2006, S. 241 (243 f.). 15 B. Schwegmann/R. Summer, Bundesbesoldungsgesetz, Kommentar, § 18 BBesG Rn. 1 (Stand Juli 1997). 16 Schwegmann/Summer, Bundesbesoldungsgesetz (Anm. 15); siehe auch die strengen Ermahnungen ebd. bei § 25 BBesG Rn. 9–11 (Stand November 1994). 17 Vgl. etwa Janssen, Privatisierung (Anm. 8); M. Kutscha, Reform des öffentlichen Dienstrechts – aber wie?, in: RuP 2003, S. 145 (146); B. Remmert, Warum muss es Beamte geben? in: JZ 2005, S. 53 (54 f.). W. A. Oechsler, Ist Leistung objektiv messbar?, in: ZBR 1996, S. 202, stellt fest, dass die Vergabe von Leistungs-
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bei Einführung eines solchen Systems Streit zu befürchten; es werde eine Welle von verwaltungsgerichtlichen Klagen geben. Schließlich würden diejenigen, die sich benachteiligt fühlen, vollkommen entmutigt und demotiviert; in der Folge würde also das Leistungsniveau allgemein sinken statt steigen. Diese Einwände sind ernst zu nehmen.18 Die Konsequenz kann aber nicht sein, auf jegliche Leistungsorientierung zu verzichten und alles beim Alten zu belassen. Es kommt vielmehr darauf an, die theoretischen Grundlagen weiter auszuarbeiten und in der Praxis überzeugende Methoden der Leistungsbewertung einzuführen (die ihrerseits in ein insgesamt verändertes System des Personalmanagements eingebettet sein müssen).19 Hier bietet sich ein reiches Betätigungsfeld für zukunftsorientiert denkende Gewerkschaften und Berufsverbände wie auch für die Wissenschaft (wobei freilich die Jurisprudenz schnell an die Grenzen ihrer Qualifikation stößt und die Betriebswirtschaftslehre gefragt ist). Dabei müssen neben den materiellen Fragen auch die des richtigen Verfahrens angegangen werden. III. Die Ausgestaltung des neuen Systems 1. Die Ausgestaltung der Leistungsanreize a) Arten von Leistungsentgelten Als materielle Leistungsentgelte sind seit der kleinen Dienstrechtsreform von 1997 Prämien, Zulagen und das frühere Aufsteigen in der Besoldungsstufe zugelassen. Sie sind jedoch nicht in allen Ländern und auch beim Bund nur teilweise eingeführt worden. Der Bund sieht in seinem künftigen zulagen „mit dem Anspruch auf Objektivität“ auf der Grundlage von Beurteilungen der Vorgesetzten nicht erwartet werden könne (S. 204 f.), dass es andererseits aber in einer Leistungsgesellschaft „keine Alternative zur Leistungsbeurteilung“ gibt. 18 Nicht wirklich begründet ist jedoch die Befürchtung, „politische Anpassungsbereitschaft“ könne als verdecktes Leistungskriterium verwendet werden (Kutscha, Reform [Anm. 17], S. 147; Remmert, in: JZ 2005, S. 5 [55 mit Anm. 22]). Auf den meisten Dienstposten ist es gar nicht möglich, eine solche Bereitschaft zu zeigen. Nur auf höheren Stufen der Hierarchie kann es zu derartiger (partei)politischer Anpassung kommen – mit Folgen für die Leistungsfähigkeit des Amtes, die auf die politischen Vorgesetzten negativ durchschlagen können (so auch D. Kugele, Die politischen Beamten in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZBR 2007, S. 109 [115]). 19 In diesem Sinne hält Oechsler, Leistung (Anm. 17, S. 206) es für nötig und aufgrund amerikanischer Erfahrungen für möglich, dass in der öffentlichen Verwaltung ein „leistungsorientiertes Management-System“ geschaffen werde. Auch L. Kathke, Leistungsfeststellung als Grundlage leistungsorientierter Besoldung, in: ZBR 2006, S. 357 ff., meint bei aller Skepsis gegenüber der Leistungsmessung, das Problem sei nicht unlösbar.
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Bezahlungsrecht20 nur noch die „bewährten“ Prämien vor. Er will damit „zusätzlichen Vollzugs- und Bürokratieaufwand“ vermeiden. „Die in der Praxis wenig geschätzten Instrumente der Leistungsstufe und Leistungszulage fallen zukünftig weg.“21 Was die Länder aufgrund ihrer neuen Gesetzgebungskompetenz beschließen werden, ist noch ungewiss. Es wäre bedauerlich, wenn die verfügbare Variationsbreite nicht ausgeschöpft würde. b) Empfänger In der Literatur wird die Ansicht vertreten, Leistungsprämien und Leistungszulagen ließen sich nur dann vom Leistungsprinzip her rechtfertigen, „wenn sie für Individualleistungen vergeben werden und nicht zu Gruppenprivilegien entarten“.22 Richtig ist natürlich, dass Leistungsentgelte nicht vergeben werden dürfen, wenn keine dies rechtfertigenden Leistungen erbracht worden sind; insofern würde es sich tatsächlich um „Privilegien“ handeln. Nicht einzusehen ist jedoch, dass Gruppen von Beschäftigten, die gemeinsam eine gute Gesamtleistung erbracht haben, dafür nicht gemeinsam belohnt werden sollen. Vor allem das strukturierte Zusammenwirken mehrerer Beamter in einer Projektgruppe kann zu besonders guten Arbeitsergebnissen führen, und es ist nicht erforderlich, dass der Beitrag des Einzelnen von denen der anderen abgetrennt werden kann.23 Es dürfte auch in anderen Fällen sinnvoll sein, auf die exakte Feststellung des individuellen Beitrages zu verzichten. Bedenken aus dem Gleichheitssatz erweisen sich als unbegründet, wenn man mit der gegenwärtigen Rechtslage vergleicht, die von niemandem verfassungsrechtlich beanstandet worden ist. Jeder Beamte und jede Beamtin der gleichen Besoldungsgruppe und -stufe erhält das gleiche Gehalt, ohne Rücksicht darauf, wie viel oder wie wenig er oder sie leistet. Eine nach Arbeitsgruppen pauschalierte Leistungsvergütung entspräche eher dem Gebot, gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche ungleich zu behandeln, und wäre deshalb gerechter als die Bezahlung nach geltendem Recht. 20
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesrechts (Dienstrechtsneuordnungsgesetz – DNeuG), Fassung v. 24.1.2007. 21 J. Lorse, Neue Strategien in der Leistungsbezahlung und Leistungsmessung der Beamten, in: RiA 2007, S. 62 ff. (72). 22 H. Schnellenbach, Leistungsprämien und Leistungszulagen im öffentlichen Dienst, in: DVBl. 1995, S. 1153 (1156), im Anschluss an N. Achterberg, in: DVBl. 1977, S. 541 (547). 23 Nur für diesen Fall will Schnellenbach, Leistungsprämien (Anm. 22) eine „gruppenbezogene Orientierung“ zulassen.
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c) Besondere Gruppen: Richter und Hochschullehrer Diskutiert wird, ob auch Richter an einer leistungsbezogenen Bezahlung beteiligt werden sollen. In der Richterschaft überwiegt die Tendenz, dies abzulehnen, doch gibt es auch andere Stimmen.24 Tatsächlich werden auch Richter seit je „beurteilt“, und aufgrund der dienstlichen Beurteilungen werden Beförderungen vorgenommen. Ein (begrenzter) Wettbewerb um die besten Leistungen findet auch innerhalb der Richterschaft statt, aber soll man diesen Wettbewerb stärker betonen und dabei noch mehr auf materielle Anreize setzen? Es ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dies zu unangemessener Prioritätensetzung bei der richterlichen Amtsführung beitragen könnte, also etwa zur besonders schleunigen Produktion möglichst vieler gleichartiger Urteile, zu unangebrachten Vergleichsvorschlägen und zur Zurückstellung besonders schwieriger Verfahren. Überdies ist schon die Differenzierung zwischen den Richterrängen nicht unproblematisch, und es ist in der Vergangenheit einmal gefordert worden, dass alle Richter gleiche Gehälter erhalten sollten. Die weitere Differenzierung über das geltende System der R-Besoldung hinaus wäre ein Pendelschlag in das entgegengesetzte Extrem. Die neue „W-Besoldung“ der Hochschullehrer hat viel Kritik erfahren. Bei ihr spielen Leistungskomponenten eine wichtige Rolle, freilich ohne dass bisher die Kriterien allgemein geklärt wären.25 2. Die Bewertungsmaßstäbe a) Wirtschaftlichkeit der Verwaltung Es ist selbstverständlich, dass die Leistungen öffentlich Bediensteter nicht nach erzielten „Gewinnen“ bewertet werden können. Die Verwaltung muss zwar wirtschaftlich arbeiten, aber sie darf keinen Gewinn anstreben, sondern Einnahmen nur im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften über Steuern, Beiträge und Gebühren erzielen. Sofern Verwaltung privatrechtlich handelt, ist sie an grundrechtliche Beschränkungen gebunden, die eine ungebremste Einnahmenerzielung ebenfalls verbieten. In bestimmten Bereichen ist es aber möglich, die gesetzlich vorgesehenen Einnahmen tatsächlich zu steigern, z. B. durch intensivere Kontrollen und weitergehende Ausschöpfung von Abgabentatbeständen. Ein Finanzbeamter, der die Steuererklärungen sorgfältiger prüft, ein Betriebsprüfer, der auf ver24
H.-G. Patt, Die Angst des Richters vor der Prämie, in: ZRP 2007, S. 97 f. Vgl. etwa die Kritik von L. Knopp, Neue Personalstrukturen an den Hochschulen und neue Professorenbesoldung, in: ZBR 2003, S. 149 ff. (155 ff.). 25
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deckte Steuertatbestände stößt, steigert in rechtlich korrekter Weise die Einnahmen des Staates ebenso wie ein Rechnungsprüfer, der auf Erstattungsforderungen der öffentlichen Hand aufmerksam macht. Die Finanzsituation des Staates oder der Kommune kann auch dadurch verbessert werden, dass eine Beschaffungsstelle geschickter einkauft oder dass Leistungen der Verwaltung, die einen Marktwert haben, im Rahmen der Vorschriften „marktgerechter“ kalkuliert werden. Schließlich ist auch der Umgang mit Diensträumen und Arbeitsmitteln unter Aspekten der Sparsamkeit in Zahlen übersetzbar. Im herkömmlichen „betrieblichen Vorschlagswesen“ werden seit langem Innovationen prämiert, die zur Beschleunigung oder Erleichterung des Geschäftsganges oder zu Einsparungen bei Material- und anderen Kosten führen. Solche Kriterien können auch bei einem System der Leistungsbezahlung berücksichtigt werden. b) Quantitative und qualitative Maßstäbe Für weite Bereiche des öffentlichen Dienstes sind aber zusätzliche Bewertungskriterien nötig. Dabei kommen sowohl quantitative wie qualitative Maßstäbe in Betracht: Fallzahlen (erledigte Sachen, erlassene Bescheide, Verfügungen etc.) ebenso wie Einschätzungen kompetenter Beurteiler von der Qualität der Leistungen (Rechtmäßigkeit, Zügigkeit, Angemessenheit des Stils, Kundenfreundlichkeit etc.). In Zahlen lässt sich manchmal auch die Erfüllung inhaltlicher Maßstäbe messen; so erlaubt die Quote angefochtener oder aufgehobener Verwaltungsakte Rückschlüsse auf die juristische Qualität der Entscheidungen (wenn auch gewisse Vorbehalte möglich sind; sie können bei der weiteren Bewertung beachtet werden). Besonders schwer – weil nicht ohne weiteres akzeptiert – sind Maßstäbe für persönliche und an die Person gebundene Leistungen wie die der Lehrer und Hochschullehrer zu finden. Hier fehlen weitgehend die „harten“ Kriterien, an ihre Stelle müssen „weiche“ Messverfahren treten. Dabei wäre es natürlich abwegig, die Bezahlung der Studienräte und Professoren proportional zur Zahl erfolgreich examinierter Schüler und Studenten zu bestimmen. Manche Äußerungen von Bildungsreformern scheinen zwar genau darauf hinauszulaufen – einige wollen offenbar tatsächlich die Abbrecherbzw. die Absolventenquote und den Notenspiegel als Indikatoren für Misserfolg oder Erfolg eines Ausbildungsganges und seiner Träger ansehen (was von generellen Gegnern der Leistungsbewertung wiederum als Argumente ad absurdum aufgegriffen wird). Aber es dürfte sich schließlich doch herumsprechen, dass hier ein fatal falscher Anreiz gesetzt wird, vergleichbar dem in der wirtschaftswissenschaftlichen Populärliteratur kolportierten „Kobra-Effekt“: Um der Schlangenplage Herr zu werden, soll die britische
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Verwaltung in Indien Prämien für jeden abgelieferten Kobrakopf ausgesetzt haben – mit der Folge, dass die Menschen Schlangen züchteten, um an die Prämien zu kommen.26 Tatsächlich ist die Beurteilung auch wissenschaftlicher und pädagogischer Leistungen nichts Neues; sie wird in der Praxis durch Kollegen und Kollegien, Berufungskommissionen und Fakultäten vorgenommen, aber manchmal zu subjektiv und zu summarisch. Immerhin werden vielfach auch durchstrukturierte und daher relativ besser akzeptierte Beurteilungsverfahren praktiziert, insbesondere Leistungsvergleiche (benchmarking) und geregelte Kollegenbeurteilung (peer rating). Auch hier gilt im Übrigen, was zur Hervorhebung ganzer Arbeitsgruppen gesagt wurde: Eine summarische, vielleicht etwas zu grobe Differenzierung ist besser als gar keine. c) Bezugnahme auf zuvor festgelegte Anforderungen Die vermutlich sicherste Grundlage der Leistungsbewertung besteht in einem Vergleich der zuvor konkretisierten Anforderungen, die sich aus der übertragenen Funktion, also aus der Aufgabenbeschreibung für den konkreten Dienstposten und den zusätzlich für den Beurteilungszeitraum vereinbarten aktuellen Zielen ergeben, mit den erbrachten Leistungen. Die „Ziel- und Leistungsvereinbarungen“, wie sie in der Wirtschaft seit einigen Jahren intensiv praktiziert werden, sind offenbar ein geeignetes Instrument zur Leistungssteigerung wie zur Bewertung und Belohnung erbrachter Leistungen.27 Daher nehmen die neuen Tarifverträge, die sich mit der leistungsbezogenen Bezahlung befassen, gerade auf diese Vereinbarungen Bezug. Der TVöD-AT in der Fassung für die Kommunen (§ 18 Abs. 5–7) stellt als neues Instrument neben die „systematische Leistungsbewertung“ „das Vergleichen von Zielerreichungen mit den in der Zielvereinbarung angestrebten Zielen“ (§ 18 Abs. 5 S. 1) und definiert als „Zielvereinbarung“ die „freiwillige Abrede zwischen der Führungskraft und einzelnen Beschäftigten oder Beschäftigtengruppen über objektivierbare Leistungsziele und die Bedingungen ihrer Erfüllung“ (a. a. O. S. 2). Auch der neue Leistungs-Tarifvertrag Bund28 nennt die Zielvereinbarungen neben der systematischen Leistungsbewertung und 26 So berichtet von H. Siebert, Der Kobra-Effekt, 2. Aufl. 2003, der die Geschichte von Tyll Necker übernommen hat. 27 Vgl. dazu grundsätzlich den Bericht der nordrhein-westfälischen Regierungskommission „Zukunft des öffentlichen Dienstes – öffentlicher Dienst der Zukunft“, Januar 2003, 2. Aufl. Mai 2004, hrsg. v. Innenministerium NRW, S. 110 ff. 28 Tarifvertrag über das Leistungsentgelt für die Beschäftigten des Bundes, abgeschlossen zwischen dem BMI und der Gewerkschaft ver.di am 25.8.2006, abgedruckt in: W. Dörring/J. Kutzki, TVöD-Kommentar: Arbeitsrecht für den öffentlichen Dienst, Heidelberg 2007, S. 909 ff.
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definiert sie (§ 4). Darüber hinaus sind in § 18 Abs. 6 TVöD Anforderungen an Zielvereinbarungen und an die Formen der Leistungsbewertung bestimmt. Um ihren Zweck zu erfüllen, müssen Ziel- und Leistungsvereinbarungen bestimmten Anforderungen entsprechen, deren wichtigste in dem Akronym SMART zusammengefasst sind: Die Ziele sollen spezifisch, messbar, attraktiv, realisierbar und terminiert sein.29 Hier kommen also auch für die Zielvereinbarungen die Schwierigkeiten der Kriterienbestimmung zum Ausdruck, wenn auch in abgemilderter Form. Spezifische Ziele sind umso schwerer festzulegen, je gleichförmiger die Anforderungen des konkreten Dienstpostens sind; die Messbarkeit ist, wie schon angesprochen, bei all den Aufgaben schwer zu erreichen, die stark an die Person gebunden sind und nicht nach strengem Ablaufschema verrichtet werden. Attraktivität gewinnt ein Ziel häufig gerade erst durch die Aussicht auf Belohnung – im öffentlichen Dienst sind aber sehr oft auch die Aufgaben interessant genug, um als intrinsisch motivierende Ziele vereinbart zu werden, und das Instrument der regelmäßig wiederkehrenden Zielabrede fördert die Abwechslung, die ihrerseits zur Motivation beiträgt. Realisierbarkeit sollte durch möglichst große Konkretheit und sorgfältige Berücksichtigung der Rahmenbedingungen gewährleistet werden; die Terminierung gehört dazu ebenso wie die Bereitstellung der nötigen Ressourcen (bei Führungskräften z. B. die Zahl der nötigen Mitarbeiter und das verfügbare Budget) – diese sollten in die Vereinbarung aufgenommen werden. Zielvereinbarungen sollten nicht wie eine umfassende Stellenbeschreibung formuliert werden, sondern möglichst wechselnde Schwerpunktziele festlegen.30 Innerhalb der einzelnen Vergleichsgruppe müssen die Ziele selbstverständlich gleich oder zumindest gleichwertig (gleich anspruchsvoll) festgelegt werden, damit sich die Mehrleister wie die Minderleister davon abheben; es wäre unfair, die Latte für die Qualifizierteren von vornherein höher und für die Schwächeren von vornherein niedriger zu legen.
29
Ausführlich hierzu und zu den folgenden Einzelheiten: Bericht der nordrheinwestfälischen Regierungskommission (Anm. 27) S. 115 ff.; siehe auch Ch. Demmke, Leistungsbeurteilung bei Einführung leistungsorientierter Besoldung: Erste europäische Erfahrungen, in: ZBR 2007, 81 ff. (89) m. w. N. – § 18 Abs. 6 S. 2 TVöD-K stellt heraus, dass „die individuellen Leistungsziele von Beschäftigten bzw. Beschäftigtengruppen“ [. . .] „beeinflussbar und in der regelmäßigen Arbeitszeit erreichbar sein“ müssen. 30 Bericht der nordrhein-westfälischen Regierungskommission (Anm. 27), S. 116.
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d) Dienstliche Beurteilungen statt Ziel- und Leistungsvereinbarungen? Zielvereinbarungen bilden für die Zwecke der regelmäßigen (jährlichen) Leistungsbeurteilung eine angemessenere Grundlage als dienstliche Beurteilungen, die sich auf einen größeren Zeitraum beziehen (z. B. auf drei oder vier Jahre oder bei einer Anlassbeurteilung u. U. sogar länger) und auf eine umfassende Beurteilung aller für das Dienstverhältnis relevanten Leistungen und Fähigkeiten des Beamten abzielen. Die dienstliche Beurteilung ist erforderlich, um Entscheidungen über die weitere Verwendung der Beamten, insbesondere über Beförderungen, Fortbildung und längerfristige Karriereplanung vorzubereiten; diese Funktion hat der Vergleich der Zielerreichung mit der Zielvereinbarung nicht, mag auch eine Hervorhebung bei der jährlichen Leistungsbeurteilung einen Baustein für einen Aufstieg in der Hierarchie darstellen.31 Nach dem Entwurf des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes vom Januar 200732 soll aber die Vergabe der Leistungsprämie (und damit das einzige verbleibende Instrument der Leistungsbezahlung) nach dem „bisherigen bewährten Vergabeverfahren“ vor sich gehen.33 Dabei handle es sich um eine „von der Beurteilung abgesetzte und auf eine verantwortliche Entscheidung des zuständigen Vorgesetzten konzentrierte [. . .] Auswahl“34 der Empfänger. Was das für die Bestimmung der Maßstäbe bedeutet, ist unklar. Vermutlich soll damit die Entscheidungsbefugnis der Vorgesetzten erweitert werden. Lorse sieht in dieser Aussage des Gesetzentwurfes das Scheitern der Versuche, ein System der individuellen und stärker objektivierbaren Leistungsmessung zu etablieren.35 e) Einbeziehung der Normalleistungen Ein hiervon zu trennendes Problem ist es, ob Leistungen, die nicht aus dem üblichen Rahmen der alltäglichen Aufgabenerfüllung herausfallen, überhaupt bewertet und in ein leistungsorientiertes Bezahlungssystem einbezogen werden sollen. Es gibt offensichtlich eine starke Tendenz bei Dienstherren wie bei Gewerkschaften, nur einen Teil der Beschäftigten in 31 Zur Notwendigkeit der Trennung von Leistungs- und Verwendungsbeurteilung vgl. schon V. Mehde, Das dienstliche Beurteilungswesen vor der Herausforderung des administrativen Modernisierungsprozesses, in: ZBR 1998, S. 229 (232). 32 Siehe oben Anm. 20. 33 Vorblatt des Entwurfs (Anm. 20), S. 3. 34 Ebd. (vorige Anm.). 35 J. Lorse, Neue Strategien (Anm. 21), S. 62 (72).
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das System der leistungsorientierten Bezahlung einzubeziehen; im Extremfall läuft das darauf hin, überhaupt nur ganz außergewöhnliche Leistungen hervorzuheben. Dann kann man sich auf einmalige Prämien beschränken. Diese Beschränkung scheint die Reform leichter durchsetzbar zu machen, aber sie bewirkt in Wahrheit, dass diese auf halbem Wege stecken bleibt oder wegen konterkarierender Nebenwirkungen ganz scheitert. Gerade auch die große Zahl derer, die durchschnittliche oder vom Durchschnitt nur wenig abweichende Leistungen erbringen, sollte durch leistungsbezogene Bezahlungselemente zu Leistungssteigerungen motiviert und für Geleistetes belohnt werden. Werden nur wenige oder nur ein geringer Teil der Beschäftigten hervorgehoben, so wirkt dies auf die anderen demotivierend. Im schlimmsten Fall überwiegen die Frustrationseffekte die angestrebten Anreizwirkungen und führen zur Verschlechterung der Gesamtleistung. Aus dieser Erwägung heraus hat die nordrhein-westfälische Regierungskommission Wert darauf gelegt, dass alle Beschäftigten in das System einbezogen werden, auch wenn dies erheblichen Einführungsaufwand erfordert, und deshalb ist es Teil dieses Vorschlags, dass auch die „Normalleister“ einen leistungsbezogenen Bezahlungsanteil erhalten. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass alle Beschäftigten regelmäßig eine Rückmeldung über ihre erbrachten Leistungen erhalten und dass diejenigen, die unter die Normallinie fallen, Abstriche an ihrer Bezahlung hinnehmen müssen. Der größere Aufwand dieses Systems bildet die Grundinvestition dafür, dass in der Zukunft nicht wieder nur einige wenige von Prämien profitieren und die Leistungsorientierung für die große Zahl der Übrigen faktisch keine Rolle spielt. Eine befriedigende Definition der „Normalleistung“ scheint schwieriger zu sein als die Feststellung solcher Leistungen, die man als „außergewöhnlich“ oder „herausragend“ bezeichnet. Aber auch die Feststellung des „Besonderen“ setzt ein – vielleicht unbewusstes – Verständnis vom „Normalen“ voraus. Die Praxis ist durchaus in der Lage, auch eine „normale“, „durchschnittliche“, also „befriedigende“ Leistung zu bestimmen, deren Erreichung oder Über- oder Unterschreitung bei der individuellen Leistungsmessung möglich ist. Insbesondere die Orientierung an den Ziel- und Leistungsvereinbarungen, die in regelmäßigen Abständen neu abzuschließen sind und sich auf die aktuelle Geschäftslage und die anstehenden Arbeiten beziehen, kann zu akzeptablen und tatsächlich akzeptierten Ergebnissen führen. Was das Verhältnis von Normalleistung und Mehr- oder Minderleistung angeht, hat die Regierungskommission vorgeschlagen, die Gesamtvergütung in den unteren und mittleren Funktionen derart aufzuteilen, dass etwa 90 bis 94 Prozent der Gesamtvergütung (des „Zieleinkommens“) als „Basisvergütung“ gezahlt wird, deren absolute Höhe auf der Grundlage einer für alle
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Funktionen vorzunehmenden Funktionsbewertung (nach Marktwert und relativem Wert der Funktionen) errechnet wird, während 6 bis 10 Prozent der Gesamtzahlung auf die „Leistungskomponente“ entfallen sollen.36 „Normalleister“ der untersten Gruppe bekommen danach 97 Prozent ihrer Bezüge als Basisvergütung und zusätzlich 3 Prozent als Leistungsvergütung. Steigern sie ihre Leistung, so können sie 103 Prozent der ursprünglichen Zielvergütung erreichen; sinkt die Leistung auf ein Minimum ab, so bleiben 97 Prozent, eben die Basisvergütung.37 In mittleren Funktionen können dann 105 Prozent des normalen Zieleinkommens erreicht werden, bei Schlechtleistung jedoch nur 95 Prozent. „Die Leistungsvergütung muss, um ihren Zweck zu erfüllen, einen signifikanten Teil der Gesamtbezahlung ausmachen. Je höher die erreichte Hierarchiestufe und Eigenverantwortung, desto größer soll die Leistungskomponente ausfallen (aber auch das Risiko höherer Einbußen bei schwachen Leistungen).“ Deshalb meint die Kommission, in den obersten Leitungsbereichen könne der Maximalwert der variablen Vergütungselemente ggf. bei 50 Prozent und noch mehr des Jahreseinkommens liegen, so dass in diesen Bereichen ein Maximaleinkommen von 125 Prozent des durchschnittlichen Zieleinkommens und ein Minimum von 75 Prozent möglich ist.38 Ob diese wesentlich höhere Leistungskomponente bei den Spitzenfunktionären realisierbar ist, mag man bezweifeln; das hängt auch davon ab, wie die Rechtsstellung der Führungskräfte insgesamt gestaltet wird.39 Hier zeigen sich vermutlich auch die Grenzen der überzeugenden Messbarkeit von Leistungen im öffentlichen Dienst. Die Tarifpartner haben vereinbart, in der Endstufe 8 Prozent und zunächst ein Prozent des Personalkostenvolumens für das Leistungsentgelt zu verwenden (§ 18 Abs. 2 S. 1 TVöD-Bund, § 18 Abs. 3 S. 1 TVöD-VKA). Die Spanne von 6 bis 10 Prozent, die von der Regierungskommission für die unteren und mittleren Funktionsgruppen vorgeschlagen wurde, wird also offenbar auch von den Tarifparteien als angemessen angesehen.
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Bericht der Kommission (Anm. 27), S. 134 ff. Ebd. S. 136. 38 Ebd. 39 So kann sich für wirtschaftsnahe Führungsfunktionen die außertarifliche Anstellung statt der Verbeamtung empfehlen. 37
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3. Das Verfahren der Leistungsmessung a) Allgemeines Stimmen die Maßstäbe, so fällt auch die Messung der erbrachten Leistungen leichter. Sie bleibt schwierig genug, aber auch hier können inzwischen Erfahrungen aus anderen Bereichen berücksichtigt werden. Nach § 18 Abs. 5 TVöD-K geschieht die Feststellung oder Bewertung von Leistungen „durch das Vergleichen von Zielerreichungen mit den in der Zielvereinbarung angestrebten Zielen oder über eine systematische Leistungsbewertung“. Damit hat man im Tarifrecht einen großen Schritt getan: Eröffnet wurde damit zumindest die Möglichkeit einer zukunftsweisenden Neugestaltung des ganzen Bezahlungssystems – wenn auch zunächst nur für die Kommunen. Die Bundesfassung des TVöD enthält diese Bestimmung noch nicht, aber im Leistungs-TV Bund ist diese Öffnung nachgeholt worden.40 Für die beamtenrechtliche Leistungsprämie soll aber nach dem Entwurf des DNeuG41 kein spezielles Bewertungssystem eingeführt werden, und die Vorgesetzten sollen bei ihrer Entscheidung auch nicht gehalten sein, die dienstliche Beurteilung zugrunde zu legen.42 Die umfassende Beurteilung wird, wie oben zu III. 2. d. bereits ausgeführt, für die Zuerkennung einer Leistungsprämie in der Tat nicht benötigt und ist überdies vielleicht überholt; fragwürdig ist nur, dass hier der subjektiven Einschätzung der Vorgesetzten wiederum so viel Raum zugebilligt wird, dass der ohnehin zu erwartende Willkürvorwurf neue Nahrung erhält. Außerdem ist mit Lorse die „angesichts der unumkehrbaren tarifrechtlichen Entwicklung“ „nicht unproblematische Asynchronität der Leistungsmessung im Bereich der Statusgruppen des öffentlichen Dienstes“ zu bedauern.43 b) Zielerreichungsvergleich Relativ einfach ist es, die Erreichung von Zielen und ggf. den Zielerreichungsgrad festzustellen, wenn den Regeln entsprechende Zielvereinbarungen vorliegen (siehe oben III. 2. c). 40 § 5 Leistungs-TV Bund, abgedruckt bei Dörring/Kutzki, TVöD-Kommentar (Anm. 28). 41 Siehe oben Anm. 20. 42 Kritisch dazu Lorse, Neue Strategien (Anm. 21): „Die Leistungsmessung im Beamtenbereich bleibt weiterhin eine domaine réservé der dienstlichen Beurteilung.“ 43 Lorse, Neue Strategien (Anm. 21).
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Betreffen diese Vereinbarungen nur einen Teil der geforderten Leistungen – z. B. weil nur bestimmte Schwerpunkte oder besondere Aufgaben ausdrücklich angesprochen sind, daneben aber auch Routineaufgaben einen gewichtigen Teil der Arbeit ausmachen –, so muss bei der abschließenden Bewertung der Gesamtleistung außer dem Grad der Zielerreichung auch die übrige Tätigkeit beachtet und bewertet werden.44 Wichtig ist, dass über die Zielerreichung ein Gespräch zwischen Mitarbeiter und Führungsperson stattfindet.45 c) Beurteilungssystem Als „Leistungsbewertung“ versteht der TVöD-K die „auf einem betrieblich vereinbarten System beruhende Feststellung der erbrachten Leistung nach möglichst messbaren oder anderweitig objektivierbaren Kriterien oder durch aufgabenbezogene Bewertung“ (§ 18 Abs. 5 S. 3). Die Systeme der dienstlichen Beurteilung sind seit Jahrzehnten Gegenstand von Kontroversen. Selten hört man, dass die Mitarbeiter mit einem solchen Regelsystem zufrieden sind, oft sind sie sehr unzufrieden und beklagen Willkür der Beurteiler.46 Gefordert wird „Gerechtigkeit“ der Beurteilung, und dagegen kann an sich niemand etwas einwenden. Nur ist die Gerechtigkeitsforderung in ihrer extremen, sozusagen „himmlischen“ Form, wie sie gerade von Beamten gegenüber Vorgesetzten erhoben wird, letztlich unerfüllbar.47 Die dienstliche Beurteilung ist schon heute so, wie sie überwiegend praktiziert wird, durch fehlgeleiteten Aufwand gekennzeichnet; auf der Basis unsicherer Wahrnehmung wird oft scheinrational bewertet und zu stark differenziert – mit der Folge übermäßiger Juridifizierung.48 Bei realistischer Betrachtung kann es nur ein „von den zu Beurteilenden als gerecht empfundenes“ System, also „relative“ Gerechtigkeit geben.49 44 Nordrhein-westfälische Regierungskommission, „Zukunft des öffentlichen Dienstes – öffentlicher Dienst der Zukunft“ (Anm. 27) S. 116. 45 Ebd. (Anm. 27), S. 117. 46 Dazu auch Demmke, Leistungsbeurteilung (Anm. 29), S. 90 mit treffendem Zitat aus M. Wehrle, Der Feind in meinem Büro, 2005, S. 25: „Ein Chef macht alles falsch, weil er der Chef ist. Und seine Mitarbeiter wissen alles besser, weil sie die Mitarbeiter sind.“ Die Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit den Vorgesetzten ist nach Demmke ein „weltweites Phänomen“. 47 Das Wort von der nicht erreichbaren „himmlischen Gerechtigkeit“ stammt von B. Lemhöfer (Diskussionsbeitrag auf dem 15. Deutschen Verwaltungsgerichtstag, Weimar, 10.5.2007). Inhaltlich im Ergebnis ebenso V. Mehde, Gerechtigkeit bei der Personalbeurteilung, in: H. P. Bull/V. Bonorden (Hrsg.), Personalrecht und Personalwirtschaft als Handlungsfelder der Verwaltungsreform, 2001, S. 73 ff. (76 ff.). 48 Zur Kritik der gegenwärtigen Beurteilungspraxis siehe auch Lorse, Neue Strategien (Anm. 35), insbes. S. 66 f.
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Die üblichen Beurteilungssysteme, die überdies noch von einem Verwaltungsträger zum anderen divergieren, leiden an zahlreichen Mängeln, insbesondere an zu geringer Transparenz und zuviel Möglichkeit subjektiver Prioritätensetzung, so dass ihre Brauchbarkeit insgesamt fraglich ist.50 Willkürlich sind allerdings die Quotenvorgaben z. B. in § 41a BLV.51 Es ist zwar auffällig und ein Indiz für zu positive Beurteilung, wenn in einer Arbeitseinheit überwiegend gute und beste Noten vergeben werden. Aber die Tendenz der Beurteiler, Zeugnisse zu „schönen“, kann durch Quoten nicht umgekehrt werden, und solche Hilfskonstruktionen lassen für manche das ganze System als inakzeptabel erscheinen. Die unbestreitbare Neigung von Vorgesetzten zur Milde, zum Hochloben oder zum „wohlwollenden“ Übersehen von Schwächen52 ist jedoch nicht nur eine persönliche Schwäche, sondern zumindest teilweise in der Funktion des Vorgesetzten angelegt: Er steht in einem Rollenkonflikt, für die übergeordneten Stellen ein Urteil abzugeben, das im ungünstigen Fall auch negative Konsequenzen rechtfertigt, und gleichzeitig die Mitarbeiter motivieren und fördern zu sollen, was durch schlechte Noten gerade konterkariert werden kann.53 Wenn in einer Organisationseinheit viele gleich tüchtige Mitarbeiter vorhanden sind, unter denen keine überzeugende Abstufung möglich ist, ist es selbstverständlich zulässig, dass alle diese Leistungsträger gleich beurteilt werden und die Leistungsprämien oder -zulagen gleichmäßig auf alle verteilt werden. Die Probe auf die Führungsqualifikation der Beurteiler besteht darin, dass sie erkannte Schlechtleister, die es eben auch gibt, mit negativen Sanktionen bedenken. Diese Konsequenz tatsächlich zu ziehen, dürfte den Vorgesetzten künftig leichter fallen, wenn sie einen festen Etat für die Leistungsvergütungen zu verwalten haben, der für alle reichen muss. Den ungünstig Beurteilten wird es eher einleuchten, dass sie weniger erhalten, wenn die „Gutleister“ – die im Allgemeinen in der einzelnen Arbeitseinheit als solche bekannt sind – nur auf diese Weise zu ihrer Belohnung kommen können, als wenn überhaupt nur wenige Kollegen prämiert werden und alle 49
Mehde, Gerechtigkeit (Anm. 47), S. 77 (Hervorhebung auch dort). Vgl. die knappe, aber deutliche Kritik von V. Mehde, Das dienstliche Beurteilungswesen vor der Herausforderung des administrativen Modernisierungsprozesses, in: ZBR 1998, S. 229 ff. m. w. N., insbes. S. 235 f. 51 Nach Ansicht von H. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 6. Aufl. 2005, Rn. 462, sind „Richtwertvorgaben“ wie § 41 a BLV eine notwendige Voraussetzung leistungsbezogener Bezahlung. Das trifft m. E. nicht zu. Die Gesetzesbegründung dazu (BT-Drs. 13/3994, A I 5.) spricht nur von der Notwendigkeit einer stärkeren Differenzierung der Beurteilungspraxis. 52 Das arbeitsrechtliche „Wohlwollensgebot“ gilt für die dienstliche Beurteilung von Beamten nicht, vgl. OVG Saarlouis, NVwZ-RR 2006, S. 565. 53 Mehde, Das dienstliche Beurteilungswesen (Anm. 50), S. 229 (233). 50
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anderen das feste Gehalt bekommen. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Zahl der Minderleister nicht notwendig hoch sein muss. Der öffentliche Dienst wählt seine Mitarbeiter seit langem sorgfältig aus, er bildet sie aus und fort, und schon die Vielfalt und Bedeutung der Aufgaben – also immaterielle Anreize – fördern die Leistung der Beschäftigten, so dass eine Abweichung von der „Normalverteilung“ der Noten nach oben durchaus begründet sein kann. d) Entscheidungszuständigkeit und Beteiligungspflicht Nach den üblichen Regeln des Verwaltungsrechts liegt die Entscheidungszuständigkeit für die leistungsbezogenen Bezahlungsteile bei den Behördenleitern, die sich dazu ihrer Personalreferate bzw. -abteilungen bedienen. Es ist aber besonders wichtig, dass derartige Entscheidungen mit Einfühlungsvermögen und dem unbedingten Streben nach Fairness gefällt werden. Den Dienstvorgesetzten wird oft bei den geringsten Zweifeln der Vorwurf der Willkür gemacht. Um dem entgegenzuwirken, kann es zweckmäßig sein, die Betroffenen oder ihre Interessenvertreter an solchen Entscheidungen beratend zu beteiligen und/oder auch den jeweils nächsthöheren Vorgesetzten mitwirken zu lassen. Aufgrund der Organisationskompetenz der Behördenleiter sind solche Abweichungen von den hierarchischen Strukturen zulässig. Das dürfte sich besonders in den Bereichen empfehlen, die ohnehin kollegiale Entscheidungsverfahren praktizieren, also z. B. in den Hochschulen. Wenn dagegen eingewandt wird, die Hochschulgremien täten sich gerade mit Entscheidungen über die Ressourcenverteilung sehr schwer, so trifft das zwar zu – die Budgetierung wird keineswegs überall so akzeptiert, wie sie gemeint ist, und manche Professoren nutzen ihre persönlichen Beziehungen in die Ministerien zu dem Versuch, bilateral mit dem Staat Vereinbarungen zu treffen, die sie im Kollegenkreis nicht durchsetzen können. Diese mit dem Sinn der Neuregelung unvereinbare Praxis darf aber nicht dazu führen, dass die an sich richtige Mitwirkung der Gremien wieder zurückgenommen und die ohnehin vorhandene Tendenz zu monokratischen oder oligarchischen Entscheidungen weiter verstärkt wird. Für die Entwicklung und das Controlling des neuen Bezahlungssystems ist im TVöD (§ 18 Abs. 7) die Beteiligung einer paritätisch besetzten betrieblichen Kommission vorgeschrieben, die auch für Beschwerden zuständig ist. Damit kann vermutlich mancher Konflikt leichter gelöst werden als wenn sogleich die Gerichte angerufen werden müssen. Noch wichtiger kann die Mitwirkung von Betroffenenvertretern an der Entwicklung der Regeln werden – aber nur wenn sich alle Beteiligten wirklich engagieren und nicht gegenseitig blockieren.
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e) Rotationsprinzip gegen wiederholte Hervorhebung derselben Leistungsträger? Praktiker befürchten, dass sich die positiven Effekte der leistungsorientierten Bezahlung (insbesondere von Prämien) abnutzen, wenn – wie zu erwarten ist – immer wieder dieselben Leistungsträger hervorgehoben werden und die anderen, die nicht prämiert werden, allmählich immer enttäuschter und unzufriedener werden. Um dem abzuhelfen, wird sogar eine Art Rotationsprinzip vorgeschlagen, also abwechselnd jeweils andere Beschäftigte auszuzeichnen. Das ist zu sehr von dem System der selektiven Belohnung geprägt (s. oben III. 2. e). Es gibt eine einfachere Abhilfe: Beamte, die über viele Jahre hin ständig besonders gute Leistungen erbringen, sind reif für die Beförderung. Sollte kein Beförderungsposten verfügbar sein – z. B. weil es sich um spezielle Fachaufgaben handelt, die außerhalb der Aufstiegsmöglichkeiten angesiedelt sind – muss der Gewöhnungseffekt hingenommen werden; eventuell ist auch eine Höherstufung der Stelle gerechtfertigt. IV. Chancen und Erfahrungen Über die Eignung der verschiedenen Systeme der Leistungsbezahlung und -messung ist schon oft gestritten worden, und niemand kann behaupten, dass sie problemlos seien.54 Selbstverständlich wird es mühsamer Beratungen und mancher Kompromisse bedürfen, um zu adäquaten und akzeptierten Lösungen zu gelangen. Selbstverständlich werden dazu neue Regelungen erforderlich sein, die wiederum Anlass zur „Bürokratiekritik“ liefern werden. Vorübergehend wird sich vielleicht auch die Stimmung in der Beamtenschaft verschlechtern. Aber ohne solche Kosten ist keine Veränderung möglich, und in manchen Bereichen sind inzwischen auch positive Erfahrungen gemacht worden (so etwa in außeruniversitären Forschungseinrichtungen). Schlechte Erfahrungen der Vergangenheit – wie die Unterlassung der meisten Länder, die bisherigen Möglichkeiten zu nutzen – erschweren die Verhandlungen zwischen Dienstbehörden und Gewerkschaften. Vielfach herrschen Misstrauen und Kleinmut. In dieser Lage neigen viele dazu, nur die kleinstmöglichen Schritte zu gehen – aber damit riskiert man den Erfolg des Ganzen. Die kleinen Schritte werden nämlich die schon bezeichnete Konsequenz haben, dass zu viele Beschäftigte sich ausgeschlossen, wenn nicht sogar deklassiert fühlen (s. nochmals oben III. 2. e). 54
Vgl. nochmals Siedentopf/Koch, Zweckrationalität (Anm. 1).
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Eine zukunftsweisende Verwaltungspolitik muss die vorhandenen und die vermuteten Schwierigkeiten erkennen und effektive Wege zu ihrer Überwindung suchen. Denn die Notwendigkeit, die Leistungen des öffentlichen Dienstes zu steigern, ist unausweichlich, und es ist ebenso zwingend, die dazu erforderlichen Maßnahmen angemessen und gerecht zu gestalten.
Reformen der Personalpolitiken in den öffentlichen Diensten der EU-Mitgliedstaaten – Europäisierung oder Differenzierung? Christoph Demmke I. Die Bedeutung der EU für die nationalen Personalpolitiken zwischen europäischem Verwaltungsraum und nationaler Personalpolitik Aufgrund der allgemeinen Bedeutung des Gemeinschaftsrechts stellt sich auch bei den Personalpolitiken die Frage, inwiefern es zu Angleichungstendenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten kommt. Der populäre (wie auch schwierig zu definierende) Begriff der Europäisierung1 ist allerdings im Bereich der europäischen Personalpolitiken nur sehr schwer anzuwenden, da viele Reformthemen auch weltweite Geltung besitzen und dennoch auf lokaler Ebene sehr unterschiedlich umgesetzt werden. Insofern ist die Beziehung zwischen dem Konzept der „Europäisierung“, der „Globalisierung“ und der „lokalen Vielfalt“ nur sehr schwierig zu unterscheiden.2 Nach Knill betrifft der Begriff der Europäisierung insbesondere die nationalen Auswirkungen der europäischen Integration und kann „sowohl bei Politikinhalten als auch politischen Prozessen und institutionellen Strukturen auftreten“ (. . .). „Europäisierung erstreckt sich auf alle drei Dimension des Politikbegriffs (policy, politics und polity)“.3 Unter Bezugnahme dieser Definition scheint die Europäisierung der Personalpolitiken allenfalls bei den Inhalten (Policies) voranzuschreiten. Hingegen ist eine Europäisierung der politischen Prozesse und institutionellen Strukturen noch nicht abzusehen. Allerdings traf sich zum ersten Mal in der Geschichte des Integrationsprozesses im Juni 2005 ein (informeller) Rat der Minister für den öffentlichen Dienst, um (u. a.) diese Frage zu diskutieren und zu analysieren.4 Dabei 1 K. Featherstone, In the Name of „Europe“, in: K. Featherstone/C. Radaelli (Hrsg.), The Politics Of Europeanization, Oxford 2003, S. 4; C. Knill, Die EU und die Mitgliedstaaten, in: K. Holzinger/C. Knill/D. Peters/B. Rittberger/F. Schimmelpfennig/W. Wagner (Hrsg.), Die Europäische Union, Theorien und Analysekonzepte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2005, S. 156. 2 Featherstone, In the Name of „Europe“ (Anm. 1), S. 4. 3 Knill, Die EU (Anm. 1), S. 156.
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wurde deutlich, dass einige Mitgliedstaaten schon das Entstehen eines europäischen Verwaltungsraumes verkünden, während andere auf die großen Unterschiede und die „Macht der Tradition“ der öffentlichen Dienste verweisen. Diese großen Auffassungsunterschiede dokumentieren, dass noch immer erstaunlich wenig Wissen, aber auch vergleichbare Daten und Studien über die Entwicklungen in den europäischen Diensten und Personalpolitiken vorliegen. Insbesondere im Vergleich der Personalpolitiken gibt es bisher – neben den regelmäßigen Berichten der OECD – nur sehr wenige Vergleichsstudien im öffentlichen Dienst.5 Dennoch haben sich gerade im Bereich der Verwaltungskooperation der nationalen öffentlichen Dienste in den letzten Jahren – weitestgehend unbemerkt von den Blicken der Öffentlichkeit – zunehmend engere Formen der Verwaltungskooperation ergeben. Immer stärker setzt sich in diesen intergouvernementalen Gremien das Bewusstsein durch, dass die nationalen öffentlichen Dienste und die Personalzuständigen sehr viel voneinander lernen können. So treffen sich die nationalen Abteilungsleiter des öffentlichen Dienstes bereits seit 1988, um Aspekte und Probleme der Entwicklungen in den nationalen öffentlichen Diensten zu erörtern und zu vergleichen. Daneben gibt es ein ganzes Netzwerk informeller Zusammenkünfte auf EUEbene: die Minister, die Zuständigkeiten für den öffentlichen Dienst wahrnehmen, die EU-Troika im öffentlichen Dienst, einzelne Präsidentschaftsarbeitsgruppen (Personalpolitik, Innovative öffentliche Dienste, Bessere Gesetzgebung, E-Government) sowie regelmäßige Treffen der Direktoren der nationalen Verwaltungsakademien. Dennoch sollte man die Bedeutung dieser Entwicklungen nicht überschätzen. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. im Bereich der Anti-Diskriminierung, der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, des Wettbewerbsrechts und der allgemeinen Arbeitsbedingungen) verfügt die Europäische Union über keine Kompetenzen, die nationalen Personalpolitiken zu regulieren. Auch die Regelung des Beamtenrechts ist dem Zugriff des Europarechts prinzipiell entzogen. Dennoch wäre es falsch, daraus zu folgern, dass die nationalen Personalpolitiken nichts mit Europa zu tun haben und einer rein nationalen Logik unterlie4
M. Mangenot (Hrsg.), Public Administrations and Services of General Interest: What Kind of Europeanisation?, Maastricht 2005. 5 D. Farnham/S. Horton, Human Resources Flexibilities in the Public Services: International Perspectives, London 2000; C. Demmke, Die europäischen öffentlichen Dienste zwischen Tradition und Reform, Maastricht 2004; C. Demmke, Are Civil Servants Different Because They Are Civil Servants? Who Are the Civil Servants – and How?, Maastricht 2005; D. Farnham/A. Hondeghem/S. Horton, Staff Participation and Public Management Reform, London 2005; F. Rothenbacher, Der öffentliche Dienst in europäischen Ländern: Sozialstruktur, soziale Sicherung und soziale Lage, Mannheim 2006.
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gen. So sind die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die nationalen öffentlichen Dienste sogar außerordentlich bedeutsam. Zuweilen weit wichtiger als die Rechtsinstrumente ist jedoch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die – je nach Bereich – sehr wichtige und zum Teil auch „schmerzhafte“ Anpassungsleistungen an das EU-Recht verlangt. Die Frage, ob die Einflussnahme der europäischen Ebene langfristig zu einem europäischen Modell des öffentlichen Beamtenrechts und der Personalpolitiken führt, wurde in einer Antwort von Braibant im Jahre 1993 vorweggenommen: Auf die Frage „Gibt es ein europäisches Modell des öffentlichen Dienstes?“ antwortete Braibant,6 dass die Antwort auf die Frage von der Betrachtungsweise und dem Untersuchungsansatz abhängt. Je spezieller der Untersuchungsansatz (z. B. der Vergleich der Besoldungssysteme), desto größer die Unterschiede. Je allgemeiner die Betrachtungsweise (Vergleich der Rechtsprinzipien und Rechtsgrundsätze), desto größer die Übereinstimmung. Die gegenwärtigen Entwicklungen sind somit durchaus als paradox zu bezeichnen. Auf der einen Seite sind die Mitgliedstaaten sehr stark darauf bedacht, keine zusätzlichen Kompetenzen in der Personalpolitik an „Brüssel“ abzutreten. Auf der anderen Seite ist die Krise des öffentlichen Dienstes und der Reform der Personalpolitiken in Zeiten angespannter Haushaltslagen ein europäisches (wenn nicht weltweites) Thema. Und jeder „schielt“ auf den anderen, um zu schauen, welche Erfahrungen die anderen machen. Dementsprechend ist das Interesse sehr groß, von den „anderen“ zu hören und zu lernen, wie man den neuen Herausforderungen begegnen kann. Zum Beispiel zeigt ein europaweiter Vergleich der Personalbeurteilungssysteme,7 dass fast alle Mitgliedstaaten verstärkt das Instrument der Zielvereinbarungen einführen. What are the most important criteria in the performance process? Very important 1 2
Less important 3
4
Not important 5
Reaching annual objectives Competency criteria Personal criteria Leadership criteria Quantitative criteria Qualitative Ability easure to mcriteria performance Other
6
G. Braibant, Exist-il un système européen de fonction publique?, in: Revue Française d’Administration Publique 1993, S. 61, 68. 7 C. Demmke, Leistungsbeurteilung in den öffentlichen Diensten der EU-Mitgliedstaaten, Maastricht/Brüssel 2007.
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Rechtsinstrumente und Regulierungsintensität im Bereich der Regulierung von Interessenkonflikten von Amtsträgern 100 90
Law Code
80
Law & Code
70 60 50 40 30 20 10 0 AT BE BG CY CZ DE DK EE EL ES
FI FR HU IE
IT LT LU LV NL PL PT RO SE
SI UK
Aufgrund der gemeinsamen – sehr kritischen – Erfahrungen mit dem Instrument der klassischen Leistungsbeurteilung sind nun alle Mitgliedstaaten daran interessiert, ihre nationalen Leistungsmanagementsysteme zu professionalisieren. Tatsächlich wäre es unerträglich, wenn sich herausstellen würde, dass die (zunehmende) Vergabe von leistungsorientierten Besoldungselementen nicht aufgrund der individuellen Leistung, sondern aufgrund von Vorurteilen erfolgt. Zumindest zeigt die Entwicklung, dass Verwaltungshandeln europaweit nicht mehr ausschließlich am Ethos der Gemeinwohl- und Pflichterfüllung orientiert ist, sondern mehr und mehr am individuellen Leistungs- und Motivationsprinzip. So verzichtet heute kein Staat mehr auf Leistungsanreize, da das Beamten- und Pflichtethos ein Leistungsethos impliziert, das sich nicht nur auf Werte, sondern auch auf materielle Leistungsanreize gründet. Ein weiterer interessanter Bereich ist die Beamtenethik sowie die Antidiskriminierungspolitik. In beiden Bereichen kommt es europaweit zu einer enormen Regelungsaktivität, insbesondere im Bereich der Regelung von Interessenskonflikten. Eine vergleichende Untersuchung über die Regelung von verschiedenen Interessenkonflikten zeigt insbesondere, dass (vor allem) die neuen Mitgliedstaaten in den letzten Jahren enorme Regelungsanstrengungen in diesem Bereich unternommen haben (vgl. Abbildung). Interessant ist die Tatsache, dass immer mehr Mitgliedstaaten ethische Fragestellungen durch Ethik-Codes regulieren. Hingegen zeigt der Rechts-
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vergleich auch die weiterhin bestehenden Unterschiede bei der Instrumentenwahl und der Regelungsdichte im Bereich der Regelung von Interessenskonflikten. Die folgenden zusätzlichen Beispiele aus anderen Bereichen illustrieren dies: Die irische und niederländische EU-Präsidentschaft haben im Rahmen ihrer Arbeiten im öffentlichen Dienst (im Jahre 2004) einen Schwerpunkt auf die Analyse der Beamtenethik gelegt. Zu diesem Zweck wurden umfassende Vergleichsstudien über beamtenethische Fragen vorgelegt und diskutiert.8 Diese Arbeiten „mündeten“ in einen Vorschlag der niederländischen Präsidentschaft zur Verabschiedung eines europäischen Beamtenkodex. Der Vorschlag für diesen europäischen Beamtenkodex wurde jedoch im Laufe des Jahres 2004 zurückgezogen, da immer deutlich wurde, dass die Interessensunterschiede zu groß waren. Im Einzelnen zeigte diese Initiative zu einem europäischen Kodex somit, dass eine Rechtsangleichung in diesem Bereich weder gewünscht noch möglich war. Zu groß waren die Unterschiede bei den einzelnen Instrumenten. So zeigt gerade ein europaweiter Vergleich, dass es trotz der gegenwärtigen Regelungsaktivitäten im Bereich der Interessenkonflikte erhebliche Unterschiede in der Regelungsdichte und bei der Wahl der Rechtsinstrumente (Gesetz, Codes, Richtlinien etc.) gibt. Je spezieller der Untersuchungsansatz (z. B. der Vergleich der Systeme zur Registrierung und der Überwachung von Nebeneinkünften), desto größer waren die nationalen Unterschiede. Dennoch führte diese Entwicklung zu einem „Spillover“-Effekt und einer Europäisierung im Bereich der Beamtenethik. Seit Anfang 2006 arbeiten die Mitgliedstaaten an einem europaweiten „good practice“-Katalog im Bereich der Korruptionsbekämpfung und Integrität im öffentlichen Dienst. Somit zeigt dieses Beispiel – trotz der nationalen Widerstände – die Europäisierung der Beamtenethik, allerdings ohne eine sich entwickelnde Rechtsangleichung der Systeme. Ein anderes Beispiel für die Möglichkeit einer „Europäisierung in Vielfalt“ der Personalpolitiken zeigt die Dezentralisierung der Zuständigkeiten in der Personalpolitik. So sind heute fast alle Mitgliedstaaten damit beschäftigt, bestimmte Personalzuständigkeiten (z. B. im Bereich der Bezahlung) zu dezentralisieren. Dennoch wäre es völlig falsch, daraus zu folgern, dass dieser Prozess der Dezentralisierung der Zuständigkeiten zu mehr Konvergenz führt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Dezentralisierung erfolgt von völlig unterschiedlichen „Startpositionen“. Zum Beispiel ist der französische öffentliche Dienst wesentlich zentralisierter als der schwedische öffentliche Dienst (vgl. die folgende Abbildung).9 8 D. Bossaert/C. Demmke, Main Challenges in the Field of Ethics and Integrity in the EU Member States, Maastricht 2005.
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Christoph Demmke Horizontal HR-Decentralization – Considerable Country Variations involvement of central unit government-wide
low
high
EC UK Sweden Spain Slovenia Slovakia Romania Portugal Poland Netherlands Malta Luxembourg Lithuania Latvia Italy Ireland Hungary Greece Germany France Finland Estonia Denmark Czechia Cyprus Bulgaria Belgium Austria 0,00
0,10
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0,40
0,50
0,60
in % of questions answered
0,70
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0,90
1,00 slide 26
Zugleich betreffen die Dezentralisierungsbestrebungen unterschiedliche Verwaltungsebenen, Strukturen und Politikbereiche. Aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten und gewachsenen Unterschiede auf der nationalen Ebene waren die Mitgliedstaaten bisher nicht bereit, auf EU-Ebene den sozialen Dialog für den öffentlichen Dienst zu formalisieren (im Rahmen der Art. 137–139 EGV). Aufgrund der Tatsache, dass die Ergebnisse des allgemeinen sozialen Dialogs auf EU-Ebene zuweilen auch auf die öffentlichen Dienste anwendbar sind, befürworten nunmehr viele Mitgliedstaaten eine Stärkung des europäischen sozialen Dialogs (für den öffentlichen Dienst). Hingegen gibt es sehr große Unterschiede bei den Themenprioritäten und der Frage, ob der soziale Dialog formalisiert werden soll oder nicht. Ein informelles Ministertreffen unter der deutschen EU-Präsidentschaft hatte gerade mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen. Alle Mitgliedstaaten stimmten einer „Europäisierung“ des sozialen Dialogs zu. Hier endete dann allerdings der Konsens. „Europäisierung“ ist offenkundig ein sehr dehnbarer Begriff. 9 C. Demmke/G. Hammerschmid/R. Meyer, Decentralisation and Accountability as Focus of Public Administration Modernisation: Challenges and Consequences for Human Resource Management, Maastricht 2006.
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II. Aufgabenverteilung des öffentlichen Personals in Europa – wer ist Beamter und wer nicht? Und warum? Die klassische Frage, welche Aufgaben ausschließlich Beamten anvertraut werden sollten, ist – europaweit – nie definitiv beantwortet worden. Darüber hinaus wird die Frage, welche Funktionen zum einen von öffentlichen Angestellten mit einem arbeitsrechtlichen Dienstverhältnis und zum anderen von Beamten zu übernehmen sind, nicht nur EU-weit, sondern weltweit unterschiedlich angegangen. Die Problematik der Beamtendefinition ist mit dem besonderen Charakter der Pflichten, den jeweiligen Aufgaben und dem Nationalitätskriterium verknüpft. In einigen Mitgliedstaaten wie etwa in Dänemark, Deutschland, Spanien, Griechenland und Belgien fordern die Verfassung und/oder die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte bzw. das Dienstrecht (oder eine Kombination dieser Faktoren) die Einrichtung eines gesetzlichen Rahmens für die öffentliche Beschäftigung. Diese Forderung schließt die Möglichkeit zum Abschluss normaler Arbeitsverträge in den nationalen Staatsdiensten nicht aus; doch üblicherweise sollte die öffentliche Beschäftigung aus Beamten mit einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis bestehen. In Wirklichkeit wird die Möglichkeit zur Einstellung von Personal mit Arbeitsverträgen aber keineswegs nur als Ausnahme gehandhabt, und viele öffentliche Bedienstete üben ohne Beamtenstatus wichtige Aufgaben aus, die sich auf die Ausübung der öffentlichen Gewalt beziehen. Umgekehrt gibt es viele Beamte, die keine öffentliche Gewalt ausüben, sondern mit technisch-unterstützenden Aufgaben (Wartung, EDV, Informationsverwaltung usw.) betraut sind. Zudem beschäftigen viele Mitgliedstaaten in den gleichen Sektoren und – zuweilen – für die gleichen Berufe unterschiedliche Beschäftigungskategorien. Dies ist unter anderem auf neue Unsicherheiten zurückzuführen. Die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ist in allen öffentlichen Diensten zurückgegangen, und viele der auszuführenden Aufgaben unterscheiden sich überhaupt nicht von Aufgaben, die dem privatwirtschaftlichen Sektor zufallen, sodass sie in vielen Ländern daher „privat“ ausgeführt werden. IT-Experten können z. B. als Beamte oder als privatrechtliche Angestellte beschäftigt sein. Sie können in beiden Fällen die gleiche Tätigkeit ausüben. Im Hinblick auf die Beschäftigung im Staatsdienst bzw. die Beschäftigung von Beamten und anderen öffentlichen Bediensteten haben sich somit verschiedene nationale Modelle entwickelt, die jeweils ihre eigenen Paradoxe und Komplexitäten hervorgebracht haben. Hier einige Beispiele: Der öffentliche Dienst Deutschlands unterscheidet (noch) zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern. Alle drei Gruppen können jedoch Aufgaben
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Christoph Demmke
ausführen, die sich auf die Ausübung der öffentlichen Gewalt beziehen (trotz der anders lautenden Formulierung in Art. 33 GG). Die verschiedenen Beschäftigungskategorien führen Aufgaben aus, die auch in der Privatwirtschaft vorkommen. Aufgrund dieser Inkonsistenz bei der Aufgabenverteilung stellt sich immer wieder die Frage, warum es diese Unterschiede zwischen Beamten und Angestellten überhaupt gibt und welche Bedeutung die „mit der Ausübung der öffentlichen Gewalt verbundene Tätigkeit“ hat, wenn Angestellte diese Tätigkeiten genauso gut (oder schlecht) ausführen. Bis auf den heutigen Tag gibt es keinen Beweis, dass Angestellte (die sich ebenfalls an das deutsche Grundgesetz halten müssen) ihre Aufgaben anders erfüllen als Beamte. Der Prozentsatz der in dänischen Ministerien tätigen Beamten schwankt von Ministerium zu Ministerium gewaltig. Im Ministerium für kirchliche Angelegenheiten sind 84% aller Bediensteten Beamte, im Ministerium für Flüchtlinge, Einwanderer und Immigration sind es gerade einmal 2%. Und während die Beamten bei der Dänischen Staatsbahn (DSB) und im Steuerministerium 68% bzw. 56% aller Mitarbeiter ausmachen, beträgt der Beamtenanteil im Finanzministerium nur 18%.10 Man mag sich über diese Beschäftigungsunterschiede wundern und fragen, warum das Finanzministerium so wenig Beamte und das Steuerministerium so viele hat. In Belgien verpflichtet das Dienstrecht öffentliche Arbeitgeber dazu, grundsätzlich nur Beamte mit einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis einzustellen; die Beschäftigung von Vertragsbediensteten ist lediglich als Ausnahme vorgesehen. Paradoxerweise besteht zwischen der „Theorie vom Beamtenstatus als Regelfall“ und dem „Vertrag als einer Ausnahme“ einerseits und der Wirklichkeit (z. B. im flämischen Teil Belgiens) andererseits ein deutlicher Unterschied.11 Oft werden für Arbeiten, die eigentlich Beamten vorbehalten sein müssten, Privatangestellte herangezogen. Nach den Zahlen für 2001 sind 78% aller föderalen Bediensteten öffentlich-rechtliche Beamte und 22% Vertragsbedienstete. Auf regionaler Ebene ist die Zahl der Beamten rückläufig. Weniger als 50% der flämischen und wallonischen Regionalbeamten haben einen öffentlich-rechtlichen Status. Außerdem gilt für die meisten der neu im Staatsdienst Eingestellten unter 34 Jahren das privatrechtliche Dienstrecht (zumindest in Flandern). So ist zu fragen, ob diese hohe Anzahl Vertragsbediensteter eine „Ausnahme“ ist.12 10
The Danish State Sector Employer’s Authority (Hrsg.), State Sector Personnel in Denmark, Albertslund 2002 (http://www.perst.dk/db/filarkiv/4266/State_sector_ personnal_2002_UK.pdf; zuletzt 10. September 2007). 11 K. Janssens/R. Janvier, – De mythe van het statuut voorbij? –, in: Tussen bestuurskunde en bestuurspraktijk: bijdragen voor duurzaam besturen in Vlaanderen/ Steunpunt Bestuurlijke Organisatie Vlaanderen, Brugge 2003, S. 124.
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Auch in anderen Ländern (z. B. in Spanien) ist es fast unmöglich, eine Trennlinie zwischen den Aufgaben zu ziehen, die ausschließlich Beamten vorbehalten sind, und den Aufgaben, die anderen Bediensteten überlassen werden.13 Außerdem sind Beamte und Privatangestellte in einigen Mitgliedstaaten nebeneinander in den gleichen Positionen beschäftigt. So hat z. B. rund die Hälfte aller Lehrer in den Niederlanden ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, während die anderen gemäß Arbeitsrecht eingestellt sind. Auch in Deutschland sind Lehrkräfte in einigen Bundesländern beamtet, während ihre Kollegen in anderen Bundesländern als öffentliche Angestellte (nach BAT) beschäftigt sind. In Österreich hat fast die Hälfte aller Bundeslehrer kein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis. In der Europäischen Kommission stehen die meisten Bediensteten in einem Beamtenverhältnis; es gibt aber auch einige befristet Beschäftigte („agents temporaires“) und noch immer so genannte Hilfskräfte oder „auxilaires.“ In der Praxis sind diese Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen jedoch weniger deutlich. So stellt sich auf einer Fall-zu-Fall-Basis die Frage, wie diese Unterschiede, von finanziellen Gründen abgesehen, erklärt werden können. Berücksichtigt man die Situation in allen Mitgliedstaaten, kann folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Obwohl die meisten Mitgliedstaaten einen Unterschied zwischen Beamten und anderen öffentlich Bediensteten machen, ist diese Differenzierung als solche für die Beantwortung der Frage, welche Aufgaben von wem ausgeführt werden, nicht mehr entscheidend. In vielen Fällen können privatrechtlich Angestellte bedeutende Staatsaufgaben genauso gut oder schlecht ausführen wie Beamte. Und die spezifischen Arbeitsanforderungen können auch über einen gewöhnlichen Arbeitsvertrag vereinbart werden: Qualifikationsprofil, Befugnisse, moralische Voraussetzungen, Unparteilichkeit, Professionalität, Arbeitsbedingungen usw. Einige Mitgliedstaaten ziehen daraus die logische Konsequenz, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der öffentlichen Beschäftigten anzugleichen und ein Gesetz zu schaffen, das für sämtliche Bedienstete im öffentlichen Dienst gilt, wie etwa das Bundesmitarbeitergesetz in Österreich.
12 K. Janssens/R. Janvier, Statutory and contractual employment in the Belgian public sector. The gap between theory and practice, EGPA-Conference, 1.–4. September 2004, Ljubljana 2004, S. 6. 13 Ministerio de Administraciones Pfflblicas (Hrsg.), Civil Service in Spain, Spanish EU Presidency, Madrid 2002.
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III. Öffentliche Beschäftigung und die (schwierige) Definition des Beamtentums Unabhängig davon, wie die Antwort ausfallen wird, eine Sache ist sicher: eine Definition des Begriffs „Beamter“ oder „Beamtin“ ist schwieriger denn je. Europaweit bedeutet der Begriff „Beamter“ keinesfalls, ob sich ein Dienstverhältnis entscheidend von anderen Beschäftigten unterscheidet (etwa in Bezug auf Streikrecht, Pension, Beschäftigungssicherheit etc.). Der prozentuale Anteil der Beamten an allen öffentlichen Bediensteten schwankt in den EU-Mitgliedstaaten zwischen rund 10% und 90%. Gemäß nationalem Recht definiert z. B. Griechenland bis zu 90% der öffentlichen Tätigen als Beamte. In Frankreich gilt folgende Aufschlüsselung nach „titulaires“ und „non-titulaires“ und deren Verteilung auf die drei Staatsdienste. Demnach gab es im öffentlichen Dienst im Jahre 2003 84,7% Beamte („titulaires“) und 15,3% nicht-beamtete Angestellte („nontitlaires“)“.14 In den Niederlanden15 ist der Anteil der Beamten auf 64%, in Österreich auf ungefähr 45–50% zurückgegangen16. Deutschland hat im öffentlichen Dienst rund 40% Beamte17. In Dänemark sind nur ungefähr 36% aller öffentlichen Bediensteten beamtet (Tendenz rückläufig). Die Arbeitsbevölkerung Großbritanniens beläuft sich auf insgesamt rund 29 Millionen, von denen ca. 17,5% im öffentlichen Sektor (einschließlich öffentlichen Dienst) tätig sind; weitere Mitarbeiter sind in der Zentralverwaltung (hauptsächlich bei den so genannten Non-Departmental Public Bodies, dem National Health Service und den Streitkräften), in öffentlich-rechtlichen Körperschaften (z. B. BBC, Royal Mail Group oder British Nuclear Fuels) und in der lokalen Verwaltung beschäftigt. Großbritannien unterscheidet zwischen Kronbeamten und Beamten (die zusammen nur rund 550.000 Personen umfassen und 1,66% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ausmachen) und den restlichen öffentlich Bediensteten (insgesamt etwa 5,4 Millionen Beschäftigte). Dies bedeutet, dass rund 10% aller im öffentlichen Dienst Tätigen Beamte sind.18
14 http://www.fonction-publique.gouv.fr/IMG/Oep-rapport2004-2005.pdf (insbesondere S. 14, zuletzt am 10. September 2007). 15 Interdepartmental Beleidsonderzoek (Hrsg.), Rapport van de werkgroep „Normalisatie rechtspositie overheidspersonnel“, Den Haag 2005, unveröffentlicht. 16 Bundeskanzleramt Österreich (Hrsg.), Das Personal des Bundes, Daten und Fakten, Wien 2003, S. 11. Vgl. auch http://www.kfunigraz.ac.at/akglwww/info/Per sonaljahrbuch%202005.pdf (zuletzt 10. September 2007). 17 H.-U. Derlien/S. Frank, Öffentlicher Dienst und Gewerkschaftssystem im Wandel, in: Die Verwaltung 2004, S. 295, 304. 18 Vgl. http://www.statistics.gov.uk/STATBASE/Product (zuletzt 10. September 2007).
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Mitgliedstaat
Prozentsatz der Beamten an allen öffentlichen Bediensteten
Griechenland
ca. 90%
Frankreich, Portugal
ca. 85%
Belgien
ca. 78% (föderal), ca. 50–60% (regional )
Niederlande
64%
Spanien
ca. 59%
Österreich
45–50% (66,5% Bundesebene)
Deutschland
ca. 43% (Bund 68%, Länder 58%, Kommunen 12%)
Dänemark
ca. 36%
Großbritannien
ca. 10%
Schweden
ca. 0,05% (fast ausschließlich Richter)
Quelle: Eigene Berechnungen des Autors
Mit rund 31% ist der Anteil der öffentlichen Bediensteten an der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung in Schweden fast dreimal größer als in Deutschland (ungefähr 11% der aktiven Gesamtbevölkerung ist im öffentlichen Dienst tätig), wobei die öffentlichen Beschäftigungsverhältnisse fast ausnahmslos nach gesetzlichen Bestimmungen und/oder Vorschriften geregelt sind, die sich kaum von Arbeitsverhältnissen gemäß Arbeitsrecht unterscheiden. Weniger als 1% aller öffentlichen Bediensteten hat in Schweden eine besondere öffentlich-rechtliche Stellung (hauptsächlich Richter). Dagegen stehen 1,7 Millionen der wirtschaftlich aktiven Deutschen in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis (ca. 4,4% der aktiven Gesamtbevölkerung). Zu ihnen gehören fast 800.000 Lehrer. Interessant ist ferner, dass in Deutschland 68% der Bundesbediensteten beamtet sind, während in Frankreich 87,3% aller Angehörigen des Staatsdienstes (Fonction Publique d’Etat) einen Beamtenstatus aufweisen. In Spanien beträgt der Prozentsatz der Beamten auf staatlicher Ebene rund 73% aller öffentlichen Bediensteten.19 In Österreich liegt – gemäß dem österreichischen Personaljahrbuch – 19 Ministerio de Administraciones Pfflblicas (Hrsg.), Civil Service in Spain (Anm. 13).
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Christoph Demmke
der Beamtenanteil auf Bundesniveau bei ungefähr 70% (107.006 von insgesamt 155.234 Vollzeitbeschäftigten). Allerdings ist Österreich dabei, die Beamtenzahl im Verhältnis zu den anderen öffentlichen Bediensteten zu reduzieren. Obwohl derzeit nur 5,36% der wirtschaftlich aktiven Gesamtbevölkerung beamtet sind, haben damit aber noch immer 50% aller öffentlichen Beschäftigten einen Beamtenstatus. Große Unterschiede gibt es auch bei den neuen EU-Mitgliedstaaten. Im Allgemeinen haben die meisten neuen Mitgliedstaaten einen relativ kleinen oder sehr kleinen öffentlichen Kerndienst. So beträgt der Beamtenanteil an der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung z. B. in Polen nur 0,89% (die Zahl für die ernannten Beamten würde sogar noch niedriger ausfallen), in der Slowakischen Republik 2,30% (ohne Polizei- und Vollstreckungskräfte), in Ungarn 2,6%, in Lettland 3,63%, in Litauen 4,17%, in Zypern 4,40%, in Estland ca. 5% und in der Tschechischen Republik 5,9% (einschließlich der Streitkräfte), während der Prozentsatz in Slowenien 17% und in Malta über 22% beträgt. Uneinheitlich gestaltet sich auch die Definition des höheren Dienstes, die auf sehr verschiedenartige Mitarbeiterkategorien angewandt wird.20 Polen unterscheidet bei seinen hohen Beamten zwischen ungefähr 1.500 berufenen Elitebeamten (von denen 1.100 ein Qualifikationsverfahren durchlaufen haben und 400 Absolventen der Nationalen Schule für Öffentliche Verwaltung sind), sonstigen Beamten und öffentlichen Angestellten. Es wird damit gerechnet, dass die Zahl der berufenen Beamten in Zukunft weiter ansteigen wird. In Großbritannien sind landesweit über 3.300 Beamte des höheren Dienstes in 55 Regierungsabteilungen und Behörden beschäftigt. Unter ihnen befinden sich Ärzte, Juristen und Wissenschaftler sowie Berater und Manager. Einige Mitgliedstaaten wie etwa Belgien haben überdies den auf Zeit ernannten Topbeamten eingeführt. Für diese Spitzenpositionen gilt also kein Prinzip der lebenslangen Anstellung. Dementsprechend fragmentiert und unterschiedlich ist heute die Gruppe der öffentlichen Bediensteten, in der höchst unterschiedliche Beschäftigtenkategorien zu differenzieren sind, z. B. Führungskräfte auf Zeit, die nach ihrer Leistung (und den erreichten Zielsetzungen) bezahlt werden, Beamte auf Lebenszeit (oder mit unbefristeten Verträgen), andere öffentliche Beschäftigte, Kurzzeitkräfte wie Berater und Gutachter und technische Mitarbeiter. Die Palette der Berufe ist ebenfalls sehr breit. Sie erstreckt sich gegenwärtig von der Erforschung des Weltraums bis hin zur Reinigung von Stra20 F. Waintrop/C. Chol/B. Coué/O. Girardin/M. Maréhal, Reforming Senior Management: the Experience of Seven Countries, Paris 2003.
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ßen. Sowohl der Astronaut als auch der Straßenfeger können entweder als Beamter oder als öffentlicher Angestellter nach allgemeinem Arbeitsrecht eingestellt sein. Der Beschäftigungsstatus ist hier nur selten logisch erklärbar. In Wirklichkeit gibt es im heutigen öffentlichen Dienst ebenso viele Beschäftigtenkategorien wie öffentliche Funktionen und Organisationen. Angehörige eines Ministeriums unterscheiden sich z. B. deutlich von den Mitarbeitern in einer Behörde, bei der Polizei, im Gesundheitswesen, beim Grenzschutz, in öffentlich-privaten Partnerschaften, an der Schule oder in einem Lebensmitteluntersuchungsamt. Auch das Arbeitsleben und die Arbeitsbedingungen haben sich geändert und können – manchmal – von Organisation zu Organisation abweichen. In einigen Mitgliedstaaten gibt es kaum Unterschiede zwischen Spitzenbeamten und Spitzenmanagern privater Unternehmen. In anderen Ländern, wie z. B. Malta, werden öffentliche Spitzenpositionen nur befristet besetzt; das heißt, die sowohl aus dem öffentlichen Dienst als auch der Privatwirtschaft kommenden Personen erhalten zeitlich befristete Verträge, die beendet (oder nicht verlängert) werden können, wenn die erbrachte Leistung hinter den Erwartungen zurückbleibt. Derartiges wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Unterscheiden sich diese Führungskräfte somit noch von jenen in der Privatwirtschaft?
IV. Quo vadis? Personalpolitik in den Mitgliedstaaten. Viele Reformen ohne Strategie In den EU-Mitgliedstaaten herrschte lange Zeit die Meinung, Beamte seien an die Staatsautorität gebunden und könnten nicht mit Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft verglichen werden. Die öffentlichen Bediensteten galten als Stellvertreter der Staatsgewalt, die die Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten und die Regierungspolitik auszuführen hatten. Daher sollten Beamte hohe Integritätsstandards haben und ausschließlich mit einer Aufgabe betraut sein, nämlich der Arbeit für das Gemeinwohl. Nach diesem Verständnis – mit einem deutlich von Gesellschaft und Bürgern abgegrenzten Status – konnten Beamte kein Recht auf Streik oder (auf) eine Teilnahme an Tarifverhandlungen über Arbeitsbedingungen haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die staatlichen Aufgaben gebündelt (insbesondere im Sozial- und Bildungsbereich); es wurden immer mehr Beamte und öffentliche Bedienstete eingestellt. Die öffentliche Beschäftigung erreichte somit Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt. Infolge der Ausweitung des staatlichen Sektors wurde aber auch immer unklarer, warum Funktionen beispielsweise in Bildung, Forschung und sozialer Sicherheit anders als Funktionen in der Privatwirtschaft eingestuft werden sollten.
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Während der letzten Jahrzehnte haben in allen EU-Mitgliedstaaten zudem wichtige Entwicklungen in den europäischen öffentlichen Diensten stattgefunden, die erhebliche – aber je nach Staat unterschiedliche – Auswirkungen auf die nationalen Personalpolitiken zeitigen: – Sparzwänge, die heute die größte Herausforderung für fast alle öffentlichen Verwaltungen in Europa darstellen; – eine Abnahme der Geburtenrate in fast allen europäischen Ländern in Verbindung mit einer Alterung der öffentlichen Beschäftigung; – ein kontinuierlicher Prozess der Verbesserung von Aus- und Fortbildung sowie der Erhöhung der Qualifikation der Bevölkerung; – eine erhebliche Zunahme des Frauenanteils am Arbeitsmarkt; – eine Abnahme der Beteiligung älterer Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt in Verbindung mit einem erhöhten Eintritt in den Vorruhestand; – eine Zunahme der Zahl an Einwanderern und grenzüberschreitender Mobilität; – die ständigen Veränderungen durch die Informationstechnik; – eine sich verändernde Führungskultur aufgrund einer starken Tendenz zur Dezentralisierung und Individualisierung von Verantwortlichkeiten; – eine stärkere Vermischung der Grenzen zwischen öffentlichem, privatem und gemeinnützigem Sektor; – die Veränderung der Werte und des Beamtenethos. Der öffentliche Dienst in Europa ist aufgrund all dieser Entwicklungen heute alles andere als ein statisches und homogenes Gebilde. Darüber hinaus ist ein europaweites Vorbild (wie zu Zeiten des napoleonischen, preußischen oder schwedischen Modells) nicht mehr zu erkennen. Vielmehr setzt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in immer mehr Staaten die Auffassung durch, dass eine differenzierte Behandlung und ein unterschiedlicher Status gegenüber der Privatwirtschaft zumindest in bestimmten Bereichen nicht mehr gerechtfertigt erscheinen. Diese Ausweitung des öffentlichen Dienstes und – in vielen Fällen – die Vorzugsbehandlung von Beamten (zumindest bei der Arbeitsplatzsicherheit und den Versorgungsleistungen) haben die Attraktivität des öffentlichen Sektors als Arbeitgeber verbessert, nicht aber unbedingt sein Image als Dienstleister. Bürger, Medien und Politiker äußern ihre Unzufriedenheit über den öffentlichen Dienst und über Beamte im Allgemeinen. Sie ziehen gegen Bürokraten und den teuren, langsam, ineffizient wirkenden oder überhaupt nicht reagierenden Verwaltungsapparat zu Felde.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird nunmehr mit dem klassischen Bürokratenstaat auch der Beamtenstatus europaweit in Frage gestellt. Da der klassische Beamtenstaat unmittelbar mit der Idee des Nationalstaats und der nationalen Staatsbürgerschaft verknüpft ist, stellen Globalisierungs- und Internationalisierungstendenzen, Wertewandel, der Einfluss des Europarechts und die Veränderung der Staatlichkeit sowie die verschiedenen Reformvorhaben große Herausforderungen an den klassischen Beamtenstaat. Schließlich führen Sparzwänge und konkrete Reformen (Reform der Altersversorgungssysteme, Mobilität zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst, Einstellung in zeitlich befristete Spitzenpositionen, Reform der Besoldungssysteme, Einführung von Zielabsprachen und Instrumenten des Leistungsmanagements, Flexibilisierung der Arbeitszeit und Vertragsbeziehungen etc.) in den nationalen öffentlichen Diensten zu Angleichungstendenzen mit der Privatwirtschaft und zu einer partiellen Aufgabe klassischer Prinzipien des öffentlichen Dienstrechts. In allen Mitgliedstaaten fördern die genannten Entwicklungen den Wandel, den Umbau und die Dezentralisierung des öffentlichen Dienstes an allen Stellen. Darüber hinaus werden öffentliche Aufgaben über immer komplexere Netzwerke, dezentrale Führungs- und Kontrollstrukturen, gemischtwirtschaftliche Partnerschaften und Kooperationen zwischen NGOs, Beratern und staatlichem Dienst verwaltet. Die traditionelle Auffassung vom öffentlichen Dienst als einem einheitlichen Arbeitgeber tritt somit allmählich in den Hintergrund. Auch die Reform der Personalpolitiken und die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Reformvorhaben weisen europaweite Gemeinsamkeiten auf. So lassen die Einführung individueller Leistungspläne und die Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten im Human Resources Management (HRM) den öffentlichen Dienst zu einem eher fragmentierten Gebilde werden. V. Reforminstrumente und Reformbereiche Die zuweilen überstürzte Einführung neuer Reform- und Steuerungsmodelle in vielen Staaten hat zumindest zu einem Ergebnis geführt: eine neue Form der Unübersichtlichkeit! Sind die Beamten seit Einführung von leistungsorientierten Besoldungselementen tatsächlich leistungsfähiger oder eher frustrierter geworden? Hat eine Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten wirklich zu mehr Effizienz und Kontrolle bei der Mittelverwendung geführt oder stattdessen zu mehr Korruptions- und Führungsproblemen? Hat der Abbau weiterer Privilegien der Beamten (z. B. im Rahmen der Reform der Pensionssysteme) das Image des öffentlichen Dienstes verbessert, aber die Attraktivität des öffentlichen Arbeitgebers eher verschlechtert? Führen
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Effizienzgewinne durch Abbau der Beschäftigung zu mehr Produktivität oder zu mehr Stress? Führt mehr Mobilität zu mehr Motivation oder mehr ethischen Dilemmas? Führt der europaweite Abbau von Arbeitsplätzen nur zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen in die staatlich subventionierten Bereiche? Und wie verhält sich der Abbau der Beschäftigung zu dem Grundsatz der Arbeitsplatzsicherheit? Trifft eigentlich der Mythos zu, wonach die Arbeitsplätze immer unsicherer und flexibler werden? Oder nimmt die Zahl der Teilzeitbeschäftigten mit einem Dauerarbeitsvertrag zu? Alle diese Fragen bleiben bisher weitestgehend unbeantwortet und bieten den Sozialwissenschaften einen Fundus an weiterem Forschungsmaterial. 1. Reformen im Leistungsmanagement und ihre Auswirkungen Trotz der weit verbreiteten Einführung von neuen Leistungsmanagementsystemen, Zielabsprachen, Kompetenzprofilen und Leistungsbeurteilungssystemen sowie des Optimismus, der die Einführung dieser Instrumente begleitet, gibt es in den meisten Mitgliedstaaten bisher kaum Belege, ob die Techniken des Leistungsmanagements die Leistung der Mitarbeiter tatsächlich gesteigert haben oder nicht. Inzwischen gesteht die dem „New Public Management“ lange Zeit „freundlich“ gesonnene OECD ein, dass die praktischen Modernisierungsergebnisse in den OECD-Ländern keine „hinreichende Voraussetzung für ein besseres Regieren“ waren.21 Darüber hinaus schien ein Management der Humanressourcen im Reformkontext der letzten Jahre mehr Gegenstand der Rhetorik denn Realität zu sein. Häufig hatten Reformen im Sinne des „New Public Management“ mehr mit dem klassischen „Scientific Management“ als mit einem „Management der Humanressourcen“ gemeinsam. Was in der Theorie wie in der Praxis fehle, sei eine Investition in die Menschen.22 Generell werfen die Einführung von Leistungsmanagementsystemen sowie die Individualisierung der Rekrutierungs- und Bezahlungssysteme zudem neue Fragen auf. Wie lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit, notwendiger Standardisierung, Fairness, Gleichheit, NichtDiskriminierung auf der einen Seite und Flexibilität, Repräsentativität und Individualisierung auf der anderen Seite lösen? Schon diese Fragen machen deutlich, dass noch immer die Wechselwirkung zwischen Personalreform sowie individueller Leistung und ethischen Anforderungen nur schwer zu bestimmen ist. Leider ist das vorhandene 21
OECD-PUMA (Hrsg.), HRM in the Public Sector: A Neglected Subject, Paris 2002. 22 OECD (Hrsg.), Trends in Human Resource Management Policies in OECD Countries, Paris 2004.
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Wissen in diesem Bereich recht spärlich, da es naturgemäß schwierig ist, die direkten Folgen von HRM-Reformen zu isolieren und zu analysieren. Gerade Reformen des Human Resources Managements sind noch zu häufig isolierte rechtliche, wirtschaftliche und politische Reformen, die psychologische Aspekte ignorieren, auch wenn massive Nachweise bestehen, dass individuelles Verhalten maßgeblich durch soziale Interaktion beeinflusst wird. Zudem kann auch nach mehr als 100 Jahren Beamtentum niemand mit Sicherheit sagen, ob öffentliche Bedienstete nun tatsächlich andere Leistungen erbringen (oder nicht) als Beschäftigte in der Privatwirtschaft. Echtes Wissen besteht nur über die Existenz von Klischees. Nach dem herrschenden Bild sind die Mitglieder des öffentlichen Dienstes faul, nicht besonders ambitioniert und kaum kompetent. Tatsächlich gibt es kaum systematische, empirisch gestützte Erkenntnisse über die Leistung und Motivation von Beamten im Vergleich zu privatrechtlich Angestellten sowie zur Beziehung zwischen Verwaltungs- und Personalreform und individueller Leistung. Daneben ist noch immer unklar, ob öffentliche Beschäftigte überhaupt andere Motivationsstrukturen aufweisen als Angestellte im Privatsektor.23 Andererseits gibt es bisher keine (empirischen) internationalen HRMStudien, die belegen, dass Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft bessere Leistungen erbringen als ihre Kollegen im öffentlichen Dienst. Trotz dieser Aussagen zeichnen sich neue Probleme ab. So gibt es bisher keine Aussagen darüber, welche Auswirkungen Personalreformen im öffentlichen Dienst auf die Leistung der Mitarbeiter zeitigen. Die Tatsache, dass nur wenig über die Leistung bekannt ist, eröffnet ein weites Feld für Spekulationen und Annahmen. So wird die Leistungsdebatte in punkto Zufriedenheit und Motivation von Mutmaßungen dominiert und nicht von Wissen und Fakten. In den empirischen Studien des Verfassers zu Unterschieden zwischen Beamten und anderen Beschäftigten24 sowie zu Leistungsbeurteilungssystemen.25 antworteten nur wenige (Vertreter von) Mitgliedstaaten auf die Frage zum Einfluss von HRM-Reformen auf Leistung und Arbeitszufriedenheit, diese Auswirkungen seien positiv. Einige Staaten wie z. B. Belgien, die Niederlande, Portugal und auch die Europäische Kommission selbst gaben an, dass die Ergebnisse der neuen Reformen erst noch ausgewertet werden müssten. Andere Mitgliedstaaten wiederum hatten keinen Beweis für die Wirkung der HRM-Reformen, z. B. Deutschland, Luxemburg und Italien. Spanien teilte schließlich mit, dass eine umfassende Überprüfung der Wirkung von HRM-Reformen in Planung sei. Als einziger Mit23 Noch immer grundlegend J. E. Perry/L. R. Wise, The Motivational Bases of Public Service, in: Public Administration Review 1990, S. 371 ff. 24 Demmke, Are Civil Servants Different? (Anm. 5). 25 Demmke, Leistungsbeurteilung (Anm. 7).
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gliedstaat konnte Irland einige wenige konkrete und positive Messungen infolge neuer HRM-Reformen präsentieren. Diese Beispiele zeigen, dass es Aufgabe einer Theorie des Human Resources Managements ist, ihre Annahmen mit empirischen Fakten und zuverlässigen Informationen zu begründen. Allerdings beruhen gerade im öffentlichen Dienst viele Theorien und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen über die so genannten Bürokraten auf Klischees, Fehlinformationen oder unzureichender Datenlage. 2. Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten Ein besonders aktuelles Beispiel betrifft die Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten. Trotz aller Empfehlungen, Zuständigkeiten zu dezentralisieren und Hierarchien zu reduzieren, fehlt in diesem Bereich eine klare Vision über die Ziele und Grenzen einer Dezentralisierung. Somit gibt es auch verschiedene Aufgabenbereiche der Führungskräfte im öffentlichen Dienst. Gerade in der Personalpolitik versteht jeder Mitgliedstaat etwas anderes unter Dezentralisirung. Sollen Führungskräfte mehr Flexibilität erhalten und über leistungsorientierte Zulagen entscheiden dürfen? Sollen Zuständigkeiten im Bereich Rekrutierung, Beförderung, Mobilität und Entlassung dezentralisiert oder sogar individualisiert werden? Gegenwärtig ist der Wunsch nach mehr Flexibilität und Freiraum eher eine europäische „Zauberformel“ ohne Inhalt. Hingegen besteht noch immer Unsicherheit, wie sich diese Entwicklungen zu Prinzipien der Fairness, Rechtssicherheit und Rechenschaftspflicht (Accountability) verhalten. Darüber hinaus fehlen Nachweise, wie sich die Dezentralisierung von Zuständigkeiten auf die Beschäftigungsbedingungen der Führungskräfte sowie die Motivation der Mitarbeiter auswirkt. Bisherige Nachweise deuten darauf hin, dass die Dezentralisierung und die Deregulierung zweifellos positive Auswirkungen haben, aber auch zu Herausforderungen führen. Probleme mit dem öffentlichen Dienst lassen sich nicht nur einfach dadurch lösen, dass die Führungskräfte von Regeln und Grenzen befreit werden. Weil sie mehr Flexibilität erhalten, handeln Führungskräfte nicht automatisch richtig. Mit größerer Eigenständigkeit wächst hingegen die Verantwortung; und die Dezentralisierung von Zuständigkeiten erfordert ebenfalls verstärkte Investitionen in die Führungskräfte. Aber verfügen die Führungskräfte überhaupt über die Fähigkeiten, Zeit und Kompetenz zur Wahrnehmung ihrer neuen Leitungsaufgaben? Leider ist dies häufig nicht der Fall. Die Tatsache, dass Führungskräfte mehr Befugnisse und Aufgaben erhalten, bedeutet somit nicht, dass sie a) diese Zuständigkeiten nutzen oder b) in der Lage sind, die neuen Aufgaben wahrzunehmen (z. B. im Bereich der Vergabe von Leis-
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tungsanreizen). Da die Leistungen Einzelner auch von guten Führungsqualitäten abhängen, wird es in Zukunft wichtiger werden zu analysieren, wie und in welchem Umfang sich gute oder schlechte Führungsqualitäten auf die Leistungen auswirken.
VI. Quo vadis? Personalpolitik zwischen Tradition, Modernisierung und Vielfalt Das klassische Argument für einen spezifischen Rechtsstatus der Beamten war stets von der Notwendigkeit von Stabilität, Neutralität und Kontinuität geprägt. Klare Laufbahnen, die Ernennung auf Lebenszeit und ein Dienstalterprinzip statt einer Berücksichtigung der Verdienste, privilegierte Altersversorgungssysteme und eine begrenzte Flexibilität und Mobilität wurden eingeführt, um die Gefahr einer zu starken politischen Einflussnahme, Korruption und politische Instabilität in der Verwaltung möglichst umfassend zu bannen. Aus historischer Sicht war einer der Vorteile des klassischen Laufbahnsystems, dass der Beamte aufgrund des Schutzes vor willkürlichen und politisch motivierten Handlungen loyal sein sollte und nicht von bestimmten Interessen oder politischen Parteien abhängig. Für das Dienstalterprinzip spricht vor allem, dass es dieses Prinzip dem öffentlichen Arbeitgeber ermöglicht, seinen Beschäftigten in Bezug auf institutionelles Wissen und Kontinuität zu vertrauen. Viele Untersuchungen zeigen auf, dass Stabilität, klare Laufbahnperspektiven und Arbeitsplatzsicherheit in der Tat wichtig sind. Dagegen setzen moderne HRM-Reformen zuweilen sehr einseitig auf die „Wunderwaffen“ „Flexibilität“, „Mobilität“, „Dezentralisierung“ und „Individualisierung“. Aber sollten Beamte dennoch auch weiterhin anders behandelt werden und über spezifische Beschäftigungsbedingungen verfügen? Oder sollten alle öffentlichen Bediensteten denselben Status erhalten und das Human Resources Management sich auf das Fortbestehen guter Beschäftigungsbedingungen konzentrieren? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich komplex. Erwähnt sei der Fall von Korruption und Neutralität. Erzeugen eine Ernennung auf Lebenszeit und eine Laufbahnstruktur weniger Korruption, weniger politische Einflussnahme und mehr Neutralität? Oder sind politische Einflussnahme, Begünstigung und Korruption mehr eine Frage der politischen Kultur, Tradition und anderer Beschäftigungsbedingungen (wie einer niedrigen Bezahlung)? Hier lassen sich nur sehr schwer Antworten finden. Richtig ist, dass Länder mit einem so genannten Positionsmodell und angeglichenen Beschäftigungsverhältnissen (Schweden, Finnland, Vereinigtes Königreich und die Niederlande) relativ wenige Korruptionsfälle aufweisen. Andererseits zeigen Studien, dass eine Ernennung auf Lebenszeit und
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eine Politik der Laufbahnentwicklung ebenfalls wichtige Motivationsfaktoren sind. Tatsächlich haben auch traditionelle Laufbahnländer wie Frankreich und Deutschland im weltweiten Vergleich relativ niedrige Korruptionsniveaus; in Italien mit seinem so genannten halb privatisierten öffentlichen Dienst ist das Ausmaß der Korruption hingegen sehr hoch. Gleichzeitig hat eine Studie von Kellough und Nigro im US-Bundesstaat Georgia aufgezeigt, dass die Befürchtung nicht bestätigt wurde, wonach der Wechsel einer großen Zahl von Beschäftigten in den unklassifizierten (privatisierten) Dienst ohne Beschäftigungssicherheit zu Missbrauch und Manipulation der Beschäftigten für politische Zwecke führt. In Europa ist heute kein Land zu einer vollständigen Privatisierung des nationalen öffentlichen Dienstes bereit. Der in den Niederlanden vollzogene „Normalisierungsprozess“ hat zwar zu einer Reihe von Anpassungen geführt, aber nicht zu einer vollständigen Privatisierung. Noch immer stehen fast 80% der öffentlichen Bediensteten in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis. Tatsächlich steht überall in Europa die Reform des Beamtenstatus, nicht aber dessen vollständige Abschaffung zur Disposition. Eine Untersuchung des Verfassers über die Definition des Beamtenstatus in Europa26 in den (damals noch) 25 Mitgliedstaaten ergab, dass es in vielen Mitgliedstaaten zwar Angleichungstendenzen zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft gibt. Tatsächlich ist aber kein Mitgliedstaat bereit, den öffentlichen Dienst zu privatisieren und das Beamtentum abzuschaffen. Insgesamt könnte man allerdings von einem Trend zur Normalisierung der Beschäftigungsverhältnisse sprechen, ohne das Beamtentum abzuschaffen. In allen EU-Staaten verfügen zumindest bestimmte Personalkategorien über spezifische Beschäftigungsbedingungen. Selbst in Italien und Schweden blieb ein spezifischer Status für bestimmte Beschäftigtengruppen (z. B. Richter und Staatsanwälte) erhalten. Auch in Belgien wurde bei der Copernicus-Reform am Status des Beamten fast nichts verändert und auch in der Europäischen Kommission (im Zuge der Reform ihrer Personalpolitik) nichts an den entscheidenden Grundsätzen des Beamtentums und der Auswahlverfahren verändert. Die meisten Mitgliedstaaten sehen sich unzweifelhaft mit zusätzlichen Legitimationsproblemen konfrontiert, wenn die Notwendigkeit des Beamtentums auf der politischen Tagesordnung steht. Wo sollen die Grenzen zwischen Bediensteten mit und ohne Status liegen? Sollten Lehrkräfte in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden Beamte sein, da sie über das zukünftige Leben von Millionen von Kindern entscheiden? Sind franzö26
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sische, niederländische und deutsche Lehrkräfte „besser“ als ihre schwedischen oder britischen Kollegen, die keine Beamten sind? Warum sollen Beamte in Deutschland kein Streikrecht haben, während dies in anderen Ländern zulässig ist? Wie ist es um die Tausende anderer „privater“ Stellen in der chemischen Industrie, den Kernkraftwerken, Diensten von allgemeinen wirtschaftlichem Interesse und Internationalen Organisationen bestellt, die in ihrer Ausübung mit der Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse, dem Schutz der Gesellschaft und/oder der Bereitstellung wichtiger Dienstleistungen für den Bürger befasst sind? Warum sollten diese Beschäftigten keine Beamten sein? Oder umgekehrt: Sind die Beschäftigten im schwedischen öffentlichen Dienst weniger neutral und weniger unparteiisch, weil sie in einem privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnis stehen? Neben der Schwierigkeit zu entscheiden, wer ein öffentlicher Bediensteter sein sollte und wer nicht, zeichnet sich ein weiteres Paradox ab. Gerade die Terroristenanschläge in den letzten Jahren haben den Ruf nach einem schlagfertigen Staat wieder laut werden lassen. Die meisten Mitgliedstaaten wollen daher den öffentlichen Dienst auch nicht vollständig privatisieren. Dennoch führt die Binnenreform des öffentlichen Dienstes zu Angleichungstendenzen an die Privatwirtschaft. Obwohl sich dieser Prozess der Anpassung nicht nur in eine Richtung vollzieht (in einigen Fällen werden die Beschäftigungsbedingungen in der Privatwirtschaft an die des öffentlichen Dienstes angeglichen), führt diese Entwicklung zu einer sich verstärkenden Legitimationskrise des öffentlichen Dienstes. VII. Schlussfolgerungen Trotz aller Einzelunterschiede haben die öffentlichen Dienste in Europa vieles gemeinsam. Vor allem die Personalverantwortlichen stehen überall vor ähnlichen Herausforderungen. So besagt ein überall – ob nun in Finnland oder Portugal – vorhandenes gängiges Klischee, dass Beamte nicht das leisten, was sie eigentlich leisten sollten, dafür aber eine Vorzugsbehandlung in Fragen der sozialen Sicherheit und Arbeitsplatzsicherheit erhalten. Gemeinsam sind fast allen Verwaltungen auch die Anforderungen, die an eine Reform gestellt werden: Entbürokratisierung, Hierarchieabbau, Europäisierung, E-Government, Bürgerorientierung, Flexibilisierung, Mobilität etc. In den meisten EU-Staaten sollen die geplanten Maßnahmen daher zu einer Reduktion der zentralstaatlichen Eingriffe, einer entspannteren Haushaltslage und zur Annahme flexiblerer Regelungen führen. Der Begriff der Überregulierung und Regulierungsdichte ist allerdings so populär wie auch pauschal.
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Die sich wandelnde Rolle des Staates macht somit überall einen veränderten Begriff des öffentlichen Bediensteten erforderlich. Offensichtlich wird es immer deutlicher, dass kein Bedarf mehr an einer breiten Kategorie von Beamten besteht. Wichtiger ist das Angebot guter Beschäftigungsbedingungen, Möglichkeiten der Laufbahnentwicklung, Stabilität, Verantwortlichkeit und – am wichtigsten – guter Führung. Oder kurz gesagt: eines professionellen Human Resources Managements! Die Realität gestaltet sich jedoch sehr ambivalent, da ökonomische und finanzielle Erwägungen das Personalmanagement dominieren. Diese „Ökonomisierung“ lässt sich besonders gut am Wandel des Leistungsmanagements ablesen. Gerade in Deutschland war traditionelles Verwaltungshandeln nicht am Leistungs- und Motivationsprinzip, sondern am Ethos der Pflichterfüllung orientiert. So hat man lange Zeit auf materielle Leistungsanreize verzichtet, da der Beamten- und Pflichtethos ohnehin ein Leistungsethos implizierte, das sich auf Werte und nicht auf materielle Leistungsanreize gründete. Eigenschaften wie Pflichtbewusstsein oder die Bereitschaft zu dienen, konnten hingegen nur schlecht leistungsbezogen entlohnt werden. Heute verlangen Prinzipien nach einer individuellen Belohnung oder Sanktionierung von Leistung. Ein weiterer wichtiger Grund für die unbefriedigenden Ergebnisse vieler Reformmaßnahmen in den öffentlichen Diensten ist politischer und ideologischer Art. Nahezu jede politische Partei oder jeder Politiker kann sich massiver Unterstützung der Wählerschaft sicher sein, wenn er/sie Maßnahmen ankündigt, die auf eine verbesserte Leistungsfähigkeit der öffentlichen Beschäftigten abzielen. Beispielsweise ist die Einführung leistungsorientierter Bezahlung populär, da es dem Bild entspricht, dass Bürokraten sonst nichts leisten und nur für hohe Leistungen bezahlt werden sollten und beispielsweise keine automatischen Steigerungen aufgrund von „Dienstalterszugehörigkeit“ erhalten sollen. Das Herumhacken auf Bürokraten ist ohnehin ein Erfolg versprechender Dauerbrenner der politischen Agenda, unabhängig davon, ob es sich um Schattierungen auf dem linken oder rechten politischen Parteienspektrum handelt. Leistungsmanagement ist daher gerade in Zeiten knapper Kassen ein hoch beliebtes Thema im gesamten politischen Spektrum. Tatsächlich kann Leistungsmanagement als politische Vorlage dienen, da alle zustimmen werden, dass die Leistungsfähigkeit öffentlicher Organisationen verbessert werden muss. Heute sind die Unterschiede zwischen den Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft in Bezug auf Arbeitszeit, Bezahlung, Altersversorgung, Urlaub, Einstellung und Anforderungen an die Kompetenzen weniger bedeutend als in der Vergangenheit. Zu den wichtigsten Beispielen der letzten Jahre zählen die Einführung offener Einstellungsverfah-
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ren für Führungskräfte (die für einen begrenzten Zeitraum eingestellt werden), verbunden mit einer leistungsbezogenen Bezahlung. Diese Reformen wurden häufig aus guten Gründen unternommen, da die Argumente für einen spezifischen Beamtenstatus immer weniger überzeugend wirken. Warum sollten Spitzenbedienstete über interne Auswahlverfahren eingestellt und aufgrund des Wohlwollens eines Ministers ausgewählt werden? Warum sollte nicht stattdessen ein gerechtes und rationales Auswahlverfahren eingeführt werden? Ähnliche Veränderungen haben in Bezug auf das klassische Dienstaltersprinzip stattgefunden. Wenngleich das Dienstalter nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, so wird dies allmählich durch das Leistungsprinzip ersetzt. Warum sollte ein „durchschnittlicher“ 60 Jahre alter Bediensteter mehr verdienen als ein Höchstleistungen erbringender 30-Jähriger mit zwei Kleinkindern (und einem wirklichen Bedarf an einem höheren Einkommen im Vergleich zu seinem älteren Kollegen)? Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Einführung der Leistung als Beförderungsgrundsatz und eine stärkere Mobilität zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst zur „stillschweigenden Abschaffung“ des Beamtenstatus beitragen. Sicherlich wird die Zukunft durch einen wachsenden Gegensatz geprägt sein. Einerseits führen zunehmende Zweifel über den Bedarf an Beschäftigten mit einem Sonderstatus (Beamte) zu einer Anpassung der Beschäftigungsbedingungen an die Bedingungen in der Privatwirtschaft. Andererseits zeigen die meisten Studien, dass die „Beamten“ nicht das Problem sind. Sie erbringen – im Allgemeinen – gute Leistungen. Dies führt zu der paradoxen Schlussfolgerung, dass – häufig – traditionelle Beschäftigungsbedingungen und Prinzipien des öffentlichen Dienstes positive Auswirkungen haben. Zukünftig muss die Frage der Anpassung der Beschäftigungsverhältnisse mit einer ernsthaften Diskussion über die Politik des Human Resources Managements verbunden werden. Zwar gibt es gute Gründe für eine „Normalisierung“ des Status und der Beschäftigungspraxis in zuvor bürokratischen öffentlichen Diensten. Die Normalisierung sollte jedoch nicht zu einer Verschlechterung der Beschäftigungsbedingungen führen. Es mehren sich die Hinweise, dass in den nächsten Jahren die Beschäftigungsbedingungen erneut ein wichtiger Streitpunkt sein werden. Mehr Leistung, eine längere Arbeitszeit, das Verlangen nach größerer Schnelligkeit und mehr Effizienz, ein besseres Erreichen von Zielen, mehr Mobilität, Flexibilität und die Übernahme von mehr Verantwortung können nicht fortdauernd gefordert werden. Wie wird der öffentliche Bedienstete zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit diesen Herausforderungen umgehen? Wir benötigen eine effiziente Politik des Human Resources Managements, die die Schwächen der Strukturen und Verfahren in diesem Bereich aufgreift. Allerdings sind die Leistungen der (meisten) Beamten nicht das Problem.
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Statt des Oberbegriffes „Europäisierung“ lassen sich die Entwicklungen in den nationalen öffentlichen Diensten somit wohl eher mit den Schlagworten „Internationalisierung“, „Ökonomisierung“, „Fragmentierung“, „Dezentralisierung“ und „Angleichung“ beschreiben. In einer vergleichenden Betrachtung bestätigt sich zudem, dass die europaweite Vorbildfunktion der klassischen Verwaltungsmodelle (Deutschland, Frankreich) zunehmend verblasst. Diese Tatsache ist an sich nicht negativ. Warum sollte Personalpolitik überall gleich sein? Warum sollte man sich an einem oder zwei Verwaltungsmodellen orientieren? Die Erfahrungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass unterschiedliche öffentliche Dienste in den verschiedenen USBundesstaaten kein großes Problem darstellen. Umgekehrt belegen die auf EU-Ebene gemachten Erfahrungen, dass es zwar keine guten Argumente für eine flächendeckende Rechtsangleichung gibt. Gleichsam ist die zuweilen notorische Kritik an allem, was aus Europa kommt, zuweilen allzu populistisch. So haben in vielen EU-Beitrittstaaten insbesondere die Antidiskriminierungsrichtlinien und die Rechtsprechung des EuGH zu Fortschritten bei der Gleichbehandlung zwischen Mann und Frau beigetragen. Vor allem in der Literatur wurde bisher kaum wahrgenommen, dass es im Spannungsfeld EU – öffentliche Dienste auch Rechtsbereiche gibt, in denen (Neu-)Regulierungen absolut wünschenswert sind. Dies betrifft so unterschiedliche Bereiche wie Arbeitszeit, befristete Arbeitsverträge bis hin zur Betriebsübergangsrichtlinie (RL 2001/23/EG). In all diesen Bereichen ist Europa notwendig. Daneben ist es als außerordentlich problematisch zu bewerten, dass es im öffentlichen Dienst auf EU-Ebene noch immer keinen strukturierten europäischen sozialen Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt. Dies ist vor allem deshalb sehr problematisch, weil bestimmte europäische Rechtsakte direkte oder indirekte Auswirkungen auf das öffentliche Dienstrecht und die Personalpolitiken zeitigen. Insbesondere die oben genannten Richtlinien (z. B. RL 97/81/EG) wurden im Rahmen des europäischen sozialen Dialogs verabschiedet, aber ohne Beteiligung verschiedenster nationaler Gewerkschaften und ohne Einbeziehung von Vertretern der nationalen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes. So kann man hier getrost von einer Europäisierung ohne Einbeziehung der Mitgliedstaaten sprechen. Mit oder ohne Europäisierung: Heute mag man zum Beamtenstatus stehen wie man will. Europaweit ist eine tiefe Krise des europäischen Beamtentums und des Beamtenstatus feststellbar. Wichtig erscheint jedoch weniger eine populistische Kritik, die von allen Seiten (vor allem unter dem Banner der Bürokratiekritik) geübt wird, sondern eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Rolle des Beamtentums im 21. Jahrhundert. Tatsächlich kommen die Fürsprecher eines spezifischen öffentlichen Dienstes nicht mehr aus der Defensive heraus.
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Hingegen müssen alle Mitgliedstaaten aber auch weitaus stärker als bisher verdeutlichen, worin der Mehrwert des Beamtentums eigentlich besteht. So banal es klingt: Wo man auch hinhört, wird der öffentliche Dienst und die so genannte „Bürokratie“ kritisiert, gerade auch von den Politikern. Diese Kritik ist auf nationaler wie auch auf EU-Ebene identisch und führt nur zu einem schlechten Image und einer auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragenen Politik. Wichtig erscheint daher, dass endlich eine ernsthafte Debatte geführt wird, die auch die Notwendigkeit des öffentlichen Dienstes thematisiert.
Der öffentliche Dienst – gut aufgestellt für die Zukunft? Anforderungen, Arbeitsweisen, Kompetenzen Hermann Hill I. Auf der Suche nach Identität Heinrich Siedentopf hat sich in seinem wissenschaftlichen Schaffen immer wieder mit aktuellen Leitbildern der Modernisierung öffentlicher Dienste beschäftigt1. Entgegen allen Vorurteilen gegenüber der öffentlichen Verwaltung und ihren Bediensteten war dabei immer seine Maxime: Und sie bewegt sich doch2! Da jedoch die Entwicklung in der Gesellschaft nicht stehen bleibt, müssen auch Staat und Verwaltung immer wieder neu gedacht werden3. Insbesondere die durch Globalisierung und neue Medien gestiegene Mobilität und Transparenz stellen die Funktions- und Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auf den Prüfstand. Die Qualität des öffentlichen Dienstes ist ein wichtiger Wettbewerbsfaktor am Standort Deutschland4. Die Föderalismusreform hat dabei das Recht des öffentlichen Dienstes erneut in Bewegung gebracht5. Der Betriebswirtschaftler Knut Bleicher bemerkte zur Situation der Unternehmensführung in den neunziger Jahren: „Wir arbeiten in Strukturen von gestern mit Methoden von heute an Problemen von morgen, vorwie1 Zuletzt H. Siedentopf, Aktuelle Leitbilder einer Modernisierung öffentlicher Dienste, in: R. Koch/P. Conrad (Hrsg.), Verändertes Denken – Bessere öffentliche Dienste?!, Wiesbaden 2004, S. 57 ff. 2 H. Siedentopf, Stand und Entwicklungsperspektiven einer Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, in: Koch/Conrad (Hrsg.), New Public Service, Wiesbaden 2003, S. 79, 80; ebenso H. Hill, Und sie bewegt sich doch! Wie Bürokratien lernen, in: C. Schmitz u. a. (Hrsg.), Managerie, 4. Jahrbuch Systemisches Denken und Handeln im Management, Heidelberg 1997, S. 227. 3 H. Hill, Verwaltung neu denken, in: VOP 1993, S. 15; F. Behrens u. a. (Hrsg.), Den Staat neu denken, Berlin 1995. 4 H. P. Bull, Bürokratieabbau und Dienstrechtsreform, in: DÖV 2006, S. 241. 5 W. Höfling/C. Burkiczak, Die Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums unter Fortentwicklungsvorbehalt, in: DÖV 2007, S. 328; H. Lecheler, Die Auswirkungen der Föderalismusreform auf die Statusrechte der Beamten, in: ZBR 2007, S. 18.
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gend mit Menschen, die die Strukturen von gestern gebaut haben und das Morgen innerhalb der Organisation nicht mehr erleben werden.“6 Vor dem o. g. Hintergrund fragt sich, ob diese Feststellung auch auf den öffentlichen Dienst im 21. Jahrhundert zutrifft oder ob dieser im Hinblick auf neue Herausforderungen, was Kompetenzen und Arbeitsweisen angeht, gut aufgestellt ist für die Zukunft? Die Situation der Menschen im öffentlichen Dienst7 ist trotz vielfältiger Leitbildprozesse nicht durch eine Identität und ein eindeutiges Selbstverständnis gekennzeichnet. Die vielen Modernisierungswellen der letzten Jahre haben nicht zu einer elastischen Widerstandsfähigkeit (resilience) und zu einem gestärkten Selbstbewusstsein geführt. Dass das neue Anforderungsprofil „modernisierter“ Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst von den Faktoren Beweglichkeit, Methodenvielfalt und Souveränität gekennzeichnet sei8, bleibt in vielen Fällen nur Wunschvorstellung. Auch dass es eine Ehre sei und man stolz darauf sein könnte, für das Gemeinwohl zu arbeiten9, entspricht (noch) nicht dem Selbstverständnis vieler Bediensteter. Dass die Entwicklung vom Staatsdiener zum öffentlichen Dienstleister10 schon vollzogen sei, kann wohl auch noch nicht allgemeingültig festgestellt werden. Dass etwa New Public Management zu einer neuen Selbständigkeit und Renaissance der Persönlichkeit geführt habe11, ist ebenfalls kein genereller Eindruck. Vielmehr wird man eher an den Titel der englischsprachigen Originalausgabe des Buches von Richard Sennett „The corrosion of character“ erinnert12, wonach die Modernisierung eher Irritationen und Un6 Vgl. H. Hill, Von der Krisenbewältigung zum Management der Zukunft, in: C. Böhret u. a. (Hrsg.), Staat und Verwaltung im Dialog mit der Zukunft, Baden-Baden 1994, S. 33, 34. 7 Zur internationalen Diskussion vgl. J. Denhardt/R. Denhardt, The New Public Service, New York/London 2003; S. Martin (ed.), Public Service Improvement, London/New York, 2006. 8 H. Hill, Jetzt die Beschäftigten „modernisieren“, in: VOP 12/1999, S. 12, 13. 9 Hill, Von der Krisenbewältigung zum Management der Zukunft (Anm. 6), S. 48. 10 H. P. Bull, Vom Staatsdiener zum öffentlichen Dienstleister, Berlin 2006; vgl. noch S. Kuhlmann, Öffentlicher Dienst in Deutschland: veränderungsfähig oder reformresistent?, in: L. Kißler u. a. (Hrsg.), Öffentlicher Dienst und Personalmanagement, Frankfurt/New York 2006, S. 71 ff. 11 H. Hill, Die neue Selbständigkeit fördern: „Modernisierte“ Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung, in: N. Thom/R. Zaugg (Hrsg.), Excellence durch Personalund Organisationskompetenz, Bern u. a. 2001, S. 387; ders., Welche Kompetenzen benötigen die Mitarbeiter einer modernen öffentlichen Verwaltung?, in: Y. Emery/D. Giauque (Hrsg.), Sens et paradoxes de l’emploi public au XXIe Siècle, Lausanne 2003, S. 55, 60.
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sicherheiten bewirkt hat. So stand etwa die Jahreskonferenz der European Group of Public Administration (EGPA) im September 2006 in Mailand unter dem Titel: „Public Managers under Pressure between Politics, Professionalism and Civil Society“.13 Offensichtlich ist die „Kultur der Bürokratie“ zwar ins Wanken geraten, aber eine neue Kultur, die Sicherheit und Orientierung vermittelt, ist noch nicht an ihre Stelle getreten, jedenfalls noch nicht für alle sichtbar bzw. erkennbar geworden. Manche helfen sich damit, den gegenwärtigen Zustand mit der Entwicklung von einem Weberianischen Staat in Richtung eines Neo-Weberianischen Staates zu beschreiben14. Dieser verbleibe in der Form eines Rechtsstaats. Seine öffentlichen Bediensteten seien jedoch nicht nur Bürokraten und Rechtsexperten, sondern gehörten darüber hinaus der Profession der Manager an, mit einer Schwerpunktausrichtung auf Performance und Kunden. Es bleibt daher weiterhin aufgegeben, durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, durch neue Arbeitsweisen, durch Potential- und Kompetenzentwicklung sowie vor allem durch gute Führung dem öffentlichen Dienst Orientierung zu vermitteln und Identität zu ermöglichen, um ihn für die Herausforderungen der Zukunft aufzustellen. II. Veränderungen und Herausforderungen Die traditionelle, legalistisch geprägte deutsche Verwaltungskultur wurde zweifelsohne durch angelsächsische Konzepte eines New Public Management erheblich herausgefordert. Sie brachten ein Denken in Ergebnissen und ebneten den Weg zu mehr Leistungsorientierung und Wettbewerb. Sie öffneten den Blick für die Perspektive des Kunden von außen nach innen. Gleichzeitig führten sie aber auch zu einer Konzentration auf die jeweilige Einheit und zu einer Scheinrationalität der Kennzahlenwerke15. Die Einführung neuer Techniken zur Informationsverarbeitung hat eine Dezentralisie12
Dazu H. Hill, Modernisieren im Mind Age, in: ders. (Hrsg.), Modernisierung – Prozess oder Entwicklungsstrategie?, Frankfurt/New York 2001, S. 75, 76. 13 www.egpa2006.com. 14 G. Bouckaert, Auf dem Weg zu einer neo-weberianischen Verwaltung, in: J. Bogumil u. a. (Hrsg.), Politik und Verwaltung, PVS-Sonderheft 37, 2006, S. 354, 365; J. P. Olsen, Maybe it is time to rediscover bureaucracy, in: Journal of Public Administration Research and Theory (JPART), 2005, S. 1; J. Chevallier, Governance als neues staatliches Paradigma?, Verwaltungswissenschaftliche Informationen 2004, S. 44, 48. 15 H. Hill, Neue Organisationsformen in der Staats- und Kommunalverwaltung, in: E. Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, Baden-Baden 1997, S. 65 ff; J. Bogumil u. a., Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell, Berlin 2007.
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rung und Demokratisierung des Wissens zur Folge. Verteiltes Wissen brachte die Auflösung von Hierarchien und neue Führungsstile mit sich16. Neue Staatskonzepte lösten Monopole bei der öffentlichen Leistungserstellung auf, führten zur Anerkennung von Vielfalt und zum Denken in Netzwerken und Partnerschaften17, was gleichzeitig neue Auswahlentscheidungen und Koordinationsmechanismen erforderte. Auf dem Weg von Good Governance zu Public Leadership wurde dabei erneut die Frage nach alternativen Problemlösungen und den Beiträgen der jeweiligen Akteure zur ganzheitlichen Wertschöpfung (Public Value Management) gestellt18. Das Denken in Prozessen vom Ende her und die Frage nach der Rationalität und Angemessenheit von Entscheidungen gewinnen dabei neue Bedeutung19. All dies geschieht vor der Folie der Europäisierung und internationaler Vergleiche20. Verwaltungsorganisationen entgrenzen und verflüssigen sich. Teilaufgaben werden dezentralisiert, ausgelagert oder in sog. Shared Services wieder neu vereint. Ob damit Wissensverluste oder Innovationsgewinne einhergehen, ist noch nicht endgültig geklärt. Der Blick und die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg schafft neue Möglichkeitsräume, stellt aber auch weitere Fragen nach der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche21. Ob und inwieweit Verwaltungsbeamte angesichts gewachsener Komplexität der Aufgabenerledigung externe Berater heranziehen dürfen oder wie weit die Möglichkeit und Pflicht zur weiteren eigenen Qualifikation reicht, kann nur im Einzelfall entschieden werden22. Der demografische Wandel führt zu al16 H. Hill, Transformation der Verwaltung durch E-Government, in: DfK 2004/II, S. 17. 17 H. Hill, Partnerschaften und Netzwerke – Staatliches Handeln in der Bürgergesellschaft, in: BayVBl 2002, S. 321. 18 H. Hill, Good Governance – Konzepte und Kontexte, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, Baden-Baden 2005, S. 220; ders., Von Good Governance zu Public Leadership, in: Verwaltung und Management 2006, S. 81; ders., Public Value Management, in: M. Brüggemeier u. a. (Hrsg.), Performance Management im öffentlichen Sektor, Festschrift für D. Budäus, 2007, S. 373–381. 19 A. Scherzberg (Hrsg.), Kluges Entscheiden, Tübingen 2006; U. Schimank, Rationalitätsfiktionen in der Entscheidungsgesellschaft, in: D. Tänzler u. a. (Hrsg.), Zur Kritik der Wissensgesellschaft, Konstanz 2006, S. 57. 20 H. Hill, Current trends in Public Sector Modernization in Europe, in: ders. (Hrsg.), Modernizing Government in Europe, Baden-Baden 2007, S. 11. 21 G. Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: W. Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 2006, § 16; A. Picot u. a., Die grenzenlose Unternehmung, 5. Aufl., Wiesbaden 2003. 22 Der Präsident des Bundesrechnungshofs (Hrsg.), Einsatz externer Berater in der Bundesverwaltung, Stuttgart 2006.
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ternden Belegschaften und zu neuen Anforderungen an Gesundheitsmanagement und Weiterbildung23. Wissensverluste beim Ausscheiden älterer Mitarbeiter24 erfordern neue Formen der Zusammenarbeit, etwa in gemischten Teams. Hinzu kommen das Management von Diversität25 und interkulturellen Anforderungen sowie wachsende Herausforderungen für die Gewinnung neuer, junger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Terroristische Bedrohungen, Gesundheitsrisiken und Naturkatastrophen erfordern wiederum einen starken Staat, der proaktiv Kapazitäten aufbaut und bereithält26. Gleichzeitig soll aber das Dienstwissen nicht nur gehortet, sondern produktiv eingesetzt werden27, sollen Bürokratieabbau, intelligentes Sparen mit Innovationen im öffentlichen Sektor verknüpft werden28. Beispielhaft für letzteres steht die sog. Lissabon-Strategie der Europäischen Union, die die Funktion und Rolle des Staates und seiner Bediensteten erneut ins Blickfeld rückt. Der öffentliche Sektor ist dabei nicht nur als Arbeitgeber und Auftraggeber sowie als Bereitsteller grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen, etwa in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und soziale Sicherheit, gefragt, sondern ebenso im Rahmen seiner rechtsetzenden, politikgestaltenden, finanzerhebenden und -verteilenden sowie informationssammelnden und -verarbeitenden Tätigkeit29. In den USA hat das IBM Center for The Business of Government Studien bei renommierten Verwaltungswissenschaftlern zur Verwaltung des 21. Jahrhunderts in Auftrag gegeben. Donald F. Kettl30 stellte dabei fünf Gebote für eine neue und effektivere Verwaltungsstrategie auf: 23 G. Richenhagen, Demografischer Wandel: Gesünder arbeiten bis ins Alter, in: Personalführung 2/2004, S. 60; ders., Beschäftigungsfähigkeit, gesundheitliche Potentiale und altersflexibles Führen, in: Personalführung 8/2007, S. 44. 24 K. Alms u. a., Wissenstransfer beim Ausscheiden von Mitarbeitern, in: zfo 2007, S. 85; G. Dragusanu, Zehn Schritte für das Wissensmanagement. Sicherung und Weitergabe relevanten Wissens bei Stellenwechsel, in: Personalführung 5/2007, S. 60. 25 H.-J. Aretz/K. Hansen, Diversity Management – ein Konzept für den Umgang mit Vielfalt und Komplexität, in: zfo 2003, S. 192; G. Vedder, Diversity Management – Quo vadis?, in: Personal 2005, S. 20. 26 C. Demmke, Governmental, Organisational and Individual Performance, in: EIPASCOPE 2006/1, S. 5. 27 H. Hill, Reengineering im öffentlichen Bereich, in: J. Hess (Hrsg.), Reengineering im öffentlichen Bereich, Bern 1997, S. 29, 39. 28 H. Hill, Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung, in: DÖV 2004, S. 721. 29 S. Määttä, Looking for a deliverable Lisbon Strategy on Sustainable Growth and Jobs, Ministery of Finance, Helsinki, 2006. 30 D. F. Kettl, The Next Government of the United States: Challenges for Performance in the 21st Century, in: IBM Center for the Business of Government (ed.),
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– Eine politische Agenda, die mehr auf Probleme als auf Strukturen ausgerichtet ist. Die Menschen wollten, dass ihre Probleme gelöst werden. Es sei ihnen gleichgültig, wer dies tue. – Eine politische Rechenschaftslegung, die mehr durch Ergebnisse als durch Prozesse erfolgt. – Eine öffentliche Verwaltung, die organischer durch Netzwerke als durch strikte Hierarchien arbeitet. – Eine politische Führung, die mehr dem Handeln zum Durchbruch verhilft als nur Entscheidungen zu treffen. – Eine Bürgerschaft, die sich eher durch Engagement als durch Distanz auszeichnet. Gestützt auf Erfahrungen der Gesundheitsverwaltung empfiehlt er drei weitere Prinzipien für die Verwaltung der Zukunft: – Schaffe wissensgetriebene Organisationen; – reagiere auf die Steigerung von Nicht-Routineproblemen; – antworte auf den wachsenden Bedarf für nicht-hierarchische Lösungen. Aus diesen und anderen Studien hat das IBM Center folgende sechs Trends für die Umgestaltung öffentlicher Verwaltungen entwickelt: – Ändere die strikten Regeln und gib den Betreffenden mehr Flexibilität; – nutze Performance-Management im Rahmen einer ergebnisorientierten Arbeitsweise; – schaffe Wettbewerb, Auswahlmöglichkeiten und Anreize; – arbeite „on demand“ durch horizontale Integration von Prozessen und Infrastrukturen; – beziehe die Bürger aktiv ein; – nutze Netzwerke und Partnerschaften31. Zusammengefasst verweisen diese Empfehlungen aus den USA für die Zukunft der öffentlichen Verwaltung auf ganzheitliche Problemlösungen aus Bürgersicht, wobei grenzüberschreitend die Verwaltungskräfte verschiedener Einrichtungen zusammengefasst und die Bürger bei der Lösung einbezogen werden. Reflections on 21st Century Government Management, 2007; S. 7 ff.; www. businessofgovernment.org. 31 M. Abramson u. a., Six Trends Transforming Government, in: The Public Manager, Spring 2007, S. 3 (eigene Übersetzung), vgl. auch die deutsche Fassung unter www-05.ibm.com/de/pov/government/trends/html.
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III. Entwicklung und Reflexion neuer Arbeitsweisen 1. Entgrenzte Arbeitsverhältnisse Henry Ford soll angeblich gesagt haben: „Warum bekomme ich immer eine ganze Person, wenn ich lediglich ein paar Hände will?“ Am Fließband und in gewisser Weise ähnlich in der arbeitsteiligen hierarchischen Organisation war die nach- und mitdenkende, mitfühlende und ihre ganze Persönlichkeit einbringende Person immer hinderlich, da Produktivitätssteigerung durch wiederholende, einfache Tätigkeit gefragt war. In komplexen Arbeitswelten in der Wissensgesellschaft32 – und Verwaltungen beschäftigen sich überwiegend mit der Verarbeitung von Informationen und der Nutzung von Wissen – ist dies eher umgekehrt. Ziel der Organisationsleitung ist es, eine umfassende Nutzung der Arbeitskraftpotentiale sicherzustellen und einen Zugang zum gesamten Subjekt, d. h. zu den Kompetenzen des „ganzen“ Menschen zu erhalten. Dabei geht es der Organisationsleitung vor allem um die Erschließung tiefer liegender Leistungspotentiale der einzelnen Person, sowie ihres Sozialkapitals, vor allem ihres Beziehungsnetzwerkes. Der Zugang zu diesen Fähigkeiten und Potentialen wird vor allem in wissensintensiven Dienstleistungen zum Erfolgsfaktor33. Wie am Beispiel von Dienstleistungsunternehmen, wie Unternehmensberatungen, untersucht wurde, kommt es dabei immer mehr zu einer Verwischung der Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben. Die Befunde sollen, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenso auf Industrieunternehmen übertragbar sein34. Beides spricht dafür, dass auch die Arbeit in modernen wissensgeprägten Verwaltungen nicht mehr weit davon entfernt ist. Für die Beschäftigten bedeutet dies eine stete Überschreitung ihrer individuellen Grenzen durch die Organisation. Dies betrifft sowohl die zeitliche Flexibilisierung der Arbeit, die räumliche Dimension des Arbeitsplatzes, das Einarbeiten in neue technische Hilfsmittel, die im Hinblick auf die Tätigkeitsinhalte notwendige fachliche Flexibilität, verbunden mit einem ständig wechselnden Qualifikationsprofil, individuelle Zielsetzungen und Sinnfindungsprozesse, die nicht mehr eindeutig Beruflichem oder Privatem zugeordnet werden können, sowie die mangelnde Anbindung an einen festen 32 A. Bernardi u. a., Komplexe Arbeitswelten in der Wissensgesellschaft, in: T. Pellegrini/A. Blumauer (Hrsg.), Semantic Web. Wege zur vernetzten Wissensgesellschaft, Berlin, Heidelberg 2006, S. 27. 33 J. Okech/K. Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ Entgrenzte Arbeitsverhältnisse und die Bedeutung von Identität in wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen, in: A. B. Antal/S. Quack (Hrsg.), Grenzüberschreitungen – Grenzziehungen, Festschrift für H. Rudolph, Berlin 2006, S. 180, 186. 34 Okech/Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ (Anm. 33), S. 203.
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Kollegenkreis und eine dauerhafte Verankerung in Abteilungen35. Aus der Einstellung „Stets zu Ihren Diensten!“36 kann dabei schnell die Frage folgen „Rentier’ ich mich noch?“,37 weil die eigene Arbeitskraft und -fähigkeit ständig im Wettbewerb mit anderen Personen und unter dem Druck der steigenden Arbeitsplatzanforderungen steht. Dieser immer stärkere Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit des Wissensarbeiters hat aber andererseits zur Folge, dass im Hinblick auf die Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse soziale Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen erodieren oder bewusst aufgelöst werden38, d. h. traditionelle Formen des Organisations- und Personalrechts und der -entwicklung greifen nicht mehr. Zudem besteht gerade in wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen ein „Unsicherheitspotential der Arbeitskraft“, weil die Unternehmensleistung immer mehr von der einzelnen Person als Kompetenzträger abhängt. Dies gefährdet die Konformitätssicherung der Arbeitsleistung39, erhöht aber auch den Handlungsspielraum des Einzelnen sowie seine Fähigkeit zur Gestaltung und bietet damit eine Chance für starke Persönlichkeiten. Die Führung dieser selbständigen Mitarbeiter kann nicht mehr per Weisung geschehen, vielmehr müssen Zielvereinbarungen individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen berücksichtigen40. 2. Subjektivierung von Arbeit Wenn die Organisationsleitung in wissensbasierten Organisationen Zugang zum „ganzen“ Menschen sucht, und wegen der Komplexität und Verflochtenheit des Wissens in konkreten Anwendungskontexten suchen muss, hat das eine Subjektivierung von Arbeit zur Folge. Dies widerspricht dem Bürokratiemodell Max Webers, der eine rationale Herrschaft vor allem auch durch die Trennung von Amt und Person erreichen wollte. Noch heute lernen JuraStudenten unpersönlich und objektivierend zu formulieren, die Distanz und Unbefangenheit des staatlichen Entscheidungsträgers wird als wesentliches Kriterium von Rechtsstaatlichkeit betont. Objektivierende Strategien zielen damit darauf ab, das Funktionieren des Arbeitsprozesses und der zweckratio35
Okech/Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ (Anm. 33), S. 187 ff. Vgl. Okech/Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ (Anm. 33). 37 U. Vormbusch, Accounting, Informatisierung und der Calculating Man, in: A. Baukrowitz u. a. (Hrsg.), Informatisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch, Berlin 2006, S. 145, 147 unter Hinweise auf A. Schmidt. 38 Okech/Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ (Anm. 33), S. 186. 39 Okech/Rothe, „Stets zu Ihren Diensten!“ (Anm. 33), S. 183. 40 H. Hill, Zur Veränderung von Handlungsspielräumen durch Kontraktmanagement, in: Verwaltung und Management 1999, S. 75; ders., Zur Rechtsdogmatik von Zielvereinbarungen in Verwaltungen, in: NVwZ 2002, S. 1059. 36
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nalen Organisation vom „subjektiven Faktor“ unabhängig zu machen, also von der Person, ihren Deutungen, Sinnbedürfnissen und Zwecksetzungen. Objektivierende Strategien richten sich darauf, personengebundenes Erfahrungswissen in allgemeingültiges Planungswissen zu transformieren41. Wissen veraltet indes schnell. Es ist der volatile Teil des Prozesses. Dass etwas wissensbasiert ist, heißt in vielen Fällen, dass es auch anders oder besser organisiert werden könnte42. Die Lösung eines konkreten Problems in einer bestimmten Situation erfordert die Kopplung unterschiedlicher Wissenstypen und -quellen, verknüpft mit einem konkreten Sach-, Fall-, Objekt-, Akteurs- und Kontextbezug. Erforderlich ist ein komplexes Zusammenspiel heterogener Wissensarten, die untereinander und mit praktischen Routinen verflochten sind. Eine optimale Verbindung von Wissensformen und Handlungsroutinen, die sich in allen Kontexten und für alle Zwecke als überlegen erweisen würde, gibt es dabei nicht. Es sei daher auch schwer, aus der Best Practice Anderer zu lernen und riskant, den erfolgreichen eigenen Weg fortzusetzen, da genau dies in die Sackgasse führen könne43. Diese Anatomie des Wissens und seiner praktischen Anwendung in wissensbasierten Prozessen und Entscheidungen zeigt in einer legalistisch geprägten Verwaltung zugleich die Begrenztheit genereller Programmierung und rechtlicher Subsumtion und verweist auf die Notwendigkeit situativer und subjektiver Betrachtung. Bei aller Anerkennung der Subjektivität als Ressource dürfen jedoch entsprechende Risiken (Eigensinn, Intransparenz, Beeinflussbarkeit etc.) nicht außer Betracht bleiben. Die betriebswirtschaftliche Literatur nennt zu ihrer Bewältigung individualisierte Leistungsaushandlung (z. B. Zielvereinbarungen), ökonomische Dezentralisierung (ökonomische Selbstregulation bzw. Einführung marktlicher Prinzipien, z. B. Bildung von Profit-Centern) sowie Prozeduralisierung durch Bewirtschaftung aller Ressourcen in der Zeit, production on demand als Antwort auf kontinuierlichen Wandel, eine Verflüssigung der Regeln durch kontinuierliche Neuaushandlung aller Verfahren und Kriterien sowie eine Ablösung des Konzepts der Organisationsentwick41 M. Moldaschl, Das Subjekt als Objekt der Begierde – Die Perspektive der „Subjektivierung von Arbeit“, in: G. Schreyögg/P. Conrad (Hrsg.), Theorien des Managements, Managementforschung 12, Wiesbaden 2002, S. 245, 251; ausführlich M. Moldaschl/G. G. Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, 2. Aufl., München/ Mering, 2003. 42 H. Kocyba, Die Bedeutung der Kategorie Wissen für den Wandel der Arbeit, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Nr. 2, 16. Jg., Juni 2007, S. 43, 45 f., www.itas.fzk.de/deu/tatup/inhalt.htm; etwas, das auch anders möglich ist (Kontingenz), eröffnet Handlungs- und Gestaltungsspielräume, vgl. T. Beyes, Kontingenz und Unternehmensführung, in: GDI-impuls 4/2002, S. 30, 31. 43 Kocyba, Die Bedeutung der Kategorie Wissen (Anm. 42), S. 46.
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lung durch das des Organisationslernens44. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht kämen Elemente der Selbstdisziplin, Selbstevaluation und Offenlegung hinzu, um die erschwerte Fremdkontrolle subjektivierter Arbeitsverhältnisse und situativer Entscheidungen zu kompensieren. Der zunehmende Trend, Verhaltenskodizes und Rechenschaftspflichten für Verwaltungsmitarbeiter zu statuieren45, geht in diese Richtung. 3. Informatisierung der Arbeit Die Einführung moderner Informations- und Kommunikationstechniken, häufig mit dem Schlagwort eGovernment bezeichnet, hat die Arbeitsweise auch in öffentlichen Verwaltungen verändert46. Die sog. Informatisierung bringt indessen Vor- als auch Nachteile mit sich. Die elektronische Unterstützung der Behördenabläufe sowie eine ganzheitliche Vorgangsbearbeitung führen zur Erhöhung der Produktivität und Qualität der Arbeit. Die räumliche und zeitliche Unabhängigkeit verschafft den Beschäftigten mehr Souveränität und Selbstbestimmung bei der Arbeitseinteilung47. So wurde festgestellt, dass der Bedarf an menschlicher Subjektivität umso größer ist, je mehr eine Arbeitsumgebung technisiert ist48. Die Flexibilität der Arbeit wird weiterhin durch eine erhöhte Modularität vieler Anwendungen und Dienste, etwa im Rahmen einer Service-orientierten Architektur49, gesteigert. Kontakte und Interaktionen im Netz zwischen Behörden, aber auch mit den Bürgern, nehmen zu. Gerade im Rahmen der Entwicklung des Web 2.0 erhofft man sich eine stärkere Einbindung der kollektiven Intelligenz der Nutzer50. 44
Moldaschl, Das Subjekt als Objekt der Begierde (Anm. 41), S. 252 ff, 259 f. H. Hill, Verwaltungskommunikation und Verwaltungsverfahren unter europäischem Einfluss, in: DVBl 2002, S. 1316, 1318. 46 Vgl. Hill, Partnerschaften (Anm. 17); ders., Die öffentliche Verwaltung als Teil der Informationsgesellschaft, in: Der Landkreis 1998, S. 224; ders., Verwaltungsentscheidungen im Informationszeitalter, in: G. Banner u. a., Führung, Organisation und Kultur im Electronic Government, Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung, Stiftungsreihe 59, 2004, S. 13. 47 H. Hill, Kommunikation einer geteilten Regierung, in: zfo 1994, S. 318, 320; ders., Multimedia – Chancen und Herausforderungen für Verwaltungen und Bürger, in: Verwaltung und Management 1996, S. 196. 48 K. Schönberger, Von der „Entgrenzung der Arbeit“ zur Entgrenzung der Methoden ihrer Erforschung: Forschungsdesign und Erhebungstechniken, in: A. Boes/S. Pfeiffer (Hrsg.), Informationsarbeit neu verstehen, München 2005, S. 18, 24. 49 T. Rausch, Service Orientierte Architektur. Übersicht und Einordnung, www. till-rausch.de. 50 T. Alby, Web 2.0. Konzepte, Anwendungen, Technologien, München, Wien 2007, S. 15; vgl. auch F. T. Piller, User Innovation: Der Kunde kann’s besser, in: 45
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Der Informationsraum51 für den einzelnen Mitarbeiter hat sich durch das Internet erweitert. Dies macht die Arbeit indessen nicht unbedingt einfacher; in der sog. Google-Gesellschaft regiert der Kampf um Aufmerksamkeit. Suchmaschinen erhalten eine realitätskonstituierende Funktion52. Was nicht auf der ersten Seite gelistet ist, ist nicht in der Welt. Selbst wenn es auf diese Weise vorhanden ist, ist die Relevanz, Authentizität und Qualität der Information nicht unbedingt gewährleistet. Wikipedia53 und Weblogs54 erweitern zwar Perspektiven und Dialog, steigern aber nicht zwingend den Informationsgehalt. Ungeklärt ist weiterhin, wie weit der Suchraum ausgedehnt werden muss. Stopp-Regeln sind je nach Problemdimension und -gehalt erforderlich55. So bleibt fraglich, ob die Informatisierung der Arbeit langfristig eher zu Autonomiegewinn oder zu Autonomieverlust der Mitarbeiter führt56. Differenzierte Betrachtungen und Strategien, vor allem zum Umgang und zur Bewertung von Informationen57, sind erforderlich. Die Informatisierung der Arbeit verweist auch auf das Problem der Abgrenzung und Zuordnung menschlicher Arbeitsleistung und technischer Unterstützung. Die maschinengerechte Standardisierung und technische Passform bzw. Normierung kann dazu führen, dass Informationen durch technische Wahrnehmungsfilter geprägt und verändert werden58. Dies kann zur Mediatisierung und Reduktion von Wirklichkeitserfahrung beitragen. Informatisierung hat insofern immer auch eine stärkere Reformalisierung zur Folge. Zugleich führt eine Informatisierung zur Ablösung der Information von ihrem Kontext und zur Weitergabe in Form abstrakter Symbole59. DaO. Drossou u. a. (Hrsg.), Die wunderbare Wissensvermehrung. Wie Open Innovation unsere Welt revolutioniert, Hannover 2006, S. 85. 51 A. Boes/S. Pfeiffer, Informatisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch, in: Baukrowitz u. a. (Hrsg.), Informatisierung (Anm. 37), S. 19, 20, 24. 52 M. Schetsche u. a., Die Google-Gesellschaft. Zehn Prinzipien der neuen Wissensordnung, in: K. Lehmann/M. Schetsche (Hrsg.), Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, Bielefeld 2005, S. 17, 27; H. Friebe/S. Lobo, Wir nennen es Arbeit, München, 3. Aufl. 2006, S. 71. 53 http:de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite. 54 P. Wolff, Die Macht der Blogs, Frechen 2006; K. Eck, Corporate Blogs, Zürich 2007; R. Scoble/S. Israel, Unsere Kommunikation der Zukunft, München 2007 (englisches Original: Naked Conversations, 2006). 55 W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, in: AöR 130 (2005), S. 5, 48: „Stoppregeln der Wirklichkeitserfassung und der Rechtserkenntnis“. 56 R. Kuhlen, Autonomiegewinne oder Autonomieverluste durch Wandel von Informationsarbeit? in: Baukrowitz u. a. (Hrsg.), Informatisierung (Anm. 37), S. 370. 57 H. Hill, Einfach politisch – Reformbaustelle Rat, in: VOP 7–8/1998, S. 20. 58 Hill, Kommunikation (Anm. 47), in: zfo 1994, S. 321; in: Verwaltung und Management 1996, S. 199. 59 Schönberger, Von der „Entgrenzung der Arbeit“ zu der Entgrenzung der Methoden (Anm. 48), S. 24.
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runter kann die Verständlichkeit leiden. Jedenfalls scheint es erforderlich, in die informationelle Arbeit Reflexionsschleifen einzubauen, um Aspekte zu erkennen, die die Software mangels Programmierung des Situativen und Unplanbaren sowie möglicher neuer und übergeordneter Zusammenhänge nicht sieht. Diese „menschliche Bilanzprüfung“ informationeller Arbeit benötigt ausreichende Distanz, aber auch Sensibilität für Zwischentöne und weiche Signale. 4. Lernen im Prozess der Arbeit Dass eine einmal erworbene Ausbildung nicht mehr für ein ganzes Berufsleben ausreicht, sondern lebenslanges Lernen gefordert ist, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Herumgesprochen hat sich auch, dass ein Lernen auf Vorrat schnell zu veraltetem Wissen führt und es stattdessen um das Lernen des Lernens gehen muss. Zunehmend wird aber auch deutlich, dass viele Situationen nicht mehr planbar60 sind und daher eine rationale Vermittlung wissenschaftlich gesicherten Wissens in formalen, pädagogisch vordefinierten bzw. ausgereiften Strukturen nicht mehr ausreicht. Informelles Lernen im Prozess der Arbeit61, problemorientiertes Lernen und die kontextuelle Einbindung von Erfahrungen in Geschichten stellen daher neue Lernformen dar. Nicht zuletzt die Diskussion um Vor- und Nachteile von E-Learning62 rückt die Frage nach angemessenen und zukunftsorientierten Formen des Lernens wieder in den Vordergrund. Informelles Lernen kann auch als Lernen über Erfahrungen bezeichnet werden. Es ergibt sich aus Arbeits- und Handlungserfordernissen und bewirkt ein Lernergebnis, das aus Situationsbewältigungen und Problemlösungen folgt63. Das intuitive Erfassen eines Sachverhaltes64, das vor allem auf 60
F. Böhle u. a. (Hrsg.), Die Bewältigung des Unplanbaren, Wiesbaden 2004. N. Sevsay-Tegethoff, Neue Perspektiven für das Lernen im Prozess der Arbeit, in: Böhle u. a. (Hrsg.), Die Bewältigung (Anm. 60), S. 287 ff.; vgl. auch BMBF (Hrsg.), Berufsbildungsbericht 2002, Kapitel 5.3.2. Lernen im Prozess der Arbeit, www.bmbf.de/de/8725.php. 62 H. Mandl/K. Winkler, eLearning zwischen Euphorie und Ernüchterung. Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur, in: G. Roters u. a. (Hrsg.), eLearning. Trends und Entwicklungen. Schriftenreihe Baden-Badener Sommerakademie, Bd. 4, Berlin 2004, S. 19; K. H. Hasenritter, E-Learning und Verwaltungsausbildung, in: Verwaltung und Management 2004, S. 147. 63 P. Dehnbostel, Informelles Lernen: Arbeitserfahrungen und Kompetenzerwerb aus berufspädagogischer Sicht, überarbeiteter Vortrag 2003, S. 5, www.swaprogramm.de/tagungen/neukirchen/vortrag_dehnbostel.pdf. 64 G. Klein, Natürliche Entscheidungsprozesse, Paderborn 2003; vgl. auch G. Gigerenzer, Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2007. 61
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Erfahrungswissen65 basiert, kann indessen täuschen, wenn es sich um eine völlig neue Problemlage handelt. Deshalb ist zusätzlich die Schärfung des Bewusstseins für Abweichungen und Unterschiede im Sinne einer reflexiven Handlungsfähigkeit66 erforderlich. Diese Reflexion kann in berufspraktischen Seminaren eingeübt werden, was neue Anforderungen an die Weiterbildung stellt. Zu den Merkmalen problemorientierten Lernens, auf dem vor allem die Fallstudien-Methode basiert, zählen komplexe und authentische Aufgabenstellungen, die Notwendigkeit, Lerninhalte in Probleme mit verschiedenen Rahmengeschichten einzubetten (multiple Kontexte), eine Anregung zu aktiven Lernprozessen und zur selbstgesteuerten Bearbeitung der Probleme sowie eine Einbettung in eine soziale Gemeinschaft, in der der Wissenserwerb in kooperativen Lern- und Arbeitsformen, also im Austausch und der Zusammenarbeit mit anderen erfolgt67. Das Lernen durch Geschichten (storytelling) vermittelt vor allem kontextuelle Erfahrung und kulturelle Interpretationsfolien sowie Handlungsund Problemlösungsrelevanz, die es gegenüber der reinen Ermittlung von Fakten überlegen macht. Dadurch wird nicht nur Ordnung in vage Vorstellungen gebracht, sondern auch eine gemeinsame Sinnstiftung erzielt68, die institutionelle und verwaltungskulturelle Muster und Leitvorstellungen entstehen lässt, die das Verhalten der Akteure rahmen und steuern können69. Auf diese Weise wird auch für neue unbekannte Sachverhalte ein gemeinsames Leitbild der Problemlösung im Sinne eines „Corporate Spin“ erzeugt, das bei Verwaltungen in eine gemeinwohlorientierte Wertschöpfung mündet. 5. Der moderne Arbeitsplatz in der Verwaltung Das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS hat in Kooperation mit IBM und LexisNexis eine Konzeption eines modernen Arbeitsplatzes in der Verwaltung erarbeitet70. Kernpunkte sind dabei eine 65 Weiterführend F. Böhle u. a., Der gesellschaftliche Umgang mit Erfahrungswissen: Von der Ausgrenzung zu neuen Grenzziehungen, in: U. Beck/C. Lau (Hrsg.), Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt am Main 2004, S. 95 ff. 66 Dehnbostel, Informelles Lernen (Anm. 63), S. 7. 67 C. Gräsel/H. Mandl, Problemorientiertes Lernen: Anwendbares Wissen fördern, in: Personalführung 6/1999, S. 54, 57 f. 68 G. Reinmann/F. Vohle, Erzählen und Zuhören in Organisationen, in: Personalführung 1/2006, S. 70 ff. 69 G. Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 18), S. 371, 432 ff.
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neue Art der kollaborativen Arbeit über Verwaltungsgrenzen hinweg, eine prozessorientierte Arbeitsweise, ein personalisierter Einstieg und Zugriff auf Informationen aus unterschiedlichen Anwendungen und Zusammenhängen sowie eine rollenbasierte Informationsbereitstellung. In der Ausarbeitung heißt es71, durch ein zentral administrierbares Rollenkonzept habe der Verwaltungsmitarbeiter in seinem personalisierten Arbeitsplatz die jeweils gewünschte Sicht auf die Prozesse und insbesondere auf diejenigen Dienste, die eine Aktion von dem Mitarbeiter erforderte. Der Mitarbeiter werde durch den Prozess geführt und trage durch die Nutzung der im Arbeitsplatz integrierten Fachanwendungen und Kollaborationsfunktionalitäten zum effizienten Ablauf des Prozesses bei. Dieser letzte Teil der Konzeption erinnert indessen noch an tayloristische, maschinen- und ingenieursorientierte Vorstellungen, die die zuvor geschilderten intuitiven und emotionalen Aspekte des Wissensmanagements72 nicht einfangen können. Aufgabe bleibt es daher, diese effizienz- und technikorientierte Konzeption im Hinblick auf die menschlichen Aspekte des Verwaltungsalltags und der Verwaltungsarbeit weiterzuentwickeln. IV. Einstellungen und Kompetenzen Die Herangehensweise bei der Aufgaben- und Problembewältigung (am Arbeitsplatz) wird maßgeblich von inneren Einstellungen geprägt. Diese „Mindsets“ bestimmen, wie wir Probleme wahrnehmen und mit ihnen umgehen, ebenso, wie wir an die Aufgabe der Modernisierung herangehen73. Vielleicht kann wiederum ein Blick über den „großen Teich“ helfen, notwendige „Minds“ für die Bewältigung zukünftiger Aufgaben zu erkennen. Der Psychologe Howard Gardner nennt folgende „Five minds for the future“74: Mindestens eine disziplinäre Einstellung, die durch mehrjährige Berufserfahrung erworben wurde, soll notwendig sein, um stetig über die Zeit hinweg „skill and understanding“ zu verbessern (the disciplined mind). 70 Fraunhofer FOKUS e-Government-Labor, Moderner Arbeitsplatz. Von monolithischen Anwendungen zu dynamischen Informationsprozessen, www.fokus.fraun hofer.de. 71 Fraunhofer FOKUS (Anm. 70), S. 8. 72 Dazu vgl. noch H. Hill, Wie Erfahrungsschätze geborgen werden. Wissensmanagement hat eine rationale und eine emotionale Komponente, in: Stadt und Gemeinde 4/1999, S. 130. 73 Hill, Modernisieren (Anm. 12), S. 85; vgl. auch J. Naisbitt, Mindset!, München 2007. 74 H. Gardner, Five Minds for the Future, Boston/Massachusetts 2006, S. 3.
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Daneben soll es erforderlich sein, Informationen aus verschiedenen Quellen zusammenzutragen und sie in einer Weise zu verknüpfen, die Sinn macht (the synthesizing mind). Aufbauend auf Disziplin und Synthese erobert „the creating mind“ neue Gefilde durch ungewohnte Fragen und frische Wege des Denkens. Eingedenk der Tatsache, dass heutzutage niemand allein in seinen eigenen Grenzen verharren kann, heißt „the respectful mind“ Unterschiede zwischen einzelnen Personen und Gruppen willkommen, versucht diese „Anderen“ zu verstehen und effektiv mit ihnen zusammenzuarbeiten. Schließlich wägt auf einer abstrakteren Ebene „the ethical mind“ die Art der eigenen Arbeit und die Bedürfnisse und Wünsche der Gesellschaft miteinander ab, um jenseits des eigenen Interesses zu einer Verbesserung des Gemeinwohls beizutragen. Daniel H. Pink fordert für das „conceptual age“ „a whole new mind“ mit sechs neuen Ansätzen (senses)75: Statt der Schaffung bloß funktionaler Produkte oder Dienstleistungen komme es auf ästhetische und emotionale Aspekte in Form von Design an. Daten und Argumente seien nicht genug, die Story sei entscheidend. Statt der Analyse von Einzelheiten seien die Synthese und das große Ganze in Form einer Symphonie gefragt. Nicht Logik allein mache uns menschlich, sondern Empathie. Nicht Ernsthaftigkeit allein entscheide, sondern spielerische Elemente seien erforderlich. Nicht Ansammlung vieler Materialien sei entscheidend, sondern Zweck und Bedeutung. Allen sechs Ansätzen: Design, Story, Symphony, Empathy, Play, Meaning ist gemeinsam, dass sie auf ganzheitliche Konzepte verweisen. Angewandt auf moderne Verwaltungsarbeit kann man darin die Notwendigkeit ganzheitlichen, integrierten Arbeitens sowie die Ausrichtung auf ganzheitliche Managementprozesse und Problemlösungen erkennen. Sucht man die reichhaltige Literatur zu Kompetenzen76 auf diese neuartigen Anforderungen ab, begegnet einem zunächst immer wieder die klassische Einteilung in Fach- und Methodenkompetenz, sozial-kommunikative Kompetenz und personale Kompetenz (Selbstkompetenz)77. Das Kompetenzmodell der Bundesagentur für Arbeit78 erwähnt eine vierte, die sog. Aktivi75
D. H. Pink, A Whole New Mind, London 2006 (first published New York 2005), S. 66 ff. 76 Vgl. etwa J. Erpenbeck/L. v. Rosenstiel (Hrsg.), Handbuch Kompetenzmessung, Stuttgart 2003. 77 N. Sevsay-Tegethoff, Ein anderer Blick auf Kompetenzen, in: Böhle, u. a. (Anm. 60), S. 267, 274 f.; vgl. auch H. Kasper/J. Mühlbacher, Strategische Aufgaben- und Kompetenzverteilung im Management, in: G. Schreyögg/P. Conrad (Hrsg.), Management von Kompetenz, Managementforschung 16, Wiesbaden 2006, S. 231, Anhang S. 254 ff. 78 Bundesagentur für Arbeit, Zentralbereich Personal, Tätigkeits- und Kompetenzprofil, Glossar und Arbeitsanleitung, Version 5.2, 22.12.2006.
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täts- und Umsetzungskompetenz79. Diese Grundkompetenz im Modell der Bundesagentur für Arbeit soll die individuellen Voraussetzungen enthalten, ganzheitlich zu handeln, d. h. alles Wissen und Können, alle Ergebnisse sozialer Kommunikation, alle persönlichen Werte und Ideale auch wirklich willensstark und aktiv umsetzen zu können und dabei alle anderen Kompetenzen zu integrieren. Die Grundfrage sei, wie ziel- und ergebnisorientiert handelt jemand? Als Teilkompetenzen werden genannt: Veränderungskompetenz, Entscheidungsfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Zielorientierung und Eigeninitiative80. In mancher Hinsicht erinnert das an eine gängige Definition von Leadership: „Making things happen that wouldn’t happen otherwise“,81 was man auch als Verwirklichungskompetenz82 bezeichnen könnte. Als neuartige personale Kompetenzen hatte ich vor einigen Jahren83 Selbstwahrnehmung (awareness), Einschätzung, Bewertung und Auswahl, aktive Aneignung und Auseinandersetzung, Pluralitätsbewältigung, Imaginationsfähigkeit, Strategiefähigkeit, Übergangs- und Veränderungsmanagement, Initiative und Gestaltung (Drehbuchkompetenz), Kooperationsfähigkeit und Networking sowie Stress- und Konfliktbewältigung aufgeführt. Das Rahmenanforderungsprofil für die Beschäftigung des Innenministeriums NRW nennt die folgenden neun Schlüsselkompetenzen: Fachkompetenz, Personalführungskompetenz, Wertevermittlung, Kooperationskompetenz, Kommunikationskompetenz, Veränderungskompetenz, Kundenorientierung, strategische Kompetenz sowie interkulturelle Kompetenz84. Die Direktoren der Institute und Schulen für öffentliche Verwaltungen (DISPA) in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben bei ihrer Sitzung unter der finnischen Präsidentschaft im Herbst 2006 in Helsinki folgende sieben Kernkompetenzen aufgelistet: Open Minded, Integrity, Innovativeness, Social Skills, Results driven, Organisational Skills und 79
Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch, dass das moderne Verwaltungsrecht sich (im Gegensatz zur früher vorherrschenden Perspektive der gerichtlichen Kontrolle) als handlungs- und entscheidungsorientiertes Verwaltungsrecht versteht, vgl. A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, München 2006, § 1 Rdn. 15. 80 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Anm. 78). 81 Vgl. H. Hill, Von Good Governance zu Public Leadership, in: Verwaltung und Management 2006, S. 81. 82 Vgl. auch H. Hill, Indikator Lebensqualität, Gütersloh 2002, S. 80, zum Verwirklichungsmanagement im Rahmen des Strategischen Managements. 83 H. Hill, Mehr Eigenverantwortung in Verwaltungen, in: Personalwirtschaft 5/2001, S. 55, 56 f.; H. Hill, in: Emery/Giauque (Anm. 11), S. 61 ff. 84 Innenministerium NRW, Leitfaden: Das Rahmenanforderungsprofil für die Beschäftigten des Innenministeriums NRW, Arbeitshilfe 1, S. 21 ff.; www.im.nrw.de/ imshop/shopdocs/pek_anforderungsprofil.pdf
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Knowledge Management85. Worauf kommt es also – zusammengefasst – in Zukunft an? Verwaltungsarbeit der Zukunft erfordert vor allem folgende Merkmale: – Erkenntnis der Relevanz, ganzheitliche Erfassung und Bewertung im Licht übergreifender Ziele, Sinnstiftung; – Bewusstsein von Kontingenz, Einbeziehung von Alternativen, Assoziation und Verknüpfung, Aktivierung und Aufforderung; – Konzeption und Gestaltbildung, Verwirklichung, Problemlösung und Wertschöpfung; – Entwicklung der Problemlösung in einem Raum-Zeit-Interessen-Kontinuum, Evaluations- und Lernfähigkeit; – Einbeziehung von Betroffenen, Nutzern und Partnern und kollaborative Entwicklung. V. Ausblick auf die Zukunft Neue Zeiten und neue Herausforderungen verlangen nach neuen Antworten. Staat und Verwaltung im Dialog mit der Zukunft erfordert strategische Konzeptionierung, Offenheit, Reflexivität und Lernfähigkeit, Perspektivenwechsel und Komplementarität durch Dialoge sowie geplanten Wandel86. Modernisierung darf nicht als etwas Bedrohliches aufgefasst werden, sondern als normales Geschehen, dem unvoreingenommen, in einem natürlichen (Lern-)prozess begegnet werden kann und muss87. Dabei müssen Blockaden vermieden werden, neue Bürokratien durch output-orientierte Kennzahlen, schematisches Qualitätsmanagement, technisierte und standardisierte Prozesse oder übertriebenen Aufwand im Rahmen einer leistungsorientierten Vergütung verhindert werden. Die hoffnungsvolle, einleitende Perspektive von Heinrich Siedentopf: „Und sie bewegt sich doch!“ kann mit folgendem Appell unterstützt werden: „Bleiben Sie in Bewegung: Körperlich durch Sport, geistig durch Neugierde an Herausforderungen und psychisch durch Interesse an den Dingen des Lebens. Denn Bewegung und Spontaneität, verbunden mit Interesse, Neugierde und Freude, halten uns lebendig.“88 Wenn das beherzigt wird, ist der öffentliche Dienst gut aufgestellt für die Zukunft. 85
Information aus der DISPA-Sitzung am 29./30. Mai 2007 in Brühl. So Hill, Von der Krisenbewältigung (Anm. 6). 87 Hill, Modernisieren (Anm. 12), S. 84. 88 H. C. Altmann, Motivation erfordert die Befriedigung aller Bedürfnisse – Die Kunst, sich selbst zu motivieren, Blick durch die Wirtschaft vom 10.1.1996; vgl. schon H. Hill, Wissensmanagement in Organisationen, in: ders. (Hrsg.), Wissensmanagement, Köln u. a. 1997, S. 9, 27. 86
Neue Steuerung und Mitarbeiterführung Kontextführung als Hebel einer leistungssteigernden Komplettierung von NSM-Systemen des Verwaltungsmanagements Rainer Koch I. Problem und Fragestellung: Leistungssteigernde Komplettierung des Managementwandels Wie es sich anhand international erkennbarer Entwicklungen zeigt, geht es im Rahmen der augenblicklichen Bemühungen um eine Modernisierung des Managements von Staat und Verwaltung (im Rahmen der sog. zweiten oder dritten Welle) um das Problem, mit Hilfe eines (strategisch angeleiteten) struktur-harmonischen bzw. leitbildgerechten Ausbaus weiterer Teilgrößen des Verwaltungsmanagements zu einer leistungssteigernd wirkenden Komplettierung eines einmal begonnenen Managementwandels zu kommen. Wie es sich in diesem Zusammenhang bei fast allen OECD-Mitgliedsstaaten zeigt, geht es hier um das gestaltungserhebliche Problem, dass und wie es im Rahmen weiterer Bemühungen um eine Modernisierung gelingt, die veränderten Leitbilder von der Rolle bzw. Funktion des Staates (die sich ändernden Konzepte eines Public Governance) zum Ansatzpunkt einer nunmehr auch systematischen und insoweit auch zusätzlich leistungssteigernd wirkenden Anpassung überbrachter Managementsysteme zu machen1. Trotz vielfältiger (empirisch relevanter) Variationen (oder bekannter bzw. behaupteter „Pfadabhängigkeiten“) geht es dabei einem allgemeinen (konvergierenden) Trend nach auch schon darum, dass und wie die staats- und verwaltungspolitisch gewollte „Re-Positionierung“ als „Gewährleistungsstaat“ (und dabei auch die implizite Philosophie einer gezielt zu variierenden „Verantwortungs- und Leistungstiefe“) bewusst zum Anlass genommen wird, um nun gerade mit Ansätzen einer „Neuen Steuerung“ (ob nun NPM oder NSM) zu einer jetzt linear entsprechend notwendigen Anpassung überbrachter Managementsysteme zu kommen – zu einer im Rahmen weiterer rechtstaatlich notwendiger Verhältnisse zu einer verstärkt „output-orientierten“ 1 Vgl. R. Koch/J. Dixon (eds.), Public Governance and Leadership, Wiesbaden 2007.
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Rainer Koch
bzw. gar „dezentral-wettbewerblichen“ Erstellung öffentlich relevanter Leistungen. Wie von der ersten Welle einer Modernisierung des Managements von Staat und Verwaltung her bekannt, ist es in diesem Zusammenhang bereits von Bedeutung, ob oder inwieweit es gelingen mag, nun auch mit ersteren leitbildgerechten bzw. insgesamt strukturharmonischen Anpassungen des Haushalts- und Rechnungswesens, der überbrachten Makro- und Mikro-Organisation oder aber des Konzepts eines öffentlichen Personalmanagements zu entsprechend wechselseitig verstärkend und insoweit leistungssteigernd wirkenden Komplettierungen zu kommen. Von letztlich ausschlaggebender Bedeutung für die übergeordnet erreichbaren Leistungsgrade eines Managementwandels bleibt hier allerdings die Frage, ob oder inwieweit es bei all diesen Ausbauaktivitäten gelingen mag, die nun für die veränderte „Positionierung“ des Staates paradigmatisch neue Art der „Steuerungslogik“, d.h. den Übergang auf eine verstärkt output-orientierte bzw. gar wettbewerbliche Art der Leistungserstellung, nun auch gegenüber den hergebrachten „Produktionslogiken“ auf der Ebene der Arbeitsorganisation öffentlicher Verwaltungen durchzusetzen. Folgt man den Optimierungsregeln allgemein erheblicher design-orientierter Managementlehren, so hat es eben im Rahmen weiterer Modernisierungswellen zwangsläufig darum zu gehen, mit einer weiteren gezielten Anpassung von Arbeitsformen und Instrumenten an den Schnittstellen gegenüber den Bürgern dafür zu sorgen, dass sich die Umstellung zugunsten einer verstärkten Output- oder gar Wettbewerbsorientierung tatsächlich bis auf die Ebene einer direkten Leistungserstellung durchsetzen lässt, es also auch bei der direkten Leistungsabgabe zu einer verbesserten Produktivität bzw. Kosten-Effektivität kommt. Soweit hier entsprechende Komplettierungsbedarfe in Rede stehen, geht es im Folgenden auch zwangsläufig um die gestaltungserhebliche Frage, ob oder inwieweit sich nun gerade mit möglichst strukturharmonischen Anpassungen von Konzepten der Mitarbeiterführung sicherstellen lässt, dass sich die veränderte Steuerungslogik bzw. das Kernelement einer Neuen Steuerung, also die Bedingungen bzw. Anforderungen einer output-orientierten oder gar wettbewerblichen Aufgabenerledigung, nun auch in der Dienstleistungsproduktion selbst durchsetzen lässt. Entsprechend den einschlägigen bisherigen Entwicklungen ist dabei auch auf den Gesichtspunkt abzustellen, ob oder inwieweit es im Rahmen weiterer Modernisierungsbemühungen bereits gelingen will, zu dem in diesem Punkt notwendigen Übergang von den klassischen Konzepten einer Strukturführung oder einer Prozessführung zu den nunmehr strukturharmonisch besser angepassten Konzepten einer bloßen Kontextführung zu kommen. Wie zu ersehen, liefert das Konzept der Kontextführung mit seinen führungserheblichen Konstruktionsprinzipien eines nur rahmenförmig gesteuerten „Selbstmanagements“ die Vorausset-
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zungen dafür, dass sich die veränderte Steuerungslogik einer output-orientierten bzw. dezentral-wettbewerblichen Aufgabenwahrnehmung nunmehr auch über den Personalfaktor vermittelt in die Produktionslogik einer alltäglichen Leistungserstellung übersetzen lässt.
II. Gestaltungsanforderungen der Neuen Steuerung an eine Entwicklung der Mitarbeiterführung Wie eingangs angesprochen, stehen augenblickliche Bemühungen um eine Modernisierung des Managements von Staat und Verwaltung vor der Herausforderung, gemäß gewollter Re-Positionierung von Staat und Verwaltung mit Hilfe weiterer leitbildgerechter Ausbauaktivitäten für eine Verstetigung und dabei auch für eine insgesamt leistungssteigernd wirkende Komplettierung des einmal begonnenen Managementwandels zu sorgen. Neben vielerlei weiterer Ausbauaktivitäten geht es dabei insbesondere um das Problem, mit einer Anpassung der Konzepte der Mitarbeiterführung dafür zu sorgen, dass sich eben die für NPM-Systeme im Allgemeinen verbindliche Steuerungslogik einer output-orientierten oder wettbewerblichen Erstellung öffentlicher Leistungen von der Ebene der Gesamtverhältnisse bis in die Produktionslogik der alltäglichen Leistungserstellung transferieren lässt, also gerade hier zu einer Überwindung der bisher typischen Formen einer anlassgetriebenen „Reaktiv-Institutionalisierung“ bzw. der „Input-orientierten Detailsteuerung“ zu kommen. Entsprechend diesen Anforderungen geht es bei der Einführung bzw. Umsetzung der Neuen Steuerung bekanntlich schon einmal darum, gewissermaßen auf der Ebene der Gesamtverhältnisse zu einer Umstellung auf die veränderte Steuerungslogik einer output-orientierten bzw. wettbewerblichen Erstellung öffentlich relevanter Leistungen zu kommen. Wie es sich hier auch schon anhand international konvergierender Entwicklungen zeigt, kann es dann bei der Entwicklung und Einführung von NPM/NSM-Systemen schon einmal darum gehen, den Staat auf die Rolle eines bloßen Gewährleisters zurückzuführen, die bis dato hierarchisch bzw. instanzenförmig geschlossene Makro-Organisation (etwa auch im Sinne einer verstärkten „Zweistufigkeit“) zugunsten netzwerkmäßig arrangierter Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehungen zu öffnen, zu einer Herausverlagerung relativ autonom agierender peripherer Dienstleistungseinheiten zu kommen, die Bedingungen für ein systematisches Ausloben öffentlicher Leistungsverträge zu setzen – und dabei letztlich auch und gerade mit der Entwicklung eines zielorientierten Controllings für eine output-orientierte Steuerung des Gesamtzusammenhanges zu sorgen. Wie an entsprechenden Modernisierungen zu erkennen, muss im Rahmen dieser Umstellungen allerdings ebenso dafür
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gesorgt werden, dass sich dieser veränderte Steuerungsanspruch auch gegenüber den hergebrachten Produktionsbedingungen auf der Ebene der Arbeitsorganisation öffentlicher Verwaltungen durchsetzen lässt, und zwar in den Formen einer Kombination von Produktionsfaktoreinsätzen bei der Leistungsabgabe gegenüber dem Bürger selbst. Erst mit der Veränderung dieser Logiken selbst sind dann auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es zu den angestrebten Optimierungen der Kosten-Effektivität in der peripheren Dienstleistungsproduktion kommt. Wie es sich an so unterschiedlichen Ansätzen wie dem Produkthaushalt, der Einführung von geschäftsbereichsmäßig organisierten Fachbereichen, einer Aufgabengliederung nach ganzheitlich erfassten „Life-events“ bzw. Lebenssachverhalten oder der Anwendung der Teamorganisation zeigt, wird im Regelfall auch auf höchst unterschiedliche Hebel- oder Steuerungsgrößen zurückgegriffen, um zu einer Umstellung auf output-orientierte Erstellungsverfahren zu kommen. Dabei ist allerdings unstrittig, dass es in zentraler Weise darum geht, nun gerade mit einer Anpassung der (ja stark umsetzungsorientiert wirkenden) Konzepte der Mitarbeiterführung selbst dafür zu sorgen, dass es zu einer Übersetzung der veränderten Steuerungslogik nun auch in die Produktionslogik öffentlicher Verwaltungen kommt. Es kommt also darauf an, ob oder inwieweit sich ein Übergang von den klassischen Konzepten der Strukturführung bzw. Prozessführung auf besser angepasste Konzepte einer Kontextführung herstellen lässt2. Hier geht es dann schon einmal um die Erfahrung, dass eben mit der Anwendung des Konzepts der Strukturführung – also der strikten hierarchischen Unterstellung, der hocharbeitsteiligen Zuweisung von Aufgabenbereichen sowie einer Anwendung altersabhängig zu gewährender Systembelohnungen – denkbar schlechteste Ergebnisse bei dem Versuch produziert werden, Mitarbeiter zu verstärktem output-orientierten Verhalten anzuhalten. Zudem hat sich allerdings gleichermaßen die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich auch mit der Anwendung von Konzepten der Prozessführung, also dem steten Versuch einer situationsbezogenen bzw. zeitlich hinterher eilenden Anpassung des Leistungsvermögens, doch nur bedingt die Voraussetzungen schaffen lassen, dass die Mitarbeiter nun auch spontan zu einer angemessenen Bewältigung der häufig variierenden (oder vorab unverhofft auftretenden) Anforderungen einer output-orientierten Leistungserstellung kommen. Ganz im Gegenteil hat sich hier demgemäß auch der Eindruck durchgesetzt, dass sich erst mit dem Übergang zu einem Konzept der Kontextführung die Voraussetzungen dafür schaffen lassen, dass es zu einer angemessenen Übersetzung einer veränderten Steuerungslogik in den Produktionsbereich kommt, also zu ei2 Vgl. H. Siedentopf (Hrsg.), Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung, Baden-Baden 1989.
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ner (dabei auch wiederum insgesamt aufwandsminimalen) Ausnutzung aller Vorteilhaftigkeiten einer dezentralen Leistungserstellung für output-orientierte Leistungsabgaben. Im Unterschied zu bisherigen Konzepten geht es bei der Entwicklung bzw. Anwendung der Kontextführung darum, im Zuge eines Überganges auf eine bloß rahmenförmige (zyklisch voranschreitende) Ziel- und Ergebnissteuerung zu einer Delegation bzw. dezentralen Bündelung von Handlungsermächtigungen (im Sinne quasi-unternehmerisch wahrzunehmender Verfügungs- bzw. Eigentumsrechte) zu kommen, die es den Mitarbeitern bereits im Sinne eines eigenverantwortlich zu gestaltenden Selbstmanagements nahe legt, nun auch zu einem bestmöglichen Gebrauch von Dezentralisierungsvorteilen für ein optimiertes output-orientiertes Handelns zu kommen. Der ausschlaggebenden Konstruktionslogik (dem angestrebten führungserheblichen Gestaltungs- und Wirkungszusammenhang) nach stellt die Kontextführung demgemäß darauf ab, nun gerade mit einer hier eingeräumten Möglichkeit der „gleichsinnigen Nutzenmaximierung“, also der Möglichkeit einer zielerreichungsabhängigen Steigerung des eigenen Belohnungsanteils, das Motiv dafür zu setzen, dass man sich jetzt mit allen persönlich bzw. subjektiv verfügbaren Leistungsreserven um einen auch uneingeschränkten Gebrauch dezentral eingeräumter Handlungsspielräume bemüht. Letztlich geht es der Kontextführung also darum, dass man sich gemäß einer selbst-regulativ zu gestaltenden Nutzenmaximierung zu den jetzt so kritischen spontanen bzw. auch schöpferisch wirkenden Leistungsbeiträgen (analytisch zu dem „Extra-“ bzw. „Pro-Rollenverhalten“) bei der Verfolgung höherstufiger, im Zweifelsfall politischer Zielgrößen aufgefordert sieht3. Soweit es hier um Fragen einer leistungssteigernd wirkenden Komplettierung eines begonnenen Managementwandels geht, ist unter empirischen Gesichtspunkten sodann auf die Frage abzustellen, ob oder inwieweit sich entsprechende Hebelgrößen oder Steuerungsgrößen in der Praxis haben umsetzen lassen, d.h. ob oder inwieweit wir es bereits im Rahmen veränderter Systeme der Mitarbeiterführung mit Systemen einer ebenenüberschreitenden Zielsteuerung zu tun bekommen, mit hinlänglichen Maßen einer Dezentralisierung von Verfügungsrechten sowie mit der Entwicklung anreizoptimierter Konzepte ergebnisbezogener Leistungskontrollen.
3 Vgl. G. Salaman, Bureaucracy and Beyond: Managers and Leaders in the „Post-Bureaucratic“ Organisation, in: P. Du Gay (ed.), The Values of Bureaucracy, Oxford 2005, S. 141, 158; C. P. Neck/J. D. Houghton, Two Decades of Self-Leadership, Theory and Research, in: Journal of Managerial Psychology, Nr. 4, 2006, S. 270, 275.
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III. Empirische Trends der Anpassung von Konzepten der Mitarbeiterführung Soweit Probleme bzw. Fragen einer weiteren Komplettierung zum Thema gemacht werden, geht es hier in empirischer Hinsicht nicht schon (oder auch nur vorrangig) darum, zu einer korrekten bzw. repräsentativen Abbildung der hier einschlägigen – im Übrigen dann auch erwartungsgemäß sehr stark differierenden Modernisierungsbemühungen zu kommen. Da hier die Bearbeitung eines praktisch gegebenen Gestaltungsbedarfes im Vordergrund steht, geht es bekanntlich eher darum, Lösungsvorstellungen dafür zu identifizieren, wie es eben (ggf. auch nur im Sinne „symptomatischer“ Entwicklungen) zu jetzt auch sachrational passenden bzw. leitbildgerechten Entwicklungen kommen kann. Im Folgenden greifen wir daher (und zwar im Sinne einer theoriegeleiteten „Mehr-Fall-Studie“) auf „Daten“ bzw. Entwicklung bei peripheren Dienstleistungseinheiten zurück, die dann bereits (und zwar auch im Sinne eines ganzheitlich angelegten Konzeptes der „Organisations- und Personalentwicklung“) zu passenden steuerungserheblichen bzw. output-orientierten Umstellungen in den Gesamtverhältnissen gekommen sind, dabei allerdings weiterhin vor der Herausforderung stehen, im Rahmen dieser Gesamtverhältnisse nun auch zu systematischen Ergänzungen in den Führungsverhältnissen zu kommen4. 1. Entwicklung der Zielsteuerung Soweit es dabei zunächst um die notwendige Einführung einer kontextuellen Zielsteuerung geht, sind allerdings auch schon in dieser Hinsicht ganz wesentliche Anpassungsdefizite zu erkennen. So ist zwar auch in unserer Untersuchung einzelner peripherer Dienstleistungseinheiten recht gut zu erkennen, dass hier gerade auf der Ebene der Gesamtsystemverhältnisse Versuche gestartet werden, zu einer Umstellung auf die NSM-spezifische Steuerungslogik einer verstärkten Output-Orientierung des Verwaltungshandelns zu kommen. Wie es sich auch in diesem Fall zeigt, wird gerade hier der Versuch gemacht, die gesamte Leitung bzw. Geschäftsführung dem Prinzip nach – und zwar mit Hilfe eines ebenenübergreifenden Systems des Verwaltungscontrollings – verstärkt auf eine outputorientierte Steuerung umzustellen. In den von uns untersuchten Fällen ist daher schon vom Verfahren her gut erkennbar, wie gerade mit jährlich rollierend durchzuführenden, dabei aber schon leitbild-orientiert bzw. strate4 Vgl. U. Rienaß, Management einer dezentralen Personalwirtschaft, in: R. Koch/P. Conrad (Hrsg.), Verändertes Denken – Bessere Öffentliche Dienste?!, Wiesbaden 2004, S. 237.
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gisch gesteuerten und zudem wettbewerblich-vergleichend geöffneter Prozesse der Zielvereinbarung (Konzept der „dienstleistenden, mobilen als auch integrativen Stadt“) versucht wird, von der bis dato stark hierarchischintegrierten zu einer output-orientierten Steuerung zu kommen. Im Zentrum all dieser Bemühungen steht demgemäß der Versuch, mit Hilfe eines gestuft angelegten Zielsystems die Erstellung von Verwaltungsleistungen bzw. Produkten nach Maßgabe verschiedenster output-orientierter Leistungsindikatoren – wie etwa Grad der Auftragserfüllung, Ressourcenverzehr und auch Kundenzufriedenheit – mess- und steuerbar zu machen. Wie schon in anderen Fällen dient auch hier ein umfängliches Berichtssystem dazu, ggf. mit unterjährig bereitzustellenden Ergebnisdokumentationen Ansatzpunkte für auch mitlaufend notwendig werdende Kurskorrekturen aufzuzeigen. Im Übrigen führt dieser Fall der Entwicklung und Einführung eines umfassenden Verwaltungscontrollings dazu, dass es zu den jetzt charakteristischen Gewichtsverschiebungen von den bisher dominanten Sachzielen auf die Formalziele des Verwaltungshandelns kommt. Trotz dieser Anpassungen auf der Gesamtsystemebene muss allerdings offen bleiben, ob oder inwieweit der hier erkennbare Übergang auf eine veränderte output-orientierte Steuerung zur maßgeblichen Steuerungsgröße im Rahmen der dezentralisierten Produktion kundenorientierter Dienstleistungen werden kann. In dieser Hinsicht ist zwar wiederum zu erkennen, dass insbesondere mit der weiteren Stufung bzw. Kaskadierung übergeordneter Zielsysteme der Versuch gemacht wird, output-orientierte Steuerungsgrößen über mehrere Ebenen hinweg bis auf die Ebene von Arbeitsprozessen vorzugeben, also im Einzelfall etwa auch Bearbeitungszeiten, Wartezeiten oder aber Krankenstände als output-orientierte Steuerungsgrößen vorgegeben werden. Und des Weiteren kann auch und gerade in diesem Fall unterstellt werden, dass man mit der Anpassung von Organisationsverhältnissen (etwa der Einrichtung von Leistungs- und Verantwortungszentren oder von Team- und/oder Projektorganisationen) die Voraussetzungen dafür zu schaffen versucht, dass man sich auch schon aus jeweils kompetenzmäßig gebündelten bzw. ganzheitlichen Verhältnissen um eine Optimierung output-orientierten Handelns zu bemühen vermag. Letztlich haben also bereits die verschiedenen vorausgehenden Komplettierungen dafür gesorgt, dass man sich über die gegebenen Stufungen von Führungs- und Arbeitsebenen hinweg mit einem relativ stark flexibilisierten Ressourceneinsatz um eine optimierte Zielerreichung zu bemühen vermag. Zum anderen muss allerdings einschränkend festgestellt werden, dass es bis dato an fast jeder Art von direkter Verknüpfung entsprechender Formen an Zielvorgaben und der Steuerung bzw. Bewertung des individuellen Leistungsverhaltens der Mitarbeiter auf der anderen Seite fehlt. Wie unsere
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Fälle zeigen, ist dann zwar nicht schon ausgeschlossen, dass hier die Zielsteuerung – und zwar auch und gerade mit Hilfe eines breiter ausgelegten Kommunikationsprozesses (also samt Mitarbeitergesprächen und -befragungen) über mehrere Führungsebenen bis in die „Tiefenstruktur“ der jeweiligen Verwaltungseinheit hineingetragen wird. Doch kann andererseits damit nicht schon unterstellt werden, dass entsprechend ebenenüberschreitend entwickelte Zielabsprachen – mit welchem Grad der Operationalisierung auch immer – automatisch zu den an sich ausschlaggebenden Größen der Steuerung und insbesondere Bewertung des Leistungsverhaltens der Mitarbeiter werden könnten. Denn ganz im Gegenteil ist nach der dienstrechtlich geprägten Praxis davon auszugehen, dass sich die Maßstäbe der hier bedeutsamen dienstlichen Beurteilungen (unbesehen der jüngeren Entwicklungen im Tarifbereich gemäß TVÖD) nicht schon aus den Zielgrößen ebenenüberschreitend entwickelter Leistungsvereinbarungen ableiten, sondern sich gemäß bekannten Verfahren der standardisierten Dienstpostenbewertung nach den generalisierten Definitionen und Gewichtungen stellenspezifischer Anforderungen richten. Trotz anders gearteter Bemühungen ist daher auch einschränkend festzustellen, dass in den dienstlichen Beurteilungen weiterhin eher die bekannten „Input-Größen“ einer individuellen Leistungserbringung zum Zuge kommen, also aus der rechtlichen Erwägung der Vergleichbarkeit heraus auf einen gleich bleibenden, rang- bzw. funktionsspezifisch generalisiert definierten Satz lediglich potentiell leistungserheblicher Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen abgestellt wird. Da wir es in diesen Fällen also weiterhin mit den eher entkoppelten Verhältnissen von Zielvereinbarungen auf der einen Seite und den überlieferten förmlichen Personalbeurteilungen auf der anderen Seite zu tun bekommen, kann richtigerweise nicht behauptet werden, dass die veränderte Steuerungslogik nun selbst zum maßgeblichen Kriterien der Optimierung output- bzw. kundenorientierter Leistungsabgaben geworden ist.
2. Entwicklung anreizoptimierter Ergebniskontrollen Wie oben ausgeführt, geht es im Rahmen eines Konzeptes der Mitarbeiterführung allerdings nicht nur darum, mit anzustrebenden Zielen bzw. Resultaten zu einer Steuerung des Leistungsverhaltens von Mitarbeitern zu kommen. Ganz im Gegenteil sind im Konzept der Kontextführung auch noch Folgen bzw. Anreize für das Leistungsverhalten vorgesehen, die es nun aus der Sicht der Mitarbeiter aus dem für sie selbst erheblichen Streben nach Nutzenmaximierung lohnenswert erscheinen lassen, sich auch unter Aufbieten des gesamten eigenen Leistungsvermögens um eine Realisierung von Zielen, um eine gewissermaßen bedingungslose Extremierung von Ziel-
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erreichungsausmaßen zu bemühen. Im Modell der Kontextführung ist daher insbesondere die Form einer Erfolgsbelohnung, d.h. die Möglichkeit der selbst zu erwirtschaftenden und auch einzubehaltenden Budgetüberschüsse, vorgesehen, um so die notwendige Eigenmotivation der Mitarbeiter an einer möglichst unbeschränkten Optimierung kundenorientierter Leistungsabgaben wecken zu können. In diesem Zusammenhang haben wir es dann zwar auch in ersten Ansätzen mit einem Übergang zu den hier führungserheblichen Formen einer ergebnisbezogenen Selbstkontrolle des Leistungsverhaltens zu tun. In dieser Hinsicht stoßen wir also auch hier auf Bemühungen, die veränderten dienstrechtlichen Regelungen für die Gewährung leistungsorientierter Besoldungselemente umzusetzen. Mit der Erarbeitung bzw. dem Erlass entsprechend angepasster Verordnungen bzw. Verfahrensregelungen wird den Mitarbeitern signalisiert, mit welcher Form einer „Selbstregulation“ des eigenen Leistungsverhaltens (definitionsgemäß auch mit den bekannten Stufungen einer „dauerhaft herausragenden besonderen“ oder mit einer „einmalig herausragenden besonderen Leistung“) sie sich ggf. selbst in den Genuss bedürfnisgerechter Zusatzbelohnungen zu bringen vermögen. Zudem ist für die untersuchten Fälle festzuhalten, dass man hier – durch die politische Spitze unterstützt – den gesamten Prozess der Umstellung als einen gezielt zu entwickelnden Prozess der „Organisations- und Personalentwicklung“ voranzutreiben versucht und dabei frühzeitig sowohl auf Maßnahmen der (Zusatz-)Qualifizierung als auch auf Bewusstseinsbildung zurückgreift. Zum anderen ist allerdings wieder einschränkend festzustellen, dass es hier trotz entsprechender Anpassungen immer noch an den verfahrensmäßigen Verknüpfungen zwischen Zielvereinbarungen und Leistungsbewertung mangelt, um die gewollte wettbewerbliche bzw. output-orientierte Optimierung der Leistungserstellung nun auch im Sinne eines sich selbst tragenden dezentralen Prozesses der Selbstkontrolle bzw. als einen individuell vorangetriebenen Prozess der Nutzenmaximierung ins Werk zu setzen. Da die veränderte Steuerungslogik der Leistungserstellung nicht schon selbst zum Regulativ des Beurteilungswesens bzw. der Belohnungsvergabe geworden ist, kann hier nicht uneingeschränkt unterstellt werden, dass das Leistungsverhalten der Bediensteten bereits durch die Leistungsindikatoren outputorientierten Handelns gesteuert werden könnte. Soweit man sich beim Aufbau der Beurteilungen an den traditionellen Systemen lediglich leistungserheblicher Eigenschaften (genauer: an den Kriterien von stellenspezifischen „Anforderungsprofilen“) orientiert, ist eher im Gegenteil davon auszugehen, dass es bei Beurteilungen immer noch primär um Verhaltensbewertungen geht, nicht jedoch um Leistungsmessungen überhaupt. Im Übrigen ist es daher auch in diesem Fall der immer noch gegebene Bedarf an vergleichbaren (und insoweit auch justiziabel gemachten) Standardbeurtei-
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lungen, der es zu verhindern mag, dass sich der auch nachweisbare Output bzw. Outcome selbst zum Kriterium der Steuerung, der Bewertung, aber auch der Initiierung von Leistungsprozessen machen lässt. Darüber hinaus muss allerdings ebenso bezweifelt werden, dass es überhaupt zum Aufbau eines hinlänglich zugkräftigen bzw. wirkungsstarken Anreizpotentials kommen kann, um nun zumindest die motivationalen Grundlagen für eine angemessene Ausschöpfung persönlicher Leistungsreserven legen zu können. In diesem Zusammenhang ist dann zwar auch für unsere Untersuchungsfälle zunächst einzuräumen, dass es im Rahmen vorausgehender Modernisierungen (insbesondere im Rahmen der Anpassungen des Haushalts- und Rechnungswesens) zu den bekannten effizienzsteigernden Flexibilisierungen in der Haushaltsführung kommt, zu einer Vergrößerung der Deckungskreise (insbesondere zwischen Sach- und Personalausgaben), aber auch schon zu verbesserten Möglichkeiten eines Selbstbehaltes bzw. der Übertragbarkeit von Budgetüberschüssen. Trotz dieser prinzipiellen Flexibilisierungen ist es allerdings noch nicht gelungen, ein Verfahren zu entwickeln bzw. zu implementieren, mit dem sich die nachweislich managementbedingt zu erwirtschafteten Budgetüberschüsse zum Zwecke der Finanzierung der besonders leistungsstimulierend wirkenden Erfolgsbelohnungen ausschütten ließen, d.h. stark leistungssteuernde Verknüpfungen sichtbar werden zu lassen, denen gemäß nun auch der einzelne Bedienstete in Eigenverantwortung (in Selbstregulation) darüber zu entscheiden hat, mit welchen Mehraufwendungen er selbst zu einem proportional ansteigenden beruflichen Erfolg beizutragen bereit ist. Der springende Punkt in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass es die weiterhin angespannte Finanz- und Haushaltssituation von vornherein nur sehr bedingt zulässt, wie rechtlich eigentlich eingeräumt in eine verstärkte Gewährung bzw. Anwendung leistungsorientierter Besoldungselemente überhaupt einzutreten, d.h. zu einer Anwendung der gesamten Palette von Leistungsstufen, Leistungszulagen und Leistungsprämien zu kommen. In den von uns untersuchten Verwaltungen stoßen wir also auf den Fall, dass (im Zuge übergeordneter Einsparaktionen) doch nur in einem höchst beschränkten Umfang (und somit wahrnehmungspsychologisch auch nur mit unzureichenden „Größeneffekten“) mit finanziellen Anreizen auf das Leistungsverhalten von Mitarbeitern eingewirkt werden kann. Hier kann es daher auch nur darum gehen, (neben der Einräumung fachlicher Anreize) mit höchst unorthodoxen Mitteln (etwa der Gewährung von Freizeit/Stellenanhebungen oder auch ad hoc gewährten Einsparprämien) zum Aufbau eines verhaltenssteuernden Anreiz- und Belohnungspotentials zu kommen. Da es in diesen Fällen zudem an praktikablen Verknüpfungen mit einer Zielsteuerung mangelt, haben wir es allerdings nicht nur mit einem stark re-
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duzierten Anreizpotential zu tun, sondern muss wegen dieser Verknüpfungsdefizite sodann auch ziemlich offen (bzw. im Dunkeln) bleiben, zu welchen Zwecken dieser verbleibende Rest an Anreizmöglichkeiten überhaupt eingesetzt wird. Die in diesem Zusammenhang erkennbaren Reaktionen deuten allerdings bereits daraufhin, dass dieser verbleibende Rest an Führungs- und Belohnungsmitteln nun auch noch höchst zweckwidrig wieder für eher traditionelle Führungszwecke verwandt wird. In den von uns untersuchten Fällen stoßen wir daher nicht nur auf den kuriosen Umstand, dass der hier begonnene Managementwandel nicht schon – wie im Modell geradezu zwangsläufig vorgesehen – zum Aufbau bzw. Ausbau eines begleitend notwendigen Anreiz- und Belohnungspotentials führt. Ganz im Gegenteil kommt hier noch erschwerend (bzw. in kontraproduktiver Weise) hinzu, dass auch der verbleibende Rest eben nicht zum Zwecke einer gezielten Mobilisierung von Leistungsreserven, sondern eher für die traditionellen Führungszwecke einer Gewährung gleich guter Karrierechancen bzw. dem Zwecke der Konfliktvermeidung (positiv ausgedrückt: zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls unter der Kollegenschaft) eingesetzt wird. Die Implementation einer veränderten Steuerungslogik kann hier also auf Grenzen stoßen, weil es weder in sachlicher noch in sozialer-motivationaler Hinsicht gelingt, das Verhalten von Mitarbeitern auf die Verfolgung von Zielen bzw. von Output-Größen auszurichten. 3. Einrichtung eines dezentralen Selbstmanagements An dritter Stelle geht es um die Frage, ob oder inwieweit es zusammenfassend betrachtet mit der Einführung entsprechender Hebelgrößen einer Kontextführung gelungen ist, nachweislich zu einer verstärkt output-orientierten Ausrichtung des Leistungsverhaltens bzw. der Leistungserstellung selbst zu kommen. Unter dem Gesichtspunkt funktional notwendiger Anpassungen von Führungsverhältnissen hat es dabei zu einer Delegation bzw. dezentralen Bündelungen von „Verfügungsrechten“ zu kommen, denen gemäß sich die dezentralen Einheiten (und zwar im Rahmen der Vorgabe herausfordernd wirkender Ziel- und Ergebnisgrößen auf der einen Seite als auch abhängig davon anteilig steigerungsfähig gestaltbarer Belohnungsausmaße auf der anderen Seite) gewissermaßen von allein, also auch bereits im Wege des Selbstmanagements, aufgefordert sehen, den einmal so überlassenen Handlungsspielraum für eine denkbar bestmögliche Erfüllung von Zielvereinbarungen bzw. Leistungsaufträgen zu nutzen. In dieser Hinsicht ist zwar auch für die von uns untersuchten Fälle erkennbar, dass und wie es im Zuge vorausgehender Modernisierung (im Übrigen auch im Zusammenhang eines forcierten Rückbaus gesamtorganisato-
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rischer Ebenen-Verhältnisse auf die „Zweistufigkeit“) zu den bekannten Umstellungen im Haushalts- und Rechnungswesen insgesamt kommt, zu ersten dezentralen Zusammenführungen von Fach- und Ressourcenverantwortungen, zur Flexibilisierung haushaltsrechtlicher Dispositionsmöglichkeiten, aber auch schon zur Anwendung des Instruments von Leistungsaufträgen. In diesem Zusammenhang ist zudem erkennbar, wie hier (zumindest auf der Ebene der Gesamtverhältnisse) insbesondere mit der Regel einer bewussten Zurechnung aller nur denkbaren „positiven“ und „negativen“ Ergebnisse des eigenen Handelns versucht wird, die „Triebfedern“ dafür zu schaffen, dass sich die dezentralen Verwaltungseinheiten schon von sich bzw. ihrem Bedürfnis nach gleichsinniger Nutzenmehrung zu einer bestmöglichen Zielerreichung aufgefordert sehen. Zum anderen ist allerdings in den von uns untersuchten Fällen bisher noch nicht erkennbar, dass es über diese ersten Führungsebenen hinweg zu einer nachhaltigen Delegation entsprechend einschlägiger „Verfügungsrechte“ (jedoch mit Ausnahme von Personalbeurteilungsaufgaben) bis auf die Arbeitsebenen selbst kommt. Selbst wenn es also zu Umstellungen auf der Ebene der Gesamtverhältnisse (gewissermaßen im Schnitt von „Politik“ und „Verwaltung“) kommt, heißt dies also nicht schon, dass die veränderte Steuerungslogik – und somit die Voraussetzungen des „Selbstmanagements“ schon bis auf die Ebene des eigentlich „dispositiven“ Handelns, in diesem Fall bis auf die Ebene der „Sachgebietsleitung“, vorangetrieben würde. Soweit es hier an entsprechenden Voraussetzungen einer Kontextsteuerung mangelt, schlagen daher aus diesem Grunde erhebliche Beschränkungen durch, bisherige Umstellungen im Führungsbereich überhaupt zu einem wirkungsvollen Vehikel für ein verstärkt output-orientiertes Handeln bzw. eine verbesserte Kosten-Effektivität zu machen. Da und insoweit wir es mit einer unzureichenden dezentralen Bündelung von Verfügungsrechten zu tun bekommen, ist auch klar, dass schon aus diesem Grund das Instrument der Zielvereinbarung nicht zum eigentlichen (sachlich notwendigen) Vehikel einer angemessenen „Abschöpfung“ der Vorteilhaftigkeiten dezentraler Leistungserstellungen (der Integration von Wissens- als auch Zeitvorsprüngen) hat werden können. Darüber hinaus ist allerdings ebenso zu erkennen, dass es mit den erreichten Anpassungen nur sehr unzureichend gelingen kann, das Motiv quasi-unternehmerischen Handelns bzw. der individuellen Nutzenmaximierung als Hebelgröße für ein jetzt notwendiges spontanes oder gar schöpferisches Leistungsverhalten ins Spiel zu bringen. Trotz der verschiedensten Anpassungen bzw. Flexibilisierungen im Rechnungs- und Haushaltswesen (trotz einer in Anfängen gegebenen dezentralen Ressourcenbewirtschaftung) ist es in den von uns untersuchten Fällen (bis auf die gelegentliche Gewährung von Einsparprämien in Rahmen eines erweiterten Vorschlagswesens) eben bisher noch nicht gelungen, den anteiligen Selbst-
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behalt (managementbedingt) zu erwirtschaftender Budgetüberschüsse als Motivationsmittel für eine auch auf Dauer angelegte Effizienz- und/oder Produktivitätssteigerung des Verwaltungshandelns einzusetzen. Da es hier an Möglichkeiten mangelt, sich den erzielten Erfolg gewissermaßen selbst anzueignen, sind damit auch nicht die motivational notwendigen Voraussetzungen dafür gegeben, dass sich öffentliche Bedienstete den Gesichtspunkt eines verstärkt output-orientierten Handelns gewissermaßen schon von selbst zur eigenen Sache, zu einem Punkt des „Selbstmanagements“, machen werden. Den erkennbaren Führungspraktiken nach spricht demgemäß auch vieles eher dafür, dass es unter der Bedingung einer letztlich in sich recht inkonsistenten bzw. eklektizistischen Anpassung der Führungsverhältnisse doch nur wieder – mit allen nur denkbar kontraproduktiven Folgen – zu einer erneuten Stabilisierung der bekannten Formen einer input-orientierten Optimierung von Arbeitsprozessen kommt (zu zumindest gelegentlichen Rückfällen auf die Methoden einer hierarchischen Unterstellung, der prozessbegleitenden Daueranweisung und der Anwendung eher negativer Sanktionen), nicht jedoch zur konsistenten Umsetzung einer veränderten Steuerungslogik von der Gesamtsystemebene auf die Ebene der Produktions- oder Arbeitsprozesse selbst.
IV. Probleme einer leistungssteigernden Komplettierung des Managementwandels Wie wir eingangs ausgeführt haben, sehen sich augenblicklich alle OECD-Mitgliedstaaten vor das Problem gestellt, im Rahmen zweiter oder auch schon dritter Wellen zu einem weiteren möglichst strategisch angelegten Auf- oder Ausbau (zu einer „systematischen Komplettierung“) des einmal begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen Umbaus des Managements von Staat und Verwaltung zu kommen. Unter konzeptionellen Gesichtspunkten geht es dabei auch um das praktische Problem, dass und wie hier (im Rahmen eines weiter gesteckten „Governance“-Wandels bzw. einer ggf. grundsätzlich veränderten Positionierung des Staates als „Gewährleister“) mit einer weiteren möglichst leitbildgerechten bzw. in sich konsistenten Anpassung verschiedenster Teilsysteme eines umfassend aufgestellten Managementsystems (und entsprechender Minimierung von Schnittstellenproblemen) dafür zu sorgen ist, dass sich der angestrebte Wandel des Managements von Staat und Verwaltung insgesamt betrachtet mit den höchsten Wirkungsgraden durchführen lässt. Im Augenblick geht es dabei in besonders kritischer Weise um die Herausforderung, mit einer möglichst leitbildbzw. fitgerechten Umgestaltung der Führungsverhältnisse die Voraussetzun-
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gen dafür zu schaffen, dass sich die gewollten Umstellungen auf ein verstärkt „output-orientiertes“ oder gar „wettbewerbliches“ System des Managements im Rahmen der direkten Dienstleistungsproduktion zum ausschlaggebenden Maßstab für die individuelle oder interaktiv abgestimmte Leistungserstellung machen lassen können. Andererseits zeigt sich an den hier präsentierten „Daten“ oder Abläufen, dass und wie es bei den aktuell gestarteten Versuchen einer leitbildgerechten Weiterentwicklung (bei entsprechenden Versuchen des Designs und der Implementierung eines kontextgesteuerten „Selbstmanagements“) doch noch zu erheblichen konzeptuell relevanten (externen als auch internen) „MisFits“ bzw. Fehlanpassungen kommt, zu deutlichen Missverhältnissen zwischen modellmäßigen Präskriptionen und der faktisch gegebenen Umstellung der Führungsverhältnisse5. Wie Modellvorstellungen organisationaler Designtheorien nahelegen, dürfte dann in diesen „Mis-Fits“ bzw. in dem erkannten Ausmaß interner Inkonsistenzen (auch und gerade im Rahmen weiter ausgreifender multi-faktorieller Betrachtungen) ein wesentlicher (erklärender) Umstand dafür zu sehen sein, dass sich die „Neue Steuerung“ auch in diesem Fall nicht mit der erhofften (institutionellen) Reichweite, mit den gewollten ändernden Effekten für das Leistungsverhalten, aber auch nicht mit den angestrebten Auswirkungen für die externe Leistungswirksamkeit des Verwaltungshandelns zu etablieren vermag. Auch an unserem Fallbeispiel ist daher zunächst einmal zu erkennen, dass die für die Gesamtverhältnisse angestrebten (und de facto auf der jeweiligen „Systemebene“ von Verwaltungseinheiten schon anteilig vollzogenen) Umstellungen in der „Steuerungslogik“ bisher nur in bescheidenem Umfang Eingang in die „Produktionslogiken“ der Arbeitsebenen einzelner Verwaltungseinheiten gefunden haben dürften. Da es noch in wesentlichen Teilen an einer in sich konsistenten Entwicklung einer Kontextführung mangelt, muss richtigerweise fragwürdig bleiben, ob sich unter diesen Bedingungen das gewünschte veränderte Leistungsverhalten (analytisch das sich selbstregulativ entwickelnde „Extra-Rollenverhalten“) auch nur in Ansätzen bereits zu entwickeln vermag. Selbst wenn gezielte „Planungseffekte“ nur in einem bescheidenen Umfang unterstellt werden können, muss dies aus der Perspektive einer pragmatischen bzw. design-orientierten Managementlehre des öffentlichen Sektors nicht zwangsläufig zu einem Motiv werden, um auch nur implizit für strukturkonservative Rückanpassungen bzw. für die Vorteilhaftigkeiten von „Hybridisierungen“ zu plädieren. Entsprechende leistungskritische „MisFits“ werden hier also nicht als Einladung verstanden, aus einer eher prinzi5 Vgl. G. A. Boyne et al., Evaluating Public Management Reforms, Buckingham – Philadelphia 2003, S. 156.
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piell restriktionspolitischen Sichtweise heraus vermeintlich faktisch erkennbare, „gegenläufige“ Prozesse einer erneuten Re-Zentralisierung bzw. ReHierarchisierung selbst zur Norm und damit auch „theoretisch“ einzig verbleibenden Möglichkeit der Gestaltung weiterer Modernisierungen des Managements zu machen6. Soweit hier nämlich das Konzept einer designorientierten Managementlehre zur Anwendung kommt, geht es auch nicht darum, erste fehlgeschlagene Bemühungen um eine Modernisierung sogleich als „false theory“ zu deklarieren, sondern darum, mit einer erweiterten lernkritischen Perspektive den Weg dafür zu weisen, wie die weiter notwendige Modernisierung (und zwar bei wieder unterstellten, aber noch nicht zureichend genutzten „Rationalisierungsreserven“) im erweiterten Zusammenhang eines „tiefgreifenden Kulturwandels“ voranzutreiben ist. Aus dieser Sicht der Dinge geht es im Rahmen wesentlich stärker strategisch gesteuerter Abläufe (Vorgabe von Leitbildern, Aufbau von Kapazitäten, Entwicklung konsistenter Designs und Anwendung sachlich als auch sozial optimierter Prozessabläufe) darum, Treiber bzw. Katalysatoren von Entwicklungsprozessen aufzudecken, die es sowohl aufgrund ihres simultan gegebenen sachlichen als auch ihres sozialen Steuerungsgehaltes erlauben, diesen Prozessen nun auch den notwendigen transformatorischen und sich selbstdynamisch verstetigenden Charakter zu verleihen. In dieser Hinsicht ist aufschlussreich, wie nun trotz vieler Widrigkeiten gerade mit einer weiteren Verfeinerung des Konzepts bzw. Instruments von „Erfolgsbelohnungen“ bzw. „managementbedingt zu erzielender Effizienzdividenden“ (und damit mit der Koppelung eigener beruflicher Entwicklungschancen an eine verbesserte Wirtschaftlichkeitssteuerung) versucht wird, jene sachliche und soziale Dynamik zu entfachen, mit der sich für den Führungsbereich (und zwar im Sinne eines Konzept des kontextgesteuerten Selbstmanagements) zu den hier notwendigen systematischen Komplettierungen zu kommen (vgl. hier u. a. die jüngsten Entwicklungen und Erprobungen beim Bundesverwaltungsamt).
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Vgl. J. Bogumil et al., Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell, Berlin 2007.
Beamtenrechtliche Zielvereinbarungen Hans-Werner Laubinger Heinrich Siedentopf hat sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes verbessert werden kann. An einer seiner ersten größeren Arbeiten auf diesem Gebiet, seinem Gutachten für die Studienkommission zur Reform des öffentlichen Dienstrechts,1 habe ich mitwirken dürfen. Ich erinnere mich gern an die ungemein angenehme und anregende Zusammenarbeit mit ihm und hoffe, dass dieser kleine Beitrag, der sich mit einem Teilaspekt der Verbesserung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und damit der öffentlichen Verwaltung befasst, trotz seiner Unvollkommenheit das Interesse des Jubilars finden wird. I. Die Allgegenwärtigkeit von „Zielvereinbarungen“ Der Terminus „Zielvereinbarung“ hat Konjunktur, er ist nahezu allgegenwärtig.2 So heißt es etwa in der Koalitionsvereinbarung, die CDU/CSU und SPD im Jahre 2005 abgeschlossen haben, die Bundesregierung solle mit der Bundesagentur für Arbeit eine Zielvereinbarung abschließen, um zu gewährleisten, dass die Bundesagentur für Arbeit ihren arbeitsmarktpolitischen Auftrag der Arbeitsförderung umsetzt. Auch der Gesetzgeber hat den Ausdruck inzwischen in sein Vokabular aufgenommen.3 So sieht § 5 BGG4 den Abschluss von Zielvereinbarungen zur Herstellung der Barrierefreiheit vor. Gemäß § 48 des Zweiten Buches 1 H. Siedentopf, Funktion und allgemeine Rechtsstellung – Analyse der Funktionen, in: Anlagebd. 8 zum Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes, Baden-Baden 1973, S. 1–199. 2 Einen guten Überblick gibt J. Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht, in: R. Pitschas (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik – Festschrift für R. Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 451 ff. 3 Die Behauptung von H. Plander, Die Rechtsnatur arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen, in: ZTR 2002, S. 155 ff., 155, der Ausdruck, „Zielvereinbarung“ sei kein Rechtsbegriff, trifft jedenfalls heute nicht mehr zu. Er ist allerdings ein mehrdeutiger Rechtsbegriff, dessen Konturen nach wie vor unscharf sind. 4 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen vom 27.4.2004 (BGBl. I S. 1467, 1468).
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des Sozialgesetzbuchs (SGB II) soll das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der Bundesagentur Vereinbarungen zur Erreichung der Ziele nach diesem Buch abschließen. Die Hochschulgesetze der Länder5 ermächtigen zum Abschluss von Zielvereinbarungen zwischen dem Land und den einzelnen Hochschulen sowie zwischen den Hochschulen und ihren Fachbereichen.6 Es liegt auf der Hand, dass die verschiedenen Spielarten von Zielvereinbarungen nicht viel miteinander gemein haben.7 Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass die Begriffsbestimmungen erheblich von einander abweichen.8 Aber immerhin soviel lässt sich generalisierend sagen: „Ziele“ sind anzustrebende Ergebnisse, nicht einzelne Maßnahmen. Und die Festlegung dieser Ziele geschieht durch Einigung mehrerer, zumindest zweier, Partner, nicht durch einseitige Festsetzung. Über die rechtliche Qualität, insbesondere darüber, ob die Zielvereinbarung ein (privat- oder öffentlichrechtlicher) Vertrag ist, ist damit noch nichts gesagt.
5 Siehe etwa den Überblick bei K. König/S. Schmidt/T. Kley, Vertraglich Hochschulsteuerung, abrufbar unter http://www.hof.uni-halle.de/steuerung/vertrag.htm. 6 Siehe dazu H. Trute, Die Rechtsqualität von Zielvereinbarungen und Leistungsverträgen im Hochschulbereich, in: WissR 33 (2000), S. 134 ff.; L. Knopp/W. Schröder, Globalhaushalte und Zielvereinbarungen – taugliche Steuerungsinstrumente in der Hochschulpolitik?, in: DÖD 2007, S. 125 ff.; B. Sandberg, Zielvereinbarungen zwischen Staat und Hochschulen, abrufbar unter http://www.ihf.bayern. de/beitraege/2003_4/4-2003%20Sandberg.pdf.; J. Fedrowitz/E. Krasny/F. Ziegele (Hrsg.), Hochschulen und Zielvereinbarungen – neue Perspektiven der Autonomie, Gütersloh 1999, abrufbar unter http://www.che.de/downloads/CHE_zielvereinbarun gen.pdf. 7 Darauf weist auch Plander, Die Rechtsnatur arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 3), S. 155 ff., 155 f. hin. 8 Vgl. etwa die Definitionen der Zielvereinbarung bei Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht (Anm. 2), S. 455; K. Hock, TVöD: Die Umsetzung des Leistungsentgelts im kommunalen Bereich – Teil II, in: ZTR 2006, S. 409 ff., 411; Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Praxisempfehlung für die Erstellung und den Abschluss von Zielvereinbarungen und in den Behörden des Geschäftsbereichs des BMI, Version 1.0 – Stand: 19.1.2001, S. 3. Weitere Begriffsumschreibungen hat B. Biermann, Regelung von Zielvereinbarungen innerhalb der Verwaltung, S. 1 ff., abrufbar unter http://www.hfv-speyer.de/hill/Lehrangebot/Sommersemester-2004/ Rechtsgestaltung/Referate/Biermann-Referat.pdf, zusammengetragen. Noch nicht einmal die „Legaldefinitionen“ in § 4 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund und § 18 Abs. 5 Satz 2 TVöD-VKA decken sich völlig (siehe dazu unten IV. 1 und 2 sowie Anm. 47).
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II. Arbeitsrechtliche Zielvereinbarungen in der Privatwirtschaft Das Instrument Zielvereinbarung dürfte Mitte des vorigen Jahrhunderts von den betriebswirtschaftlichen Managementtheorien für den privatwirtschaftlichen Sektor „erfunden“ worden sein. Es bildet einen konstituierenden Bestandteil des Management by Objectives (MbO). Wenn man der inzwischen unüberschaubaren betriebswirtschaftlichen Literatur9 glauben darf, spielen Zielvereinbarungen in der betrieblichen Praxis eine große Rolle. In krassem Gegensatz dazu ist die juristische Aufarbeitung der Probleme bisher recht bescheiden; sie besteht aus wenigen Gerichtsentscheidungen und Zeitschriftenaufsätzen sowie einer Monographie.10 Nach ganz herrschender Meinung sind die vom Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber abgeschlossenen Zielvereinbarungen arbeitsrechtliche Verträge.11 Man sollte annehmen, dass alsdann sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer an eine einmal geschlossene Zielvereinbarung gebunden sind (pacta sunt servanda), dass sie sich entsprechend verhalten müssen und notfalls gerichtlich dazu gezwungen werden können. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr wird hinsichtlich der Verbindlichkeit teilweise anhand mehrerer, sich teilweise überschneidender Kriterien differenziert. So unterscheidet Deich danach, – ob sich die Zielvereinbarung innerhalb des Weisungsrechts hält oder darüber hinausgeht12 und – ob die Zielvereinbarung einen Entgeltbezug aufweist oder nicht.13 Innerhalb des Weisungsrechts hält sich die Zielvereinbarung dann, wenn der Arbeitnehmer Verpflichtungen übernimmt, die ihm sein Arbeitgeber kraft seines Direktionsrechts auch einseitig auferlegen könnte. Einen Entgeltbezug weisen Zielvereinbarungen dann auf, wenn von der Erreichung des vereinbarten Ziels die Höhe des Gehalts abhängt. 9 Beispielsweise T. Breisig, Personalbeurteilung, Mitarbeitergespräch, Zielvereinbarungen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2001; W. Jetter, Performance Management, Stuttgart 2000; K. Lurse/A. Stockhausen, Manager und Mitarbeiter brauchen Ziele, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel 2002. 10 S. Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis – Schwerpunkt Individualarbeitsrecht, Berlin 2004 (zugleich Diss. jur. Köln 2004). 11 Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 91 ff.; J. Berwanger, Zielvereinbarungen und ihre rechtlichen Grundlagen, in: BB 2003, S. 1499 ff., 1499 f. 12 So z. B. Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 99 ff. Gegen eine solche Differenzierung Berwanger, Zielvereinbarungen und ihre rechtlichen Grundlagen (Anm. 11), S. 1501. 13 Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 105 ff.
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Zielvereinbarungen ohne Entgeltbezug, die sich innerhalb des Weisungsrechts halten, seien – so meint Deich14 – für den Arbeitnehmer stets verbindlich, für den Arbeitgeber hingegen nur dann, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass „eine vertragliche Einigung der Parteien getroffen werden sollte und der Arbeitsgeber auf die Ausübung des Direktionsrechts verzichten wollte“. Das erscheint nicht ganz frei von Widersprüchen: Wenn eine vertragliche Einigung nicht getroffen werden sollte, liegt keine Zielvereinbarung, sondern eine Zielvorgabe vor, und an diese ist der Arbeitnehmer gebunden, wenn sie sich im Rahmen des Direktionsrechts hält, während der Arbeitgeber jederzeit von seinem Weisungsrecht anderweit Gebrauch machen kann. Entgeltwirksame Zielvereinbarungen, die sich innerhalb des Weisungsrechts halten, sollen für den Arbeitnehmer verbindlich sein, für den Arbeitgeber dagegen nur dann, „wenn die Vereinbarungen einen unmittelbaren oder mittelbaren Entgeltbezug aufweisen, der15 auf die Ausübung des Weisungsrechts verzichtet hat, eine vertragliche Einigung über die Verbindlichkeit vorliegt oder sich entsprechendes aus Vertrauensschutzgesichtspunkten ergibt“.16 Hiergegen erheben sich ähnlich Bedenken wie die zuvor geäußerten. Zielvereinbarungen außerhalb des Weisungsrechts17 seien für beide Seiten nur dann bindend, „wenn eine entsprechende Einigung getroffen ist, die für beide Seiten freiwillig ist“.18 Das soll wohl heißen, dass Zielvereinbarungen, die aus dem Rahmen des Direktionsrechts herausfallen, sowohl für den Arbeitnehmer als auch den Arbeitgeber verbindlich sind.
Interessant an diesen Gedanken für das hier untersuchte Thema ist – wie wir noch sehen werden – die unterschiedliche Behandlung von Zielvereinbarungen innerhalb und außerhalb des Weisungsrechts des Arbeitgebers. Eine andere Systematik hat Plander19 entwickelt. Er unterscheidet unechte, traditionelle und echte Zielvereinbarungen. Als unechte Zielvereinbarung bezeichnet er eine Gestaltung, bei der der Arbeitgeber an seinem Recht, Weisungen zu erteilen, zwar uneingeschränkt festhält, er dem Arbeitnehmer jedoch einen gewissen Einfluss auf deren Inhalte, Häufigkeit, Zeitpunkt und/oder sonstige Modalitäten einräumt und der Arbeitnehmer eine auf einer solchen Grundlage formulierten Weisung sodann widerspruchslos hinnimmt oder ihr sogar ausdrücklich zustimmt. Bei einer derartigen Gestaltung liege kein Vertrag vor, sondern eine einseitige Zielvorgabe mit dem Anspruch auf Befolgung. 14
Ebd., S. 343. Gemeint ist wohl „er“, nämlich der Arbeitgeber. 16 Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 343 f. 17 Außerhalb des Weisungsrechts liegen insbesondere Entgeltfragen: Berwanger, Zielvereinbarungen und ihre rechtlichen Grundlagen (Anm. 11), S. 1501. 18 Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 344. 19 Plander, Die Rechtsnatur arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 3), S. 157 ff. 15
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Unter einer traditionellen Zielvereinbarung versteht Plander eine Abrede des Inhalts, dass der Beschäftigte, der bestimmte Erfolge erzielt, eine besondere Honorierung oder andere Vorteile erhalten soll, das Weisungsrecht des Arbeitgebers aber unangetastet bleibt. In solchen Fällen gehe nur der Arbeitgeber eine Verpflichtung ein. Abreden dieser Art seien Verträge, die den bestehenden Arbeitsvertrag ergänzen. Eine echte Zielvereinbarung zeichnet sich nach Plander dadurch aus, dass auch der Arbeitgeber eine echte Verpflichtung übernimmt, indem er nämlich auf sein Weisungsrecht oder jedenfalls auf dessen Ausübung zeitlich beschränkt verzichtet. Wegen des Grundsatzes der Vertragsfreiheit sei das durchaus möglich. Plander meint, ein Arbeitgeber, der Zielvereinbarungen nach dem MbO-Ansatz abschließt, bekunde damit, er wolle – jedenfalls für die Laufzeit der Vereinbarung – auf die Möglichkeit, Weisungen zu erteilen, verzichten. Er könne sich jedoch das Erteilen solcher Weisungen vorbehalten, die für das Erzielen der Ergebnisse, die der Arbeitnehmer anstreben soll, ohne praktische Bedeutung sind. Ob eine echte Zielvereinbarung ein Vertrag oder eine bloße informelle Abrede ist, sei durch Auslegung zu ermitteln.20
Die Zielvereinbarung verpflichtet den Arbeitnehmer nach wohl vorherrschender Meinung,21 sich um die Erreichung des vereinbarten Ziels „hinreichend nachhaltig“, „nach Kräften“ zu bemühen. Er verletzt seine vertragliche Verpflichtung nicht, wenn er trotz dieser Bemühungen das Ziel verfehlt oder nur unvollständig erreicht. Der Arbeitnehmer braucht daher keine arbeitsrechtlichen Sanktionen – wie Abmahnung, Versetzung oder gar Kündigung des Arbeitsverhältnisses – zu befürchten.22 Er hat jedoch – das versteht sich von selbst – keinen Anspruch auf die für den Fall der Zielerreichung vereinbarte Vergütung.23 Der Beschäftigte verletzt hingegen dann seine Verpflichtung aus der Zielvereinbarung, wenn er sich überhaupt nicht oder nicht nach Kräften um die Zielerreichung bemüht.24
20
Ebd., S. 160. Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 344; Plander, Die Rechtsnatur arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 3), S. 161; ders., Zustandekommen, Wirksamkeit und Rechtsfolgen arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen, in: ZTR 2002, S. 402 ff., 405. A. M. Berwanger, Zielvereinbarungen und ihre rechtlichen Grundlagen (Anm. 11), S. 1500 (Erfüllungspflicht, die aber nicht klageweise durchgesetzt werden könne; unvollkommene Verbindlichkeit). 22 Plander, Zustandekommen, Wirksamkeit und Rechtsfolgen arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 21), S. 402 ff., 405. 23 Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 346. 24 Plander, Zustandekommen, Wirksamkeit und Rechtsfolgen arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 21), S. 405. 21
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III. Zielvereinbarungen für den gesamten öffentlichen Dienst Auch für den öffentlichen Dienst wird die Einführung von Zielvereinbarungen propagiert,25 wobei häufig nicht zwischen Beamten und Arbeitnehmern unterschieden wird. 1. Vorschläge der Bull-Kommission Besonders engagiert hat dies die nach ihrem Vorsitzenden Hans Peter Bull benannte Bull-Kommission getan. Sie wurde im Frühjahr 2001 von der rot-grünen Landesregierung Nordrhein-Westfalens eingesetzt und erstattete knapp zwei Jahre später – im Januar 2003 – ihren Bericht mit dem Titel „Zukunft des öffentlichen Dienstes – öffentlicher Dienst der Zukunft“. Die Kommission schlug die Schaffung eines einheitlichen Dienstrechts vor. Die Bezahlung der „Beschäftigten des öffentlichen Dienstes“ soll durch Tarifvertrag festgelegt werden. Sie soll aus einer festen Basisvergütung und einer variablen Leistungsvergütung bestehen. Die variable Vergütung soll mit steigender Bedeutung der Funktion einen immer größeren Teil der Gesamtvergütung ausmachen. Nach Auffassung der Kommission wird dies allerdings nur dann funktionieren, wenn das Vergütungssystem in weiten Bereichen durch Ziel- und Leistungsvereinbarungen als Führungsinstrumente unterstützt wird. Die Kommission fordert denn auch die flächendeckende Einführung von Zielvereinbarungen (S. 110 ff.).
2. Nordrhein-Westfalens Bemühungen um die Einführung von Zielvereinbarungen Sehr engagiert hat sich die nordrhein-westfälische Landesregierung des Themas angenommen. Die Vorschläge der Bull-Kommission sind im Oktober 2003 von dem nordrhein-westfälischen Innenminister Fritz Behrens in dem Leitfaden „Mitarbeitergespräch und Zielvereinbarungen“ aufgegriffen worden. Die Bedeutung der Zielvereinbarungen wird darin wie folgt umschrieben (S. 15): „Die Vereinbarungen zu Arbeitszielen und zu persönlichen Zielen sind als Bestandteile des Mitarbeitergespräches wichtige Voraussetzungen für ziel- und qualitätsorientiertes Verwaltungshandeln. Die strategischen Ziele des Innenministeriums NRW werden durch Vereinbarungen zu Sach-, Arbeits- und Verfahrenszielen mit den Jahreszielen aus den konkreten Aufgaben der einzelnen Beschäftigten über alle Ebenen hinweg verknüpft. Das schafft mehr Transparenz. Vorgesetzte 25 In der wissenschaftlichen Literatur geschah dies wohl erstmals im Jahre 1973 durch J. Wild und P. Schmidt, Managementsysteme für die Verwaltung: PPBS und MbO, in: Die Verwaltung 6 (1973), S. 145 ff.
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und Mitarbeiter werden in die Lage versetzt, sich eine detaillierte Vorstellung von den Aufgaben der Zielvereinbarungspartner zu erarbeiten. Gleichzeitig wird die Identifikation mit den Aufgaben der Behörde erleichtert und mehr eigenverantwortliches Handeln im eigenen Zuständigkeitsbereich ermöglicht. Schließlich wird so die Aufgabenerfüllung im Innenministerium durch klare Ziele gesteuert. Arbeitsziele können aus allen Themenfeldern des Aufgabenbereiches entwickelt und gemeinsam erarbeitet werden. Die Ziele sollten möglichst zu Kernaufgaben im Zuständigkeitsbereich und damit zu Arbeitsschwerpunkten vereinbart werden. Im Mittelpunkt einer Zielvereinbarung steht die Frage nach dem „wozu?“ einer Aufgabe. Die Anzahl der zu vereinbarenden Arbeitsziele sollte nicht mehr als 5 betragen. Die Vereinbarung von persönlichen Zielen fördert die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter und verhindert Demotivation. Zielvereinbarungen umfassen qualitative wie quantitative Aspekte, z. B.: Macht diese oder jene Aufgabe noch einen Sinn? Wie kann eine Aufgabe besser, einfacher, schneller oder kostengünstiger erledigt werden? Mit welchen festzulegenden Qualitätsmerkmalen soll eine Dienstleistung erbracht werden? Wie sind die Prioritäten zu setzen? Welche Ressourcen sind zu veranschlagen? Welche Fortbildungsmaßnahmen werden für die persönliche Weiterentwicklung benötigt? Wie können persönliche Arbeitzeitgestaltung und dienstliche Belange bestmöglich in Einklang gebracht werden? Ein Ziel beschreibt einen gewünschten Zustand. Im Vordergrund steht somit nicht, was getan werden muss, sondern, was erreicht werden soll. Ziele sind daher nicht mit Maßnahmen oder Aktivitäten zu verwechseln. Maßnahmen oder Aktivitäten beschreiben den Weg zur Zielerreichung. Durch die Vereinbarung von Zielen legen Mitarbeiter und Vorgesetzte gemeinsam eine beide Seiten bindende Regelung fest. Sie wird schriftlich festgehalten und unterliegt im vereinbarten Rahmen der Vertraulichkeit. Zielorientierung bedeutet nicht, dass sich Vorgesetzte ihrer Führungsverantwortung entziehen können, sobald eine Zielvereinbarung abgeschlossen ist. Vielmehr müssen sie beratend zur Verfügung stehen, mit positiven Rückmeldungen Mitarbeiter zur Eigeninitiative ermutigen sowie bei Fehlern steuernd eingreifen. Aufgabe des Vorgesetzten ist es zudem, dem Mitarbeiter den Sinn und Zweck seiner Zielvorstellungen zu erklären. Dazu zählt insbesondere, den Zusammenhang zu den übergeordneten Zielen zu verdeutlichen sowie Prioritäten in den Zielvorstellungen erkennen zu lassen.“
Bis zur Ebene der Sachbearbeiter war der Abschluss von Zielvereinbarungen verpflichtend, mit den anderen Mitarbeitern sollten Zielvereinbarungen auf freiwilliger Basis abgeschlossen werden (S. 9). Die Zielvereinbarungen sollten von dem Vorgesetzten und dem Mitarbeiter unterzeichnet und grundsätzlich vertraulich behandelt werden (S. 20). Die Einführung von Zielvereinbarungen stieß offenbar auf Widerstände in der Verwaltung. Die Landesregierung sah sich jedenfalls veranlasst, ein knappes Jahr später, im August 2004, nachzustoßen mit der Broschüre „Verwaltungsmodernisierung in Nordrhein-Westfalen. Zielvereinbarungen“, die den bezeichnenden Untertitel „Zielvereinbarungen im öffentlichen Dienst – Zauberformel oder Teufelswerk?“ trug. Einleitend heißt es (S. 2):
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„Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat sich im Anschluss an den Bericht der Regierungskommission ‚Zukunft des öffentlichen Dienstes – öffentlicher Dienst der Zukunft‘ vom Januar 2003 für die Führungsebene der Ministerien klar zu diesem Steuerungs- und Führungsinstrument bekannt. Mit Beschluss vom 15. Juli 2003 hat sie sich darauf verständigt, ab dem Jahr 2005 in möglichst allen Bereichen der Landesverwaltung NRW angepasst an die jeweiligen Bedingungen der Fachverwaltungen mit Zielvereinbarungen zu arbeiten. Für Führungskräfte sehen viele Beurteilungssysteme schon heute vor, dass sie auch an dem Einsatz dieses Instruments gemessen werden. Gleichwohl hat kaum ein Instrument der Binnenmodernisierung so viele Diskussionen ausgelöst wie die Zielvereinbarung. Von den einen wird sie als Zauberformel für die Lösung aller bestehenden Probleme gesehen, von den anderen als Teufelswerk zur Ausbeutung der Beschäftigten verdammt. Diese gemeinsame Handreichung der Staatskanzlei und aller Ministerien des Landes NRW soll daher ein einheitliches Verständnis von Zielvereinbarungen fördern, eine Hilfestellung leisten und zum Abschluss von Zielvereinbarungen motivieren.“
Die Landesregierung hielt daran fest: grundsätzlich seien mit allen Mitarbeitern Zielvereinbarungen abzuschließen (S. 12). Wie sich die Landesregierung den Ablauf des Reigens von Zielvereinbarungen („Kaskadenmodell“) vorstellt, schildert S. 10: „Mit der Formulierung von Zielen für die Behörde beginnt die Behördenleitung. Sie hält fest, welche Ziele sie sich stecken muss, um die ggf. zuvor mit der vorgesetzten Behörde vereinbarten Ziele zu erreichen. Es ist sinnvoll, diese Ziele mit den Führungskräften zu diskutieren. Auch die Diskussion mit der Personalvertretung kann hilfreich sein. Die so festgelegten Ziele werden bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bekannt gemacht. Die Abteilungen planen ihrerseits, was sie zur Zielerreichung beitragen können und welche eigenen Ziele sie erreichen wollen. Die Behördenleitung trifft entsprechende Vereinbarungen mit den Mitgliedern der zweiten Führungsebene. Diese treffen wiederum Zielvereinbarungen mit etwaigen Mitgliedern einer dritten oder vierten Führungsebene. Vorgesetzte treffen Vereinbarungen mit ihren einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern darüber, worin deren persönlicher Beitrag bestehen kann, um die Ziele ihrer Abteilung (und der gesamten Organisation) zu erreichen.“
Nachdem die rot-grüne Landesregierung Steinbrück im Juni 2005 durch die CDU/FDP-Regierung Rüttgers abgelöst worden ist, scheint es in Nordrhein-Westfalen um die Zielvereinbarungen ruhig geworden zu sein; von einer flächendeckenden Einführung von Zielvereinbarungen ist jedenfalls nicht mehr die Rede.26 26 Im Zweiten Zwischenbericht des FDP-geführten nordrhein-westfälischen Innenministeriums zu Verwaltungsstrukturreform, Bürokratieabbau und Binnenmodernisierung, ohne Datum (wohl 2007), S. 9, wird in Bezug auf die Polizei mitgeteilt, durch „Maßnahmen . . . des Bürokratieabbaus (z. B. Abschaffung des landesweiten Zielvereinbarungsverfahrens) wurden weitere personelle Synergien von ca. 500 Funktionen zugunsten des operativen Bereichs erreicht“. An anderer Stelle (S. 18) heißt es: „Individuelle, jährliche Zielvereinbarungen können alle Vorgesetz-
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3. Bundesministerium des Innern Schon seit 2001 wirbt auch das Bundesministerium des Innern für die Einführung von Zielvereinbarungen.27 Es definiert die Zielvereinbarungen als „verbindliche Absprachen zwischen zwei Ebenen für einen festgelegten Zeitraum über die zu erbringenden Leistungen, deren Qualität und Menge, das hierzu erforderliche Budget bzw. die zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie über Art und Inhalt des Informationsaustausches“ (S. 3). Zielvereinbarungen zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter bezweckten, „den vorgegebenen Rahmen, auf jeden einzelnen Arbeitsplatz bezogen, zu konkretisieren und zu den personenbezogenen Zielen in Beziehung zu setzen“. Diese „reine Lehre“ werde in den meisten Behörden, zumal wenn das Instrument Zielvereinbarungen neu eingeführt wird, nicht möglich sein bzw. dazu führen, dass Zielvereinbarungen zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter erst nach einem langen zeitlichen Vorlauf abgeschlossen werden können (S. 5). Ziele – so heißt es in der Broschüre (S. 5) – definieren zu erreichende Ergebnisse. Sie verdeutlichten das Wozu des Handelns, ohne das Wie vorzugeben. Sie ersetzten Einzelanweisungen und entlasteten dadurch die Führung. Ziele könnten klassifiziert werden nach Leistungszielen, Finanzzielen und personenbezogene Zielen. In Zielvereinbarungen zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter sollten jedoch nur leistungs- und personenbezogene Ziele festgelegt werden (S. 7). Notwendiger Inhalt von Zielvereinbarungen seien: Vereinbarungspartner (Unterschrift!), vereinbarte Ziele (zeitlich, quantitativ, qualitativ, wirkungsbezogen), Zielerreichungskriterien (absolute/relative Kennzahlen), Laufzeit, Auflösungsgründe, Festlegung von Verantwortlichkeiten/Kompetenzen und des erforderlichen Ressourceneinsatzes, Art und Umfang der Berichterstattung (S. 13).
Auf die rechtliche Zulässigkeit solcher Zielvereinbarungen geht auch das BMI mit keinem Wort ein, abgesehen von der Mahnung, Zielvereinbarunten mit ihren Mitarbeiter/innen vereinbaren. So wird für Transparenz gesorgt und es können Prioritäten festgelegt werden. Zudem stärken mehr Freiheit und Verantwortung bei der Erledigung von Aufgaben Identifikation und Motivation, was in der Regel zu besseren Ergebnissen führt. Die Vorgesetzten dürfen die Mitarbeiter/innen dabei nicht gänzlich sich selbst überlassen.“ 27 BMI (Hrsg.), Praxisempfehlungen für die Erstellung und den Abschluss von Zielvereinbarungen im Bundesministerium des Innern und in den Behörden des Geschäftsbereichs des BMI, Version 1.0 – Stand: 19. Januar 2001. Die Praxisempfehlungen wurden lt. Vorwort gemeinsam mit der Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR, dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundeskriminalamt, der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und dem Statistischen Bundesamt erstellt. Die Broschüre enthält als Anhang fünf Zielvereinbarungen aus diesen Behörden. Ferner BMI (Hrsg.), Leitfaden Leistungsbewertung, Stand: 24.1.2006, abrufbar unter http://www.bmi.bund.de/Internet/Content/Com mon/Anlagen/Themen/Oeffentlicher_Dienst/DatenundFakten/Leitfaden_20Leistungs bewertung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Leitfaden%20Leistungsbe wertung.pdf.
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gen dürften „nicht im Widerspruch zu bindenden Regeln (z. B. Tarifrecht) formuliert werden“ (S. 14). 4. Kontraktmanagement, Neues Steuerungsmodell Die Zielvereinbarung ist – wie früher erwähnt – ein wesentlicher, wenn nicht der wichtigste Bestandteil des MbO. Nachdem dessen Einführung in die öffentliche Verwaltung gescheitert zu sein scheint,28 feiert die Zielvereinbarung nunmehr Wiederauferstehung im sog. Kontraktmanagement29 und im „Neuen Steuerungsmodell“ (NSM)30 oder „New Public Management“ (NPM)31/32. Seit Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts haben mehrere Bundesländer in ihre Gemeindeordnungen oder Gemeindehaushaltsverordnungen sog. Experimentierklauseln aufgenommen, die es den Kommunen ermöglichen, „neue Steuerungsmodelle“ zu erproben.33 28
K. Tondorf/R. Bahnmüller/H. Klages, Steuerung durch Zielvereinbarungen, Berlin 2002, S. 12, bezeichnen MbO als „weitgehend wirkungslosen Modetrend der 70er Jahre“. Demgegenüber behauptet M. Wallerath, Kontraktmanagement und Zielvereinbarungen als Instrumente der Verwaltungsmodernisierung, in: DÖV 1997, S. 57 ff., 59, das MbO habe in der Verwaltungspraxis deutlichere Spuren hinterlassen, als dies in der heutigen Diskussion den Anschein haben möge. 29 Zu diesem siehe etwa A. Irmer, Kontraktmanagement als staatswirtschaftliches Steuerungsinstrument – Effizienzsteigernde Organisationsformen für den öffentlichen Sektor im Lichte der Neuen Institutionenökonomik, Diss. rer. pol. Darmstadt 2001 (betreut von B. Rürup), abrufbar unter http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dok serv?idn=963639250; G. Schwarting, Die Veränderung von Handlungsspielräumen durch kommunales Kontraktmanagement, in: J. Ziekow (Hrsg.), Handlungsspielräume der Verwaltung, Berlin 1999, S. 131 ff.; H. Hill, Zur Veränderung von Handlungsspielräumen durch Kontraktmanagement, ebd., S. 139 ff.; T. Wolf-Hegerbekermeier, Die Verbindlichkeit im kommunalen Kontraktmanagement, in: DÖV 1999, S. 419 ff. 30 Siehe dazu die vorzügliche Untersuchung von V. Mehde, Neue Steuerungsmodelle und Demokratieprinzip, Berlin 2000. 31 Dazu siehe Tondorf/Bahnmüller/Klages, Steuerung durch Zielvereinbarungen (Anm. 28), passim. Auf S. 15 schreiben sie, es lasse sich ohne Übertreibung behaupten, „dass die Zielvereinbarung ganz im Zentrum desjenigen Trends der Verwaltungsmodernisierung steht, der in Deutschland – in Verbindung mit dem internationalen Aufbruch in Richtung eines ‚New Public Management‘ (NPM) – seit dem Beginn der 90er Jahre in Gang gekommen ist“. Ebenso Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht (Anm. 2), S. 454; Wallerath, Kontraktmanagement und Zielvereinbarungen (Anm. 28). Ferner H. Pünder, Zur Verbindlichkeit der Kontrakte zwischen Politik und Verwaltung im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells, in: DÖV 1998, S. 63 ff. 32 Wie diese Instrumente sich zu einander verhalten, ist unklar. Nach Hill, Zur Veränderung von Handlungsspielräumen durch Kontraktmanagement (Anm. 29), S. 139, ist Kontraktmanagement ein Bestandteil des Neuen Steuerungsmodells.
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IV. Arbeitsrechtliche Zielvereinbarungen im öffentlichen Dienst Eingang gefunden hat das Instrument der Zielvereinbarung vor wenigen Jahren in die für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes geltenden Tarifverträge. Er spielt eine – jedenfalls theoretisch – wesentliche Rolle für das Leistungsentgelt, das mit Wirkung vom 1.1.2007 eingeführt worden ist. Dabei haben Bund, Länder und Kommunen unterschiedliche regelungstechnische Wege eingeschlagen, was hier nur ganz knapp skizziert werden kann. 1. Bund Der Bund und die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) haben am 13.9.2005 zwar gemeinsam einen „Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – TVöD“34 mit den Gewerkschaften ver.di und dbb abgeschlossen, der in § 18 Regelungen über das Leistungsentgelt enthält. Für den Bereich des Bundes und den der Kommunen gelten jedoch unterschiedliche Fassungen (TVöD-Bund bzw. TVöD-VKA). § 18 Abs. 1 TVöD-Bund führt mit Wirkung vom 1.1.2007 ein Leistungsentgelt ein, das eine variable und leistungsorientierte Bezahlung zusätzlich zum Tabellenentgelt darstellt. Wegen der näheren Regelungen verweist § 18 Abs. 3 TVöDBund auf einen später abzuschließenden Bundestarifvertrag. Dieser kam ein knappes Jahr später zustande, und zwar in Gestalt des „Tarifvertrages über das Leistungsentgelt für die Beschäftigten des Bundes (LeistungsTV-Bund)“ vom 28.8.2006.35 Dessen § 4 Abs. 1 Satz 1 definiert die Zielvereinbarung als „eine schriftlich niedergelegte, freiwillige und verbindliche Abrede zwischen der Führungskraft und einzelnen Beschäftigten oder Beschäftigtengruppen für einen festgelegten Zeitraum über objektivierbare Leistungsziele und die Bedingungen ihrer Erfüllung“36. Die Leistungsziele sind eindeutig, konkret und präzise zu bestimmen; sie müssen realistisch, messbar und nachvollziehbar sein (§ 4 Abs. 1 Sätze 33 Siehe dazu H. Borchert, Öffnungsklauseln im Kommunalbereich – Zu Theorie und Praxis der kommunalrechtlichen Experimentier- und Öffnungsklauseln (Kommunalisierungsklauseln), in: Ziekow (Hrsg.), Handlungsspielräume der Verwaltung (Anm. 29), S. 161 ff. mit einer Zusammenstellung einschlägiger Vorschrift im Anhang S. 185 ff. Kritisch H. Siedentopf, Experimentierklausel – eine „Freisetzungsrichtlinie“ für die öffentliche Verwaltung, in: DÖV 1997, S. 278. 34 G. Schaub, Paradigmenwechsel im öffentlichen Dienst, in: PersV 2007, S. 278 ff. 35 Dazu eingehend A. Leist, Einführung in den Leistungstarifvertrag des Bundes – Teil I, in: ZTR 2007, S. 58 ff.; Teil II, in: ZTR 2007, S. 114 ff. 36 Nach Mitteilung von Leist, Einführung in den Leistungstarifvertrag des Bundes (Anm. 35), S. 63, haben die Tarifvertragsparteien diese Definition im Interesse der Rechtssicherheit für notwendig gehalten, „da in der Literatur der Begriff sehr vielgestaltig und uneinheitlich verwendet wird“.
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2 und 4 LeistungsTV-Bund). Die Leistungsfeststellung erfolgt gemäß § 4 Abs. 6 LeistungsTV-Bund durch den „Vergleich der vereinbarten Ziele mit dem Grad der Zielerreichung (Soll-Ist-Vergleich)“37.
2. Kommunen § 18 TVöD-VKA hat ebenfalls zum 1.1.2007 ein Leistungsentgelt eingeführt (Abs. 2 Satz 1)38. Dieses wird zusätzlich zum Tabellenentgelt als Leistungsprämie, Erfolgsprämie oder Leitungszulage gewährt (Abs. 4 Satz 1). Die Leistungsprämie ist in der Regel eine einmalige Zahlung, die im Allgemeinen auf der Grundlage einer Zielvereinbarung erfolgt (Abs. 4 Satz 2). Die Feststellung oder Bewertung von Leistungen geschieht durch das Vergleichen von Zielerreichungen mit den in der Zielvereinbarung angestrebten Zielen oder über eine systematische Leistungsbewertung (Abs. 5 Satz 1). Abs. 5 Satz 2 definiert die Zielvereinbarung als „eine freiwillige Abrede zwischen der Führungskraft und einzelnen Beschäftigten oder Beschäftigtengruppen über objektivierbare Leistungsziele und die Bedingungen ihrer Erfüllung“. Die zulässigen Kriterien für Zielvereinbarungen und deren Anpassung „bei wesentlichen Änderungen von Geschäftsgrundlagen“ sollen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen geregelt werden (§ 18 Abs. 6 Satz 3). 3. Länder Für die Arbeitnehmer der Länder39 gilt der am 12.10.2006 abgeschlossene „Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L)“40. Die 37 Kritik an § 4 LeistungsTV-Bund übt J. Lorse, Neue Strategien in der Leistungsbezahlung und Leistungsmessung der Beamten, in: RiA 2007, S. 62 ff., 70 f.: Die Vorschrift zeichne „das eingetrübte Bild einer Zielvereinbarung, die lediglich als Scheinalternative zur systematischen Leistungsbewertung fungiert und der ein ähnliches Schicksal vorherzusagen ist wie dem Instrument der Leistungszulage nach dem Dienstrechtreformgesetz von 1997“. 38 Dazu K. Weisel, Einführung von Leistungsentgelt nach dem TVöD – eine methodische Herausforderung, die sich lohnt, in: DÖD 2007, S. 9 ff., 53 ff.; W. Rob, Leistungsorientierte Bezahlung – Stufenaufstieg und Leistungsentgelt nach TVöDVKA und TV-L, in: PersV 2007, S. 353 ff. 39 Mit Ausnahme von Berlin und Hessen, die der Tarifgemeinschaft deutscher Länder nicht (mehr) angehören. Hessen will die Löhne und Gehälter seiner Arbeiter und Angestellten durch Gesetz statt durch Tarifvertrag regeln, in: FAZ Nr. 225 v. 27.9.2007, S. 16. 40 Dazu C. Grosenick, Leistungsentgelte bei den Ländern: Mit ersten landesbezirklichen Tarifverträgen gemäß § 18 TV-L ist bis Mitte 2007 zu rechnen, in: PersV 2007, S. 136 ff. Nach Mitteilung des Verfassers zeichnet sich ein Trend zugunsten der systematischen Leistungsbewertung und damit gegen die Einführung
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hier interessierenden Regelungen finden sich wiederum in § 18. Auch er führt mit Wirkung vom 1.1.2007 ein Leistungsentgelt zusätzlich zum Tabellenentgelt ein (Abs. 1 Satz 1). Die näheren Regelungen über die Ausgestaltung des Leistungsentgelts sollen in landesbezirklichen Tarifverträgen vereinbart werden (Abs. 4 Satz 1). Das Wort „Zielvereinbarung“ taucht in dem TV-L nicht auf. Lediglich in Nr. 1 Satz 2 der Protokollerklärungen zu § 18 heißt es, arbeitsrechtliche Maßnahmen seien durch Teilnahme an einer Zielvereinbarung nicht ausgeschlossen. Das lässt den Schluss zu, dass auch in den Ländern Zielvereinbarungen abgeschlossen werden dürfen. 4. Zwischenergebnis In den Verwaltungen und Betrieben des Bundes, der Länder und Kommunen ist durch den Abschluss von Tarifverträgen der Boden bereitet für Zielvereinbarungen zwischen Arbeitnehmern einerseits und ihren Vorgesetzten anderseits. Auf die Beamten sind diese tarifvertraglichen Regelungen weder unmittelbar noch analog anwendbar. V. Beamtenrechtliche Zielvereinbarungen Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob Zielvereinbarungen auch für Beamte eingeführt werden können. Dabei beschränke ich mich auf die juristische Perspektive, klammere also die Frage aus, ob eine solche Maßnahme zweckmäßig und wünschenswert wäre. 1. Gesetzliche Regelungen und Gesetzentwürfe Bislang gibt es nur wenige Rechtsvorschriften, die den Abschluss von Zielvereinbarungen von Beamten vorsehen.
von Zielvereinbarungen ab. Diese sei bei den meisten kommunalen Betrieben zumindest im Jahre 2007 höchstens ergänzend vorgesehen. Begründet werde die Präferenz zugunsten der systematischen Leistungsbewertung vor allem mit dem Aufwand, den Zielvereinbarungssysteme verursachten: Erarbeitung einer operationalisierten Zielkaskade, eventuelle unterjährige Anpassungsnotwendigkeiten bei Veränderungen von Rahmenbedingungen, schwierige Zielfindung für Beschäftigte auf den unteren Ebenen (S. 141). Einen Trend zugunsten von Zielvereinbarungen hat hingegen Rob, Leistungsorientierte Bezahlung (Anm. 38), S. 357, ausgemacht.
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a) Laufbahnverordnungen Mehrere Laufbahnverordnungen41 schreiben zwar vor, Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Beamten durch Personalführungs- und Personalentwicklungsmaßnahmen zu erhalten und zu fördern, und sie fügen hinzu, dass zu diesen Maßnahmen auch Zielvereinbarungen gehören. Wie dies im Einzelnen geschehen soll, wird jedoch nicht gesagt. b) Postleistungsentgeltverordnung Eine eingehendere, aber sektoral sehr begrenzte Regelung trifft § 10 der am Anfang des Jahres 2005 in Kraft getretenen Verordnung über die Gewährung von Leistungsentgelten an Beamtinnen und Beamte bei der Deutschen Post AG (Postleistungsentgeltverordnung – PostLEntgV)42: „(1) 1Wer Dienstvorgesetztenbefugnisse gegenüber der Beamtin oder dem Beamten wahrnimmt, schließt mit ihr oder ihm im ersten Quartal des Beurteilungszeitraums schriftlich eine Zielvereinbarung. 2. . . 3Die Zielvereinbarung nennt bis zu drei Ziele für den Beurteilungszeitraum. 4Dies können quantitative oder qualitative individuelle Ziele oder Gruppenziele sein. 5Die Ziele müssen nachvollziehbar, klar zuzuordnen, unmittelbar auf die Tätigkeit bezogen und von der Beamtin oder dem Beamten direkt beeinflussbar sein. 6Tritt ein Ereignis ein, das Einfluss auf die Zielerreichung hat und das nicht von der Beamtin oder dem Beamten zu vertreten ist, sind die Ziele und deren Gewichtung nach den Regeln dieser Verordnung einvernehmlich anzupassen. (2) 1Wer Dienstvorgesetztenbefugnisse gegenüber der Beamtin oder dem Beamten wahrnimmt, führt mit ihr oder ihm vor dem Abschluss der Zielvereinbarung ein Gespräch (Zielvereinbarungsgespräch). 2Dies kann auch durch eine Beauftragte oder einen Beauftragten geschehen. 3Die Beamtin oder der Beamte kann zu dem Gespräch ein Mitglied des Betriebsrates hinzuziehen. 4Zur Vorbereitung auf dieses Gespräch wird der Beamtin oder dem Beamten mindestens zwei Wochen vorher mitgeteilt, welche Ziele vereinbart werden sollen. 5Gleichzeitig wird sie oder er über die Ziele der jeweiligen übergeordneten fachlichen Ebene unterrichtet. 6Die Beamtin oder der Beamte kann eigene Ziele vorschlagen. 7Mit ihr oder ihm werden auch während des Beurteilungszeitraums Gespräche über den Stand der Erreichung der vereinbarten Ziele (Zielerreichungsgespräche) geführt. 8Hierbei soll gegebenenfalls auch darüber gesprochen werden, wie die Ziele besser erreicht werden können.“
Diese Vorschriften tragen offenkundig dem Umstand Rechnung, dass die betroffenen Beamten im Dienste einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts stehen – eine ganz und gar atypische Situation. 41
Beispielsweise § 1a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Bundeslaufbahnverordnung, § 3a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Bundespolizei-Laufbahnverordnung, § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Kriminal-Laufbahnverordnung. 42 Vom 12.12.2005 (BGBl. I S. 3475).
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c) Entwurf eines Strukturreformgesetzes Darüber hinausgehende Planungen sind (bisher) nicht verwirklicht worden. Einen Vorstoß in diese Richtung unternahm der Regierungsentwurf eines Strukturreformgesetzes,43 dessen Art. 3 den Erlass eines „Gesetzes über die Bezahlungsstruktur in Bund und Ländern (Bezahlungsstrukturgesetz)“ vorsah. Dessen § 15 Abs. 2 Satz 1 sollte festlegen, dass die Festsetzung der Leistungsstufen eine Leistungsbewertung aufgrund von Zielvereinbarungen oder strukturierten Bewertungsverfahren voraussetzt. In der Begründung zu dieser Vorschrift führte die Bundesregierung aus:44 „Die Vorschrift stellt klar, dass eine Leistungsbewertung aufgrund von Zielvereinbarungen oder strukturierten Bewertungsverfahren Grundlage für die Vergabe der Leistungsvariablen ist. Leistungsfeststellung und -bewertung müssen nachvollziehbar, transparent und zeitnah erfolgen. In einer Zielvereinbarung können neben den Arbeitszielen auch Verhaltensziele vereinbart werden. Der Einsatz beider Instrumente (Zielvereinbarungen und strukturierte Bewertungsverfahren) trägt den unterschiedlichen Aufgaben-, Organisations- und Personalstrukturen der betroffenen Dienststellen ausreichend Rechnung. Beide Instrumente können auch innerhalb derselben Dienststelle eingesetzt werden. Die konkrete Ausgestaltung der Instrumente obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn. Er hat weitgehende Gestaltungsfreiheit.“
Der Gesetzentwurf fiel dem Grundsatz der Diskontinuität zum Opfer, als der Bundestag auf Wunsch von Bundeskanzler Schröder vorzeitig aufgelöst wurde. Zu jener Zeit steckte der Gesetzentwurf noch in den Ausschüssen des Bundesrates im ersten Durchgang. 2. Begriff und Arten beamtenrechtlicher Zielvereinbarungen Unter einer beamtenrechtlichen Zielvereinbarung soll hier eine Zielvereinbarung verstanden werden, die ein Beamter (im staatsrechtlichen, statusrechtlichen, beamtenrechtlichen Sinne) mit seinem Vorgesetzten oder Dienstvorgesetzten45 abschließt46. Eine für das Beamtenrecht maßgebliche Legaldefinition der Zielvereinbarung gibt es bislang nicht. Die auf Tarifverträge zugeschnittene Begriffs43
Bundesrats-Drucks. 615/5 vom 12.8.2005. Bundesrats-Drucks. 615/5, S. 271; ebenso S. 261 f. zu der Neufassung des § 119 BBG. 45 Im Folgenden ist aus Gründen der Verständlichkeit stets nur vom Vorgesetzten die Rede. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass jedenfalls ein Teil der Vereinbarungen nur der Dienstvorgesetzte abschließen kann. 46 Damit soll nicht die Frage präjudiziert werden, ob die sich aus der Vereinbarung ergebenden Rechte und Pflichten den Vorgesetzten in Person, die Behörde oder die Anstellungskörperschaft treffen. 44
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bestimmung in § 4 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund lässt sich nicht ohne weiteres auf das Beamtenrecht übertragen. Insbesondere erscheint es untunlich, den Begriff der Zielvereinbarung – wie jene Vorschrift es tut – von vornherein auf „verbindliche Abreden“ zu beschränken47, falls damit (privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche) Verträge gemeint sind, deren Erfüllung gerichtlich erzwungen werden kann. Denn dadurch würden a limine informelle Absprachen vom Begriff der Zielvereinbarung ausgeschlossen. Zweckmäßig erscheint es vielmehr, von folgenden Überlegungen auszugehen. Eine Abrede verdient ihren Namen nur dann, wenn sie Ziele festlegt, also Ergebnisse, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreicht werden sollen. Das ist der wesensbestimmende Bestandteil jeder Zielvereinbarung. Hinzutreten können (nicht müssen) weitere Abreden, etwa darüber, welche Kriterien maßgebend dafür sind, ob die Ziele – sei es ganz, sei es teilweise – erreicht oder sogar übertroffen worden sind. Ferner kann u. a. festgelegt werden, ob und ggf. wie sich die Zielerreichung oder Zielverfehlung auf die Dienstbezüge des Beamten auswirken soll, ob er etwa im Erfolgsfalle eine Leistungsprämie oder ein Beförderungsamt erhält oder bei Misserfolg mit Abschlägen rechnen muss. Je nach dem Regelungsgegenstand kann man – außer der üblichen Unterteilung in Leistungs-, Ressourcen-, Verhaltens- und Projektziele – mehrere Arten von Zielvereinbarungen unterscheiden. Zum einen kann man danach differenzieren, ob der Vorgesetzte das Ziel auch ohne Einverständnis des Beamten per Zielvorgabe festsetzen könnte oder nicht. Schließt der Vorgesetzte gleichwohl eine Zielvereinbarung ab, handelt es sich dabei um eine „Zielvereinbarung innerhalb des Weisungsrechts“ im Sinne der arbeitsrechtlichen Terminologie. Andersgeartet sind Absprachen über solche Ziele, die nur im Einvernehmen mit dem Beamten festgesetzt werden können. Zum anderen kann man danach unterscheiden, ob der Vorgesetzte über den Gegenstand der Abrede verfügen darf oder nicht. Nicht verfügen darf er über die ihm kraft Gesetzes obliegenden Pflichten, z. B. die Pflicht zur Aufsicht über die ihm unterstellten Beamten. Dispositionsfreiheit genießt der Vorgesetzte hingegen dann, wenn er nach (Entschließungs- oder Auswahl-) Ermessen handeln darf, wenn beispielsweise mehrere Wege zur Verfügung stehen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
47 Eine derartige Beschränkung auf verbindliche Abreden enthält die Definition des § 18 Abs. 5 Satz 2 TVöD-VKA nicht.
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3. Rechtsnatur beamtenrechtlicher Zielvereinbarungen Über die Frage, welche Rechtsnatur beamtenrechtliche Zielvereinbarungen haben, gehen die Meinungen auseinander. Während Kugele48 sie ohne Problematisierung als öffentlich-rechtliche Verträge qualifiziert, lehnt Hill49 ebendies ab, und zwar mit zweifacher Begründung. Zum einen seien Zielvereinbarungen in allen Fällen nach ihrem Erklärungsgehalt nicht selbst darauf gerichtet, eine Rechtsfolge zu setzen, sondern dienten nur der Vorbereitung von Rechtshandlungen innerhalb der Verwaltung im Innern oder nach außen. Und zum anderen beträfen Zielvereinbarungen die Mitarbeiter lediglich als Amtsträger und Glied der Verwaltung; sie seien auf die Art und Weise der dienstlichen Verrichtung, auf die Gestaltung des Amtsbetriebes und damit lediglich auf die Herbeiführung eines tatsächlichen Erfolgs, nicht auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten gerichtet. Prahl50 lässt den Vertragscharakter am Fehlen der Rechtssubjektivität scheitern. In seiner Eigenschaft als Bediensteter könne der Einzelne keine die Organisation seiner Arbeit betreffenden rechtsverbindlichen Verträge schließen.51 Aulehner52 behauptet, Zielvereinbarungen seien deshalb keine öffentlich-rechtlichen Verträge, weil den Partnern der Rechtsbindungswillen fehle. Gelegentlich wird die Meinung geäußert, Zielvereinbarungen hätten keine rechtliche Durchsetzbarkeit außerhalb ihrer Hierarchiestruktur, keine Bindungswirkung im Außenverhältnis, sondern seien nur im Innenverhältnis verbindlich,53 was damit gemeint ist, bleibt im Dunkeln. Die Suche nach der Rechtsnatur der Zielvereinbarung führt zwangläufig in die Irre, denn die Zielvereinbarung gibt es nicht – es sei denn, man definiert die Zielvereinbarung von vornherein als „verbindliche Abrede“, wie § 4 Abs. 1 Satz 1 LeistungsTV-Bund es tut. Ob eine zwischen einem Be48
D. Kugele, Die Leistungsbesoldung – Entwicklung und Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle, in: ZBR 2007, S. 331 ff., 338. Er hat möglicherweise aber lediglich solche Zielvereinbarungen im Auge, die dem Beamten eine Leistungsprämie in Aussicht stellen, falls er das vereinbarte Ziel erreicht. 49 H. Hill, Zur Rechtsdogmatik von Zielvereinbarungen in Verwaltungen, in: NVwZ 2002, S. 1059 ff., 1062. 50 A. Prahl, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Zielvereinbarungen in der Kommune unter besonderer Berücksichtigung des TVöD, in: VR 2007, S. 253 ff., 256 f. 51 Demgegenüber wird die Rechtssubjektivität von Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht (Anm. 2), S. 461, grundsätzlich bejaht. 52 Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht (Anm. 2), S. 462. In der Zusammenfassung auf S. 466 schreibt er dann allerdings, Zielvereinbarungen könnten dem rechtsförmlichen oder dem informalen Verwaltungshandeln unterfallen. Entscheidend sei der Rechtsbindungswille der Partner. Das ist zutreffend. 53 Biermann, Regelung von Zielvereinbarungen innerhalb der Verwaltung (Anm. 8), S. 8.
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amten und seinem Vorgesetzten abgeschlossene Vereinbarung als öffentlichrechtlicher Vertrag zu qualifizieren ist oder nicht, kann nur im konkreten Fall aufgrund des Inhalts der Vereinbarung und des Rechtsfolgewillens der beiden Parteien entschieden werden. Abgesehen vom Vertragsgegenstand weist der öffentlich-rechtliche die gleichen Merkmale auf wie der bürgerlichrechtliche Vertrag.54 Danach ist der Vertrag ein (mindestens) zweiseitiges Rechtsgeschäft. Als Rechtsgeschäft setzt der Vertrag bei beiden Parteien Rechtsfolgenwillen und Übereinstimmung in diesem Rechtsfolgenwillen voraus. Die Parteien müssen also Rechtsfolgen herbeiführen wollen, und zwar dieselben Rechtsfolgen. Die Rechtsfolgen treten nur deshalb ein, weil sie von den Vertragsparteien gewollt sind. Die rechtsgeschäftliche Regelung kommt demzufolge nur dann zustande, wenn beide Parteien ausdrücklich oder stillschweigend zum Ausdruck gebracht haben, dass sie diese Rechtsfolgen verbindlich wollen. Der öffentlich-rechtliche (Verpflichtungs-)Vertrag55 verpflichtet die Parteien zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassen. Notfalls kann der eine Vertragspartner den anderen mit Hilfe der Gerichte dazu zwingen, sich entsprechend zu verhalten.56 Durch den Rechtsfolgenwillen unterscheidet sich der Vertrag vor allem von der informellen oder informalen Absprache,57 die auch als Gentlemen’s Agreement58 bezeichnet wird. Von ihr spricht man dann, wenn sich die Parteien Leistungen versprechen, sich aber nicht rechtlich binden wollen, wenn 54 Zum Folgenden siehe etwa R. Bork, in: J. von Staudingers Kommentar zum BGB, §§ 134–163, Neubearbeitung, Berlin 2003, Vorbem. zu §§ 145–156, Rn. 2 ff. Zu Begriff und Zustandekommen des öffentlich-rechtlichen Vertrages ferner V. Schlette, Die Verwaltung als Vertragspartner, Tübingen 2000, S. 15 ff. und 441 ff.; C. H. Ule/H.-W. Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, Köln/Berlin/Bonn/München 1995 mit Nachtrag 1998, S. 768 ff. (§ 69 Rn. 2 ff.). 55 Zur Unterscheidung von öffentlich-rechtlichen Verpflichtungs- und Verfügungsverträgen siehe Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht (Anm. 54), S. 755 f. (§ 68 Rn. 15). 56 Näheres dazu bei Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht (Anm. 54), S. 822 ff. (§ 72 Rn. 13 ff.). 57 Schlette, Die Verwaltung als Vertragspartner (Anm. 54), S. 217. Er definiert sie als „Kooperations- und Abstimmungsvorgänge zwischen Verwaltung und Bürger, die zu einem Konsens über beider zukünftiges Verhalten führen, denen aber keine rechtliche Verbindlichkeit zukommen soll“ (S. 217). 58 Grundlegend U. Bahntje, Gentlemen’s Agreement und Abgestimmtes Verhalten, Königstein/Ts. 1982, passim. Er definiert das Gentlemen’s Agreement als „eine vertragsubstituierende nicht rechtlich bindende Vereinbarung von Partnern, die ihre Abrede aus unterschiedlichen Motivationen soweit wie möglich der Rechtsordnung entziehen wollen und sich allein auf das Wort des Partners, sein ausdrücklich oder konkludent gegebenes Versprechen verlassen“ (S. 94, 247). Nach Aulehner, Zielvereinbarungen im öffentlichen Recht (Anm. 2), S. 463, können Agreements „rechtlich
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sie nur „Ehrenschulden“ übernehmen wollen. Solche Vereinbarungen werden u. a. dann getroffen, wenn die Parteien wissen oder vermuten, dass das Recht ihre Vereinbarung nicht als wirksam anerkennen würde, z. B. weil sie gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen würde.59 Erfüllungsansprüche lassen sich aus Gentlemen’s Agreements nicht ableiten; in Betracht kommen jedoch Schadensersatzansprüche. Das schließt es selbstverständlich nicht aus, dass die Parteien – sei es gutgläubig, sei es bösgläubig – Verträge abschließen, die sie nicht abschließen dürfen. Solche Verträge sind zwar unter Umständen nichtig, am Vertragscharakter ändert das indessen nichts. Da die Suche nach der Rechtsnatur der beamtenrechtlichen Zielvereinbarung müßig ist, wenden wir uns der Frage zu, ob Beamter und Vorgesetzter überhaupt befugt sind, Zielvereinbarungen in Gestalt von öffentlichrechtlichen Verträgen abzuschließen oder ob sie lediglich informelle Absprachen treffen dürfen.60 4. Zulässigkeit des Abschlusses beamtenrechtlicher Zielvereinbarungen als öffentlich-rechtliche Verträge Die Frage, ob beamtenrechtliche Zielvereinbarungen als öffentlich-rechtliche Verträge, d.h. als beide Seiten bindende Abreden, abgeschlossen werden dürfen, wirft eine Reihe von Problemen auf. a) Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage Die Judikatur lässt für die Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses nur einen geringen Spielraum. Das Bundesverwaltungsgericht verlangt dafür in seinem Urteil vom 26.11.199261 eine gesetzliche Ermächtigung: unbewehrte, öffentlich-rechtliche Verträge, vertragsähnliche Vereinbarungen ohne Einklagbarkeit oder soziologische Konstrukte“ sein. 59 Bork (Anm. 54), Rn. 3. 60 Nicht erörtert werden kann hier die Frage, ob der Abschluss beamtenrechtlicher Zielvereinbarungen der Mitbestimmung des Personalrats bedarf. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seinem Beschluss vom 6.5.2000 (ESVGH 50, 261–269, hier zitiert nach Juris) die Ansicht vertreten, die dort in Rede stehende Einführung von Mitarbeitergesprächen mit Zielvereinbarung sei eine „Regelung der Ordnung der Dienststelle und des Verhaltens der Beschäftigen“, die nach § 79 Abs. 1 Nr. 12 des baden-württembergischen Landespersonalvertretungsgesetzes der Mitbestimmung des Personalrats unterliege. Zur Frage, ob im privatwirtschaftlichen Bereich die Beteiligung des Betriebsrates geboten ist, siehe Deich, Die rechtliche Beurteilung von Zielvereinbarungen im Arbeitsverhältnis (Anm. 10), S. 315 ff.; V. Rieble/C. Gistel, Betriebsratszugriff auf Zielvereinbarungen?, in: BB 2004, S. 2462 ff.
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„Wesen und Eigenart des Beamtenrechts (Art. 33 Abs. 5 GG) entspricht es, dass der Gesetzgeber für die Regelung des Beamtenverhältnisses, die Verteilung der Rechte und Pflichten allein zuständig und verantwortlich ist; der einzelne Beamte hat keine eigenen rechtlichen Möglichkeiten, auf die nähere Ausgestaltung seines Rechtsverhältnisses einzuwirken; ebensowenig ist er nach hergebrachten Grundsätzen etwa befugt, zur Förderung gemeinsamer Berufsinteressen kollektive wirtschaftliche Kampfmaßnahmen zu ergreifen (. . .). Das gilt ebenso zu Lasten wie zugunsten des Beamten. Somit ist die gesetzliche Regelung der Beamtenpflichten zwar gegebenenfalls einer Konkretisierung durch Verwaltungsakt oder innerdienstliche Weisung des Dienstherrn zugänglich, aber in dem Sinne zwingend und abschließend, dass weder durch Vereinbarung noch durch einseitige Erklärung des Dienstherrn oder des Beamten die gesetzlichen Pflichten abbedungen, in ihrem Inhalt verändert oder gesetzlich nicht vorgesehene Pflichten begründet werden können (. . .). Das Beamtenverhältnis ist daher einer Gestaltung durch Vereinbarung nur insoweit zugänglich, als dafür eine gesetzliche Grundlage besteht. Das gilt nicht zuletzt für die Regelung der finanziellen Pflichten und Rechte, deren sich der Gesetzgeber selbst besonders eingehend und grundsätzlich abschließend angenommen hat. Die ausdrücklichen gesetzlichen Verbote des Verzichts auf die gesetzlich zustehende Besoldung und Versorgung einerseits und ihrer Erhöhung durch Zusicherungen, Vereinbarungen und Vergleiche andererseits (§ 2 Abs. 2, 3 BBesG, § 3 Abs. 2, 3 BeamtVG) sind besonders hervorgehobene Ausprägungen dieses Grundsatzes.“
Dem ist zuzustimmen.62 Nicht nur aus den von Art. 33 Abs. 5 GG beschworenen hergebrachten Grundsätzen, sondern unmittelbar aus jener Vorschrift ergibt sich das Gebot, das Beamtenverhältnis durch Gesetz und nicht etwa durch Tarifverträge und individuelle Abmachungen zwischen dem Beamten und seinem Dienstherrn auszugestalten.63 Zuzugestehen ist zwar, dass auch Tarifverträge und Verträge zwischen Dienstherrn und Beamten „Regelungen“ enthalten können; aber das hat der Grundgesetzgeber angesichts der historischen Entwicklung des deutschen Beamtenrechts mit Sicherheit nicht gemeint. Die verfassungsrechtliche Regelungspflicht bedeutet nicht, dass der parlamentarische Gesetzgeber alle Einzelheiten selbst regeln muss. Ihm ist es vielmehr unbenommen, seine Regelungsmacht auf die Exekutive zu delegieren, soweit es sich nicht um „wesentliche“ Fragen im Sinne der bundes61 BVerwGE 91, 200 ff., 203. Das Gericht hat diese Ausführungen bestätigt in seinem Urteil vom 27.2.2001, Buchholz 232 § 65 BBG Nr. 19 S. 5 (Privatliquidationsrecht beamteter Chefärzte). 62 Zustimmend auch P. Stelkens/H. J. Bonk/M. Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl., München 2001, § 54 Rn. 129 („grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“). 63 Das betonen zutreffend R. Summer, Gedanken zum Gesetzesvorbehalt im Beamtenrecht, in: DÖV 2006, S. 249 ff. = ZBR 2006, S. 120 ff., und H. Wolff, Der Gesetzesvorbehalt im Versorgungsrecht, in: ZBR 2006, S. 331 ff., 332.
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verfassungsgerichtlichen „Wesentlichkeitstheorie“ handelt. Das ist seit eh und je unangefochtene Staatspraxis. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber vertragliche Vereinbarungen zulassen. So gestatten die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder, dass die Dienststelle und der Personalrat Dienstvereinbarungen abschließen, z. B. über Beurteilungsrichtlinien für Beamte, über Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung und Erleichterung des Arbeitsablaufs, über die Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden oder über den Erlaß von Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen und Versetzungen (§ 76 Abs. 2 Nrn. 3, 5, 7 und 8 BPersVG). Angesichts dessen liegt die Annahme nahe, dass der Gesetzgeber auch den Abschluss von Vereinbarungen zwischen dem Dienstherrn und seinen Beamten erlauben darf. Fraglich ist allerdings, wie weit er dabei gehen darf. So wäre es sicherlich mit dem Regelungsauftrag des Art. 33 Abs. 5 GG nicht zu vereinbaren, wenn § 2 BBesG durch eine Bestimmung des Inhalts ersetzt würde, dass die einzelnen Beamten ihre Bezüge frei aushandeln können. Aber zwischen den beiden Polen strikter Gesetzesgebundenheit der Besoldung einerseits und unbegrenzter Vertragsfreiheit andererseits liegt ein weites Feld. Bei dessen Begrenzung wird man dem Gesetzgeber einen erheblichen Ermessensspielraum zugestehen müssen. b) Zulässiger Inhalt von Zielvereinbarungen Wie oben dargestellt, unterscheidet die arbeitsrechtliche Literatur zwischen Zielvereinbarungen innerhalb des Weisungsrechts und solchen außerhalb des Weisungsrechts. Dem entspricht hier die Unterscheidung zwischen Zielvereinbarungen, die die Amtsführung betreffen, und solchen, die dies nicht tun, sondern das Verhalten des Beamten als Person, als Bürger regeln. Die Grenzen, in denen sich Zielvereinbarungen halten müssen, ergeben sich aus den ermächtigenden und anderen gesetzlichen Vorschriften sowie aus dem Grundgesetz, insbesondere aus Art. 33 Abs. 2, 4 und 5 GG. Dafür können hier nur einige Merkposten angegeben werden: Es dürfen keine Ziele festgelegt werden, die nur unter Verstoß gegen Rechts- oder Verwaltungsvorschrift oder gegen die guten Sitten erreicht werden können.64 Die den Beamten obliegende Treuepflicht verbietet die Festlegung von Zielen, die dem Dienstherrn Schäden zufügen. 64 In dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.6.2006, in: NVwZ 2006, S. 1282 f., hier zitiert nach Juris) wird von der Zielvereinbarung einer Polizeidirektion berichtet, mit der die bessere Auslastung der Geschwindigkeitsmessgeräte und die Steigerung der Gesamtzahl der Ahndung von Geschwindigkeitsüberschreitungen angestrebt wurde. Ebenfalls problematisch dürfte die polizeiliche Zielvereinbarung sein, die in dem Urteil des LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 10.5.2006 (Juris) erwähnt wird.
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Plander65 hält es für zulässig, dass der (privatwirtschaftliche) Arbeitgeber auf sein Weisungsrecht verzichtet. Sei das geschehen, könne sich der Arbeitnehmer rechtlich dagegen zur Wehr setzen, wenn der Arbeitgeber gleichwohl Weisungen erteilt. Eine Übertragung auf das Verhältnis Beamter/Vorgesetzter ist ausgeschlossen. Eine derartige Vereinbarung wäre wegen Verstoßes gegen die beamtengesetzlichen Vorschriften zur Gehorsamspflicht wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot unwirksam.
Keine durchschlagenden verfassungsrechtlichen Bedenken bestehe dagegen, die Höhe der Dienstbezüge von der Erreichung bestimmter Ziele abhängig zu machen. Die früher gegen die Einführung von Leistungsprämien und Leistungszulagen geltend gemachten Einwände66 dürfen als überwunden gelten. Prüfungsmaßstab ist insoweit – zumindest in erster Linie – der Alimentationsgrundsatz. Er gebietet dem Dienstherrn, seinen Beamten, dessen unterhaltsberechtigten Angehörigen und Hinterbliebenen einen Unterhalt zu gewähren, der es ihnen ermöglicht, ein Leben zu führen, das dem (zuletzt) innegehabten statusrechtlichen Amt entspricht. Für die Höhe dieses Unterhalts spielt traditionell die Leistung des Beamten keine Rolle. Der fleißige A 13-Beamte bekommt ein ebenso hohes Gehalt wie sein fauler Kollege. Das unterschiedliche Maß an Einsatzbereitschaft und Leistung spielte bisher lediglich eine Rolle bei Beförderungen. Auf diesem Gedanken beruht Art. 33 Abs. 2 GG. Die Beförderung aufgrund der Leistung ist nun aber mit einem Pferdefuß behaftet. Häufig stellt der Beförderungsdienstposten ganz andere Anforderungen als der zuvor innegehabte. Beförderungen wegen der Leistung können deshalb leicht zu Fehlbesetzungen führen.67 Mit gutem Grund misst § 1 der Bundeslaufbahnverordnung der Leistung deshalb eine nur untergeordnete Bedeutung für Personalmaßnahmen bei. Entscheidend für Beförderungen ist weniger die Leistung als vielmehr die menschliche Eigenschaft und fachliche Fähigkeit, die der Beamte möglicherweise erst in einem Beförderungsamt voll zur Geltung bringen kann. Daraus folgt weiter, dass überdurchschnittliche Leistungen nicht stets im Wege der Beförderung belohnt werden können. Es liegt deshalb nahe, derartige Leistungen durch Zahlung von Geld zu honorieren. Im Ergebnis meine ich, dass es mit dem Alimentationsprinzip vereinbar ist, überund unterdurchschnittliche Leistungen bei der Bemessung der Dienstbezüge zu berücksichtigen, sofern eine amtsangemessene Lebensführung gewährleistet ist.68 65 Plander, Die Rechtsnatur arbeitsrechtlicher Zielvereinbarungen (Anm. 3), S. 161. 66 Nachweise bei H. Schnellenbach, Leistungsprämien und Leistungszulagen im öffentlichen Dienst, in: DVBl. 1995, S. 1153 ff., 1153 f. 67 Ein großartiger Pädagoge kann ein miserabler Schulleiter, ein exzellenter Beisitzer ein völlig überforderter Vorsitzender sein. Dieses Phänomen hat unter dem Stichwort Peter-Prinzip vor Jahren einige Popularität erlangt.
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c) Rechtsfähigkeit (Rechtssubjektivität) der Partner der Zielvereinbarung Der Abschluss einer Zielvereinbarung als öffentlich-rechtlicher Vertrag könnte auch daran scheitern, dass einer der Partner nicht rechtsfähig ist. Rechtsfähigkeit (Rechtssubjektivität) genießen grundsätzlich nur natürliche und juristische Personen (des privaten oder des öffentlichen Rechts) sowie – ausnahmsweise – nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und verselbständigte Vermögensmassen, die kraft besonderer gesetzlicher Bestimmung im eigenen Namen Rechte erwerben und Verpflichtungen eingehen können, wie beispielsweise Offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften und das Bundeseisenbahnvermögen.69 Behörden gehören nicht dazu; sie sind lediglich nichtrechtsfähige Organe der Verwaltungsträger (des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde usw.) und demzufolge nicht in der Lage, Partner eines öffentlich-rechtlichen Vertrages zu sein. Daran ändert nichts der Umstand, dass Behörden in Verwaltungsverfahren beteiligtenfähig (§ 11 Nr. 3 VwVfG) und öffentlich-rechtliche Verträge Produkte eines Verwaltungsverfahrens sind (§ 9 VwVfG).70 Diese Grundsätze scheinen auf den ersten Blick für die hier erörterte Konstellation keine Probleme aufzuwerfen, weil sowohl der Beamte als auch sein Vorgesetzter natürliche Personen und demzufolge rechtsfähig sind. Damit würde jedoch übersehen, dass sie beim Abschluss von Zielvereinbarungen nicht als Bürger handeln, sondern als Amtswalter. Das gilt für den Vorgesetzten stets, d.h. ohne Rücksicht auf den Gegenstand der Vereinbarung, und für den Beamten dann, wenn Gegenstand der Vereinbarung seine Amtsgeschäfte sind, wenn – um mit Ule71 zu sprechen – das Be68 So auch H. Landau/M. Steinkühler, Zur Zukunft des Berufsbeamtentums in Deutschland, in: DVBl. 2007, S. 133 ff., 142; L. Kathke, Leistungsfeststellung als Grundlage leistungsorientiert Besoldung, in: ZBR 2006, S. 357 ff., 364 ff.; Kugele, Die Leistungsbesoldung (Anm. 48), S. 337. 69 Das Bundeseisenbahnvermögen ist gemäß § 1 Gesetz zur Zusammenführung und Neugliederung der Bundeseisenbahnen vom 27.12.1993 – BEZNG – (Art. 1 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes) ein nicht rechtsfähiges Sondervermögen des Bundes, das nach § 4 Abs. 1 BEZNG im Rechtsverkehr unter seinem Namen handeln, klagen und verklagt werden kann. Es ist Dienstherr der ehemaligen Bundesbahnbeamten, die der Deutschen Bahn AG zur Dienstleistung zugewiesen worden sind. Der vom Hauptvorstand der Deutsche Bahn AG abgeschlossene „Tarifvertrag Leistungsanreizsystem im personenbedienten Verkauf im Unternehmensbereich Fernverkehr – LAS-TV“ vom 27. März 1998, der nach einer Entscheidung der Deutschen Bahn AG auch für die zugewiesenen Beamten gelten soll, hat im Verhältnis zu diesen Beamten die Funktion einer Verwaltungsvorschrift: OVG NRW, Urteil vom 22.6.2006, in: ZBR 2007, S. 63 ff. 70 Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht (Anm. 54), S. 770 f. (§ 69 Rn. 6); Schlette, Die Verwaltung als Vertragspartner (Anm. 54), S. 438 ff.
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triebsverhältnis betroffen ist. In diesem Falle kann der Beamte mangels Rechtsfähigkeit keine Zielvereinbarung in Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, sondern allenfalls in der Rechtsform einer informellen Absprache abschließen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Vorschriften, die zum Abschluss von Zielvereinbarungen ermächtigen, dem Beamten und seinem Vorgesetzten die partielle Rechtsfähigkeit verleihen. Ob das gewollt ist, muss durch Auslegung der einschlägigen Ermächtigungsvorschriften ermittelt werden. Im Zweifel wird das zu verneinen sein. Denn es ist schwer vorstellbar, dass der Beamte seine sich auf die Amtsausübung bezogenen Ansprüche gegen seinen Vorgesetzten verwaltungsgerichtlich soll durchsetzen können. Geht es hingegen um solche Zielvereinbarungen, die das Grundverhältnis betreffen (z. B. die Bezahlung), handelt der Beamte als Bürger und ist demzufolge rechtsfähig, d.h. fähig, im eigenen Namen eine Zielvereinbarung in Gestalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages abzuschließen. Sein Vertragspartner ist jedoch weder sein Vorgesetzter noch seine Behörde, sondern seine Anstellungskörperschaft. 5. Beamtenrechtliche Zielvereinbarungen in Gestalt informeller Absprachen Wie bereits mehrfach angeklungen ist, können der Beamte und sein Vorgesetzter eine Zielvereinbarung nicht nur als öffentlich-rechtlichen Vertrag, sondern auch in Form einer informellen Absprache (Gentlemen’s Agreement) abschließen. Einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfen solche Abreden nicht. Dieser Weg kann sowohl bei Vereinbarungen über die Amtsausübung (Betriebsverhältnis) als auch über das Grundverhältnis beschritten werden. Soweit es um das Betriebsverhältnis geht, können Zielvereinbarungen ausschließlich als informelle Absprachen abgeschlossen werden, weil der öffentlich-rechtliche Vertrag hier mangels Rechtssubjektivität nicht zur Verfügung steht. Auch die in diese Rechtsform gekleideten Zielvereinbarungen dürfen – ungeachtet ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit – keine Ziele festsetzen, die nur unter Verstoß gegen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder gegen die guten Sitten erreicht werden können, oder die geeignet sind, den Dienstherrn zu schädigen.
71 C. H. Ule, Das besondere Gewaltverhältnis, Mitbericht auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer in Mainz am 12.10.1956, in: VVDStRL 15 (1957), S. 133 ff., insbes. S. 152 ff.
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VI. Resümee Unter beamtenrechtlichen Zielvereinbarungen werden hier Abreden eines Beamten mit seinem Vorgesetzten oder Dienstvorgesetzten des Inhalts verstanden, dass der Beamte innerhalb eines bestimmten Zeitraums ein bestimmtes Ziel (Ergebnis) oder mehrere Ziele erreichen soll.72 Damit verbunden werden können Vereinbarungen darüber, welche positiven oder negativen Konsequenzen die Erreichung oder Verfehlung der Ziele für den Status oder die Besoldung des Beamten haben soll. Beamtenrechtliche Zielvereinbarungen sind, je nachdem, ob die Partner mit oder ohne Rechtsbindungswillen handeln, öffentlich-rechtliche Verträge oder lediglich informelle Absprachen (Gentlemen’s Agreements). Zum Abschluss einer Zielvereinbarung in Gestalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages bedarf es einer gesetzlichen Ermächtigung. Ohne Rücksicht darauf, welche der beiden Rechtsformen gewählt wird, dürfen Zielvereinbarungen keine Ziele festlegen, die der Beamte nur unter Verstoß gegen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erreichen kann.
72 Dies ist keine Real-, sondern eine Nominaldefinition, also eine sprachliche Festlegung, die nicht richtig oder falsch, sondern nur zweckmäßig oder unzweckmäßig sein kann. Zur Unterscheidung von Nominal- und Realdefinitionen siehe H.-W. Laubinger, Die isolierte Anfechtungsklage, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes – Festschrift für Menger, Köln/Berlin/Bonn/München 1985, S. 443 ff., Fn. 9 auf S. 445 f. Zu den verschiedenen Definitionsarten vgl. K. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., Köln/Berlin/Bonn/München 2001, S. 25–31; H. Seiffert, Einführung in die Hermeneutik, Tübingen 1992, S. 124–126; G. Radnitzky/H. Seiffert, Artikel „Definition“, in: Seiffert/Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1992, S. 27–33; H. Blasius/H. Büchner, Verwaltungsrechtliche Methodenlehre, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1984, S. 150 f.
Leistungsbezahlung im öffentlichen Sektor unter dem Regime der „Kostenneutralität“: Warum sie nicht wirklich funktionieren kann Eine Analyse mit Hilfe der Prinzipal-Agent-Theorie Holger Mühlenkamp I. Einleitung Die Forderung nach Leistungsentgelten im öffentlichen Sektor entspricht dem heutigen Zeitgeist. Sie ist allerdings nicht neu. Schon 1973 postulierte die damals eingesetzte Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts1 die Einführung von befristeten Leistungszulagen. Es dauerte über zwei Jahrzehnte, bis dieser Forderung erstmals im Rahmen der sog. kleinen Dienstrechtsreform 1997 nachgegeben wurde und in der A-Besoldung Leistungskomponenten eingeführt wurden. 2002 wurden mit dem Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung (ProfBesReformG) für Professoren im öffentlichen Dienst Leistungsbezüge eingeführt. 2005 einigten sich schließlich die Tarifpartner im Rahmen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) und 2006 mit der Vereinbarung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) auf leistungsbezogene Entgelte auch für Angestellte des öffentlichen Dienstes. Ein – wie auch im Verlauf der nachfolgenden Analyse deutlich wird – sehr bedeutsamer Aspekt bei der Einführung von Leistungsentgelten im öffentlichen Sektor Deutschlands ist die sog. „Kostenneutralität“, d.h. die Konstanthaltung der Personalausgaben. Demzufolge werden leistungs- oder ergebnisabhängige Entgeltbestandteile durch eine Kürzung der fixen Entgeltbestandteile finanziert. Als Ziele der Einführung von Leistungsentgelten im öffentlichen Sektor werden vor allem die Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der öffentlichen Aufgabenerfüllung bzw. der öffentlichen Dienstleistungen sowie die Verbesserung der Motivation, Leistungsbereitschaft, Eigenverant1 Vgl. Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Bericht der Kommission, Baden-Baden 1973.
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wortung und Führungskompetenz der Beschäftigten genannt.2 Sofern die vier letztgenannten Ziele keinen Selbstzweck darstellen, dürften sie letztlich den beiden erstgenannten Zielen dienen. Allerdings sind Qualität und Wirtschaftlichkeit recht unbestimmte Begriffe, die einer Konkretisierung bedürfen. Im vorliegenden Kontext dürfte Wirtschaftlichkeit (Arbeits-)Produktivität und Kosteneffizienz meinen. Qualität kann vieles bedeuten. Darüber kann an dieser Stelle nicht spekuliert werden. Bei aller Popularität des Themas und vielen praxisorientierten Abhandlungen ist dem Verfasser – mit Ausnahme des Hochschulsektors – bisher keine analytisch-wissenschaftliche Untersuchung der jetzt im öffentlichen Dienst Deutschlands zu praktizierenden Entgeltsysteme bekannt. Der vorliegende Beitrag zielt in diese Lücke. Als Instrument der hier vorgenommenen Analyse dient die im Bereich der Wirtschaftswissenschaften etablierte und für den Untersuchungsgegenstand einschlägige sog. Prinzipal-Agent-Theorie. Vor der Untersuchung ist jedoch der rechtlich-instrumentelle Rahmen zur Entgeltbestimmung vorzustellen. Im zweiten Schritt werden wesentliche Erkenntnisse aus einem prinzipal-agent-theoretischen Standardmodell dargelegt. Drittens werden die daraus entstehenden Überlegungen auf die Besoldungs- bzw. Entgeltreformen im öffentlichen Dienst übertragen und viertens diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit. II. Rechtlich-instrumenteller Rahmen Das Beamtenrecht und die tarifvertraglichen Regeln kennen drei bzw. vier Leistungskomponenten. Es handelt sich erstens um die Möglichkeit eines vorzeitigen oder auch gehemmten Aufstiegs in die nächsthöhere (dienst-)altersabhängige Besoldungsstufe (sog. Leistungsstufe bzw. Stufenaufstieg), zweitens um einmalige Leistungsprämien und drittens um zeitlich befristete Leistungszulagen.3 Im Geltungsbereich des TVöD für die Vereini2 Vgl. das Vorblatt zum 2. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechts (Dienstrechtsneuordnungsgesetz – DNeuG) v. 01.06.07, die Vorbemerkungen zum Tarifvertrag über das Leistungsentgelt für die Beschäftigten des Bundes (LeistungsTV-Bund) v. 25.08.2006 und § 18 Abs. 1 VKA des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) v. 13.09.2005. 3 Tatsächlich hat jedoch ein Großteil der Bundesländer keine Leistungsstufenund/oder Leistungsprämienverordnungen erlassen bzw. wendet diese nicht an (vgl. Bundesministerium des Innern, Leistungsbezahlung bei Bund und Ländern, 2006, Anlage 1, URL: http://www.bmi.bund.de, 01.12.2006), so dass in vielen Bundesländern bisher von der Möglichkeit der Leistungsbezahlung in der A-Besoldung kein oder nur wenig Gebrauch gemacht wurde. Im Entwurf des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes ist für Leistungsstufen, Leistungsprämien und Leistungszulagen ein Vergabebudget vorgesehen, so dass bei dessen Realisation ein Ausschüttungszwang erzeugt wird.
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gung der kommunalen Arbeitgeberverbände besteht darüber hinaus die Möglichkeit zur Zahlung einer Erfolgsprämie in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg einer Einrichtung.4 Im Beamtenrecht wurden (und werden voraussichtlich auch weiterhin) Leistungsprämien und -zulagen sowohl nach der Höhe als auch bezüglich des Empfängerkreises deutlich begrenzt. So dürfen Leistungsprämien das Anfangsgrundgehalt der Besoldungsgruppe und Leistungszulagen 7% des Anfangsgrundgehalts nicht übersteigen. Maximal 15% der Beamten eines Dienstherrn können in den Genuss einer Leistungskomponente kommen.5 Im Geltungsbereich des Tarifrechts – also für Arbeiter und Angestellte bzw. jetzt Arbeitnehmer(innen) – ist der Kreis der Empfänger von Leistungsstufen und Leistungsentgelten nicht von vornherein eingeschränkt. Allerdings werden die Details über Art und Umfang der Festlegung individueller Leistungsentgelte in landesbezirklichen Tarifvereinbarungen bzw. in Dienst- und Betriebsvereinbarungen geregelt. Dort können Obergrenzen für individuelle Leistungsentgelte festgelegt6 und auch der Empfängerkreis eingeschränkt werden.7 Die für die Leistungskomponenten zur Verfügung stehende Finanzmasse ist zumindest derzeit äußerst gering. Im Tarifbereich beläuft sich das Volumen für die Leistungsvergütung (Leistungszulagen und Leistungsprämien) zur Zeit auf 1% der ständigen Monatsentgelte. Es ist beabsichtigt, diesen Anteil im Zeitablauf auf 8% der Entgeltsumme zu steigern. Für die „Leistungsbezahlung“ von Bundesbeamten – hier sogar einschließlich der Leistungsstufen – sollen anfangs nur 0,3% der Gesamtbesoldungsausgaben zur Verfügung stehen. Später soll sich dieser Satz um die alljährlich im Rahmen zukünftiger Besoldungsanpassungen bereitgestellten Mittel erhöhen.8 Als Instrumente der Leistungsfeststellung werden a) Zielvereinbarungen und b) systematische Leistungsbewertungen eingesetzt.9 Im ersten Fall sind 4 An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass die zunehmende Verbreitung der doppelten Buchführung auch in der öffentlichen Verwaltung einen Erfolgs- bzw. Ergebnisausweis ermöglicht. 5 Im Bereich der Beamtenbesoldung wird es infolge der Föderalismusreform 2006 in Zukunft bundes- und länderspezifische Regelungen geben. Nach dem derzeit vorliegenden Entwurf über ein Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechts (Dienstrechtsneuordnungsgesetz – DNeuG) wird es bezüglich der eben genannten Beschränkungen auf Bundesebene nur minimale Änderungen geben. 6 Diese Möglichkeit wird in § 10 Abs. 1 LeistungsTV-Bund explizit erwähnt. 7 Vorliegende Musterdienstvereinbarungen sehen eine Beschränkung von Leistungsentgelten auf Beschäftigte mit mindestens durchschnittlichen Beurteilungen vor. 8 Vgl. § 42a Abs. 4 der geplanten Neufassung des Bundesbesoldungsgesetzes.
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verschiedene Zielerreichungsgrade und im zweiten Fall verschiedene Bewertungsstufen zu definieren. Jedem Zielerreichungsgrad bzw. jeder Bewertungsstufe ist eine mit zunehmendem Zielerreichungsgrad bzw. besserer Bewertung steigende Punktzahl zuzuordnen.10 Die für Leistungsentgelte insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel werden entsprechend dem Anteil der Beschäftigten in den einzelnen Entgeltgruppen, zusammengefasst nach Untergruppen, verteilt. Jeder in die Wertung kommende Mitarbeiter erhält ein Leistungsentgelt entsprechend dem Produkt aus seiner von der individuellen Bewertung abhängigen Punktzahl und dem Punktwert. Der Punktwert ergibt sich aus der Division der untergruppenspezifischen Entgeltsumme durch die Summe der von den Mitarbeitern dieser Gruppe erreichten bewertungsrelevanten Punkte. Bereits an dieser Stelle lassen sich erste Implikationen der beschriebenen Vorgehensweise ableiten. Ohne begrenzende Vorschriften wird es zu einer „Punkteinflation“ kommen, d.h. Vorgesetzte werden zu einer guten Benotung neigen. Aufgrund dessen werden selbst bei der Festlegung von Hürden wie einer mindestens durchschnittlichen Bewertung immer mehr Arbeitnehmer in den Genuss des Leistungsentgeltes kommen (dies gilt aufgrund der oben beschriebenen 15%-Grenze nicht für Beamte). Dadurch fällt bei konstantem Budget der Punktwert und damit der Leistungsanreiz. III. Theoretische Grundlagen – Ein Standardmodell der Prinzipal-Agent-Theorie Innerhalb der Ökonomik liefert die Prinzipal-Agent-Theorie das theoretische Gerüst für die Analyse einer leistungs- oder genauer einer ergebnisorientierten Bezahlung. Die Prinzipal-Agent-Theorie beschäftigt sich mit Delegations- bzw. Beauftragungsverhältnissen – wie z. B. zwischen Anteilseignern und Managern oder zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ein Auftraggeber wird als „Prinzipal“ und ein Auftragnehmer (Beauftragter) wird als „Agent“ bezeichnet. Im einfachsten Fall wird die Beziehung zwischen einem Prinzipal und einem Agenten analysiert.11 9
Vgl. § 3 LeistungsTV-Bund und § 18 VKA Abs. 5 TVöD. Der LeistungsTVBund sieht auch die Möglichkeit einer Kombination von a) und b) vor. 10 Im Rahmen des TVöD bestehen laut Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 der leistungsbezogene Stufenaufstieg und die Leistungsentgelte unabhängig voneinander und dienen unterschiedlichen Zielen. Leistungsbezogene Stufenaufstiege unterstützen danach insbesondere die Anliegen der Personalentwicklung. Gleichwohl soll nach § 14 der Musterdienstvereinbarung die im Rahmen der zur Bestimmung der Leistungsentgelte vorgenommene Leistungsbewertung Anlass zur Prüfung eines vorweggenommenen Stufenaufstiegs geben. Nach Gewerkschaftsvorstellungen soll die Leistungsbewertung für Arbeitnehmer auch auf Beamte angewendet werden.
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Das grundsätzliche Problem von Beauftragungsverhältnissen liegt in dem unterschiedlichen Grad der Informiertheit von Prinzipal und Agent (sog. Informationsasymmetrien). Gewöhnlicherweise weiß der Agent mehr über den Umfang seiner Bemühungen und die Qualität seiner Arbeit als der Prinzipal. Anders formuliert: Der Prinzipal kennt nicht oder zumindest nicht hinreichend genau den Arbeitseinsatz, die Sorgfalt, Umsicht etc. (im folgenden als „Anstrengung“ oder „Arbeitseinsatz“ bezeichnet) des Agenten. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, ein Entgelt zu vereinbaren, welches allein von der Anstrengung des Agenten abhängt.12 Hieraus entstünde kein Problem, wenn der Agent die Ziele des Prinzipals exakt kennen und ohne Eigeninteressen quasi selbstlos dem Prinzipal dienen würde. Die Prinzipal-Agent-Theorie geht allerdings davon aus, dass der Agent unter dem Deckmantel der Informationsasymmetrie seine eigenen Interessen zu Lasten des Prinzipals verfolgt, indem er z. B. seine Anstrengungen minimiert oder den Prinzipal über die Umstände täuscht. Die nahe liegende und von der Prinzipal-Agent-Theorie aufgenommene Idee zur Lösung dieses Problems besteht in der Kopplung des Entgelts des Agenten an ein von Agent und Prinzipal (sowie Dritten) gleichermaßen und unstreitig beobachtbares (Arbeits-)Ergebnis. So kann man z. B. Managergehälter an den (an Börsen beobachtbaren) Unternehmenswert und die Bezahlung von Mitarbeitern an die von ihnen generierten Umsätze, die Zahl einzelner Verrichtungen oder die Zahl der hergestellten Produkte binden. Formaler Ausgangspunkt prinzipal-agent-theoretischer Überlegungen sind zumeist lineare Entgeltsysteme, bei denen sich das Entgelt (Gehalt, Einkommen etc.) y des Agenten aus einer Basiszahlung (Grundgehalt o. ä.) a und einer linear-ergebnisabhängigen Komponente b x zusammensetzt:13 È1ê
y ã a þ b x:
x bildet den Output bzw. die „Ergebnismenge“ ab. b wird als „Anreizintensität“ bezeichnet, weil mit dieser Variablen der Zusammenhang zwi11 Daneben existieren natürlich auch Modellierungen mit mehreren Agenten, mehreren Prinzipalen, mehrstufigen Prinzipal-Agent-Beziehungen oder Teams von Agenten. Für eine ausführlichere Darstellung verschiedener Modelltypen vgl. z. B. M. Kräkel, Organisation und Management, 3. Aufl., Tübingen 2007. 12 Selbst wenn der Prinzipal die gleichen Informationen wie der Agent hätte bzw. die Anstrengung des Agenten genau beobachten könnte, garantiert dies nicht die Möglichkeit des Abschlusses eines durchsetzbaren Vertrages. Entscheidend für die Durchsetzbarkeit von Verträgen ist, dass Außenstehende (ordentliche Gerichte oder Schiedsgerichte) die Vertragsinhalte und die realisierten Zustände der Welt (hier die Anstrengung des Agenten) verifizieren können. 13 Die folgende Darstellung erfolgt in Anlehnung an P. Milgrom/J. Roberts, Economics, Organization and Management, Englewood Cliffs 1992, S. 214 ff.
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schen Einkommen und Ergebnis gesteuert wird. Je größer (kleiner) b, desto enger (geringer) ist die Bindung zwischen Einkommen und Ergebnis. Die Bindung des Einkommens an das Ergebnis impliziert für den Agenten ein Einkommensrisiko, wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass das Ergebnis nicht nur von den Bemühungen des Agenten, sondern auch von äußeren Einflüssen abhängt, die er nicht oder nur in begrenztem Maße beherrschen kann. Nennen wir diese äußeren Einflüsse im Folgenden „Zufall“. Mathematisch ist x dann eine Funktion der Anstrengung des Agenten e und einer Zufallsvariablen e.14 Wir unterstellen im Folgenden: È2ê
x ã e þ e:
Der Prinzipal kann nur x, jedoch nicht e und e separat beobachten. Unter Berücksichtigung von Gleichung (1) folgt: È3ê
y ã a þ b Èe þ eê:
Da wir für e einen Erwartungswert von 0 annehmen, beträgt der Erwartungswert des Agenteneinkommens: È4ê
EÈyê ã a þ b e:
Das heißt, im Durchschnitt oder im Mittel darf der Agent ein Einkommen in Höhe von y ã a þ be erwarten – aber eben nur im Durchschnitt. Tatsächlich wird er aufgrund des „Ergebniszufalls“ in den meisten Fällen ein Einkommen realisieren, welches über oder unter diesem Erwartungswert liegt. Der Agent trägt also ein Einkommensrisiko, welches um so größer ist, je größer die Streuung oder Varianz von e und je größer die Anreizintensität b ist. Falls der Agent risikoscheu (risikoavers) ist, was üblicherweise angenommen wird und sich auch empirisch bestätigen lässt, bedeutet die Übernahme dieses Risikos für den Agenten einen Nutzenverlust.15 Nutzenverluste durch 14
Üblicherweise wird angenommen, dass e normalverteilt ist, mit dem Erwartungswert EÈeê ã 0 und der Varianz VarÈeê ã s e , also e ® NÈ0; s e ê. 15 Nehmen wir an, Sie hätten die Wahl zwischen einer Lotterie mit einem sicheren Gewinn in Höhe von 2.000 e zuzüglich einer Zusatzprämie ebenfalls in Höhe von 2.000 e mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 50% sowie einem auf jeden Fall garantierten Betrag in Höhe von 3.000 e. Der Erwartungswert der Lotterie beträgt exakt 2.000 + 0,5 2.000 ã 3.000 e. Die allermeisten Leser werden die garantierten 3.000 e dieser Lotterie, welche zwar einen Erwartungswert von 3.000 e hat, aber tatsächlich mit gleich großer Wahrscheinlichkeit entweder 2.000 oder 4.000 e ergibt, vorziehen. Sie sind also risikoavers. Arbeitnehmer, deren Gehalt sich aus fixen und zufallsabhängigen, variablen Bestandteilen zusammensetzt, sind analog dazu quasi einer „Einkommenslotterie“ ausgesetzt. Sie werden im Regelfall ein Festein-
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die Übernahme von Risiken werden als „Risikokosten“ bezeichnet. Die Höhe der Risikokosten bestimmt sich aus der Differenz zwischen dem Einkommenserwartungswert und dem sog. Sicherheitsäquivalent. Das Sicherheitsäquivalent S ist der „sichere“ Geldbetrag, der aus Sicht des Agenten den gleichen Nutzen stiftet wie die Einkommenslotterie bzw. gleichwertig mit der Einkommenslotterie ist. Bei Risikoaversion ist das Sicherheitsäquivalent kleiner als der Einkommenserwartungswert. Der Geldbetrag, der den Agenten für die Übernahme des Einkommensrisikos entschädigt, nennt man Risikoprämie. Sie entspricht den Risikokosten des Agenten.16 Dann gilt: È5ê
Risikokosten ã Risikopr¨amie ã EÈyê S:17
Es lässt sich zeigen, dass die Risikoprämie durch den Ausdruck 0;5 r VarÈyê approximiert werden kann.18 Dann gilt unter Berücksichtigung von (5): È6ê
S ã EÈyê 0;5 r VarÈyê:
r entspricht der individuellen Risikoneigung des Agenten. Je größer (kleiner) r, desto größer (kleiner) ist die persönliche Risikoaversion des Agenten. VarÈyê gibt die Varianz bzw. Streuung des Einkommens wieder. Je größer (kleiner) VarÈyê, desto größer (kleiner) sind die Einkommensschwankungen und damit das objektive Einkommensrisiko. Berücksichtigen wir jetzt noch die von e abhängenden „Anstrengungskosten“ des Agenten KÈeê,19 können wir unter Berücksichtigung von (4) und (6) das Sicherheitsäquivalent des Agenten SA 20 durch folgenden Ausdruck beschreiben: kommen in Höhe des Erwartungswertes einer Einkommenslotterie der Einkommenslotterie selbst vorziehen. 16 Man kann es auch umgekehrt formulieren: Die Risikoprämie ist der Betrag, den der Agent zur Abwendung des Risikos maximal zu zahlen bereit wäre. 17 Bezogen auf die in der vorletzten Fußnote genannte Lotterie kann sich jeder Leser die Frage stellen, bei welchem sicheren Geldbetrag er zwischen diesem Betrag und der Einkommenslotterie indifferent ist. Dieser Betrag entspricht dem Sicherheitsäquivalent. Falls jemand beispielsweise indifferent ist zwischen einem garantiertem Einkommen in Höhe von 2.900 e und der genannten Einkommenslotterie, betragen seine Risikokosten EÈyê – S = 3.000 – 2.900 = 100 e. Man müsste ihm 100 e zahlen, z. B. indem man die Basiszahlung auf 2.100 e erhöht, um ihn für die Risikoübernahme zu entschädigen. 18 Vgl. z. B. Kräkel, Organisation und Management (Anm. 11), S. 70 ff. 19 Das ergebnisabhängige Entgeltsystem bürdet dem Agenten nicht nur ein Einkommensrisiko, sondern auch Anstrengungen auf. Anstrengungen bzw. „Arbeitsleid“ bedeuten normalerweise Nutzenverluste, die sich wiederum grundsätzlich in Geld ausdrücken lassen. 20 Zur Unterscheidung der Sicherheitsäquivalente von Agent und Prinzipal verwenden wir im Folgenden die Indizes A und P.
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È7ê
SA ã a þ b e KÈeê 0;5 r b2 VarÈeê:
Für eine Gesamtbetrachtung müssen wir jetzt noch den Prinzipal einbeziehen. Wir gehen davon aus, dass der Prinzipal risikoneutral eingestellt ist. Begründen lässt sich diese Annahme damit, dass der Prinzipal (Arbeitgeber, Staat bzw. die dahinter stehenden Anteilseigner, Bürger) am Ergebnis der Aktivitäten vieler Agenten (mit unabhängigen Ergebnissen) beteiligt ist, und demzufolge – anders als der Agent – sein Risiko streuen kann. In der formalen Darstellung bedeutet Risikoneutralität, dass r den Wert 0 annimmt und damit dem Prinzipal keine Risikokosten entstehen. Das Sicherheitsäquivalent SP des risikoneutralen Prinzipals beläuft sich auf den zu erwartenden „Gewinn“ oder monetarisierten Nutzen des Prinzipals aus den Aktivitäten des Agenten GÈeê abzüglich des voraussichtlich an den Agenten zu zahlenden Entgelts: È8ê
SP ã GÈeê Èa þ b eê:
Ein wohlfahrtsoptimales Anreizschema maximiert das Sicherheitsäquivalent über Agent und Prinzipal Stotal ã SA þ SP . Also ist hier die Differenz zwischen dem durch den Agenten erzeugten Gewinn bzw. Nutzen sowie seinen Anstrengungs- und Risikokosten zu maximieren: È9ê
max !
Stotal ã GÈeê KÈeê 0;5 r b2 VarÈeê:
Aus (9) folgt: Das kollektive Sicherheitsäquivalent von Prinzipal und Agent (interpretiert als Indikator für den kollektiven Nutzen bzw. die Wohlfahrt) kann solange gesteigert werden, wie der Gewinnzuwachs des Prinzipals durch die Mehranstrengung des Agenten größer ist als die zusätzlichen Anstrengungs- und Risikokosten des Agenten. Im Optimum stimmen Grenzgewinn des Prinzipals und Grenzkosten des Agenten überein. Aus dem Modell wird deutlich, dass ergebnisorientierte Entgeltsysteme, die der Leistungssteigerung von Agenten dienen sollen, den Agenten neben Anstrengungskosten zugleich auch Risikokosten auferlegen. Je größer der Leistungsanreiz (hier die Anreizintensität b), desto größer sind nicht nur die Anstrengungen,21 sondern auch das Risiko und damit die Risikokosten des Agenten. Unter dem Gesichtspunkt der optimalen Risikoteilung sollte je21 Der Agent wird gemäß Gleichung (7) ein Anstrengungsniveau wählen, bei dem sein Zusatzeinkommen durch vermehrte Anstrengungen mit den Grenzanstrengungskosten übereinstimmt, also die Bedingung b ã K 0 Èeê erfüllt ist. Es ist offenkundig, dass dann das Anstrengungsniveau mit b steigt. Die Änderung der Anstrengung des Agenten infolge von Änderungen der Anreizintensität wird auch als Reaktionsfunktion des Agenten bezeichnet.
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doch derjenige das Risiko tragen, der die geringsten Risikokosten hat. In unserem Falle wäre dies der Prinzipal. Da er aufgrund seiner Risikoneutralität überhaupt keine Risikokosten hat, wäre es unter Risikokostengesichtspunkten optimal, ihm das gesamte Risiko aufzubürden und dem Agenten ein Festgehalt zu zahlen. Letzteres würde jedoch entsprechend dem Paradigma der Prinzipal-Agent-Theorie die Anstrengungen des Agenten unterminieren. Das optimale Entgeltsystem muss also einen Kompromiss zwischen Anreizen und Risikoverteilung finden. Aus dem obigen Modell lassen sich darüber hinaus verschiedene Prinzipien der Gestaltung von Entgeltsystemen ableiten.22 Wenn man beispielsweise die optimale Anreizintensität b bestimmen möchte, erhält man folgende Optimalitätsbedingung: È10ê
bã
G0 Èeê : 1 þ r VarÈxê K 00 Èeê
Dieser vielleicht auf den ersten Blick kompliziert erscheinende Ausdruck ist jedoch bei genauerem Hinsehen gut interpretierbar. Er besagt, dass die optimale Anreizintensität erstens vom Grenzertrag der Anstrengung des Agenten G0 Èeê abhängt. Je größer G0 Èeê, desto größer sollte unter sonst gleichen Umständen („ceteris paribus“ – c. p.) die Anreizintensität sein. Zweitens sollte die Anreizintensität c. p. umso geringer sein, je größer die Risikoaversion des Agenten r ist. Das gleiche gilt drittens für die Ergebnisstreuung: Bei größerer Streuung ist c. p. eine geringere Anreizintensität zu wählen als im gegenteiligen Fall. Viertens sinkt c. p. die optimale Anreizintensität mit dem Wert der zweiten Ableitung der Anstrengungskostenfunktion des Agenten K 00 Èeê. K 00 Èeê zeigt die Änderung der Grenzanstrengungskosten und damit die Reaktion des Agenten auf Anreize an. Mit steigender (sinkender) Änderung der Grenzanstrengungskosten nimmt die Reaktion des Agenten auf Anreize ab (zu). Je größer (kleiner) die Reaktion des Agenten auf Anreize ist, desto größer (kleiner) sollte c. p. die Anreizintensität sein. In der Praxis wird man b mangels Daten nicht exakt bestimmen können. Der Wert des Modells besteht deshalb auch nicht darin, b errechnen zu können. Vielmehr zeigt uns das Modell zum einen, auf welche Parameter („Stellschrauben“) es auch in der Praxis ankommt. Zweitens verdeutlicht die modelltheoretische Darstellung die Wirkungsrichtung der Parameter.
22 Im Einzelnen sei dazu auf Milgrom/Roberts, Economics, Organization and Management (Anm. 13), S. 218 ff. verwiesen.
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IV. Übertragung der Erkenntnisse aus dem Standardmodell auf die Reform der Beschäftigtenbezahlung im öffentlichen Dienst Die Leistungsentgelte im öffentlichen Sektor stellen in der Tat ein lineares Entgeltsystem dar. Neben einem Basisgehalt wird eine Leistungskomponente gezahlt, deren Höhe sich aus einem Punktwert (entspricht der Anreizintensität b) und einer Ergebnisvariablen (entspricht x) bestimmt. Daher lässt sich das neue Entgeltsystem durch das im vorangehenden Abschnitt verwendete Modell abbilden. Aufgrund der vorangehenden Modellierung ist es kaum vorstellbar, dass es unter dem zu beobachtenden Regime konstanter Personalausgaben möglich ist, die Agenten (Beschäftigten im öffentlichen Dienst) für Mehranstrengungen und Ergebnis- bzw. Entgeltrisiken zu entschädigen. Stellen wir uns dazu einen repräsentativen Beschäftigten im öffentlichen Dienst vor. Vor der Entgeltreform hatte er ein Festeinkommen in Höhe von a alt , d.h. y ã a alt . Das Einkommen nach der Entgeltreform beträgt y neu ã a neu þ b e, wobei a alt > a neu . Daraus folgt: alt
È11ê
a alt ã a neu þ b e :
Der Agent kann das alte Entgeltniveau wegen a alt > a neu nur erreichen, wenn er eine bestimmte Anstrengung e > 0 an den Tag legt. Anstrengungen über e hinaus können wegen des Budgetdeckels nicht entlohnt werden, so dass es für den Agenten rational ist, seine Anstrengungen nicht über e hinaus auszuweiten. Die Höhe von e wird über a neu und b bestimmt. Das tatsächlich vom Agenten gewählte Anstrengungsniveau hängt von seinen Grenzanstrengungskosten K 0 Èeê ab. Falls K 0 Èe ê > b, wird der Agent ein Anstrengungsniveau unterhalb von e wählen und sein vorheriges Einkommen nicht erreichen. Das Sicherheitsäquivalent für das alte Entgelt lautet S alt ã a alt . Das neue Sicherheitsäquivalent beläuft sich auf S neu ã a neu þ b e KÈeê 0;5 r b2 VarÈeê. Beim Anstrengungsniveau e entspricht der Erwartungswert des neuen Einkommens dem alten Einkommen (s. Gleichung 11). Daher kann man für das neue Sicherheitsäquivalent bei e auch schreiben: È12ê
S neu ã a alt KÈe ê 0;5 r b2 VarÈeê:
Da a alt ã S alt , kann man (12) umformulieren zu: È12aê
S neu ã S alt KÈe ê 0;5 r b2 VarÈeê:
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Wenn der Agent das gleiche Erwartungseinkommen wie vor der Entgeltumstellung erreichen möchte und e wählt, ist der Nutzen aus dem neuen Entgeltsystem aufgrund der positiven Anstrengungs- und Risikokosten geringer als vorher. Falls K 0 Èe ê > b wird der Agent nicht nur ein geringeres Einkommen als vorher, sondern darüber hinaus Anstrengungs- und Risikokosten haben. Würde der Agent gar keine Anstrengung zeigen, d.h. e ã 0 wählen, nähme s neu den Wert a neu an. Der Agent hätte in diesem Fall zwar keine Anstrengungs- und Risikokosten, aber wegen b e ã 0 ein geringeres Einkommen als vorher. Mit anderen Worten: Der Agent ist bei jedem Anstrengungsniveau schlechter gestellt als vorher, weil er für seine Bemühungen und das Einkommensrisiko nicht entschädigt wird. Dies ließe sich nur ändern, wenn: È13ê
a neu þ b e ã a alt þ KÈeê þ 0;5 r b2 VarÈeê bzw: a neu þ b e > a alt :
Das zu erwartende Einkommen muss also unter dem neuen Regime höher sein als vorher. Nun mag man die Idee des repräsentativen Agenten verwerfen und darauf verweisen, dass die Agenten in der Realität verschiedene Eigenschaften aufweisen und gute Agenten durch die Umstellung des Entgeltsystems gewinnen können. Dies ist grundsätzlich richtig. Die Agenten mit den geringeren Anstrengungskosten werden c. p. ein höheres Anstrengungsniveau wählen als die anderen und ein entsprechend höheres Einkommensniveau realisieren. Daher können sie, sofern È13aê
b e a alt a neu þ KÈeê þ 0;5 r b VarÈeê
erfüllt ist, auch für ihre Kosten kompensiert werden. Alle Agenten, deren Anreiznebenbedingung K 0 Èeê ã b (13a) nicht erfüllt, d.h. deren Grenzanstrengungskosten zu hoch sind, um das durch (13a) formulierte variable Einkommen zu erreichen, werden jedoch trotz Mehranstrengung und Risiko ein geringeres Einkommen als vorher realisieren. Damit sind sie nunmehr schlechter gestellt. Auch das Kollektiv der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist auf jeden Fall schlechter gestellt. Dies lässt sich einfach zeigen. Bezeichnen wir das Personalbudget mit B. Dann gilt: È14ê
B alt ã
n X iã1
aialt ã
n X iã1
Sialt ã B neu ã
n X
aineu þ b ei :
iã1
In Worten: Das alte Personalbudget B alt entspricht der Summe der alten individuellen Fixgehälter ai . Der Index i summiert hier über die Zahl der
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Agenten n auf. Diese Summe ist zugleich identisch mit der Summe der alten individuellen Sicherheitsäquivalente und dem neuen, unveränderten Personalbudget B neu , welches der Summe der neuen individuellen, teilweise leistungsbezogenen Entgelte entspricht. Wegen (14) kann man die Summe der neuen individuellen Sicherheitsäquivalente ausdrücken als: È15ê
n X
Sineu ã
iã1
n X
Sialt
iã1
n X Ki Èei ê 0;5 ri b2 VarÈeê : iã1
Damit ist die Summe der neuen individuellen Sicherheitsäquivalente offenkundig kleiner als die Summe der alten individuellen Sicherheitsäquivalente. Die Agenten bzw. Beschäftigten im öffentlichen Sektor insgesamt verlieren durch die Systemumstellung. Der Budgetdeckel bedeutet zudem, dass das Anstrengungsniveau der Agenten Rückwirkungen auf das Entgeltsystem hat. Es gilt nämlich: È16ê
Bã
n X iã1
ai þ b e i ã
n X
ai þ
iã1
n X
b ei ã
iã1
n X iã1
ai þ b
n X
ei :
iã1
Falls die Summe der individuellen Anstrengungen zu hoch ist, müssen – wie in der Praxis zu beobachten – die ai und/oder b reduziert werden, der Empfängerkreis von Leistungskomponenten eingeschränkt oder individuelle Einkommensgrenzen etc. eingeführt werden. Die Agenten erleben dann eine Entwertung ihrer Anstrengungen. Dieser Sachverhalt ist mit Blick auf das in Abschnitt 2 beschriebene Bepunktungssystem evident. Der Punktwert entspricht exakt b. Er ergibt sich aus dem durch die Summe der individuellen Punkte pi dividierten „Leistungsbudget“: È17ê
bã P n
B
:
pi Èe; :::ê
iã1
Da die erreichten Punkte u. a. (hoffentlich) positiv von den individuellen Anstrengungen beeinflusst werden, schlagen sich Mehranstrengungen der Beschäftigten in einer Reduktion des Punktwertes nieder. Je mehr sich die Agenten anstrengen, desto geringer ist die Entlohnung für die Anstrengung. Dieser Mechanismus wird wegen der individuellen Optimalitätsbedingung Ki0 Èei ê ã b die Bemühungen der Beschäftigten im Zaum halten. Wenn man B nicht allen Agenten, sondern nur denjenigen, die gewisse „Hürden“ (z. B. den besten 15% oder denjenigen, die bei Leistungsbeurteilungen eine vorgegebene Mindestpunktzahl) überspringen, zugänglich
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macht, kann man einen höheren Punktwert und damit einen stärkeren Leistungsanreiz für die guten oder besseren Agenten erreichen. Gleichzeitig schränkt man den Leistungsanreiz für die anderen Agenten (weiter) ein. Ob durch eine Beschränkung des Empfängerkreises „netto“ mehr oder weniger Leistungen induziert werden, ist ohne weitere Informationen offen. Das Ergebnis hängt maßgeblich von den Anstrengungskosten bzw. der Reaktionsfunktion der verschiedenen Agententypen ab. Auf der Basis der bisherigen Überlegungen lohnt sich die Umstellung für den Prinzipal auf jeden Fall. Sofern sich nämlich wenigstens ein Teil der Agenten mehr anstrengt als vorher, erhält der Prinzipal ein insgesamt besseres Ergebnis, ohne dass der Prinzipal wegen Balt ã Bneu mehr zahlen n P muss. Wir gehen mit Bezug auf (8) davon aus, dass GÈeê = Gi Èei ê ist, iã1
d.h. der Gesamtgewinn des Prinzipals aus den Anstrengungen aller seiner Agenten GÈeê entspricht der Summe aus den Gewinnen der individuellen Agentenanstrengungen. Ob die als Wohlfahrt interpretierte Summe der Sicherheitsäquivalente gemäß Gleichung (9) steigt, hängt davon ab, ob der Nutzengewinn des Prinzipals größer ist als die Nutzenverluste der Agenten oder nicht. Da sich der Prinzipal im vorliegenden Fall nicht für die Nutzenverluste der Agenten zu interessieren scheint, ist dies nicht gewährleistet. Ein Prinzipal, der ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt, würde den Nenner des in Gleichung (10) aufgeführten Quotienten vernachlässigen und b ã G0 Èeê setzen. Sofern der Nenner von (10) größer als eins ist, wovon auszugehen ist, wäre die allein aus Sicht des Prinzipals festgesetzte Anreizintensität gemessen am Wohlfahrtsoptimum zu hoch. Da sich der Prinzipal im vorliegenden Fall Kostenneutralität sprich Ausgabenneutralität bei einem sehr geringen Budget für Leistungsentgelte auf die Fahnen geschrieben hat, wird er jedoch eher eine zu geringe Anreizintensität erreichen. Es wäre jedenfalls sehr zufällig, wenn der Prinzipal entweder sein eigenes Optimum oder das Wohlfahrtsoptimum finden würde. Es sieht so aus, als ob sich der Prinzipal von der Idee hat leiten lassen, dass das neue System ungeachtet von Optimalitätsbedingungen für ihn vorteilhaft ist.
V. Diskussion Die bisherigen Überlegungen basieren auf der Annahme, dass ein Agent bei einem Festentgelt ein Anstrengungsniveau von null oder ein niedrigstmögliches Anstrengungsniveau wählt. Was aber, wenn es den Agenten möglich ist, ihr bisheriges Anstrengungsniveau zu reduzieren? Werden
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dann nicht diejenigen, die keine Chance sehen, ein Leistungsentgelt zu bekommen oder deren (Grenz-)Anstrengungskosten so hoch sind, dass sie unter dem neuen Regime ein geringeres Einkommen erfahren, ihre Bemühungen einschränken und verlagern – zumal, wenn kein Entlassungsrisiko besteht? Es ist also durchaus möglich, dass sich ein Teil der Agenten mehr anstrengt, und ein anderer Teil weniger Ehrgeiz zeigt als vorher. Wenn die Mehrleistungen der „guten“ Agenten geringer sind als die Wenigerleistungen der „schlechten“ Agenten erhält der Prinzipal bei gleicher Gesamtvergütung weniger Leistungen. In diesem Fall hätten nicht nur die Agenten, sondern auch der Prinzipal mit dem neuen Entgeltsystem ein schlechtes Geschäft gemacht. Darüber hinaus kennt auch die Prinzipal-Agent-Theorie unerwünschte „Nebenwirkungen“ von ergebnisorientierten Entgelten. Zu nennen wäre beispielsweise die a) Mehraufgabenproblematik, b) sog. Beeinflussungskosten, c) mangelnde Kooperation und d) „Sabotage“. Wenn es dem Prinzipal – z. B. aufgrund unterschiedlicher Messmöglichkeiten – nicht gelingt, alle Aufgaben eines Agenten gleich gut im Entgeltsystem abzubilden, werden sich die Agenten auf die Tätigkeiten konzentrieren, die relativ gut bezahlt werden und relativ schlecht bezahlte Tätigkeiten vernachlässigen. Dies ist die Mehraufgabenproblematik. Dann arbeiten die Agenten möglicherweise mehr, tun aber nicht unbedingt das, was im Interesse des Prinzipals ist. Unter Beeinflussungskosten ist zu verstehen, dass die Agenten jetzt versuchen werden, den Prinzipal zu ihren Gunsten einzunehmen, z. B. indem sie permanent über Erfolge berichten oder versuchen, die Leistungskriterien zu ihren Gunsten zu verändern. Natürlich können Leistungsentgelte auch (notwendige und im Interesse des Prinzipals liegende) Kooperationen bzw. Teamarbeit unterminieren. Wenn beispielsweise nur 15% der Beschäftigten ein Leistungsentgelt bekommen können, warum sollten dann Agenten mit anderen kooperieren, wenn dies die Wahrscheinlichkeit der anderen auf ein Leistungsentgelt erhöht? Schließlich ist auch unter bestimmten Voraussetzungen mit Sabotage zu rechnen: Weniger leistungsfähige Agenten werden möglicherweise versuchen, die Leistung der Besseren zu sabotieren. Leistungsentgelte sind also keine „Selbstläufer“. Der Prinzipal muss auch die Nebenwirkungen sowie eventuelle Möglichkeiten zur Begrenzung der unerwünschten Effekte in seine Überlegungen einbeziehen. Wenn die Nebenwirkungen die positiven Effekte von Leistungsentgelten konterkarieren und es nicht gelingt, die unerwünschten Effekte hinreichend zu begrenzen, sollte selbst unter dem Paradigma der Prinzipal-Agent-Theorie von Leistungsentgelten abgesehen werden. Bisher wurde noch nicht auf die in Zusammenhang mit Leistungsentgelten entstehenden Mess-, Bewertungs-, Überwachungs- und Durchsetzungs-
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kosten – im folgenden KMBUD ¨ – eingegangen. Um diese Kosten zu erfassen, braucht man grundsätzlich nur die Formel (9) entsprechend zu ergänzen: È18ê
max !
Stotal ã GÈeê KÈeê 0;5 r b2 VarÈeê þ KMBUD ¨ :
Solche Kosten sind in der realen Welt unvermeidbar, sollten jedoch auf das Notwendigste beschränkt werden. Beispielsweise lassen sich durch eine genauere Ergebnismessung (bzw. Leistungsbeurteilung) das Ergebnisrisiko und damit die Risikokosten des Agenten verringern. Bezeichnen wir die dabei entstehenden Messkosten mit KM ÈVarÈeêê, gilt unter Berücksichtigung von (18) für das Optimum dieser Kosten 0;5 r b2 ã KM0 ÈVarÈeêê. Allerdings wäre es – zumindest für den Autor – überraschend, wenn die Messung und Bewertung von Ergebnissen sowie die Überwachung und Durchsetzung von gesetzlichen und tarifvertraglichen Regeln etc. im öffentlichen Sektor einem ökonomischen Kalkül unterlägen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass diese Kosten erheblich sein werden, ohne durch entsprechenden Nutzen gerechtfertigt zu sein. Abschließend ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die bisherigen, auf der Prinzipal-Agent-Theorie basierenden Überlegungen von intrinsischen Motiven absehen. Demnach dürfte unter dem Regime von Festentgeltsystemen kein Mensch wirklich arbeiten. Alle Beschäftigten würden ihre Anstrengungen minimieren. In der Realität finden wir jedoch sogar Menschen, die ohne oder bei nur einem sehr geringen Entgelt arbeiten. Deshalb wird die Analyse von Entgeltsystemen gehaltvoller, wenn man von der Annahme ausgeht, dass Menschen sowohl von extrinsischen als auch von intrinsischen Motiven getrieben werden. So wurde in den letzten Jahren das in der Sozialpsychologie gängige Konzept der intrinsischen Motivation zumindest von einigen Autoren auch in die Ökonomik eingeführt.23 Danach können extrinsische und intrinsische Motivation zeitgleich vorliegen bzw. sich überlagern. Es ist möglich, dass intrinsisch motiviertes Handeln durch extrinsische Anreize (insbesondere Vorschriften und geldliche Anreize) unterstützt („Verstärkungseffekt“) oder unterminiert („Verdrängungseffekt“) wird. Falls im öffentlichen Sektor die intrinsische Motivation der Beschäftigten größer ist als in der Privatwirtschaft, ist c. p. der potentielle Erfolg einer Leistungsbezahlung im öffentlichen Sektor geringer als im privaten Bereich.
23 Vgl. z. B. B. Frey, Markt und Motivation – wie ökonomische Anreize die (Arbeits-)Moral verdrängen, München 1997.
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VI. Fazit Unter dem Regime konstanter Personalausgaben („Kostenneutralität“) stellt sich die öffentliche Hand (als Prinzipal) durch die Einführung von „Leistungsentgelten“ aus der Sicht der hier für die Analyse verwendeten Prinzipal-Agent-Theorie auf den ersten Blick besser, weil sie insgesamt mehr Anstrengungen und bessere Arbeitsergebnisse von den Beschäftigten (Agenten) erhält, ohne dafür insgesamt mehr zu bezahlen. Einzelne Beschäftigte können zwar ebenfalls durch das neue Entgeltsystem gewinnen, die Mehrheit der Beschäftigten bzw. die Beschäftigten insgesamt verlieren dagegen. Die Nutzenverluste der Beschäftigten resultieren aus der fehlenden Entschädigung für die beim neuen Entgeltsystem entstehenden Risiko- und Anstrengungskosten. Ob die Gewinne der öffentlichen Hand größer sind als die Verluste der Beschäftigten und damit wenigstens ein gesellschaftlicher Gewinn in Form einer Wohlfahrtssteigerung eintritt oder nicht, lässt sich ohne weitere Informationen nicht sagen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die jetzige Lösung sowohl von einem Wohlfahrtsoptimum als auch von einem Optimum allein aus Sicht der öffentlichen Hand entfernt ist. Auf den zweiten Blick ist auch auf der Basis prinzipal-agent-theoretischer Überlegungen unklar, ob die öffentliche Hand überhaupt gewinnt. Aufgrund des geringen Volumens der für die Leistungsbezahlung zur Verfügung stehenden Mittel kann entweder nur ein geringer Leistungsanreiz für alle Beschäftigten oder ein etwas größerer Anreiz für lediglich einen Teil der Beschäftigten erreicht werden. Leistungsentgeltsysteme entfalten darüber hinaus auch aus der Sicht der Prinzipal-Agent-Theorie unerwünschte Nebenwirkungen in Form von fehlgelenktem Verhalten der Betroffenen. Nicht zu vergessen ist der gerade im öffentlichen Sektor mit dem neuen Entgeltsystem verbundene erhebliche administrative Mehraufwand, der weit von einem Optimum entfernt sein wird. Wenn es nun – anders als von der Prinzipal-Agent-Theorie angenommen – möglich ist, dass die nicht oder nur wenig motivierten Beschäftigten ihre Leistung – z. B. aufgrund des von ihnen vielleicht als ungerecht oder unsinnig empfundenen Systems – reduzieren, kann dieser Personenkreis auch noch die Mehrleistungen der jetzt besser Motivierten konterkarieren. Dann hätte sich die öffentliche Hand durch das neue Entgeltsystem zweifellos verschlechtert. Insgesamt darf man davon ausgehen, dass mit der jetzt praktizierten Form der Einführung von Leistungsentgelten im öffentlichen Sektor bei hohem administrativem Zusatzaufwand – zumindest bezogen auf das Ziel „Mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit“ – wenig bis gar nichts erreicht wird.
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Wollte man zu einer günstigeren Beurteilung kommen, müsste die öffentliche Hand ihre Pro-Kopf-Personalausgaben erhöhen. Dann wäre es möglich, einem größeren Teil oder allen Beschäftigten spürbare Anreize und auch eine Kompensation für Anstrengungs- und Risikokosten zu geben. Höhere Pro-Kopf-Personalausgaben ließen sich ohne Mehrbelastung für die öffentlichen Haushalte realisieren, wenn es gelänge, tatsächliche Arbeitsproduktivitätssteigerungen zu erreichen und diese wenigstens teilweise in Form von Pro-Kopf-Entgeltsteigerungen an die Beschäftigten weiterzureichen.
Abschied vom Beamtentum in Österreich? Theo Öhlinger I. Die Tradition des Beamtentums Das österreichische Beamtentum – grundgelegt in den Verwaltungsreformen Maria Theresias und Josef II. – hat eine große Tradition.1 Die Monarchie des 19. Jahrhunderts wurde nur noch durch den Kaiser und seine Verwaltung – die „beste Bürokratie Europas“ (wie sie Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ liebevoll beschrieb) – zusammengehalten, die neben der Armee zur eigentlichen Trägerin und Bewahrerin des Staatsgedankens geworden war. In Kelsens Identifikation des Staats mit dem Recht wird dies auf den Begriff gebracht.2 Einen bemerkenswerten Niederschlag hat dieser Stellenwert des Beamtentums in der Dichtkunst gefunden. Viele, darunter die herausragenden Literaten des 19. Jahrhunderts – wie Franz Grillparzer oder Adalbert Stifter –, waren Beamte und ihre Werke atmen den Geist des Beamtentums. Auch im 20. Jahrhundert lebte diese Tradition fort; vor allem aber wurden Beamte und ihr gesellschaftlicher Kontext nunmehr zum häufigen Thema literarischer Werke, in denen sich die „beamtenhierarchische Nation“ der Österreicher (H. v. Doderer) gewissermaßen selbst reflektierte.3 1 Siehe dazu B. Schimetschek, Der österreichische Beamte. Geschichte und Tradition, Wien 1984; W. Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien 1991; M. Welan, Österreich – Republik der Mandarine?, in: Hauf (Hrsg.), Der österreichische Beamte zwischen Tradition und Neubestimmung: Dokumentation über ein Symposium vom 20. April 1996 in der österreichischen Beamtenversicherung, Wien 1996. 2 Dazu näher T. Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: B.-C. Funk u. a. (Hrsg.), Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen. Festschrift für L. Adamovich, Wien 2002, S. 594 f. 3 Erwähnt seien außer Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Franz Werfel, Eine blassblaue Frauenschrift, oder Josef Roth, Radetzkymarsch. Diese Schriften zeichnen ein positiv-verklärendes Bild des altösterreichischen Beamtentums. Im Werk Heimito von Doderers (etwa in der Figur des Amtsrats Zihal in: Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal, und in: Die Strudlhofstiege) wird es ironisiert, im Werk Fritz von Herzmanovsky-Orlandos (etwa: Der Gaulschreck im Rosennetz) ins Skurrile übersteigert. Aber auch in Franz Kafkas unheimlichen Metaphern des „Schlosses“ und des „Prozesses“ sind wohl Er-
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Die staatsrechtlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts erschütterten zwar die Grundlagen des Beamtentums mehrmals und tief, vor allem der Zusammenbruch der Monarchie, der von vielen Beamten wohl auch als persönliche Katastrophe erlebt wurde, aber auch die parteipolitische Zuspitzung der Ersten Republik, die 1933 in einer Art Bürgerkrieg kulminierte und daher die parteipolitische Neutralität des Beamtentums schwer belastete. Sie stellten aber dieses nicht wirklich in Frage. Selbst die nationalsozialistische Gewaltherrschaft von 1938 bis 1945 überlebten Österreichs Beamte einigermaßen unbeschadet, zumal die Zweite Republik verfassungsrechtlich rasch und nahtlos an die Verfassungslage von 1933 anknüpfen konnte und gerade der öffentliche Dienst einen ganz wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau dieser Republik leistete. Im Wirtschaftswunder der späten Fünfziger und der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts blieb dann zwar das Gehaltsniveau des öffentlichen Dienstes so weit hinter dem der Privatwirtschaft zurück, dass ein ernster Verlust an fachlicher Qualität drohte; in der Zwischenzeit wurde aber auch dieses Defizit wieder weitgehend wettgemacht.4 Erst am Ende dieses bewegten Jahrhunderts stellte sich ernsthaft auch die Frage nach dem Ende des Berufsbeamtentums.5 Die Erosion des Staates in den Zeiten des Neoliberalismus und der Globalisierung machte auch und gerade vor seinen „Dienern“ nicht Halt.6 Schon die gewandelte Terminologie macht dies deutlich: Aus den „Dienern des Staates“7 sind heute „Mitarbeiter“8 geworden.
fahrungen mit österreichischer Bürokratie eingeflossen. Kafka war von 1908 bis zu seiner Frühpensionierung 1922 beruflich in der öffentlich-rechtlichen Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt, einem – in heutiger Begrifflichkeit – Selbstverwaltungskörper, in einem beamtenähnlichen Status tätig. Dazu G. Strejcek, Franz Kafka und die Unfallversicherung. Grenzgänger des Rechts und der Weltliteratur, Wien 2006. 4 Es ist dies vor allem durch jene „Besoldungsreform“ gelungen, die Teil des Projekts „Verwaltungsmanagement“ (1990–1994) war. Heinrich Siedentopf hat an diesem Projekt als Leiter der Projektgruppe „Führungs- und Personalwesen“ federführend mitgewirkt. Ich hatte damals in meiner Eigenschaft als Direktor der Verwaltungsakademie des Bundes (1989–1995) Gelegenheit, mit ihm eng zu kooperieren. 5 Dazu schon T. Öhlinger, Die Zukunft des Berufsbeamtentums, in: DÖD 1996, S. 145 ff. 6 Siehe B. Weichselbaum, Berufsbeamtentum in Österreich in Erosion?, in: ZBR 2004, S. 25 ff.; dies., Warum (noch) Berufsbeamte?, in: JRP 2005, S. 327 f. 7 Siehe etwa J. Engelmayer (Hrsg.), Die Diener des Staates: das bürokratische System Österreichs, Wien 1977. 8 Siehe unten V.2.
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II. Verfassungsrechtliche Grundlagen Die österreichische Bundesverfassung enthält keine dem Art. 33 Abs. 4 und 5 GG vergleichbare explizite Garantie des Berufsbeamtentums. Die einschlägige Aussage des Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) – Art. 20 Abs. 1 – setzt etwas andere Akzente. In ihrer ursprünglichen Fassung von 1920 lautete sie: Unter der Leitung der Volksbeauftragten führen nach den Bestimmungen der Gesetze auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe die Bundesoder die Landesverwaltung. Sie sind, soweit nicht durch die Verfassung des Bundes oder der Länder anderes bestimmt wird, an die Weisungen ihrer vorgesetzten Volksbeauftragten gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich.
1929 wurde der Terminus „Volksbeauftragte“ durch den der „obersten Organe des Bundes und der Länder“ ersetzt und im Übrigen ist der gesamte Text dieses Artikels bis heute um ein Vielfaches erweitert worden. Die für mein Thema zentrale Aussage bilden aber immer noch die ersten beiden, der ursprünglichen Fassung entsprechenden Sätze.9 Ihr Inhalt ist allerdings höchst unklar und strittig. Dass nicht nur „ernannte berufsmäßige“, sondern auch „auf Zeit gewählte Organe“ die Verwaltung führen sollen, ist ein Reflex radikaldemokratischer Konzepte der Gründungsphase der Republik,10 wie sie vor allem auf sozialdemokratischer Seite vertreten wurden. Demnach sollte die staatliche Verwaltung in selbstverwaltungsähnliche Strukturen übergeführt werden, wie sie Karl Renner in einer „ganz auf Selbstverwaltung beruhenden Ordnung der Verfassung und Verwaltung in England“ beispielhaft vorgeprägt sah.11 Dieses Konzept ist 9 „Unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder führen nach den Bestimmungen der Gesetze auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe die Verwaltung. Sie sind, soweit nicht verfassungsgesetzlich anders bestimmt wird, an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich.“ (Fassung vor 1.1.2008) 10 Von einem „parlamentarisch-demokratischen Überschwang“ dieser Zeit spricht B. Raschauer, Art. 20/1 B-VG in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Wien 3. Lfg. 2000, Rz. 42. Als eine „vom Geist rätedemokratischer Vorstellungen . . . beseelte Verfassungslage“ charakterisiert P. Bußjäger, Zur Konstruktion des verfassungsrechtlich vorgesehenen Beamtenbildes, in: ÖJZ 1997, S. 684, diese Regelung. 11 Danach sollten auf der gesamtstaatlichen Ebene, jener der (von Renner noch als Provinzen konzipierten) Länder und jener der (auch als Gebietskörperschaften vorgesehenen) Bezirke Parlamente bzw. „Räte“ mit Vollzugsausschüssen gewählt werden. Jede der nachgeordneten Gebietskörperschaften sollte die gesamte staatliche Verwaltung gewissermaßen im eigenen Wirkungsbereich führen. Die Ausführung scheiterte im wesentlichen an der von Kelsen und Merkl entwickelten und später auch von Renner (siehe Renner, Demokratie und Bürokratie, in: Institut für Wirtschaft und Kunst (Hrsg.), Studien zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte Österreichs, Heft 1, Wien
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von Renner selbst später aufgegeben und durch eine von Hans Kelsen12 und Adolf Merkl13 übernommene These ersetzt worden, wonach (nur) jene Verwaltungsorganisation demokratisch sei, in der weisungsgebundene Berufsbeamte die Gesetze vollziehen, weil nur so der im Gesetz zum Ausdruck kommende Volkswille unverfälscht zum Durchbruch gelangen könne. Die Verwaltung durch auf Zeit gewählte Organe setzte sich denn auch als eine gleichwertige Alternative zu den „ernannten berufsmäßigen Organen“ keineswegs durch. Gewählte Organe gibt es in der staatlichen Verwaltung Österreichs kaum. Die regelmäßig als Beispiel genannten Organe der Selbstverwaltung sind von vornherein, und, ohne dass dies „verfassungsgesetzlich bestimmt“ wäre,14 im eigenen Wirkungsbereich nicht an Weisungen staatlicher Organe gebunden; sie fallen daher nur insoweit unter Art. 20 Abs. 1 B-VG, als sie in einem ihnen „übertragenen“ Bereich staatlicher Verwaltung tätig werden, was nur in einem sehr eingeschränkten Maß der Fall ist. Auch ihnen unterstehen im Übrigen berufsmäßige Organe, die freilich nur in der territorialen Selbstverwaltung, den Gemeinden, teilweise auch „ernannt“ sind. Entgegen dem ersten Anschein, den Art. 20 Abs. 1 B-VG einem unbefangenen Leser vermitteln könnte, führen unter der Leitung der obersten Organe fast ausschließlich nicht gewählte „berufsmäßige Organe“ die Verwaltung des Bundes und der Länder. III. Das duale System des öffentlichen Dienstes: Beamte und Vertragsbedienstete Allerdings sind nicht alle diese Organe auch in einem strikten Sinn „ernannt“. Ernennung im rechtlichen Sinn bedeutet die Bestellung eines Organwalters durch einen Bescheid, d. h. einen hoheitlichen Verwaltungsakt.15 1946) übernommenen These, dass jene Verwaltungsorganisation am „demokratischsten“ sei, in der weisungsgebundene Berufsbeamte die Gesetze vollziehen, weil nur so der im Gesetz zum Ausdruck kommende Volkswille unverfälscht durch lokale Interessen zum Durchbruch gelange. Siehe dazu die Nachweise bei T. Öhlinger, Der öffentliche Dienst zwischen Tradition und Reform, Wien 1993, S. 13 f. 12 Siehe H. Kelsen, Demokratisierung der Verwaltung, in: Zeitschrift für Verwaltung 1921, S. 5 ff. Noch 1920 bezeichnete allerdings Kelsen (Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1. Auflage, Tübingen 1920, S. 32) die staatliche Bürokratie als die „größte Gefahr für die Demokratie“ und sah im Berufsbeamtentum nur eine unvermeidliche Konzession an die für eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbare Arbeitsteilung. 13 A. Merkl, Demokratie und Verwaltung, Wien/Leipzig 1923. 14 Siehe den zweiten Satz in Art. 20 Abs. 1 B-VG (Anm. 9). 15 Siehe § 2 Abs. 1 Beamten-Dienstrechtsgesetz: „Ernennung ist die bescheidmäßige Verleihung einer Planstelle“.
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Im strikten Sinn der Rechtssprache sind nur die auf diese Weise bestellten Organwalter Beamte. Ihr Dienstverhältnis ist ein öffentlich-rechtliches. Daneben gibt es in der österreichischen Verwaltung aber auch vertraglich bestellte Organwalter, die so genannten Vertragsbediensteten. Sie unterliegen auf Bundes- und Länderebene jeweils einem besonderen gesetzlichen Regime; doch gibt es daneben auch Personen, deren Dienstverhältnisse auf allgemeinem Arbeitsrecht und Kollektivvertrag beruhen oder die freie Dienstverträge abgeschlossen haben, ferner auch Leiharbeitskräfte.16 Die Frage der Zulässigkeit solcher vertraglich begründeter Dienstverhältnisse in der staatlichen Verwaltung war lange Zeit strittig, wurde aber vom österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) seit jeher bejaht. Tatsächlich ist es angesichts der sehr vielfältigen dienst- und arbeitsrechtlichen Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst, die schon zur Zeit der Erlassung des B-VG bestanden und zum Teil in seinem Text durchaus Spuren hinterlassen haben,17 schwer argumentierbar, dass verfassungsrechtlich neben gewählten Organwaltern nur das öffentlich-rechtliche Beamtenverhältnis zulässig sein sollte. Der Formulierung des Art. 20 Abs. 1 B-VG andererseits jeden normativen Gehalt in dieser Frage abzusprechen,18 kann aber auch nicht überzeugen. Was allerdings den zweiten großen Block an öffentlichen Bediensteten neben den Beamten – die Vertragsbediensteten – betrifft, so wurde ihre Verfassungskonformität durch eine Neufassung des die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet des öffentlichen Dienstrechts regelnden Art. 21 B-VG im Jahr 1974 (BGBl 1974/444) außer Zweifel gestellt. Spätestens seit dieser Novelle ließ sich das duale System des öffentlichen Dienstes in Österreich – Beamte (im engeren Sinn) und Vertragsbedienstete – nicht mehr in Frage stellen.19 Auch ein genereller Funktions16 Zu dieser Vielfalt siehe U. Zellenberg, Rolle und Funktion des öffentlichen Dienstes, in: Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.), Der öffentliche Dienst im gesellschaftlichen System 2003 plus – neue Herausforderungen, Wien/Graz 2005, S. 45 f. 17 Siehe die Nachweise bei C. Grabenwarter, Die demokratische Legitimation weisungsfreier Kollegialbehörden in der staatlichen Verwaltung, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), Staat und Recht. Festschrift für Günther Winkler, Wien 1997, S. 278 f. 18 Der VfGH (Slg. 8136/1977) betont die Unvollständigkeit des Art. 20 Abs. 1 B-VG. Dies bezog sich zwar primär auf die Frage der Weisungsgebundenheit, doch erwähnt der VfGH als Beleg für diese Unvollständigkeit auch die – offensichtlich als zulässig angesehene – vertragliche Bestellung berufsmäßiger Organe. 19 Vgl. G. Kucsko-Stadlmayer, Art. 21 B-VG, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Wien 2. Lfg. 1999, Rz. 7; C. Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen zum „Bundesmitarbeitergesetz“, in: Positionen zum Bundesmitarbeitergesetz, Schriftenreihe der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst Nr. 7, Wien 2006, S. 20.
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vorbehalt für Beamte in der Hoheitsverwaltung ist seitdem nicht mehr ernsthaft argumentierbar.20 Seit langem besteht – oder besser gesagt: bestand – in Österreich auch die Praxis, dass auf der einen Seite jeder Bedienstete des Staates in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis ernannt („pragmatisiert“21) werden kann, ein Arbeiter in einem von einer Gebietskörperschaft geführten Betrieb genauso wie ein Staatsanwalt oder ein Polizist. Umgekehrt wurde und wird es auch für zulässig erachtet, dass – selbst hohe22 – Funktionen in der Hoheitsverwaltung von vertraglich bestellten Dienstnehmern ausgeübt werden.23 Beamte und vertraglich bestellte Bedienstete sind in der öffentlichen Verwaltung dem Prinzip nach „voll substituierbar“.24 Der ursprünglich auch in Österreich bestehende Zusammenhang zwischen der Ausübung hoheitlicher Funktionen und dem auf einem Hoheitsakt beruhenden öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis25 wurde in der republikanischen Rechtsentwicklung „zerrissen“.26 Lediglich einzelne Funktionen behält das B-VG „Beamten“ vor.27 Insofern enthält die Bundesverfassung (nur) punktuelle Funktionsvorbehalte,28 wobei freilich noch in jedem Fall zu prüfen ist, wie 20 Letzte Zweifel beseitigte die – nach Abschluss dieses Manuskripts erfolgte – Neufassung des Art. 20 Abs. 1 B-VG (BGBl. I 2008/2), der nunmehr ausdrücklich auch „vertraglich bestellte Organe“ nennt. 21 Das österreichische Beamtenrecht wurde erstmals 1914 in einem als „Dienstpragmatik“ betitelten Gesetz kodifiziert, das bis 1979 in Kraft stand. Auf dieses Gesetz geht jene in Österreich nach wie vor übliche Terminologie zurück. 22 Siehe etwa § 9 Bundesministergesetz (in der Fassung BGBl I 1999/10): „Vertragsbedienstete, die mit der Leitung einer Sektion oder einer Botschaft betraut sind“! Der Leiter einer Sektion ist der höchste Beamte eines Bundesministeriums. 23 Grundlegend zur Betrauung vertraglich bediensteter Organe mit hoheitlichen Aufgaben VfGH Slg. 225/1923, das sich auf einen Totengräber (!) bezog. Vgl. ferner VfGH Slg. 2920/1955. 24 T. Tomandl, Dienstrechtliche Probleme der staatlichen „Privatwirtschaftsverwaltung“, in: JBl 1968, S. 113 ff. 25 Zur Rechtslage in der Monarchie siehe Weichselbaum, Warum (noch) Berufsbeamte? (Anm. 6), S. 334 f. 26 Tomandl, Dienstrechliche Probleme (Anm. 24), S. 120. 27 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Offiziere (Art. 65 Abs. 2 lit. a B-VG); die Vertretung eines Bundesministers (Art. 73 B-VG; vgl. auch Art. 71 B-VG); der Landesamtsdirektor als Leiter des inneren Dienstes des Amts der Landesregierung (Art. 106 B-VG); der Magistratsdirektor in Städten mit eigenem Statut (Art. 117 Abs. 6 B-VG); Bedienstete des Rechnungshofs (Art. 122 Abs. 3 B-VG) und der Volksanwaltschaft (Art. 148h B-VG); siehe ferner das Bundesverfassungsgesetz über die Ämter der Landesregierung (Stellvertreter des Landesamtsdirektors sowie Leiter der Abteilungen und Gruppen der Landesregierung). 28 Vgl. Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen (Anm. 19), S. 15 ff; G. KucskoStadlmayer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für eine Dienstrechtsreform,
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„technisch“ der Beamtenbegriff jeweils zu verstehen ist.29 An anderen Stellen spricht die Bundesverfassung davon, dass bestimmte Bedienstete zu „ernennen“ sind, so in Bezug auf die Mitglieder der Unabhängigen Verwaltungssenate.30 Letzteres wird zwar allgemein als ein verfassungsrechtliches Gebot eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses gedeutet;31 es hinderte dies aber mehrere Landesgesetzgeber nicht daran, auch die Bestellung von Vertragsbediensteten als Mitglieder dieser Senate vorzusehen.32 Es deckt sich dies mit einer in der Lehre vertretenen Position, wonach der Begriff der „Ernennung“ im B-VG nicht jenen präzisen Gehalt hat, der ihm heute auf einfachgesetzlicher Ebene33 zukommt.34 IV. Das verfassungsrechtlich vorgegebene Beamtenbild Es erscheint somit fragwürdig, Art. 20 Abs. 1 B-VG als – zumindest mittelbare – Institutionengarantie des Berufsbeamtentums35 zu deuten. Im Gegensatz dazu hat der VfGH – in einer jüngeren, wohl mehr vom Bonner Grundgesetz als vom Text des B-VG inspirierten Judikatur – den Beamtenbegriff inhaltlich stark aufgeladen. Der VfGH versteht das öffentlich-rechtin: M. Potacs/P. Rondo-Brovetto (Hrsg.), Öffentlicher Dienst in Kärnten, Wien 2006, S. 6 f. 29 Vgl. P. Bußjäger, Die Organisationshoheit und Modernisierung der Landesverwaltungen, Wien 1999, S. 175 ff. Skeptisch zum „Garantie“-Gehalt aller dieser Bestimmungen in Bezug auf das Beamtentum auch B. Raschauer, Berufsbeamtentum und Verfassungsrecht, in: Positionen zum Bundesmitarbeitergesetz (Anm. 19), S. 51 ff. 30 Das sind weisungsfreie Verwaltungsorgane, die rechtsprechende Aufgaben ausüben und dabei als „Tribunale“ im Sinn des Art. 6 EMRK fungieren. Sie wurden 1988 in die österreichische Verfassungsordnung eingeführt. Die Mitglieder werden nach Art. 129b Abs. 1 B-VG „für mindestens sechs Jahre ernannt“. 31 Öhlinger, Der öffentliche Dienst (Anm. 11), S. 28; M. Köhler, Art. 129b B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassung (Anm. 10), Rz. 18; Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen (Anm. 19), S. 16; zweifelnd Raschauer, Berufsbeamtentum (Anm. 29), S. 56. 32 Siehe Köhler, Art. 129b B-VG (Anm. 31) Rz. 30. Der VwGH (26.5.1999, GZ 99/12/0082) konnte die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung vorerst dahingestellt sein lassen. Siehe dazu auch unten Anm. 41. 33 Siehe zuvor Anm. 15. 34 Dazu ausführlich Bußjäger, Konstruktion (Anm. 10), S. 684 ff. 35 So aber L. Adamovich, Zur heutigen Lage des Berufsbeamtentums, in: L. Adamovich/P. Pernthaler (Hrsg.), Festschrift für Hans R. Klecatsky, Wien 1980, S. 11; ähnlich Kuscko-Stadlmayer, Art. 21 B-VG (Anm. 19), Rz. 7; eingeschränkt auch K. Hartmann/St. Pesendorfer, Organisations- und dienstrechtliche Rahmenbedingungen von NPM-Maßnahmen im österreichischen Kontext, in: H. Neisser/G. Hammerschmid (Hrsg.), Die innovative Verwaltung, Perspektiven des New Public Management in Österreich, Wien 1998, S. 354 f.
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liche Beamtendienstverhältnis – verfassungsgesetzlich vorgeprägt – als ein lebenslanges Dienstverhältnis. Darin inkludiert ist eine prinzipielle Unkündbarkeit, ein vom Laufbahnprinzip geprägtes gesetzliches Besoldungsschema und das Alimentationsprinzip, das heißt der Entgeltcharakter der Beamtenpensionen.36 Charakteristisch für dieses Begriffsbild des Berufsbeamten ist ferner ein wechselseitiges Treueverhältnis zum Dienstgeber Staat, ein dem korrespondierendes Disziplinarrecht sowie eine dem entsprechende Fürsorgepflicht des Dienstgebers. Diese Eigenheiten des Beamtentums werden freilich durch die vom VfGH akzeptierte Parallelität des Einsatzes von Beamten und Vertragsbediensteten in der Verwaltung und der völligen Entkoppelung dieser dienstrechtlichen Alternative von den Funktionen37 unterlaufen. Wenn nicht nur jeder Staatsbedienstete „pragmatisiert“ werden kann, sondern umgekehrt auch jede Funktion – sieht man von den zuvor38 genannten wenigen Ausnahmen ab – von vertraglich bestellten Organwaltern ausgeübt werden kann, verlieren die besonderen Merkmale des beamteten Rechtsverhältnisses ihre Legitimation. Sie werden – und das ist heute eine weit verbreitete Auffassung in der Öffentlichkeit – zu einem Privileg ohne innere Rechtfertigung. V. Reformbestrebungen 1. Entpragmatisierung Seit Jahren gibt es denn auch in Österreich starke Tendenzen, das Beamtentum im öffentlichen Dienst zu Gunsten der Vertragsbediensteten zurückzudrängen.39 Man nennt das „Pragmatisierungsstopp“40 und ein solcher ist 36 Grundlegend VfGH Slg. Nr. 11.151/1986. Diese Entscheidung stützt sich vor allem auf das inzwischen (BGBl I 1999/8) aufgehobene „Homogenitätsprinzip“ (ehemals Art. 21 Abs. 1 B-VG), dem gemäß das Dienstrecht der Länder von jenem des Bundes nicht in einem Ausmaß abweichen durfte, dass ein Wechsel des Dienstes wesentlich behindert wird. VfGH Slg. 16.687/2002 stellt jedoch klar, dass jene Judikatur auch nach dieser Aufhebung aufrecht erhalten bleibt. Zur Pension als „Gegenleistung des Staates für die vom Beamten geleisteten Dienste“ siehe VfGH Slg. 17.683/2005: Damit sei eine Kürzung wegen des Bezugs eines anderen Erwerbseinkommens (sog. „Ruhensbestimmungen“, wie sie im Sozialversicherungsrecht bestehen) nicht vereinbar. Zur Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Entscheidung siehe Kucsko-Stadlmayer, Warum der Rechtsstaat (eine Art) Beamte braucht, in: Positionen zum Bundesmitarbeitergesetz (Anm. 19), S. 26 („schlichtes Unverständnis“). Zu den Spielräumen einer Anpassung des Pensionsrechts der Beamten an jene der Sozialversicherten, siehe zuletzt VfGH 29.11.2006, B 525/06. 37 Siehe zuvor III. 38 Siehe Anm. 27. 39 Dazu näher Kucsko-Stadlmayer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen (Anm. 28), S. 1 ff.
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auf Grund der Austauschbarkeit von „pragmatisierten“ und vertraglichen Dienstverhältnissen kein prinzipielles Problem. Nicht nur dass viele ehemals vom Staat besorgte Aufgaben, bei denen Beamte eingesetzt waren, ausgegliedert wurden, wie Post, Bahn, Museen usw.; auch im engeren Bereich der staatlichen Behörden ist es ein seit einigen Jahren verfolgtes Ziel, Vertragsbedienstete statt Beamte zu beschäftigen. Ein Land (Vorarlberg) hat die Institution des Berufsbeamtentums mit Wirkung vom 1. Jänner 2001 pro futuro überhaupt abgeschafft, ausgenommen die Mitglieder des Unabhängigen Verwaltungssenates,41 die aber, wie schon gesagt, in anderen Ländern auch mit Vertragsbediensteten besetzt werden. In der Steiermark dürfen Neuernennungen nur noch für Stellen mit „besonders wichtigen Aufgaben“ erfolgen.42 Dazu kommt eine Tendenz der Angleichung des Beamtenrechts an das allgemeine Arbeits- und Sozialrecht: Abbau der besonderen Pflichtenbindung, gesetzliche Regelung der Dienstzeit, leistungsorientierte Besoldung, Einführung der Teilzeitbeschäftigung, Vergabe von Leitungsfunktionen auf Zeit, Anpassung des Pensionsrechts an jenes der Sozialversicherten.43 Faktisch ist also die Entbeamtung – österreichisch gesprochen: die Entpragmatisierung – im öffentlichen Dienst bereits sehr weit fortgeschritten. Die höchsten Funktionäre eines Bundesministeriums44 können Vertragsbedienstete sein, während der Portier vielleicht noch ein Beamter ist. Noch krasser ist die Situation in ausgegliederten Einrichtungen, in denen den zugeteilten Beamten ihre Rechtsposition auf Lebenszeit garantiert ist. An der Universität etwa können einige Monate Differenz im Dienstantrittsdatum darüber entscheiden, ob jemand die völlig gleichen Aufgaben als Beamter auf Lebenszeit oder aber als Angestellter mit einem auf wenige Jahre befristeten Vertrag erfüllt.
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Vgl Anm. 21. Dazu die Erläuterungen der Regierungsvorlage eines Gesetzes über den Unabhängigen Verwaltungssenat, 63 der Beilagen im Jahr 2002 zu den Sitzungsberichten des XXVII. Vorarlberger Landtages, S. 10: Die Mitglieder des Unabhängigen Verwaltungssenats „sollen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Land stehen, was verfassungsrechtlich auf Grund der Erfordernisses der Ernennung (Art. 129b Abs. 1 B-VG) wohl auch geboten ist“. 42 § 13 Abs. 1 Stmk. Landes-Dienstrecht und Besoldungsrecht. 43 Nachweise bei Kucsko-Stadlmayer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen (Anm. 28), S. 2 f. 44 Siehe Anm. 22. 41
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2. Bemühungen um ein einheitliches Dienstrecht Seit Jahren steht im Bund ein „Bundesmitarbeitergesetz“ auf der Tagesordnung. Es soll für den Bundesdienst ein einheitliches Dienstrecht schaffen. Es ist aber nach wie vor strittig, ob dieses Dienstrecht ein öffentlichrechtliches oder ein privatrechtliches sein soll. Das Regierungsprogramm der 22. Gesetzgebungsperiode (2002–2006) sprach von einem „einheitlichen Bundesmitarbeitergesetz statt Beamten-Dienstrechtsgesetz und Vertragsbedienstetengesetz mit funktionsbezogenem Kündigungsschutz“, was – auch im Lichte der Aussagen maßgeblicher staatlicher Funktionäre – auf die Schaffung eines Einheitsdienstrechts auf vertraglicher Grundlage hindeutete.45 Die – in Österreich sehr starke – Beamtengewerkschaft46 sprach sich allerdings für eine öffentlich-rechtliche Grundausrichtung dieses Konzepts aus.47 Verwirklicht wurde dieser Programmpunkt ohnehin nicht. In der Zwischenzeit (vom Juni 2003 bis Jänner 2005) tagte der Österreich-Konvent – eine 70-köpfige Versammlung nach dem Muster des EUKonvents –, dem die Aufgabe gestellt war, eine neue Bundesverfassung auszuarbeiten.48 Naturgemäß waren auch die Verfassungsgrundlagen des öffentlichen Dienstes Thema seiner Beratungen. Der dafür zuständige Ausschuss („Reform der Verwaltung“) sprach sich überwiegend für ein einheitliches öffentliches Dienstrecht für alle Bediensteten (unklar ist, ob nur des Bundes oder auch der Länder und Gemeinden) aus. Er konnte aber keine Einigung darüber erzielen, ob eine verfassungsrechtliche Vorprägung dieses Dienstverhältnisses als privatrechtliches oder öffentlich-rechtliches gegeben sein sollte; wobei diejenigen, die eine öffentlich-rechtliche Variante anstreben, darauf hinweisen, dass ein solches öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis die unterschiedlichste Ausgestaltung – von kurzfristigen bis zu unkündbaren Dienstverhältnissen – umfassen kann.49
Im Regierungsprogramm vom Jänner 2007 wurde eine siebenköpfige Expertengruppe eingesetzt, die auf der Grundlage der Konventsberatungen zwar keine ganz neue Verfassung erarbeiten, aber eine große Verfassungsreform vorbereiten soll. (Auch der Verfasser dieses Beitrags gehört ihr an.) 45 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Warum der Rechtsstaat (eine Art) Beamte braucht (Anm. 36), S. 25; Weichselbaum, Warum (noch) Berufsbeamte? (Anm. 6), S. 327. 46 Zur „sozialpartnerschaftlichen Realverfassung des öffentlichen Dienstes“ siehe K. Hartmann, Die Flexibilität des öffentlichen Dienstes, in: ZfV 1998, S. 94. Vgl. ferner Öhlinger, Zukunft des Berufsbeamtentums (Anm. 5), S. 147. 47 Siehe Kucsko-Stadlmayer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen (Anm. 28), S. 3; Weichselbaum, Warum (noch) Berufsbeamte? (Anm. 6), S. 328. 48 Siehe dazu T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 7. Aufl., Wien 2007, Rz. 61a. 49 So der Bericht des Ausschusses 6, in: Bericht des Österreich-Konvents, Teil 3, Wien 2005, S. 141.
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Explizit ist dieser Arbeitsgruppe die Prüfung der Frage von einheitlichen Besoldungsgrundsätzen für Bund, Länder und Gemeinden aufgetragen und inzwischen von dieser bereits als nicht sinnvoll erkannt worden. Auch die neuerlich angekündigte einheitliche Rechtsform für den öffentlichen Dienst des Bundes soll von dieser Arbeitsgruppe beraten werden. Ob diese Rechtsform eine öffentlich-rechtliche oder eine privatrechtliche sein soll, lässt das Regierungsprogramm offen. De constitutione lata finden solche Überlegungen in den punktuellen verfassungsgesetzlichen Funktionsvorbehalten für Beamte – bei aller Tendenz zur Aufweichung ihrer Interpretation50 – eine Grenze. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Art. 65 Abs. 2 lit. a und Art. 66 Abs. 1 B-VG. Danach kommt dem Bundespräsidenten die Ernennung der Bundesbeamten zu. Dass in dieser die „Ernennung“ mit dem „Beamten“-Begriff kumulierenden Bestimmung öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse gemeint sind, ist, soweit ich sehe, unbestritten.51 Strittig ist jedoch, inwieweit und in welchem Ausmaß daraus abgeleitet werden kann, dass es im Bundesdienst Beamte geben muss.52 Herrschende Lehre ist es, dass jedenfalls Richter in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis zu „ernennen“ sind,53 auch wenn selbst das nicht mehr ganz unbestritten ist. Letzteres belegt eine etwas kryptische Bemerkung in den Erläuterungen zu dem – von der zuvor angesprochenen Expertengruppe ausgearbeiteten ersten – Entwurf einer B-VG-Novelle vom 23. Juli 2007, mit der die bestehenden Unabhängigen Verwaltungssenate (UVS) durch echte Verwaltungsgerichte ersetzt werden sollen. Es heißt dort: Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 134 Abs. 7 erster Satz sind die Mitglieder der Verwaltungsgerichte und des Verwaltungsgerichtshofes Richter. Die Ausgestaltung des Dienstrechts hat daher die volle Wahrung der richterlichen Garantien sicherzustellen. Darüber hinausgehende Anforderungen an die dienstrechtliche Ausgestaltung lassen sich dem Art. 134 nicht entnehmen.
Im Lichte der aktuellen Diskussionen ist dies als Vermeidung einer Festlegung auf ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis für die Mitglieder der künftigen Verwaltungsgerichte zu verstehen – geradezu ein Schulbeispiel eines dilatorischen Formelkompromisses, der die gegensätzliche Deutung 50
Siehe zuvor bei Anm. 28 f. Siehe B. Raschauer, Art. 65 B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht (Anm. 19), Rz. 49. 52 Bejahend Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen (Anm. 19), S. 17 f.; skeptisch Raschauer, Berufsbeamtentum (Anm. 29), S. 53. 53 Siehe Art. 86 B-VG. Dazu Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen (Anm. 19) S. 16; Raschauer, Berufsbeamtentum (Anm. 29), S. 56. 51
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der geltenden Verfassungsrechtslage (siehe zuvor bei Anm. 31 f.) unentschieden lässt. Aber wie immer man zu diesen strittigen Interpretationsfragen steht: Der Bundesgesetzgeber ginge jedenfalls ein sehr hohes Risiko ein, dass der VfGH ein Gesetz als verfassungswidrig aufheben würde, das öffentlichrechtliche Dienstverhältnisse zur Gänze abschaffte. VI. Argumente für einen öffentlich-rechtlichen Status Es sprechen aber auch verfassungspolitische Überlegungen gegen eine derart „radikale“ Reform. 1. Notwendigkeit einer Verfassungsänderung Es ist gewiss richtig, dass sich die charakteristischen Elemente des Beamtendienstverhältnisses – siehe zuvor IV. – auch in ein auf einem privatrechtlichen Vertrag beruhendes Dienstverhältnis gesetzlich einbauen ließen, wie die Befürworter einer solchen Rechtsform des öffentlichen Dienstes unentwegt geltend machen, die sich von einer solchen Lösung ein höheres Maß an dienstrechtlicher Flexibilität erwarten.54 Soweit eine prinzipielle Unkündbarkeit – wie jedenfalls bei Richtern – oder zumindest wirksame Kündigungsbeschränkungen – etwa für Staatsanwälte, Exekutivbeamte, Offiziere, Finanzbeamte, Diplomaten55 – verfassungsrechtlich oder rechtspolitisch geboten sind, ließe sich dies auch im Rahmen privatrechtlicher Dienstverhältnisse zum Staat konstruieren. Andererseits ist ebenso richtig, dass solche Kündigungsbeschränkungen nicht überall dort, wo (noch) heute „Beamte“ arbeiten, auch rechtspolitisch erforderlich sind. Insofern spricht durchaus einiges für ein „Bundesmitarbeitergesetz mit funktionsbezogenem Kündigungsschutz“, wie es im Regierungsprogramm von 2003 angekündigt war.56 Dass es eine sehr schwierige Aufgabe bilden würde, diesen Kündigungsschutz funktionsadäquat abzustufen, sei hier dahingestellt. Dass das spezifische Pensionsrecht der Beamten von der Bevölkerungsmehrheit als ein Privileg gesehen wird, ist verständlich, auch wenn dies praktisch nur für höhere Beamte richtig ist.57 Als Funktionsschutz zur Sicherung eines objektiven und unparteilichen Gesetzesvollzugs lässt sich 54
Siehe etwa Hartmann/Pesendorfer, Rahmenbedingungen (Anm. 35), S. 354 ff. Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Warum der Rechtsstaat (eine Art) Beamte braucht (Anm. 36), S. 27 f. 56 Siehe zuvor bei Anm. 45. 57 Interessantes Datenmaterial dazu findet sich in VfGH 29.11.2006, B 525/06 (dazu auch oben Anm. 36). 55
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dieses Pensionsrecht nicht zwingend begründen; eine entsprechende Anhebung des Aktivbezuges würde dies besser leisten. Es mag zwar derzeit verfassungsrechtlich vorgegeben sein, ist aber kein zwingendes Element eines öffentlich-rechtlichen Beamtentums. Es spricht somit einiges für eine Abkehr von jenem verfassungsrechtlich vorgegebenen „Begriffsbild des Berufsbeamten“, das der VfGH aus der Bundesverfassung herausliest. Eine solche Abkehr erfordert einen Akt der Verfassungsgesetzgebung, denn die zuvor skizzierten Versuche einer interpretatorischen Aufweichung dieses Berufsbilds stehen auf allzu tönernen Füssen. Angesichts jener großen Verfassungsreform, die seit Jahren in Österreich diskutiert wird und die auch auf der Agenda der derzeit regierenden Großen Koalition steht,58 ist es aber ohnehin naheliegend, auch die unklaren und strittigen Verfassungsgrundlagen des öffentlichen Dienstes einer Reform zu unterziehen. Das Erfordernis einer Verfassungsänderung ist somit kein gewichtiges Argument gegen eine Änderung dieses „Begriffsbilds“. Eine solche Änderung impliziert aber nicht notwendigerweise die (vollständige) Ersetzung des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses durch ein privatrechtliches. Jene „Flexibilität“, die sich die Verfechter einer (ausschließlich) privatrechtlichen Konstruktion des Dienstverhältnisses erwarten und die sie auch mit guten rechtspolitischen Argumenten einfordern können, ließe sich nämlich auch im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Konstruktion – sofern diese auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage gestellt wird – einlösen. Die in Angriff genommene Verfassungsreform eröffnet überdies eine spezielle Möglichkeit, das gewünschte Ausmaß an dienstrechtlicher Flexibilität im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Konstruktion zu erweitern. Im Österreich-Konvent diskutiert, im Regierungsprogramm von 2007 angekündigt und von der dazu bestellten Expertengruppe bereits vorbereitet ist nämlich die Einführung des öffentlich-rechtlichen Vertrages als Handlungsform der österreichischen Verwaltung.59 Das Beamtendienstverhältnis als einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zu (re-)konstruieren, ist ein Gedanke, der sich bis zu Hans Kelsen60 zurückführen lässt.61 58
Siehe zuvor bei Anm. 48. De constitutione lata sind öffentlich-rechtliche Verträge zwischen Verwaltungsbehörden und Einzelpersonen nur in sehr eingegrenztem Ausmaß zulässig. Vgl. VfGH Slg. 9226/1981 und dazu H. Eberhard, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, Wien 2005, S. 102 ff., 385 ff. 60 Siehe H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, 273. Vgl. dazu auch Eberhard, Der verwaltungsrechtliche Vertrag (Anm. 59), insbes. S. 396 f. 61 Für diese Rechtskonstruktion plädiert auch Jabloner, Verfassungsrechtliche Fragen (Anm. 19), S. 19, 21. 59
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2. Das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis als adäquate Rechtsform eines öffentlichen Dienstes Die Frage stellt sich, was die Öffentlich-Rechtlichkeit eines Dienstverhältnisses zum Staat leistet, insbesondere wenn sie auf einem Vertrag beruht? Tappt man damit nur in die Falle der Homöonymie von öffentlichem Dienst und öffentlichen Aufgaben, oder geht es dabei um mehr als bloße Worte? Dass der Staatsdienst Dienst an der Allgemeinheit ist, sollte allerdings gerade in einer Demokratie unstrittig sein. Damit unterscheidet sich aber der Dienstgeber radikal von einem privaten Unternehmer. Man muss nicht in das Pathos des berühmten „Hirtenbriefs“ Josefs II. verfallen,62 um sich darüber verständigen zu können, dass der Dienst an der Allgemeinheit etwas anderes ist als irgendein „Job“. Die „Ernennung“ in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis – sei es auch in der Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages – bringt diese Besonderheit des Dienstverhältnisses klar zum Ausdruck. Sie hat insofern vor allem eine symbolische Bedeutung. Aber abgesehen davon, dass auch eine solche Symbolik ihren Wert hat, ergeben sich daraus auch praktische Konsequenzen. Es wurde zu Recht die Frage gestellt,63 ob und inwieweit sich in ein privatrechtliches Dienstverhältnis ein Disziplinarrecht integrieren lässt, das jener spezifischen Treuepflicht eines Beamten korrespondiert, die ihrerseits aus dem Verständnis als Dienst an der Allgemeinheit resultiert. Letztlich geht es dabei um ein Ethos des Berufsbeamtentums, das sich in einer langen Entwicklung aufgebaut hat und das wohl eine unverzichtbare Voraussetzung für jenen unparteilichen und unbestechlichen Gesetzesvollzug ist, der nach wie vor den Kern des öffentlichen Dienstes ausmacht. Das österreichische Beamtentum ist noch von einem solchen Ethos geprägt,64 und man sollte das als eine Errungenschaft begreifen, die aufs Spiel zu setzen sich nicht lohnt. 62 In diesem bemerkenswerten Dokument des aufgeklärten Absolutismus verlangt der Kaiser von seinen Beamten, ihre Arbeitskraft – ohne „nach Stunden, nach Tagen, nach Seiten ihre Arbeit zu berechnen“ – ganz in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen: „Wer nicht Liebe zum Dienst des Vaterlandes und seiner Mitbürger hat, wer zur Erhaltung des Guten sich nicht von einem besonderen Eifer entflammt findet, der ist für (diese) Geschäfte nicht gemacht, nicht wert, Ehrentitel zu besitzen und Besoldungen zu beziehen . . . Wer dem Staate dienen will und dient, muß sich gänzlich hintansetzen.“ (abgedruckt in: Die österreichische Zentralverwaltung, Bd. II/4 [Wien, 1950], S. 123–132 [Schreibweise modernisiert].) Dazu auch Heindl, Gehorsame Rebellen (Anm. 1), S. 22 f.; Öhlinger, Der öffentliche Dienst (Anm. 11), S. 11. 63 Siehe Weichselbaum, Warum (noch) Berufsbeamte? (Anm. 6), S. 338 ff. 64 Siehe Welan, Republik der Mandarine? (Anm. 1), S. 21 f.
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Jedenfalls ist aber die Öffentlich-Rechtlichkeit des Dienstverhältnisses Voraussetzung für die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs – und künftig65 der Verwaltungsgerichte – sowie des Verfassungsgerichtshofs, statt jener der Arbeitsgerichte, in rechtlichen Streitfragen aus dem Dienstverhältnis. Es ist anzunehmen, dass Gerichte, die auf die spezifischen Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern spezialisiert sind, auch dem spezifischen Dienstrecht des Staates mehr Verständnis entgegenbringen als die ordentlichen Gerichte. Was rechtfertigt sonst eine spezifische Verwaltungsgerichtsbarkeit, wenn sie gerade in den dienstrechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern nicht Platz haben soll? Zusammengefasst: Es sprechen gute Gründe für eine – durchaus tiefgreifende – Veränderung der (verfassungs-)rechtlichen Grundlagen des öffentlichen Dienstes in Österreich. Ebenso gute Gründe sprechen jedoch dafür, dieses Dienstrecht zumindest für bestimmte Funktionen – und insofern unter Verzicht auf ein „einheitliches“ Dienstrecht66 – als ein öffentlich-rechtliches zu konstruieren.67
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Siehe oben bei Anm. 53. Siehe zuvor V.2. 67 Es gilt dies aber auch dann, wenn man an der Forderung nach einem einheitlichen Dienstrecht festhält (siehe zuvor V.2.), das dann eben öffentlich-rechtlich zu gestalten wäre. Aber auch unter dieser Voraussetzung bliebe es vorstellbar, dass in Ausnahmefällen – so wie bisher (siehe bei Anm. 16) – privatrechtliche Sonderverträge möglich sein sollen. Die im österreichischen Verfassungssystem sehr leichte Austauschbarkeit von öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Handlungsform der Verwaltung (siehe dazu T. Öhlinger, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung VVDStRL 45 [1987], S. 184 ff.) lässt es durchaus systemkonform erscheinen, wenn neben einer prinzipiellen öffentlich-rechtlichen Rechtsform der Dienstverhältnisse zum Staat in Einzelfällen auch privatrechtliche Dienst- und Arbeitsverträge möglich sind. 66
Das Laufbahnrecht in der Gesetzgebungskompetenz der Länder Matthias Pechstein I. Einleitung Mit dem Inkrafttreten der Föderalismusreform zum 1. September 2006 haben die Bundesländer im Bereich des Beamtenrechts eine Reihe von Gesetzgebungskompetenzen für ihre Beamten zurückübertragen erhalten. Dies betrifft das Besoldungs-, Versorgungs- und Laufbahnrecht. Mit der Übernahme dieser Gesetzgebungskompetenzen haben die Länder naturgemäß auch die politische Verantwortung für diese Bereiche übernommen. Das zentrale Stichwort in der öffentlichen Diskussion für die Ausübung dieser neuen Kompetenzen heißt: Steigerung der Flexibilität1. Die Länder möchten im Beamtenrecht an unterschiedlichen Stellen durch die Wahrnehmung dieser Kompetenzen mehr Flexibilität schaffen. Dabei ist Flexibilität allerdings zunächst nur ein Schlagwort, denn der völlig flexible Staat ist auch ein haltloser Staat, gewissermaßen ein Staat ohne Rückgrat. Flexibilität selbst kann daher nicht das Ziel gesetzgeberischen Handels sein, sondern nur ein Mittel zu Erreichung weitergehender Gemeinwohlzwecke. Zum Teil dient die Forderung nach mehr Flexibilität fraglos nur der Kaschierung von Einsparungsabsichten. Zum Teil sollen aber auch andere Ziele erreicht werden, die allerdings der Benennung und Begründung bedürfen, um die zu ergreifenden Maßnahmen rechtfertigen zu können. Im Bereich des Laufbahnrechts haben die Länder als zu verfolgende Gemeinwohlzwecke eine optimale Stellenbesetzung mit hierfür besonders geeignetem Personal sicher zu stellen, damit die mit dem Amt verbundenen Aufgaben bestmöglich erfüllt werden. Dies spricht aus Sicht der Dienstherren für eine möglichst flexible Einsetzbarkeit des vorhandenen Personals sowie für die Gewinnung neuer, möglichst geeigneter Beamter, also für ein insgesamt möglichst flexibles Laufbahnrecht. Zugleich aber haben die Länder dabei die verfassungsrechtlich geforderte Unabhängigkeit der Beamten 1 Beispielhaft: W. Nokiel, Festhalten am Laufbahnrecht – eine Reform?, in: RiA 2007, S. 115 ff., der das Laufbahnrecht völlig abgeschafft sehen möchte und den Gesetzgeber hierfür für befugt hält; hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Vorgaben ist er allerdings weitestgehend ignorant.
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zu gewährleisten. Ohne Gewährleistung der Unabhängigkeit der Beamten verliert das gesamte Beamtenrecht seine Existenzberechtigung, da die erstrebte Stabilität der Verwaltung gegenüber der auf prinzipiellen Wechsel angelegten politischen Führung2 anders nicht erreicht werden kann. Die Vorstellung des Grundgesetzes von der Absicherung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist mit der Existenz eines persönlich unabhängigen, allein dem Gesetz verpflichteten Berufsbeamtentum auf das engste verknüpft3. Die Sicherung der Unabhängigkeit spricht freilich für eine Einschränkung der Flexibilität der Gestaltungsmöglichkeiten der Dienstherren bei der Besetzung bestimmter Posten. Mehr Flexibilität bedeutet hier naturgemäß die Schaffung von Möglichkeiten zur Bevorzugung politisch oder persönlich besonders genehmer Beamter anstelle des nach Leistung und Eignung (Art. 33 Abs. 2 GG) zu berücksichtigenden Bewerbers für ein Einstellungs- oder Beförderungsamt. In gleicher Weise haben die Länder die Verantwortung, die Laufbahnchancen der Beamten zu sichern. Dies könnte wiederum für eine verstärkte Flexibilisierung sprechen, insbesondere bei der Ausgestaltung der Aufstiegsmöglichkeiten, also der Überwindung von Laufbahngruppengrenzen. Zuletzt jedoch haben die Länder auch die Aufgabe, die länderübergreifende Mobilität von Beamten sicherzustellen. Dies verlangt von ihnen, das Laufbahnrecht derart verantwortungsvoll und untereinander abgestimmt zu handhaben, dass hieraus kein bundesweiter Laufbahnwirrwarr entsteht, der einen Wechsel in ein anderes Bundesland gravierend erschwert oder gar unmöglich oder unzumutbar macht. Den Beamten muss es möglich sein, die Landesgrenzen aus beruflichen oder persönlichen Gründen zu überschreiten, was bei vollkommen unterschiedlich gestalteten Laufbahnen die Vorhaltung von Anerkennungsverfahren und entsprechende Anerkennungsparameter voraussetzt. Dies spricht für eine notwendige Abstimmung zwischen den Ländern (die gegenseitige Anerkennungspflicht für Laufbahnbefähigungen nach § 122 Abs. 2 BRRG entfällt), schränkt also die Flexibilität bei der Gestaltung des Laufbahnrechts für die einzelnen Bundesländer deutlich ein. Insoweit ist auch zu beachten, dass der Entwurf des Beamtenstatusgesetzes zwar einen wichtigen Akzent auf die Mobilitätswünsche der Dienstherren setzt, indem er Zustimmungserfordernisse der Beamten für Versetzung und Abordnung deutlich einschränkt, dagegen aber die berechtigten Mobilitätsbedürfnisse der Beamten in keiner Weise absichert4. Das Bedürfnis nach 2 Vgl. BVerfGE 7, 155, 162; 21, 329, 345; 56, 146, 162; 99, 300, 315; 107, 218, 237; 114, 258, 288. 3 B. Remmert, Warum muss es Beamte geben?, in: JZ 2005, S. 53. 4 Vgl. hierzu grundlegend B. Bochmann, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Reföderalisierung des öffentlichen Dienstrechts und der Entwurf eines Gesetzes
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Sicherung der Mobilität des Beamten ist heute aber durch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse (Berufstätigkeit des Ehe- oder Lebenspartners) für die Betroffenen besonders wichtig geworden. Bei dem verfassungsrechtlichen Stellenwert der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) dürfte sich auf der Basis der veränderten Lebensverhältnisse wohl auch eine Pflicht der Dienstherren, sich um Sicherung der Mobilitätsbedürfnisse verheirateter Beamten zu bemühen, aus der Fürsorgepflicht und damit aus Art. 33 Abs. 5 GG ableiten. Zusammenfassend lässt sich somit zunächst festhalten, dass die Länder keineswegs uneingeschränkt frei in der Gestaltung des Laufbahnrechts sind, sondern hierbei durchaus gegenläufige Aspekte zu beachten haben. Mehr Flexibilität wird es daher nur in Teilbereichen und auch dort nur abgestuft geben können. II. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Laufbahngrundsatzes 1. Laufbahnprinzip und Laufbahngruppenprinzip Das Laufbahnprinzip gehört unbestritten zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG. In Übereinstimmung mit früheren Bestimmungen lautet § 2 der BLV: „Eine Laufbahn umfaßt alle Ämter derselben Fachrichtung, die die gleiche Vor- und Ausbildung (oder eine diese Voraussetzungen gleichwertige Befähigung) erfordern (Laufbahnbefähigung); zur Laufbahn gehören auch Vorbereitungsdienst und Probezeit.“ Zentrale Bedeutung für das Verständnis des Laufbahnprinzips hat der Begriff des Amtes. Die Laufbahn knüpft am „Amt“ an, nicht dagegen an der jeweils konkret ausgeübten Funktion5. Dementsprechend wird das Laufbahnprinzip auch zu Recht als ein Prinzip der Ämterordnung begriffen. Mit dem Laufbahnprinzip ist notwendig verknüpft, dass die Laufbahnbefähigung sich auf alle Ämter der jeweiligen Laufbahn erstrecken muss, dass also dem Beamten ein Durchlaufen der Laufbahn bis zum Spitzenamt regelmäßig möglich sein muss6. Nicht unumstritten ist dagegen, ob von Art. 33 Abs. 5 GG auch das Laufbahngruppenprinzip, also die Einteilung der Laufbahnen in Gruppen – seit langem in Anknüpfung an die typischen Bildungsabschlüsse die Laufbahnen zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – BeamtStG), in: ZBR 2007, S. 1, 8; vgl. auch kritisch H. A. Wolff, Der zweite Schritt zur Föderalisierung des Beamtenrechts: Der Entwurf zum Beamtenstatusgesetz, in: DÖV 2007, S. 504 ff. 5 Vgl. H. Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? Anpassung oder Demontage eines hergebrachten Grundsatzes des Berufsbeamtentums?, in: ZBR 1981, S. 265. 6 Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 265.
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des einfachen, mittleren, höheren und gehobenen Dienstes – von Art. 33 Abs. 5 GG geschützt ist. Dies würde freilich nur das Erfordernis einer grundsätzlichen Gliederung in Laufbahngruppen bedeuten, dagegen wären nicht die derzeit bestehenden vier Laufbahngruppen verfassungsrechtlich vorgegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Laufbahnprinzip bislang nur andeutungsweise geäußert7 und zum Laufbahngruppenprinzip liegt keine verfassungsgerichtliche Klarstellung vor. In der Literatur wird allerdings weit überwiegend angenommen, dass auch das Laufbahngruppenprinzip von Art. 33 Abs. 5 GG geschützt wird8. Es wird darauf hingewiesen, dass eine hierarchisch aufgebaute Laufbahnordnung für sich allein noch keine Verwirklichung des Laufbahnprinzips darstellt, da eine entsprechende Situation auch in der Privatwirtschaft gegeben sei. Erst die Gliederung in Laufbahngruppen ermöglicht es den Beamten, ihre Laufbahn auch vom Eingangs- bis zum Spitzenamt zu durchlaufen, verwirklicht also dieses besondere Erfordernis des Laufbahnprinzips9. Das denkbare und von Gewerkschaftsseite geforderte Gegenmodell einer Einheitslaufbahn mit unterschiedlichen Einstiegsstufen und dementsprechend auch unterschiedlichen Spitzenämtern10 – die allerdings beide nicht abstrakt vorgegeben wären, sondern deren Erreichen von der Leistung des betreffenden Beamten abhinge – würde auf dieses notwendige Element des Laufbahnprinzips Verzicht tun. Bei einer Einheitslaufbahn ist es im Hinblick auf die notwendigen Qualifikationen von vornherein unvorstellbar, dass ein Beamter im untersten Eingangsamt eingestellt wird und bis zum obersten Spitzenamt vordringen kann. Die Laufbahnbefähigung würde daher bei einer Einheitslaufbahn nicht mehr das Durchlaufen der gesamten Laufbahn ermöglichen. Mit dem Laufbahnprinzip – also mit Art. 33 Abs. 5 GG – ist eine Einheitslaufbahn somit nicht vereinbar. Auch erregt die Idee der Einheitslaufbahn den Verdacht, dass es sich dabei um eine Abwehr von Bewerbern mit höheren Qualifikationen handelt: dies wäre mit dem Leistungsgrundsatz allerdings unvereinbar. Dies führt notwendig zu der Konsequenz, dass eine grundsätzliche Gliederung in Laufbahngruppen geboten ist, um die Durchlaufbarkeit der Laufbahnen zu ermöglichen. 7 Vgl. BVerfGE 13, 356, 362; 62, 374, 383; 64, 351; 71, 255, 268; vgl. J. Masing, in: H. Dreier, Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., 2006, Art. 33 GG, Rn. 93. 8 Vgl. hierzu insbesondere G. Bochmann, Die rahmenrechtliche Neuordnung des Laufbahnwesens im Entwurf für das Gesetz zur Reform der Strukturen des öffentlichen Dienstrechts, in: ZBR 2006, S. 69, 74 ff.; Lecheler (Anm. 4), S. 269; ders. (Anm. 4), S. 16); W. Leisner, Der Standort des höheren Dienstes im Beamtenverfassungsrecht, in: DÖV 1980, S. 496, 499 ff. 9 So Leisner, Standort des höheren Dienstes (Anm. 8), S. 500. 10 http://beamte.verdi.de/beamtenpolitik_1/ver.di_bundeskongress_beamtenpoliti scher_leitantrag_verabschiedet/data/leitantrag_bundeskongress, S. 10 f.
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Ebenfalls mit dem Laufbahnprinzip nicht vereinbar ist das Funktionsoder Funktionsgruppenprinzip11. Bei diesen Ansätzen wird nicht auf das Durchlaufen verschiedener Ämter abgestellt, sondern die Wahrnehmung verschiedener Funktionen oder Funktionsgruppen als maßgeblich für Einstellung, Beförderung und Aufstieg angesehen. Bei der zentralen Bedeutung des Amtsbegriffes für das gesamte Beamtenrecht kann jedoch eine Anknüpfung an die konkrete Funktion, die idealerweise auch dem Amt richtig zugeordnet ist – wenngleich dies faktisch leider keineswegs überall der Fall ist – nicht erfolgen. Das Laufbahnrecht beruht auf einer Ämterordnung, nicht dagegen auf einer Funktionenordnung12. Unzulässig ist dementsprechend auch die Übernahme des in den USA realisierten Ämterprinzips, bei dem für das jeweils einzeln ausgewiesene Amt der geeignetste Bewerber gesucht wird, ohne dass das Amt im Rahmen einer hierarchischen Ordnung mit anderen Ämtern verknüpft wäre. Hiermit sind bereits wichtige verfassungsrechtliche Grenzmarken für die Gestaltbarkeit des Laufbahnrechts durch die Länder markiert. Das derart an der Ämterordnung ausgerichtete Laufbahnrecht inklusive des Laufbahngruppenprinzips dient auch der Sicherung der Unabhängigkeit der Beamten gegen politisch motivierte Ämterpatronage. Insofern führt Leisner zutreffend aus: „Der Beamtenstatus dient vor allem der Sicherung der Unabhängigkeit der Bediensteten gegenüber politischen und verbandlichen, kurz: gesellschaftlichen Pressionen. Wie sehr der öffentliche Dienst hier dennoch bedroht ist, zeigt die Ämterpatronage, jene abgemilderte Form der Korruption, welche die Bediensteten selbst durch freiwilligen Zwang zur ‚Aufgabe ihrer Unabhängigkeit‘ veranlaßt. Die eigentliche Patronage ist dabei nur die Spitze eines Eisberges, die über zahllosen Pressionen und Versuchungen sichtbar wird. Gegen all dies bietet das Laufbahnprinzip Halt, vor allem aber die Laufbahngruppenordnung: Politischgesellschaftliche Vergünstigungen werden in die Kanäle, wenn nicht immer der Sachlichkeit, so doch einer gewissen Regelmäßigkeit gezwungen. Was aber wären die Kanäle ohne die Schleusen der Laufbahngruppen – sie können Patronage nicht nur verlangsamen, sondern sogar blockieren. Wer volle Durchlässigkeit aller Laufbahnen verlangt, muß wissen, dass er damit die Patronage, die vor allem in der Demokratie gefährliche beamtenrechtliche Prämie der Macht, wesentlich verstärkt: Das Vordringen in der Laufbahn mit ‚politischer‘ Schubkraft würde dann nicht nur schneller, es käme zu einer bedenklichen Änderung der ‚Grundstimmung‘ der Laufbahnpraxis; die sachlichen, nachprüfbar-‚geprüften‘ Kriterien der Beförderung würden noch mehr der reinen politischen Machtentscheidung weichen. Der höhere Dienst ist hier in besonderer Gefahr: Mit seinen Positionen kann man wirklich Linientreue belohnen; und dort lohnt sich dies auch erst wirklich 11 12
Bochmann, Neuordnung des Laufbahnwesens (Anm. 8), S. 77. Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 265, 267.
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für den Pressure-Willigen – er setzt auf diesem Niveau seine Lehnsmannen in die Macht. Das Laufbahngruppenprinzip, insbesondere die Existenz eines höheren Dienstes, ist also eine der wichtigsten Anti-Patronageentscheidungen des Beamtenrechts.“13
2. Laufbahnprinzip und Leistungsprinzip Das Laufbahnrecht ist bereits seit langem regelmäßig wiederkehrend einer starken Kritik der angeblichen Leistungsfeindlichkeit ausgesetzt14. Zuzugeben ist zwar eine gewisse – mit Blick auf das Zitat von Leisner im Grundsatz durchaus sinnvolle – Starrheit des Systems, die jedoch durch gesetzlich geregelte Aufstiegsmöglichkeiten schon seit langem abgemildert worden ist. Trotz seiner grundsätzlichen Schematisierung stellt das Laufbahnprinzip seinerseits einen Ausdruck des Leistungsgrundsatzes dar, der ebenfalls in Art. 33 Abs. 5 GG als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums verankert ist. Durch den dem Laufbahnprinzip zugehörigen Vorbereitungsdienst und die Laufbahnprüfung wird die Leistungsfähigkeit der Bewerber in einer auf allgemeine Befähigungsmerkmale abstellenden Weise gesichert. Mit der Laufbahnprüfung wird zwar nicht die Befähigung bereits für jede einzelne Funktion im Rahmen der verschiedenen Ämter vermittelt, insoweit dient der Erfahrungsgewinn beim Durchlaufen verschiedener Ämter jedoch der entsprechenden Vorbereitung. Ohne Sicherung der Vorbildung der Beamtenschaft wäre eine funktionsgerechte Aufgabenerfüllung utopisch. Die Personalkür nach abgestuften Kriterien ist der herrschaftlichen Personalwillkür auch allemal vorzuziehen15. Das Laufbahnprinzip stellt sich somit als gelungene Detailergänzung zu Art. 33 Abs. 2 GG dar. Das Prüfungssystem für den Eintritt in eine Karriere, die heute eine Laufbahn des höheren Dienstes darstellt, war zu Beginn der Entstehung des Beamtentums eine Abwehrmaßnahme gegen mächtige Adelsgeschlechter, welche die hohen Ämter gerne unter sich aufteilten. Aus der schon vor dem Verfassungsstaat begonnenen Praxis einer Auswahl nach Prüfungsergebnissen ist daher die begründete Vorstellung überkommen, dass keine besser am Gemeinwohl ausgerichtete Auswahl der Bewerber erkennbar ist. Die gleichwohl vielfach geforderte weitergehende Flexibilisierung der Aufstiegsmöglichkeiten, also der Möglichkeiten zur Überwindung der Lauf13
Leisner, Standort des höheren Dienstes (Anm. 8), S. 501 f. Vgl. dazu insbesondere Bochmann, Neuordnung des Laufbahnwesens (Anm. 8), S. 76 f.; Nokiel, (Anm. 1), S. 116. 15 So die treffende Formulierung von H. Günther, Aufstieg, in: DÖD 1990, S. 11, 12; vgl. auch Bochmann, Neuordnung des Laufbahnwesens (Anm. 8), S. 75. 14
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bahngruppengrenzen, wird zumeist ebenfalls mit dem Leistungsgedanken begründet. Weshalb auch soll der besonders leistungsfähige Beamte des gehobenen Dienstes, der sich auf bestimmten Dienstposten in herausragender Weise bewährt hat, nicht möglichst ungehindert auch in die Ämter des höheren Dienstes gelangen können, wenn er ersichtlich die entsprechenden Fähigkeiten aufzuweisen hat? Unbestreitbar ist es notwendig, dass derartige Aufstiegsmöglichkeiten bestehen müssen, nicht nur zum Zwecke der Eröffnung von berechtigten Karrierechancen für den besonders Tüchtigen. Auch mit Blick auf eine optimale Stellenbesetzung ist die Aufstiegsmöglichkeit eine Bereicherung für den zu entsprechender Auswahl verpflichteten Dienstherren. Beantwortet werden muss insoweit aber stets die Frage, woran die besondere Qualifikation zu erkennen ist. Die bloße Stehzeit in bestimmten Ämtern ist insofern fraglos ungenügend. Hier liegt es vielmehr nahe, eine irgend geartete Äquivalenzprüfung in einem Auswahlverfahren zu fordern, da die Vorbildung des Aufstiegsbeamten es eben nicht als Regelfall erwarten lässt, dass er den Anforderungen der nächsthöheren Laufbahngruppe gewachsen ist. Für die optimale Aufgabenerfüllung im Rahmen des betreffenden Amtes muss die entsprechende Qualifikation jedoch sichergestellt sein. Dies bedeutet zum einen, dass der Aufstiegsbeamte stets die Ausnahme bleiben wird, zum anderen, dass auf eine wie auch immer ausgestaltete Qualifikationsüberprüfung nicht verzichtet werden kann16. Die Forderung nach mehr Flexibilität in diesem Bereich darf diese beiden Aspekte nicht überspielen; mehr Flexibilität kann es daher allenfalls bei der Ausgestaltung der Überprüfung gleichwertiger Befähigungen geben, ohne dass dies jedoch zu einer Absenkung des geforderten Qualifikationsniveaus führen darf. So besteht bei der Organisation der Qualifizierungsmöglichkeiten ein beträchtlicher Spielraum: Die Bereitstellung von Qualifizierungslehrgängen und die Ausgestaltung einer Einführungszeit mit begleitenden Lehrgängen17 sind in vielfältiger Weise reformierbar. Sollten die Aufstiegsmöglichkeiten in den Ländern deutlich unterschiedlich ausgestaltet werden, dürfte dies die wechselseitige Anerkennung erheblich erschweren. Auch insoweit ist eine enge Zusammenarbeit der Länder dringend angeraten.
16 Zur Zulässigkeit des ausnahmsweise prüfungsfreien Aufstiegs in Bayern für Beamte, die das 55. Lebensjahr vollendet haben vgl. BayVerfGH, in: ZBR 2003, S. 355 ff. mit zustimmender Anmerkung von Summer. 17 Vgl. zu der entsprechenden Praxis in Bund und Ländern B. Flümann, „Ist der prüfungsabhängige Laufbahnaufstieg obsolet?“, in: PersV 2006, S. 92.
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III. Einschränkungen des Laufbahngrundsatzes In den letzten Jahrzehnten hat sich trotz dieser Vorgaben eine vielfache Verflüssigung der Laufbahngruppengrenzen ergeben. Dies beruht auf verschiedenen Ursachen. Zum einen ist der einfache Dienst aufgrund seiner finanziellen Unattraktivität weitgehend ausgetrocknet worden18. Zum anderen sind „andere Bewerber“ in einer Reihe von Laufbahnen mittlerweile nahezu zum Regelfall geworden, was sich mit dem Laufbahnprinzip, das eine Bevorzugung des Laufbahnbewerbers, welcher eine spezielle Vorbildung für diese Laufbahn erlangt hat, schwerlich vereinbaren lässt19. Dies ermöglicht überdies dem Dienstherrn wiederum eine Personalkür nach freiem Ermessen. Darüber hinaus hat sich eine auf vielfältigen Faktoren beruhende Entwertung des höheren Dienstes ergeben20. Dies betrifft nicht nur die vielfach erleichterten Aufstiegsmöglichkeiten, die im Vergleich zu dem Aufstieg in den unteren Laufbahngruppen heute zumeist ohne Prüfung erfolgen können, sondern überdies auch weitere Faktoren. Hier ist zunächst eine nivellierende Besoldungsgesetzgebung zu nennen, die im Zweifelsfall im unteren Bereich aus sozialen Erwägungen überproportionale Verbesserungen vorgesehen hat. Hinzu kommt die progressive Besteuerung, welche im Bereich oberer Einkommen zu einer deutlich stärkeren Steuerlast führt, wohingegen das Transferrecht in den unteren Besoldungsgruppen noch ergänzend die Einkommenslage verbessert, im Bereich oberer Besoldung dagegen regelmäßig ausfällt. Im Lichte der verfassungsrechtlich gebotenen Nettobezogenheit der Alimentation21 bedeutet dies eine deutliche Einschränkung der notwendigen Abstufung der Alimentation in den unterschiedlichen Besoldungsgruppen. Vor diesem Hintergrund stellt sich naturgemäß die Frage, ob nicht eine Beschränkung auf zwei Laufbahngruppen, bei denen der einfache und der mittlere Dienst sowie der höhere und der gehobene Dienst zusammengefasst werden, sinnvoll ist. Als maßgeblicher Qualifikationsunterschied wäre dabei auf den Hochschulabschluss abzustellen. Dabei stellen sich freilich mittlerweile vielfältige Fragen der Einordnung unterschiedlicher Hochschulabschlüsse (Bachelor, Master) sowie der Gleichbehandlung von Fachhochschulausbildung und Universitätsstudium22. Eine entsprechende Änderung des Laufbahnrechts wird insbesondere von einer Reihe norddeutscher Länder vorbereitet, der Bund will dagegen, wie aus dem Entwurf des Dienst18
So schon Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 269. Vgl. hierzu Bochmann, Neuordnung des Laufbahnwesens (Anm. 8), S. 77 f.; Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 266. 20 Vgl. hierzu ausführlich Leisner, Standort des höheren Dienstes (Anm. 8), S. 496 ff. 21 Hierzu zuletzt BVerfG, Urteil vom 6.3.2007, in: ZBR 2007, S. 128, 133. 19
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rechtsneuordnungsgesetzes ersichtlich – an der überkommenen Einteilung der Laufbahngruppen festhalten. IV. Verfassungskonforme Änderungsmöglichkeiten Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass eine Anknüpfung der Laufbahngestaltung an Funktionen oder Funktionsgruppen anstatt an Ämter mit der Verfassung nicht vereinbar wäre. Verfassungsrechtlich problematisch wäre auch die formale Aufrechterhaltung der bestehenden Laufbahngruppen bei ihrer tatsächlichen Liquidierung durch die weitgehende Beseitigung aller Laufbahngruppengrenzen23. Mit der Verfassung vereinbar wäre dagegen fraglos die Schaffung neuer Laufbahngruppen sowie neuer Laufbahnen. Auch die bereits bestehende Einrichtung von Überlappungsämtern bzw. Verzahnungsämtern (z. B. A 13 als Spitzenamt für den gehobenen und zugleich als Eingangsamt für den höheren Dienst) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nicht gelöst wird damit aber das Problem des „Aufstieg(s) zur besonderen Verwendung“ („Teilaufstieg“), bei dem ein Aufstieg nur für die unteren Ämter der nächsthöheren Laufbahngruppe möglich ist24, da auch aus dem Überlappungsamt noch ein Übertritt in die neue Laufbahngruppe bei entsprechenden Leistungen möglich sein muss. Hier könnte u. U. die Einrichtung von zwei Überlappungsämtern eine Alternative darstellen. Allerdings stößt die derart zunehmende Parallelführung von eigentlich vertikal gegliederten Laufbahnen damit sicherlich an die Grenze des Zulässigen, da hiermit eine systematische Gleichbehandlung von definitorisch Ungleichem (unterschiedliche Laufbahnbefähigung) erfolgt – bei durchaus problematischer sachlicher Rechtfertigung. 22 Vgl. hierzu H. W. Waldeyer, Die laufbahnrechtliche Einordnung der Studienabschlüsse der Universitäten und allgemeinen Fachhochschulen, in: ZBR 2003, S. 17. 23 So Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 269. 24 Vgl. dazu Günther (Anm. 15), S. 14 f. Der Beamte bekommt beim Verwendungsaufstieg nicht die volle Laufbahnbefähigung. Er besitzt nur eine eingeschränkte Verwendungsbreite: mittlerer Dienst: bis A 8; gehobener Dienst: bis A 11; höherer Dienst: bis A 15. In Baden-Württemberg und Brandenburg ist die Verwendungsbreite für den Aufstieg in den mittleren Dienst bis A 8 (Brandenburg A 7), für den Aufstieg in den gehobenen Dienst A 11, für den Aufstieg in den höheren Dienst A 14. In den anderen Bundesländern gibt es ähnliche Regelungen wie in Niedersachsen, teilweise aber auch nur für bestimmte Aufstiege. In Bayern gibt es zum Beispiel den Verwendungsaufstieg nur vom mittleren in den gehobenen Dienst. Teilweise gibt es auch Mindest- und Höchstaltersgrenzen (zum Beispiel Thüringen: mindestens das 45. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht das 58. Lebensjahr).
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Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre etwa auch die Schließung des einfachen Dienstes in Ermangelung eines fortbestehenden Bedürfnisses bzw. wegen der Unbesetzbarkeit dieser Ämter aufgrund ihrer finanziellen Unattraktivität. Auch eine Beschränkung auf zwei Laufbahngruppen in Abhängigkeit vom Vorliegen eines Hochschulabschlusses ist verfassungsrechtlich grundsätzlich möglich. Die Entscheidung für ein derartiges System sollte jedoch auf sachlichen Erwägungen beruhen. Dabei stellt sich sehr wohl die Frage, ob eine Verschmelzung des höheren mit dem gehobenen Dienst auf einer nüchternen Analyse oder nur auf einer politischen Forderung nach Egalisierung beruht. Sofern eine Nivellierung der Qualifikationen die derzeit mit dem Fachhochschulabschluss für den gehobenen Dienst und dem Universitätsabschluss für den höheren Dienst vermittelt wird, tatsächlich vorliegt, lässt sich eine Differenzierung in Laufbahngruppen in der Tat nicht mehr aufrecht erhalten25. Ob eine solche Angleichung der Qualifikationen stattgefunden hat, muss allerdings mit guten Gründen bezweifelt werden. Die Ausbildung an Fachhochschulen und an Universitäten verfolgt unterschiedliche Ziele und hat durchaus unterschiedliche Befähigungen der Absolventen zur Folge. Im Hinblick auf eine entsprechende Einebnung der Laufbahngruppen ließe sich andererseits aber auch darauf abstellen, ob die Anforderungen der verschiedenen Ämter sich derart verändert haben, dass auch die Anforderungen der Spitzenämter des derzeitigen höheren Dienstes als regelmäßig erfüllbar durch Absolventen der Fachhochschulen angesehen werden können. Dies würde mithin eine nennenswerte Absenkung der Anforderungen der Ämter des höheren Dienstes voraussetzen. Auch insoweit sind freilich deutliche Zweifel anzumelden. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die derzeitige Gliederung in die vorhandenen Laufbahngruppen das Ergebnis von Jahrzehnten personalwirtschaftlicher Erfahrungen darstellt26 und mithin Umgestaltungen des Laufbahnrechts mit der gebotenen Vorsicht vorgenommen werden sollten. Insofern sind sicherlich vielfältige Bereinigungen im Laufbahnrecht möglich. So ist das lediglich haushaltsrechtlich zu erklärende Institut der Anstellung27 fraglos überflüssig. Auch lässt sich die große Vielzahl von Sonderlaufbahnen mit Sicherheit reduzieren. Dabei lassen sich gewiss viele Sonderlaufbahnen auch ersatzlos schließen, da vielfach schon fraglich ist, ob hier überhaupt eine Verbeamtung erforderlich ist. Eine Vielzahl der in den Sonderlaufbahnen ausgeübten Tätigkeiten ließe sich ohne Verstoß gegen Art. 33 Abs. 4 GG auch im Angestelltenverhältnis ausüben. Die große 25
So auch Leisner, Standort des höheren Dienstes (Anm. 8), S. 502. Lecheler, Abbau des Laufbahnprinzips? (Anm. 5), S. 268. 27 Hierzu Bochmann, Grundlagen der Reföderalisierung des öffentlichen Dienstrechts (Anm. 4), S. 5. 26
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Anzahl von Sonderlaufbahnen stellt auch ein Hindernis für einen flexiblen Personaleinsatz dar, da jeweils die spezifischen Laufbahnbefähigungen für einen entsprechenden Wechsel vorliegen müssen. Anlass zur Bereinigung des Laufbahnrechts besteht auch insofern, als vielfach die geforderten Qualifikationen und die Laufbahngruppenzugehörigkeit nicht mehr zueinander passen. So ist nicht nachzuvollziehen, weshalb etwa Realschullehrer die Voraussetzungen für den höheren Dienst erfüllen müssen, ihre Laufbahn auch von A 13 bis A 15 reicht, sie aber gleichwohl dem gehobenen Dienst zugerechnet werden28. V. Schluss Die durchaus existierenden Probleme des Laufbahnrechts sind neben dem soeben erwähnten Aspekt der Überzahl an Sonderlaufbahnen oftmals an anderer Stelle verursacht, so dass das Laufbahnrecht sich gewissermaßen als der falsche Kriegsschauplatz darstellt. Die Austrocknung des einfachen Dienstes ist in diesem Sinne ein Problem des Besoldungsrechts. Die Unattraktivität der untersten Besoldungsgruppen wäre idealerweise durch eine entsprechende Verbesserung der Alimentation zu sichern. Allerdings würde dies zur Wahrung des verfassungsrechtlich gebotenen Abstands zwischen den Ämtern auch entsprechende Gehaltsverbesserungen im oberen Bereich verlangen, was aus finanziellen Gründen schwerlich vorstellbar ist. Die von verschiedenen Seiten geforderte Orientierung an Funktionen anstelle von Ämtern beruht auf dem Mangel einer klaren Ämterbewertung und der entsprechenden Zuordnung der Dienstposten zu den Ämtern. Insoweit sind die Kommunen der unmittelbaren Staatsverwaltung ersichtlich deutlich voraus. Bestünden zwischen Funktionen und Ämtern keine Diskrepanzen, gäbe es keinerlei Anlass, eine Anknüpfung des Laufbahnrechts an Funktionen zu fordern. Hier sind Bund und Länder in der Pflicht, diese Probleme angemessen zu lösen, d.h. auch den Stellenkegel entsprechend zu gestalten. Auch sind Einzelprobleme des Laufbahnrechts im Rahmen des Systems einer Lösung zuzuführen. So bedarf die laufbahnrechtliche Missgeburt des Aufstiegs zur besonderen Verwendung (Teilaufstieg), bei dem der Grundsatz der Durchlaufbarkeit der gesamten Laufbahn verletzt wird, einer Korrektur durch einen anderen Laufbahnzuschnitt. Insoweit ist an die bereits erwähnten Überlappungs- bzw. Verzahnungsämter zu erinnern. Der Bund hat dieses Institut des Aufstiegs zur besonderen Verwendung auch für seinen Bereich abgeschafft und durch den Ausbildungsaufstieg (§ 33 a BLV) und den Praxisaufstieg (§ 33 b BLV)29 ersetzt. Insbesondere der Ausbil28 Vgl. dazu S. Zängl, in: Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, BayBeamtG, Art. 20, Erl. 3. Buchst. c.
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dungsaufstieg könnte für die Länder eine wichtige Modellfunktion entfalten und für leistungsfähige jüngere Beamte eine attraktive Option darstellen. Schwerlich akzeptabel ist auch die vielfach verbreitete Vorstellung, dass der Aufstieg von einer Laufbahngruppe in die nächst höhere maßgeblich erleichtert werden müsste, also auf Prüfungen und Gleichwertigkeitsfeststellungen verzichtet werden müsste. Dies würde zu einer Diskriminierung der Besserqualifizierten führen und letztlich zu einer weiteren Entwertung der höheren Ämter beitragen. Immerhin ist auch zu bedenken, dass derjenige, der sich einer länger andauernden und anspruchsvolleren Ausbildung unterzogen hat, sein Lebenseinkommen in einer zum Teil deutlich kürzeren Zeit erwirtschaften muss als derjenige, der eine erheblich kürzer dauernde Ausbildung absolviert hat und früher angefangen hat zu arbeiten. Zu fordern ist vielmehr, dass der Aufstieg generell an eine Äquivalenzprüfung hinsichtlich der Qualifikation geknüpft bleibt. Das Laufbahnprinzip des Art. 33 Abs. 5 GG schränkt die Länder in ihrem Handlungsspielraum bei der Umgestaltung des Laufbahnrechtes somit durchaus ein. Sie haben dabei jedoch sehr wohl Möglichkeiten zu einer sinnvollen Bereinigung und zum Teil auch Modernisierung des Laufbahnrechts. Wenn das Laufbahnrecht jedoch nicht zu einer Zementierung der Kleinstaaterei beitragen soll, so ist eine Abstimmung zwischen den Ländern hierfür unerlässlich.
29 Hierzu G. Bochmann, Theorie und Praxis des Leistungsgrundsatzes nach den Dienstrechtsreformen, in: ZBR 2004, S. 405, 413.
Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes und Europakompetenz öffentlich Bediensteter Anforderungen des Europäischen Verwaltungsraums an das deutsche System Benedikt Speer1 I. Einleitung Die am 30. Juni 2007 zu Ende gegangene deutsche Ratspräsidentschaft bietet Anlass zur Erinnerung, dass deren Erfolg nicht alleine vom Verhandlungsgeschick der Bundeskanzlerin und anderer Politiker abhing,2 sondern auch von der – freilich weniger medienwirksamen – Unterstützung durch einen geschulten Verwaltungsapparat. Auf die politisch-administrative Bewältigung einer solchen Aufgabe muss sich selbst ein großer Mitgliedstaat wie die Bundesrepublik Deutschland heute intensiv vorbereiten. Entsprechende Bedarfsabfragen in den Bundesministerien wurden deshalb schon Anfang 2005 durchgeführt, aufgrund derer man 380 Bundesbedienstete auswählte, die zwischen Dezember 2005 und Dezember 2006 besondere Schulungen der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung (BAköV) erhielten, um sich schwerpunktmäßig für die Übernahme des deutschen Vorsitzes in europäischen Ratsarbeitsgruppen zu qualifizieren. Dazu nahmen sie an 2,5-tägigen Kursen teil, die aus einem Wissensmodul, einer Verhandlungssimulation, einem (fakultativen) zweistündigen Sprachmodul „The Language of Meetings“ und einem Erfahrungsaustausch mit Europaexperten bestanden.3 Ziel1 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine für die Zwecke dieser Publikation modifizierte und aktualisierte Fassung des Symposiumsbeitrags B. Speer, Die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung. Symposium aus Anlass der Emeritierung von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf, Speyerer Forschungsberichte 252, Speyer 2007, S. 127 ff. 2 Zur Erteilung eines detaillierten Mandats für die nächste Regierungskonferenz als wichtigstem Ergebnis des Europäischen Rats vom 21./22. Juni 2007 vgl. P.-C. Müller-Graff, Die Zukunft des europäischen Verfassungstopos und Primärrechts nach der deutschen Ratspräsidentschaft, in: integration, 2007, S. 223 ff. 3 Vgl. S. Hübsch-Barten, Vorbereitungsseminare auf die deutsche Ratspräsidentschaft: eine Bilanz von Sieglinde Hübsch-Barten, BAköV, Lehrgruppe 3, 19.12.2006 [unveröffentlichtes Memorandum].
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orientierte Einzelmaßnahmen dieser Art reichen allerdings bei weitem nicht aus, um die Europafähigkeit eines mitgliedstaatlichen öffentlichen Dienstes und die Europakompetenz seiner Bediensteten in einem integrationsbedingt entstehenden Europäischen Verwaltungsraum sicherzustellen.4 Dass dies zunehmend erkannt wird, zeigen insbesondere die zahlreichen Europafähigkeitskonzepte von Bund, Ländern und selbst Kommunen, die in den letzten Jahren vorgelegt worden sind. Durch sie wird der schillernde Begriff der Europafähigkeit, der beispielsweise auch im Zusammenhang mit dem Grundgesetz und mit der bundesstaatlichen Ordnung zur Anwendung kommt,5 im aktuellen verwaltungspolitischen Diskurs verankert und mit spezifischen Bedeutungsinhalten gefüllt. Während die Notwendigkeit eines europafähigen öffentlichen Dienstes insoweit wohl in keinem EU-Mitgliedstaat ernsthaft in Zweifel stehen dürfte, bleiben die verwaltungswissenschaftliche Aufbereitung dieses Themas und die kritische Auseinandersetzung mit der verwaltungspolitischen Realität jedoch noch weitestgehend zu leisten. II. Die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als verwaltungswissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand Bislang hat sich die Verwaltungswissenschaft, ebenso wie andere Disziplinen, schwer getan, die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als Un4 Zur verwaltungswissenschaftlichen Konzeption eines Europäischen Verwaltungsraums und zur Begriffsbildung vgl. H. Siedentopf/B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EUMitgliedstaaten, in: DÖV 2002, S. 753, insbes. 757 ff. Ohne Bezugnahme auf die breitere wissenschaftliche Diskussion wird der Begriff des Europäischen Verwaltungsraums in der Rechtswissenschaft hingegen in disziplinärer Selbstgenügsamkeit E. Schmidt-Aßmann zugeschrieben; vgl. M. Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, in: DÖV 2007, S. 761, 770, Fn. 94. Sowohl in der referierten Quellenangabe als auch in einer vorhergehenden und insoweit wortgleichen ersten Auflage ging es jedoch spezifisch um die „Herausforderung, Europa – in unterschiedlicher räumlicher Grenzziehung und mit unterschiedlichen Intensitätsgraden der interadministrativen Beziehungen – als einheitlichen Verwaltungsraum zu verstehen.“; vgl. E. SchmidtAßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1. Aufl., Berlin u. a. 1998, S. 307 [Hervorhebung d. Verf.]. 5 Vgl. z. B. S. Barth, Die Europafähigkeit des Grundgesetzes und die Föderalismuskommission, in: DÖV 2005, S. 894 ff.; A. Benz, Zur „Europafähigkeit“ des deutschen Bundesstaates, Vorlage für die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Kommissionsdrucksache 0043, 2004. Vgl. auch die Berichte von A. Schwall-Düren, Prüfstein für die bundesstaatliche Ordnung: Die Europafähigkeit Deutschlands; und R. Hoffmann, „Europafähigkeit“ der Bundesrepublik, in: R. Holtschneider/W. Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, Baden-Baden 2007, S. 215 ff.; resp. S. 225 ff.
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tersuchungsgegenstand aufzugreifen und eigene Kategorien dafür zu finden. Neben der relativen Neuheit des Themas6 mag das nicht zuletzt auf die Begrenztheit personeller Ressourcen zurückzuführen sein, da sowohl deutschland- als auch europaweit nur verhältnismäßig wenige Wissenschaftler über den öffentlichen Dienst im Allgemeinen arbeiten, womit das Potential für die Erforschung von dessen Europafähigkeit im Besonderen zwangsläufig noch geringer ausfällt. Umso schwerer sind die üblichen Disziplinen-, Methoden- und Rezeptionsgrenzen zu gewichten, welche die Entstehung einer am europäischen Vergleich öffentlicher Dienste interessierten „scientific community“ generell behindern.7 Zudem scheinen etabliertere Ansätze der polymorphen, multidisziplinären Europäisierungsforschung zum Oberthema der öffentlichen Verwaltung nur begrenzt auf die Untersuchung der Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes übertragbar zu sein. Ohne hier näher auf die komplexe Begriffs- und die sich dahinter verbergende Verständnisproblematik von Europäisierung eingehen zu wollen,8 lässt sich dies an zwei unterschiedlichen Ausrichtungen der Europäisierungs- und Verwaltungsforschung demonstrieren.9 Den einen Pol bilden rechtswissenschaftliche Arbeiten, die unter dem Blickwinkel des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und staatlicher Rechtsordnung insbesondere (rechtliche) Auswirkungen der Europäisierung auf die nationalen öffentlichen Verwaltungen untersuchen. Soweit eine vergleichende Perspektive eingenommen wird, stehen etwa die Entwicklung verwaltungsrechtlicher Konvergenzen zwischen den Mitgliedstaaten,10 das Modell eines „Europäischen Verwaltungsverbundes“11 oder die verwaltungsbezogenen „Ansätze eines ius commune Europaeum“12 im Vordergrund. In Bereichen wie dem des öffentlichen Dienstes, in denen die Europäisierung von und durch Recht überschaubar geblieben ist, stößt die Rechtswissenschaft jedoch schon bald an die Grenzen ihres disziplinären 6
Dazu s. u. III. 1. Zur Problematik eines Vergleichs öffentlicher Dienste in Europa vgl. J. Ziller, Das öffentliche Dienstrecht aus der Perspektive der vergleichenden Verwaltungswissenschaft, in: DÖV 2006, S. 233 ff. 8 Vgl. dazu z. B. J. P. Olsen, The Many Faces of Europeanization, Arena Working Papers WP 01/2, Oslo 2002, m. w. N. 9 Zum Folgenden vgl. ausführlich H. Siedentopf/B. Speer, La notion d’espace administratif européen, in: J.-B. Auby/J. Dutheil de la Rochère (Hrsg.), Droit Administratif Européen, Brüssel 2007, S. 299 ff. 10 Vgl. K.-P. Sommermann, Konvergenzen im Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht europäischer Staaten, in: DÖV 2002, S. 133 ff. 11 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./B. Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, Tübingen 2005, S. 1 ff. 12 Vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2., erw. Aufl., Baden-Baden 2005, S. CXII ff., insbes. CXXXII ff. 7
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Erkenntnisinteresses. Im Hinblick auf die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes, die sich derzeit nur zum kleineren Teil als eine Frage des gemeinschaftlichen oder des nationalen Rechts darstellt,13 kann sie infolgedessen auch nur einen limitierten Beitrag leisten. Den anderen Pol bilden demgegenüber komparativ orientierte politikwissenschaftliche Studien, die ihren Fokus auf die mögliche Homogenisierung von öffentlichen Verwaltungen durch Europäisierung richten. Entsprechende Entwicklungen konnten bisher allerdings grosso modo nicht überzeugend nachgewiesen werden, obwohl die theoriegeleitete Annahme homogenisierender Potentiale von Gemeinschaftsrecht und Gemeinschaftspolitiken zunächst plausibel klang.14 Die vorliegenden Ergebnisse zeigen vielmehr, dass „in sum, European-level developments have not dictated convergence on a single form of administration through attractiveness or imposition.“15 Diese Aussage kann analog auf die öffentlichen Dienste der Mitgliedstaaten übertragen werden, für die nur in wenigen Ausnahmefällen eindeutig auf den europäischen Integrationsprozess zurückzuführende Konvergenzen zu beobachten waren.16 Im Ergebnis sind daher für eine Untersuchung zur Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes zwar jeweils Anleihen bei der rechts- und bei der politikwissenschaftlichen Europäisierungsforschung möglich, die jedoch letztlich nicht ausreichen, um einen eigenständigen verwaltungswissenschaftlichen Analyseansatz zu ersetzen. Zur Übernahme dieser Funktion ist m. E. das bereits eingeführte Konzept eines verwaltungswissenschaftlich gedeuteten Europäischen Verwaltungsraums in besonderer Weise geeignet,17 weil es einerseits berücksichtigt, dass der öffentliche Dienst im Großen und Ganzen immer noch eine nationale „domaine réservé“ verkörpert, ohne andererseits Europäisierungstendenzen und vor allem europainduzierte Reformerfordernisse zu negieren. Eine solche Perspektive unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Auswirkungs- oder der Homogenisierungsforschung, setzt aber einen anderen Schwerpunkt, indem sie in erster Linie Anforderungen zu be13
Dazu s. u. II. 1. Vgl. z. B. E. C. Page, Europeanization and the Persistence of Administrative Systems, in: J. Hayward/A. Menon (Hrsg.), Governing Europe, Oxford 2003, S. 162, 166 f. 15 So J. P. Olsen, Towards a European administrative space?, in: Journal of European Public Policy 2003, S. 506, 518. 16 Vgl. D. Bossaert u. a., Der öffentliche Dienst im Europa der Fünfzehn: Trends und neue Entwicklungen, Maastricht 2001, S. 283 f.; vgl. auch C. Demmke, Europäisierung der Personalpolitiken in Europa. Die öffentlichen Dienste zwischen Tradition, Modernisierung und Vielfalt, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann, Europäisierung (Anm. 1), S. 37 ff.; und K. H. Goetz, Europäisierung der öffentlichen Verwaltung – oder europäische Verwaltung?, in: J. Bogumil/W. Jann/F. Nullmeier (Hrsg.), Politik und Verwaltung, PVS 2006, Sonderheft 37, S. 472 ff. 17 Vgl. Siedentopf/Speer, Europäischer Verwaltungsraum (Anm. 4), ebd. 14
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nennen sucht, welche die Europäisierung an den öffentlichen Dienst, so wie er sich in einem spezifisch nationalen Kontext herausgebildet hat, stellt. Ein Vergleich verschiedener mitgliedstaatlicher Systeme muss demzufolge zunächst auf einzelstaatlicher Basis vorbereitet sein, bevor fundierte Aussagen über Konvergenzen oder Divergenzen möglich werden.18 Die Identifizierung von Anforderungen der Europäisierung in einem vorerst nationalen Rahmen setzt allerdings eine normative Positionierung voraus. Unter Anforderungen könnten nämlich rein reaktiv nur die aufgrund einer Mitgliedschaft in der EU unbedingt erforderlichen Minimalanpassungen im öffentlichen Dienst verstanden werden. Eine aktive und auch in europäischen Angelegenheiten dem Ideal der „good administration“ verpflichtete Einstellung wird hingegen das realistisch erreichbare und daher zu fordernde Europafähigkeitsoptimum als Maßstab wählen. Sie darf sich demnach nicht mit der Analyse von gemeinschaftsrechtlich normierten (Mindest-)Anforderungen zufrieden geben, sondern muss sich auch auf solche weiter reichenden Anforderungen erstrecken, welche die Leistungsbilanz eines öffentlichen Dienstes im kooperativ-konkurrierenden Mehrebenengeflecht der EU in einem funktionellen Sinn verbessern können.19 Einige Anmerkungen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland sollen die damit verbundenen Probleme verdeutlichen. 1. Die gemeinschaftsrechtliche Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes Von der Sache her lassen sich die „harten“ gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen, denen der deutsche öffentliche Dienst aufgrund der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der EU genügen muss, relativ bequem erfassen. Darunter fallen alle einschlägigen Rechtsregeln, die sich dem primären und dem sekundären Gemeinschaftsrecht, der darauf beruhenden Rechtsprechung und dem aus diesen Quellen gespeisten nationalen Recht entnehmen lassen. Sie sind schriftlich niedergelegt, öffentlich zugänglich und aufgrund des Gemeinschaftsprinzips der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten in ihrem Bestand verhältnismäßig übersichtlich.20 Insofern kann an dieser Stelle der summa18 Zur grundsätzlichen Problematik von Konvergenzaussagen vgl. C. Pollitt, Clarifying Convergence, in: Public Management Review 2002, S. 471 ff. 19 Ein an diesen Leitgedanken ausgerichtetes Forschungsvorhaben zur Europafähigkeit des deutschen öffentlichen Dienstes wird derzeit vom Verfasser am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung durchgeführt. Zur Projektkonzeption vgl.: http://www.foev-speyer.de/europafaehigkeit/inhalte/01_home.asp. 20 Zu diesem Grundsatz vgl. z. B. A. Hatje, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 10, Rn. 34 ff., m. w. N.
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rische Hinweis genügen, dass sich die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen – sieht man von den Grunderfordernissen demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnungsmaximen ab21 – auf Aspekte der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 4 EGV), der Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 141 EGV), der Arbeitsplatzsicherheit und des Gesundheitsschutzes sowie, indirekt, auf das Personalvertretungsrecht des öffentlichen Dienstes beziehen.22 Hinzu kommen bereichsspezifische Handlungsund Unterlassungspflichten, welche insbesondere die öffentlich Bediensteten, die mit dem mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht betraut sind, in ihrer alltäglichen Arbeit zu beachten haben.23 Oft ist ihnen dabei ein supranationaler Hintergrund gar nicht bewusst, so wie auch in der Regel keine Unterschiede zu sonstigen europäischen Vollzugsaufgaben gemacht werden.24 Ausschlaggebend für die Beurteilung der gemeinschaftsrechtlichen Europafähigkeit wird in jedem Fall die gemeinschaftsrechtskonforme Ausgestaltung, Auslegung und Implementierung des nationalen Dienst- und Arbeitsrechts sowie der jeweiligen Vollzugsregeln für Gemeinschaftsrecht in Bund, Ländern und Kommunen sein. Zu diskutieren bleibt in dem Zusammenhang allerdings, ob ein Nachweis für die geforderte Gemeinschaftsrechtskonformität ex positivo überhaupt erschöpfend geführt werden kann. Denn die zur Beurteilung von Rechtszuständen üblicherweise verwendeten Parameter wie Rügen von Regelverstößen, Vertragsverletzungs21 Vgl. z. B. M. Hilf/F. Schorkopf, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Bd. I, München (32. EL, April 2007), Art. 6 EUV, Rn. 14 ff. 22 Vgl. im Einzelnen z. B. C. Demmke/M. Haritz, Unterschiedliche Definitionen des Arbeitnehmerbegriffs im Gemeinschaftsrecht und die Auswirkungen auf den öffentlichen Dienst, in: ZEuS 2004, S. 625 ff.; J. A. Kämmerer, Das deutsche Berufsbeamtentum im Gravitationsfeld des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Die Verwaltung 2004, S. 353, insbes. 358 ff.; H. Lecheler/F. Germelmann, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Personalvertretungsrecht, in: PersV 2005, S. 317 ff.; E. Schröter, Europäischer Verwaltungsraum und Reform des öffentlichen Sektors, in: B. Blanke u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 3., völlig überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 510, 515 f.; R. Summer, Auswirkungen des Europarechts auf das Beamtenrecht, in: W. Bottke u. a. (Hrsg.), Recht in Europa, Baden-Baden 2003, S. 281 ff.; A. Voßkuhle, Europäisierung des öffentlichen Dienstes, in: R. Pitschas/A. Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, FS für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 189, insbes. 191 ff. 23 Zur „Vielfalt der miteinander verbundenen Verwaltungsvorgänge“, aus denen sich diese Pflichten ergeben, vgl. z. B. die Beiträge in: Schmidt-Aßmann/SchöndorfHaubold, Der Europäische Verwaltungsverbund (Anm. 11), S. 25 ff. 24 Vgl. dazu schon H. Siedentopf/C. Hauschild, The Implementation of Community Legislation by the Member States: A Comparative Analysis, in: H. Siedentopf/J. Ziller (Hrsg.), Making European Policies Work, Vol. I: Comparative Syntheses, London u. a. 1988, S. 1, insbes. 57 ff.
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verfahren und Gerichtsentscheidungen beleuchten nur pathologische Ausschnitte der Verwaltungsrealität.25 Gleichzeitig bietet selbst das Fehlen solcher Negativindikatoren per se noch keinen hinreichenden Grund zur Beruhigung, weil unter Umständen auch mangelndes Problembewusstsein, eine irrige Rechtsauffassung oder eine rechtswidrige, bislang aber nicht angefochtene Verwaltungspraxis dafür ursächlich sein mögen. Diesbezügliche Missdeutungen können jedoch gravierende Folgen haben, wie nicht zuletzt das EuGH-Urteil zum Bereitschaftsdienst von Klinikärzten als regulärer Arbeitszeit mit seinen erwarteten Folgekosten für die öffentlichen Arbeitgeber in warnende Erinnerung gerufen haben sollte.26 2. Die funktionelle Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen zur Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes ist das zwar gewollte und erklärbare,27 aber dennoch zweifellos eklatante Missverhältnis zwischen dem geringen gemeinschaftsrechtlichen Regulierungsgrad einerseits und den umfangreichen Verantwortlichkeiten andererseits, die öffentlich Bedienstete bei der Genese, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht und von Gemeinschaftspolitiken zu übernehmen haben.28 Entsprechend der institutionell-personellen Bedeutung von Beamten und Angestellten für das Funktionieren des europäischen Mehrebenensystems muss es daher logischerweise zusätzliche, gemeinschaftsrechtlich nicht normierte Anforderungen geben, die an öffentlich Bedienstete bei der Wahrnehmung von europäischen Angelegenheiten gestellt werden. Deren Identifizierung sowie das Reagieren auf sie liegt in der ausschließlichen Verantwortung des einzelnen Mitgliedstaates, der insoweit nach Artikel 10 EGV nur unbestimmt gehalten ist, „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag ergeben“, zu treffen, beziehungsweise „alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden 25
Zu diesem in der Rechtswissenschaft nur selten beachteten Sachverhalt vgl. E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, Berlin 1981, S. 18 f. 26 EuGH, Urteil v. 09.09.2003 (Landeshauptstadt Kiel gegen Norbert Jaeger), Rs. C-151/02; vgl. auch C. Schlottfeld, Das novellierte Arbeitszeitgesetz nach der Jaeger-Entscheidung des EuGH, in: ZESAR 2004, S. 160 ff. 27 Dazu s. o. II. 1., insbes. Anm. 20. 28 Zu den Tiefen- und Breitenwirkungen der Europäisierung in den Verwaltungen von Bund und Ländern vgl. z. B. D. Grunow u. a., Zwischenbericht des DFG-Forschungsprojektes „Die Auswirkungen der europäischen Integration auf das politischadministrative System der Bundesrepublik Deutschland“, Duisburg 2003 [Manuskript]. Zu Europaaufgaben öffentlicher Verwaltungen vgl. auch P. v. d. Hoek (Hrsg.), Handbook of Public Administration and Policy in the European Union, Boca Raton u. a. 2005, Part III: European Union public administration, S. 233 ff.
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könnten“, zu unterlassen.29 Einem hoch entwickelten westeuropäischen Staats- und Verwaltungssystem, das sich wie die Bundesrepublik Deutschland dem durchgängig mitgestalteten europäischen Integrationsprozess graduell anpassen konnte, ist wohl cum grano salis zu unterstellen, dass sein öffentlicher Dienst und dessen Bedienstete zumindest in der Regel rein funktional in der Lage sein werden, vertraglich eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen. Die entsprechenden Anforderungen an die Europafähigkeit des deutschen öffentlichen Dienstes werden sich insofern vermutlich weniger auf der funktionalen Primär- als vielmehr auf der funktionellen Sekundärebene bewegen, die über die bloße Aufgabenerfüllung hinaus auf die entfaltete „Leistung“ und die „Leistungsfähigkeit“ abstellt,30 also nach Effektivität und Effizienz fragt. In diese Richtung deuten auch die zahlreichen Europafähigkeitskonzepte für den öffentlichen Dienst, die inzwischen in Bund, Ländern und Kommunen existieren. Ihnen lassen sich wichtige Hinweise entnehmen, in welchen Bereichen Politik und Verwaltung selbst Leistungsdefizite sehen und wie sie diesen abzuhelfen gedenken. Mangels systematischer Auswertungen und objektiver Bewertungsmaßstäbe muss zwar bis auf Weiteres unklar bleiben, ob die Europafähigkeitskonzepte tatsächlich schon die Gesamtheit aller diesbezüglich zu fordernden Maßnahmen in sich vereinen, oder ob sie nicht vielmehr in Form eines „hermeneutischen Verwaltungszirkels“31 aufgrund von nicht erkannten „Betriebsblindheiten“ oder aus anderen Motiven eventuell relevante Faktoren vernachlässigen. Nichtsdestotrotz wird in diesen Konzepten ein beträchtlich über gemeinschaftsrechtliche Anforderungen hinausgehender Soll-Zustand funktioneller Europafähigkeit offiziell für den deutschen öffentlichen Dienst niedergelegt, weswegen eine wissenschaftliche Diskussion der verwaltungspolitischen Realität hier einsetzen muss.
29 Zu entsprechenden Aufgaben und Pflichten der Mitgliedstaaten und ihrer Verwaltungen vgl. z. B. A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Anm. 21), Art. 10 EGV, insbes. Rn. 43 ff.; vgl. auch Hatje, Art. 10 (Anm. 20), ebd. 30 Insofern geht der Meinungsgehalt von „funktionell“ über das ansonsten synonyme „funktional“ in der Bedeutung von „das Funktionieren, die Funktionen betreffend, der Funktion entsprechend“ hinaus; vgl. Duden: Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim u. a. 2001, S. 587. 31 Auf dieses Phänomen, bei dem die Verwaltung die Problemdefinition und -lösung ausschließlich an selbst gewählten Maßstäben ausrichtet, ist am themenverwandten Beispiel der Personalentwicklung von Führungskräften hingewiesen worden; vgl. J. Lorse, Personalmanagement im öffentlichen Dienst, Neuwied u. Kriftel 2001, S. 3.
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III. Die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als Element der Verwaltungspolitik Während die gemeinschaftsrechtliche Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes notfalls durch ein Urteil des EuGH als schärfster Waffe erzwungen werden kann – prominente Beispiele sind die teilweise Öffnung des deutschen Beamtenstatus für EU-Ausländer32 oder die Zulassung von Frauen zum Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr33 – ist dies bei der funktionellen Europafähigkeit nicht der Fall. Ein Mitgliedstaat muss entsprechende Aktivitäten aus eigenem Antrieb entfalten, wobei für die Bundesrepublik Deutschland vor allem die Konkurrenz zu und der Vergleich mit anderen großen EU-Ländern gegen Mitte/Ende der 1990er Jahre als auslösendes Moment wirkte. Nach einigen verwaltungsinternen Vorläufen34 und einer im beginnenden Bundestagswahlkampf kaum beachteten Anmerkung im Abschlussbericht des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“ von 1997,35 wurde die deutsche Europafähigkeitsdebatte erst 1998 durch einen Oppositionsantrag im Bundestag öffentlichkeitswirksam angestoßen.36 Dieser monierte, dass deutsche Staatsbürger in den Personalkörpern europäischer Institutionen deutlich unterrepräsentiert seien, ein für die Regierung des bevölkerungsreichsten, wirtschafts- und finanzstärksten Mitgliedstaates brisanter Vorwurf, dem eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 1999 zusätzliches Gewicht verlieh.37 Von den unter dem Schlagwort der „Deutschen Delle“ bekannt gewordenen Problemen der deutschen Nachwuchsförderung im Ausland wurden alsbald Parallelen zu strukturellen Defiziten der Personalpolitik des öffentlichen Dienstes im Inland gezogen. Obwohl sich eine Kausalität nicht beweisen lässt, dürfte es angesichts der überregionalen Medienberichterstattung38 insoweit kein Zufall sein, dass noch im Jahr 1999 32
EuGH, Urteil v. 03.07.1986 (Deborah Lawrie-Blum gegen Land Baden-Württemberg), Rs. 66/85. 33 EuGH, Urteil v. 11.01.2000 (Tanja Kreil gegen Bundesrepublik Deutschland), Rs. C-285/98. 34 So gab es seit 1996 auf Staatssekretärsebene mehrere Beschlüsse zur „Verbesserung der Personalpolitik im Hinblick auf die Europafähigkeit im öffentlichen Dienst“; vgl. A. v. Fircks, Verwendung von Personal im internationalen Bereich: Die deutsche Präsenzlücke, ihre Ursachen und Vorschläge zu ihrer Minderung, o. O. 2001, S. 1 [unveröffentlichte Studie des BMI]. 35 Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ (Hrsg.), Abschlussbericht, Bd. 1, Bonn 1997, S. 135. 36 Vgl. Antrag „Angemessene deutsche personelle Repräsentanz in inter- und supranationalen Organisationen“, BT-Drs. 13/10793 v. 26.05.1998. 37 Vgl. B. Neuss/W. Hilz, Deutsche personelle Präsenz in der EU-Kommission, hrsg. v. d. Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studie Nr. 180/1999, Sankt Augustin 1999.
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erste Europafähigkeitskonzepte für den öffentlichen Dienst in Bund und Ländern vorgelegt oder wenigstens initiiert wurden. 1. Europafähigkeitskonzepte als Indikatoren für den verwaltungspolitischen Soll-Zustand funktioneller Europafähigkeit a) Die Ebene des Bundes Eine quasi regierungsamtliche Definition von Europafähigkeit existiert auf der Bundesebene, soweit ersichtlich, bis heute nicht. Der Begriff findet sich jedoch 1999 im Reformprogramm „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ der rot-grünen Koalition, in dem Europafähigkeit als ein „besonderer Gesichtspunkt der Personalentwicklung“39 bezeichnet wird. Eine Berücksichtigung bei der Erstellung von Personalentwicklungskonzepten wurde in der Folgezeit mehrmals von dem mit der Reformumsetzung beauftragten Staatssekretärsausschuss eingefordert,40 wobei die offenen Formulierungen den einzelnen Bundesbehörden einen großen Interpretationsspielraum ließen, den sie für eigene Ausfüllungen nutzen konnten. Eine ressortübergreifende Konzeption ist dabei noch am ehesten im Weiterbildungsangebot „Europafähigkeit und internationale Kompetenz“ der BAköV zu erkennen. In Anlehnung an die für Führungskräfte allgemein geforderte Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz wird Europafähigkeit hier durch das Vorhandensein beziehungsweise durch den Erwerb europabezogener Fach-, Verhandlungs- und interkultureller Kompetenzen definiert.41 Zur Erreichung dieser Zieltrias sollen verschiedene Weiterbildungsmodule beitragen, die etwa die Vermittlung von Basiswissen zur institutionell-rechtlichen Grundordnung der EU und ihrer wichtigsten Aktionsfelder oder die Vertiefung von Kennt38
Bezeichnenderweise führt ein Pressespiegel des FAZ-Archivs zum Thema der Europafähigkeit 20 einschlägige Artikel seit 1998 auf, aber nur einen, der vor diesem Datum erschienen ist [Anm. d. Verf.]. 39 Bundesregierung, Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Das Programm der Bundesregierung, Kabinettsbeschluss vom 01.12.1999, S. 11. 40 Vgl. Staatssekretärsausschuss Moderner Staat – Moderne Verwaltung, Beschluss: Ergebnis des ressortübergreifenden Arbeitskreises „Personalentwicklung“ zur Erstellung von Personalentwicklungskonzepten, o. O., 29.01.2001, S. 1; ders., Moderner Staat – Moderne Verwaltung: Personalentwicklung in der Bundesverwaltung, o. O., 10.12.2001, S. 4. 41 So Bundesakademie für öffentliche Verwaltung beim Bundesministerium des Innern, Europafähigkeit und internationale Kompetenz, o. O., o. J., S. 1 [zugänglich über: http://www.bakoev.bund.de/nn_7962/SharedDocs/Publikationen/LG_1/euro pafaehigkeit_und_internationale_kompetenz,templateId=raw,property=publication File.pdf/europafaehigkeit_und_internationale_kompetenz.pdf; zuletzt abgerufen am 15.08.2007]; vgl. auch G. Wurster/S. Hübsch-Barten, Europafähigkeit als Fortbildungsaufgabe der BAköV, in: VuF 2003, Nr. 3, S. 13 ff.
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nissen der Rechtsetzungsverfahren und aktueller politischer Fragen beinhalten. Außerdem empfiehlt die BAköV einen Arbeitsaufenthalt bei der Europäischen Kommission, der, vorausgesetzt der Dienstherr genehmigt ihn und setzt nicht zu enge zeitliche Schranken, praktische Einsichten und interkulturelle Erfahrungen in einem europäischen Umfeld beizusteuern vermag.42 Daneben begegnet der Begriff der Europafähigkeit auf der Bundesebene aber auch in Personalentwicklungskonzepten, welche die Bundesministerien für ihren jeweiligen Geschäftsbereich eingeführt haben. Wegen seines besonderen Stellenwerts für den öffentlichen Dienst sei an dieser Stelle nur das Bundesministerium des Innern (BMI) genannt, das bislang für die Ausarbeitung von Rahmenvorschriften für das deutsche Dienst-, Beamten-, Tarif- und Besoldungsrecht insgesamt zuständig war.43 Unter der Überschrift „Stärkung der Europafähigkeit“ sah das erste Personalentwicklungskonzept des BMI aus dem Jahr 2002 vor allem die Förderung zeitlich befristeter Auslandstätigkeiten von mindestens einjähriger, vorzugsweise aber von zwei- bis fünfjähriger Dauer für Angehörige des gehobenen und des höheren Dienstes vor. Führungskräfte wurden angehalten, Entsendungen als „zusätzliches Qualifizierungsmerkmal“ zu werten und für die Folgeverwendung möglichst zu berücksichtigen.44 Eine im Frühjahr 2006 vorgelegte Neufassung schreibt hingegen zunächst Anforderungsprofile für an Auslandseinsätzen interessierte Mitarbeiter des Ministeriums fest, anhand derer gegebenenfalls der individuelle Qualifizierungsbedarf der Entsendewilligen zu ermitteln ist. Großer Wert wird auch auf eine frühzeitige Rückkehrplanung sowie auf die Berücksichtigung von Außenverwendungen bei Beförderungsentscheidungen gelegt, die „keinesfalls zu Nachteilen, z. B. aufgrund beurteilungstechnischer Inkompatibilitäten, führen [dürfen].“45 Dass Europafähigkeit inzwischen bis in den gehobenen Bundesdienst hinein als integraler Bestandteil von Qualifikationsprofilen angesehen wird, zeigt zudem die Einrichtung eines spezialisierten Masterstudiengangs „Europäisches Verwaltungsmanagement“ an der Fachhochschule des Bundes, der bezeichnenderweise im Fachbereich Allgemeine Innere Verwaltung angesiedelt ist.46 42 Zu den Problemen des interkulturellen Trainings vgl. z. B. J. Bolten, Interkultureller Trainingsbedarf aus der Perspektive der Problemerfahrungen entsandter Führungskräfte, in: K. Götz (Hrsg.), Interkulturelles Lernen/Interkulturelles Training, 5. Aufl., München u. Mering 2003, S. 61 ff. 43 Zur Reföderalisierung in diesem Bereich vgl. kritisch M. Pechstein, Wie können die Länder ihre neuen beamtenrechtlichen Kompetenzen nutzen?, in: ZBR 2006, S. 285 ff. 44 So Bundesministerium des Innern, Die Mitarbeiterförderung im Blickpunkt der Verwaltungsmodernisierung, Personalentwicklungskonzept für das Bundesministerium des Innern, Berlin 2002, S. 27. 45 So Bundesministerium des Innern, Personalentwicklungskonzept: Zufriedene Beschäftigte – effiziente Verwaltung, Berlin 2006, S. 19 f.
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b) Die Ebene der Länder Im verflochtenen deutschen Föderalismus wäre es allerdings zu kurz gegriffen, die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als alleinige Verantwortlichkeit des Bundes aufzufassen. So mahnt ein Beschluss der Europaminister der deutschen Länder von 1999 für diese ausdrücklich „weitere Anstrengungen insbesondere bei der Europäisierung der Aus- und Weiterbildung sowie bei der Einstellungs- und Beförderungspraxis zur Stärkung der Europafähigkeit“ an. Eine intensivere Behandlung europapolitischer und europarechtlicher Aspekte müsse bereits in der Ausbildungsphase erfolgen, wohingegen nach der Einstellung in den Landesdienst insbesondere die zeitweise Entsendung öffentlich Bediensteter als Nationale Experten zur Europäischen Kommission dazu beitragen könne, die Europafähigkeit der Länderverwaltungen zu verbessern.47 Ähnliche Aussagen, ergänzt durch eigene Akzentsetzungen, finden sich auch in den Europafähigkeitskonzepten der einzelnen Landesregierungen für ihre Verwaltungen wieder. In Baden-Württemberg, das über ein eigenes Referat „Europafähigkeit“ im Staatsministerium verfügt, legen die so genannten Europagrundsätze beispielsweise seit 1999 fest, dass bei der Einstellung in den gehobenen und höheren Landesdienst auf „europäische bzw. internationale Zusatzqualifikationen geachtet werden [sollte]“. Eigens zu gewichten seien „Sprachkenntnisse, entsprechende Studienschwerpunkte, Ergänzungsstudien sowie fachliche Auslandsaufenthalte“. Zur Förderung befristeter Auslandstätigkeiten baden-württembergischer Bediensteter sollen überdies „im Rahmen des dienstrechtlich Möglichen personalwirtschaftliche Anreize gegeben werden. In Betracht kommen z. B. herausgehobene Funktionen nach Rückkehr sowie die Halbierung der haushaltsrechtlichen Sperrfristen.“48 Im Vergleich eher appellativ wirkt dagegen das Konzept des Landes Berlin, das Europafähigkeit ganz generell als wichtiges Entscheidungskriterium für „Aus- und Fortbildung, Personaleinstellung, Austauschmaßnahmen und Personalentwicklung“ bezeichnet. Dem liegt das Leitbild einer „europapolitisch hoch motivierten Verwaltung“ zu Grunde, deren Mitarbeiter „neben Know-how der europäischen Institutionen und Rechtsetzungsabläufe spezifische Kenntnisse zur 46 Vgl. dazu L. Schmahl, Bundesbeamte und Europafähigkeit: Vorträge im Rahmen des Masterstudienganges „Europäisches Verwaltungsmanagement“, Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berichte Nr. 31, Brühl 2004. 47 So Europaministerkonferenz, Beschlüsse der 19. Europaministerkonferenz der Länder, TOP 7: Europafähigkeit der Landesverwaltungen, Bremen, 22./23.04.1998. 48 So Staatsministerium Baden-Württemberg, Bekanntmachung des Staatsministeriums über die Europagrundsätze der Landesverwaltung – Personalwirtschaftliches Gesamtkonzept für die Landesverwaltung, GABl. BW v. 31.08.1999, S. 428 f.; vgl. auch E. Dette-Koch, Europafähigkeit der Landesverwaltung, in: BWGZ 2002, S. 817 ff.
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Umsetzung von EU-Recht in Landesrecht und bei der Erschließung von Fördermitteln sowie gute fremdsprachliche Qualifikationen und interkulturelle Kompetenz“ aufweisen sollen.49 Einen wiederum anderen Weg wählte das Land Niedersachsen, das anstelle von Soll-Vorschriften oder Leitbildern, die letztlich dem Ermessen des Anwenders überlassen bleiben, seit 2002 den Nachweis von „Europakompetenz oder sonstiger internationaler Erfahrung“ als förmliche Voraussetzung für eine Beförderung in Amts-, Abteilungs- und Referatsleiterstellen sowie vergleichbare Funktionen der Landesverwaltung festgelegt hat. Eine gewisse Flexibilität gewährleisten unter anderem zeitliche Staffelungen, Ausnahmeregelungen und unterschiedliche Qualifizierungszugänge.50 Mit diesen lediglich exemplarisch angeführten Beispielen ist die Bandbreite von unterschiedlichen Zielvorstellungen, Maßnahmenkatalogen und Regelungsintensitäten jedoch noch nicht erschöpft, da inzwischen alle 16 Flächenländer und Stadtstaaten über mehr oder weniger detaillierte Europafähigkeitskonzepte verfügen.51 c) Die Ebene der Kommunen Neben dem Bund und den Ländern, die den verwaltungspolitischen Europafähigkeitsdiskurs dominieren, können die Kommunen von ihren Kompetenzen und Möglichkeiten her nicht gleichwertig vertreten sein. Gleichwohl haben sich zwischenzeitlich auch auf der kommunalen Ebene Initiativen entwickelt, die über die verbreitete Einrichtung der oft auf europäische Subventions- und Wirtschaftsförderungsaspekte konzentrierten kommunalen Europabeauftragten hinausgehen.52 Angesichts uneinheitlicher Öffentlichkeitsprofile ist ein Überblick hierzu zwar nur schwer zu gewinnen. Bekannt gewordene Programme wie „Nürnberg goes Europe“, die Kommunalbe49 So Senatskanzlei des Landes Berlin, Referat Europapolitik, Europafähigkeit der Berliner Verwaltung, o. O., o. J., S. 1. 50 So Innenministerium des Landes Niedersachsen, Vereinbarung über die Berücksichtigung von Europakompetenz und internationaler Erfahrung bei der Besetzung von Führungspositionen in der niedersächsischen Landesverwaltung, Nds. MBl. Nr. 28/2002, S. 592 f., insbes. Ziff. 3 ff. 51 So enthält z. B. eine entsprechende Abfrage des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2004 zahlreiche Einzelinformationen zu den Europafähigkeitsaktivitäten der Länder, die aber von sehr unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft sind; vgl. Ausschuss für das deutsche Personal bei der EU und internationalen Organisationen (APEIO), APEIO-Abfrage Länder-Aktivitäten zur Erhöhung des deutschen Personalanteils in Internationalen Organisationen (Stand: 03.05.2004), Memorandum zur 43. Sitzung, Berlin, 13.05.2004 [unveröffentlichtes Dokument]. 52 Zu den kommunalen Europabeauftragten und ihren Aufgaben vgl. z. B. C. J. Schultze, Die deutschen Kommunen in der Europäischen Union, Baden-Baden 1997, S. 158 ff.
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dienstete für Hospitanzen in europäischen Institutionen freistellen, oder Einrichtungen wie das Europabüro der baden-württembergischen Kommunen in Brüssel, die kommunale Europabeauftragte und Verwaltungsmitarbeiter für Kurzpraktika aufnehmen,53 sind aber zweifellos keine Einzelfälle mehr.54 Gleichzeitig wird auch in der Fachhochschulausbildung für die Kommunalverwaltung zusehends Wert auf europäische Lerninhalte gelegt, „mittels [derer] die Europafähigkeit der zukünftigen Kommunalbeamtinnen und -beamten gestärkt werden soll.“55 2. Empirische Befunde zur Europakompetenz öffentlich Bediensteter als Indikatoren für den verwaltungspraktischen Ist-Zustand funktioneller Europafähigkeit Die Varianz des verwaltungspolitischen Europafähigkeitsdiskurses in Bund, Ländern und Kommunen verdeutlicht die Vielzahl von Konzeptionen und Einzelelementen, die derzeit unter den Oberbegriff der (funktionellen) Europafähigkeit subsumiert werden. Auffallend ist dabei vor allem die fast durchgängige Gleichsetzung von Europafähigkeit mit der oft auch synonym verwendeten Europakompetenz öffentlich Bediensteter, die jedenfalls in dieser personenbezogenen Form nach einer begrifflichen Zuordnung zum Bereich des Personalwesens und der Personalentwicklung verlangt. Eine saubere terminologische Trennung, die in der Praxis freilich kaum durchzuhalten sein wird, sollte hingegen die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als den anzustrebenden Gesamtzustand verstehen, für dessen Erreichung die personale Europakompetenz öffentlich Bediensteter eine zwar unabdingbare, nicht aber eine alleinige Voraussetzung darstellt. Dass es daneben andere Faktoren gibt, welche die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes konditionieren, haben die Ausführungen zur gemeinschaftsrechtlichen Europafähigkeit bereits gezeigt.56 Der spezifischere Begriff der Europakompetenz umfasst demgegenüber nach einer ersten Arbeitsdefinition „all 53
Vgl. Europabüro der baden-württembergischen Kommunen, Fit werden für Europa [zugänglich über: http://www.europabuero-bw.de/hospitanz.htm; zuletzt abgerufen am 15.08.2007]. 54 Vgl. z. B. die Stellungnahmen zum „Modellprojekt ‚Europafähige Kommune‘ “, 67. Sitzung des Europaausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Kiel, 19.01.2005, S. 4 ff.; sowie die Beiträge von F. Wolf, Europakompetenz in der Stadtverwaltung: Die Europaarbeit der Stadt Köln; und R. Harte, Europakompetenz in der Kreisverwaltung: Das Europabüro Rhein-Kreis Neuss, in: U. v. Alemann/C. Münch (Hrsg.), Europafähigkeit der Kommunen, Wiesbaden 2006, S. 251, insbes. 255 ff.; resp. S. 269, insbes. 270 ff., 279. 55 C. Welz, Europafähigkeit der Kommunen stärken, in: BWGZ 1998, S. 261, 262. 56 Dazu s. o. II. 1.
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personal skills needed to enable civil servants to deal succesfully with European affairs at the subnational, national and supranational level“57. Ob es sinnvoll ist, ihn darüber hinaus weiter zu entwickeln beziehungsweise zu präzisieren, bleibt einstweilen fraglich. Denn abgesehen von der abstraktgenerellen Forderung nach entsprechenden Fach-, Verhandlungs-, Sprachund interkulturellen Grundfertigkeiten muss es letztlich dem einzelnen Dienstherren überlassen bleiben, in Abhängigkeit von den in seinem Bereich wahrzunehmenden Aufgaben die speziell benötigten Europakompetenzen der dort eingesetzten öffentlich Bediensteten inhaltlich zu konkretisieren und vom allgemeinen Leitbild einer europafähigen Verwaltung bis hin zu den Anforderungsprofilen einzelner Dienstposten herunter zu brechen. Hierbei wird die Wissenschaft allenfalls Hilfsdienste leisten können, während ihre eigentliche Aufgabe in der kritischen Begleitung der mit den Europafähigkeitskonzepten angestoßenen Reformprozesse und in der externen Beurteilung von Reformerfolgen zu sehen ist. Naturgemäß hat die Politik schon bald erste Erfolge etwa bei der Organisation von Vorbereitungskursen für die EU-Concours, bei der Möglichkeit einer zeitweiligen Beschäftigung erfolgreicher Concours-Teilnehmer in deutschen Ressorts oder bei der Einrichtung von Personal- und Stellenpools für die Entsendung öffentlich Bediensteter für sich in Anspruch genommen,58 obgleich interne Einschätzungen von Verwaltungsfachleuten erheblich zurückhaltender ausfielen.59 Beides kann aus wissenschaftlicher Sicht jedoch kein Ersatz für eine unabhängige Überprüfung sein, die im Hinblick auf die Europakompetenz öffentlich Bediensteter aber durch die rechtlich abgesicherte Vertraulichkeit personenbezogener Daten60 und durch die bekannte Abneigung vieler Dienstherren behindert wird, vorhandenes Behördenwissen zugänglich zu machen oder eine Befragung ihrer Mitarbeiter zuzulassen.61 Auch eine 57 So B. Speer, „Competence for Europe“: New strategies for the civil service?, Vortrag anlässlich der Konferenz „The European Dimension of Administrative Culture“, Deutsche Sektion des IIAS/Congress of Local and Regional Authorities of the Council of Europe u. a., Council of Europe, Strasbourg, 15./16.05.2007. 58 Vgl. z. B. O. Schily, Ist der deutsche öffentliche Dienst den internationalen Herausforderungen gewachsen?, Vortrag vor der Berliner Initiative am 05.11.2003, hrsg. v. d. Berliner Initiative für mehr Internationalität in Bildung, Ausbildung und Personalpolitik, Berlin o. J., insbes. S. 6 f., 8 ff. 59 Vgl. Ausschuss für das deutsche Personal bei der EU und internationalen Organisationen (APEIO), Jüngste Entwicklung der deutschen Präsenz bei EU und Internationalen Organisationen, Memorandum zur 43. Sitzung, Berlin, 13.05.2004 [unveröffentlichtes Dokument]. 60 Zur streng reglementierten Einsichtnahme in und/oder Auskunft aus Personalakten, für die sich gute Gründe anführen lassen, vgl. H. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 5., neubearb. Aufl., München 2001, S. 308 ff., Rn. 511 ff., m. w. N. 61 Mit entsprechenden Restriktionen haben selbst „Insider“ der Verwaltung zu kämpfen; vgl. Lorse, Personalmanagement (Anm. 31), S. 94.
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Speyerer Pionierstudie von 2004,62 die in einigen Teilen durch eine unveröffentlichte Erhebung des „Liaison Committee for National Experts (CLENAD)“ von 2003 ergänzt werden kann,63 beleuchtet insofern nur Ausschnitte der Verwaltungsrealität. Diese betreffen allerdings zentrale Bestandteile der verwaltungspolitischen Europafähigkeitskonzepte, nämlich Auslandserfahrung, Fremdsprachenkenntnisse und Auslandsentsendungen öffentlich Bediensteter im deutschen höheren Ministerialdienst. Zudem lässt sich für die zumeist ernüchternden Ergebnisse trotz einiger Beschränkungen des Datensatzes, die im Wesentlichen auf fehlende oder unzureichende Antworten der Bundesebene zurückzuführen waren,64 durchaus Repräsentativität annehmen.65 Dies gilt umso mehr, als sie durch eine flankierende Expertenbefragung, an der auslandsentsandte Bundesbedienstete teilgenommen haben, auch für deren Umfeld im Grundsatz bestätigt worden sind.66 Ein Blick auf die wichtigsten Aussagen der Erhebung kann daher zu einer besseren Unterscheidung zwischen Reformrhetorik und Reformwirklichkeit in der Europafähigkeitsdebatte beitragen. a) Auslandserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse in der Einstellungspraxis des höheren Ministerialdienstes Wie bereits gezeigt, stimmen die meisten Europafähigkeitskonzepte darin überein, dass sowohl Auslandserfahrung als auch Fremdsprachenkenntnisse, zwischen denen eine enge Verbindung besteht, schon bei der Auswahl von Einstellungsbewerbern für den öffentlichen Dienst Beachtung finden sollen, um die Europafähigkeit der Verwaltungen zu erhöhen.67 Die Einstellungs62 Zum Folgenden vgl. H. Siedentopf/ B. Speer (unter Mitarbeit von A. Unkelbach), Auslandserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse in der Einstellungs- und Entsendepraxis des deutschen höheren Ministerialdienstes, hrsg. v. d. Berliner Initiative für mehr Internationalität in Bildung, Ausbildung und Personalpolitik, Berlin 2004, 67 S., 18 Abb. 63 Vgl. Liaison Committee for National Experts (CLENAD), Report of the Working Group ‚Life after SNE?‘, Brüssel 2003 [unveröffentlichtes Manuskript]. 64 Zu den Begründungen von Bundesministerien, warum nur vereinzelt aussagekräftige Angaben möglich waren, und zu den Schlussfolgerungen vgl. Siedentopf/ Speer, Auslandserfahrung (Anm. 62), S. 28 ff. 65 Mit quantitativen Methoden auswertbar waren Daten von 408 öffentlich Bediensteten, die in den Jahren 2000–2002 von 62 Länderministerien (50 Prozent der Grundgesamtheit) neu eingestellt/erstmals befördert worden waren, sowie Angaben von Personalverantwortlichen aus den Personalabteilungen der betreffenden Ministerien. Ihre Repräsentativität kann u. a. wegen der geringen Rekrutierungszahlen im öffentlichen Dienst insgesamt sowie wegen der vergleichbaren Anforderungsprofile und Bewerberspektren für den höheren Ministerialdienst des Bundes und der Länder vermutet werden. Zu Datensatz und Methodik vgl. ebd., S. 20 ff. 66 Vgl. ebd., S. 20 ff., 60 ff.
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praxis stellt sich jedoch offensichtlich anders dar, wenn die übergroße Mehrheit (81,62 Prozent) der in der Erhebung erfassten jüngsten Generation des ministeriellen Führungsnachwuchses im höheren Dienst über keinerlei Auslandserfahrung bei Berufsantritt verfügte, obwohl während des Studiums mannigfaltige Austauschprogramme zugänglich gewesen wären. Auch für den begrenzten Personenkreis (10,29 Prozent), der weniger als drei Monate im Ausland verbracht hatte, war zeitlich weder ein Studientrimester noch eine volle Referendarstation zu realisieren. Infolgedessen ist nur für einen Bruchteil der erfolgreichen Bewerber im höheren Ministerialdienst (8,09 Prozent) von einer vorherigen „Erprobung“ in einem ausländischen Umfeld auszugehen, mit allen Weiterungen, die sich daraus in der Regel für die fremdsprachlichen und für die interkulturellen Kompetenzen ableiten lassen.68 Erstaunlicherweise fielen jedoch die Angaben zu qualifizierten, also über das Schulabschlussniveau hinausgehenden Fremdsprachenkenntnissen zumindest auf den ersten Blick um einiges positiver aus. Zwar hatte wiederum eine deutliche Mehrheit nach dem Abitur keine weiteren Aktivitäten zur Verbesserung von Fremdsprachenkenntnissen unternommen (57,6 Prozent). Für eine verhältnismäßig große Anzahl der eingestellten Bewerber (29,17 Prozent) wurden aber qualifizierte Kenntnisse in mindestens zwei Fremdsprachen berichtet, womit sie formal über die auch von der Europäischen Kommission allgemein für EU-Bürger geforderte Sprachkompetenz – Muttersprache plus zwei Fremdsprachen – verfügten.69 Gleichwohl müssen diese Daten mit Skepsis betrachtet werden, weil sie sich auf dieselbe Personengruppe beziehen, in der Auslandserfahrung kaum vorhanden war. Demnach kann ein erheblicher Anteil der behaupteten Fremdsprachenkenntnisse außerhalb Deutschlands weder erworben noch über einen längeren Zeitraum vertieft worden sein, was zumindest Zweifel an ihrer faktischen Qualität aufkommen lässt.70 Die erhobenen Befunde sowohl zur Auslandserfahrung als auch zu den qualifizierten Fremdsprachenkenntnissen müssen angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Befragung in den Jahren 2003/2004 die Einführung von Europafähigkeitskonzepten für den öffentlichen Dienst bereits weiträumig erfolgt war, jedenfalls befremden. Ihre Erklärung finden sie aber, wenn sie als Ausdruck für ein überwiegend unverändertes, traditionsverhaftetes Entscheidungsverhalten von Personalverantwortlichen bei der Auswahl und Einstellung von Nachwuchskräften für den höheren Ministerialdienst interpretiert werden. Nach der Bedeutung von 67
Dazu s. o. Punkt II. 2. Vgl. Siedentopf/Speer, Auslandserfahrung (Anm. 62), S. 45 ff., insbes. Abb. 8. 69 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission „Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt: Aktionsplan 2004–2006“, KOM (2003) 449, insbes. S. 4, 8. 70 Vgl. Siedentopf/Speer, Auslandserfahrung (Anm. 62), S. 48 ff., insbes. Abb. 9. 68
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Einstellungskriterien befragt, nannten Führungskräfte aus den beteiligten Personalverwaltungen erwartungsgemäß „Studienfach“ und „Examensnote“ als die mit Abstand wichtigsten Maßstäbe für die Bewerberauswahl. Damit wurden die laufbahnrechtlichen Zugangsregeln für den höheren Dienst und die „gerichtsfeste“ Bevorzugung vermeintlich objektiver Notenvergleiche reflektiert.71 Die Einstufung von Fremdsprachenkenntnissen und mehr noch von Auslandserfahrung als durchschnittlich „weniger wichtig“ bis „unwichtig“ stand allerdings in einem auffallenden Kontrast zu den anders lautenden Vorgaben der Europafähigkeitskonzepte.72 Letztere hatten augenscheinlich noch keinen tief greifenden Wandel bei den für ihre praktische Anwendung ausschlaggebenden Personalverantwortlichen bewirkt, was nicht zuletzt als Indiz für die zweifelhafte Verbindlichkeit mancher Regelungen zu werten ist. Anzeichen für einen möglichen Richtungswechsel signalisierten lediglich die Ausnahmefälle, in denen Führungskräfte Auslandserfahrung entgegen dem allgemeinen Trend als „sehr wichtiges“ oder „wichtiges“ Einstellungskriterium bewerteten, da eine Überprüfung hier einen signifikanten Zusammenhang mit der tatsächlich erfolgten Einstellung auslandserfahrener Bewerber ergab.73 b) Entsende- und Wiedereingliederungspraxis des höheren Ministerialdienstes Hingegen blieb die große Bedeutung, welche die befragten Führungskräfte dem Kriterium der Fremdsprachenkenntnisse speziell für eine zeitweilige Auslandsentsendung öffentlich Bediensteter beimaßen, ohne nachweisbaren Einfluss auf die Einstellungspraxis. Indem Fremdsprachenkenntnisse hier direkt nach Fachkenntnissen an zweiter Stelle genannt wurden, trugen die Personalverantwortlichen vermutlich nur dem bekannten Umstand Rechnung, dass die Beherrschung von Englisch und/oder Französisch zu den üblichen Grundvoraussetzungen für eine Auslandstätigkeit im europäischen Umfeld gehört. Dieses abstrakte, auf den eigenen Verantwortungsbereich kaum übertragene Wissen führte aber anscheinend nicht zu einer verstärkten Berücksichtigung entsprechender Kompetenzen bei der Bewerberauswahl.74 Mögliche negative Implikationen einer solchen Personalpolitik, die der späteren breiten Einsetzbarkeit von Einstellungsbewerbern im In- und Ausland zu wenig Beachtung schenkt, deuteten sich in der Auskunft einiger Ministe71 Zu Grundsätzen der Einstellungspraxis vgl. Schnellenbach, Beamtenrecht (Anm. 60), S. 6 ff., Rn. 5 ff., m. w. N. 72 Vgl. Siedentopf/Speer, Auslandserfahrung (Anm. 62), S. 38 ff., insbes. Abb. 4. 73 Vgl. ebd., S. 47 f. 74 Vgl. ebd., S. 54 ff.
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rien an, Entsendeaufforderungen von EU-Institutionen oder des Auswärtigen Amts wegen eines Mangels an geeignetem Personal abgelehnt zu haben. Ein weiterer Grund für Absagen, welche die mit den Europafähigkeitskonzepten intendierte Förderung von Entsendungen konterkarieren, war das Fehlen von Interessenten, also von öffentlich Bediensteten, für die eine Auslandstätigkeit auf Grund intrinsischer oder extrinsischer Motivation attraktiv gewesen wäre.75 Dass befristete Auslandsentsendungen im deutschen öffentlichen Dienst in der Tat nicht durchweg als vorteilhaft angesehen werden können, bestätigte eine zusätzliche Befragung von insgesamt 51 Auslandsrückkehrern, die sowohl im höheren Ministerialdienst des Bundes als auch der Länder arbeiteten. Ihre Entsendung war nur selten im Rahmen einer strategischen Verwendungsplanung des Dienstherrn erfolgt und wirkte sich nur in zwei Fällen erkennbar karrierefördernd aus, während drei Entsandte sogar von einer Aufstiegshemmung beziehungsweise von gebrochenen Verwendungsabsprachen berichteten.76 Wegen der begrenzten Fallzahlen und der fehlenden Hintergrundinformationen zu vertraulichen Beförderungsentscheidungen lässt sich damit weder die Karrierewirksamkeit von Entsendungen noch deren Gegenteil gesichert belegen. Allerdings kann selbst eine erfolgreich wahrgenommene Auslandstätigkeit keinen systematischen Karrierevorteil begründen, so lange Rechtsprechung und Dienstherren in Deutschland ganz überwiegend auf die heimische dienstliche Beurteilung als Hauptgrundlage für Beförderungsentscheidungen abstellen.77 Werden die Aussagen der deutschen Auslandsrückkehrer darüber hinaus in Bezug zu einer internen Abfrage von CLENAD – dem informellen Netzwerk der zu EU-Institutionen abgeordneten mitgliedstaatlichen Nationalen Experten – aus dem Jahr 2003 gebracht, so finden sie dort eine durchgängige Entsprechung in dem allerdings national nicht aufgeschlüsselten Spektrum von Negativantworten. Auch in dieser Erhebung wurde von Nationalen Experten häufig die unzureichende Unterstützung durch den Dienstherren bei der Entsendung (57 Prozent) und bei der Wiedereingliederung (48 Prozent) beklagt sowie die mangelnde Karrierewirksamkeit der Auslandsentsendung (51 Prozent kehrten in den vorigen Dienststatus zurück, 11 Prozent in einen niedrigeren) oder die unzureichende Nutzung des während der Entsendung erworbenen Fachwissens kritisiert (50 Prozent).78 Vor allem aber zeigte die CLENAD-Studie erstmals die von den deutschen Europafähigkeitskonzep75
Vgl. ebd., S. 51 ff., insbes. Abb. 10. Vgl. ebd., S. 60 ff. 77 Vgl. ebd., S. 66 f. Zum Beurteilungsproblem bei Entsendungen vgl. auch detailliert C. Demmke, Die Personalbeurteilung in internationalen Organisationen als Bezugsgrundlage für eine Verbesserung des deutschen Personalanteils, Studie in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium des Innern, Maastricht 2003. 78 Vgl. CLENAD, Report (Anm. 63), S. 9 f., 11 f., 21. 76
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ten in keiner Weise antizipierte Attraktivität eines dauerhaften Wechsels Nationaler Experten zu den Gemeinschaftsinstitutionen auf. Über die Hälfte der befragten ehemaligen Nationalen Experten hegte diesen Wunsch (52 Prozent), der viele zu einer gezielten Bewerbung veranlasste (46 Prozent). Von den aktuell entsandten Nationalen Experten konnten sich sogar 75 Prozent einen Verbleib bei der EU vorstellen, wobei 56 Prozent überlegten, an einem EU-Concours teilzunehmen, und nur 36 Prozent diese Möglichkeit ausschlossen.79 Um solchen Absetzungstendenzen entgegenzuwirken, bietet zumindest die deutsche Entsende- und Wiedereingliederungspraxis bislang erkennbar zu wenig Anreize. Damit besteht nicht nur die Gefahr, dass sich der erhoffte Zuwachs an Europafähigkeit für den öffentlichen Dienst durch Entsendungen nicht vollständig realisieren wird, sondern ohne entsprechende Bemühungen des Dienstherren kann selbst ein Verlust an vorherigen „Investitionen“ und an Europakompetenz eintreten, wenn sich entsandte öffentlich Bedienstete gegen eine Rückkehr entscheiden. IV. Fazit: Die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als Reformbaustelle und als möglicher Reformkatalysator Mit Blick auf den bisherigen Wissensstand muss ein Fazit von vorläufiger Natur sein, auch wenn die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Europafähigkeitskonzepte und den empirischen Befunden zu (Teil-)Realitäten der Verwaltungspraxis evident ist. Vorbehaltlos lässt sich jedoch festhalten, dass es sich bei der Europafähigkeit des deutschen öffentlichen Dienstes und bei der Europakompetenz seiner öffentlich Bediensteten sowohl um einen verwaltungspolitisch relevanten als auch um einen verwaltungswissenschaftlich interessanten Gegenstand handelt, der bislang unzureichend erforscht ist. Die Wissenschaft muss insofern erhebliche Anstrengungen unternehmen, bevor sie im Stande ist, einen strukturierenden Beitrag zu der immer noch überwiegend verwaltungspolitisch dominierten Europafähigkeitsdebatte zu leisten. Wie so oft in der Verwaltungsforschung dürfte dabei wohl nur eine inkrementalistische Herangehensweise, die quantitative und qualitative Einsichten verschiedenster Herkunft, Art und Güte miteinander zu verbinden sucht, Aussicht auf Erfolg versprechen.80 Daraus resultierende Tendenzaussagen oder Plausibilitätsvermutungen mögen nicht in jeder Hinsicht befriedigend sein, bilden aber ein unverzichtbares Regulativ und Korrektiv für die in diesem Bereich offenbar verbreitete „Verwaltungslyrik“. 79
Vgl. ebd., S. 7, 17. Zur Forderung nach einem Methodenmix vgl. z. B. auch H.-U. Derlien, Entwicklung und Stand der empirischen Verwaltungsforschung, in: K. König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002, S. 365, insbes. 380 f. 80
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Von besonderem Interesse ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes aber auch deswegen, weil es sich dabei um eine isolierte und im nationalen Bezugsrahmen eigentlich systemfremde Variable handelt. Das soll nicht bedeuten, dass über Europafähigkeit bezugslos in einem Vakuum von vorgeblich einflusslosen Kontextvariablen geforscht werden könnte. Ganz im Gegenteil lässt sie sich ohne eine Einbeziehung der Organisations-, Informations-, Kooperations- und Koordinierungsstrukturen, in denen sich öffentlich Bedienstete bewegen, gar nicht adäquat erfassen.81 Gemeint ist vielmehr der Umstand, dass die Frage nach der Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Europakompetenz seiner Bediensteten geeignet ist, traditionelle Muster der Personalpolitik von Bund, Ländern und Kommunen mit neuen Anforderungen zu konfrontieren und dadurch verkrustete Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken. Das gilt für überkommene Ausbildungsinhalte und Rekrutierungspraktiken ebenso wie für die bekannten Dysfunktionen des Beurteilungs- und Beförderungswesens oder für den Umgang mit Mobilität und strategischer Verwendungsplanung, um nur einige Punkte herauszugreifen. Zudem könnte die ebenenübergreifende Forderung nach Europafähigkeit in einer Situation, in welcher der Gesetzgeber durch die Föderalismusreform, das neue Tarifrecht und die verschleppte Dienstrechtsreform widersprüchliche Signale sendet, einen Ansatz bieten, um wieder zu einer einheitlicheren Betrachtungsweise des Gesamtsystems des öffentlichen Dienstes in Deutschland und seiner Positionierung in Europa zu gelangen. Dies erscheint umso dringlicher, als inzwischen auch andere große Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Frankreich die Europafähigkeit des öffentlichen Dienstes als drängende politische Aufgabe erkannt haben. Programmatische Überschriften wie die eines „plan d’action relatif à l’influence française en Europe“, eines „plan de formation/soutien aux carrières européennes“ oder eines „plan de formation aux enjeux européens“ zeigen, dass sich damit nicht zuletzt Gesichtspunkte nationaler Einflussnahme, Machtsicherung und Konkurrenz verbinden.82
81 Zu europapolitischen Strukturen und Herausforderungen vgl. statt vieler nur W. Wessels, Deutsche Europapolitik – Strategien für einen Wegweiser: Verstärkter Nutzen durch verbesserte Integration?, in: ders./U. Diederichs (Hrsg.), Die neue Europäische Union: im vitalen Interesse Deutschlands?, Berlin 2006, S. 136, insbes. 145 ff., m. w. N. 82 Vgl. R. Dassa, Rapport: La formation aux enjeux européens des fonctionnaires et agents publics, o. O. 2006, z. B. S. 2 ff., 10 ff.
Einheit des öffentlichen Dienstes und Alimentationsprinzip Werner Thieme I. In einem Beschluss vom 16. Januar 2007 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich zur Begründung seiner Rechtsmeinung auf den „überkommenen Gedanken der Einheit des öffentlichen Dienstes“ berufen.1 In dieser Entscheidung ging es um die Frage, inwieweit die vom einfachen Gesetzgeber angeordnete Verpflichtung zur Ablieferung von außerhalb des Hauptamtes verdienten Vergütungen gegenüber einem anderen Träger öffentlicher Aufgaben verfassungsrechtlich zu beanstanden ist. Das BVerfG hat die Ablieferungspflicht nicht beanstandet, sondern den betroffenen Beamten, einen im Landesdienst stehenden Professor an einer Fachhochschule, zur Ablieferung der bei einer berufsständischen Kammer verdienten Vortragshonorare verpflichtet. Die Begründung des BVerfG geht im Kern dahin, dass der Gedanke der Einheit des öffentlichen Dienstes einer DoppelAlimentation aus öffentlichen Mitteln entgegensteht. Geht man dem Gedanken des BVerfG nach, so heißt das, dass das Hauptamt und die Nebentätigkeit eine Einheit bilden, für die nur einmal eine amtsangemessene Besoldung gezahlt werden darf. Die Bezahlungen für die Nebentätigkeit überschreiten nach der Ansicht des BVerfG dieses Maß und sind daher an den Dienstherrn abzuliefern. Diese Entscheidung liegt auf einer Linie, die das BVerfG schon in früheren Entscheidungen eingeschlagen hatte.2 Sie wiederholt diese Entscheidungen in gewisser Weise. Daher mag es auch gerechtfertigt erscheinen, dass das BVerfG nicht durch einen Senat, sondern durch eine Kammer entschieden hat,3 obwohl es sich um eine Entscheidung handelt, die weittragend ist und erhebliche Summen betrifft. Gegen die Entscheidung ist mehreres einzuwenden.
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2 BvR 1188/05 vom 16.1.2007, Absatz-Nr. (1–29) 20070116_2bvr118805.html. BVerfGE 55, 207, 238 f. Beteiligt waren die Richter Hassemer, di Fabio und Landau.
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II. 1. Zunächst ist der Grundgedanke der „Einheit des öffentlichen Dienstes“ zu problematisieren. Wenn das BVerfG von einem „überkommenen“ Grundgedanken spricht, so fragt sich, wo und wie denn dieser „Grundgedanke“ überkommen ist. Das Grundgesetz (GG) kennt einen solchen Grundgedanken nicht. Irgendeinen verfassungsrechtlichen Rang hat dieser „Grundgedanke“ nicht, wenn es ihn denn – worüber noch zu handeln sein wird – überhaupt gibt. Wahrscheinlich meint das BVerfG die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“. Warum das BVerfG es hier an der juristischen Exaktheit hat fehlen lassen, indem es statt des im GG festgelegten Worts „hergebracht“ von „überkommen“ spricht, ist rätselhaft. Von einem Gericht vom Range des BVerfG hätte man etwas mehr Sorgfalt erwartet. Immerhin, wenn man unterstellt, dass der verfassungsrechtliche Aufhänger, auf den sich das BVerfG stützt, die „hergebrachten Grundsätze“ des Berufsbeamtentums sind, so stellt sich die nächste Frage, ob es denn überhaupt einen hergebrachten Grundsatz der „Einheit des öffentlichen Dienstes“ in Art. 33 Abs. 5 GG gibt. Denn der verfassungsrechtliche Begriff des „öffentlichen Dienstes“, wie er z. B. in Art. 131 GG verwendet wird, umfasst auch die Angestellten und Arbeiter,4 für die der Art. 33 Abs. 5 nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht gilt.5 Es bleibt daher ungeklärt, woher das BVerfG eine verfassungsrechtliche Vorschrift nimmt, die die „Einheit des öffentlichen Dienstes“ zum Gegenstand hat. Diese Einheit scheint mehr ein frei geschaffenes richterliches Phantasieprodukt als ein Stück unserer Verfassung zu sein, an die ja auch das BVerfG gebunden ist. 2. Wenn man aber einmal annimmt, es gäbe irgendwo eine Verfassungsvorschrift, die die „Einheit des öffentlichen Dienstes“ kennt, so stellt sich die weitere Frage, welchen Inhalt diese Vorschrift hat. Der Begriff der „Einheit“ ist juristisch schwer zu interpretieren. Denn hier wird nichts an Rechten oder Pflichten benannt oder auf solche Rechte oder Pflichten verwiesen. Es wird vielmehr nur ein Allgemeinbegriff verwandt, der praktisch – jedenfalls mit den Methoden der juristischen Hermeneutik – nicht interpretierbar ist. Auch in der verfassungsrechtlichen Literatur ist der Begriff nicht üblich. Man könnte aber vielleicht mit folgendem Gedankengang versuchen, eine Klärung herbeizuführen: Alle Tätigkeiten des öffentlichen Dienstes bilden eine Einheit. Sie werden mit einer Besoldung oder Vergütung abgegolten. Die Nebentätigkeiten sind ein Stück der einheitlichen Tätigkeit „öffentlicher Dienst“. Daher gibt es nur eine einheitliche Bezahlung. Wenn für die Ne4 Art. 131 GG bezieht ausdrücklich auch diejenigen Personen des öffentlichen Dienstes mit ein, die in einem tarifrechtlichen Verhältnis standen. 5 BVerfGE 39, 334, 355 f.
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bentätigkeit eine zweite Vergütung neben der für das Hauptamt gezahlten Vergütung geleistet wird, so ist das Doppel-Alimentation. Der Dienstnehmer darf aber nur einmal alimentiert werden. Er bekommt vom Dienstherrn das, was der Dienstherr als „amtsangemessen“ ansieht. Mehr darf er nicht erhalten. Alles Mehr als die „amtsangemessene“ Bezahlung ist verfassungsrechtlich verbotene Doppel-Alimentation. Wesentlich mehr lässt sich zur Rechtfertigung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht vorbringen. Dies reicht aber – wie sogleich noch zu zeigen sein wird – nicht aus. III. Dass es keine Einheit des öffentlichen Dienstes gibt, ist für jeden, der sich mit Grundsatzfragen des öffentlichen Dienstrechts befasst, selbstverständlich. Bekanntlich gibt es neben den öffentlich-rechtlichen Beamtenverhältnissen des Art. 33 Abs. 4 und 5 GG auch privatrechtliche Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes, Arbeitsverhältnisse, für die nicht Art. 33 GG, sondern Art. 9 Abs. 3 GG gilt. Sie werden inhaltlich nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch Tarifverträge geregelt. Inhaltlich sind sie auch kaum miteinander vergleichbar. Die Einheit ist auch durch die Laufbahnen und Laufbahngruppen der Beamten aufgehoben. Das Amt des Justizsekretärs bildet mit dem des Baurats keine Einheit! Gerade das Laufbahnrecht, das ein wesentlicher Bestandteil des Beamtenrechts und damit des öffentlichen Dienstrechts ist, zeigt, dass es keine Einheit des öffentlichen Dienstrechts gibt. Man gehört als Beamter einer Laufbahn und einer Laufbahngruppe an, aus der man grundsätzlich nicht ausscheren kann. Auch das künftige Beamtenrecht wird dies aufrechterhalten.6 Auch nach den Dienstherren unterscheiden sich die Mitglieder des öffentlichen Dienstes. Die Bediensteten des Bundes, der Länder, der Gemeinden, der Gemeindeverbände und der übrigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sind alles andere als eine Einheit.7 Wenn das BVerfG hier wirklich eine Einheit sieht, so hätte es das schon begründen müssen. An einer solchen Begründung aber fehlt es in dem hier zu besprechenden Beschluss. Wenn man eine „Einheit des öffentlichen Dienstes“ behaupten will, muss man auch die ehrenamtlichen Beamtenverhältnisse, insbesondere bei der 6
Entwurf zum Beamtenrechts-Status-Gesetz, das gemäß Art. 74 Nr. 27 GG ergehen wird; vgl. dazu H. A. Wolff, Der zweite Schritt zur Föderalisierung des Beamtenrechts: Der Entwurf zum Beamtenstatusgesetz, in: DÖV 2007, S. 504 ff. 7 Vgl. §§ 1, 2 Abs. 1, 121, 123 BRRG.
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Feuerwehr,8 die Rechtsverhältnisse der Zivildienstleistenden,9 das Personal bei den zahlreichen privatrechtlichen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltungen einbeziehen.10 Der Auswärtige Dienst, die Bundeswehrverwaltung, die Wahlbeamten der Kommunen, die Arbeiter der Straßenbauämter, die das Gras am Straßenrand mähen, die Medizinischen Assistentinnen in den öffentlichen Krankenhäusern, die wissenschaftlichen Mitarbeiter an einem Philosophischen Hochschulinstitut, sie alle sollen eine Einheit bilden. Wer sich auch nur ein wenig bei den zahllosen Aufgaben auskennt, die im öffentlichen Dienst erledigt werden, kann sich über so viel fehlende Sachkenntnis nur wundern, die das BVerfG produziert. Eine Einheit des öffentlichen Dienstes hat es nie gegeben und gibt es auch heute nicht. Es ist ein fiktiver Begriff, aber weder eine rechtliche noch eine soziologische Realität. Schließlich: Die Einheit des öffentlichen Dienstes zerflattert immer mehr, weil sehr viele öffentliche Dienste, z. B. die Aufgaben des Rotes Kreuzes und anderer Rettungsdienste, von eingetragenen Vereinen erbracht werden, die Post und die Bahn eine Mischung von Beamten und privatrechtlich Angestellten hat, und sehr viele Einrichtungen durch Beliehene11 oder Regulierungsbehörden12 tätig werden, weil an die Stelle des Leistungsstaates der Gewährleistungsstaat getreten ist, der seine Aufgaben nicht mehr selbst wahrnimmt, sondern durch andere Leistungsträger wahrnehmen lässt.13 IV. Wenn man dem Begriff des öffentlichen Dienstes nachgeht, der nach der Entscheidung des BVerfG eine „Einheit“ bilden soll, ist zunächst zwischen dem öffentlichen Dienst und dem Beamtentum zu unterscheiden. Einheit des öffentlichen Dienstes ist nicht dasselbe wie die Einheit des Beamtentums. Für die Angestellten des öffentlichen Dienstes gilt nicht der Art. 33 Abs. 5 GG.14 Ein Alimentationsprinzip mit dem Verbot der Doppel-Alimentation gibt es für sie nicht und ist auch noch niemals in Anspruch genom8 Vgl. z. B. § 11 Nds. Brandschutzgesetz v. 8.3.1978, GVBl. S. 233; ähnlich: § 17 Nds. Katastrophenschutzgesetz i. d. F. v. 14.2.2002, GVBl. S. 75. 9 §§ 24 ff. Zivildienstgesetz i. d. F. v. 17.5.2005, BGBl. I S. 1346. 10 Z. B. das technische Personal einer Messegesellschaft mbH, an der neben privaten Investoren auch Kommunen beteiligt sind. Auch die Arbeit für diese Gesellschaft ist nach dem Gesetz „öffentlicher Dienst“, wenn die öffentliche Hand die Kapitalmehrheit hält; vgl. § 1 a Nds. Beamtengesetz. 11 B. Schmidt am Busch, Die Beleihung – ein Rechtsinstitut im Wandel, in: DÖV 2007, S. 533 ff. 12 H. P. Bull/V. Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, 7. Aufl., Heidelberg 2005, S. 163, 222. 13 Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht (Anm. 12), S. 158 ff. 14 BVerfGE 39, 334, 355 f.
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men worden. Insofern ist die Entscheidung des BVerfG schon ganz grundsätzlich zu korrigieren. Die Nebentätigkeit der Angestellten des öffentlichen Dienstes unterliegt anderen Bestimmungen als die Nebentätigkeit der Beamten15, kennt jedenfalls keine Abführungspflicht unter Berufung auf irgendwelche beamtenrechtlichen Prinzipien. Das BVerfG hätte also allenfalls mit dem Begriff einer „Einheit des Beamtentums“ arbeiten können, nicht jedoch mit dem der „Einheit des öffentlichen Dienstes“. Doch auch diese Argumentation versagt. Denn gerade in dem hier zu besprechenden Fall wurde die „Zweit-Alimentation“ nicht im Beamtendienst verdient, sondern in einem vertraglichen Verhältnis zivilrechtlichen Charakters, das der Beamte mit einer berufsständischen Kammer eingegangen war. Es ging auch nicht um die Alimentierung des Beamten. Es ging um die Möglichkeit, durch besondere Leistungen, für die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts Entgelte gezahlt worden sind – Entgelte, die angesichts der Zahlung aus öffentlichen Kassen für die erbrachte Leistung angemessen gewesen sein dürften –, Vermögen in der Hand von Beamten zu bilden. Diese Vermögensbildung von Beamten aber wird verhindert. Nur die Alimentation, das Leben von der Hand in den Mund, ist nach der Meinung des BVerfG angemessen für Beamte, während der Staat sonst bemüht ist, bei der Vermögensbildung von Arbeitnehmern zu helfen. V. In dem hier zu besprechenden Fall kommt weiter hinzu, dass das BVerfG es unterlassen hat, hinreichend zwischen Dienstverhältnis und Werkverhältnis zu unterscheiden. Zwar bezieht das einfache Recht auch die Vertragsverhältnisse, die dem bürgerlich-rechtlichen Typus „Werkvertrag“ zuzuordnen sind, in den öffentlichen Dienst ein.16 Doch kann das nicht Maßstab sein. Wenn das einfache Recht einen so weiten Begriff des öffentlichen Dienstes bildet, wie dies teilweise geschehen ist, so ist dieser Begriff zunächst auf seine verfassungsrechtliche Tauglichkeit zu hinterfragen, ehe er im Nebentätigkeitsrecht angewandt wird. Diese Problematisierung ergibt eindeutig, dass der einfache Gesetzgeber von einem Begriff des „öffentlichen Dienstes“ ausgeht, der mit dem verfassungsrechtlichen Begriff des öffentlichen Dienstes nicht übereinstimmt. Quelle ist hier wiederum Art. 131 GG. Die Gerichte sind bei der Anwendung des Art. 131 GG niemals auf den Gedanken gekommen, in den verfassungsrechtlichen Begriff des öffentlichen Dienstes auch werkvertragliche Auftragsverhältnisse einzubeziehen. Es gehört zur hinterlistigen Taktik fis15 16
TVöD – AT § 3 Abs. 3. Z. B. Nds. Beamtengesetz § 1 a.
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kalischer Gesetzgebung, dort wo der Staat zahlen muss – bei den 131ern – einen engen Begriff zu wählen, dort wo er sich dagegen Einnahmen erhofft, die Worte, die den Begriff bilden, ganz anders und viel weiter zu verwenden. Nein, eine freiberufliche Tätigkeit ist niemals öffentlicher Dienst. Es fehlt ein konstituierendes Merkmal des Dienstes, die Einordnung in den Dienstbetrieb ist notwendige Voraussetzung für die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zum öffentlichen Dienst. Fraglich wird bei dieser Konstruktion des öffentlichen Dienstes auch, ob der Beamte, der für eine andere öffentlich-rechtliche juristische Person dienstlich tätig wird, ein Entgelt überhaupt auf sein privates Konto leiten darf. Wenn die Tätigkeit wirklich „öffentlicher Dienst“ wäre, wäre die Annahme des Geldes selbst unzulässig und wahrscheinlich eine strafbare Handlung.17 Soweit aber geht – selbstverständlich – der Gesetzgeber nicht, weil es sich nicht um öffentlichen Dienst handelt. VI. Will man eine freiberufliche Tätigkeit als öffentlichen Dienst ansehen, so kommen allerhand zusätzliche Pflichten auf den Dienstherren zu. Es ist ein gedanklicher Kurzschluss des Gesetzgebers gewesen, wenn er hoffte, sich durch Umfirmierung von außerdienstlichen Leistungsverhältnissen in „öffentliche Dienstverhältnisse“ von den damit verbundenen Verpflichtungen befreien zu können. Wenn er die Entgelte für freiberufliche Tätigkeit in Anspruch nehmen will, muss er selbstverständlich – wie bei seinen Beamten im Hauptamt – auch die Kosten der Tätigkeit übernehmen, insbesondere die Büro- und Schreibkosten. Die Sekretärin, die das Vortragsmanuskript schreibt, leistet dann auch eine dienstliche Arbeit und private Nebentätigkeit für den Beamten. Der Weg zum Ort der nebentätigen „Dienstausübung“ ist ein Dienstgang oder eine Dienstreise, deren Kosten der Dienstherr selbstverständlich zu erstatten hat. Der Weg zum Dienst ist dann auch haftungsrechtlich ein Weg zur Arbeit. Für den Wegeunfall auf dem Weg zur Nebentätigkeit und zurück hat der Dienstherr einzustehen.18 Der Beamte, der freiberuflich einen Auftrag erfüllt, muss nach heutiger Praxis hierfür Umsatzsteuern bezahlen, für Einkünfte aus dem Dienstverhältnis aber nicht.19 Selbstverständlich verlangt der Staat heute von den in Nebentätigkeit freiberuflich tätigen Beamten, auch wenn sie Leistungen erbringen, die als „öffentlicher Dienst“ bezeichnet werden, Umsatzsteuern, aber eben doch nur deshalb, weil es sich nicht um ein Dienstverhältnis han17 18 19
StGB §§ 331 ff. BeamtVG § 31 Abs. 1 Nr. 1. UStG § 1.
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delt. Wäre der Staat konsequent, so müsste er verlangen, dass der freiberuflich tätige Beamte seinem „Dienstgeber“ eine zweite Lohnsteuerkarte vorlegt und dass die fällige Lohnsteuer einbehalten wird. Das geschieht aber – selbstverständlich – nicht, weil es sich nicht um ein Dienstverhältnis, nicht um öffentlichen Dienst handelt, sondern nur um den Missbrauch des Wortes „Dienst“ zur Erschließung einer Geldquelle für den Staat. VII. 1. Nun kann man jenseits der Benennung der freiberuflichen Tätigkeit als „Dienst“ auch mit dem BVerfG darüber nachdenken, ob hier vielleicht eine sogenannte Doppel-Alimentation vorliegt. Hierzu ist auf das beamtenrechtliche Alimentationsprinzip einzugehen. Dieses Prinzip steht im Gegensatz zum Entlohnungsprinzip. Der Beamte wird nicht entlohnt. Der alimentierende Dienstherr sorgt dafür, dass der Beamte während seiner Dienstzeit, im Falle der Dienstunfähigkeit, im Alter und auch bei Krankheit seine Alimentation erhält. Diese Alimentation hängt nicht von der Leistung ab, sondern ist bedarfsgesteuert. Der kranke Beamte erhält kein Krankengeld und keine nur zeitlich beschränkte Gehaltsfortzahlung, sondern er erhält seine Bezüge ohne Rücksicht auf seine Untätigkeit, weil der Dienstherr für seine ständige Alimentierung verantwortlich ist. Der Beamte, gegen den ein Disziplinarverfahren eröffnet worden ist und der deswegen vorläufig vom Dienst enthoben ist, erhält ebenfalls seine Alimentation.20 Der Dienstherr geht davon aus, dass der Beamte pflichttreu ist und zahlt daher ohne Rücksicht auf die Leistung. Das Alimentationsprinzip ist das Gegenteil vom Leistungsprinzip. Wenn der Staat jemanden als Beamten in seinen Dienst genommen hat, geht er davon aus, dass dieser seine Pflicht tut. Die Pflichterfüllung wird durch die Dienstaufsicht, notfalls durch disziplinarische Mittel erzwungen. Vor allem aber gilt die Annahme, dass der Beamte kraft seiner moralischen Qualitäten seine Pflichten erfüllt und daher lebenslang zu alimentieren ist. 2. Das BVerfG arbeitet mit dem Wort „Doppel-Alimentation“. Dieses Wort will die unrichtige Vorstellung hervorrufen, dass der Beamte für ein und dieselbe Leistung zweimal bezahlt wird. In aller Regel ist das Nebentätigkeitsentgelt schon der Höhe nach keine Verdoppelung des Entgelts, sondern nur ein Zusatzentgelt. Inkonsequent ist es dann auch, dass der Staat dem Beamten einen Teilbetrag belässt. Warum ist das bei einem begrenzten Teilbetrag, der auch „Doppel-Alimentation“ ist, zulässig, bei den darüber hinausgehenden Teilbeträgen aber nicht? 20
Bundesdisziplinargesetz § 38 Abs. 2.
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Die zentrale Frage ist aber, ob hier wirklich doppelt alimentiert wird. Das hängt davon ab, wie hoch denn die angemessene Alimentation ist. Früher sprach man gern von einer standesgemäßen Alimentation.21 Der Begriff des „Standesgemäßen“ ist heute unbrauchbar geworden; Stände gibt es nicht mehr. An der Stelle dieses Wortes wird die Amtsangemessenheit benutzt.22 Doch was ist amtsangemessen? Angesichts der zahlreichen sehr unterschiedlichen Ämter, für die das gleiche Gehalt bezahlt wird, im Schuldienst, in der Finanzverwaltung, in der Polizei, in der Bundeswehrverwaltung, in der Forst- und Katasterverwaltung, in den Hochschulen, in den kommunalen Krankenhäusern und in der Justiz gibt es überhaupt keinen allgemeinen Maßstab, an dem man für bestimmte Ämter abmessen kann, ob die vom Dienstherrn gezahlte Vergütung amtsangemessen ist oder zu hoch oder zu niedrig.23 Die Vergleichbarkeit hört schon bei sehr verwandten Ämtern auf. Ist es amtsangemessen, dass ein Konkursrichter, ein Richter der Sozialgerichtsbarkeit und ein Beisitzer in der Strafkammer das gleiche Gehalt bekommen? Und ist es amtsangemessen, dass Sachbearbeiter im Finanzamt teilweise als Inspektoren (A 9) und teilweise als Oberinspektoren (A 10) bezahlt werden, wenn sie das Gleiche tun? Wenn man sich ernsthaft mit der Frage der Amtsangemessenheit der Bezahlung von Beamten beschäftigt, wird immer wieder sehr schnell deutlich, dass sich eine Amtsangemessenheit der Höhe nach nicht festlegen lässt. Es handelt sich um ein Wort, das Sachlichkeit vortäuscht, diese aber nicht bringt. Das gilt nicht nur deshalb, weil das Alimentationsprinzip leistungsfeindlich ist, sondern auch, weil es das Vorhandensein eines Maßstabs vorzutäuschen versucht, den es nicht gibt und der auch nicht gefunden werden kann. 3. Der Vergleich der Amtsbezüge der Beamten nach Besoldungsgruppen beruht nicht auf dem Amtsinhalt, schon lange nicht auf der Leistung, sondern auf der Vor- und Ausbildung. Das deutsche Beamtenrecht kennt vier Laufbahngruppen, in die man je nach der Vorbildung und Ausbildung ein21 N. T. Gönner, Der Staatsdienst aus dem Gesichtspunkt des Rechts und der Nationalökonomie betrachtet, Landshut 1808. Vgl. dazu O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Bd., 2. Aufl., München und Leipzig 1917, S. 351 ff., Anm. 2; ferner: M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 6. Aufl., Tübingen 1956, 2. Halbband, S. 553 f. 22 BVerfGE 8, 16; 16, 115; 26, 154; 44, 263; 55, 392. 23 Der Versuch des BVerfG, den Gesetzgeber zu verpflichten, dem Beamten ein „Minimum an Lebenskomfort“ und die Erfüllung der Unterhaltspflicht gegenüber der Familie zuzusichern, ist schon deshalb argumentativ unbrauchbar, weil die Unterhaltspflicht in ihrer Höhe selbst vom Gehalt abhängt. Im Übrigen hat das BVerfG dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum eingeräumt, der jegliche verfassungsrechtliche Vorgabe obsolet macht (BVerfGE 99, 300, 315 ff.; st. Rspr.).
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steigen kann, den einfachen Dienst ohne gründliche Lehre, den mittleren Dienst mit einer Ausbildung entsprechend der von kaufmännischen Gehilfen, den gehobenen Dienst mit einer Fachhochschulausbildung und den höheren Dienst mit einer Universitätsausbildung sowie einem Vorbereitungsdienst (Referendariat). Dieses System hat sich recht gut bewährt, auch wenn es zweifellos nicht ideal ist. Es wird ergänzt durch ein Beförderungssystem, das auf individuellen Leistungen aufbaut. Aber eine amtsangemessene Besoldung ist es nicht. Diese ist eine reine Fiktion. Mit dieser Erkenntnis bricht das Gedankengebäude einer Abführungspflicht von Nebentätigkeitsabgaben wegen nicht amtsangemessener DoppelAlimentation zusammen. Die Nebentätigkeitsvergütungen der Dritten, die der Dienstherr sich aneignet, haben nichts mit einer amtsangemessenen Alimentation, schon lange nichts mit einer Doppel-Alimentation zu tun. Außerdem, das wird bei dem Wort „Doppel-Alimentation“ verschwiegen: Die Nebentätigkeitseinnahmen sollen ja nicht der Alimentation dienen. Der Empfänger der Leistungen des Beamten gibt das Entgelt nicht zweckgebunden, und der Beamte benutzt es nicht zu seiner Alimentation, weil er bereits voll alimentaiert ist. Derartige Zusatzeinnahmen dienen aus der Sicht des Beamten dazu, sich einen Luxus zu leisten oder Vermögen zu bilden, seine Bildung zu verbessern, seinen Kindern eine bessere Ausbildung zu geben oder seiner Frau ein wertvolles Schmuckstück zu kaufen. Der Beamte darf Einnahmen haben, die nichts mit der Alimentation zu tun haben. Wenn er für einen privaten Auftraggeber tätig ist, so ist das unbestritten; wenn er für einen öffentlich-rechtlichen Auftraggeber tätig ist, soll das Entgelt für die erbrachten Leistungen plötzlich der Alimentation dienen, deren zulässige Höchstgrenze der Dienstherr bestimmt. 4. Gegen diese schlichte Logik lässt sich vielleicht vorbringen, die Alimentation in der Höhe der Besoldungsordnung sei die Obergrenze für die angemessene Alimentation. Wenn man sich damit dem Problem der zulässigen Obergrenze für die Alimentation der Beamten nähert, so muss man sich darüber klar sein, dass dies auf der Ebene des Verfassungsrechts und nicht des einfachen Rechts geschieht, also nicht auf der Ebene der Besoldungsordnungen des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG). Es stellt sich daher nur die Frage, ob die in Art. 33 Abs. 5 GG zugunsten des Beamten abgesicherte Alimentationspflicht des Dienstherrn mit einem verfassungsrechtlichen Verbot gekoppelt ist, eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten. Soweit ersichtlich haben die Gerichte den Gesetzgeber noch niemals verpflichtet, durch Besoldungsvorschriften eine „Über-Alimentation“ zu vermeiden. Das ist auch verständlich, weil der Gesetzgeber sich kaum jemals zu einer besonders hohen „Alimentation“ bekannt hat. Und wenn er es doch einmal getan haben sollte, so würde sich wahrscheinlich kein Kläger finden, der dies beanstandet.
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5. Der Begriff der Doppel-Alimentation für Entgelte aus einer Nebentätigkeit ist auch deshalb unbrauchbar, weil ja in Wirklichkeit nicht doppelt alimentiert wird. Der Beamte erhält seine Besoldung von seinem Dienstherrn für seine Tätigkeit aus dem Amt. Wenn er jetzt außerdem noch eine Nebentätigkeit übernimmt und man diese Nebentätigkeit, wie es das BVerfG unter Berufung auf die Einheit des öffentlichen Dienstes tut, als Teil der amtlichen Tätigkeit als „Dienst“ ansieht, verändert sich der Amtsinhalt. Wenn der Beamte mit seiner Nebentätigkeit mehr tut als seine Kollegen ohne Nebentätigkeit, und wenn dies unter dem Gesichtspunkt der Amtsangemessenheit mit in die Bewertung einbezogen wird, so hat er ein höherwertiges Amt als der Beamte ohne Nebentätigkeit, das dann aber auch höher zu bezahlen ist. Amtsangemessen ist dann nicht das in der Besoldungsordnung festgelegte Gehalt für das Hauptamt, sondern die Summe dieses Gehalts und der Vergütung für die Nebentätigkeit. Da beide Tätigkeiten zusammen den Amtsinhalt ausmachen, müssen sie beide gezahlt werden und können dem Beamten nicht mit dem Argument, er werde doppelt alimentiert, entzogen werden. Es wird ja für jede Tätigkeit nur einmal gezahlt. Die angebliche Doppelargumentation ist eine in einem gerichtlichen Urteil ausgesprochene Unwahrheit. 6. Unabhängig hiervon dürfte es auch nicht möglich sein, das Überschreiten einer zu hohen Alimentation gesetzlich festzulegen. Eine bestimmte Geldsumme lässt sich nicht objektiv festlegen, die mit dem Amtsinhalt irgendwie korrespondiert. Gemessen werden könnte das Überschreiten der verfassungsrechtlich angemessenen Alimentation, wenn überhaupt, nur an dem Lebensstil des Beamten. Aber hier taucht die Tatsache auf, dass die Mehrzahl der Beamten verheiratet ist und der Ehegatte in der Regel auch einen Beruf hat und daher mitbestimmt, welchen Lebensstil der Beamte sich leisten kann. Allein das heute selbstverständliche „Doppelverdienertum“ schließt die Festlegung der Obergrenze aus. Hinzu kommen Sozialleistungen wie Kindergeld und Ausbildungsförderung, eigenes Vermögen und Renten. Bei der Fülle unterschiedlicher Verwendungsmöglichkeiten der dienstherrlichen Alimentationszahlungen durch den Beamten gibt es keine Möglichkeit der Festlegung von Höchstgrenzen des angemessenen Verdienens aus der Besoldung. Wenn man die Frage nach der Verwendung der Einkünfte stellt und an dem Luxus, den sich der Beamte leisten kann, die Über-Alimentation messen will, so scheitert man unverzüglich. Von welcher Besoldungsgruppe an ist das Eigenheim oder die Eigentumswohnung, der Porsche oder die Reise nach Indien noch amtsangemessen oder schon Indiz einer Überalimentierung? Auch von der Seite der „angemessenen“ Ausgaben lässt sich keine Obergrenze festlegen, bei deren Überschreitung man sagen kann, hier liege eine Über-Alimentation vor. Das Alimentationsprin-
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zip ist – was die Höhe der Alimentation angeht – ein völlig ungeeignetes Instrument, mit dem man nicht in der Lage ist, die sog. „Doppel-Alimentation“ (die ja nur eine durch Zusatzleistungen verdiente Zusatz-Alimentation und keine doppelte Alimentation ist) zu begrenzen. Der Begriff der amtsangemessenen Alimentation ist ein Stück beamtenrechtsgeschichtlicher Ideologie, die angesichts der finanzpolitischen Schwierigkeiten, mit denen der Staat kämpft, aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts hervorgeholt wird, das aber jeder sachlichen Begründbarkeit entbehrt. 7. Ein weiteres Argument ist ebenfalls zurückzuweisen: Der Beamte bekomme den lukrativen Auftrag zur Nebentätigkeit, weil er sich in seinem Amt die entsprechenden Kenntnisse verschaffen konnte. Wenn er diese Kenntnisse an Dritte weitergebe, so sei es angemessen, dass der Dienstherr das Entgelt hierfür einbehalte. Zunächst ist dazu zu bemerken, dass der Beamte, auch wenn er nur Kenntnisse einsetzt, die er im Dienst erworben hat, für den Aufwand an privater Freizeit von dem Dritten eine zusätzliche Belohnung erhält. Schon der Aufwand an freier Zeit rechtfertigt den Lohn, den der Dienstherr sich nicht einfach einstecken kann. Praktisch bedeutet das eine Verlängerung der Dienstzeit über das Maß hinaus, das die Vorschriften über die Arbeitszeit vom Beamten verlangen. In den meisten Fällen gehört zur Nebentätigkeit, vor allem auch der lehrenden Nebentätigkeit, eine umfangreiche Vorbereitung. Der Stoff, den der Beamte durch seine dienstliche Tätigkeit beherrscht, muss didaktisch aufgearbeitet werden. Das kostet oft sehr viel Zeit. Eine systematische Darstellung eines Lehrstoffs kostet Arbeit, die in der Freizeit geleistet werden muss. Vor allem aber ist es von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, in welchem Umfang gerade die im Dienst erworbenen Kenntnisse für die Nebentätigkeit genutzt werden. Das mag in bestimmten Fällen so sein. Bestimmt ist das aber nicht in allen Fällen so, sodass sich die Ablieferung der Einkünfte ohne Rücksicht darauf, um welche Leistungen es sich handelt, schon deshalb nicht gerechtfertigt ist. Es dürfte vielfach umgekehrt sein. Der Beamte eignet sich privat, d. h. auf eigene Kosten, besondere Kenntnisse an, die er dem Dienstherrn kostenlos zur Verfügung stellt und die ein Dritter in der Nebentätigkeit des Beamten mitnutzt. VIII. Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Es gibt keinen Grundsatz der „Einheit des öffentlichen Dienstes“, aus dem sich die Ablieferung von Nebentätigkeitsabgaben rechtfertigen lässt. 2. Das im Grundgesetz gewährleistete Alimentationsprinzip kennt keine verfassungsrechtliche oder gesetzliche Obergrenze der Alimentation. Es
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gibt überhaupt keinen brauchbaren Maßstab im Verfassungsrecht, aus dem sich eine solche Obergrenze der Alimentation entwickeln ließe. 3. Die Entlohnung, die der Beamte von einem Dritten erhält, ist keine Doppel-Alimentation, sondern eine Zusatzentlohnung für eine zusätzliche Leistung, die dem Beamten schon deshalb zu belassen ist, weil er mehr leistet als die anderen Beamten seiner Besoldungsgruppe, die keine Nebentätigkeit leisten. Wer neben seinem Hauptamt eine Nebentätigkeit übernimmt, hat einen anderen Amtsinhalt als der Beamte ohne Nebentätigkeit. 4. Der Staat muss, wenn er Nebentätigkeiten als Dienst ansieht, auch alle Verpflichtungen erfüllen, die die Dienstgeber haben. Dies aber geschieht heute nirgends. Der Staat nimmt nur Rechte und übernimmt keine Pflichten. IX. Zur Klarstellung sei betont, dass es nicht Ziel dieser Abhandlung ist, alle gegen die Ablieferung von Nebentätigkeitsentgelten sprechenden Argumente darzustellen, sondern darum, den Missbrauch, den das BVerfG mit dem Wort einer angeblichen „Einheit des öffentlichen Dienstes“ und dem Alimentationsprinzip treibt, hervorzuheben. Weitere, hier nicht behandelte Rechtsfehler in der Argumentation des BVerfG sind die folgenden: 1. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen wegen der Verletzung des Gleichheitssatzes bei den Ausnahmen von der Ablieferungspflicht. Das BVerfG hat sich oberflächlich nur mit wenigen Tätigkeiten befasst und die meisten Tätigkeiten außer Betracht gelassen, die von der Ablieferungspflicht befreit wird. Unter den Gesichtspunkten, die zur Begründung der Ablieferungspflicht genannt sind, sind die Ausnahmen nicht systemgerecht und verstoßen schon aus diesem Grunde gegen den Gleichheitssatz. 2. Die Höhe der ablieferungspflichtigen Entgelte als Mittel der Einschränkung der Nebentätigkeit ist angesichts der Tatsache, dass die Nebentätigkeit für private Auftraggeber nicht beschränkt wird, ungeeignet und verletzt das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit. 3. Die Ablieferungspflicht ist im Hinblick auf die Ziele der Nebentätigkeitseinschränkung übermäßig. Sie steht in vielen Fällen angesichts der Höhe des Eingriffs in das private Vermögen in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Ziel der Vorschrift. 4. Das Ziel einer Beschränkung der Nebentätigkeit zugunsten von öffentlich-rechtlichen Auftraggebern ist auch schon deshalb rechtswidrig, weil die mit einer Sonderabgabe belegte Nebentätigkeit zur Erfüllung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausgeübt wird. Ein öffentlicher Dienstherr darf
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keine Maßnahmen ergreifen, die das Ziel haben, die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch einen anderen Träger öffentlicher Aufgaben zu beschränken und zu behindern. 5. Es gibt keine verfassungsrechtlich einleuchtende Begründung für die Ablieferung der Nebentätigkeitsvergütung. Verständlich wird sie nur, wenn man die allgemeine menschliche Eigenschaft des Neides in die Überlegungen einbezieht. Es liegt nahe, davon auszugehen, dass der Neid derer, die – aus welchen Gründen auch immer – keine oder nur geringe Nebeneinnahmen erzielen, gegenüber denen, die höhere Nebeneinkünfte haben, zu einer solchen verfassungsrechtlich nicht begründbaren Gesetzgebung und Rechtsprechung geführt hat.
Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspolitik
Government und Governance im 21. Jahrhundert Politische und rechtliche Aspekte neuer Steuerungsmodelle Hermann-Josef Blanke Der Verwaltungswissenschaftler Heinrich Siedentopf hat sich in seinem wissenschaftlichen Schaffen mit Fragen des Government auseinandergesetzt, sei es in Fragen der Regierungs- und Ressortführung in Frankreich, der Modernisierung der nationalen Verwaltungen, der kommunalen Selbstverwaltung, des Europäischen Verwaltungsraums sowie der Verwaltungsreform im internationalen Dialog. Sein akademisches Wirken galt unter den gleichen Vorzeichen zuvörderst der länderübergreifenden Vorbereitung von Führungskräften auf die Übernahme höherer Leitungspositionen in der öffentlichen Verwaltung. Die klassischen Formen des Regierens werden zunehmend und in gleichsam inflationärer Verwendung mit einem neuen Leitbegriff konfrontiert, der unter der Bezeichnung Governance alle territorialen Ebenen in den verschiedenen sozialen Handlungssphären (Staat und Verwaltung, Verbände und Unternehmen, Zivilgesellschaft und Non-Profit-Organisationen) erfasst hat. In der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung geht es dabei um den Stellenwert der öffentlichen Verwaltung in der Formulierung, Implementierung und Evaluierung öffentlicher Politiken unter dem Blickwinkel des spezifischen Beitrags und der Problemlösungsfähigkeit des öffentlichen Sektors.1 Regieren im Sinne von Governance ist als „Kombination von weniger Staat mit mehr Politik“ gekennzeichnet worden.2 Als Brücken-3 und Kontextbegriff4 erleichtert er den Diskurs zwischen Ökonomie 1 Vgl. J. Bogumil/W. Jann/F. Nullmeier, Politik und Verwaltung – Perspektiven der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung, in: dies. (Hrsg.), Politik und Verwaltung, PVS Sonderheft 37/2006, S. 9 (25), sowie die Beiträge von A. Benz und J. Blatter, ebd., S. 29 ff., 50 ff. 2 Vgl. W. Jann, Governance als Reformstrategie – Vom Wandel und der Bedeutung verwaltungspolitischer Leitbilder, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), GovernanceForschung, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 21 (37), unter Verweis auf A. Evers/C. Leggewie, Der ermunternde Staat – Vom aktiven Staat zur aktivierenden Politik, Gewerkschaftliche Monatshefte 50 (1999), S. 332 ff. 3 G. F. Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 2), S. 371 (373 ff., 458).
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und Soziologie, birgt infolge seiner Konturenlosigkeit5 und des von ihm verbreiteten politischen Wohlgefühls („Partizipation durch Kommunikation“) aber auch die Gefahr, die Erfordernisse und Vorzüge des formalen Entscheidens in den Formen des Government zu vernachlässigen. I. Politikgestaltung unter Verzicht auf Gesetzgebung In ihrem Beitrag „New Modes of Governance in Europe: Policy-Making without Legislating?“ entwickelt Adrienne Héritier die These, dass wir es in Europa zunehmend mit neuartigen Formen des Regierens zu tun haben. Als Kennzeichen dieser Regierungsform nennt sie die Ersetzung der klassischen rechtlichen Regelungen des Gesetzes und der Verordnung durch Zielvereinbarungen, Empfehlungen und Regulierungsstrategien. „There has been an increase in the political salience of the new modes of governance (CEC White Paper), in particular, of target definitions and the publications of performance, on the one hand, and of voluntary accords with and by private actors, on the other. These new modes of governance are guided by the principles of voluntarism (non-binding targets and the use of soft law), subsidiarity (measures are decided by member states), and inclusion (the actors concerned participate in governance). The mechanisms of governance are diffusion and learning, persuasion, standardization of knowledge about policies, repetition (iterative processes of monitoring and target readjustment are employed) and time management (setting of time-tables).“6
Governance erweitert so den Blickwinkel der herkömmlichen Regierungslehre über den engeren Bereich der staatlichen Institutionen und der in ihnen agierenden kollektiven wie individuellen Akteure hinaus und nimmt Formen der politischen Problemlösung im Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren in den Blick, die als Ausdruck eines Wandels von Staatlichkeit wahrgenommen werden.7 Das Nachdenken über Governance ist ein Denken über die Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie darüber, wie kollektive Ziele unter verschärften äußeren und inneren Bedin4 K. König, Öffentliches Management und Governance als Verwaltungskonzepte, DÖV 2001, S. 617 (620). 5 Euphemistisch spricht G. F. Schuppert, im Vorwort des von ihm hrsg. Bandes „Governance-Forschung“ (Anm. 2), S. 5, von „taigahafter Unendlichkeit und zugleich tropischer Vielfalt“; kritisch hingegen A. Voßkuhle, in: W. Hoffmann-Riem/ E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1 Rn. 21, 70. 6 A. Héritier, New Modes of Governance in Europe: Policy-Making without Legislating?, in: dies. (Hrsg.), Common Goods: Reinventing European and International Governance, Lanham 2002, S. 185 ff. 7 J. v. Blumenthal, Governance – eine kritische Zwischenbilanz, ZfP 15. Jg. (2005), S. 1149 (1176).
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gungen erreicht werden können. Dem liegt ein übergreifendes Konzept zugrunde, das die Einrichtung politischer Netzwerke ebenso umfasst wie die Idee der „corporate governance“8 und das von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond initiierte Reformprojekt der „good governance“.9 Die Vereinten Nationen haben eine breit angelegte Kampagne gestartet, die in Reaktion auf die „crisis in governance“ das „gute Regieren“ als Reformprojekt in die Länder der Dritten Welt getragen hat.10 Die Forschung zu Governance lässt sich demnach gemäß der vorrangig in den Blick genommenen Ebene des Regierens differenzieren. Dies macht zugleich deutlich, dass „Regelung“ auch wegen des Entstehens von vertikalen Mehrebenensystemen nicht mehr einem zentralen Steuerungssubjekt zugeschrieben werden kann.11 1. Ausprägungen des Konzepts in der Europäischen Union Der von A. Héritier erhobene Befund wird auch von ihr unter Verweis auf das Weißbuch der Europäischen Kommission „Europäisches Regieren“12 belegt. Hier wird ausgeführt: „Governance in der Europäischen Union reformieren heißt, sich die Frage zu stellen, wie die EU die Kompetenzen nutzt, die ihr von den Bürgern übertragen worden sind [. . .] Ziel ist, die Politikgestaltung in der EU zu öffnen, damit die Menschen stärker einbezogen werden und die Verantwortlichkeiten klarer erkennbar 8
M. O’Sullivan, The Innovative Enterprise and Corporate Governance, Cambridge Journal of Economics, 24–4 (July 2000), S. 393–416; dies., Contests for Corporate Control: Corporate Governance and Economic Performance in the United States and Germany, Oxford 2000; U. Jürgens, Corporate-Governance – Anwendungsfelder und Entwicklungen, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 2), S. 47 ff. 9 Weltbank (Hrsg.), From Plan to Market: World Development Report 1996, Washington DC, 1996; E C. Murphy, Good Governance. Ein universal anwendbares Konzept?, Internationale Politik 8/2002, S. 1 ff.; S. Schlemmer-Schulte, Good Governance – Die Rolle der Weltbank und des IWF, Vortrag im Rahmen des Forum Juris Internationalis am 16.2.2004; H. Hill, Good Governance, Konzepte und Kontexte, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 2), S. 220 ff. 10 A. Pagden, The genesis of „governance“ and Enlightenment conceptions of the cosmopolitan world order, International Social Science Journal 50 (1998), S. 7 ff.; Th. Fues/B. I. Hamm (Hrsg.), Die Weltkonferenzen der 90er Jahre: Baustellen für Global Governance, Bonn 2001; „Building Partnerships for Good Governance“, http://unpan1.un.org/intradoc/groups/public/documents/un/unpan000113.pdf. 11 Vgl. die Beiträge von T. A. Börzel, A. Benz und M. Zürn, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Foschung (Anm. 2), S. 72 ff., 95 ff., 121 ff., sowie H.-H. Trute/W. Denkhaus/D. Kühlers, Governance in der Verwaltungswissenschaft, in: Die Verwaltung 2004, S. 451 (460). 12 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch „Europäisches Regieren“, KOM (2001) 428 endg. v. 25.7.2001, S. 10, 13 f., 21.
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sind [. . .] Die EU sollte ihre Zuständigkeiten besser nutzen, damit die Kluft zwischen ihr und den Bürgern überbrückt und ihre Politik wirksamer wird [. . .].“
Die Regierungskunst, auch als Handwerk des guten Regierens bezeichnet, beruht nach Ansicht der Kommission neben den Grundsätzen der Offenheit, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz, d.h. Stimmigkeit aller Aktionen, mithin vor allem auf dem Prinzip der Partizipation.13 „Verstärkte Teilhabe bewirkt größeres Vertrauen in das Endergebnis und die Politik der Institutionen . . . Partizipation heißt nicht Institutionalisierung von Protest. Partizipation bedeutet vielmehr wirkungsvollere Politikgestaltung auf der Grundlage frühzeitiger Konsultationen und der Erfahrungen der Vergangenheit.“ Sie wird daher von der Kommission als zentrales Instrument der Überwindung der Bürgerferne hervorgehoben. So schlägt das Weißbuch der Kommission in einem Sieben-Punkte-Plan vor, im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips der Frage nachzugehen, ob es förmlicher Regelungen auf der Ebene der Europäischen Union bedarf oder ob das angestrebte Ergebnis nicht durch „mildere“ Mittel, beispielsweise durch Empfehlungen oder Selbstverpflichtungen, etwa von betroffenen Wirtschaftsverbänden, erreicht werden kann.14 Dieser Verheißung ist anlässlich einer umfassenderen Debatte über die Europäische Union als Wertegemeinschaft „warmschnäuziger Zynismus“ attestiert worden;15 jedenfalls muss ein solcher „deliberativer Supranationalismus“ dann Misstrauen wecken, wenn europäische Entscheidungsstrukturen wie das intransparente Ausschusswesen (Komitologie) hierfür als Beleg angeführt werden. Die diese „Deliberation“ leitende Idee einer partizipativen Demokratie – unter Einschluss von NGOs – geht von einer „Anerkennung politischer, nicht bloß wirtschaftlicher Rechte für die Gemeinschaftsbürger“ aus.16 Im gescheiterten Vertrag für eine Verfassung für Europa wird der Grundsatz der Partizipation in dem Titel über das „demokratische Leben der Union“ verankert (Art. I-46 VVE) und ist nunmehr in Art. 11 EUV-Lissabon übernommen worden. Er steht im engsten Zusammenhang mit dem System der repräsentativen Demokratie (Art. I-45 VVE/Art. 10 EUV-Lissabon). Neben einer generellen Erleichterung der Stellungnahme der Bürger zur Meinungsbildung in den europäischen Institutionen wird hier die Pflicht 13
R. Hayder, Das Weißbuch „Europäisches Regieren“ der EU-Kommission, ZG 2002, S. 49 ff. 14 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch (Anm. 12), S. 26 ff. 15 J. Isensee, Zweckverband oder Wertegemeinschaft?, in: F.A.Z., 15.01.2007, Nr. 12, S. 8. 16 Chr. Joerges/J. Neyer, Vom intergouvernementalen Handeln zur deliberativen Politik: Gründe und Chancen für eine Konstitutionalisierung der europäischen Komitologie, in: B. Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Politische Vierteljahresschrift (PVS) Sonderheft 29, Opladen 1998, S. 207 (226 f.).
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der Organe der Union niedergelegt, „einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“ zu pflegen. 2. Ausprägungen des Konzepts in den Nationalstaaten Das dem Weißbuch wie dem Reformvertrag zugrunde liegende Leitbild einer „Governance by, with and without Government“17 findet aber auch Ausprägungen in der Hoheitsausübung der Nationalstaaten. Im Zeichen der Forderung nach einer Teilbarkeit der Gemeinwohlverantwortung und der Pluralität der Gemeinwohlakteure wird hier eine Veränderung der staatlichen Hoheitsgewalt in Form traditioneller Steuerungs- und Gestaltungsfunktion hin zu einer Gewährleistungsfunktion konstatiert. Ausschlaggebend dafür ist auch ein gestiegenes Vertrauen in die Selbstregulierung durch die Gesellschaft. Sie soll den staatlichen Gesetzgeber entlasten und – soweit durch eine internationale Normierungsorganisation unterstützt – Rechtsangleichung über territoriale Grenzen hinweg ermöglichen. Schließlich wird von ihr erwartet, dass sie die Akzeptanz derjenigen Betroffenen erhöht, die bei der Regulierung mitwirken. Im Ergebnis wird die Einschaltung der Öffentlichkeit als Mitgestalter und Mitkontrolleur als einer von mehreren „legitimationssichernden Faktoren“ angesehen, die das Modell der klassischen, zum Parlament führenden Legitimationskette um Elemente einer organischen, assoziativen oder deliberativen Demokratie18 ergänzen. Im nationalen Bereich der Bundesrepublik Deutschland wurden etwa anlässlich der Einberufung der sog. „Hartz-Kommission“19, der „Rürup-Kommission“20 und des „Nationalen Ethikrates“21 Aufgaben zur Ausarbeitung von Reformvorschlägen auf 17 M. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Demokratisierung als Chance, Frankfurt/M. 1998, S. 334. 18 Zu den verschiedenen Konzepten vgl. K.-P. Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union: Gefahr der Entdemokratisierung oder Fortentwicklung im Rahmen europäischer Supranationalität?, DÖV 2003, S. 1009 (1013). 19 Die Bundesregierung setzte am 22. Februar 2002 eine Kommission zum Thema „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ein. Aufgabe der Kommission war es, Vorschläge auszuarbeiten, die es ermöglichen sollen, bis Ende 2005 eine Halbierung der Arbeitslosigkeit auf etwa zwei Millionen zu erreichen. Der Kommissionsbericht wurde am 16.8.2002 dem Bundeskanzler überreicht. 20 Die sog. Rürup-Kommission hat im Spätsommer 2003 Vorschläge vorgelegt, um die Finanzierung von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung langfristig und nachhaltig zukunftsfest zu machen. Dabei sollte sie die sozialstaatlichen Sicherungsziele und die Generationengerechtigkeit beachten. Der Kommissionsbericht datiert vom 28.8.2003. 21 Auf Beschluss der Bundesregierung vom 2. Mai 2001 hat sich der Nationale Ethikrat am 8. Juni 2001 als nationales Forum des Dialogs über ethische Fragen in
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ein außerparlamentarisches Forum übertragen, die den materiellen Kernbereich parlamentarischer Beratung und Gestaltung betreffen.22 Der so genannte „Energie-Konsens“, durch den mittels einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 11. Juni 2001 der Ausstieg aus der Atomenergie festgelegt wurde, bildet aber ohne Zweifel das anschaulichste Beispiel einer paktierten Gesetzgebung.23 3. Die Governance-Strategie „Governance“ ist in den 90er Jahren zur politischen Losung aufgestiegen.24 Sie stellt nicht zuletzt eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen dar und versucht, den Staat der Gegenwart mit der Gesellschaft stärker miteinander zu verklammern. Politiker und Politikwissenschaftler haben sich diese Idee als einen neuen Weg des Denkens über die Leistungsfähigkeit des Staats und die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft schnell zu eigen gemacht. Anders als der engere Begriff des „Government“ geht es der Governance um die ganze Skala von Institutionen und Beziehungen, die den Vorgang des Regierens bestimmen. Während Government auf den Bereich des formalen Entscheidens innerhalb der Verfassungsinstitutionen zielt und in erster Linie die einseitige staatliche Steuerung vorrangig durch Setzung verbindlichen Rechts impliziert, weist Governance auf ein Zusammenspiel verschiedener staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure hin. Eine eindeutige Definition der politikwissenschaftlichen Verwendung von Governance lässt sich bis heute indes nicht finden.25 Ein engerer Beden Lebenswissenschaften konstituiert. Er soll den interdisziplinären Diskurs von Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften bündeln und Stellung nehmen zu ethischen Fragen neuer Entwicklungen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften sowie zu deren Folgen für Individuum und Gesellschaft. 22 Differenzierend M. Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 7, 14, der hinsichtlich der parlamentarischen Diskurshoheit danach unterscheidet, „wie sich im Parlament wirksame Kräfte auf das ihr von der Regierung zugewiesenen Rollenspiel einlassen“. Den Positionen des Nationalen Ethikrates sei durch den parlamentarischen Diskurs bisher „die intendierte Wirkung genommen“ worden. 23 Abgedruckt in NVwZ-Beilage Nr. IV/2000 zu Heft 10/2000; vgl. hierzu J.-P. Schneider, Paktierte Gesetze als aktuelle Erscheinungsformen kooperativer Umweltpolitik, in: B. Hansjürgens/G. Kneer/W. Köck (Hrsg.), Kooperative Umweltpolitik, Baden-Baden 2003, S. 2 f. 24 J. N. Rosenau/E.-O. Czempiel, Governance without Government: Order and Chance in World Politics, Cambridge 1992; J. Kooiman, Governance and Governability: Using Complexity, Dynamics and Diversity, in: ders. (Hrsg.), Modern Governance. New Government – Society Interactions, London 1993; ders., – zehn Jahre später – Governing as governance, London 2003.
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griff von Governance versteht darunter nur diejenigen Formen der Steuerung, bei denen hierarchische staatliche Entscheidungen nicht im Zentrum stehen, sondern das Zusammenwirken von staatlicher und privater Seite dominiert.26 Ein weites Verständnis von Governance sieht jegliche Art des Managements von Interdependenzen als erfasst an, das sowohl als einseitig staatliche Lenkung als auch in kooperativer Form der Verhandlung bis hin zur gesellschaftlichen Selbststeuerung denkbar ist.27 Klärungsbedürftig war zunächst, ob in der Verbreitung von Governance-Überlegungen anstelle der Steuerungstheorie ein „Paradigmenwechsel“ oder nur eine „Akzentverschiebung“ zu sehen ist. Diese Frage scheint nunmehr im Sinne einer Akzentverschiebung, also einer Fortentwicklung der Steuerungstheorie bei einem neu fokussierten Forschungsansatz in Gestalt „institutioneller Steuerung“ und der Frage ihres Funktionierens beantwortet.28 Angesichts der Risiken einer 25
Vgl. v. Blumenthal, Governance – eine kritische Zwischenbilanz (Anm. 7), S. 1153; J. Blätter, Governance als transdisziplinäres Brückenkonzept für die Analyse von Formen und Transformationen politischer Steuerung und Integration, in: Bogumil/Jann/Nullmeier (Hrsg.), Politik und Verwaltung (Anm. 1, S. 50 (51). 26 G. Stoker, Governance as theory: five propositions, International Social Science Journal 50 (1998), S. 17; so wohl auch K. H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 343, der die Aufgabe des kooperativen Staates in der Suche nach „ ‚netzwerkgerechten‘ prozeduralen Koordinationsformen“ sieht, „die vor allem auf die Schaffung neuen Wissens angelegt sind“. Hierfür erachtet er die „institutionelle Einbindung in ein neues Rechts- und Staatssystem“ als erforderlich (S. 342). 27 R. Mayntz, Governance im modernen Staat, in: A. Benz, Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 65 (72). 28 Vgl. R. Mayntz, Governance-Theorie als fortentwickelte Steuerungstheorie? in: Schuppert, (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 2), S. 11 (17); Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen (Anm. 3), S. 375, 432 f.; Trute/ Denkhaus/Kühlers (Anm. 11), S. 457 ff., 468 ff., sehen im Begriff der „Regelungsstruktur“ eine Anschlussfähigkeit der Verwaltungsrechtswissenschaft an das Governance-Konzept; A. Voßkuhle (Anm. 5), § 1, Rn. 70, hält „einen generellen Perspektivenwechsel von Steuerung zu Governance . . .“ hinsichtlich der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft hingegen für „wenig ertragreich“; auch E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee und Steuerungsfunktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: W. Spannowsky (Hrsg.), Erscheinungsbilder eines sich wandelnden Verwaltungsrechts, 2006, S. 3 (10), sieht bei einem steuerungswissenschaftlichen Ansatz innerhalb der verwaltungsrechtlichen Systembildung einen „Übergang zu einem weiter ausgreifenden und dadurch leicht die Konturen verlierenden ‚Governance‘-Ansatz (als) damit nicht indiziert“ an. Es erscheint indes fraglich, ob ein steuerungswissenschaftliches Konzept, das er u. a. durch das Element der „Wirkungszusammenhänge, Substitutions- und Ergänzungsverhältnisse zwischen Handlungmaßstäben, Akteuren, Institutionen und Handlungsinstrumenten“ beschreibt (S. 8), klarer konturiert ist. Handlungsorientierung vermittelt dieses Konzept der Verwaltung wohl auch nicht, wenn man auf die von Schmidt-Aßmann (S. 12) erhobene Forderung blickt, wonach „alle unterschiedlichen Arten des Rechts einzubeziehen“ und so „ ‚Arrangements‘ von Steuerungsansätzen“ zu bilden sind, die sich in Organisations-, Prozess-, Programm- und Personalstrukturen aufgliedern (Hervorhebung im Original).
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Denaturierung des Staates zum Wirtschaftsunternehmen und seiner Verkürzung auf die ökonomische Dimension im „New Public Management“29 wollen Governance-Konzepte als Ausdruck institutioneller Steuerung „all those interactive arrangements“ mitbeachten, „in which public as well as private actors participate aimed at solving societal problems, or creating societal opportunities, attending to the institutions within these governance activities take place, and the stimulation of normative debates on the principles underlying all governance activities.“30 a) Verantwortungsteilung Das Konzept der Verantwortungsteilung zielt auf einen Paradigmenwechsel, der an die Stelle der kategorialen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, von Hoheitsgewalt und Unterworfenheit, von einseitiger Regelungsbefugnis des Staates und Gehorsamspflicht der Normempfänger die Komplementarität und Kooperation zum Leitprinzip erheben möchte.31 Dieses neue Paradigma bedeutet, dass zwischen ‚Staat‘ und ‚Nicht-Staat‘ nicht mehr ontologisch unterschieden werden kann und soll, die Unterscheidung daher auf funktionalen Kriterien beruhen muss. Aufgabenteilung soll wechselseitige Kontrolle, ein Gefüge von „checks and balances“ einschließen.32 Die stabile Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit33 wird indes keinesfalls preisgegeben, doch werden Privates und Öffentliches wechselseitig füreinander durchlässig. Das Modell Max Webers, der den Staat als den Inbegriff des kollektiven Interesses ansieht und die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nach seiner Fähigkeit zur Auferlegung von Normen trifft, scheint im Auslaufen begriffen zu sein. Als Emanation hierarchischer Ordnung soll die staatliche Normregelung zugunsten der unverbindlichen Formen eines auf Flexibilität, Mannigfaltigkeit und Informalität bedachten „Austauschs“ zwischen Staat und Markt in „politischen Netzwerken“ („Policy-Netzwerken“) zurückgedrängt werden.34 Freilich legt eine realistische 29 Zu der (deshalb) weiterhin nur beiläufigen Behandlung dieses Konzepts in der legistischen Verwaltungslehre vgl. statt vieler G. Püttner, Verwaltungslehre, München 2007, Rn. 75 ff., 78 f. 30 J. Kooiman, Governance. A Social-Political Perspective, in: J. R. Grote/B. Gbikpi (Hrsg.), Participatory Governance, Opladen 2002, S. 71 (73); vgl. auch W. H. Lorig, „Good Governance“ und „Public Service Ethics“, Das Parlament, Ausgabe 18/2004 (Beilage), S. 24 (28). 31 P. Saladin, Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaats in einer zunehmend überstaatlichen Welt, Einsiedeln 1994, S. 105 f. 32 Saladin, ebd., S. 106 f. 33 Vgl. hierzu grundlegend A. B. Seligman, The Idea of Civil Society, New York 1992.
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Perspektive die Annahme nahe, dass das Verwaltungsrecht „immer auch ein Recht der einseitig regelnden Staatsakte bleiben wird“.35 Doch wird das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Policy-Prozess als eine „symbiotische Beziehung“ aufgefasst.36 Die einseitige staatliche Regelung als Ausdruck politischer Steuerungstheorie wird hier nur als eine mögliche, zumeist weder effiziente noch effektive Art der Problemlösung angesehen. Die in der Steuerungstheorie anzutreffende Differenzierung zwischen Steuerungsfähigkeit der Steuerungssubjekte und Steuerbarkeit der Steuerungsobjekte stellt sich in der Governance-Perspektive als komplexe, institutionell geformte Interaktionsstruktur von Akteuren dar.37 Schon wird der Aufbau der westlichen Gesellschaft als zunehmend horizontal, nicht aber mehr ausschließlich vertikal beschrieben.38 Governance ist so auch als ein Wechsel von einer „kollektivistischen“ zu einer „individualistischen“ politischen Kultur, oder – allgemeiner – als ein ideologischer Wechsel von der Politik hin zum Markt bewertet worden („ideological shift to the markets“).39 Der Wandel stellt eine Herausforderung des Staates dar, denn seine Rolle als Inbegriff des kollektiven Interesses und seine Steuerungsfunktion zur Verwirklichung der Ziele des Gemeinwohls sowie der sozialen Umgestaltung werden zunehmend in Zweifel gezogen. b) Deliberative Demokratie Der deliberative Prozess strebt – in der Diktion J. Habermas’40 – eine einheitliche privilegierte Form der „Inklusion“, „die gleichberechtigte, zwanglose und verständigungsorientierte Teilnahme aller Betroffenen“ an. Nur in der „Lebenswelt“ des Diskurses und der Deliberation, des „endlosen Ge34 J. Pierre/G. Peters, Governance, Politics and the State, Houndmills 2000, S. 15 ff. 35 Vgl. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Anm. 28), S. 10/11 (Hervorhebung im Original). 36 H. Heclo, Issue Networks and the Executive Establishment, in: A. King (Hrsg.), The New American Political System, Washington D.C. 1978, S. 102 ff. 37 Vgl. v. Blumenthal, Governance – eine kritische Zwischenbilanz (Anm. 7), S. 1170 ff.; dies anerkennt Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Anm. 28), S. 8, 10, – trotz aller Distanz zur Governance-Perspektive (s. oben Anm. 28) – auch für die Verwaltungsrechtswissenschaft. Zum handlungsorientierten Steuerungsansatz vgl. R. Mayntz/F. W. Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, S. 39 ff. 38 Democracy and Power in Sweden: The Final Report from the Royal Commission on the distribution of power in Sweden, 1990, S. 44. 39 Pierre/Peters, Governance, Politics and the State (Anm. 34), S. 52 ff., 55. 40 J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile, DZPhil 1998, S. 179 ff.
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sprächs“, ist Kritik möglich. Der öffentliche Diskurs mit dem politischen System lässt die „Zivilgesellschaft“ als „Kommunikationsgesellschaft“ an die Stelle der Unterscheidung von Staat und „Privat(rechts)gesellschaft“ treten.41 Politik wird als eine Arena für die kollektive Erziehung angesehen.42 Nachdem die Parteien als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft stark an Integrationskraft eingebüßt haben, sieht sich hierzu eine technokratische Elite der Verbände sowie eine intellektuelle Schicht von Diskursteilnehmern aus den Institutionen der Erziehung, der Medien und der Professionalisierung der neuen sozialen Bewegungen in einer Gesellschaft berufen, die ihre Ziele immer wieder reformulieren muss.43 In der politischen Ökonomie ist das wechselseitige Verhältnis zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor („public private partnership“) als eine Form von Governance verstanden worden; zahlreiche Studien wurden der Rolle des Staats bei der Koordinierung der verschiedenen Bereiche der Wirtschaft gewidmet.44 Das Konzept des demokratischen Regierens, das stets auf das Ziel einer gerechten Gesellschaft gerichtet ist, unterscheidet vier Formen und Wirkungen einer „Policy“. Als Plädoyer für den Minimalstaat geht es bei Governance um die Schaffung effektiver Regeln zur Herstellung eines freiwilligen politischen Austauschs zwischen den Bürgern.45 Die „redistributive“ Variante hebt die Rolle von Governance in Form einer Einflussnahme auf die substantiellen Erträge durch Umverteilung von Ressourcen hervor.46 Eine weitere Variante setzt auf die prozesshafte Herausbildung einer politischen 41 Kritisch zu diesem „diskursiven Vergesellschaftungsmodus“ (J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt M. 1992, S. 396) äußert sich K.-H. Ladeur, „Deliberative Demokratie“ und „dritter Weg“ – eine neue Sackgasse?, Der Staat 41. Bd. (2002), S. 3 (12 ff.). Er spricht vom „Mythos der ‚Zivilgesellschaft‘ “ und fragt, wie der Prozess der Osmose der Zivilgesellschaft mit dem politischen System von einer Verständigung der Zivilgesellschaft unterschieden werden kann. 42 J. Cohen/J. Rogers, Secondary Associations and Democratic Governance, Politics and Society 1992, S. 39 ff. 43 Kritisch Ladeur, „Deliberative Demokratie“ (Anm. 41), Der Staat 41. Bd. (2002), S. 22 f. 44 Vgl. S. Lütz, Governance in der politischen Ökonomie, in: A. Benz (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004. 45 R. A. W. Rhodes, Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexibility and Accountability, Buckingham/Philadelphia 1997, S. 47 f., verweist dieses Konzept in den Bereich der politischen Rhetorik. 46 Vgl. hierzu Th. König, Policy und Netzwerkanalyse, in: Th. Ellwein/J. J. Hesse/R. Mayntz/F. W. Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden, Bd. 5/1991, S. 241 (242): „Eine Policy mit redistributivem Charakter schichtet [. . .] nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip Leistungen und Ressourcen um, d. h. es entstehen Umverteilungskosten bzw. -nutzen für die jeweilig betroffene Gruppe; knappe Ressourcen werden mit dem Ergebnis eindeutig identifizierbarer Gewinner und Verlierer verteilt und der Policy-Prozess gestaltet sich häufig äußerst konfliktreich.“
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Kultur, die auf gemeinsamen Überzeugungen und Absichten der Bürger aufbaut. In ihrer strukturalistischen Ausprägung geht es der GovernanceLehre schließlich um die Ingangsetzung eines politischen Prozesses und die Vereinbarung politischer Regeln. Infolgedessen stehen hier die politischen Strukturen, namentlich die Institutionen, im Vordergrund. Dabei geht es um die Verfolgung kollektiver Interessen durch politische Institutionen sowie durch andere Einrichtungen, die in den Bereich des Öffentlichen hineinragen.47 c) Gesellschaftliche Interessengruppen, Netzwerke und Verbände Herkömmlicherweise wird zwischen drei Modellen im Beziehungsgefüge zwischen Staat („Government“) und Gesellschaft unterschieden, nämlich zwischen Pluralismus, Korporatismus und korporativem Pluralismus. Das pluralistische Modell beruht auf den traditionellen hierarchischen Entscheidungsstrukturen („top down“) zwischen Staat und Gesellschaft und sieht die Gesellschaft als eine weitgehend unorganisierte und inkohärente Ansammlung von Individuen sowie Gruppen mit einem geringen organisierten Einfluss auf die Politik an. Unter den Gruppen wählt die Regierung diejenigen aus, mit denen sie interagieren möchte. Das korporatistische Modell geht hingegen von einer engeren Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft sowie von der Anerkennung bestimmter Interessenvertreter von Industrie und Arbeitnehmerschaft durch die staatlichen Organe aus, die die gesellschaftlichen Interessen in den staatlichen Willensbildungsprozess einbringen.48 Das korporativ-pluralistische Modell nähert sich im politikwissenschaftlichen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft am ehesten dem Leitbild der „governance without government“ an, ohne indes selber ein solches Konzept zu vertreten. Die Einbindung von nicht-staatlichen Akteuren wird als Mittel des Regierens angesehen, stellt aber keine Alternative zur Herrschaftsausübung durch die gewachsenen Institutionen dar. Der prägnanteste Unterschied zwischen den verschiedenen Modellen besteht in der Definition der gesellschaftlichen Interessengruppen. Hier wird zwischen Netzwerken und Repräsentanten der Zivilgesellschaft – auch Bürgergesellschaft genannt – differenziert. Die Zivilgesellschaft äußert sich insbesondere in den „neuen sozialen Bewegungen“, die „Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz“ aufwerfen und gute Gründe mobilisieren [. . .], 47 J. G. March/J. P. Olsen, Democratic Governance, New York 1995, S. 241 ff.; Pierre/Peters, Governance, Politics and the State (Anm. 34), S. 51. 48 Kritisch zum Neo-Korporatismus auf europäischer Ebene J. H. H. Weiler, European Democracy and its Critics: Policy and System, in: ders. (Hrsg.) The Constitution of Europe, New York 1999, S. 283.
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um Druck auf Parlamente, Gerichte und Regierungen auszuüben.“49. Der Begriff „Netz“ impliziert eine durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Menge von sozialen Einheiten wie bspw. Personen, Positionen, Organisationen. Über ihre Interessenverflechtung bilden seine Akteure ein soziales System und die zur Verfügung stehenden Kontrollressourcen ermöglichen ihnen die Beeinflussung einer kollektiven Entscheidung.50 Bei der Konstruktion der Netzwerke wird danach unterschieden, wie stark angesichts der Dezentralisierung und Dekonzentration des öffentlichen Sektors die Handlungsträger in den betroffenen Aufgabengebieten mit der zu regulierenden Angelegenheit vertraut sein müssen, um zu einer kohärenten Formulierung des Politikbereichs und seiner Umsetzung zu gelangen. Während in den klassischen Modellen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft die Einrichtungen des öffentlichen Sektors im Beratungsverfahren eine starke Stellung besitzen, stellen sie im Netzwerksystem nur noch Komponenten in einem komplexen Gefüge der Interaktion dar. Auf diese Weise sollen die vermuteten einseitigen autoritativen Dekrete der staatlichen Seite von vornherein ausgeschlossen werden („bottom up approach“). Hiervon unterscheiden sich die Auseinandersetzungen etwa um die Sozialklauseln und die Arbeitnehmerrechte im NAFTA-Nebenabkommen, die Beratungen der Agenda 21 und die Einführung alternativer Beteiligungsverfahren in der Policy-Dimension dadurch, dass sie in das nationalstaatliche institutionelle Gefüge eingebunden bleiben. Eingerahmt wird dieses Beratungsszenario von supra- bzw. internationalen Institutionen wie der Europäischen Union und den Vereinten Nationen. Die Aushandlung der Policy verbleibt im institutionellen Rahmen des Staates, so dass die Vertreter sozialer Bewegungen nicht nur auf Akteure der Wirtschaft (Verbände), sondern immer auch auf Repräsentanten der staatlichen Administration treffen und sie daher ihre Bereitschaft zur problemlösungsorientierten Kooperation beweisen müssen.51 Demokratische Partizipation ohne normativen Referenzrahmen und institutionelle Einbindung erscheint demgegenüber als eine eher prekäre und vage Konzeption, die dazu geeignet ist, die Effektivität des Governance-Systems insgesamt in Frage zu stellen.52 49
Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (Anm. 41), S. 447. Vgl. F. W. Scharpf, Interorganizational Policy Studies: Issues, Concepts and Perspectives, in: K. Hanf/F. W. Scharpf (Hrsg.), Interorganizational Policy Making Limits to Coordination and Central Control, London 1978, S. 345 ff.; J. Coleman, Individual Interests & Collective Action, New York 1986, S. 15 ff. 51 Vgl. E. Hennig, Globalisierung, Demokratie und Partizipation: Noten zur Engführung der Aufmerksamkeitshaltung, in: M. Berndt/D. Sack (Hrsg.), Glocal Governance?, Wiesbaden 2001, S. 29 ff. 52 Vgl. Pierre/Peters, Governance, Politics and the State (Anm. 34), S. 34 ff.; D. Sack/M. Berndt, Nike-Kampagne und Nation, Glokale Politik zwischen Partizipa50
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II. Ursachen des Paradigmenwechsels Begründet wird das Konzept der Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft vor allem unter Hinweis auf die qualitative und quantitative Veränderung der Staatsaufgaben. Die Gesamtverantwortung des Staates für die gesellschaftliche Entwicklung findet keine Parallele in der Ausweitung seiner Machtmittel. Angesichts der Komplexität konfligierender Interessen und der schwierigen Prognose gerichtlicher Auseinandersetzung – bei einer ausgefeilten deutschen Grundrechtskasuistik – ziehen es die staatlichen Organe vor, die betroffenen nicht-staatlichen Akteure im Wege eines „pluralistischen Aushandlungsprozesses“ in die Vorbereitung eines Gesetzgebungsverfahrens einzubeziehen. Dort, wo sich die Steuerungsaufgaben durch den Einsatz der staatlichen Instrumente von Befehl und Zwang nicht mehr angemessen erfüllen lassen oder wo dem Staat und seiner Bürokratie die erforderlichen Sachkenntnisse fehlen (technische Standardisierung, Bestimmung von Preis und Konditionen für den Zugang zu Netzen), überlässt er die Normsetzung sogar gänzlich den Absprachen zwischen den betroffenen Organisationen. Es mag aber auch die Furcht vor den Implementationskosten des imperativen Rechts sein, die den Staat dazu veranlasst, die entstehende Lücke durch Verhandlungen mit den Steuerungsadressaten zu schließen.53 Andererseits muss der Staat zunehmend die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen erkennen. Die öffentlichen Ausgaben erweisen sich – vor allem in Gestalt der Sozialausgaben – weitgehend als „strukturell“ gebunden, so dass der Regierung zumindest kurzfristig nur ein geringer politischer Handlungsspielraum verbleibt. Das wachsende öffentliche Defizit der Wohlfahrtsstaaten – bei hohen Belastungen der Bürger durch Steuern und Abgaben – führt zu weiteren erheblichen Restriktionen. Die innere und äußere Souveränität des Staats wird nicht zuletzt durch den parallelen Vorgang der Globalisierung nachhaltig begrenzt, womit zugleich im Wettbewerb zwischen den Staaten – etwa hinsichtlich ihrer sozialen Sicherungssysteme – ein „race to the bottom“ befürchtet wird.54 Die Mobilität von Wirtschaftsgütern transzendiert nationale Regelungen und beschneidet empfindlich die Wirksamkeit der parlamentarischen Gesetzgebung. Die Vernetzung von Kommunikationswegen im Cyberspace und tion, Demokratie und Globalisierung: Einleitung, in: M. Berndt/D. Sack (Hrsg.), Glocal Governance?, Wiesbaden 2001, S. 11 (16 f.). 53 Vgl. zu dieser Analyse D. Grimm, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 85 ff. 54 Vgl. R. Boyer/D. Drache, States Against Markets: The Limits of Globalization, London/New York, 1996; A. Scott, The Limits of Globalization, London 1997.
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die Mobilität von Kapital erlauben eine weitreichende regulative Selbstorganisation.55 Neue Techniken und Strategien des Regierens sollen vor diesem Hintergrund ein Gegengewicht zu den internationalen Kapitalverkehrsströmen, zur Volatilität der Währungen und den internationalen Finanzmärkten bilden. Zudem führt der Prozess der Globalisierung zu Unsicherheiten bei der nationalen Politikgestaltung, die zu einer Abhängigkeit der nationalen Institutionen von nationaler und internationaler Expertise beitragen. Im Ergebnis werden mithin die Steuerungsschwächen des Gesetzes in der globalisierten Welt, das begrenzte Wissen um die Aufgabenerfüllung, letztlich also die Leistungsgrenzen des Parlaments und die damit verbundene Möglichkeit der Adressaten des Verwaltungsaktes, sich der Steuerung zu entziehen, für den Paradigmenwechsel in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ins Feld geführt. Mit der ökonomischen Krise ist der Rückzug des Staats aus der Erfüllung zahlreicher Aufgaben im Wege ihrer Privatisierung eng verbunden. Prominente Beispiele liefert die (weitgehende) Entstaatlichung des Energieund Telekommunikationssektors. Im Gewährleistungsstaat sind Staatsaufgaben Gewährleistungsaufgaben. Deshalb soll nicht primär darüber gestritten werden, ob eine Staatsaufgabe vorliegt oder nicht, sondern welcher Träger sie erfüllen sollte und wie dabei der unverzichtbaren staatlichen Aufgabe der Gemeinwohlsicherung Rechnung getragen werden kann.56 Idealtypisch betrachtet vollzieht Privatisierung „die Wende vom ‚Leistungsstaat‘ zum ‚Regulierungsstaat‘ “.57 Indes kann der Staat seiner Gewährleistungsverantwortung nur gerecht werden, wenn er über ein Mindestmaß an „Ereignisbeherrschung“ verfügt. So muss es ihm möglich sein, die Aufgabenerfüllung durch private Dritte hinreichend zu kontrollieren und zu überwachen, die den privaten Anbietern auferlegten Gemeinwohlverpflichtungen durchzusetzen und die ausgelagerte Aufgabenwahrnehmung notfalls wieder in die staatliche Obhut zurückzuholen. Mit Blick auf die legeferierende Tätigkeit ändert das Gesetz seine Funktion, indem es vom Regulierungsgesetz zum Androhungsgesetz mutiert, dessen Ausstrahlungswirkung konsensuale Lösungen erzwingt oder erleichtert. Der Staat setzt nicht alles Recht selbst, gewährleistet aber die Gemeinwohlverträglichkeit der Rechtsetzung durch Dritte.58 Er veranlasst oder fördert die Regelung bestimmter 55
Vgl. Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 22), S. 9,
11. 56
Vgl. G. F. Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 340. J. A. Kämmerer, Privatisierung. Typologie-Determinanten-Rechtspraxis-Folgen, Tübingen 2000, S. 623. 58 G. F. Schuppert, Das Konzept der regulierten Selbstregulierung als Bestandteil einer als Regelungswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 4/2001 („Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewähr57
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Bereiche durch Private, vor allem durch Wirtschaftsverbände, Fachvereinigungen und ähnliche Organisationen. Das Gesetz kann auch die Ziele und Schranken der Selbstregulierung festlegen oder vorsehen, dass unter gewissen Voraussetzungen die von Privaten aufgestellten Regelungen als verbindlich erklärt werden. Daraus entsteht ein Zusammenspiel von gesetzgeberischem Drohpotential und Selbstregulierung.59 III. Local und Glocal Governance Das Modell deliberativer Demokratie wird insbesondere für die kommunale Ebene diskutiert und soll auch hier eine möglichst breite, repräsentative Partizipation der Bürger, basierend auf einer umfassenden Information, in Diskussionsforen und an Befragungen sicherstellen.60 Im Kern geht es um die Steigerung der Akzeptanz der vor Ort getroffenen Verwaltungsentscheidungen durch Vermittlung ihrer Rationalität.61 Im Bericht anlässlich des Globalen Forums der Vereinten Nationen über innovative Politiken und Praktiken im Hinblick auf „Local Governance“ (23.–27.9.1996)62 wurden die Vorteile einer solchen Stärkung der Kapazitäten des lokalen Regierens hervorgehoben. Gerade für die ökonomisch weniger entwickelten Länder der Welt wird die „Fragmentierung politischer Macht“ durch die Dezentralisierung öffentlicher Aufgaben bei gleichzeitiger Bürgerbeteiligung auf lokaler Ebene zusammen mit dem Engagement der Nicht-Regierungsorganisationen als ein unverzichtbarer Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft, zur Herstellung von politischer Verantwortlichkeit und von Transparenz sowie zur Steigerung der Effektivität des Verwaltungsvollzugs bewertet.63 Zur Erreichung dieser Ziele soll die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung auf einen gemeinsamen Qualitäts-Standard verpflichtet werden („Commitment Quality Management“).64 Angesichts dieser idealisierenden Emphase ist aber umgehend eingewendet worden, dass eine Partizipation, die unklaren Berechtigungsgrundsätzen folge, sich zu einer weiteren Zuleistungsstaates. Ergebnisse des Symposiums aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Hoffmann-Riem“), S. 201 (218 ff.). 59 Vgl. G. Müller, Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat, in: M.-E. Geis/D. Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 227 (234 f. mit FN 32). 60 Vgl. E. C. Weeks, The Practice of Deliberative Democracy: Results from Four Large-Scale Trials, Public Administration Review 60 (2000), S. 360 ff. 61 Sommermann, Verfassungsperspektiven (Anm. 18), DÖV 2003, S. 1013 f. 62 United Nations, Local Governance, St/TCD/SER.E/40, http://magnet.undp. org/Docs/gov/Tpsloca.htm. 63 Ebd., S. 11, 19, 27, insbes. 41. 64 Ebd., S. 41.
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mutung für den in Bedrängnis geratenen demokratischen Nationalstaat entwickeln könne.65 Vor allem durch die internationale Vernetzung im Agenda-21-Prozess sollen die Kommunen als die unterste Ebene mit dem unmittelbarsten Kontakt zur Bevölkerung in die Entwicklung der globalen Nachhaltigkeit einbezogen werden.66 Durch die in Kapitel 28 der Agenda 21 formulierte „Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen [als] ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der in der Agenda enthaltenen Ziele“ wurde ihnen zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen eine eigene Rolle zugewiesen. Auf diese Weise soll ein Prozess organisiert werden, der lokal, regional, national und dann international versucht, eine Balance zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialer Gerechtigkeit herzustellen.67 Eng verwoben hiermit ist die politikwissenschaftliche Debatte über Voraussetzungen und Formen demokratischer Beteiligung im Zeichen der Globalisierung. Unter dem Stichwort „Glocal Governance“ wird das Phänomen diskutiert, dass sich Globalisierungen lokalisieren. Das bedeutet, dass die „örtliche Umgestaltung nicht weniger zur Globalisierung [gehört] als die lokale Verbreitung sozialer Verbindungen über Raum und Zeit hinweg.“68 Politik soll auch im Zeichen der Globalisierung von Akteuren jeweils an konkreten Orten und unter je konkreten Bedingungen und mit jeweils konkreten Bezugsrahmen gestaltet werden, selbst wenn ihre Auswirkungen gewollt oder nicht gewollt durch Globalisierung an anderen Orten spürbar sind.69 IV. Die rechtliche Bewältigung einzelner Formen von Governance Die Rechtsdogmatik behandelt die Verlagerung des legislativen Diskurses auf außerparlamentarische Foren unter den Begriffen der „Informalisierung“ und „Entparlamentarisierung“. Hierunter fasst sie namentlich das Auspaktieren von Gesetzesinhalten durch Regierung und private Interessengruppen, die wachsende Rolle der Sachverständigen bei der Politikformulierung sowie die normersetzenden Absprachen. In den Berichten und in der Aussprache anlässlich der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zum Beratungs65 Vgl. Hennig, Globalisierung, Demokratie und Partizipation (Anm. 51), S. 29 ff.; W. Ruf, Globalisierung und Regulationspotentiale des UN-Systems, in: Berndt/Sack (Hrsg.), Glocal Governance? (Anm. 51), S. 77 ff. 66 Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro – Dokumente – Agenda 21, http://www.agrar.de/agenda/agd 21k00.htm. 67 Vgl. G. Hilliges, Internationale Vernetzung im Agenda-21-Prozess, in: M. Berndt/D. Sack (Hrsg.), Glocal Governance?, Wiesbaden 2001, S. 193 ff. 68 Vgl. A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 86. 69 Vgl. Berndt/Sack, Nike-Kampagne und Nation (Anm. 52), S. 12.
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gegenstand „Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung“ im Oktober 2002 wurde deutlich, dass die politik- und sozialwissenschaftliche Analyse von „Governance“ bisher allenfalls indirekt Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion gefunden hat. So stehen die beiden Ebenen des Diskurses weitgehend unverbunden nebeneinander. Schon der auf dogmatische Verlegenheit hindeutende Begriff der „Informalisierung“ bereitet der juristischen Analyse Schwierigkeiten, weil er keinen dogmatischen Gehalt aufweist,70 seine dogmatische Durchdringung aber zunehmend für unabweisbar gehalten wird. Denn Informalität wird auch in der Rechtswissenschaft als wesentliches Medium zur Verarbeitung des sozialen Wandels begriffen.71 1. Demokratieprinzip und Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als verfassungsrechtliche Parameter Die maßgeblichen rechtlichen Orientierungspunkte bilden bei der Bewertung des informalen Handelns das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG). Informale Entscheidungspraktiken sind gekennzeichnet durch Einvernehmlichkeit infolge reziproker Interessen, durch die Identität von Rechtssetzern, Rechtsunterworfenen und Rechtsanwendern sowie in der begrenzten Bindungswirkung, die vom Fehlen eines verwaltungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs begleitet sein kann. Angesichts dieser Eigentümlichkeit stehen sie im Verdacht, die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Teilhabe zu gefährden und damit die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) zu entleeren. Eine stärker politikwissenschaftliche Diktion spricht von der Tendenz, dass informale Verfahren die Sicherungen der politischen Entscheidungsfindung als Gemeinwohlverfahren überspielen.72 Kennzeichen dieses Verfahrens sind die Zugänglichkeit des Entscheidungsgangs für alle Interessen und Überzeugungen („Inklusivität“) sowie Gleichheit, Freiheit und Öffentlichkeit im Beratungs- und Beschlussfassungsstadium.73
70 M. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 37, 57, der „Informalisierung“ als „bestimmte Form der Weltbeschreibung“ mit „Handlungsrelevanz“ interpretiert. 71 Vgl. ders., ebd., S. 47. 72 Ders., ebd., S. 40, 52 f., 65; Grimm, Diskussionsbeitrag (Anm. 53), S. 86. 73 Morlok, ebd., S. 62, 77.
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2. Paktierte Gesetze Indes ist eine differenzierte rechtliche Bewertung der verschiedenen Arten des informalen Handelns notwendig. Die Frage ihrer Legitimität oder Illegimität muss in jedem Einzelfall gesondert gestellt und beantwortet werden.74 So führt das Auspaktieren von Gesetzesinhalten zu einer materiellen Entdemokratisierung legislativer Verfahren, die den Gesetzgeber ähnlich wie bei der Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen auf eine bloße Ratifikationsrolle reduziert.75 Die für den parlamentarischen Prozess idealiter kennzeichnende Einbringung aller Interessen und Überzeugungen in eine umfassende Abwägung wird hier überlagert, wenn nicht ersetzt durch die informalen Vorabsprachen zwischen der Exekutive und den Akteuren im innerparlamentarischen Bereich, im Bund-Länder-Verhältnis, auf supranationaler und internationaler Ebene, aber auch durch Verhandlungen der Exekutive mit Vertretern aus der Zivilgesellschaft, vor allem der Verbände. Allerdings kann die Notwendigkeit parlamentarischer Letztentscheidung schon im Vorfeld Steuerungsversuche der Parlamentarier auf informalem Wege auslösen.76 Verfassungsrechtlich ist die Reduktion der Rolle des Parlaments im Rahmen der paktierten Gesetzgebung auf einen ratifikationsähnlichen Status aber im Grundsatz nicht angreifbar, zumal ihm Aufgaben der Staatsleitung im Sinne eines Gouvernement d’assemblée überwiegend nicht zugestanden werden.77 Der Grundsatz des Parlamentsvorbehalts bleibt äußerlich unangetastet, auch wenn die Gefahr besteht, dass das parlamentarische Gesetz infolge der außerparlamentarischen Vorabsprachen zur formalen Hülse verkommt. Denn das Parlament tritt hier nicht mehr als „Entscheidungszentrum“, sondern nur noch als „Notar“ eines Gesetzgebungsprozesses auf, dessen zentrale Entscheidungen außerhalb des Parlaments und seiner Verfahren getroffen werden.78 Die Grenze der Verfassungswidrigkeit ist erst dann überschritten, 74 Vgl. J. Isensee, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 91. 75 Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 22), S. 15 ff.; Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 70), S. 76. 76 St. Baufeld/B. Pasemann, Verfassungsrecht und Gesetzgebung auf Grundlage von Konsensvereinbarungen, ZRP 2002, S. 119 (123); K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL Bd. 40 (1982), S. 7, 33 f.; kritisch zu Recht Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 22), S. 18, der darauf hinweist, dass durch eine Beteiligung des Parlaments an Gesetzgebungspakten die präjudizierende Wirkung außerparlamentarischer Absprachen zu Lasten der Geltungsautorität des Gesetzesbeschlusses verstärkt würde. 77 Vgl. W. Leisner, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 87, der sich vor allem gegen die Ansicht von Herdegen wendet, der von „parlamentarischer Staatsleitung“ spricht.
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wenn ausgehandelte Regelungen verfassungsrechtlich geschützte Interessen Dritter berühren, die vom Verhandlungsprozess vollständig ausgeschlossen werden oder den Schutz von Gemeinschaftsgütern außer Acht lassen. Der Gesetzgebungskontrakt muss daher im Wege einer informellen Abwägung Kompetenzen im föderalen System ebenso berücksichtigen wie Grundrechtsbelange Dritter, aber auch verfassungsrechtsimmanente Gemeinschaftsvorbehalte,79 die der Grundrechtsentfaltung nicht-staatlicher Akteure im Deliberationsprozess Grenzen ziehen können. Zu Recht ist überdies die Frage gestellt worden, durch welchen Mehrwert des informalen Handelns der Verlust jener Funktionen ausgeglichen werden kann, die ein formales Verfahren erfüllt. Als kompensationsbedürftige „Formalia“, die die Entscheidungsfindung steuern, fließen aus dem parlamentarischen Öffentlichkeits- und Verhandlungsgrundsatz (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) namentlich die strukturierte Beteiligung der Opposition, die Einbeziehung der Interessenträger, der Minderheitenschutz und die Chancengleichheit, aber auch die Transparenz- und Rationalitätssteigerung eines parlamentarischen Verfahrens.80 Im Gegensatz zu Government verfügt participatory Governance nicht über allgemein akzeptierte Verfahren der Auswahl der Beteiligten. Governance im engeren Sinne wählt die Beteiligten nach ihrer Betroffenheit aus und tendiert dazu, Gruppen einzubinden, die ohnehin in ihrer Ressourcenausstattung und öffentlichen Wahrnehmbarkeit privilegiert sind. Dies kann zu Einigungen zulasten Dritter führen, die an dem Aushandlungsprozess nicht beteiligt sind.81 Insgesamt fördert die Verlagerung des Diskurses und der Entscheidungsvorbereitung in Foren von Governance ein eher technokratisches Entscheidungsverfahren („technocratic decision-making“).82
78 F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, Tübingen 2005, S. 125. 79 Zum Problemkreis „ungeschriebener“ Grundrechtsbegrenzungen vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, München 1994, § 81 IV. 80 W. Graf Vitzthum sowie J. Wieland, Diskussionsbeiträge zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 88 (89); 93; auch Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 22), S. 10, problematisiert den Kompensationsbedarf. 81 Vgl. v. Blumenthal, Governance – eine kritische Zwischenbilanz (Anm. 7), S. 1164 f. 82 Vgl. Wälti/Kübler/Papadopoulos, How democratic is „Governance“? Lessons from Swiss Drug Policy, in: Governance Bd. 17 (2004), S. 83 (84).
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a) Maßstäbegesetze als Steuerungsinstrumente Mögliche Kompensate für die infolge der „Informalisierung“ staatlichen Handelns eintretenden Defizite werden in Form einer verfassungsrechtlichen Einbindung des Parlaments durch Informations-, Beteiligungs- und Berücksichtigungspflichten der Bundesregierung gesehen, wie sie bereits jetzt das auswärtige Handeln des „kooperativen Staates“ (E.-H. Ritter) namentlich in der Europapolitik (Art. 23, 45 GG) kennzeichnen.83 Auch ein „Maßstäbegesetz“ oder ein schlichter „Maßstäbebeschluss“ werden für die parlamentarische Steuerung im Vorfeld des Gesetzespaktes als geeignetes Instrument bezeichnet, um „Leitlinien für Verhandlungen zwischen Regierung und Interessengruppen festzulegen“.84 Ob die Asymmetrien der Verhandlungspositionen bei gesetzesprägenden Vorabsprachen durch die Festlegung von Rahmenbedingungen im Wege einer parlamentarischen Maßstäberegelung zugunsten eines umfassenden Interessenausgleichs verringert werden können, muss aber schon angesichts der Schwierigkeiten bezweifelt werden, die die Konturierung dieses Instruments im Finanzverfassungsrecht bereitet. Die Konstruktion eines Maßstäbegesetzes, wie es dem deutschen Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum horizontalen Finanzausgleichs auf der Grundlage des Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG aufgetragen wurde,85 ist in ihrer verfassungsdogmatischen Dimension nur schwer greifbar.86 Überträgt man die Konzeption dieser – den Numerus clausus bisheriger Gesetzgebungstypen durchbrechenden – neuartigen Figur auf die gesetzesprägenden Pakte, so fragt sich auch hier, wie sich die Vorrangigkeit des Maßstäbegesetzes gegenüber dem vereinbarten Gesetz im Kollisionsfall verfassungsrechtlich begründen lässt. Denn für das paktierte Gesetz gilt in nicht minderem Maße die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung. Wenn durch die vorherige gesetzliche Festlegung der Maßstäbe die paktierte Gesetzgebung gegen Partikularinteressen, Privilegienschutz und Kompetenzverletzungen abgeschirmt werden soll, zeugt dies von dem Streben nach einem verfassungspolitischen Idealzustand, der sich verfassungsrechtlich kaum verwirklichen lässt. 83
Vgl. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 70), S. 76. Vgl. Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 22), S. 18. 85 BVerfGE 101, 158 ff. 86 Vgl. zur Kritik H. P. Bull/V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen. Die Aufgabe des Gesetzgebers nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2000, S. 305 ff.; P. M. Huber in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl., Baden-Baden 2005, Art. 107 Rn. 41; K. A. Schwarz, Der Finanzausgleich als Ordnungsrahmen effektiver Aufgabenerfüllung, in: H.-J. Blanke/W. Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des Föderalismus in Deutschland und Europa, Tübingen 2004, S. 107 ff. 84
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Wie schon beim finanzverfassungsrechtlichen Maßstäbegesetz stellt sich auch hier die weitere Frage, wie der Maßstabscharakter dieses Grundsatzgesetzes im Verhältnis zu den zeitlich nachfolgenden paktierten „einfachen“ Gesetzen im Lichte der Lex-posterior-Regel gewährleistet werden soll. Als lex superior kann das Maßstäbegesetz schon deshalb nicht qualifiziert werden, weil es nicht am Vorrang der Verfassung partizipiert und die Einführung einer „mittleren Struktur- und Erkenntnisebene“ zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht87 mit dem Erfordernis der Klarheit der Normenhierarchie unvereinbar ist. Ob angesichts dieser verfassungsrechtlichen Ausgangsdaten die Steuerungskraft eines parlamentarischen Maßstäbegesetzes zur Dirigierung der Interessenabwägung gesetzesvorbereitender Absprachen aktiviert werden kann, bleibt ungewiss. Gleichwohl scheint das „Maßstäbegesetz“ als Ertrag richterlicher Rechtsschöpfung zu einem Allheilmittel für die demokratisch-parlamentarische Reorganisation der Arkanbereiche der Exekutive aufzusteigen. b) „Begleitende“ parlamentarische Steuerung Ebenso problematisch ist der Vorschlag, durch die „Institutionalisierung von ‚Begleitstrukturen‘ “ nach dem Modell des Art. 23 und 45 GG den Bedeutungsverlust des förmlichen Gesetzgebungsverfahrens bei politischen Vorabsprachen über den Inhalt gesetzlicher Regulierungen ausgleichen zu können. Die Debatte um die Reform des deutschen Bundesstaates zeigt, dass sich erfolgreiche Verhandlungsstrategien nur schwer von außen steuern lassen. Punktuelle Einflussnahmen beeinträchtigen die Flexibilität der Verhandlungsfähigkeit und untergraben die Einflusschancen der Vertreter der Exekutive in den informellen Verhandlungsnetzen. Erst recht gilt dies für den Versuch der Vorab-Festlegung der Verhandlungsposition durch ein imperatives Mandat, der nur selten zum Erfolg und häufiger dazu führt, dass dann die Vertreter der Exekutive den erforderlichen Manövrierspielraum verlieren.88
87 So die Annahme von J. W. Hidien, Entwurf eines Finanzmaßstäbegesetzes, DStZ 2000, S. 621; dagegen P. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze. Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 11.11.1999, KJ 2000, S. 433 (445); G. Sydow, Mehrstufige Gesetzgebung als Verfassungspostulat? Anmerkungen zum Urteil des BVerfG zum Länderfinanzausgleich, in: Sächs. VBl. 2001, S. 1 (3). 88 Vgl. zu den Bedenken gegenüber der Einflussnahme des Bundesrates nach Art. 23 Abs. 4 bis 6 GG F. W. Scharpf, Stellungnahme zur Anhörung v. 12. Dezember 2003 in der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, http://www.bundesrat.de/cln_051/nn_8362/ DE/foederalismus/bundesstaatskommission/drs/Kom-0007,templateId=raw,property= publicationFile.pdf/Kom-0007.pdf, S. 12.
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3. Gesetzesvertretende Vereinbarungen Die wohl eindeutigste juristische Bewertung von Formen der „Governance“ haben die gesetzesvertretenden Absprachen gefunden. Auch insoweit fehlt es aber an einer stringenten Verknüpfung des politikwissenschaftlichen Konzepts der „Policy-Making without Legislation“ (A. Héritier) mit dem juristisch-normativen Diskurs.89 Während gesetzesvorbereitende Absprachen den Parlamentsvorbehalt „äußerlich“ unangetastet lassen, eliminieren ihn die normersetzenden Absprachen durch die vollständige Ausschaltung jeglicher parlamentarischer Entscheidung. Da sich bei der Behandlung der „Entwicklungstrends moderner Gesetzgebung“ im Schrifttum die Grenzen zwischen normvermeidenden/gesetzesersetzenden Absprachen und Selbstregulierungen der Wirtschaft als fließend erweisen,90 werden unter normvertretenden Absprachen hier solche Vereinbarungen verstanden, die in einem unauflösbaren Zusammenhang mit dem Kernbereich hoheitlicher Aufgabenerfüllung und öffentlich-rechtlicher Schutzpflichten stehen. Dieses Kriterium ist bei den Erklärungen zur Reduzierung der Belastung der Umwelt91 nicht zwingend erfüllt, lag indes dem früheren Recht des verhandelten Netzzugangs nach §§ 6, 6a Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) 1998/2003 zugrunde. Er unterscheidet sich vom regulierten Netzzugang dadurch, dass die Rechtsordnung nicht ex ante, sondern ex post interveniert.92 In Umsetzung zahlreicher Vorgaben der Binnenmarktrichtlinien Elektrizität und Gas ist an seine Stelle im EnWG 2005 ein gesetzlich eingeräumtes Recht auf Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs getreten (§ 20), so dass nunmehr auch hier – wie bereits zuvor bei den Telekommunikationsnetzen – der Grundsatz des regulierten Netzzugangs gilt.93 89
Dies zeigt sich selbst im Werk von Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 512 ff. („Entwicklungstrends moderner Gesetzgebung“), der zwischen normvorbereitender Kooperation, kooperativer Normvermeidung und „Policy-making without Legislation?“ unterscheidet, im Rahmen des letztgenannten Kapitels aber allein die „Normvermeidung“ thematisiert. Dem Problem der demokratischen Legitimation gesetzesvertretender Absprachen wendet er sich erst unter dem Stichwort der „Selbstregulierung“ und des „Gewährleistungsstaates“ zu (S. 529 ff.). Die dahinter stehende These, dass es der Governance-Strategie in erster Linie um „Normvermeidung“, nicht aber um „Vergesellschaftung politischer Entscheidungsprozesse“ (Herdegen) geht, muss bezweifelt werden. 90 Kennzeichnend Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 524, 533, der die Selbstverpflichtungen der Wirtschaft als „Prototyp der normvermeidenden informalen Absprachen“ bezeichnet. 91 Beispiele bei G. Hucklenbruch, Umweltrelevante Selbstverpflichtungen – ein Instrument progressiven Umweltschutzes?, Berlin 2000, S. 31 ff. 92 Befürwortend Chr. Engel, Verhandelter Netzzugang, Preprint aus der MaxPlanck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter, Bonn 2002/4, S. 70.
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Vom Parlamentsvorbehalt grundrechtsrelevanter Regelungen bleibt bei den gesetzesvertretenden Absprachen nichts übrig. Das „Outsourcing“ legislativer Aufgaben wird gleichwohl selbst aus grundrechtlicher Sicht als Gewinn angesehen, da die privaten Verhandlungen beim früheren verhandelten Netzzugang nicht „zu einem bloß subsidiären Mittel der Ausgestaltung des Innenverhältnisses (herabsanken)“. Bei einer korporatistischen Lösung kann der Staat nicht mehr mit der Anwendung des geltenden Rechts, sondern nur noch mit seiner Ausgestaltung drohen.94 Damit geht aber auch die Maßstäblichkeit der „Wesentlichkeit“ der zu treffenden Entscheidung verloren.95 Die – offenbar aus der Wertordnung des Grundgesetzes – an die Selbstregulierung herangetragene Forderung, dass sich die zum Erlass von Gesetzen im materiellen Sinne berechtigten Organe der privatrechtlichen Organisationen an die Grundsätze des Rechtsstaates, namentlich an das Gleichbehandlungsgebot und an das Willkürgebot, zu halten haben,96 vermag das auf Öffentlichkeit, Minderheitenschutz und Chancengleichheit gerichtete parlamentarische Gesetzgebungsverfahren jedoch nicht zu substituieren. Richtet man den Blick auf die Exekutive, so macht eine Analyse des Nutzens der Governance-Perspektive für die Rechtswissenschaft anhand von Beispielen wie der in den Jahren 2003/04 ausgetragene Streit zwischen der Bundesregierung und dem Firmenkonsortium Toll Collect beim Aufbau eines elektronisch geführten Systems zur Erhebung der Autobahn-Maut oder das Ringen der Bundesregierung mit der pharmazeutischen Industrie, der Ärzte- und Apothekerschaft anlässlich der Gesundheitsreform deutlich, dass das Sicheinlassen des Staates auf Verhandlungslösungen ebenso „voraussetzungsvoll“ wie „misserfolgsgeeignet“ ist. Die Macht der mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Verhandlungspartner reicht häufig eben nicht aus, um die politisch gesetzten Gemeinwohlziele erfolgreich umzusetzen.97
93 Vgl. Zweites Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts v. 7. Juli 2005, BGBl. I, S. 1970; hierzu P. Salje, Energiewirtschaftsgesetz, Kommentar, Köln 2006, § 20 Rn. 3, 26 ff. 94 So Engel, Verhandelter Netzzugang (Anm. 92), S. 71, 75 f. 95 Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 554, behandelt den Parlamentsvorbehalt und die Wesentlichkeitstheorie allein im Zusammenhang mit dem „Steuerungsanspruch des (klassischen) Gesetzes“. 96 A. Langhart, Rahmengesetz und Selbstregulierung. Kritische Betrachtungen zur vorgeschlagenen Struktur eines Bundesgesetzes über die Börsen und den Effektenhandel unter Berücksichtigung des amerikanischen und englischen Börsenrechts, Zürich 1993, S. 142 f. 97 So das ernüchternde Ergebnis von W. Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Anm. 2), S. 195 (214 f.).
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a) Bestimmung der „politischen Wesentlichkeit“ Freilich bereitet die Bestimmung der „politischen Wesentlichkeit“ Schwierigkeiten. In Anlehnung an die sog. „Wesentlichkeits-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts98 dürften in allen grundlegenden normativen Bereichen, namentlich bei Regelungen im Bereich konkurrierender grundrechtlicher Freiheitsrechte oder mit erheblichen Auswirkungen auf die Organisation des Gemeinwesens, Parlamentsentscheidungen gefordert sein, ohne dass das Vorliegen dieses Vorbehalts erst im parlamentarischen Verfahren festgestellt werden muss.99 Vor diesem Hintergrund wird das Kodifikationsverfahren im Technik- und Umweltrecht als „antidemokratisch“ qualifiziert, weil hier „im Gesetz [. . .] nur das Unwesentliche [stehe], alles Wesentliche [. . .] [hingegen] bestenfalls in Rechtsverordnungen oder allgemeinen Verwaltungsvorschriften, sehr häufig aber in Regelwerken, die von nichtstaatlichen [internationalen] Rechtssetzungsorganisationen geschaffen worden sind und denen jede demokratische Legitimität fehlt“.100 Die Diskussion der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung im Jahre 2002 hat demgegenüber aber deutlich gemacht, dass auch normersetzenden Absprachen als Ausschnitt aus dem informalen Handeln die Sachgerechtigkeit des „law in action“101 sowie „sachliche Richtigkeit“ aufgrund der „Sachkunde“ der Entscheidungsträger102 attestiert wird. Ihre Legitimation müssen sie nach dieser Auffassung nicht zwingend aus der Idee der Volkssouveränität beziehen; vielmehr können sie diese unter den Zwängen hochkomplexer, technisch-naturwissenschaftlich geprägter Sachverhalte auch aus der Rationalitätsgewähr der „Expertokratie“ herleiten. b) Gesetzesvorbehalt Vom Impetus einer partizipativen Demokratie, wie sie den eher auf Gesetzesüberwindung denn auf Normvermeidung angelegten Ansatz der Governance-Strategie103 kennzeichnet, ist diese Argumentation indes weit 98
BVerfGE 49, 89 (126) – st. Rspr. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 70), S. 78, erwägt, die Frage der „politischen Wesentlichkeit“ einer Entscheidung „prozedural zu operationalisieren“. 100 Vgl. D. Murswiek, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 97 f. 101 Vgl. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 70), S. 49. 102 Vgl. Chr. Engel, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 88. 99
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entfernt. Daher versucht sie, die wachsende Zunahme normersetzender Absprachen unter dem demokratischen Aspekt des Gesetzvorbehalts verfassungsrechtlich zu umhegen.104 Aus diesem Grund ist eine staatliche Steuerung geboten, die sicherstellt, dass die wichtigen Regelungen im Gesetzgebungsverfahren erlassen werden (bspw. §§ 20 ff. EnWG 2005). Nur in diesem Rahmen dürfen die gesellschaftlichen Organisationen die sekundären – konkretisierenden – Normen erlassen. Zugleich wird damit dem Anspruch nach Publizität der grundlegenden Regelungen und der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entsprochen.105 Noch weiter gehend ist unter dem Aspekt des effektiven Rechtsschutzes gefordert worden, dass die gesetzesvertretenden Absprachen hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle wie Gesetze behandelt werden sollen.106 Ein zweistufiges Verfahren, das den Erlass der „Rahmen-“Regelungen dem parlamentarischen Gesetzgeber überantwortet und allein dessen Ausfüllung den Verhandlungen der Expertengremien aus dem gesellschaftlichen Bereich überlässt, würde den verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz jedoch auf die primären Rahmen-Normen begrenzen, während die Selbstregulierungen als sekundäre Regelungen angesichts der an einer solchen Vereinbarung beteiligten Parteien (private Organisationen, Verbände) nur auf dem Zivilrechtsweg überprüfbar wären. Eine auf Ausfüllung hin angelegte Gesetzgebung, die auf der rechtlichen Verantwortungsteilung für den Normerlass zwischen den staatlichen Parlamenten und den Experten privater Organisation beruht, überführt mithin die normersetzenden Absprachen in die Formen kooperativer Rechtserzeugung. Verantwortungsanteile sollen damit zugleich identifizierbar und zurechenbar gemacht werden.107 Um für die Regelung der gemeinwohlrelevanten Belange die Prärogative des Parlaments dauerhaft sichern zu können, ist die Kodifizierung eines Instruments vorgeschlagen worden, das als funktionales Äquivalent der parlamentarischen Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 GG) dienen soll. Auf der Grundlage eines solchen verfassungsrechtlichen Rechtssatzes wäre das Parlament insoweit zur Rechtssetzung verpflichtet, als ein Steuerungsanspruch des Gesetzes im Zeichen der „Wesentlichkeit“ besteht. Der Parlamentsvorbehalt impliziert in Parallele zu Art. 80 103 Héritier, New Modes of Governance in Europe (Anm. 6) spricht von „non binding targets and the use of soft law“! 104 Vgl. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung (Anm. 70), S. 77; G. F. Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG, Sonderheft 2003, S. 89 f. 105 Müller, Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat (Anm. 59), S. 235 f. 106 Vgl. Grimm, Diskussionsbeitrag (Anm. 53), 86. 107 Vgl. Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 332, der sich damit gegen die Kritik von U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen 2001, wendet. Di Fabio befürchtet eine Verwischung der Zurechenbarkeit.
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Abs. 1 GG einen „zum Delegationsverbot verdichteten Rechtssatzvorbehalt“.108 Anders als Art. 80 Abs. 1 GG regelt er die Kompetenz zur Rechtserzeugung indes nicht im Verhältnis von Legislative und Exekutive, sondern im arbeitsteiligen Prozess der Rechtskonkretisierung zwischen Staat und Gesellschaft, also zwischen Legislative und Exekutive einerseits und den mit Fachwissen und Erfahrung ausgestatteten Akteuren privatrechtlicher Organisationen andererseits. Anders als im Rahmen normvorbereitender Kooperation und paktierter Gesetzgebung dient das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren hier nicht der nachträglichen Kontrolle der Ergebnisse pluralistischer Verhandlungsprozesse, die zuvor zwischen der staatlichen Exekutive und nicht-staatlichen Organisationen stattgefunden haben.109 Seine Funktion besteht vielmehr in der vorherigen Festlegung der gesetzlichen Direktiven, die das öffentliche Interesse gegenüber möglichen partikularen Interessen der Fachverbände im späteren Konkretisierungsprozess schützen. Auch der Vorschlag, einen modifizierten Gesetzestypus der „Rahmengesetzgebung“ in die Verfassung einzuführen, verfolgt das Ziel, „die Gemeinwohlverträglichkeit nicht-staatlicher Rechtssetzung“ sicherzustellen. Dabei soll das Konzept der Rahmengesetzgebung aus seiner allein bundesstaatlichen Verankerung befreit werden, um es auf diese Weise für das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstregulierung fruchtbar zu machen.110 Auch wenn G. F. Schuppert durch diese Form der Rahmengesetzgebung die Selbstregulierungspotentiale mit dem Erfordernis der Wahrung demokratischer Legitimation versöhnen will,111 so ist doch nicht zu übersehen, dass das primäre Anliegen dieses vorgeschlagenen Instituts die Substitution der staatlichen Rechtssetzung durch Selbstregulierung ist.112 Als Vehikel des Aufgabenwandels dient die Ersetzung der unmittelbaren staatlichen Aufgabenerfüllung durch eine rahmenartige Aufgabenregulierung.113
108 Vgl. J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis. Zur „Wesentlichkeitstheorie“ und zur Reichweite legislativer Regelungskompetenz, insbesondere im Schulrecht, Berlin 1986, S. 128. 109 Vgl. hierzu H. Schulze-Fielitz, Das Parlament als Organ der Kontrolle im Gesetzgebungsprozeß, in: H. Dreier/J. Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, Berlin 1986, S. 71 (76). 110 Vgl. Langhart, Rahmengesetz und Selbstregulierung (Anm. 96), S. 135 f. 111 Vgl. Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 587 ff. 112 Vgl. Langhart, Rahmengesetz (Anm. 110). 113 Kämmerer, Privatisierung (Anm. 57), S. 623 – ohne Berücksichtigung des Konzepts der Rahmengesetzgebung.
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V. Diskrepanz zwischen Normativität und (rechts)politischem Diskurs Die Governance-Forschung stellt die jüngste und bisher letzte Variation der Regierungslehre dar. Zunehmend rückt dieser Topos an die Stelle der älteren Begriffe von „Government“ und „Steuerung“. Dies offenbart einen Wandel im Verständnis von Regierung und Verwaltung, der auf Formen der Interaktion und Koordinierung des politischen Handelns zwischen Staat und Gesellschaft aufbaut und so zu einer Enthierarchisierung des Verhältnisses zwischen beiden Ordnungen führen soll.114 In einem übergreifenden Konzept neuer Arbeits-, Funktionen- und Verantwortungsteilung zwischen Markt, Staat und dem Dritten Sektor bei gleichzeitiger Involvierung von hochorganisierten kollektiven und korporativen Akteuren der Gesellschaft in den Entscheidungsprozess soll das „Regieren jenseits von Staatlichkeit“115 ermöglicht werden. Damit ersetzt die Governance-Forschung die staatszentrierte Sichtweise durch eine „akteurszentrierte Perspektive“ und will die starre Dichtomie von öffentlichem und privatem Sektor auflösen.116 Die Diskrepanz zwischen den Grundsätzen der staatlichen Rechtsordnung und dem von supranationalen sowie internationalen Organisationen entworfenen Modell der „Governance“ ist offenkundig. Solange sich die staatliche Steuerung in maßgeblicher Weise durch Gesetz, Rechtsverordnung, Verwaltungsakt und Planfeststellungsbeschluss vollzieht, verharren die neuartigen, auf Konsens und Koordination angelegten Instrumente der Governance scheinbar im Marginalen. Bestätigt wird dieser Befund durch die ungebrochene Bedeutung grund- und menschenrechtlicher Kodifikationen wie jüngst der Europäischen Grundrechtecharta. Auch im 21. Jahrhundert zentrieren sie in der Schutzbedürftigkeit des Individuums gegenüber hoheitlicher Gewalt. Dies weist zumindest im Grundsatz auf einen fortbestehenden Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft hin. In diesen Zusammenhang fügt sich auch der Umstand ein, dass das dem Umweltrecht entnommene Kooperationsprinzip (Umweltpflege als eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Bürgern) bisher keinen Eingang in das deutsche Verwaltungsverfahrensgesetz gefunden hat.117 Indes ist nicht zu verkennen, dass die staat114
Vgl. J. Kooiman, Governance and Governability (Anm. 18), S. 35 ff.; R. Mayntz, New Challenges to Governance Theory, Jean Monnet Chair Papers 50, Robert Schuman Center at the European University Institute, Badia Fiesolana 1998, S. 1. 115 Begriffsprägend J. N. Rosenau/E.-O. Czempiel, Governance without Government (Anm. 24). 116 Vgl. zustimmend Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 395 ff. (403, 410). 117 Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 477 ff., unterbreitet und erläutert einen Vorschlag für ein Verwaltungskooperationsrecht.
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lichen Handlungsträger in zunehmendem Maße auf die Bereitstellung von Wissen und Erfahrungen aus der Sphäre der Gesellschaft angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund bleibt es eine Aufgabe der Verfassungsdogmatik, über die notwendige Anpassung des Instrumentariums demokratischer Entscheidungsfindung und rechtsstaatlicher Schutzgewährleistungen nachzudenken. Da das System verhandelter sowie „privatisierter“ Gesetzgebung strukturelle Ursachen hat, ist es erforderlich, den Verfassungsstaat auf die neue Lage einzustellen.118 Doch gibt es bereits im bestehenden Government-System eine bemerkenswerte „kontraktuelle Substanz“ der oft nur vordergründig „einseitigen“ Regelungen. So wird die Verabschiedung oder Verhinderung von Gesetzen nicht selten „zum Werkzeug parteienstaatlichen Wettbewerbs um die Erhaltung oder den Gewinn von Regierungsmacht“.119 Die Einflussnahme organisierter gesellschaftlicher Interessengruppen auf dieses Verfahren führt zu einer informalen Verschränkung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren unter den Vorzeichen des Parteienstaates.120 Die diametrale Gegenüberstellung von Governance und Government entspricht daher nicht der Verfassungswirklichkeit. Allerdings sind in der parteienstaatlich überformten Demokratie in erster Linie die Abgeordneten die Gesprächspartner der gesellschaftlichen Gruppen, während im Governance-System die Exekutive durch die Einberufung von beratenden Kommissionen die Diskurshoheit zu Lasten des Parlaments übernimmt. Eine legitimatorische Schlüsselfrage bei der Bewertung dieses Regimes stellt sich deshalb mit Blick auf die Art der Akteure, die den Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation repräsentieren. Dabei zeigt sich, dass, angefangen von den ehrenamtlichen Engagements (Bürgerinitiativen) über die Netzwerke (Vereinswesen) bis hin zu den korporatistisch organisierten Fachverbänden,121 es sich um ein System zunehmend ausdifferenzierter wirtschaftlicher und sozialer Interessenaggregierung handelt. Angesichts der Komplexität und Spezialität der zu verhandelnden Themen der Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozial-, Verkehrs- und Energiepolitik ist dies anders auch kaum vorstellbar. Die Annahme, dass selbst die Vertretung organisierter Interessen 118
Vgl. D. Grimm, Bedingungen demokratischer Gesetzgebung, in: L. Wingert/K. Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Fs. J. Habermas, Frankfurt a. M. 2001, 489 (505 f.). 119 Vgl. P. Badura, Parlamentarische Gesetzgebung und gesellschaftliche Autonomie, in: P. Badura/J. H. Kaiser (Hrsg.), Parlamentarische Gesetzgebung und Geltungsanspruch des Rechts, Köln 1987, S. 9 (16). 120 Vgl. St. Mangiameli, La forma di governo parlamentare. L’evoluzione nelle esperienze di Regno Unito, Germania ed Italia, Turin 1998, S. 156 ff. 121 Vgl. die „differenzierende Zuordnung von Bürgertypen und Interaktionsstrategien“ bei Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 412, der zwischen Selbstorganisation, Assoziationswesen und organisierten Interessen unterschiedet.
Government und Governance im 21. Jahrhundert
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an einem „gruppennützigen Gemeinwohlverständnis“ orientiert ist,122 entspringt dann aber letztlich einem idyllischen und philanthropischen Weltbild.123 Es ist wohl gerade der Interessenegoismus der in den Verhandlungsprozess der Exekutive einbezogenen Organisationen, der dazu zwingt, durch die parlamentarische Befassung sowohl der Opposition als auch den weniger mächtigen gesellschaftlichen Gruppen Interventionsmöglichkeiten zu eröffnen, ohne dabei die Vorteile der gewonnenen Expertise zu verspielen. Wegen der starken Spezialisierung der Abgeordneten ist es jedoch ebenso wichtig, dass sich im Regelfall einer Gesetzesinitiative seitens der Regierung der Pluralismus im parlamentarischen Beratungsverfahren mit der fachlichen Brillanz der Ministerialbürokratie als Urheber eines Gesetzesentwurfs verbindet. Zusammen vermitteln diese Faktoren dem Bürger das Vertrauen in das Ergebnis eines regelhaften Gesetzgebungsverfahrens, das immer auch den relativen Wert des Formalen und Berechenbaren widerspiegelt.124
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So ausdrücklich Schuppert, Staatswissenschaft (Anm. 56), S. 412. So auch im Ergebnis Pierre/Peters, Governance, Politics and the State (Anm. 34), S. 21. 124 Vgl. P. Häberle, Diskussionsbeitrag zu: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 110 (111); vgl. zur Exekutive auch E. Suleiman, Dismantling Democratic States, Princeton 2005, S. 17, 212, der auf die Risiken der neuen kooperativen Formen der Verwaltung, namentlich die Entprofessionalisierung und zunehmende Politisierung, hinweist. 123
Verwaltungswissenschaft mit praktischer Absicht: Friedrich List Carl Böhret „Wer sich jedoch einzig auf Jurisprudenz beschränkt, hat keinen Begriff vom Staate und [. . .] benimmt sich ungeschickt in allem, was die Administration betrifft [. . .]. Nichts ist so vonnöten, als dass jeder Staatsdiener die Theorie der Rechtswissenschaft mit der Theorie der Staatswissenschaft und insbesondere der Staatswirtschaft und der Kameralwissenschaften in sich vereinige; und seine Brauchbarkeit ist erst dann vollkommen, wenn er neben der Theorie dieser Wissenschaften (auch) mit der Staatspraxis vertraut ist.“
I. Einstiege Als er jene Sätze verkündete, war er gerade auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Staatsverwaltungspraxis der Universität Tübingen berufen worden, dessen Notwendigkeit er vorher in einem Exposé an König Wilhelm von Württemberg eindrücklich begründet hatte. Für Grundrechte der Bürger, Selbstverwaltung der Gemeinden, durchsichtige Gerichtsverfahren, einfachere, aber effizientere Verwaltung setzte er sich ein – zeitlebens. Und damit schuf er sich selbst einige Probleme, bis hin zur Festungshaft. Die Rede ist von Friedrich List (Reutlingen 1789–1846 Kufstein), der im öffentlichen Bewusstsein allerdings weniger mit seinen staats- und verwaltungswissenschaftlichen Arbeiten, als vielmehr mit Vorschlägen zu einer differenzierten Zollpolitik, mit Infrastrukturförderung, mit dem Ausbau des Verkehrswesens (Eisenbahnen) in Erinnerung blieb. In seinem gegen „die Schule“ des Adam Smith gerichteten „nationalen System der politischen Ökonomie“ (1841) beschäftigte sich List mit den Antriebskräften der wirtschaftlichen Entwicklung, zu denen vor allem das geistige Kapital der lebenden Menschheit als der eigentlichen Produktivkraft gehört. Dieses „Humankapital“ bedeutet: Bildung, technisches Wissen, Rechtssicherheit und effiziente Verwaltung. „Die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist . . . unendlich wichtiger als der Reichtum selbst . . ., wobei ein Gleichgewicht der produktiven Kräfte herzustellen sei. Der Staat ist Hauptproduktivkraft, er
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muss zugleich ordnen und fördern, also „ermöglichen“ (wie heute gesagt wird). „Der größte Teil der Konsumption einer Nation geht auf die Erziehung der künftigen Generation, auf die Pflege der künftigen Nationalproduktivität.“1 Friedrich List gelangte über eine der ersten wirtschaftshistorischen Stufenlehren (vom wilden Zustand bis zum Manufaktur-Handelsstaat) und durch seine Humankapitallehre zu einer neuen Einschätzung der gesellschaftlichen Akkumulation. Er zeigt, in historisch-analytischer Betrachtungsweise, wie sich jeweils neue Gesellschaftsformationen („Aufstiege“) herausbilden. Und er erklärt die Veränderung hauptsächlich aus der mehr oder weniger vorhandenen bzw. erzeugbaren Entwicklungskraft – eben dem „geistigen Kapital.“ Von da aus gelangt List (ohne diese Begriffe schon zu kennen) zu einer frühen Vorstellung von dem zweiten Vererbungsvorgang, der exogenetischen Vererbung, also der Weitergabe von Sprache, Wissen, Fertigkeiten, Regeln und Ethik. Es handelt sich um eine soziokulturelle Übertragung relevanter Informationen, mit denen Nachkommen über das vorher gesammelte Mehr an Erfahrungen und Vorteilen „unterwiesen“ werden. Die Erfahrungen einer menschlichen Zeitgenossenschaft werden konzentriert an die Folgegeneration weitergegeben, von vornherein okkupiert und („technisch“) beschleunigt erlernt. Intention der exogenetischen Evolution ist es, dass sowohl technische Verfeinerungen und Anpassungsfähigkeiten, als auch Organisationsund Verfahrenskapazitäten weitergegeben werden.2 1 Friedrich List, Werke VI, S. 167; Startzitat: Werke I, 1, S. 9. Die hier gewählte thematische Konzentration auf die Staats- und Verwaltungslehre erfordert die Rückkehr zu den Quellen, so zur 10-bändigen Gesamtausgabe der List’schen Werke, hier insbes. zu den Bänden I (Teile 1 u. 2), VIII und IX. Vgl. Friedrich List, Schriften, Reden, Briefe, hrsg. im Auftrag der F. List-Gesellschaft von E. v. Beckerath u. a., Berlin 1927–1935. Wenn nicht gesondert vermerkt, werden im Folgenden diese Quellen benutzt. Zitiert als Werke, Band, S. Für den hier hauptsächlich betrachteten Wirkungskreis Lists (als Staatswissenschaftler und Verwaltungspraktiker) ist die fundierte Arbeit von Gehring heranzuziehen; Paul Gehring, Friedrich List, Jugend- und Reifejahre 1789–1825, Tübingen 1964. Beachtenswert auch Hans Ritschl, Friedrich Lists Leben und Lehre, Tübingen u. Stuttgart 1947 sowie Hans Besters (Hrsg.), Die Bedeutung Friedrich Lists in Vergangenheit und Gegenwart (= Gespräche der ListGesellschaft, Bd. 12), Baden-Baden 1990 sowie Eugen Wendler, Friedrich List. Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers der europäischen Integration, München 1989 und ders., Durch Wohlstand zur Freiheit, Baden-Baden 2004 mit neuen Einsichten, Dokumenten und Bildern. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte Eugen Wendler (Hrsg.), Friedrich List – Das nationale System der politischen Ökonomie, Baden-Baden (erscheint 2008). Ansonsten wird auf die jeweils zitierte Literatur im Text verwiesen. 2 Vgl. auch Carl Böhret, Folgen, Opladen 1990, S. 132 ff.
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Bei Friedrich List lesen wir hierzu: „Der jetzige Zustand der Nationen ist eine Folge der Anhäufung aller Entdeckungen, Verbesserungen, Vervollkommnungen und Anstrengungen aller Generationen, die vor uns gelebt haben; sie bilden das geistige Kapital der lebenden Menschheit, und jede einzelne Nation ist nur produktiv in dem Verhältnis, in welchem sie diese Errungenschaft früherer Generationen in sich aufzunehmen und sie durch eigene Erwerbungen zu vermehren gewusst hat.“3
Bei solchen Analysen sind wir nun auch heute wieder angelangt. Friedrich List kann für morgen Denkanstöße geben. So wichtig und wegweisend die politikökonomischen Aspekte der List’schen Überlegungen auch sind – hier soll einmal auf seine weniger bekannten staatswissenschaftlichen und verwaltungspolitischen Vermächtnisse hingewiesen werden. Im Übrigen ist die „geistige Verwandtschaft“ mit dem Speyerer Merkantilisten und Polyhistor Johann Joachim Becher (1635–1682) auffällig und nachweisbar.4 II. Grundlagen: Verfassung, Staat, Verwaltung Frei geborene Menschen bilden den Staat, er wird existent und wirksam aus der „Gesamtkraft aller einzelnen“, d.h. aus der gesetzmäßigen Verbindung der Individuen. Staatszweck ist die „Wohlfahrt“. Gesetze und öffentliche Institutionen als Instrumente zur Herstellung der Gesamtkraft wirken als produktive Kräfte, man braucht beide, um Reichtümer (bei List i. S. von Produktivkraft) und Wohlfahrt schaffen zu können. Bei Friedrich List kommt nun aber explizit und abgeleitet die (Staats-)Verwaltung dazu, der er eine herausragende Rolle und Funktion zumisst. In der folgenden Abbildung wird das List’sche System skizziert: Ebene Konstitution
Regierung
Verwaltung 3
Funktion/Aufgabe
Œ Œ Œ Œ Œ Œ Œ Œ q
(Grund) Prinzip
Entwicklung/Konkretisierung des „Prinzips“ (mit Verantwortlichkeit des Staatsministeriums) = Anwendung auf das Leben – Urkraft (Vorgaben, pol. Zielsetzungen) – „Maschine“ (oder Staatsdienst = Personal + Mittel)
Werke VI, S. 179. Vgl. auch K. Lamprecht, Deutsche Geschichte, VI, Berlin 1910, S. 442: „J. J. Becher ist der Friedrich List seines Jahrhunderts.“ Das gilt auch umgekehrt! Vgl. zu J. J. Becher mehrere Beiträge in der Schriftenreihe der J. J. Becher-Gesellschaft (Bde 1–24), Speyer 1991 ff., neuerdings auch: www.jjbg.de. 4
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List beschreibt es so: „Die Konstitution ist das Prinzip; die Staatsregierung enthält die Entwicklung des Prinzips; die Anwendung aufs Leben geschieht durch die Staatsverwaltung. Das Prinzip ohne Entwicklung, wodurch seine Anwendung möglich wird, ist ein toter Buchstabe; die Entwicklung einer Lehre ohne wirkliche Anwendung ist Wortkram. – Also beruht am Ende doch alles auf der Staatsverwaltung.“5
Und dann: „In der Staatsverwaltung bemerken wir zwei Hauptbestandteile: – die Urkraft, welche stets von dem Regenten (so viel wie den Zielsetzungen der Regierung) unmittelbar ausgeht, – und die Maschine, vermittels welcher das Produkt im Einzelnen bewirkt wird – den Staatsdienst. Urkraft und Maschine sind gleich wichtige Bedingungen der Wirksamkeit der Staatsverwaltung.“ 1. Planung und Regelung Damit die Sache funktioniert, muss die „Maschine“ in ihren Teilen zweckgemäß angelegt sein und diese wie ein Räderwerk ineinander greifen. Deshalb benötigt man einen Staatsverwaltungsplan, der die Verrichtungen der Maschine „regelt“. Die Verrichtungen wiederum geschehen durch die Staatsämter/Behörden, gemäß den Vorschriften des Verwaltungsplans, konkretisiert in Anweisungen (Amtsinstruktionen). Und ganz modern in „Geschäftsprozessen“: „Die wirkliche Verrichtung der einzelnen Ämter (Behörden) und das wirkliche Zusammengreifen derselben zur Bewirkung des Produkts heißt der Geschäftsgang.“ Damit das funktioniert, muss es im Staat diverse Untergliederungen (Ebenen) geben: Distrikts-, Provinzial- und Zentralregierungsstellen (Verwaltungsaufbau). 2. Organisation List diskutiert sodann, wie viele Untergliederungen zweckmäßigerweise von einer übergeordneten Verwaltungseinheit dirigiert werden könnten. Er kommt zu dem Schluss, dass Mittelbehörden (z. B. Landvogteien; so viel wie Regierungspräsidien) durchaus angemessen sein könnten. Eine Versäulung von Fachbehörden (z. B. in der Forstverwaltung) findet er hingegen weniger nützlich. 5
Werke I, 1, S. 87; zu den folgenden Abschnitten Werke I, 1, S. 95, 100, 145.
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Es scheint List in jedem Fall prüfenswert, ob eine neue Institution (oder auch eine Verwaltungsebene) zweckmäßig ist. Er fordert (mit anderen Worten) eine Kosten-Nutzen-Analyse: „Wenn von einer neuen Institution der Staatsverwaltung die Rede ist, so sind beinahe immer zwei Dinge entgegen: der Kostenpunkt und der Zweifel an der Ausführbarkeit oder Nützlichkeit des neuen Instituts.“ Aufwand für eine Institution und Schaden durch mangelhafte Organisation müssen abgeglichen werden. Daraus gelangt er zu einem wichtigen verwaltungspolitischen Theorem: „Der Staat darf nie an denjenigen Institutionen kargen, ohne welche der Staatszweck nicht erreicht werden kann.“6
3. Personal Aber diese Institutionen (hier die Verwaltungen) müssen betrieben werden von fähigen Staatsdienern, die eine hinreichende „persönliche Qualität“ besitzen oder erworben haben – in der Verwaltungspraxis und in den Staatsund Verwaltungswissenschaften, denn „die erste und höchste Bedingung bei den Staatsdienern ist intellektuelle Fähigkeit“. Diese gilt es zu erhalten und auszubauen, weshalb das Bereisen „aufgeklärter Länder“ zur vielseitigen Bildung der Staatsbeamten ebenso beiträgt wie breit angelegte, fachübergreifende Kenntnisse, die durch entsprechenden Unterricht (der „Seele der Kultur“) zu vermitteln und zu überprüfen sind. Nicht nur Jurisprudenz, auch Staatswissenschaft und Staatswirtschaft müssen studiert oder in (Fort-)Bildung erworben werden. Außerdem gilt, dass bloße Theorie ohne Staatspraxis und Staatspraxis ohne Theorie gleichermaßen unzulänglich sind. Allerdings ist es zweckmäßig, mit der Theorie zu beginnen. Das sind schon beachtliche Anforderungen an die Staatsdiener! Dafür dürfen diese aber auch mit einer angemessenen Besoldung rechnen, die sich ergibt aus den eingebrachten und weiterentwickelten (Amts-) Kenntnissen sowie einer Abgeltung für standesgemäßen Aufwand. Das Gehalt solle „reichlich“ sein, damit sich der Beamte ohne Nebentätigkeit mit voller Kraft und motiviert dem Amt widmen könne und unbestechlich bleibe, denn „Bestechlichkeit ist die notwendige Folge zu geringer Besoldungen, und nichts ist schädlicher im Staate, als wenn Bestechlichkeit der Staatsdiener stattfindet.“7 List kritisiert auch das „Schreiberei-Unwesen“ als dem Prototyp einer bürokratisierten Verwaltung, in der bloße Formen (Aktenführung etc.) gepflegt würden, während es doch darum ginge, Zwecke schnell und vollkommen zu erreichen. 6 7
Werke I, 1, S. 146. Werke I, 1, S. 96 ff.
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4. Von den Korporationen Kritisch beurteilte Friedrich List die – zu seiner Zeit auch in Württemberg noch vorherrschende – zentralistische (Staats-)Verwaltung. Im Streit um die württembergische Verfassung (1816 ff.) und in einer ausführlichen Darstellung entwickelt er ein System der Gemeindeverwaltung und Gemeindewirtschaft. List plädiert für eine Stärkung der Gemeinden und Städte, die als Korporationen im modernen Staat – und mit Selbstverwaltungsrechten versehen – eine konstitutive Rolle spielen sollten. „Der Mensch lebt zuerst in der Familie, dann in der Gemeinde, dann im Distrikt, dann in der Provinz und endlich im Staate.“ Die Korporationen seien älter als der Staat, die Verbindung zu gemeinschaftlichen Zwecken ließ zuerst die Gemeinden entstehen. Das „Hochzonen“ ermöglichte die Förderung der Individualwohlfahrt und die regelmäßige Verwaltung (des Staates). Der Staat ist die „höchste gesellschaftliche Verbindung mehrerer untergeordneter Korporationen . . .“ Er darf den Gemeinden im Interesse des allgemeinen Staatswohls hilfsweise Pflichten auferlegen, soweit durch die Verwaltung der Gemeinde der Zweck besser erreicht wird als durch die zentrale Aufgabenwahrnehmung. „Der Staat ist nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, durch Oberaufsicht über die Gemeinden dieselben auf den allgemeinen Staatszweck hinzuleiten.“ Ansonsten gilt „Selbstverwaltung“.8 Es folgen dann organisatorische und funktionale, aber auch personalpolitische Vorschläge, gipfelnd in der „Skizze einer verbesserten Gemeinde- und Oberamtsverwaltung“ und schließlich – ausführlich – das „System der Gemeindewirtschaft“. III. Von der Gesetzgebung „Die Gesetzgebung wird unmittelbar von den Regenten, vermittels des Senats oder einer Gesetzgebungskommission, ausgeübt – und zwar in einer eingeschränkten Monarchie unter Beistimmung der Repräsentanten des Volkes. Die Bestimmungen hierüber enthält die Staatskonstitution.“ (F. List, Werke I, S. 89).
Die Gesetzgebung ist ein zentrales Prinzip der Konstitution, und sie muss deshalb auch systematisch, anpassungsfähig und vorausschauend sein: „So wenig die Kultur stille steht, so wenig darf auch die Gesetzgebung stille stehen, [auch bezüglich der] Veränderungen in dem politischen Zustande des Staates [nicht].“ 8
Werke, I, 1, S. 103 ff.
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Man darf eben nicht bloß für den Augenblick und Einzelnes regeln wollen; vielmehr müssen gleichzeitig auch die größeren Anforderungen beachtet werden – aber, bitte! – immer auch system- und zukunftsbezogen, also folgenanalytisch, wie wir heute fordern.9 Die Verwaltung sollte dem Gesetzgeber die benötigten Informationen und gutachterlichen Stellungnahmen über das Regelungsfeld liefern; sie habe darauf hinzuweisen, – ob ein geltendes Gesetz noch passgerecht ist (heute: Bewährungsprüfung, Evaluierung; retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung), – ob und wie eine (neue) Regelung erforderlich erscheint (heute: Notwendigkeitsprüfung, ggf. Novellierung, prospektive Gesetzesfolgenabschätzung). F. List beklagt sodann den verbreiteten Widerwillen gegen Neuerungen (oft in einer Allianz von Regierenden und „Gelehrten“!). Eine allgemeine Gesetzes- (und Gesetzgebungs-)Reform scheint dagegen kaum durchsetzbar; obwohl dringend erforderlich. Denn die Regelungsfülle (nach Breite und Tiefe) bestehe vor allem in den seit dem 16. Jahrhundert aufgehäuften Rechts-Fragmenten. Es werden Normen mitgeschleppt, die gesellschaftlich längst überholt und sachlich unnötig geworden seien. „Für unsere Zeit passt durchaus nichts mehr und ein großer Teil dieses Gesetzbuches (hier: Württembergische Landesordnung 1563/67) ist lächerlich geworden.“10 Beispiele dafür: Festlegung, wie viele Falten ein Bauernmädchen am Rocke zu tragen berechtigt ist, oder die Vorschrift über den Transport von Fastnachtsküchlein. Man denkt, die Regelungswelt habe sich nicht sehr verändert: ein Teil unserer heutigen Argumente für die (simple) Rechtsvereinfachung stützt sich auf ähnliche Beispiele. Friedrich List skizziert dann sein System der Gesetzgebung. Es ist formal und materiell abzuleiten aus den Grundprinzipien der Verfassung, soll den soziokulturellen Fortschritt (auch prospektiv) berücksichtigen, und dann – unter Beachtung der Anforderungen und Bedürfnisse des Alltags – systematisch und legistisch korrekt in Vorschriften zur Erfüllung des Staatszwecks umgesetzt werden. Kein Flickwerk darf es mehr sein und die langfristigen Folgen („ein dauerhaftes Werk“) sind zu bedenken. Eine Art Gesetzgebungskommission soll dabei grundsätzlich Unterstützung und Vorarbeit liefern. Eingebunden in die „Staatsregierungsverfas9
Vgl. dazu auch Carl Böhret, Möglichkeiten und Grenzen der Folgenabschätzung als Instrument prospektiver Politikgestaltung, in Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Demographiemonitor, Bd. 2, Gütersloh 2006, S. 60–97. 10 Werke I, 1 S. 93.
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sung“ ist die Vereinzelung der Reskripten-Gesetzgebung zu ersetzen: „Die Konstitution [wird] auf die Grundsätze der Wissenschaft gestellt, die Gesetzgebung aus den Grundprinzipien der Konstitution entwickelt und von hier aus ins wirkliche Leben eingeführt [. . .]“11 Das mit der „Gesetzgebungskommission“ hat einige Zeit später auch John Stuart Mill vorgeschlagen (Betrachtungen über Repräsentativregierung, 1861/63); bei Mill soll diese Kommission die Gesetze fachlich fundiert „machen“, das Parlament (der „politische Wille“) hätte sie dann zu verabschieden. IV. Bürokratiekritik und Verwaltungsmodernisierung (Bürokratie), „dieser politische Auswuchs der letzten Jahrhunderte [. . .] steht einer politischen, gerichtlichen und administrativen Reform Deutschlands im Interesse der Freiheit und Nationalkraft im Wege.“ (List, Werke VII, S. 285)
Aus seiner Biografie und administrativen Tätigkeiten – aber auch aus der damals aktuellen Diskussion (Württembergischer Verfassungskampf 1816–1819) ergibt sich das Interesse Lists an kritischer Untersuchung der Verwaltung und an immer neuen Vorschlägen zur Verwaltungsreform. Diese erste Phase der List’schen Überlegungen und Tätigkeiten ist – wie schon erwähnt – viel weniger bekannt als seine Wirtschaftslehre und die damit verbundenen Praxis (Infrastrukturförderung, Verkehrswesen, „Erziehungszölle“ etc.). Für die heutigen Bemühungen um Effektuierung der Verwaltung könnte es aber ebenfalls hilfreich und anregend sein, die damaligen Ansätze und Forderungen zu einer Verwaltungsreform zu kennen und gegenüber gegenwärtigen Herausforderungen abzuwägen. Für Friedrich List fängt das ganz praktisch an mit einem Projekt zur „empirischen Verwaltungsforschung“; aus dessen Ergebnissen (Berichten an die Staatsregierung) folgen für List (auch unerbetene) Ableitungen für die Verwaltungsmodernisierung. 1. Die Auswanderer-Befragung und die Folgen „Wenn einer um etwas bittet, so wird er Flegel usw. geschimpft, und wenn einer den Mund auftut, so wird er eingesperrt.“ Konrad Sieber (50), Zimmermann von Neuenstadt. 11
Werke I, 1, S. 253 u. 255; S. 89 f.
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„Der Bürgermeister von Willsbach ist dafür bekannt, dass er die Leute drückt . . . man bekommt ja nirgends Recht, wenn man sich höhern Orts beschwert.“ Karl Hekenlaible (31) aus Scheppach. „Bei der gegenwärtigen Teuerung und den großen Abgaben ist es nimmer auszuhalten. Ich habe heuer ein Stückle Gut verkaufen müssen um meine Steuern zu bezahlen.“ Christoph Breuninger (40), Taglöhner aus Neuenstadt am Kocher. „Der Magistrat, und besonders der Bürgermeister [. . .] lassen sich unerhörte Eigenmächtigkeiten und Eigennützigkeiten beigehen, wodurch das gemeine Wesen ruiniert, und der einzelne [. . .] auf eine unleidliche Weise belastet [wird].“ (Mehrere Bürger aus Willsbach bei einer Anhörung).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der auswanderungswilligen Württemberger und Badener merklich an. Trotz mancher Bemühung, die zur Auswanderung Entschlossenen nochmals zurückzuhalten – u. a. durch „Gegenschilderungen“: so einfach ist es in Amerika nicht, wie man euch sagt oder schreibt! Aus einem solchen Brief an einen auswanderungsbereiten Schneider (Jacob Schilling aus Stetten bei Heilbronn): „Schwaben, wer hat euch betäubt, dass ihr nicht im Lande bleibt? . . . Schwaben, denket doch gescheid mehr als 1000 Meilen weit fort mit Weib und Kind zu fliehen, in ein Land voll Wildnis ziehen, wo der Bär oft, eh mans glaubt, Kinder aus der Wiege raubt.“12
Immerhin gab es sogar schon Auswanderer„agenturen“. So betrieb der Bäcker Bäuerlen (Flein bei Heilbronn) den Auswanderertransport als neues Gewerbe („Mäkler“). Häufig wurden die Kosten der Überfahrt durch vorausgezogene (vom Kapitän vermittelte) Arbeitskontrakte reduziert: Man zahlte ab durch spätere Leistungen beim amerikanischen Arbeitsgeber. Immerhin hatten diese „weißen Sklaven“ einige Vorteile: Arbeitsplatz, Unterkunft, sozioökonomische Aussichten. Ende April 1817 hatten sich beispielsweise 700 Auswanderer am Kai (beim Kranen) in Heilbronn eingefunden, um sich am 1. Mai zunächst nach Holland und von dort aus nach Amerika einzuschiffen. Das war die Lage, als die württembergische Regierung (am 29. April 1817) den Rechnungsrat Friedrich List beauftragte, in ausgewählten Bezirken (konzentriert auf Weinsberg, Neckarsulm, Neuenstadt; alle heute Kreis Heilbronn) die Beweggründe für die Auswanderungsbewegung zu erfragen. Daraus wurde auch methodisch durchaus etwas Neues; denn systema12 Nach Günter Moltmann (Hrsg.), Aufbruch nach Amerika. Friedrich List und die Auswanderung aus Baden und Württemberg 1816/17, Tübingen 1979, S. 374 sowie S. 120–187. Vgl. ferner Bericht in Werke I, 1, S. 101 ff.
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tische Befragungen mit anschließender Auswertung waren damals selten und unüblich. In seinen Berichten an die württembergische Regierung wies der Kommissarius F. List auf die zahlreichen Missstände hin – nicht zuletzt auf die in der Verwaltung. Als Hauptursachen für die Auswanderungsbereitschaft wurden genannt: unerschwingliche Steuern und Gebühren, persönliche „Bedrückung“ durch Ortsvorsteher und Beamte, das Schreiberei(un)wesen – also bürokratische Regulierungen i. w. S. –, Langsamkeit der Justiz. Hinzu kämen Teuerung, fehlende Arbeitsplätze und Korruption. Als List – gebeten von Vertretern der Bürgerschaften – die Befragungen insbesondere hinsichtlich der Beschwerden gegen die Behörden ausdehnen wollte, wurde ihm das vom Innenministerium verboten; man wolle kein größeres Aufsehen erregen, zumal dann der Eindruck entstehe, dass die Untersuchung sich gegen die Beamten richte.13 Eine „Kommission zur Untersuchung der Gebrechen des Schreiberwesens“ wehrte sich explizit gegen die List’sche Bürokratiekritik (29. Mai 1817). Wie könne sich der „untergeordnete Aktuar“ List überhaupt erdreisten, seinen Auftrag nicht im vorgegebenen (engen!) Rahmen zu erfüllen und die nötige Ehrerbietung nicht walten zu lassen.14 Man erkennt, wie genau dieser Befrager und Beobachter die empfindlichen Stellen des administrativern Systems erkannt hatte, und der schwieg ja nicht! 2. Verwaltungskritik und Modernisierungsempfehlungen Die Befragungsergebnisse und weitere – z. T. eigene Erlebnisse und Erhebungen – übertrug List in ein Reformprogramm (als Petition an die Ständekammer), mit dem er zugleich gravierende Missstände in und der öffentlichen Verwaltung geißelte. Und das liest sich hier und da durchaus wie Verwaltungskritik von heute: „Ein oberflächlicher Blick schon auf die inneren Verhältnisse Württembergs muss den unbefangenen Beobachter überzeugen, dass die Gesetzgebung und Verwaltung an Grundgebrechen leiden, welche das Mark des Landes verzehren und die bürgerliche Freiheit vernichten. Eine von dem Volke ausgeschiedene, über das ganze Land ausgegossene, in den Ministerien sich konzentrierende Beamtenwelt, unbekannt mit den Bedürfnissen des Volkes und den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens, in endlosem Formenwesen kreisend, behauptet das Monopol der öffentlichen Verwaltung, jeder Einwirkung des Bürgers, als wäre sie staatsgefährlich, entgegenkämpfend, ihre Formenlehren und Kastenvorurteile zur höchsten Staats13
Vgl. auch Werke VIII, S. 101. Die Kommission zur Untersuchung der Gebrechen des Schreibereiwesens am 29.05.1817 an F. List, Werke VIII, S. 108 f. 14
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weisheit erhebend, eng untereinander sich verbündet durch Bande der Verwandtschaft, der Interessen, gleicher Erziehung und gleicher Vorurteile. Wo man hinsieht nichts als Räte, Beamte, Kanzleien, Amtgehilfen, Schreiber, Registraturen, Aktenkapsel, Amtsuniformen; Wohlleben und Luxus der Angestellten bis zum Diener hinab. Auf der anderen Seite. – . . . Stockung der Gewerbe, . . . Klagen über Geldmangel, bittere Beschwerden über unredliche Magistrate, gewalttätige Beamte, Mangel an Unparteilichkeit der Oberen . . ., die Verwaltungsbehörden ohne Kenntnis des Handels, des Gewerbes und Ackerbaus und was noch schlimmer ist, ohne Achtung für die erwerbenden Stände; auf tote Formen und veraltete oder unpassende Bürogesetze versessen, die Nationalindustrie meist mehr hemmend als fördernd, die Rechtspflege kostspielig, endlos, unbehilflich, aller Öffentlichkeit und einer gesunden Gesetzgebung ermangelnd – die Staatsfinanzwirtschaft endlich in ihrem durch die schwülstige Verwaltung verursachten Aufwand alle Verhältnisse übersteigend . . ., die Industrie hemmend . . . das ganze ohne Plan und staatswirtschaftliches Prinzip. Dies ist ein kurzer, aber getreuer Abriss unserer Verwaltung.“15
Daran anschließend entwickelte Friedrich List ein Reformprogramm in vierzig Punkten; nur wenige seien hier zur Illustration zitiert: 15. Die bisher von den Stadt- und Amtsschreibereien besorgten Geschäfte [sind] Notaren zu übertragen, welche nach vorgängiger Prüfung von seiten der Regierung durch Amtsversammlungen zu wählen wären. (also ein Art Privatisierung mit Gewährleistung!). 23. In jedem Oberamt einen unbesoldeten Landrat erwählen zu lassen. 29. In betreff der Finanzen einen Wirtschaftsplan zu entwerfen, welcher darauf abzweckt, das Abgabensystem zu vereinfachen, auf staatswirtschaftliche Grundsätze zu stellen und den Aufwand soweit zu verringern, dass der Bürger nicht . . . über alles Vermögen angestrengt wird. 31. Alle Domänen [sind] zu verkaufen („zu privatisieren“). 34. Tabak- und Salzregie, Tuchfabriken und was der Staat sonst noch für Gewerbe treibt (die Berg- und Hüttenwerke ausgenommen) aufzuheben. 35. Demnach sämtliche Kameralverwaltungen [. . .] Domänen- und Akzisekammern, Regiedirektionen usw. aufzuheben. 36. Den Staatsaufwand in allen übrigen Zweigen [. . .] zu beschränken, 39. Den also verminderten Bedarf durch eine alle Stände und Klassen der Staatsbürger gleich treffende direkte Steuer auf Grund und Boden, Häuser, Gewerbe, Handel, Kapitalien, Besoldungen, Renten und Einkünfte, welcher Art sie seien, aufzubringen . . .
Hinzu kamen vielfältige Modernisierungsvorschläge – erbetene und unerbetene. Und das über die Breite der Modernisierungsbereiche – wie wir sie heute wieder im „Pentagramm der Verwaltungsmodernisierung“ darstellen: Verwaltungspolitik, Organisation, Personal, Aufgaben, Recht. 15
Werke I, 2, S. 634 und passim.
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Ein paar Beispiele: – Über die notwendige Reform der den Oberämtern untergeordneten Amtsstellen (1815), – Entwurf einer neuen Communrechnungsinstruktion und von Formularen zur Gemeinderechnung (1815) – Gutachten über das Stadt- und Amtsschreiberwesen und die Ämterorganisation überhaupt (1815) – Gutachten in Betreff einer zweckmäßigen und kurzen Einrichtung der Communrechnungsrelationen nebst Antrag, wie solche ganz entbehrt(!) werden können (1816) – Über die Verfassung und Verwaltung der Korporationen (1818) u. v. a. m. In einem virtuellen Dialog, genannt „Der Zeitgeist hält Organisationsexamen“ (1818) diskutiert List auch „Führungsfunktionen auf Zeit“16, mit der Fragestellung: „Welche Einrichtung wird . . . getroffen werden müssen, dass ein Wechsel des Ministeriums vorgehen kann, ohne den Staat mit Pensionen zu belasten und ohne die Minister (und hohe Beamte) nach ihrem Austritt außer Tätigkeit und Brot zu setzen?“ Und mit dem Vorschlag: „Jedes Mitglied des Ministeriums sollte eine untergeordnete Stelle im Staatsdienst bekleiden. Während derselbe im Ministerium steht, müsste seine untergeordnete Stelle durch einen Stellvertreter versehen werden. Tritt er aber aus dem Ministerium, so übernimmt er seine alte Stelle wieder.“ Auf Schwierigkeiten der Über- und Unterordnung wird hingewiesen, aber auch darauf, dass das Wohl des Staates jeglicher „schalen Rangordnung“ vorzugehen habe. Zusammen mit einer besonderen Reform – nämlich der verbesserten und gezielten Ausbildung zum Staatsbeamten in Theorie und Staatspraxis (vgl. auch Abschn. 5) – lag ein Modernisierungsprogramm vor, das einerseits die Grundzüge einer reduzierten und effizienten Verwaltung beschrieb, das andererseits aber – gerade deswegen – vielfältige Widerstände in der modernisierungsresistenten Verwaltung sowie in der neuen (weniger liberalen) Staatsregierung erzeugte. Bürokratiekritik und Reformvorschläge stießen auf heftige Gegenwehr der Angegriffenen, zumal sich die politische Gesamtlage nach der Karlsbader Konferenz generell hin zur Restaurationspolitik verschob. Die Möglichkeiten für eine durchdringende Staats- und Verwaltungsmodernisierung verringerten sich zusehends. 16 Werke I, 1, S. 454 ff. Vgl. für heute mehrere Arbeiten von Heinrich Siedentopf, z. B. Expertenanhörung „Führungsfunktionen auf Zeit“ in VORAN, Schriften zur Verwaltungsmodernisierung in Rheinland-Pfalz, Heft 1/1995, S. 13 ff.
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Immer geringer auch die Chance, über den Umweg einer verwaltungswissenschaftlichen Professur an der Universität Tübingen das Modernisierungsprogramm zu starten und zu implementieren, zumal List auch dort und dabei schnell einigen Anfeindungen ausgesetzt wurde (vgl. Abschnitt 5). Der Druck auf den unbequemen Kritiker und letztlich selbsternannten Reformer erhöhte sich von mehreren Seiten aus. List wurde sogar aus der Kammer (Ständeversammlung) ausgeschlossen und ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet, 1822 wurde er zu zehn Monaten Festungshaft verurteilt.17 V. Der Verwaltungspraktiker als akademischer Lehrer „Infolge der Errichtung einer staatswirtschaftlichen Fakultät auf dieser hohen Schule ist mir, durch den allerhöchsten Willen Seiner Majestät, der ehrenvolle und wichtige Beruf geworden, Staatspraxis zu lehren. Ich finde dieses Fach nirgends auch nur im Umriß bearbeitet.“ (F. List, Werke I,1, S. 284)
Die Geschichte klingt heute unglaublich, aber sie hat sich so ereignet: Ein Verwaltungspraktiker (Schreiber, Verwaltungsaktuar, Rechnungsrat) ohne höhere Vorbildung und reguläres Studium erhält 1817 die neu geschaffene Professur für Staatsverwaltungspraxis (Fakultät für Staatswirtschaftslehre) an der Universität Tübingen. (Kultus-)Minister Karl August Frhr. v. Wangenheim hatte beim König die Einrichtung einer staatswissenschaftlichen Fakultät beantragt, an der auch Staatsverwaltungspraxis gelehrt werden sollte. Rechtsgelehrtheit und Staatsgelehrtheit sollten zu einer politischen Fakultät zusammengefasst werden. Ein durch v. Wangenheim vorgelegtes „Gutachten über die Errichtung einer staatswirtschaftlichen Fakultät“ geht auf Vorarbeiten Lists zurück. So formulierte Frhr. v. Wangenheim – auf List’schen Ideen aufbauend – als Auftrag für den neuen Lehrstuhl „Staatsverwaltungspraxis“, . . . „daß neben der Darstellung der Formen aller Verwaltungsämter die Zuhörer auch nach und nach eine zweckmäßige Verbesserung der Verwaltungsformen erfahren können“.18 Auf List vor allem geht zurück, dass der künftige Verwaltungsbeamte eben nicht nur Praxiskenntnisse haben, sondern auch wissenschaftlich geschult sein müsse. Diese Verbindung von Theorie und Praxis war ihm wichtig, denn damit könne sich auch die allgemeine Verwaltungsreform befördern lassen.19 17 18
Vgl. Einzelheiten z. B. bei Hans Ritschl (Anm. 1), S. 35 ff. Nach P. Gehring (Anm. 1), S. 175 und S. 186 ff.
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Im Spätjahr 1817 wurde List auf diesen neu errichteten Lehrstuhl für Staatsverwaltungspraxis berufen20. List hatte dazu programmatisch ausgeführt: „Die Staatspraxis muß in ihrem ganzen Umfange auf der Universität gelesen werden, wenn der Staat brauchbare Beamte heranziehen will. Hat der Studierende sich in den Theorien umgesehen, so soll er nicht nur die Gesetze seines Vaterlandes und seine Verfassung genau kennen lernen, sondern er soll sich auch genau mit der Maschine der Staatsverwaltung und mit den Formen bekannt machen.“21 List war selbst davon überzeugt, dass gerade er „für diese Stelle passen würde, (denn) [. . .] ein Lehrer dieser Art muß die ganze württembergische Gesetzgebung, die Formen und die Amtspraxis überhaupt, mit ihren tausend Schlupfwinkeln, genau kennen. Er muss wissen, wie das alte Gebäude zusammenhängt, er muss die Mittel kennen, die Gebrechen zu verbessern.“ Eigentlich sei es schon ein Zufall, dass es überhaupt jemanden gebe, der das alles vertreten könne – so wie eben er, der doch „selbst im Schlamm der Praxis gesteckt ist“. Wenn er dann noch ein wenig dazulerne, traue er sich zu, auch in der (gesamten) Staatswissenschaft etwas zu leisten. Vom Lehrstuhl aus könne er angreifen und . . . „nur so kann der Schreibereigeist gründlich ausgerottet werden“.22 Für List wohl eine der dringendsten Verwaltungsreformen. Heute würde man das wohl die höhere Qualifizierung des gehobenen und mittleren Dienstes nennen. Die Vorlesungsmanuskripte sind teilweise erhalten23. List widmete sich der neuen Aufgabe mit großer Kraft, wobei er die Veränderungsnotwendigkeiten besonders betonte und damit erneut einiges Missfallen auslöste. Schließlich wollte er auch „die Theorie der konstitutionellen Monarchie . . . entwickeln.“ Aber auch einen Beitrag zur Einordnung der Staatswissenschaften versuchte er: „Der Inbegriff aller derjenigen Wissenschaften, welche in unmittelbarer Beziehung mit dem Staate stehen . . . heißt Staatswissenschaft, (weshalb) der gebildete Staatsdiener neben der speziellen Wissenschaft (z. B. Jurisprudenz) sich auch diese allgemeine Wissenschaft zu eigen mache, denn sonst fehlt es ihm . . . an der klaren Einsicht davon, wie seine Wissenschaft mit dem ganzen Staate und mit den übrigen Wis19
Werke I, 1 S. 13 ff. Die Besoldung bestand aus einem Grundgehalt zuzügl. der Kollegiengelder und aus Naturalien, u. a. Getreide, Wein und Holz. List war das eigentlich zu wenig, denn im vergleichbaren Staatsdienst würde er sich wesentlich besser stellen (Briefwechsel Okt./Nov. 1817, Werke Bd. 8, S. 113 ff.). 21 Werke I, 1, S. 97. 22 Brief an v. Wangenheim v. 4.6.1817, Werke VIII, S. 109 f. 23 Vgl. Werke I, 1; über die Lehrtätigkeit auch P. Gehring (Anm. 1), S. 184 ff. und Karl Erich Born, in: Besters (Hrsg.) (Anm. 1), S. 70 ff. 20
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senschaften in Verbindung steht. Die Staatswissenschaft ist das Feld, in welchem alle mit dem Staat in Verbindung stehenden Wissenschaften zusammentreffen . . . der Staatswissenschaft zur Seite steht die Staatspraxis . . . Die Staatswissenschaft ist gleichsam die Reflexion des gegebenen Staates.“24 Wahrscheinlich auf Grund von Intrigen aus der Fakultät musste sich F. List wegen seiner (reformerischen) Vorlesungen 1818 vor dem König verantworten; was ihm dann auch eine Ermahnung eintrug, „weil er sich in seinen Vorlesungen eine Kritik der bestehenden Institutionen und Gesetz erlaube, welches durchaus nicht angehen könne.“ Eine List’sche Veröffentlichung in der Zeitschrift „Volksfreund aus Schwaben“ enthielt unverblümte Kritik an Regierung und Verwaltung (übrigens auch wegen ungerechtfertigter Abfindungen für ausscheidende Minister!). List wurde erneut verwarnt: Theoretische Spielereien würden die Studenten zur Umsetzung anregen können. List solle deshalb äußerste Vorsicht walten lassen bei dem, was er da vortrage. Dies vor allem, wenn er nicht nur referiere, was ist, sondern auch wie es sein solle. Im April 1819 verlangte die Staatsregierung – ganz heutig – eine „Evaluierung der Lehrtätigkeit“ Lists. Nach immer neuen Berichten und Informationen – wohl auch Denunziationen – nach Stuttgart kam es von dort aus zu „Weisungen für die künftige Berufstätigkeit“25. Der Konflikt spitzte sich zu. Wegen seiner nicht beantragten (maßgeblichen) Beteiligung bei der Gründung des „Vereins deutscher Kaufleute und Fabrikanten“ (1819/Frankfurt) wurde List erneut gemaßregelt: „Ohne ausdrückliche Erlaubnis der ihm vorgesetzten Stelle“ habe List eine „seinem Amt fremde öffentliche Geschäftsführung übernommen (und dies sogar) in einem auswärtigen Staat“.26 Weitere Intrigen folgten. Für List wurde es an der Fakultät unerträglich. Im Mai 1819 bat er um Entlassung aus dem Lehramt. Das war der erste Schritt hin zu einem neuen Interessen- und Arbeitsgebiet, auf dem er große Erfolge – aber wiederum nur bescheidene Anerkennung erreichen sollte: nämlich der „Nationalökonomie“ und der Handels-, Verkehrs- und Entwicklungspolitik. Exkurs: Wissenschaft von der Zukunft Im Kontext und als Folge dieser List’schen Wende im wissenschaftlichen und praktischen Interesse, wie aus den Wahrnehmungen bei seinen Auslandsaufenthalten, gelangt Friedrich List auch zu Prognosen und Visionen künftiger globaler Entwicklungen. Er kann sich eine emergierende Bipolari24 25 26
Werke I, 1 S. 247 f. und S. 253. Vgl. Werke VIII, S. 125 ff. Brief des Innenministers v. Otto vom 30.04.1819, in Werke VIII, S. 132 f.
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tät von Amerika und Russland vorstellen.27 Darüber hinaus sieht er eine neue asiatisch-ozeanische Riesenmacht entstehen, die dereinst sogar Amerika gleichkommen dürfte. Um solche Entwicklungen rechtzeitig, profund (und interdisziplinär) analysieren zu können, empfiehlt List, eine „Wissenschaft von der Zukunft“ zu begründen, in Ergänzung zur „Wissenschaft der Vergangenheit“. Bei den Prognosen darf man zwar keine Gewissheit erwarten, denn „der Naturgang der Dinge kann aufgehalten oder abgelenkt werden. Etwas aber und vielleicht sehr viel davon wird aber eintreffen, und eines scheint uns jetzt schon gewiss: daß man nämlich durch derartige Forschungen in die Zukunft, insoweit sie auf unzweifelhafte wissenschaftliche Wahrheiten, auf richtige Kenntnis der gegenwärtigen Weltzustände, auf richtige Würdigung der Nationalcharaktere und auf unzweifelhafte Erfahrungen der Vergangenheit gegründet sind, eine Masse von Weisheit und Wahrheit den Regierungen wie den Völkern zum unverweilten Verbrauch ans Licht zu fördern vermag.“28 Die Notwendigkeit und Relevanz der Zukunftsforschung („Futurologie“: Ossip K. Flechtheim) ist heute anerkannt, aber auch die vorsichtige Abwägung ihrer Möglichkeiten und Grenzen – ganz im List’schen Sinne. VI. Friedrich List – zur Persönlichkeit Wer war dieser Mensch eigentlich, der sich am 30.11.1846 auf dem Weg in den Süden bei Kufstein selbst tötete? „Ich bin der Verzweiflung nahe [. . .]“ schreibt er kurz vor seinem Ende an Gustav Kolb (den Freund und Verleger) nach Augsburg29. Im Sektionsbefund heißt es, dass „der Untersuchte mit einem solchen Grade von Schwermut behaftet gewesen sei, welches ein freies Denken und Handeln unmöglich machte. Er ist somit nicht als Selbstmörder zu betrachten und zu behandeln.“30 Ein paar körperliche Gebrechen waren vorhanden, aber Auslöser für den selbst gewählten Tod waren diese nicht. Es waren wohl eher die lebenslange Ansammlung von Enttäuschungen und Anfeindungen, die nie zu beseitigende Außenseiterrolle, in die der Ideengeber und Kritiker immer wieder abgedrängt wurde, ohne dass er in dem System der Intrigen und wohl auch der Neider wirkliche Anerkennung oder gar angemessene Belohnung fand. Immerhin verlieh ihm die Universität Jena (1822) den juristischen Ehrendoktor, trotz seiner früheren Kritik an der „Juristerei“. Seine großen Ver27 Vgl. dazu auch Edgar Salin, Politikökonomie heute, in: Kyklos 1955, S. 380 und Werke VII, S. 482 ff., ferner E. Wendler (Anm. 1), 2004, S. 224 ff. 28 Werke VII, S. 501. 29 Brief an G. Kolb v. 01.12.1846, Werke VIII, S. 832. 30 Sektionsbefund v. 03.12.1846, Werke VII, S. 847.
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dienste in der Wirtschafts- und Verkehrspolitik sind unbestritten und auch die Bemühungen um Staats- und Verwaltungsmodernisierung sind noch immer beeindruckend. Aber für F. List gilt – ähnlich wie vorher für den ihm in vielem so ähnlichen Johann Joachim Becher (1635–1682) –31: Wer für seine Zeitgenossen und für bestimmte Interessenverhärtungen zu früh kommt, den bestraft das Leben auch. Der ungewöhnliche Lebenslauf – jenseits „anerkannter“ Karrieremuster – die Festungshaft (1822), die erzwungene Auswanderung, die Rückkehr ohne wirkliche Re-Integration, das alles schleppte er, zumindest unbewusst, mit sich herum, das machte dünnhäutig, widerborstig und führte auch zu heftigen Reaktionen gegenüber den „Verhockten“, was ihm wieder schadete. „Diese streitbare Natur, vorschreitend mit dem unverwandten Blick auf ein großes Prinzip, gegenüber herrschenden Theorien, Vorurteilen des Zeitalters und seines Landes, musste nach vielen Seiten anstoßen“,
urteilt ein Zeitgenosse (der Publizist Karl August Mebold), und: „Im ersten Stadium seiner politischen Tätigkeit: als württembergischer Beamter, Universitätslehrer und Abgeordneter, hat er sich nicht unter die populäre Fahne der Patrioten des alten Rechts gestellt, jener siegreichen Mehrheit, die dann ihren Frieden schloss und aus der Opposition an die Geschäfte kam; (er war bei denen geblieben), [. . .] „denen eine Regeneration des Volkes, die Mündigmachung durch freie Rechts- und Verwaltungsinstitutionen, oder was man jetzt gern mit einem, englischen Wort als selfgovernment bezeichnet, mehr am Herzen lag als die Restauration (der alten) Verfassung . . .“32
List war – nach vielen Zeugnissen – ein unsteter und trotziger Geist, durchaus mit dem Hang zur Rechthaberei. Wenn etwas nicht sofort funktionierte oder angenommen wurde, wendete er sich verärgert dem nächsten Problem zu. Er ging lieber fort, als sich „knechten“ zu lassen, aber er kehrte auch wieder zurück, um es nochmals zu versuchen, oder eben um etwas anderes anzupacken. List war umtriebig, eigenständig, aber auch eigensinnig bis halsstarrig. Hochintelligent, visionär, aber taktisch ungeschickt. Einer, der es sich und seiner Umgebung nicht leicht machte, und damit häufig eine „offene Flanke“ bot. Man wollte ihn – auch deswegen – nicht auf Dauer institutionell binden, aber genau das hätte er gerne gehabt: ein wenig Sicherheit, ein wenig formelle Anerkennung. Heinrich Laube (Schriftsteller, Direktor des Wiener Burgtheaters) schrieb, als er vom Tode Lists erfuhr: „Wir haben einen außerordentlichen Mann verloren [. . .], das ganze Vaterland hat einen unersetzlichen Verlust erlitten [. . .] (einen Menschen, der gewirkt hat) durch 31 Vgl. mehrere Beiträge in „Schriftenreihe der Johann Joachim Becher-Gesellschaft zu Speyer e.V. (ISSN 1430–8193), Speyer 1991 ff. 32 Mebold über List, Werke IX, S. 212.
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die unerschöpflichen Hilfsmittel seines Geistes, durch die Wucht seines Talentes [. . .] Nie hab ich einen Mann gesehen, der in höherem Grad anregend gewirkt hätte als List, nie einen Menschen gesehen, der im eigentlichen Sinne des Wortes so schöpferisch gewesen wäre als List“.33
Theodor Heuss hat mit Bezug auf Friedrich Th. Vischer zwei Typen der württembergischen Schwaben beschrieben: die Sesshaften und die Weltläufigen. Friedrich List gehörte (gezwungenermaßen) zum zweiten Typ. Und auch bei einer anderen Gegensätzlichkeit: „bedächtig oder eigensinnig“ lässt sich List vorrangig den Eigensinnigen zuordnen. Woraus folgt: immer ein wenig dickköpfig, dabei lieber Unrecht erdulden als nachgeben – und sei es nur taktisch. Deshalb saß er auch – wie vorher jahrelang der aufmüpfige Dichter Christian Daniel Schubart – monatelang im Staatsgefängnis auf dem Hohen Asperg, floh, kam zurück, ging nach Amerika, wo man ihn brauchen konnte. Theodor Heuss hat ihn ausdrücklich neben zwei anderen großen Württembergern gewürdigt: „Das enge Land hat den Reichtum seiner Begabungen nicht immer ertragen, hat die großartigsten Naturen – Schiller, List, auch Kepler – gequält.“34
33
Laube zu Lists Tod, Werke IX, S. 207 u. 208. Theodor Heuss, Betrachtungen zum Schwäbischen, Tübingen, Sonderdruck von 1961, S. 14. Ursprünglich: 1942. 34
A propos de la gouvernance Francis Delpérée 1. – La gouvernance, et même la bonne gouvernance, sont à la mode. Parler du gouvernement, cela fait ringard. Parler de l’administration, même pour rendre hommage à un éminent spécialiste des sciences administratives, cela fait désuet. Tandis que parler de gouvernance, cela fait moderne. C’est à la mode. Mieux, c’est prometteur. C’est porteur d’avenir. C’est annonciateur de progrès et de développement. C’est même rentable, dit-on, y compris dans les officines gouvernementales. Dans ces conditions, comment ne pas souscrire à la gouvernance? Comment ne pas enseigner la gouvernance? Comment ne pas pratiquer la gouvernance? Il faut souligner au passage le succès singulier de deux vocables – la gouvernance et le management – qui sont souvent associés dans la réflexion et dans la discussion, si ce n’est dans l’action publique. Tous deux sont issus du trésor de la langue française. Faut-il le rappeler? L’un, la gouvernance, vient du langage maritime. Ne faut-il pas tenir le gouvernail pour conduire le bateau à bon port? L’autre, le management, vient du langage équestre. Ne faut-il pas faire quelques tours de manège pour apprendre à maîtriser une monture récalcitrante et la mettre au pas? Les deux termes ont fait le détour, bref d’ailleurs, par la langue anglaise. Governance, management . . .1. Grâce à une habile transplantation qui se réalise à une lettre près, ils entrent de plain pied dans le domaine des sciences administratives. On gage qu’ils ne sont pas près d’en sortir. Car, via le Royaume-Uni, ils ont conquis d’autres univers, spécialement ceux des systèmes administratifs d’inspiration anglo-saxonne.
1 A côté de l’administration publique, il y a place, cela va de soi, pour l’administration des affaires et, plus particulièrement, celle des entreprises. La governance se double d’une corporate governance. Celle-ci s’apparente à une éthique des affaires et du commerce. Elle s’inscrit éventuellement dans des codes de bonnes pratiques que les milieux concernés contribuent à élaborer et s’engagent à respecter. Ces principes et ces pratiques n’ont que peu d’accointance avec ceux qui ont cours dans le secteur public. Encore que les entreprises publiques devraient sans doute répondre aux conditions prescrites dans l’un et l’autre secteurs . . .
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Tous deux franchissent aujourd’hui le Channel à rebours. Ils reviennent au bercail. Mais comment ne pas observer qu’au terme de ce périple – qui rappelle celui de certains matchs aller-retour de rugby –, ils ne reviennent pas indemnes? Indiscutablement, ils se sont étoffés. Ils sont porteurs de significations nouvelles. L’étymologie n’est plus que de peu de poids. Les images liées à la conduite des bateaux ou au dressage des chevaux se sont éclipsées ou éloignées, même si elles restent présentes à l’arrière-plan. Ce qui importe maintenant, de manière plus fondamentale, c’est la gestion de l’Etat moderne et la définition de ses principes, de ses techniques ou de ses méthodes d’action. Tel est le problème actuel auquel s’efforce de répondre la gouvernance. Comment assurer de la manière la plus efficace qui soit la conduite des affaires publiques? 2. – En réalité, le vocable de gouvernance est équivoque. Dans un même moment, il sert à désigner deux réalités distinctes. Il n’est pas sûr que celles-ci ne soient pas confondues dans les discours qui sont tenus à propos de l’Administration ou dans les actions que cette dernière peut être appelée à mener. Des malentendus peuvent se dessiner au départ de ces imprécisions conceptuelles. La gouvernance se réfère, dans un premier temps, à un choix d’objectifs. C’est le port que le navire doit atteindre. Ce sont les finalités que les autorités politiques et administratives doivent s’assigner et qu’elles ont mission d’imposer à leurs services et à leurs agents. L’on est ici dans l’ordre des projets et dans celui des instructions ou des directives à suivre pour les réaliser. Il faut, dit-on par exemple, permettre le développement durable. Il faut lutter contre la pauvreté. Il faut assurer l’intégration de populations d’origine étrangère. Il faut réaliser l’approvisionnement énergétique du pays . . . Tous objectifs que l’on qualifiait jadis de politiques. Et qui s’inscrivaient, en toutes lettres, dans les dispositions de la Constitution, de la loi, voire de certains documents gouvernementaux, sans oublier l’emprise toujours plus grande des instruments internationaux, spécialement à l’échelle européenne. Mais la référence au «politique» semble être passée de mode. Elle présente, souligne-t-on, des côtés partisans trop appuyés. Elle est tributaire, ajoute-t-on, de l’action ou du discours de personnalités typées. A cet égard, elle peut sembler s’inscrire en dehors des canons de la rationalité et de la technicité. Pour tout dire, elle ne procède pas d’une approche scientifique des phénomènes administratifs. Bref, elle est suspecte – notamment, se permettra-t-on d’ajouter avec une pointe de regret, dans les milieux universitaires.
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A l’inverse, la gouvernance véhicule un discours qui se veut neutre et objectif. Elle n’est pas conjoncturelle. Elle n’est pas liée à des circonstances de temps ou d’espace. D’une certaine manière, elle a une portée universelle et intemporelle. Elle peut être aisément mise en œuvre par les experts et les techniciens du service public. Elle peut, de surcroît, recueillir l’adhésion de l’opinion publique conquise par cette forme de rationalisation de la conduite de l’action administrative. Voici qui est clair. Et, en même temps, rassurant. Dans un deuxième temps, cependant, la gouvernance change de sens. Elle se réfère, cette fois, à une méthode – ou à des méthodes – de gestion des affaires publiques. Ce sont celles qui permettront d’atteindre les objectifs préalablement arrêtés. Ce sont les manœuvres qui affectent la conduite du navire, ce sont les mouvements de la barre ou les orientations de la voile qui doivent lui permettre de garder le cap, ce sont les opérations qui lui permettent, en fin de course, de s’arrimer au ponton d’arrivée. Ces méthodes sont-elles nouvelles? En quoi se distinguent-elles des méthodes qui étaient traditionnellement de mise dans les administrations publiques, celles du XIXe et de la plus grande part du XXe siècles? Par référence sans doute à un héritage napoléonien ou bismarckien, le gouvernement et l’administration se sont inscrits dans un schéma légaliste, profondément imprégné du souci de respecter la règle ou, plus exactement, les règles de droit. Une préoccupation nouvelle apparaît à la fin du XXe siècle. Est-ce suffisant? La démarche légaliste satisfait-elle les besoins des autorités publiques et les préoccupations des citoyens? Le discours sur la gouvernance n’est pas foncièrement anti-juridique ou anti-institutionnel. Il ne conteste pas l’idée qu’il s’avère nécessaire de réaliser l’Etat de droit, y compris dans la conduite des affaires exécutives. Il ne met pas en question cette conquête de l’Etat moderne. Mais il entend aller au-delà des exigences juridiques. Il développe une méthodologie de l’action politique et administrative qui ne se contente pas du strict respect du droit. Il s’inscrit non pas contre le droit mais au-delà du droit ou à côté du droit, dans un climat de subtile ignorance. Se permettra-t-on d’ajouter que l’ignorance est, la plupart du temps, réciproque? L’interrogation est réelle pourtant. A quoi bon la légalité de l’action, voire la légitimité des autorités publiques, sans l’efficacité de leurs interventions? A quoi bon le respect des formes si ce n’est pas pour mener une action cohérente? A quoi bon le suivi scrupuleux des procédures si c’est pour déboucher sur des impasses ou des paralysies et, en définitive, sur l’insatisfaction des destinataires de l’action publique?
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Dans cet esprit, la gouvernance privilégie la mise en œuvre d’un ensemble de techniques. Celles-ci doivent permettre de combattre les négligences, de supprimer les retards, de lutter contre la gabegie, de veiller à une correcte utilisation des moyens publics, d’éradiquer les mauvaises pratiques. Bref, il faut mettre en œuvre une panoplie de moyens pour mettre fin aux dysfonctionnements qui peuvent affecter la vie des citoyens et perturber l’action des autorités politiques et administratives. 3. – En somme, la gouvernance se place dans une situation intermédiaire. Pour utiliser la terminologie classique, elle se situe, pour autant que cela soit possible, à mi-chemin des tâches de gouvernement et d’administration. Elle est aux mains tant des autorités politiques que des institutions administratives. Elle veille, d’une part, à assurer la rationalité dans les choix publics. Et, d’autre part, à préserver la neutralité dans les interventions publiques. 4. – La gouvernance s’inscrit dans le temps. On l’a indiqué. Le propos est neuf – à peine un quart de siècle. Mais il se répand comme une traînée de poudre. Il conquiert les esprits, les discours, les programmes. Il est dans l’air du temps. La gouvernance s’inscrit aussi dans l’espace. Elle a pu apparaître dans les contrées de l’Europe du Nord. Mais, relayée par les institutions internationales et développée dans les milieux scientifiques, elle pénètre sur tous les continents. Elle est facteur et produit de la mondialisation. Comment la gouvernance ne ferait-elle pas, dans ces conditions, l’unanimité? Emettre des doutes sur la signification du concept, sur son utilité ou sur son opérationnalité relève d’un crime de lèse-majesté. Cette attitude rétrograde procéderait d’une ignorance manifeste, d’une mauvaise foi évidente ou, plus grave encore, de la volonté de ne pas contribuer utilement à la bonne gestion des affaires publiques. L’on s’en voudrait de rompre l’unanimité des louanges et de passer pour un dinosaure de la culture administrative. A ce stade du raisonnement, une question ne peut, cependant, manquer d’apparaître. Qui doit imposer, instaurer et mettre en œuvre la gouvernance? Ou, si l’on préfère, qui dirige le mouvement de la gouvernance? Qui tient le gouvernail? Deux réponses différentes – mais peut-être faut-il écrire: contradictoires – se sont fait jour au cours de ces dernières années. 5. – Une première conception, la plus répandue notamment dans les milieux internationaux, prend le parti d’une gouvernance autoritaire. La perspective s’inscrit de haut en bas.
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Pour la communauté internationale et pour ses institutions, telles l’OCDE ou le FMI, le constat est on ne peut plus simple. Il est quelques sociétés développées. Elles sont, pour l’essentiel, situées des deux côtés de l’Atlantique. Elles mettent en œuvre des techniques de gestion publique qui sont, dans leur ensemble, opérationnelles. A côté d’elles, il est d’autres sociétés politiques. Ce sont les plus nombreuses. Elles sont éparpillées sur tous les continents. Elles n’utilisent pas les mêmes techniques d’administration. Elles présentent des lacunes évidentes sur le terrain de l’organisation ou sur celui du fonctionnement de leurs services, souvent sur les deux à la fois. Elles s’exposent à ne pas connaître un développement adéquat ou un progrès suffisant. Pis encore, elles peuvent devenir des foyers de désordre dans des parties agitées du monde. Comment ne pas chercher à leur procurer, d’autorité ou avec souplesse, y compris par des incitants financiers, les techniques de la gouvernance? Qu’ils soient développés ou qu’ils aspirent à le devenir, les Etats peuvent, à leur tour, se montrer sensibles aux impératifs de la gouvernance. Ils sont convaincus que celle-ci contribuera, par le mouvement naturel des choses, au fonctionnement harmonieux, cohérent et efficace des institutions publiques et administratives. Ils espèrent qu’elle apportera la paix à l’intérieur et à l’extérieur. Ils forment le pari qu’elle conférera aux hommes et aux femmes qui composent le corps social plus de droits et de libertés et qu’elle contribuera donc à leur meilleur épanouissement. Qui plus est, la gouvernance est communicative. Elle peut, par exemple, s’inscrire dans les relations qui s’instaurent entre les Etats et les collectivités particulières qui sont organisées en leur sein. Le gouvernement central peut, par exemple, conditionner l’octroi à ces collectivités d’aides ou de subventions. Il imposera non seulement le respect des règles de droit mais aussi celui des principes de gouvernance – selon l’interprétation qu’il en procurera. 6. – La gouvernance peut aussi être envisagée dans une autre perspective. Le mouvement se renverse. Il va de bas en haut. Ou, dit de manière plus nuancée, deux mouvements, l’un descendant et l’autre ascendant, doivent trouver à se rencontrer et à se concilier. Si les perspectives de haut en bas l’emportent sans réserve, la gouvernance risque de ne pas atteindre son but. Elle n’entraîne pas l’adhésion de ceux à qui elle s’adresse. Elle apparaît comme une exigence venue d’ailleurs. Elle risque de provoquer des réactions de rejet de la part de ceux qui se la voient imposer. Mais, si les perspectives de bas en haut sont privilégiées sans réserve, la gouvernance risque de ne pas s’inscrire dans un cadre suffisamment institu-
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tionnalisé. Elle reste au niveau de l’informel ou de l’officieux. Elle n’est pas considérée comme le mode normal de l’action des pouvoirs publics. Elle risque d’élargir le fossé entre la société politique, l’administration et la société civile. En réalité, il faut croiser et concilier les deux perspectives institutionnelles. Une conception originale de l’action publique peut trouver ici à se développer, dans la société internationale, dans les Etats et dans leurs collectivités particulières. Elle entend tenir compte des desiderata qui sont exprimés à la base. Elle se montre attentive aux préoccupations qui se font jour chez les citoyens, dans les groupes ou dans les collectivités particulières. Elle tient compte des mouvements qui traversent la société et qui déterminent ses orientations. La gouvernance devient participative. Elle repose sur la participation des citoyens, pris individuellement ou collectivement. La gouvernance est aussi partagée. Elle devient l’affaire de tous. Même si tous les partenaires ne sont pas investis des mêmes responsabilités, ils doivent être en mesure de faire entendre leur voix. Ils doivent être associés à la définition des objectifs et des techniques. Ils doivent être impliqués dans la mise en œuvre des moyens de la gouvernance. 7. – La gouvernance participative fait appel à ce qu’il est convenu d’appeler aujourd’hui la société civile. Mais la participation ne s’improvise pas. Elle s’organise. Au sein de l’Etat moderne, une réflexion s’est développée d’ancienneté sur les modes de participation au sein de la société politique: pétitions, consultations, référendums . . . Aujourd’hui, un autre thème apparaît. Comment aménager cette même participation au sein de la société civile? En bonne logique, il faut partir du citoyen. Il est un parmi des milliers, peut-être des millions, d’autres individus. Il peut essayer de faire entendre sa voix. Il peut le faire, à intervalles réguliers, à l’occasion d’élections disputées. Mais ce droit est-il accordé à tous? Est-il exercé par tous? Sans droits politiques effectifs, une gouvernance participative n’a pas de sens. Ou, si l’on préfère, une gouvernance digne de ce nom suppose que les citoyens soient en mesure d’exprimer leurs préoccupations, de contester les autorités en place et de censurer, si nécessaire, les comportements qui ne s’inscriraient pas dans la perspective d’une démocratie participative. Le citoyen peut également utiliser les droits que la communauté nationale ou internationale lui reconnaît. Les codes sont diversifiés. Les mécanismes de protection juridictionnelle sont différents. Mais, dans cet univers comple-
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xifié, le citoyen peut trouver des moyens significatifs pour faire connaître ses préoccupations. La liberté d’expression, la liberté d’association, la liberté de manifestation . . . Autant de moyens qui peuvent s’avérer particulièrement utiles. Mais la question rebondit. Ces droits sont-ils garantis partout? Pas seulement dans les textes mais dans les réalités quotidiennes. Sont-ils entourés de garanties juridictionnelles effectives? Font-ils partie d’un système constitutionnel fondé sur le principe de la séparation des pouvoirs? Sont-ils placés, en toute circonstance, sous la responsabilité d’un juge constitutionnel indépendant? Sans une protection effective des droits fondamentaux, une gouvernance participative n’a pas de sens. Deux siècles après la Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, un demi siècle après la Déclaration universelle des droits de l’homme, il convient de constater, pour le déplorer, cela va sans dire, que certains droits, parmi les plus élémentaires – on pense au droit à l’instruction – restent limités, que le souci de protéger ces droits n’est pas unanimement respecté et que ces droits sont parfois bafoués en toute impunité. La gouvernance n’apporte pas de droits aux hommes et aux femmes de notre temps. C’est le mouvement inverse qui doit être privilégié. C’est parce que les hommes et les femmes de notre temps disposent de droits effectifs qu’ils sont capables de comprendre les bienfaits de la gouvernance et qu’ils sont en mesure de contribuer à sa réalisation. Comment ne pas souligner, dans ce contexte, les exigences de la transparence administrative? Accès aux documents administratifs, motivation des décisions prises par les autorités publiques, possibilité de recourir à un médiateur ou à un ombudsman, organisation systématique des recours contentieux et non contentieux contre les décisions de l’administration . . . Autant de techniques qui tentent de réconcilier, comme on dit, le citoyen et l’Administration. Si elles sont mises en œuvre à bon escient, elles peuvent aussi contribuer à une meilleure efficacité de l’action politique et administrative. De la même manière, l’attention se portera sur le développement des programmes concernant des catégories particulières de personnes: les femmes, les personnes âgées, les personnes handicapées, les enfants, les minorités nationales . . . Ces préoccupations sectorielles posent problème dans la mesure où elles s’inscrivent à contre-courant d’une vision universelle et générale des droits de l’homme. Il n’empêche. Elles s’inscrivent dans une évolution caractéristique de la protection des droits du citoyen à l’époque contemporaine. A ce titre, elles apparaissent aussi comme des conditions de réalisation de la gouvernance.
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Les citoyens peuvent aussi être compris en groupes. Il faut tenir compte de la situation des associations de tous genres qui peuvent contribuer à assurer le succès de l’entreprise de gouvernance participative. Il y a les partis politiques, les syndicats, les mouvements d’opinion, les groupes d’intérêt, les ONG, les entreprises . . . La plupart d’entre eux peuvent œuvrer utilement pour instaurer la gouvernance. A des titres divers, ils sont des acteurs de la vie politique et administrative. Comment les ignorer? Une difficulté ne saurait être tue. Les associations et les groupes disposent de la liberté d’association. Ils ont leur organisation propre. Ils ne doivent pas se la voir imposer. Doivent-ils pour autant s’organiser comme bon leur semble, sans garantie quant au choix de leurs dirigeants, quant aux modes de prise de décision, quant à l’utilisation de leurs ressources, quant aux types de relations qu’ils entretiennent avec leurs membres et quant aux contrôles diversifiés qu’ils pourraient subir? Un défi simple est présent. Il faut définir les principes d’organisation de ces interlocuteurs. Il faut préciser leurs formes de participation. Il ne faut pas pour autant leur imposer des contrôles excessifs qui compromettraient leur autonomie. 8. – La gouvernance n’est pas du ressort de la seule communauté internationale ou des seuls Etats. Elle n’est pas non plus du seul ressort des citoyens, pris individuellement ou collectivement. Elle doit être partagée entre les différents partenaires de l’action publique. En d’autres termes, il n’y a pas lieu d’opposer la perspective traditionnelle et la perspective novatrice, la perspective autoritaire et la perspective démocratique. Il faut tenter de concilier ces différentes approches. L’intérêt pour la gouvernance ne peut être la préoccupation d’un seul groupe de personnes: les gouvernants, les parlementaires, les hauts fonctionnaires, les spécialistes de la gestion publique, les juges . . . Il gagne à être partagé. Mieux encore, il doit et peut devenir une exigence citoyenne. A ce moment, il devient l’affaire de tous. Le défi de toute société démocratique revient à ouvrir un dialogue à propos de la gouvernance. L’essentiel est de ne pas la considérer comme une évidence ou comme un acquis. Voire comme un corps de règles qui auraient été conçues in abstracto dans quelque enceinte internationale ou dans quelque centre universitaire de recherches. L’important, au contraire, est de débattre à tout instant des principes, des règles, des moyens et des résultats de la gouvernance. Ce débat peut s’instaurer au minimum sur deux plans. Le premier est celui de la définition des objectifs. Il faut le reconnaître. Les conventions internationales, les textes constitutionnels, les lois nationa-
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les ne sont pas toujours suffisamment explicites quant aux objectifs que les autorités publiques ont pour tâche de poursuivre. Ou alors les finalités affichées sont excessivement vagues et générales et donc peu opérationnelles. Dans la meilleure des hypothèses, ces instruments se contentent d’établir un catalogue d’actions à poursuivre mais ne se prononcent pas non plus sur les priorités qu’il y aurait lieu de faire respecter au moment des choix politiques. Faut-il privilégier, par exemple, la promotion des droits individuels ou faut-il donner la préférence aux droits collectifs? Un effort de clarification s’impose. C’est un élément essentiel de la gestion démocratique des affaires publiques. A chacun ses responsabilités. Les autorités politiques ne peuvent pas démissionner des tâches qui leur reviennent. Si elles n’étaient pas en mesure de se prononcer, la gouvernance serait comme un «train fou lancé dans le brouillard», pour citer un Premier ministre belge, Pierre Harmel. Elle manquerait de guide. Le second plan est celui de la méthode. Comment mettre en œuvre les règles de la gouvernance? La gouvernance implique le dialogue. Son message ne peut être unilatéral. Il ne peut être intermittent. S’il se veut démocratique, il doit répondre à plusieurs conditions. Il doit fonctionner régulièrement et non sporadiquement. Il doit s’intéresser aux choix importants de société et pas seulement aux questions de gestion courante. Il doit préserver les rôles de chacun, sans provoquer la confusion des pouvoirs. La gouvernance impose aussi le contrôle. Les techniques qu’elle met en œuvre ne sont pas aussi neutres qu’on veut bien le dire. Pourquoi, par exemple, traquer la corruption plutôt que de combattre les négligences et les retards? Les organes de contrôle, qu’ils soient internes ou externes et notamment les juridictions, ne sauraient mener le même combat sur tous les fronts. Ici aussi, des choix méthodologiques sont requis. Ils ne s’imposent pas d’eux-mêmes. 9. – La gouvernance doit se comprendre «en tout sens». Oserais-je écrire, sans avoir peur d’être mal compris que «le sens a plusieurs sens»? Le sens, c’est, d’abord, la signification des termes et des concepts. La gouvernance n’est assurément pas un terme univoque. Elle renvoie tantôt à des objectifs, tantôt à des moyens, souvent aux deux à la fois. Le sens, c’est aussi la direction à suivre. La gouvernance peut s’envisager dans une perspective autoritaire ou, au contraire, dans une perspective participative. Il n’est pas toujours commode de concilier ces deux mouvements, descendant et ascendant.
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Le sens, c’est encore l’utilité. A quoi sert, en définitive, la gouvernance? L’on répondra sans doute qu’elle doit contribuer à assurer une meilleure gestion des affaires publiques, à mieux faire tourner la machine administrative, à mieux assurer la distribution des services et des prestations aux citoyens? Et si elle devait aussi s’assigner un objectif plus ambitieux? La gouvernance ne sert à rien si elle n’apporte pas aux Etats et aux citoyens plus de démocratie. Elle n’est pas une technique neutre. Elle est un bienfait si elle permet aux sociétés politiques de progresser sur un chemin long et toujours à refaire qui est celui de la démocratie. Elle devient l’instrument privilégié pour instaurer un dialogue plus effectif entre l’Etat et les citoyens, entre l’Administration et les usagers, entre la société politique et la société civile. La gouvernance peut devenir une philosophie, et même une philosophie politique. Une philosophie politique qui stimulerait une démocratie dont les objectifs et les méthodes pourraient évoluer, s’améliorer, se perfectionner parce qu’ils seraient sans cesse mieux définis ou mieux conçus et qu’ils seraient mieux mis en œuvre. Une philosophie politique qui procurerait à la démocratie sa véritable dimension parce qu’elle serait tout entière tournée vers le citoyen. 9. – Au cours de sa carrière et dans l’ensemble de ses travaux, le Professeur Siedentopf n’a jamais manqué de développer une approche scientifique et rigoureuse de l’Administration et de ses techniques de gestion. Mais il a eu le mérite insigne de toujours replacer cette réflexion dans une perspective démocratique qui permette de réconcilier, pour citer Max Weber, le politique et le savant. Ces propos sur la gouvernance prendront peut-être la forme de ces fleurs en papier que les enfants composent sur les plages de l’Atlantique et dont ils ornent des monticules de sable. Le vent sans doute les emportera ou les déchirera. Comme celles du poète, elles n’auront vécu que l’espace d’un moment. Mais peut-être s’apparenteront-ils aussi à ces fleurs de soie – plus mystérieuses dans leur intemporalité, à la fois si ressemblantes et si différentes des réalités botaniques. Nous savons qu’avec son épouse, notre collègue aime les collectionner pour égayer des décors proches. Le vent, cette fois, se contentera d’agiter leurs pétales. Que le Professeur Siedentopf y trouve autant de messages d’amitié.
Zum gegenwärtigen Stand der Verwaltungslehre in Österreich Gerhart Holzinger I. Eine – persönliche – Vorbemerkung Aus gemeinsamer Teilnahme an zahlreichen Veranstaltungen des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts und vor allem aus der Zusammenarbeit zwischen dessen Deutscher Sektion und der Österreichischen Verwaltungswissenschaftlichen Gesellschaft kenne ich Heinrich Siedentopf seit langem. Ich schätze ihn außerordentlich, wegen seiner hohen fachlichen Kompetenz wie auch wegen seines kollegialen Wesens in der persönlichen Begegnung. Mit diesem Beitrag möchte ich zum einen diese persönliche Wertschätzung zum Ausdruck bringen. Zum anderen möchte ich Heinrich Siedentopf damit auch für die jahrzehntelange gute Zusammenarbeit herzlich danken. Die Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft hat durch ihn bei vielerlei Gelegenheiten, im Besonderen aber im Rahmen des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts, immer wieder Unterstützung und Hilfe erfahren. Insoferne hat sich der Jubilar auch große Verdienste um die Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft und letztlich um die Verwaltungswissenschaft in Österreich erworben. II. Zur historischen Entwicklung der Verwaltungslehre in Österreich Die Verwaltungslehre als eine multidisziplinäre wissenschaftliche Betrachtung der staatlichen Verwaltung1 hat in Österreich eine große Tradition.2 1 Für den Begriff der Verwaltungslehre in Österreich ist nach wie vor die Definition von K. Wenger, Verwaltungslehre als wissenschaftliche Disziplin, in: K. Wenger/C. Brünner/P. Oberndorfer, Grundriß der Verwaltungslehre, Wien 1983, S. 33, 38 prägend: „ ‚Verwaltungslehre‘ ist jene selbständige Disziplin der empirischen Sozialwissenschaften, welche die öffentliche Verwaltung als Teil der sozialen Wirklichkeit untersucht und sowohl das Sein der öffentlichen Verwaltung in ihren Zusammenhängen, Bedingungen, Ursachen und Wirkungen (kausal-deskriptiv) zu erklären als auch (präskriptive) Aussagen darüber zu gewinnen unternimmt, wie die öffentliche Verwaltung unter Beachtung der vorgegebenen Ziele, Werte und Aufgaben rational und möglichst effektiv gestaltet werden könnte und sollte.“
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Ihre Anfänge reichen, wenn man die Kameral- und Polizeiwissenschaft einbezieht, die als Vorläufer der modernen Verwaltungslehre gelten, bis in das 18. Jahrhundert zurück. Der wichtigste Vertreter der Kameral- und Polizeiwissenschaft in Österreich war Joseph von Sonnenfels (1732– 1817), dessen in den 1760er-Jahren in 1. Auflage erschienenes Lehrbuch „Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz“ eine erste wissenschaftlich-systematische Bearbeitung des Phänomens der staatlichen Verwaltung darstellt. Im 19. Jahrhundert wurde die Entwicklung der Verwaltungslehre in Österreich vor allem von Lorenz von Stein (1815–1890) geprägt. Der aus Schleswig-Holstein3 stammende Stein wurde 1855 als Professor für Politische Ökonomie an die Universität Wien berufen, wo er drei Jahrzehnte hindurch wirkte. In dieser Zeit erschienen seine Standardwerke, die umfassend angelegte, jedoch unvollständig gebliebene, achtteilige „Verwaltungslehre“ (1865 bis 1868) und das für Studienzwecke knapper gehaltene, zweibändige „Handbuch der Verwaltungslehre“, das 1870 in 1. Auflage erschien. Die Arbeiten von Stein erfuhren zwar noch zu dessen Lebzeiten eine Fortführung durch die Lehrbücher von Karl Theodor von Inama-Sternegg („Verwaltungslehre in Umrissen“, 1870) und Ludwig Gumplowicz („Verwaltungslehre mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Verwaltungsrechts“, 1882). In weiterer Folge wurde jedoch die Tradition einer multidisziplinären wissenschaftlichen Behandlung der öffentlichen Verwaltung durch die Dominanz der Verwaltungsrechtswissenschaft auf lange Zeit hin unterbrochen. Eingeleitet wurde diese Entwicklung schon mit den Werken von Friedrich Tezner4 und Josef Ulbrich („Lehrbuch des österreichischen Verwaltungsrechtes“, 1904). Den konsequentesten Ausdruck fand dieser Wandel der wissenschaftlichen Auffassung von der staatlichen Verwaltung jedoch durch die Wiener Rechtstheoretische Schule.5 Adolf Julius Merkl – 2 Vgl. dazu und zum Folgenden insbesondere: K. Wenger, Verwaltungslehre (Anm. 1) S. 38 ff.; K. Korinek, Stand und Aufgabe der Verwaltungslehre in Österreich, in: ZfV 1985, S. 1, sowie N. Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre, Wien 2004, S. 1 ff.; weiters auch W. Brauneder, Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Österreich, in: W. Brauneder, Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1994, S. 237. 3 Wie überhaupt die Entwicklung der Verwaltungslehre in Österreich gerade im 18. und 19. Jahrhundert von der in Deutschland nicht zu trennen ist; siehe dazu etwa W. Brauneder, Formen und Tragweite des deutschen Einflusses auf die österreichische Verwaltungsrechtswissenschaft 1850–1914, in: E. Heyen (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, Frankfurt am Main 1984, S. 249. 4 Siehe dazu W. Brauneder, Geschichte (Anm. 2) S. 243, und W. Antoniolli/F. Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1996, S. 140. 5 Siehe dazu B. Funk, Der Einfluß der „Wiener Schule des Rechtspositivismus“ auf die österreichische Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Heyen, Wissenschaft (Anm. 3), S. 105.
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neben Hans Kelsen deren bedeutendster Vertreter – beschreibt im Vorwort zu seinem wichtigsten Werk, „Allgemeines Verwaltungsrecht“ (1927), dessen Intention wie folgt: „. . . wie überhaupt den Staat, so auch die gesamte staatliche Verwaltung als Rechtsfunktion zu erkennen und die Lehre von diesem . . . Gegenstand zur Gänze als Rechtslehre zu begründen.“
Demgemäß kam in Österreich der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft durch Jahrzehnte hindurch geradezu ein Monopol auf die wissenschaftliche Behandlung der staatlichen Verwaltung zu. Neben dem genannten Werk Merkls ist hier vor allem jenes von Rudolf Herrnritt („Grundlehren des Verwaltungsrechts“, 1921) zu nennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand diese Tradition mit den Werken von Ludwig Adamovich sen.6 („Handbuch des österreichischen Verwaltungsrechts“, 1954) und Walter Antoniolli („Allgemeines Verwaltungsrecht“, 1954) ihre Fortsetzung. Erst Mitte der 1970er-Jahre kam es dann auch in Österreich, v. a. unter dem Einfluss der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, die ihrerseits maßgeblich von den Erkenntnissen der angloamerikanischen Verwaltungswissenschaft geprägt war, zu einer Renaissance der Verwaltungslehre als einer gesamthaften Betrachtung des Phänomens der staatlichen Verwaltung. Der Verlauf dieser Entwicklung und ihr gegenwärtiger Stand bilden den Gegenstand der folgenden Ausführungen. III. Das verwaltungswissenschaftliche Schrifttum Gewissermaßen am Beginn der Wiederbelebung der Verwaltungslehre in Österreich in den 1970er Jahren stand eine aus zehn Bänden bestehende Studie zum Thema „Verwaltung in der Demokratie“, die zwischen 1975 und 1981 im Auftrag des Bundeskanzleramtes von der Abteilung Politikwissenschaft des Instituts für Höhere Studien in Wien zu Problemen einer umfassenden Reform der österreichischen Verwaltung erstellt wurde. Diese Studie ist deshalb besonders bemerkenswert, weil ihr – erstmals seit langem – ein interdisziplinärer Ansatz bei der wissenschaftlichen Behandlung der staatlichen Verwaltung zu Grunde lag und sie – ganz bewusst – versuchte, die traditionelle rechtswissenschaftliche Betrachtungsweise zu überwinden.7 Einen ersten wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Renaissance der Verwaltungslehre in Österreich bildete dann im Jahr 1983 das Erscheinen des von Karl Wenger, Christian Brünner und Peter Oberndorfer heraus6 7
Der schon 1924 das Werk „Österreichisches Verwaltungsrecht“ publiziert hatte. Siehe dazu K. Wenger, Verwaltungslehre (Anm. 1), S. 58.
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gegebenen Lehrbuchs „Grundriß der Verwaltungslehre“. Das Werk ist – ausweislich des Vorworts – „eine interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit von zwölf Autoren, denen, obgleich von verschiedenen Disziplinen her kommend bzw. in verschiedenen Sparten der Verwaltungspraxis tätig, die wissenschaftliche Analyse des gegenwärtigen Istzustandes und der aktuellen Entwicklung der öffentlichen Verwaltung sowie der sich daraus ergebenden Konsequenzen gemeinsames Anliegen ist. . . . Obgleich formal als Sammelwerk von elf Einzelbeiträgen angelegt, will der . . . Grundriß doch eine abgerundete Einführung in die Hauptprobleme der gesamten Verwaltungslehre bieten.“8
Diesem „Grundriss“ folgte im Jahr 1992 die vom Bundeskanzleramt herausgegebene Publikation „Die öffentliche Verwaltung in Österreich“. Sie stellt in dreizehn von insgesamt sechzehn Autoren verfassten Beiträgen9 eines Sammelbandes die wichtigsten Aspekte der österreichischen Verwaltung im Überblick dar. Die auch in englischer und französischer Sprache erschienene Publikation sollte aus Anlass des 22. Internationalen Kongresses für Verwaltungswissenschaften,10 der in der Zeit von 13. bis 17. Juli 1992 in Wien stattfand, einem weltweiten Publikum Informationen über die österreichische Verwaltung näher bringen und damit einen Beitrag zum Verständnis der österreichischen Verwaltungstradition, aber auch des gegenwärtigen Standes und der künftigen Entwicklung der österreichischen Verwaltung 8 Folgende Autoren haben dabei die nachstehend genannten Beiträge verfasst: K. Wenger, Verwaltungslehre als wissenschaftliche Disziplin; C. Brünner, Aufgaben der Verwaltung; B. Raschauer/W. Kazda, Organisation der Verwaltung; H. Schäffer, Verwaltungspersonal; W. Pichler, Sachmittel der Verwaltung; E. Thöni, Finanzmittel der Verwaltung; R. Schauer, Handlungsmaßstäbe der Verwaltung; G. Reber, Führung, Management und Entscheidungsvorgänge in der Verwaltung; W. Schwab, Kontrollen in der Verwaltung; G. Holzinger, Verwaltungsreform; P. Oberndorfer, Verwaltung und Umwelt. 9 Im Einzelnen sind dies: H. Dörfler, Die Republik Österreich: Zahlen und Fakten; W. Brauneder, Geschichte der österreichischen Verwaltung; R. Novak, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Verwaltung; B. Raschauer, Die Aufgaben der Verwaltung; W. Brandtner, Die Organisation der staatlichen Verwaltung; G. Wielinger, Die Gemeindeverwaltung; G. Gruber, Das Verwaltungsverfahren; H. Haller/W. Schwab/N. Schwärzler, Die Kontrolle der Verwaltung; P. Gerlich, Politik und Verwaltung; C. Jabloner, Das Personal der Verwaltung; M. Lödl/A. Matzinger, Das öffentliche Haushaltswesen; A. Winter, Die automationsunterstützte Datenverarbeitung in der Verwaltung; W. Fremuth, Öffentliche Unternehmen und Betriebe in einem demokratischen Rechtsstaat. 10 Damit folgt die Publikation dem Beispiel des 1981 von Klaus König, HansJoachim von Oertzen und Frido Wagener in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften – für den 1983 in Berlin stattgefundenen Kongress des IIAS – herausgegebenen Sammelbandes „Öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland“; siehe nunmehr K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, BadenBaden 1997.
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leisten; überdies sollte die Publikation auch – im nationalen Rahmen – als Nachschlagewerk dienen. Eine Fortsetzung fand diese Publikationstätigkeit mit dem von Gerhart Holzinger, Peter Oberndorfer und Bernhard Raschauer herausgegebenen Lehrbuch „Österreichische Verwaltungslehre“, das 2001 in erster und 2006 in zweiter – überarbeiteter und erweiterter – Auflage erschien. Auch dabei handelt es sich um ein aus Beiträgen verschiedener Autorinnen bzw. Autoren bestehendes Sammelwerk.11 Zu seiner Charakterisierung wird im Vorwort zur 1. Auflage u. a. Folgendes ausgeführt: „Anhand von zentralen Themen und Fragestellungen sollen . . . Stand und Entwicklungsperspektiven der öffentlichen Verwaltung an der Wende zum 3. Jahrtausend näher beleuchtet werden. Die Verwaltungslehre, mit ihrer in Österreich schon bald 150jährigen Tradition, ist jene wissenschaftliche Disziplin, die die Wirklichkeit der öffentlichen Verwaltung zum Gegenstand hat. Dem entsprechend verfolgen wir mit diesem Lehrbuch das Anliegen, den Istzustand, die gegenwärtigen Hauptprobleme und die aktuellen Entwicklungen der öffentlichen Verwaltung in Österreich darzustellen. Das Werk ist in Zusammenarbeit von acht Autoren entstanden, die in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft oder in der Verwaltungspraxis tätig sind. Mit den acht Beiträgen soll eine abgerundete Einführung in die Grundfragen der gesamten Verwaltungslehre geboten werden. . . . Der Hauptakzent des Lehrbuches liegt auf einer möglichst praxisnahen Vermittlung des gleichsam standardisierten Wissens über die öffentliche Verwaltung in Österreich. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, neuere Entwicklungen in der öffentlichen Verwaltung anzusprechen und . . . darzustellen. Als Beispiele seien die zahlreichen Ausgliederungen durch Organisationsprivatisierung, das Konzept des New Public Management, Bench-Marking oder E-Government genannt.“
Ähnlich bedeutsam wie die genannten Sammelwerke sind für die Entwicklung der österreichischen Verwaltungslehre in neuerer Zeit auch zwei Monographien von Norbert Wimmer, und zwar das „Einmaleins der Verwaltungsreform“ (Berlin 1977) und die „Dynamische Verwaltungslehre. Ein Handbuch der Verwaltungsreform“ (Wien, New York 2004). Das erstgenannte Werk basiert auf den praktischen Erfahrungen des Autors bei der Vorbereitung und Umsetzung von Verwaltungsreformvorhaben in Südtirol und versteht sich – wie schon der Titel besagt – als eine wissenschaftlich fundierte Handlungsanleitung für Reformen in der Verwaltung. 11 Das – gegenüber der 1. Auflage um einen Beitrag über „E-Government“ erweiterte – Werk weist in 2. Auflage nunmehr folgende Beiträge der nachstehend genannten Autorinnen bzw. Autoren auf: P. Oberndorfer, Die Verwaltung im politisch-gesellschaftlichen Umfeld; G. Holzinger, Die Organisation der Verwaltung; B. Raschauer, Verwaltungsaufgaben; F. Strehl, Die Arbeitsweise der Verwaltung; G. Trauner, E-Government; K. Hartmann, Das Personal der Verwaltung; M. Lödl, Die Finanz- und Sachmittel der Verwaltung; H. Neisser, Die Kontrolle der Verwaltung; H. Dossi/W. D. Grussmann, Die Europäisierung der Verwaltung.
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Die „Dynamische Verwaltungslehre“ behandelt in umfassender Weise sämtliche Fragen, die sich dieser wissenschaftlichen Disziplin gegenwärtig stellen. Das Anliegen, das der Autor mit dem Werk verfolgt, beschreibt er im Vorwort wie folgt: „Dynamisch will die Verwaltungslehre insb aus zweierlei Gründen sein. Zum einen ist gerade die Verwaltungslehre jene Disziplin, in der sich die Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft mit besonderer Deutlichkeit und Dichte fokussieren. . . . Zum anderen ist es Ziel dieses Grundrisses, die handelnden Personen in der Verwaltung wieder stärker zu beleuchten, also der Frage nach dem Was, Warum und Wie des Verwaltens nachzugehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Entscheidung. Näherhin geht es um die Wurzeln der Entscheidungsrationalität, um die Motive und psychischen Befindlichkeiten der in der Verwaltung handelnden Akteure und ihre Wettbewerbs- bzw. Konfliktstrategien. . . . Verwaltung per se ist einer ständigen Veränderung in organisatorischer und funktioneller Hinsicht ausgesetzt. . . . Die Erkenntnisrichtung der Dynamischen Verwaltungslehre bestimmt naturgemäß ihre Darstellungsweise. Methodisch beruht sie auf einem pluralistischen Ansatz, wobei der juristische Ausgangspunkt dominiert.“12
Neben den bisher genannten Werken, die den aktuellen Stand der Verwaltungslehre in Österreich gesamthaft prägen, sind weiters zwei Sammelbände zu erwähnen, denen es vor allem darum geht, die Bedeutung des New Public Management für die Reform der österreichischen Verwaltung umfassend zu analysieren. Dabei handelt es sich zum einen um das von Heinrich Neisser und Gerhard Hammerschmid herausgegebene Werk „Die innovative Verwaltung – Perspektiven des New Public Management in Österreich“ (Wien 1998)13 und zum anderen um den Sammelband „Öffentliches Management in Österreich – Realisierungen und Perspektiven“ (Wien 2003)14, für das Helfried Bauer, Peter Biwald und Elisabeth Dearing als Herausgeber zeichnen. Mit Blick auf die Verwaltungen der österreichischen Bundesländer ist hier schließlich die Monographie von Peter Bußjäger „Die Organisations12 Im Einzelnen enthält das Werk neben einer einleitenden Abhandlung über die Geschichte und die aktuelle Lage der Verwaltungslehre im deutschsprachigen Raum Ausführungen zum Begriff der Verwaltungslehre, zu den Aufgaben der Verwaltung, zu deren Organisation sowie zum Personal der Verwaltung, eine Entscheidungslehre und einen Abschnitt betreffend die Reform der Verwaltung. 13 Das Werk enthält insgesamt 20 Beiträge von 22 Autorinnen und Autoren. Es ist in vier Hauptabschnitte gegliedert: Theoretische Grundlagen und Konkretisierungen des NPM; Der internationale Kontext – NPM-Reformen im Ausland; NPM im österreichischen Kontext; Perspektiven der österreichischen Verwaltungsmodernisierung. 14 Das Werk enthält insgesamt 17 Beiträge von ebenso vielen Autorinnen und Autoren. Es ist in drei Teile gegliedert: Öffentliches Management – Strategien, Wege und Erfordernisse im Überblick; Zur Umsetzung von NPM in österreichischen öffentlichen Verwaltungen; Perspektiven und neue Ansätze.
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hoheit und Modernisierung der Landesverwaltungen. Eine verfassungsdogmatische und verwaltungswissenschaftliche Untersuchung“ (Wien 1999) zu nennen, die eine fundierte Studie der Organisation der österreichischen Landesverwaltung, ihrer Abläufe und Strukturen sowie ihrer Reform zum Gegenstand hat. Unter den wissenschaftlichen Periodika mit spezifischer Bedeutung für die Verwaltungslehre in Österreich ist in erster Linie die „Zeitschrift für Verwaltung“ (ZfV) hervorzuheben. Sie wird seit 1976 von Heinz Peter Rill, nunmehr gemeinsam mit Georg Lienbacher, herausgegeben und erscheint sechsmal jährlich. Das mit der Zeitschrift verbundene verwaltungswissenschaftliche Anliegen kommt im Geleitwort des Herausgebers zur Nr. 1/1976 treffend wie folgt zum Ausdruck: „In Sachen ‚Verwaltungslehre‘ wird es das Bestreben der ZfV sein, die Pflege der zur Verwaltungslehre zählenden Disziplinen in Österreich endlich voranzutreiben. Hier wird freilich mit Anfangsschwierigkeiten zu rechnen sein. Dennoch muß der Versuch unternommen werden, der Verwaltungslehre einen Platz neben der Verwaltungsrechtswissenschaft einzuräumen. Gerade eine Zeitschrift, die wie die ZfV wissenschaftlicher Ratgeber der Verwaltung sein will, darf sich angesichts der vielfältigen Staatsaufgaben, die die Verwaltung heute zu bewältigen hat, nicht auf die Pflege des Verwaltungsrechts beschränken.“
Verwaltungswissenschaftliche Bedeutung kommt seit langem15 auch der vom Österreichischen Städtebund herausgegebenen „Österreichischen Gemeindezeitung“ (ÖGZ) zu. Verwaltungswissenschaftliche Themen greift weiters regelmäßig auch die viermal jährlich erscheinende Zeitschrift „Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich“ auf, die seit 1960 vom Verein „Gesellschaft für das Öffentliche Haushaltswesen“ herausgegeben und seit langem von Walter Schwab redaktionell betreut wird. Schließlich bietet auch das 1993 gegründete, vierteljährlich erscheinende „Journal für Rechtspolitik“, dessen Schriftleitung bei Michael Holoubek und Georg Lienbacher liegt, immer wieder, vor allem jüngeren Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, Platz für verwaltungswissenschaftliche Beiträge.16
15
Die ÖGZ erschien erstmals 1924 und wurde, nach einer Unterbrechung in den Jahren 1934 bis 1945, 1946 wieder begründet. 16 Z. B.: H. Eberhard/C. Konrath/R. Trattnig/S. Zleptnig, Governance – Zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, in: JRP 2006, S. 35; E. Rumler-Korinek, „Governance“ und „Accountability“ – Reine Modeworte oder Schlüsselbegriffe einer Demokratie auf EU-Ebene, in: JRP 2004, S. 227.
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IV. Institutionen mit Bedeutung für die Verwaltungslehre Was die institutionelle Verantwortung der Verwaltungslehre anbetrifft, ist in erster Linie die „Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft“ (ÖVG) zu nennen.17 Dabei handelt es sich um einen Verein im Sinne des österreichischen Vereinsgesetzes. Er ist zugleich die nationale Sektion des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts. Der Verein wurde im Jahr 1949 unter dem Namen Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Vereinigung gegründet. Der nunmehrige Vereinsname wurde mit einer im Jahre 1988 beschlossenen Statutenänderung festgelegt. Zweck des unpolitischen, gemeinnützigen und nicht auf Gewinn berechneten Vereines ist es – laut seinen Statuten – „a) der Österreichischen Verwaltung durch wissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts, der Verwaltungslehre und der Verwaltungspolitik sowie durch Vermittlung von Kenntnissen ausländischer und supranationaler Verwaltungseinrichtungen neue Impulse zu geben; b) an der statutenmäßigen Tätigkeit des ‚Internationalen Instituts‘ in jenem Rahmen, der den nationalen Sektionen zugewiesen ist, mitzuarbeiten.“
Mittel zur Erreichung dieses Vereinszweckes sind in der Praxis vor allem die Durchführung verwaltungswissenschaftlicher Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, die Herausgabe von Publikationen und die Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen, in erster Linie jener des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts. Die Tagungen der ÖVG werden überwiegend in nationalem Rahmen, teils aber auch in Kooperation mit der Deutschen Sektion des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts und der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaft als sogenannte „Drei-Länder-Tagungen“ durchgeführt.18 Seit 2003 gibt die ÖVG auch eine Schriftenreihe19 heraus, in der vor allem die Ergebnisse der Tagungen der ÖVG publiziert werden. Weiters erscheinen seit 2005 im Rahmen des Journals der Sicherheitsakademie des Bundesministeriums für Inneres – vierteljährlich – die „Österreichischen Verwaltungswissenschaft17 Dazu eingehend: G. Holzinger, Das Internationale Verwaltungswissenschaftliche Institut und die Verwaltungswissenschaft in Österreich, in: C. Baudenbacher (Hrsg.), Ein Leben in Praxis und Wissenschaft: Festschrift Walter Barfuß zum 65. Geburtstag, Wien 2002, S. 95, 105. 18 Seit 1990 wurden bisher neun derartige Drei-Länder-Tagungen durchgeführt, bei denen Vertreter der drei Sektionen aktuelle Fragen von gemeinsamem verwaltungswissenschaftlichen oder -praktischen Interesse in Referaten und Diskussionen erörtern. Die Ergebnisse dieser Tagungen werden regelmäßig auch publiziert. 19 Bisher sind in dieser Schriftenreihe erschienen: Bd. 1: Europäisierung der öffentlichen Verwaltung (2003); Bd. 2: Der öffentliche Dienst im gesellschaftlichen System 2003 plus – Neue Herausforderungen (2005); Bd. 3: Verwaltung im Umbruch (2007).
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lichen Blätter“, ein von der ÖVG herausgegebenes Periodikum, dessen Schriftleitung beim früheren Generalsekretär der ÖVG, Theodor Thanner, liegt und das verwaltungswissenschaftliche Fachbeiträge und Informationen über die Aktivitäten der ÖVG und des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts enthält.20 Die ÖVG hat in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Teilnahme österreichischer Delegationen an den Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Kongressen und die Erarbeitung der nationalen Berichte zu den Kongressthemen einen wertvollen Beitrag zur Transformierung verwaltungswissenschaftlicher Erkenntnisse von der internationalen auf die nationale Ebene geleistet und damit wichtige Impulse für eine Wiederbelebung der Verwaltungslehre in Österreich nach Jahrzehnten der durch die Dominanz der ausschließlich rechtswissenschaftlichen Betrachtung der öffentlichen Verwaltung bedingten Stagnation gegeben.21 Hervorzuheben ist auch die besonders aktive Rolle der ÖVG im Rahmen des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts. Sie fand und findet vor allem in der Durchführung des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Kongresses in den Jahren 1962 und 1992 in Wien sowie in der Wahl einer ganzen Reihe von Mitgliedern der ÖVG in Leitungsfunktionen des IIAS ihren Niederschlag.22 Institutionelle Bedeutung für die Verwaltungslehre in Österreich kommt weiters dem „Führungsforum Innovative Verwaltung“ (FIV) zu. Dabei handelt es sich um einen Verein, der sich die Vertretung von Führungskräften in Verwaltungsorganisationen der österreichischen Gebietskörperschaften und Selbstverwaltungskörper sowie solcher Rechtsträger zum Ziel gesetzt hat, die unter einem bedeutenden Einfluss der Gebietskörperschaften stehen. Das FIV strebt – nach eigener Darstellung –23 „die Themenführerschaft für Innovationen in der Verwaltung und in ihrer Führung an. [E]s tritt in der Öffentlichkeit für die Anliegen der Führungskräfte der Verwaltung ein [und] bietet seinen Mitgliedern eine Plattform für Information und Kommunikation sowie für Kontakte, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung.“ 20 Die „Österreichischen Verwaltungswissenschaftlichen Blätter“ entsprechen insoferne etwa den „Verwaltungswissenschaftlichen Informationen“ der Deutschen Sektion des Internationalen Verwaltungswissenschaftlichen Instituts. 21 In diesem Sinne etwa Wenger, Verwaltungslehre (Anm. 1), S. 55. 22 So gehörten etwa Gerhart Holzinger (1989–1998) und Christa Achleitner (1998–2001) dem Exekutivkomitee des IIAS an. Manfred Matzka ist derzeit (seit 2001) Mitglied dieses Leitungsgremiums des IIAS, Franz Strehl fungierte von 1998 bis 2004 als Vorsitzender des Forschungsbeirates und ist seit 2004 Präsident des IIAS. 23 Vgl. www.fiv.at.
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Das FIV organisiert in regelmäßigen Abständen Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zu aktuellen Themen der öffentlichen Verwaltung – sogenannte „Themenforen“. In Zusammenarbeit mit der „Wiener Zeitung“24 – einer österreichischen Tageszeitung – gibt das FIV seit 2002 fünf Mal pro Jahr die Zeitschrift „VerwaltungInnov@tiv“ mit Beiträgen zu allen Themenbereichen der öffentlichen Verwaltung – national wie international – heraus. Die Zeitschrift erscheint als Beilage zur „Wiener Zeitung“25. Zwischen der ÖVG und dem FIV besteht eine enge Kooperation, die sicherstellen soll, dass die ohnedies beschränkten verwaltungswissenschaftlichen Kapazitäten in Österreich koordiniert eingesetzt werden. Eine wichtige Rolle für die verwaltungswissenschaftliche Forschung in Österreich spielt weiters das – 1969 auf Initiative des Österreichischen Städtebundes von der Stadt Wien und der damaligen Zentralsparkasse der Stadt Wien als gemeinnütziger Verein gegründete – „Kommunalwissenschaftliche Dokumentationszentrum“ (KDZ), nunmehr – auf Grund einer Reorganisation im Jahr 1999 – „KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung“. Ziel des KDZ ist die „Grundlagenarbeit zu verschiedenen wirtschaftlichen Schwerpunkten der öffentlichen Aufgabenerfüllung, vor allem öffentliche Finanzwirtschaft und Verwaltungsmanagement“26. Im Rahmen einer „KDZ – Managementberatungs- und Weiterbildungs GmbH“, die im Eigentum des Vereins steht, führt das KDZ auch Management- und Organisationsberatung von öffentlichen Verwaltungen sowie Weiterbildungsveranstaltungen durch und gibt das viermal jährlich erscheinende Periodikum „Forum Public Management – Top-Infos für die öffentliche Verwaltung“ heraus, das jeweils Beiträge zu aktuellen Themen für Verwaltung und Politik sowie eine Literaturdokumentation enthält. Die 1975 mit dem Verwaltungsakademiegesetz als nachgeordnete Dienststelle des Bundeskanzleramtes errichtete Verwaltungsakademie des Bundes hat in den rund 30 Jahren ihres Bestandes für die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in Österreich in Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben der Aus- und Fortbildung der Bundesbediensteten viel Positives bewirkt. Die in die Verwaltungsakademie gesetzte Hoffnung, sie könnte zu einem „Kristallisationspunkt“ auch der verwaltungswissenschaftlichen Forschung werden, hat sich jedoch nicht erfüllt.27 Im Jahr 2002 wurde die Verwaltungsakademie mit dem Deregulierungsgesetz – Öffentlicher Dienst überhaupt ab24 Die „Wiener Zeitung“ steht – über eine GmbH – im Eigentum des Bundes und ist die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt (erstmals: 08.08.1703). 25 Vorläufer dieser Zeitschrift war das seit 1995 in gleicher Weise erscheinende Periodikum „Verwaltung Heute“. 26 www.kdz.or.at.
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geschafft und wurden ihre Aufgaben im Wesentlichen dem für den öffentlichen Dienst zuständigen Bundesministerium übertragen. Sie werden dort nunmehr von der Abteilung „Dienstliche Aus- und Weiterbildung“ der Sektion „Öffentlicher Dienst und Verwaltungsreform“ des Bundeskanzleramtes28 wahrgenommen, und zwar – abgesehen von der sogenannten „Grundausbildung“, die im Wesentlichen den Ressorts der Bundesverwaltung übertragen wurde – in durchaus ähnlicher Weise wie früher von der Verwaltungsakademie. Ähnliches wie für die Verwaltungsakademie gilt für die Universitäten: Auch sie könnten eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung der Verwaltungslehre in Österreich spielen. Tatsächlich trifft dies aber nur ansatzweise zu. Was die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten anlangt, so bestehen in Graz, Linz und Innsbruck Institute u. a. für Verwaltungslehre. An diesen Fakultäten ist die Verwaltungslehre auch im Studienplan ausdrücklich als Studienfach vorgesehen; nicht hingegen in Wien und Salzburg, dort spielt sie allenfalls als Teil des Faches „Allgemeines Verwaltungsrecht“ eine – marginale – Rolle. Im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften gehen recht bemerkenswerte Impulse für die Verwaltungslehre vom Institut für Public Management an der Wirtschaftsuniversität Wien aus. Es pflegt ebenso wie das Institut für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Linz eine besonders enge und beiderseitig vorteilhafte Kooperation mit der Verwaltungspraxis (v. a. Bundeskanzleramt, Land Oberösterreich, Stadt Linz). Aber auch an den Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten anderer österreichischer Universitäten (Linz: Institut für Betriebswirtschaftslehre der Gemeinwirtschaftlichen Unternehmen; Innsbruck: Institut für Strategisches Management – Tätigkeitsbereich Verwaltungsmanagement; Klagenfurt: Abteilung für Öffentliche Betriebswirtschaftslehre) bildet die Verwaltungslehre einen Lehr- und Forschungsgegenstand.29 Bemerkenswerte verwaltungswissenschaftliche Akzente setzt nunmehr auch die auf universitäre Weiterbildung spezialisierte Donau-Universität Krems. Im Rahmen des im Department für Governance & Public 27 So schon K. Korinek, Stand (Anm. 2) S. 2; ähnlich auch N. Wimmer, Verwaltungslehre (Anm. 2) S. 13 f.; siehe auch T. Öhlinger, Die Verwaltungsakademie – Was leistet sie, was sollte sie leisten? in: ZfV 1991, S. 396. 28 Das für „Allgemeine Angelegenheiten der staatlichen Verwaltung“ sowie für den öffentlichen Dienst zuständige Bundeskanzleramt (vgl. Abschn. A. Z. 5 und 6. des Teiles 2 der Anlage zum BundesministerienG) entwickelt übrigens auch eine verwaltungswissenschaftlich durchaus relevante Publikationstätigkeit zu Fragen der staatlichen Verwaltung; vgl. dazu etwa die Hinweise im Literaturverzeichnis von B. Holzinger/P. Oberndorfer/B. Raschauer, Verwaltungslehre, S. 459. 29 All das vermittelt den Eindruck, dass die Befassung mit Fragen der Verwaltungslehre mittlerweile in den Wirtschaftswissenschaften intensiver ist als in der Rechtswissenschaft – für Österreich ein beachtlicher Wandel!
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Administration – neben einem Zentrum für E-Government – eingerichteten Zentrums für Europäische Verwaltungswissenschaft wird ein postgradualer (viersemestriger) Universitätslehrgang angeboten, der mit einem Master of Public Administration abschließt. Zu erwähnen ist hier weiters noch das „Institut für Föderalismus“ in Innsbruck. Es wurde 1975 als „Institut für Föderalismusforschung“ von den Ländern Tirol und Vorarlberg gegründet, seit 2003 sind auch die Länder Niederösterreich und Oberösterreich Träger des Instituts. Aufgabe des Instituts ist – wie der Name sagt – in erster Linie die Föderalismusforschung. Seine zahlreichen und qualitativ hochwertigen Veranstaltungen und Publikationen weisen jedoch immer wieder auch Bezüge zur Verwaltungslehre auf.30 V. Eine Bewertung In seinen „Betrachtungen aus Anlaß des Erscheinens des Grundrisses der Verwaltungslehre von Wenger, Brünner und Oberndorfer“ konstatierte Karl Korinek im Jahr 1985, dass es „um die wissenschaftliche Pflege der Verwaltungslehre in Österreich nicht zum Besten bestellt“ sei.31 Recht ähnlich fällt rund 20 Jahre später die Einschätzung von Norbert Wimmer in seiner „Dynamischen Verwaltungslehre“ aus: Zwar habe der „aktuelle Stand der Verwaltungslehre in Österreich . . . zweifellos viel Positives vorzuweisen“. Ihr „Grundproblem, d.h. ihre Abhängigkeit von der Verwaltungsrechtslehre,“ habe sie jedoch nach wie vor nicht überwunden. Daraus folge – so Wimmer weiter – „mangelnde Praxisrelevanz“ und „mangelnde Wettbewerbsfähigkeit“ der Verwaltungslehre.32 Ungeachtet einer Reihe durchaus positiver Ansätze im verwaltungswissenschaftlichen Schrifttum, aber auch in institutioneller Hinsicht, – die aufzuzeigen das Anliegen dieses Beitrages war – wird man diesen skeptischen Analysen wohl für die aktuelle Situation Recht geben müssen. Diese positiven Ansätze sind nämlich nur punktuell und bilden kein zusammenhängendes Ganzes. Das Dilemma der Verwaltungslehre in Österreich besteht – nach wie vor – vor allem im Fehlen eines „Kristallisationspunktes“, so wie er etwa in Deutschland in Form der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer besteht. Meines Erachtens war es ein Fehler, die Verwaltungsakademie des Bundes in ihrer ursprünglichen Form abzuschaffen. Auch wenn es richtig ist, dass diese Einrichtung die in sie gesetz30 So etwa die oben in Pkt. III genannte Monographie von Bußjäger, die als Band 27 der Schriftenreihe des Instituts für Föderalismusforschung erschienen ist. 31 K. Korinek, Stand (Anm. 2), S. 2. 32 N. Wimmer, Verwaltungslehre (Anm. 2), S. 17 ff.
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ten Erwartungen nicht erfüllt hat, so war die Auflösung der Institution demnach die falsche Reaktion auf dieses Manko. Richtig wäre es meines Erachtens gewesen, die Verwaltungsakademie in einem mutigen, zukunftsorientierten Schritt organisatorisch und personell zu reformieren und – ganz im Sinne der Gesetzesmaterialien zum Deregulierungsgesetz – Öffentlicher Dienst33 – „das ambitionierte Vorhaben, die Verwaltungsakademie als qualitativ hochwertige ‚Kaderschmiede‘ mit einem verwaltungswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt zu positionieren,“ zu verwirklichen. Dass an Stelle dessen die Institution abgeschafft wurde, zeugt nicht gerade von politischer Weitsicht.
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1182 BlgNR 21. GP, S. 48.
Verwaltungswissenschaft im Zeichen der Globalisierung und Europäisierung Klaus König I. Vergleichende Verwaltungswissenschaft Die öffentliche Verwaltung ist zugleich kulturell gebunden wie universell durchformt. Die kulturelle Bindung tritt von vornherein so deutlich hervor, dass für die Verwaltungswissenschaft keine Verallgemeinerungsmöglichkeiten bestehen, wie sie etwa die Wirtschaftswissenschaft als Universalien des Marktgeschehens voraussetzt. „Heroische“ Annahmen nach Art eines „homo oeconomicus“ entbehren für den Administrator öffentlicher Angelegenheiten von vornherein der Plausibilität. Man mag eine universelle Geltung der Menschenrechte für alle öffentlichen Verwaltungen intendieren. Aber Menschenrechte sind eine Hervorbringung der okzidentalen Kultur und ihr individualistisches Verständnis mag in Asien auf eine kollektivistische Tradition der Wertegemeinschaft stoßen. Dem Ausland zugewandte Verwaltungszweige, wie etwa die Zollverwaltung, mögen Isomorphien in Organisations-, Verfahrens- und Personalstruktur zeigen. Aber in der Informalität zeigt eine solche Verwaltung etwa in Südamerika ihre eigenen Verhaltensmuster. Kulturelle Prägungen der öffentlichen Verwaltung reichen von der Organisationskultur einer Behörde über lokale und regionale Eigenheiten bis hin zu Kulturkreisen wie den der klassisch-kontinentaleuropäischen Verwaltung. Nach wie vor ist es indessen die territorial-nationale Staatsbildung, die die öffentliche Verwaltung der Moderne in erster Linie definiert. Die Verwaltungswissenschaft sieht sich entsprechend vor allem an diesen Erfahrungsgegenstand gebunden. Es entspricht dann dem Herkommen sich ausdifferenzierender Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Kontinentaleuropa, den umfassenderen Räumen öffentlicher Verwaltung durch internationales Recht und Rechtsvergleichung nachzugehen. Sieht man auf das akademische Zuhause von Heinrich Siedentopf, so gehört ein völkerrechtlicher Lehrstuhl zur Grundausstattung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, und wenn man in einem älteren Wörterbuch des Völkerrechts nachschlägt, so stammt der dortige Artikel zu den Internationalen Verwaltungsgemeinschaften aus Speyerer
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Feder.1 Auch rechtsvergleichende Beiträge etwa zum Verwaltungsverfahren sind hier früh zu verzeichnen.2 Zu einer prinzipiellen Perspektivenerweiterung kam es Anfang der 1960er Jahre, als in Speyer ein Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft eingerichtet wurde. Das war der erste spezifische verwaltungswissenschaftliche Lehrstuhl überhaupt und in seiner Ausrichtung zukunftsweisende Hochschulpolitik. Sie wurde dadurch belohnt, dass es gelang, eine hervorragende Wissenschaftlerpersönlichkeit für die Hochschule und das Institut zu gewinnen. Fritz Morstein Marx war Regierungsrat in Hamburg gewesen, als es ihm gelang, durch ein Forschungsstipendium in den USA den dunklen Jahren Deutschlands zu entkommen. Er machte in den Vereinigten Staaten als Professor wie als Verwaltungspraktiker eine Karriere, die ihn nach Harvard und Princeton und bis in das Budgetbüro des amerikanischen Präsidenten führte. Als Bürger zweier Welten baute er an der transatlantischen Brücke, über die er deutsche und kontinentaleuropäische Verwaltungskultur in die USA, die amerikanische Verwaltung nach Speyer und auf den alten Kontinent vermittelte.3 1968 folgte Roman Schnur auf dem Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft: an der Grenze zu Frankreich geboren, frankophon und frankophil, wie sein Vorgänger eine Wissenschaftlerpersönlichkeit mit eigenem starken Profil. Schnur setzte in Speyer seine Beschäftigung mit der französischen Verwaltung und ihrem Verwaltungsrecht fort. Es gelang ihm zu einem frühen Zeitpunkt, Verbindungen zu den polnischen Universitäten herzustellen. Seine vielfältigen wissenschaftlichen Beziehungen reichten bis zu Entwicklungsländern. Aber im Grunde war er ein Gebildeter Mitteleuropas, worunter er einen weiten Kulturraum verstand. Der europäische Gedanke war so in einer territorialen Dimension in der Speyerer Lehre und Forschung verankert, bevor man überhaupt an eine Union mit ost- und südosteuropäischen Ländern denken konnte.4 1973 wurde Heinrich Siedentopf auf den Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft berufen. Nach Studienjahren in Frankreich ist er zum ersten Ansprechpartner unseres westlichen Nachbarn in Verwaltungsangelegenheiten geworden. Für die Wissenschaftsgemeinschaft mit osteuro1 Vgl. H. Bülck, Internationale Verwaltungsgemeinschaften, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., Berlin 1962, S. 564 ff. 2 Vgl. C. H. Ule, u. a. (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetze des Auslandes, Berlin 1967. 3 Vgl. F. Morstein Marx (ed.), Elements of Public Administration, 2. Aufl., Englewood Cliffs N.J. 1959; ders., Amerikanische Verwaltung, Berlin 1963. 4 Vgl. R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, Berlin 1962; ders., Polen in Mitteleuropa, Baden-Baden 1984.
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päischen Ländern, vor allem mit Polen, leistete er noch zu Zeiten des realen Sozialismus Außerordentliches. Aus vielen Gründen, nicht zuletzt durch seine Aktivitäten im Internationalen Institut für Verwaltungswissenschaften wurde er zu einem Kosmopoliten in Verwaltungsangelegenheiten. In seiner Weltläufigkeit lassen sich viele Regionen bezeichnen, die ihn unter dem Vorzeichen der öffentlichen Verwaltung interessiert haben. Zwei Schwerpunkte sollen genannt werden: Asien, wie der Dialog mit Thailand, Gastprofessuren in Singapur und nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit China belegen, und dann das sich integrierende Europa, zu dessen Erkenntnis Heinrich Siedentopf etwa mit Arbeiten zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltung der Mitgliedstaaten und dann zum Europäischen Verwaltungsraum Wesentliches beigetragen hat.5 II. Internationalität als verwaltungswissenschaftlicher Gegenstand Globalisierung und Europäisierung öffentlicher Angelegenheiten haben es mit sich gebracht, dass sich die grenzüberschreitende Kommunikationsgemeinschaft von Verwaltungswissenschaftlern und Verwaltungspraktikern verdichtet hat. Internationalität und Supranationalität sind zu Erkenntnisund Erfahrensgegenständen jenseits der klassischen Verwaltungsvergleichung geworden. Mit welchen Herausforderungen einer schnell veränderlichen Welt wir es zu tun haben, wird deutlich, wenn wir auf die internationale Organisationsgesellschaft sehen. Die alten internationalen Organisationen, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Ausweitung 5
Vgl. H. Siedentopf, Regierungsführung und Ressortführung in Frankreich – Zur Organisation und Funktion der Cabinets ministériels, Habilitationsschrift, Speyer 1970; ders., Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Mainzer Runde 24. November 1994, Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Mainz 1994; ders./C. Hauschild/K.-P. Sommermann, Modernization of Legislation and Implementation of Laws, Speyerer Forschungsberichte 142, Speyer Sept. 1994; 2., unveränderte Aufl. Dez. 1994; ders., The Internationality of Public Administration, in: K. König/H. Siedentopf (eds.), Public Administration in Germany, Baden-Baden 2001, S. 597–611; ders./B. Speer, The European Administrative Space from a German Administrative Science Perspective, in: International Review of Administrative Sciences, vol. 69, 1/2003, S. 9–28; zugleich: L’espace administrative européen d’un point de vue administratif allemand, in: Revue internationale des Sciences administratives, vol. 69, 1/2003, S. 9–30; ders., Die Deutsche Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften – Kooperation, Vergleich, Beratung, in: A. Benz/H. Siedentopf/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 950, Berlin 2004, S. 103–113; ders./B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten –, in: DÖV 2002, S. 753–763.
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der technisch-industriellen Zivilisation aufkamen – Internationale Fernmeldeunion, Weltpostverein, Internationales Gewichts- und Maßbüro usw. – konnte man jenseits des Umstandes, dass sie in den Händen ihrer Mitgliedsstaaten lagen, als Verwaltungsunionen bezeichnen, und zwar nicht nur wegen formaler Konferenzen mit Vertretern von Fachverwaltungen. Die signifikante Formel des Weltpostvereins „Nous sommes des postiers“ zeigt, dass wir es mit einer verwaltungsgeprägten Internationalität zu tun haben. Davon kann in der heutigen Weltgesellschaft mit etwa 5.000 internationalen Nicht-Regierungsorganisationen und an die 40.000 transnationalen Konzernen bei einer Vielfalt von über 260 konventionellen und etwa 1.500 „anderen“ Regierungsorganisationen nicht mehr die Rede sein. Nimmt man als Beispiel die „World Trade Organisation“ (WTO) dann trifft man auf ein politisch-ökonomisches Beziehungsgefüge mit unterschiedlichen Akteuren und unterschiedlichen Spielregeln. Aber schließlich geht es um öffentliche Angelegenheiten der Weltwirtschaft und bei deren Konkretisierungen erweist sich die öffentliche Verwaltung und ein sachkompetenter Verwaltungsdienst als unverzichtbar. Hat man in den Sekretariaten internationaler Organisationen noch einen Anknüpfungspunkt, so konnte man auf dem „virtuellen Kontinent“ der „Internet-Corporation for Assigned Names and Numbers“ (ICANN) annehmen, dass das Öffentliche von der Zivil- und Wirtschaftsgesellschaft übernommen worden sei. Nicht nur in den Kontrollmechanismen der USA ist inzwischen deutlich, dass Staat und Verwaltung auch insoweit kaum „schlafende Autoritäten“ sind.6 Die alten grenzüberschreitenden Verwaltungserfahrungen des Kolonialismus sind in der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch die der internationalen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern abgelöst worden. Die gewichtigen Akteure waren die früheren Kolonialmächte Großbritanniens und Frankreichs und die Weltmächte der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion mit ihrer Mission in Verwaltungsangelegenheiten. Auch die Bundesrepublik wurde zum Kooperationspartner und konnte sich in Feldern etwa der Ausbildung für den Verwaltungsdienst, der Kommunalverwaltung, der Steuerverwaltung Ansehen erwerben. Mit der Vereinigung Deutschlands kamen Erfahrungen hinzu, die von Relevanz für Transformationsländer nicht nur in Ostund Südosteuropa waren. Heute fällt es schwer, in den bilateralen Kooperationen Deutschlands mit Entwicklungs- und Transformationsländern ein eigenständiges Profil der Verwaltungszusammenarbeit zu identifizieren. Man scheint gewissen internationalen Strömungen von Good Governance und des Demokratie- und Rechtsstaatsdialogs zu folgen. Man begleitet punktuell Förderungsprojekte auch in ihrem Verwaltungsbezug. Demgegenüber wird in 6 Vgl. K. König, Öffentliche Verwaltung und Globalisierung, in: Verwaltungsarchiv 2001, S. 475 ff.
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Frankreich durchaus noch das tradierte Staats- und Verwaltungsverständnis vertreten, während der neue Managerialismus Großbritanniens, Australiens, Neuseelands vermittelt durch die „Commonwealth Association for Public Administration and Management“ (CAPAM) vielerorts in Entwicklungsund Transformationsländern als Leitbild gilt. Die Territorien der früheren Sowjetunion sind heute in Sachen öffentlicher Verwaltung eher Nehmerdenn Geberland. Die Vereinigten Staaten sind in diesem Felde nach wie vor weltweit präsent, freilich in pluralistischer Art und unter Einbeziehung von Nicht-Regierungsorganisationen und akademischen Institutionen.7 Der Prozess der Globalisierung hat es mit sich gebracht, dass sich internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Weltbank, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verstärkt mit der öffentlichen Verwaltung in den Territorialstaaten beschäftigt haben. Das Interesse gilt überwiegend Entwicklungs- und Transformationsländern. Die Globalisierung wird mit den tiefreichenden Prozessen nachholender Modernisierung zusammengehalten. Es geht um basale Aspekte von Staat und Verwaltung. Man wendet sich gegen minimalistische Staatskonzepte, die einfach auf Marktkräfte vertrauen. Man setzt auf größere staatliche Effektivität, und zwar mit zwei Strategien, nämlich einmal die Rolle des Staates an seine wirkliche Leistungsfähigkeit anzupassen und zum anderen die Leistungsfähigkeit des Staates durch die Kräftigung der öffentlichen Institutionen zu erhöhen. Das geht nicht ohne effektive Verwaltungsapparate. Verglichen mit den Konzepten basaler Aufholungsprozesse weniger entwickelter Länder steht bei den Herausforderungen der Globalisierung an die fortgeschrittenen öffentlichen Verwaltungen die weiter gehende Modernisierung zur Diskussion. Es geht um eine neue Rolle der Außenministerien, die Stärkung von Vertretungsfunktionen der Fachministerien – „international desks“ in den Ressorts –, die Koordination von Sachpolitiken im internationalen Maßstab. Die OECD wirft die Frage nach den personellen Ressourcen für solche internationalen Angelegenheiten auf. Die veränderte Umwelt internationaler Politik verlangt einen Neuzuschnitt der Kompetenzen und Fertigkeiten der öffentlichen Bediensteten, insbesondere der Fachbeamten, die in internationale Angelegenheiten involviert sind. Kenntnisse auswärtiger Beziehungen, des internationalen Rechts, der kulturellen Sensitivität bei Grenzüberschreitungen, der Fremdsprachen sind von wachsender Bedeutung. Der Speyerer Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft hat sich mit den einschlägigen Problemen befasst.8 7
Vgl. K. König, Verwaltungsstaat im Übergang, Baden-Baden 1999. Vgl. H. Siedentopf/B. Speer unter Mitarbeit von A. Unkelbach, Auslandserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse in der Einstellungs- und Entsendepraxis des deutschen höheren Ministerialdienstes, Berliner Initiative (Hrsg.), Berlin o. J. (2004). 8
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III. Supranationalität als verwaltungswissenschaftlicher Gegenstand Die Verdichtung internationaler Beziehungen bietet der Verwaltungswissenschaft ein vielfältiges Anschauungsmaterial: vom Verwaltungsdienst in internationalen Organisationen bis zum Sherpa-System intergouvernementaler Beziehungen der G8. Supranationalität ist indessen als Erfahrungsund Erkenntnisgegenstand für die Verwaltungswissenschaft von noch unmittelbarerer Relevanz, weil mit der europäischen Integration eine in ihren Zuständigkeiten den Mitgliedstaaten übergeordnete Gemeinschaftsgewalt entstanden ist, die ihre Regulative durch direkte Anwendbarkeit und im unmittelbaren Durchgriff bis zum Bürger geltend machen kann, wobei sie freilich im Vollzug auf die Mitgliedstaaten angewiesen bleibt, da sie nicht über Möglichkeiten einer physischen Zwangsdurchsetzung etwa durch Polizei verfügt. Staaten mit dezentraler Organisation wie die Bundesrepublik Deutschland, also mit selbstverwalteten Kommunen, Ländern mit Staatscharakter und einer verfassungsrechtlich begrenzten Bundesgewalt, können die öffentliche Verwaltung als in ein politisch-administratives Mehrebenensystem eingeordnet verstehen. Die Europäischen Gemeinschaften werden dann zu einer weiteren, übergeordneten Ebene, zwar mit übertragenen, aber eben verbürgten Hoheitsrechten. Hieran lassen sich klassische Fragen einer Mehrebenenverwaltung anknüpfen, die nicht schlicht hierarchisch verfasst ist, sondern in einer interdepenten Ordnung autonomer Zuständigkeiten operiert. Es geht um die Verwaltung auf der jeweiligen Ebene und die interorganisatorischen Beziehungen zwischen den Ebenen, hier verkürzt um die Verwaltung der Europäischen Union und die Verwaltung der Mitgliedstaaten sowie die Verflechtung zwischen beiden. Die Finalität der europäischen Integration ist offen. Ein Versuch der Identifikation zwischen Staatenbund und Bundesstaat stellt der Begriff des „Staatenverbundes“ dar.9 Entsprechend erweist sich die Europäisierung als Integrationsprozess mit offenen Rändern, insbesondere im Bereich intergouvernementaler Aufgabenstellungen, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Innen- und Justizpolitik. Mit der Verwaltung auf der Ebene der supranationalen Organisation und einem professionellen supranationalen Verwaltungsdienst der Europäischen Gemeinschaften lässt sich indessen auf einen harten Kern der Institutionenbildung verweisen. Die Bedeutung des Verwaltungsstabes für die Politikformulierung und Politikimplementation der Gemeinschaften tritt in Formeln wie „die Bürokratisierung Europas“ oder „Europa als bürokratische Herrschaft“ hervor.10 Die supranationale Verwal9 Vgl. I. Pernice, Zur Finalität Europas, in: G. F. Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 743 ff.
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tung steht der nationalen Verwaltung ungleich näher als die internationale. So kann man Bürokratismusvorwürfe leicht übertragen, wobei freilich keiner auf europäischer Ebene auf Regelbindung, feste Zuständigkeitsverteilung, berufsmäßige Amtsausübung und weitere Merkmale einer bürokratischen Leistungsordnung verzichten wollte. Charakteristisch ist, dass in einer vergleichenden Analyse von Reformen des öffentlichen Managements die Europäische Kommission in die Evaluation von modernen Staatsverwaltungen von Australien und Belgien bis zum Vereinigten Königreich und zu den Vereinigten Staaten eingeordnet ist. Dabei wird einerseits die Eigenart der Supranationalität betont, andererseits die Staatsähnlichkeit vieler Funktionen herausgearbeitet. Allgemein wird festgestellt, dass die Kommission nicht sonderlich aufnahmebereit gegenüber von außen kommenden Managementideen und die Reform seit der Mitte der 1990er Jahre „hausgemacht“ sei. Sie betraf Finanzmanagement, Programmevaluation, Verwaltungsverfahren und neben anderen eine Inventur des Personals und seiner Aufgaben. Die Evaluation verzeichnet als Ergebnisse die Schaffung einer internen Rechnungsprüfung, effizientere und effektivere Finanzverfahren, Betonung der individuellen Verantwortung der Generaldirektoren und anderes. Eine Veränderung der bürokratischen Kultur der Kommission wird bezweifelt, jedenfalls wenn man die Maßstäbe der Modernisierung in den Kernländern des „New Public Management“ anlegt.11 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat 2001 in Öffnung gegenüber der internationalen Diskussion Governance-Konzepte aufgegriffen.12 Europäische Governance – „Europäisches Regieren“ – wird dabei als Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen, welche die Art und Weise kennzeichnen, wie auf europäischer Ebene Befugnisse ausgeübt werden, definiert. Es geht der Kommission nicht darum, künftigen vertraglichen Entwicklungen den Weg zu weisen, sondern zunächst einmal Verbesserungen der Funktionstüchtigkeit im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten auszuloten.13 Die Kommission lässt sich von Grundsätzen der „guten“ Governance leiten: Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität, Kohärenz. Verbesserte Konsultationen mit Internetnutzung, stärkerer Einbezie10
Vgl. M. Bach, Die Bürokratisierung Europas, Frankfurt u. a. 1999; ders., Europa als bürokratische Herrschaft, in: G. F. Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 575 ff. 11 Vgl. G. Pollit/G. Bouckaert, Public Management Reforms, 2. Aufl., Oxford 2004, S. 232 ff. 12 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europäisches Regieren – Ein Weißbuch, KOM (2001) 428 endgültig, Abt. C 287 vom 12.10.2001, S. 1 ff. 13 Vgl. R. Hayder, Das Weißbuch „Europäisches Regieren“ der EU-Kommission, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 2002, S. 49 ff.
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hung der Regionen und Gemeinden, Einbeziehung der Zivilgesellschaft, des Weiteren bessere Gesetzgebung durch Expertenwissen, Gesetzgebungstechniken usw. werden vorgeschlagen. Besonderes Augenmerk gilt der sogenannten Gemeinschaftsmethode, womit das Zusammenspiel der verschiedenen Gemeinschaftsinstitutionen gemeint ist. Jede Institution soll sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. In der Bewertung dieses Modernisierungsansatzes werden wiederum Einzelerfolge verzeichnet, etwa zur öffentlichen Zugänglichkeit von EU-Dokumenten, zum Internetauftritt, zur Verantwortlichkeit in Finanzangelegenheiten usw. Grundlegende Veränderungen, die auch einen Wandel in der Mentalität bedeuten würden, werden in der Exekutive nicht beobachtet. Aber auch hier gewinnt man wiederum den Eindruck, dass es nicht zuletzt Maßstäbe von Staatsverwaltungen sind, die man an die supranationale Organisation anlegt.14 Die Europäische Union mag für außenstehende Betrachter gleichsam ein Übungsfeld der Globalisierung sein. Der europäische Bürger spürt, dass die supranationale Organisation mit ihren umgreifenden Rechtssetzungs- und Durchgriffsbefugnissen einen eigenen weiteren Weg beschreitet. Insbesondere die markt- und unternehmensrelevanten Regeln werden heute in Brüssel formuliert und dann in den Mitgliedstaaten umgesetzt. Die europäische Integration führt so gleichzeitig zu einem Wirtschaftsraum und einem Rechtsraum. Schwieriger ist die Heranbildung eines politischen Raums von der demokratischen Legitimation bis zum konstitutionellen Ordnungsrahmen. Aus der Sicht der vergleichenden Verwaltungswissenschaft ist es dann der gemeinsame Verwaltungsraum, der interessiert. Da sich in der legalistischen Kultur, wie sie auch die Europäische Union weitgehend prägt, Verwaltung und Recht eng begegnen, kann zuerst von einer Verwaltungsrechtsgemeinschaft gesprochen werden. Dabei können verschiedene Schichten unterschieden werden: das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten einerseits und das eigene Recht der Gemeinschaftsadministration andererseits, dann aber ein Gemeinschaftsverwaltungsrecht im strengeren Sinne, nämlich die in allen und für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Verwaltungsregeln der Europäischen Union, wie sie insbesondere auch durch die europäische Rechtsprechung gepflegt werden. Es ist die starke Legitimation der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft, die die Mitgliedstaaten zwingt, ihr Verwaltungsrecht an die gemeinschaftlichen Rechtsregeln anzupassen. Entsprechend sind Veränderungen in der Verwaltung auf Ebenen der Mitgliedstaaten unter Einfluss der Europäischen Integration zuerst am Wandel des Verwaltungsrechts abzulesen.15 14 Vgl. E. Schön-Quinlivan, Administrative Reform in the European Commission; M. W. Bauer, Politics of Reforming the European Commission Administration; beide in: M. W. Bauer/C. Knill (eds.), Management Reforms in International Organizations, Baden-Baden 2007, S. 25 ff. bzw. 51 ff.
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Zweck entsprechender Einflüsse und Veränderungen ist es, den Vollzug rechtsförmiger Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten und gemeinschaftsweit sicherzustellen. Der Schwerpunkt der Verwaltung in EG-Angelegenheiten liegt neben dem direkten Vollzug durch gemeinschaftseigene Organe im indirekten Vollzug durch die Organe der Mitgliedstaaten. Vollzugsprobleme lassen sich nicht auf Rechtspflichten und rechtsbewehrte Sanktionen reduzieren. Die öffentliche Verwaltung in ihrer territorialstaatlichen Ausprägung, ihrer Organisation, ihren Verfahren, ihrem Personal, ihren Finanzen, ihrer Autorität, ihrer Akzeptanz usw. steht zur Diskussion. Heinrich Siedentopf hat sich vielfach mit den umfassenden Fragestellungen der Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten befasst. Das Thema reicht bis zur allgemeinen Vollzugskultur in einem Territorialstaat.16 Die Europäischen Gemeinschaften haben lange Zeit eine gewisse Indifferenz gegenüber der Binnenorganisation des mitgliedstaatlichen Vollzugs gezeigt. Mit den Beitrittsabsichten ost- und südosteuropäischer Länder und den dort beobachtbaren Nachwirkungen einer realsozialistischen Kaderverwaltung wurde auch in Brüssel deutlich, dass sich mit Mitteln des Rechts allein die Wirksamkeit des europäischen Verwaltungsvollzugs nicht gewährleisten lässt. Die Europatauglichkeit öffentlicher Verwaltungen wurde zum Problem. Jenseits der Rechtsnormativität ist nach Faktizität und Systemrationalität von Administrationen zu fragen. Die These von einem Prozess zunehmender Konvergenz zwischen den nationalen Verwaltungen der Mitgliedstaaten und weiter von der Existenz eines nichtformalisierten administrativen „acquis communitaire“ und schließlich von der wirklichen Maßgeblichkeit gemeinsamer Standards „guter“ Verwaltung muss weiterhin mit Forschungsergebnissen belegt werden.17 Sieht man hiernach auf die interorganisatorischen Beziehungen zwischen supranationaler und mitgliedstaatlicher Ebene, dann hat die europäische Integration einen Verflechtungsgrad erreicht, der über die Modi der internationalen Mehrebenenpolitik hinausreicht. Bezeichnend hierfür ist die sogenannte Komitologie.18 Die Kommission der Europäischen Union ist quantitativ gesehen das Hauptentscheidungsorgan der Gemeinschaft. Eine Fülle 15
Vgl. St. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, Tübingen 1999. 16 Vgl. H. Siedentopf, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Anm. 5). 17 Vgl. H. Siedentopf (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsraum, Baden-Baden 2004; ders./B. Speer, Europäischer Verwaltungsraum oder Europäische Verwaltungsgemeinschaft? (Anm. 5). 18 Vgl. C. Joerges/J. Falke (Hrsg.), Das Ausschusswesen der Europäischen Union, Baden-Baden 2000.
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von Rechtsakten ergeht insofern auf der Grundlage von vom Rat übertragenen Durchführungsbefugnissen. Um dennoch nicht die Kontrolle über die Implementation zu verlieren, wurden verschiedene Ausschussverfahren eingesetzt, die eine Rückbindung der Kommission an den Rat sichern und jenem die Möglichkeit der Einflussnahme eröffnen soll. Es gibt Hunderte von „Komitologieausschüssen“, die sich aus Vertretern von Mitgliedstaaten auf Beamtenebene zusammensetzen. Durch Beratungen, Kontrollen, Regelungen der Ausschüsse kann eine Rückbindung der Kommissionsentscheidung an den Rat gesichert werden. Der Erlass von Rechtsakten der Kommission unter Beteiligung nationaler Beamter wird kritisiert. Er wird als undemokratisch, intransparent, technokratisch angesehen.19 Neuregelungen sind getroffen.20 Im Grunde kann man aber wohl einen Vollzug in den verschiedenen mitgliedstaatlichen Verwaltungskulturen nur gewährleisten, wenn man sich des entsprechenden Sachverstandes von vornherein versichert. IV. Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft Globalisierung und Europäisierung der öffentlichen Verwaltung können über die skizzierten Erfahrungen hinaus in weiteren Themenfeldern nachgezeichnet werden: europäisch von dem Grenzabbau nach dem Schengener Abkommen bis zur örtlichen Zusammenarbeit in den europäischen Grenzregionen, international von der Verwaltungsmodernisierung der Vereinten Nationen selbst bis zu dem Umstand, dass, während die zerstörerischen Konflikte von neuen Kriegen noch laufen, bereits die Verwaltung des Neuaufbaus besprochen wird. Die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften reflektieren in vielfältiger Weise Komplexität und Dynamik der Welt des Internationalen und des Supranationalen: Juristen mit ihren dogmatischen Aussagen zu Rechtsquellen jenseits nationaler Bestände, Ökonomen mit ihren Rationalmodellen über die klassische Außenwirtschaftslehre hinaus, Politologen mit ihren Lehren zur weltregionalen und globalen Politik, Soziologen mit ihrer Empirie zu sich entgrenzenden Gesellschaften. Die Ausweitung der Fragehorizonte ist oft mit einem interdisziplinären Moment verbunden, und zwar 19 Vgl. G. Heibach, Komitologie nach Amsterdam – Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen im Rechtsvergleich, in: Verwaltungsarchiv 1999, S. 98 ff.; C. Demmke/G. Heibach, Die Rolle der Komitologieausschüsse bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts und in der Rechtsprechung des EuGH, in: DÖV 1997, S. 710 ff. 20 Vgl. H. Tichy, Der neue Komitologiebeschluss, in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung, internationales Privatrecht und Europarecht 2000, S. 134 ff.; C. Mensching, Der neue Komitologie-Beschluss des Rates, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2000, S. 268 ff.
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nicht zuletzt der Verknüpfung der normativ-rationalen mit den empirischen Erkenntnisinteressen, so etwa in einer Rechtsvergleichung, die funktionale Äquivalente herausarbeiten will oder in Budgetierungsmodellen, die die neuen Verhältnisse erfahrungswissenschaftlich abstützen wollen. Hinzu kommen die Großtheorien, die ohnehin jenseits von Disziplinen stehen: eine Systemtheorie, die auch die Weltgesellschaft deutet; eine Diskurstheorie, die das „alte“ Europa wertschätzt, eine Institutionenökonomik, die den Umgang mit öffentlichen Gütern schlechthin erklären will.21 Globalisierung und Europäisierung der öffentlichen Verwaltung und damit der Wandel der Erfahrungsgegenstände der Verwaltungswissenschaften in ihrem Pluralismus haben indessen nicht das Desiderat einer integrativen Verwaltungswissenschaft obsolet werden lassen, im Gegenteil: unsere Erkenntnislücken sind eher deutlicher geworden.22 Zwei Reformmodelle haben in den letzten Dekaden Bewegungen der Verwaltungsmodernisierung ausgelöst, und zwar europäisch wie weltweit: „Good Governance“ und „New Public Management“. Unter dem Vorzeichen der öffentlichen Verwaltung wird in dem einen Falle eine mit „gut“ bewertete Institutionenordnung der politisch-administrativen Regelungs- und Steuerungsmuster für einen leistungsangemessenen Aufgabenzuschnitt, eine bürgernahe Organisation, einem transparenten Verfahren, einem verantwortlichen öffentlichen Dienst vorgeschrieben. Im anderen Falle geht es um eine „neue“ Rationalität ökonomisch-managerialistischer Leitung und Steuerung von Verwaltungsorganisationen, und zwar zugleich mit einem quasi-unternehmerischen Impetus etwa der Sach- und Budgetverantwortung, der Leistungsvereinbarungen usw. „Good Governance“ richtet sich ursprünglich an Entwicklungs- und Transformationsländer, inspiriert dann aber auch westliche Industrieländer bis hin zu „Progressive Governance“. Mit „New Public Management“ sind zuerst die entwickelten Länder gemeint. Einschlägige Rationalitätsvorstellungen haben sich dann aber bis in die Mongolei ausgedehnt. In ihrem holistischen Anspruch sind beide Modelle vielerorts gescheitert. Außerhalb der westlichen Welt wurden die guten Werte von Governance eben als okzidentale identifiziert und dann als politische Konditionierung von Entwicklungshilfen angesehen. Der „neue“ Rationalitätsanspruch von „New Public Management“ und „Reinventing Government“ ging selbst in den USA an der eigenen Systemrationalität einer demokratischen und rechtsstaatlichen öffentlichen Verwaltung vorbei.23 21 Vgl. K. König, Theorien öffentlicher Verwaltung, in: J. Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, Berlin 2003, S. 153 ff. 22 Vgl. K. König, Verwaltungswissenschaft in der internationalen Entwicklung, in: Verwaltungsarchiv 2003, S. 267 ff. 23 Vgl. K. König, Verwaltungsstaat (Anm. 7), Baden-Baden 1999.
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Jenseits des Holismus guter Werte und neuer Rationalitäten weisen Governance- und Managementkonzepte indessen eine hohe internationale und inzwischen auch europäische Anschlussfähigkeit auf. In der grenzüberschreitenden Kommunikationsgemeinschaft von Verwaltungswissenschaftlern sind sie bevorzugte Kontaktbegriffe. Man muss sich daher unter dem Vorzeichen von Globalisierung und Europäisierung die Frage vorlegen, ob man die normativen und rationalen Vor-Urteile zunächst zurückstellt und analytisch zu „Global Governance“ prüft, wie trotz Fehlen einer Weltregierung gemeinsame Angelegenheiten der Weltgesellschaft geregelt und gesteuert, konfligierende Interessen ausgeglichen, kooperatives Handeln initiiert, internationale Regime angewendet werden24, und weiter dann zu „European Governance“ untersucht, wie die Regeln, Verfahrensweisen und Steuerungsmuster beschaffen sind, die mit der Art der Ausübung von Befugnissen auf der Ebene der Europäischen Union zusammenhängen.25 Eine solche, auf die nationale und subnationale Ebene ausdehnbare Betrachtung könnte kritische Distanz zu gewohnten Sichtweisen schaffen. Entsprechendes gilt für Managementkonzepte. In der Sache diskutiert die Verwaltungswissenschaft in Deutschland die Reform von Planung und Budgetierung, Organisation und Koordination, öffentlichem Dienst und Verwaltungspersonal, Leitungsspanne und Kontrolle usw. seit langem. Aber es fehlt an einem Gesamtkonzept, in dessen Rahmen man die Komponenten der Leitung und Steuerung von Verwaltungsorganisationen analysiert. Ein durch vorgefasste Modelle unbelastetes Managementkonzept zur öffentlichen Verwaltung mit seiner internationalen Anschlussfähigkeit könnte zum Beispiel uns besser verstehen lassen, wie betriebswirtschaftliche Instrumente in eine demokratische und rechtsstaatliche Verwaltung kontinentaleuropäischer legalistischer Prägung eingebaut werden können. V. Verwaltungswissenschaft in Speyer Globalisierung und Europäisierung sind eine Herausforderung für die Verwaltungspraxis wie die Verwaltungswissenschaft gleichermaßen. Weltweit wie europäisch sind die intellektuellen Vergewisserungen der öffentlichen Verwaltung, ihrer Entwicklung, Transformation, Modernisierung auf ein Netzwerk nationaler Zentren verwaltungswissenschaftlicher Lehre und Forschung angewiesen. Hochschule und Forschungsinstitut in Speyer haben jüngst den deutschen Namen angenommen. Eine Deutsche Hochschule für Verwaltungswissen24
Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Nachbarn in Einer Welt, (Commission on Global Governance), Bonn 1995. 25 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europäisches Regieren (Anm. 12), S. 1 ff.
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schaften und ein Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung müssen ein zweiseitiges Profil aufweisen: nach innen und nach außen. Innerhalb der deutschen Grenzen besteht der Anspruch, das wissenschaftliche Kompetenzzentrum für die öffentliche Verwaltung zu sein. Kompetenz meint insoweit drei Dimensionen, nämlich territorial: Kommunalverwaltung, Landesverwaltung, Bundesverwaltung und heute supranationale und internationale Verwaltung; funktional: öffentliche Aufgaben, Verwaltungsorganisation, öffentlicher Dienst, Verwaltungsverfahren; sektoral: öffentliche Sicherheit, Umweltschutz, Verkehrswesen usw. Der sektoralen Dimension ist eine exemplarische Auswahl von Aufgaben- und Politikfeldern angemessen, wobei zu berücksichtigen ist, dass es Referenzgebiete gibt, aus denen man das Allgemeine öffentlicher Verwaltung besonders verstehen kann. Die territoriale und die funktionale Dimensionen gehören indessen zu den Kernkompetenzen der Verwaltungswissenschaft. Eine Institution, die hier nicht hohen Sachverstand beweisen kann, wird eine verwaltungsinteressierte Klientel in Lehre und Forschung kaum für sich gewinnen. Von solcher Bodenständigkeit aus lässt sich der deutsche Name nach außen tragen. Ein entwurzeltes Expertentum wird andere Verwaltungskulturen ohnehin kaum verstehen. Speyer ist als nationaler Knotenpunkt im Kommunikationsnetz der Verwaltungswissenschaftler und verwaltungswissenschaftlich interessierten Praktiker vielerorts in der akademischen Welt akzeptiert. Diese Akzeptanz beruht nicht auf formalen Ansprüchen nach Art von Lehrstuhlbezeichnungen, sondern stützt sich auf Lehr- und Forschungsleistungen, mit denen auch Erfahrungsgegenstände des Verwaltens jenseits nationalstaatlicher Definitionen reflektiert werden. In der heutigen Entwicklung zur Supranationalität gehört die europäische Integration zum prioritären Sachgebiet von Ausbildung, Weiterbildung, Forschung und Beratung in Speyer.26 Diese neue Ebene ist zwar in den Universitätsstudiengängen der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften inzwischen erfasst. Dass aber Europa nicht nur ein Phänomen des Rechts, der Wirtschaft, der Politik, sondern auch der Exekutive, der Regierung und Verwaltung ist, kommt in den Departementalisierungen des Universitätsbetriebs zu kurz. Hier können Hochschule und Forschungsinstitut mit Multidisziplinarität und Interdisziplinarität Originäres hervorbringen. Über Europa hinaus wird zuerst erwartet, dass Speyer seine Stimme im Internationalen Institut für Verwaltungswissenschaften erhebt. Dass die Deutsche Sektion ihr 50-jähriges Bestehen hier gefeiert hat, ist auch ein Be26 Vgl. S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Verwaltung in der Europäischen Union, Berlin 2001; dies. (Hrsg.), Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der Europäischen Union, Berlin 2002.
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leg dafür.27 Multilateral kann auf die Mitwirkung in Expertengremien der Vereinten Nationen, der Weltbank, der OECD verwiesen werden. Bilateral sind Schwerpunktländer wie Frankreich, die USA, Polen bereits durch die Werke des Lehrstuhls für Vergleichende Verwaltungswissenschaft benannt. Hochschule und Forschungsinstitut mit ihren knappen Ressourcen können freilich nur äußerst selektiv arbeiten. Die Wissenschaftspolitik bevorzugt jetzt die Formel von der strategischen Partnerschaft. Die für die Verwaltungswissenschaft bis in die Spätmoderne hinein nicht widerlegte Schlüsselthese ist die von der Unentrinnbarkeit der bürokratischen Leistungsordnung. Diese Leistungsordnung hat sich weltweit ausgedehnt, etwa in Japan schon früh mit den Meiji-Reformen. Scharfblickende afrikanische Professoren verlangen selbst auf Entbürokratisierungskongressen die Bürokratisierung ihres Kontinents im Sinne Max Webers, also zum Beispiel die Einführung von Regeln, die gegenüber Herrschenden und Beherrschten gleichermaßen gelten. Der Okzident hat sich in seiner Systemrationalität auch nicht selbst widerlegt. Ein ökonomischer Managerialismus mit Kategorien wie: Standard-Kostenrechnung, professioneller Controller, Datenbanken, Produktkataloge, Leistungsaufträge usw. ist bestenfalls eine andere, eine managerialistische Bürokratie. Von zwei Großmächten erwartet man heute eine weiterführende Veränderung der Welt: Indien und China. In Indien wurden die Fundamente der heutigen öffentlichen Verwaltung durch die britische Kolonialmacht gelegt. Dem Indian Civil Service kam dafür eine historische Rolle zu. Früh fanden Inder Zugang zu diesem Corps, und sie wurden vom britischen Verständnis der Handhabung öffentlicher Angelegenheit geprägt.28 Noch heute besteht der Eindruck, dass man auf diesem Subkontinent bei allen kulturellen Eigenarten westliche Grundmuster öffentlicher Verwaltung anstrebt. China hat eine andere, alte und von innen kommende Verwaltungsgeschichte mit großem Gedankenreichtum. Heute öffnet sich dieses Reich im Wirtschaftsleben westlichen ökonomischen Mechanismen. In der Handhabung öffentlicher Angelegenheiten beharrt man aber auf einem endogenen Entwicklungspfad. Gerade für die öffentliche Verwaltung scheint der Konfuzianismus von hoher Attraktivität zu sein.29 Noch haben sich die „neuen“ Konturen nicht verfestigt. Für die Vergleichende Verwaltungswissenschaft kann die Begleitforschung gleichsam zu einem Erlebnis werden. 27 Vgl. J. Ziekow (Hrsg.), Entwicklungslinien der Verwaltungspolitik, Baden-Baden 2007. 28 Vgl. R. von Albertini, Europäische Kolonialherrschaft 1880–1940, Zürich 1976, S. 15 ff. 29 Vgl. H. G. Frederickson, Confucius and the moral basis of bureaucracy, in: Administration and Society 2002, S. 610 ff.
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Wer über Herausforderungen an die Verwaltungswissenschaft im Zeichen der Globalisierung und Europäisierung verhandelt, trägt in vielem Anmerkungen zur Wissenschaftlerbiographie von Heinrich Siedentopf zusammen. Solche Annotationen reichen nicht aus, eine Wissenschaftlerpersönlichkeit zu würdigen. Zwei Wertideen zeichnen freilich Heinrich Siedentopf wie seine Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft, Roman Schnur und Fritz Morstein Marx, gemeinsam aus: europäische Kapabilität und weltläufige Zivilität, mithin Qualifikationen im Zeichen einer sich immer mehr entgrenzenden Verwaltungswissenschaft.
La réforme administrative, préoccupation d’hier, d’aujourd’hui, de demain? Jean-Marie Pontier L’une des oppositions les plus classiques qui soient est celle entre réforme et révolution. La réforme c’est une modification de ce qui existe, généralement en vue d’une amélioration (les deux termes de réforme et d’amélioration sont fortement connotés entre eux). La révolution, c’est le renversement de l’ordre établi, le bouleversement complet de l’ordre des choses. En France, nous avons fait plusieurs révolutions, mais c’est surtout la Révolution – sous-entendu la seule véritable, la seule qui compte – peutêtre parce que nous n’avons pas fait à temps les réformes qui s’imposaient. La Révolution est achevée, le temps des réformes est continu, il est d’hier, il est d’aujourd’hui et de demain. Mais cela vaut-il pour toutes les réformes, pour l’administration comme pour les autres domaines? Le thème de la réforme administrative est un thème prégnant dans notre histoire. Est-ce encore le cas aujourd’hui? N’est-il pas usé, dépassé, ressassé? A lire les articles, les ouvrages, écrits depuis quelques années, le thème de la réforme administrative ne paraît plus guère inspirer les auteurs. Serait-ce parce que la ou les réformes administratives auraient été accomplies? Car il est indéniable qu’il fut un temps où ce thème de la réforme administrative était inépuisable, on pouvait toujours l’invoquer avec succès. Un ancien président du Conseil (il s’agissait de Tardieu) déclara, paraît-il, en 1936, que lorsqu’un président du Conseil veut se faire applaudir sur tous les bancs il lui suffit d’annoncer la réforme administrative, parce que personne ne sait ce que cela veut dire. L’esprit caustique de l’auteur explique une telle formule, quelque peu désabusée. Ces temps nous paraissent bien lointains. La langue française dirait, dans une de ces formules imagées que «de l’eau est passée sous les ponts». Cela veut dire que nous avons fait beaucoup de réformes administratives, nous avons aussi beaucoup changé la politique, du moins le croyons-nous. Ces réformes, tantôt se situent dans le prolongement de ce qui se faisait déjà, voire ne sont qu’un nouvel habillage d’une problématique qui n’a pas beaucoup évolué, tantôt, à l’inverse, donnent l’impression de présenter un caractère de réelle nouveauté. Je voudrais présenter ces deux aspects en dis-
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ant qu’ils ont fait l’objet de débats avec H. Siedentopf auquel me lie une amitié déjà ancienne. I. Continuité et renouvellement des réformes Relevons toutefois que l’une des réformes réclamées avec le plus d’insistance dans la première moitié du vingtième siècle est redevenue d’actualité, celle de la réduction du nombre de fonctionnaires. Vers la fin du XIXème siècle et au début du XXème siècle revenaient régulièrement au Parlement, comme une sorte de ritournelle, des demandes tendant à ce que l’on réduise le nombre de fonctionnaires, qui était jugé beaucoup trop élevé. Des commissions, tantôt parlementaires, tantôt extraparlementaires, se saisissaient du problème, ou étaient constituées en vue de procéder à une réduction drastique du nombre de fonctionnaires. Certaines portaient des noms évocateurs: commission de la hache, commission de la guillotine . . . Est-il utile de préciser que ces commissions ne parvinrent jamais à remplir leur mission, et que le nombre de fonctionnaires continua à croître, au lieu de diminuer. Que diraient aujourd’hui ceux qui furent chargés de cette mission impossible: ils seraient probablement frappés d’apoplexie devant le nombre de fonctionnaires que compte la France, et qui fait d’elle le champion incontesté, semble-t-il, d’Europe. A vrai dire, on peut disserter à perte de vue sur le nombre de fonctionnaires de chaque pays, les comparaisons sont difficiles, car les statuts sont différents, les personnels ne sont pas classés de la même manière, les agents publics ne sont pas des fonctionnaires, le périmètre de la fonction publique, ou de ce que l’on considère comme tel, est très variable d’un pays à l’autre. Et aujourd’hui, de nouveau, en France, on parle de réduire le nombre de fonctionnaires, par non remplacement d’un certain nombre de ceux qui partent à la retraite. Nihil novi sub sole? Et cependant, les données ont été profondément modifiées. Les fonctionnaires de notre temps ne correspondent plus tout à fait à ceux décrits, en France, par des auteurs tels que Courteline, encore que l’on doit bien pouvoir en trouver quelques uns qui leur ressemblent. Dans l’ensemble la fonction publique fait beaucoup plus sérieux qu’autrefois, et il y a à cela une raison simple: les fonctionnaires sont mieux formés qu’ils n’étaient. Les écoles d’administration ont été multipliées à tous les échelons, et H. Siedentopf sait cela beaucoup mieux que la plupart d’entre nous. En France, ce fut d’abord l’ENA, qui prit une telle importance qu’elle occulta les autres écoles de formation des fonctionnaires. Dans le domaine de la santé, par exemple, l’Ecole nationale de la santé publique forme, plutôt bien, des directeurs d’hôpitaux, l’Ecole du Trésor, celle des Douanes,
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forment également des fonctionnaires de qualité. Le phénomène est encore plus sensible dans la fonction publique territoriale. Il est loin le temps où les agents de ces collectivités étaient recrutés uniquement sur critères politiques, ou sur la connaissance que l’on pouvait avoir avec le maire. L’une des causes de la faiblesse de la décentralisation territoriale, en France du moins, a résidé dans la piètre qualité des agents de ces collectivités qui étaient recrutés sur des critères tout autres que celui de la compétence. Certes, tout cela n’a pas entièrement disparu, les élus locaux continuent de recruter des «colleurs d’affiche», des personnes dont ils se feront des obligés, ils cherchent à contourner les lois et règlements. Mais, d’une manière générale, la compétence des agents des collectivités territoriales s’est considérablement accrue. Les agents sont recrutés par concours et ce dernier, qui certes n’a pas que des avantages, a été ici un instrument très efficace pour «monter» le niveau de la fonction publique territoriale. A l’échelon le plus élevé les administrateurs territoriaux sont, ou ont été voulus, d’un niveau comparable à celui des agents formés par l’ENA. Dans la catégorie A, les attachés territoriaux forment le gros des troupes qui permettent aux collectivités territoriales de pouvoir effectivement et sérieusement assurer les fonctions qui leurs sont confiées. L’une des questions d’actualité, et qui risque de le rester encore un certain temps, est celle du statut. On pourrait traduire cela autrement en disant que ce qui est en question c’est la protection: le statut de la fonction publique est éminemment protecteur avec la garantie à vie de l’emploi notamment (mais ce n’est pas le seul avantage du statut). Est-ce toujours justifié? De longs débats ont déjà eu lieu, ils ne sont pas achevés, ils ne le seront probablement jamais. On sait les avantages et les inconvénients d’un statut: que faut-il privilégier aujourd’hui? Faute de mettre clairement en parallèle les uns et les autres, le débat n’avance guère, il est souvent un «dialogue de sourds». Et cependant la fonction publique demeure au cœur des réformes, à la fois de l’Etat et de l’administration. Parallèlement aux agents, une autre question se pose depuis longtemps, celle des méthodes de l’action administrative, qui nous met entre hier et demain. Comment agir, et comment agir, surtout, efficacement? Vers le milieu du XXème siècle, on développe en France des méthodes que l’on appelle O et M (pour organisation et méthodes), aujourd’hui passées de mode, puis l’on se met à rechercher une meilleure utilisation des crédits budgétaires, avec le PPBS (Planning Programming Budgeting System – transposé en France avec la RCB, rationalisation des choix budgétaires, puis BBZ, budget base zéro), tout en se tournant vers des méthodes inspirées du secteur privé, avec le management, désormais très en vogue. Aujourd’hui, outre la réforme budgétaire dite de la LOLF (loi d’orientation des lois de
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finances, adoptée en 2001, mise en œuvre en 2006), on recourt également à l’ingénierie, à l’intelligence administrative. Au-delà des aspects de mode, qui sont indéniables, s’agit-il de véritables nouveautés, ou de banals changements d’appellation pour des préoccupations similaires? Il est difficile de répondre à une telle question de manière tranchée, mais l’on peut relever au moins un aspect tout à fait neuf, l’utilisation de plus en plus marquée de l’outil informatique, qui devient l’instrument de référence. A-t-on raison de se fier aveuglément à lui en matière administrative? Le côté redoutable de l’informatique est que les chiffres, les pourcentages, sont incontestables, la machine ne se trompe pas, et l’on va fonder un raisonnement, un financement, une politique même, sur ces résultats. Encore faut-il que les données que l’on introduit soient, elles, exactes, et l’on peut avoir parfois quelques doutes sur ce point. L’un des grands champs de la réforme administrative est celui des structures. Depuis longtemps en France on relève un attachement aux structures, une importance particulière qui leur est reconnue, comme si les structures étaient la clé d’une réforme réussie. Cette réforme des structures est d’abord la réforme des structures de l’Etat. De manière assez rituelle les structures administratives de l’Etat font l’objet de propositions de réformes, le but étant naturellement de parvenir à une plus grande efficacité. Mais toutes les structures ne font pas l’objet de la même attention. Les structures centrales ne sont guère modifiées en profondeur, alors que ce serait là l’un des signes les plus tangibles d’une réforme en profondeur. Certes, si l’on prend les ministères, on assiste, selon les gouvernements, à des variations qui ne manquent pas d’intérêt, et qui fournissent aux commentateurs l’occasion de savantes gloses sur le sens de la composition du gouvernement et les appellations des ministères. C’est là avant tout une réforme politique, destinée à produire certains effets, supposés favorables, sur le sentiment que les citoyens peuvent éprouver à l’égard de leurs gouvernants. Mais si l’on regarde la structure interne des ministères, les modifications sont beaucoup moins importantes que ce que laissent apparaître les changements politiques. Le rattachement ministériel d’une direction, d’un service, peut varier, mais il est rare que le service disparaisse. Le service est et demeure l’unité de base de l’administration française. Les réformes intervenues depuis plusieurs décennies auraient dû normalement conduire à une diminution des services centraux, puisque un certain nombre de tâches qu’ils effectuaient ont été transférées, ou bien à un échelon déconcentré, ou bien, plus souvent, aux collectivités territoriales. Or l’on n’a pas assisté à une diminution significative de ces structures centrales. Ce n’est pas à dire qu’elles n’ont plus de tâches à accomplir. L’une des caractéristiques d’une administration est sa remarquable aptitude à persévé-
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rer dans son être, à se trouver de nouvelles justifications alors que l’évolution devrait logiquement conduire à sa réduction, voire sa disparition. Les administrations centrales se sont trouvées de nouvelles tâches, de nouvelles justifications, si bien qu’elles peuvent fort bien arguer qu’elles ploient sous le travail, ce qui n’est pas nécessairement inexact, sauf que l’on peut s’interroger sur l’utilité dudit travail. A l’échelon local la réforme administrative a été une réalité, et ceci aussi bien en ce qui concerne les services dits déconcentrés qu’en ce qui concerne les collectivités décentralisées. Un point fait l’unanimité dans son principe, c’est la réforme des collectivités territoriales, en ce sens que personne ne nie que des réformes importantes ont été apportées. Toutefois quelques précisions s’imposent. La première est relative au point de départ des réformes. Bien que cela soit moins courant désormais, durant un temps, et certains articles encore aujourd’hui, faisaient dater le point de départ de la décentralisation de 1982. C’est là une erreur, voire une double erreur. D’une part, en effet, la décentralisation remonte loin dans le temps, si l’on veut bien regarder notre histoire on peut constater que, dans ce domaine comme en bien d’autres, l’histoire n’est pas linéaire, elle ne va pas inéluctablement d’un mal à un bien, d’une situation de centralisation condamnable à un éden de décentralisation. L’histoire est, à l’inverse, sinusoïdale, avec des flux et des reflux, des moments de centralisation, d’autres de décentralisation, des retours en arrières, des évolutions que l’on peut qualifier dans un sens ou dans l’autre. D’autre part, même si l’on s’en tient à la Cinquième République, il est tout à fait inexact, malhonnête, d’oublier le mouvement qui commence dès les débuts de la Cinquième République. Si la restauration de l’autorité de l’Etat est la première préoccupation du général de Gaulle, son gouvernement prend immédiatement des mesures de modernisation de l’administration locale, qu’il s’agisse de la véritable invention des établissements publics territoriaux, avec les syndicats intercommunaux à vocation multiple (SIVOM), les districts urbains, un peu plus tard les communautés urbaines, qu’il s’agisse de la fiscalité locale, avec, dès 1959, la transformation des impôts locaux d’impôts de répartition en impôts de quotité. La question du partage des tâches, des compétences, entre l’Etat et les collectivités locales se pose très vite, des commissions sont nommées, le principal du travail est fait en 1962-1963. Les réformes de 1982-1983 sont la continuation de ces réformes précédentes, elles en sont aussi dans la continuité. La suppression de la tutelle, en 1982, a eu un impact symbolique considérable, mais la nouveauté est à relativiser pour trois raisons. En premier lieu, la suppression de la tutelle administrative n’est que l’achèvement d’un processus engagé en 1959 consistant à réduire progressivement la tutelle sur les actes des collectivités locales.
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En deuxième lieu, et compte tenu de l’évolution intervenue, cette suppression n’a rien de révolutionnaire, les changements – sur ce point – sont relativement minimes pour les élus locaux. En troisième lieu, toutes les tutelles ne sont pas supprimées, contrairement à ce qui est souvent avancé. La loi du 2 mars 1982, codifiée aujourd’hui, pour l’essentiel, au code général des collectivités territoriales (CGCT), commence par supprimer la tutelle administrative – celle qui avait été considérablement atténuée et ne pesait guère sur les élus locaux – puis supprime la tutelle financière, autrement plus redoutable, mais qui n’était pas exercée par le préfet mais par des autorités ou des institutions financières. Enfin, la loi parle de «l’allègement», et non de la suppression, de la tutelle technique: il est apparu, en effet qu’il était fort difficile, et au surplus dangereux, de supprimer une tutelle technique bien réelle mais prenant des formes variées et difficilement appréhendables, notamment sous la forme de normes techniques, d’actes types, etc. Les normes techniques sont en nombre extrêmement élevé – on en comptait déjà, au moment où fut débattu le texte qui allait devenir la loi du 2 mars 1982 plus de 10 000 – et nul ne sait combien, aujourd’hui, sont applicables, surtout si l’on ajoute aux normes d’origine interne les normes d’origine communautaire. Une autre précision doit encore être apportée, s’agissant des réformes de la décentralisation. La loi du 13 août 2004 sur les libertés et les responsabilités locales, faisant suite à la réforme constitutionnelle de 2003, a opéré d’importants transferts de compétences, et la question peut se poser de savoir s’il convient de poursuivre le mouvement de transferts. Or il est caractéristique d’observer que les Français ne semblent guère demandeurs d’un surcroît de décentralisation, comme s’ils avaient besoin de faire une pause. Lors des campagnes électorales de 2007 – qu’il s’agisse de l’élection présidentielle ou des élections législatives – la question de la décentralisation n’a occupé qu’une place limitée. Peut-être faut-il y voir, également, un certain attachement au maintien de fonctions importantes au profit de l’Etat. L’Etat est en France l’institution qui, à la fois, concentre les mécontentements et les attentes: les Français critiquent sans cesse leur Etat, mais continuent d’attendre de lui qu’il les protège, qu’il règle les principaux problèmes de la vie en société. Car en définitive, dans un pays tel que la France, l’Etat est, directement ou indirectement, au centre des interrogations, des propositions de réformes, des polémiques. La réforme des collectivités territoriales est d’abord, a-t-on dit, la réforme de l’Etat. D’où la question, posée aujourd’hui explicitement: quel Etat voulons-nous, que peut faire et que doit faire l’Etat? L’Etat cristallise les oppositions, les uns voyant en lui la cause des retards français et souhaitant son retrait, ou, comme l’on dit, un «recentrage», d’autres estimant qu’il est le seul vrai garant de l’égalité, de
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la solidarité, de l’ordre et de la justice. Mais que recouvre, quant aux tâches à assurer, cette fonction de garant? Il n’existe aucune unanimité sur ce point, et c’est là, aussi, sans doute, l’une des caractéristiques de la société française actuelle, à la recherche de son Etat. Un autre point mérite attention, dans l’interrogation sur la réforme administrative. Au fond, parler de réforme administrative, c’est argumenter en termes de réglementation, c’est utiliser un terme de juriste. Or l’on peut se demander si le droit n’est pas passé quelque peu au second plan, s’il n’a pas été éclipsé par d’autres disciplines, s’il n’est pas vu avec une certaine condescendance. Depuis quelques années, déjà, d’autres disciplines sont à l’honneur, parce qu’elles paraissent porteuses de plus de promesses d’efficacité, ce sont l’économie, mais surtout le management et la gestion. Ces nouvelles disciplines, fort en vogue, sont privilégiées par les gouvernants dans l’analyse d’une question. Dans les écoles d’application, comme l’ENA, elles occupent une place de choix, au point que certains se sont émus de voir arriver au Conseil d’Etat et dans les administrations des personnes qui ignorent largement ce qu’est le droit et qui, phénomène plus grave, ont tendance à penser qu’il est un obstacle à un bon fonctionnement du système. Ce qui est préoccupant, ce n’est pas que l’on fasse appel à ces disciplines, celles-ci étant indispensables aujourd’hui à l’administration, c’est leur trop grande assurance, voire leur arrogance (ou celle de ceux qui les pratiquent). Le droit n’a jamais prétendu avoir réponse à tout, mais si modeste que soit sa place, elle est indispensable. Il n’est pas certain que les techniques managériales et les grandes théories sur la bonne gestion soient de nature à obtenir de meilleurs résultats que l’approche traditionnelle. L’impérialisme d’une discipline n’est jamais bon signe.
II. Les nouveaux chemins de la réforme administrative La réforme administrative est engagée, depuis plusieurs décennies, sur de nouveaux chemins par rapport à ceux qui avaient été empruntés jusque-là. Une préoccupation nouvelle s’est fait jour, celle de la prise en considération des «usagers». Il peut paraître étrange que l’on ait mis temps de temps pour s’apercevoir que l’administration était faite pour les citoyens, et non l’inverse. C’est cependant cette conception qui l’a emporté pendant longtemps. L’administration s’est toujours crue plus ou moins investie d’une mission noble, celle de défendre l’intérêt public. Déjà, sous l’Ancien Régime, l’administration était revêtue, en quelque sorte, de la souveraineté royale, la dignité de la fonction royale rejaillissait
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sur elle. La Révolution n’a pas du tout mis fin à cet état d’esprit, et la réorganisation de l’administration par Napoléon n’a pu que renforcer la conviction de l’administration d’être la seule, parce qu’étant l’instrument de la nation, à incarner l’intérêt général. Et il se peut qu’effectivement nous ayons eu une administration qui, effectivement, a défendu l’intérêt général contre les intérêts particuliers. Cependant, il faudrait apporter des nuances et l’on ne manque pas d’exemples, sous quelques régimes comme le Directoire, de fonctionnaires qui se laissaient corrompre. Il est vrai que les temps étaient troublés et que, chaque fois qu’il en est ainsi, les fonctionnaires, comme les autres peuvent se laisser tenter. Quoi qu’il en soit, et même en supposant cet intérêt général assuré et défendu par l’administration, cela n’aurait pas interdit de traiter «normalement» les citoyens. Or ces derniers n’étaient guère considérés comme tels. L’administration n’utilisait d’ailleurs pas le terme de citoyens, mais celui d’administrés, ce qui implique une position passive de soumission. Et les récits sur les démêlés de citoyens avec une administration incompréhensive et parfois proche d’Ubu ne manquent pas. Le fait que nous n’avons pas été les seuls, en Europe, à avoir une administration de «commandement» n’est pas une consolation. Il est étonnant qu’il ait fallu attendre notre époque pour que l’on prenne en considération le citoyen, que l’on admette que la poursuite de l’intérêt général n’était pas incompatible avec un traitement digne et respectueux du citoyen. Il n’est pas certain, d’ailleurs, que toutes les administrations aient bien assimilé les nouvelles règles et certains termes qui demeurent, tel le terme d’assujetti qu’utilise l’administration fiscale, en disent long sur l’état d’esprit de l’administration, ou de certains fonctionnaires, à l’égard des citoyens. Aujourd’hui encore un débat a lieu sur le point de savoir comment on peut qualifier les personnes qui attendent un service de l’administration et si le terme d’usager est ancien et ne soulève pas de difficultés, le terme de client, que certains souhaiteraient voir adopté, rencontre des résistances, à la fois dans l’administration et chez les auteurs: peut-on admettre que l’administration ait des clients? Il est à relever, d’ailleurs, que les réformes qui ont été réalisées depuis quelques années l’ont été, non de l’intérieur, mais de l’extérieur: c’est le législateur qui a adopté des textes apportant des améliorations significatives aux rapports entre l’administration et le public, même si l’on sait qu’en France la plupart de ces textes législatifs proviennent de projets de lois, c’est-à-dire d’initiatives du gouvernement. Cela n’enlève rien, cependant, à cette volonté des représentants de la nation de changer ces relations. Il est significatif que l’une des lois adoptées, en 2000, ait eu pour intitulé «loi relative à l’amélioration des relations entre l’administration et les citoyens». Ce terme d’«amélioration» est révélateur: cela dit bien que les re-
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lations entre l’administration et les citoyens s’étaient dégradées, pour que l’on parle de les améliorer. Les réformes accomplies auraient pu l’être bien avant, mais l’on dira que l’essentiel est qu’elles soient intervenues. Sans prétendre faire le tour de toutes ces réformes on peut en rappeler certaines, qui se sont révélées justifiées. La loi sur la motivation et la communication des motifs des décisions administratives, que le juge administratif n’avait pas estimé pouvoir imposer à l’administration a, malgré ses complications, changé quelque peu le comportement des fonctionnaires, un peu plus attentifs, désormais, aux motifs qu’ils retiennent, et, donc, aux décisions qu’ils prennent, compte tenu des conséquences contentieuses que cela peut avoir. La communication des documents administratifs intéressant la personne concernée, avec toutes les réserves et les limitations qui ont pu y être apportées, est également une réforme d’importance: l’administration est un corps qui a tendance à ne pas communiquer, à garder pour elle les informations qu’elle détient, elle éprouve une sorte de réticence congénitale à ne pas transmettre les informations. Il faut noter, au demeurant, que cette rétention de l’information ne touche pas seulement les citoyens, mais les autres services, les autres administrations. Au sein d’un même ministère, d’un service à un autre, aujourd’hui encore – et l’auteur parle d’expérience, pour avoir collaboré avec certains ministères – les informations ne circulent pas, à l’inverse, lorsqu’un service dispose d’une information qu’il juge importante il a tendance à la cacher aux autres services. Ce comportement pathologique s’explique par le fait que l’information est, ou peut être, un pouvoir (en tout cas les intéressés le croient tous), cela permet d’agir, de savoir avant d’autres, d’exercer une influence, de mieux se placer, etc. la communication des documents administratifs est le complément de la réforme sur la motivation. Elle rejoint la préoccupation, l’exigence que l’on appelle aujourd’hui le principe de transparence. On parle désormais d’un «droit à la transparence». Mais en même temps, ce qui montre que notre époque est complexe, comme le sont également les relations entre les hommes et entre les hommes et le pouvoir, les citoyens revendiquent, dans certains cas, un «droit au secret». Ces deux droits viennent évidemment en concurrence, voire peuvent se contredire, le droit à la transparence de l’un peut aller à l’encontre du droit au secret de l’autre (exemple pour la connaissance du secret des origines, l’intérêt de l’enfant, qui veut connaître ses origines, s’opposant à la volonté de la mère de demeurer anonyme). Les pouvoirs publics sont constamment en quête de compromis, compromis entre les prérogatives légitimes de l’Etat et les droits des individus et des groupes, compromis entre les droits des individus et/ou des groupes entre eux.
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Une autre réforme est directement liée à ce phénomène de complexité, c’est la simplification, simplification du droit, simplification des règles, simplification des structures. C’est par ces dernières que l’on peut commencer: a priori les structures semblent être ce qu’il est facile de simplifier; en réalité ce n’est jamais le cas, et l’on voit les structures s’empiler les unes sur les autres, car la création d’une nouvelle structure, appelée à répondre à des besoins non satisfaits par celles qui existent, ne se traduit pas, ou rarement, par la suppression de ces dernières. L’administration locale en fournit en France un exemple presque caricatural: faute d’arriver à supprimer des communes, en beaucoup trop grand nombre (mais cela est vrai tout autant des départements – qu’il conviendrait de supprimer – et des régions), on a eu l’idée de créer des structures intercommunales. L’idée était bonne, la formule (celle de l’établissement public de coopération intercommunale, EPCI, qui constitue une formule tout à fait originale d’établissement public puisque c’est un établissement public territorial) originale, sauf que, dans une excellente intention, celle de perfectionner le système, on a créé de nouvelles structures intercommunales sans supprimer (ou si peu) les précédentes. Et c’est ainsi que l’on se retrouve avec au moins six formules d’établissements de cette nature. La multiplication des structures ne soulève pas seulement des questions de partage des compétences, elle a un coût, qui est élevé et la simplification, toujours annoncée, n’est jamais vraiment réalisée. La simplification concerne aussi les règles et les procédures. Les administrations, ou certaines d’entre elles, s’étaient ingéniées à multiplier les unes et les autres, laissant le citoyen quelquefois très perplexe face aux documents à remplir, aux procédures à engager et à suivre. L’image du monde kafkaïen vient spontanément à l’esprit, ou bien celle du labyrinthe. La simplification était non seulement souhaitable mais indispensable dans de nombreuses démarches. Le plus étonnant, peut-être, est qu’il ait fallu tant de temps pour le reconnaître, pour s’engager dans la voie des réformes. Les techniques ont contribué à la mise en place d’une politique de simplification. Les pouvoirs publics ont encouragé et développé la dématérialisation des procédures, qui représente un avantage certain pour l’administration et, normalement, doit permettre de faire des économies. Au-delà de cette dématérialisation, la simplification peut prendre des formes extrêmement différentes. L’ampleur de la tâche a été telle que le gouvernement a estimé devoir procéder par ordonnances, pour toutes les dispositions qui requéraient l’adoption d’une loi. Depuis plusieurs années, maintenant, des «trains» d’ordonnances viennent simplifier les procédures dans tous les domaines, fort nombreux car il en est peu où il n’existe pas de réglementation.
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La politique de simplification montre qu’il n’est pas toujours simple de simplifier, que la simplification peut s’accompagner, au moins provisoirement, de plus de complication ou de complexité. Quant aux citoyens, peutêtre se laissent-ils bercer par une illusion, celle selon laquelle la simplification serait par définition bonne et souhaitable. Or tout n’est pas simplifiable, parce tout ne peut être simple, la complexité va avec notre civilisation, et il faut plus souvent apprendre à vivre avec la complexité plutôt que de croire que l’on peut indéfiniment simplifier. L’une des voies de la simplification est la codification, que beaucoup de nos pays connaissent. La codification est indispensable dans le cas des pays dont le nombre de textes – loi, règlements, ordonnances, textes de valeur incertaine – est extrêmement élevé, ce qui est la situation de nos «vieux pays», elle est moins utile dans les pays qui, en raison de leur jeunesse, ou du caractère récent de leur développement, ou encore pour des raisons cultuelles (tradition orale), n’ont pas besoin de codification. Mais ce n’est pas tout d’affirmer la nécessité de la codification, la question qui se pose est de savoir comment codifier. La réponse apportée à l’une des questions soulevées par la codification différencie l’Allemagne à la France: la seconde a fait le choix d’une codification à droit constant, la première a fait le choix inverse. L’une des deux solutions est-elle meilleure que l’autre? Il paraît difficile de répondre dans un sens ou dans l’autre, chacune comporte des avantages et des inconvénients. Cela montre au moins que l’uniformité des solutions n’est pas indispensable en Europe, ce qui est rassurant. En revanche il est très utile de pouvoir échanger les expériences que l’on peut faire, pour tirer profit de ce que les autres ont obtenu, pour faire le «bilan coût-avantages» de chaque solution. De ce point de vue les échanges de fonctionnaires entre les pays devraient être beaucoup plus étendus, voire généralisés. Tout ceci, c’est ce que H. Siedentopf a déjà fait entre la France et l’Allemagne. Qu’il me soit permis, pour terminer, de témoigner de son apport à la réforme administrative à travers sa participation amicale et fidèle à la Table ronde organisée chaque année à Aix-en-provence depuis de nombreuses années (30 ans en 2007) par le Centre de recherches administratives de la faculté de droit, qui donne lieu à la publication, annuelle, d’un annuaire européen d’administration publique. Grâce à des hommes comme H. Siedentopf, nous avons pu faire progresser la réflexion sur l’administration publique dans nos différents pays, suggérer des pistes de recherche pour des réformes, plus encore, et c’est sans doute là l’essentiel et pour lequel il doit en être remercié, créer un réseau européen de confiance et d’amitié, gage d’un développement harmonieux de l’Europe.
Über die Veränderbarkeit des Seins: Scheitern Verwaltungsreformen? Heinrich Reinermann I. Innovation und Tradition – ein sensibles Verhältnis Trifft Innovation auf Tradition, ist mit Turbulenzen zu rechnen. Ob wir privat den Entschluss fassen, nun endlich gesünder zu leben, ob wir beruflich für Neuerungen zu sorgen haben oder ob wir, privat oder beruflich, unsere Hoffnungen in Reformen für mehr Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Staat und öffentlicher Verwaltung setzen – selten gelingen Reformen auf Anhieb oder wie gedacht, wenn sie denn überhaupt gelingen. Dem Aufeinandertreffen von Innovation und Tradition, dem Phänomen der Reibung zwischen Sollen und Sein, wird mit Folgendem nachgegangen. Dabei konzentrieren wir uns auf das Handeln im öffentlichen Sektor unseres Landes, also auf Parlament, Exekutive und Justiz in Bund, Ländern und Kommunen.1 Es geht uns weniger um konkrete Änderungsprojekte in Behörden2 und auch nicht um den „Ruck“, der durch die Nation gehen möge3; 1 Heinrich Siedentopf hat bereits Ende der siebziger Jahre am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Forschungsprojekt zum Thema „Implementation organisatorischer Änderungen – Geplanter Wandel in der öffentlichen Verwaltung“ durchgeführt (dazu A. A. Neubauer, Organisationsentwicklung in der öffentlichen Verwaltung, Europäische Hochschulschriften, Reihe V, Volks- und Betriebswirtschaft, Bd. 330, Frankfurt am Main 1981) und sich bis in die Gegenwart immer wieder dem Reformthema gewidmet, so H. Siedentopf, 25 ans de réformes en Allemagne: pour quel avenir?, in: Annuaire Européen d’Administration Publique 2002, S. 13. 2 Es kann auf eine umfangreiche Literatur zu „Organisationsänderungen“ oder zum „geplanten Wandel von Organisationen“ verwiesen werden. Hier nur einige „Klassiker“: H. Klages/R.-W. Schmidt, Methodik der Organisationsänderung, BadenBaden 1977; E. Witte, Organisation für Innovationsentscheidungen, Göttingen 1973; W. G. Bennis/K. D. Benne/R. Chin (Hrsg.), The Planning of Change, 2. Auflage, New York 1961. 3 Um die umfangreiche Literatur zur Änderungsfähigkeit Deutschlands bzw. zur Überwindung von Reformblockaden anzudeuten: H. A. Henzler/L. Späth, Die zweite Wende – Wie Deutschland es schaffen wird, Weinheim/Berlin 1998; A. Baring, Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten, 3. Auflage, Stuttgart 1997; P. Kirchhof, Die Erneuerung des Staates – eine lösbare Aufgabe, Freiburg im
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vielmehr wollen wir eine Mittellage einnehmen und uns Sollkonzepten zuwenden, mit denen das Selbstverständnis öffentlichen Handelns gleichsam paradigmatisch neu ausgerichtet werden soll. Es geht in diesem Beitrag nicht um die Rechtfertigung vorfindlichen Verwaltungshandelns, sondern um zwei Beobachtungen eines ökonomisch und informatisch Ausgebildeten: Einerseits bietet die Verwaltungswirklichkeit hinreichend Anlass zu Verbesserungen, und zwar notwendigerweise – weil sich die Welt des Sozialen permanent ändert und „wenn wir wollen, dass alles beim alten bleibt, wir alles ändern müssen“ (Giuseppe Tomasi), weil sich z. B. die Erwartungen der Bürger ändern („Good Governance“) und nicht zuletzt weil unsere Zeit über ein gewaltiges Potenzial an Informationstechnik für neue Konzepte verfügt, wie wir arbeiten, konsumieren, wohnen, unsere Freizeit gestalten, uns bilden, medizinisch versorgt oder eben auch verwaltet werden. Andererseits, das ist die zweite Beobachtung, gestalten sich Realitätsveränderungen erfahrungsgemäß zäh. Das lässt schon die stattliche Reihe von Verwaltungsreformbemühungen in den letzten vier Jahrzehnten vermuten: Die siebziger Jahre sahen Planungseuphorie bei wachsendem Staat, die Achtziger im Gegenteil Aufgabenkritik und Schrumpfung zum Schlanken Staat. In den neunziger Jahren treten Versuche einer Ökonomisierung des öffentlichen Handelns durch New Public Management (NPM) hervor, die jetzt, in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts durch Ansätze wie Electronic Government oder Good Governance ergänzt werden, welches sogar als Artikel 41 „Recht auf eine gute Verwaltung“ der Europäischen Grundrechte-Charta normiert wurde. Greift man den Ansatz NPM heraus, so erweist sich dieser durchaus als einsichtige Reformidee: Verwaltungen oder Behörden, wo sie monolithische Gebilde sind, zu leichter überschaubaren Einheiten mit präzisem Auftrag und ausreichend Handlungsspielraum entflechten; dadurch zugleich die Behörden auf Kernaufgaben konzentrieren und Ressourcen für andere Aufgaben freimachen; Strukturen und Abläufe einführen, die immer wieder über Ziele und Ergebnisse der Organisationseinheiten verhandeln lassen, die Sinnfrage, die Frage nach der Existenzberechtigung von Etatansätzen provozieren; sicherstellen, dass durch Kontraktmanagement öffentliche Mittel nur gegen Leistungsvereinbarung gewährt werden; dadurch frühzeitig zur Befassung mit gesellschaftlichen Problemen anregen; politische und administrative Führung stärker für Strategien, Ziele und Prioritäten interessieren, statt dass sie bevorzugt ihre Aufmerksamkeit fachlichen Details schenken sowie Ressourcenzuwächse oder -minderungen undifferenziert verteilen; die Breisgau 2006. Siehe auch die Beiträge in der 2006 begonnenen Schriftenreihe der Bertelsmann-Stiftung Gütersloh „Zukunft Regieren – Beiträge für eine gestaltungsfähige Politik“.
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hierfür nötige Information und Wissenschaftsunterstützung bereitstellen, um mehr über Wirkungen, Nutzen und Ressourcenverbrauch öffentlicher Aktivitäten zu erfahren sowie zu Transparenz und Rechenschaftslegung gegenüber der Gesellschaft beizutragen; Fach- und Ressourcenverantwortung möglichst in eine Hand geben, um einer Trennung von Denken und Handeln entgegenzuwirken, um die Folgen eigener Entscheidungen auch am eigenen Budget spürbar zu machen; durch Delegation von Kompetenzen Eigeninitiative, Kreativität und Motivation des öffentlichen Dienstes fördern, über formale Verantwortung für das Einhalten von Vorschriften hinaus zu materieller Verantwortung für die eigenen Ergebnisse und zu persönlich spürbaren Folgen des eigenen Verhaltens leiten – summa summarum: bessere Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein häufigeres Infragestellen laufender öffentlicher Maßnahmen und der sie ausführenden Einheiten an die Stelle linearen Fortschreibens tritt und treffsicher auf Veränderungen in den globalen und nationalen Rahmenbedingungen reagiert werden kann. Dabei sind diese Grundideen des NPM offen für ihre Anwendung auf beliebigen Verwaltungsebenen und auf unterschiedlichste Fragestellungen, von der sogenannten Neuen Steuerung in Kommunen oder in staatlichen Behörden über die Rückführung staatlicher Sonderbehörden durch Kommunalisierung in die Linie bis zum Erzielen stärkerer Kongruenz von Aufgabe, Kompetenz, Finanzierung und Verantwortung im föderalen Staat. All dies wirkt auf den ersten Blick auch einsichtig auf dem Hintergrund beträchtlicher Herausforderungen, denen sich der öffentliche Sektor bekanntlich gegenüber sieht: Extern setzt die Globalisierung nicht nur die heimische Wirtschaft einem weltweiten Wettbewerb aus, sondern fast alle nationalen Einrichtungen, nicht zuletzt die der öffentlichen Verwaltung; intern sorgen uns die Verwerfungen in der Bevölkerungspyramide mit Negativfolgen für die soziale Sicherung und die öffentlichen Haushalte. Jedoch gibt es, wie so oft, auch im Falle von NPM Anzeichen für ein Auseinanderklaffen von Sollen und Sein. Zwar sind viele öffentliche Einrichtungen mit diesem Reformprogramm befasst4; sieht man sich aber Indi4 Mit Bilanzen von Modernisierungsansätzen befassen sich beispielsweise H. P. Bull, Fortschritte, Fehlschläge und Moden: eine Zwischenbilanz, in: J. Ziekow (Hrsg.), Entwicklungslinien der Verwaltungspolitik, Schriftenreihe der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Baden-Baden 2007, S. 151; M. S. Haque, Revisiting the New Public Management, in: Public Administration Review 2007, S. 179; OECD (Hrsg.), Modernising Government: The Way Forward, Paris 2005; J. Bogumil et al., Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell – Eine Bilanz kommunaler Verwaltungsmodernisierung, Berlin 2007; siehe zur Bilanzierung von Verwaltungsreformen auch etliche Tagungen, wie die von H. Hill im Oktober 2007 durchgeführte der DHV Speyer: Verwaltungsmodernisierung – Erfahrungen und Perspektiven.
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katoren zum Zustand des öffentlichen Sektors an, so will sich der Eindruck durchschlagender Erfolge so leicht nicht einstellen. Wir verweisen hier auf die alarmierenden Ausführungen eines Kenners der öffentlichen Verwaltung, die dieser – Oberbürgermeister von Landau sowie Vorsitzender des Städtetages Rheinland-Pfalz und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Städtetages – eben erst aus Anlass der Emeritierung von Heinrich Siedentopf über die „dramatische Finanzkrise“ der Kommunalverwaltung sowie über die „Gängelung“ der Behörden „durch immer mehr Vorschriften und Gesetze“ getan hat.5 Darin sind veränderte Bürgererwartungen oder mögliche Verbesserungen öffentlichen Handelns durch Nutzung des Technikpotenzials nicht einmal einbezogen. Wie verhalten wir uns angesichts solcher Diskrepanzen von Innovationserwartung und -erfolg? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Sein und Sollen wirkungsvollen Verwaltungshandelns, zwischen Tradition und Innovation, zwischen Wirklichkeit und Norm? Was zeichnet realistische und differenzierte Sollvorgaben aus, und wie müssten sie geplant und umgesetzt werden, damit sie nicht utopisch bleiben? Sind sich die verschiedenen Wissenschaftskonzeptionen – gestaltende „Normativisten“ hier, erklärende „Scientisten“ da – ihrer Unterschiede bewusst, oder besteht zwischen beiden eine Kluft?6 Wie müssten beide – normativ, gestaltend, präskriptiv die eine und deskriptiv, erklärend, prognostizierend die andere – zusammenarbeiten? Welche Schwierigkeiten stellen sich einer Reformvorbereitung unter Beteiligung der Wissenschaften in den Weg? Wie lässt sich überhaupt zuverlässiger feststellen, ob bzw. wo Änderungsvorhaben Erfolge zeitigen oder nicht? Und wie reagieren Reformansätze ihrerseits auf die permanenten Veränderungen ihrer Umgebung? Einschränkend sei aber eingestanden, dass hier nur Bruchteile dieses umfassenden Themas abgehandelt werden und sich oft nur programmatische Hinweise auf nötige weitere Untersuchungen geben lassen.
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C. Wolff, Die Modernisierung der nationalen Verwaltungen: Die kommunale Selbstverwaltung, in: S. Magiera/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung, Symposium aus Anlass der Emeritierung von Heinrich Siedentopf, Speyerer Forschungsberichte Nr. 252, Speyer 2007, S. 69. Dazu auch J. Lohmann, Noch sind die Länderhaushalte sanierbar, in: Verwaltung und Management 2006, S. 65, 121, 204 und 307. 6 Dazu H. H. von Arnim/R. Heiny/St. Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit, FÖV Discussion Paper Nr. 35, 3. Auflage, Speyer 2007, S. 1–3.
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II. Verwaltungswissenschaftliche Sichten auf Wirklichkeitsveränderungen Die Veränderbarkeit des Seins kann empirisch wie präskriptiv erforscht werden. Diese beiden Aufgabenfelder von Wissenschaft sind dabei sorgfältig abzugrenzen: Wirklichkeit immer besser verstehen helfen – das Feld empirisch-theoretischer Aussagen über das Sein – und Wirklichkeit immer besser gestalten helfen – das Feld normativ-theoretischer Aussagen über das Sollen (der „Werturteilsstreit“ hat bewusst gemacht, dass dabei die Normvorgaben außerwissenschaftlich sind, etwa von autorisierten Führungskräften stammen, dass zu deren Erreichung aber möglichst wissenschaftlich begründete Handlungsempfehlungen zu erarbeiten sind7).8 Auf beiden Feldern geht es, wenngleich grundlegend unterschiedlich, um die Beziehungen zwischen drei Aspekten: zu beobachtende Phänomene P, diese auslösende Ausgangslagen A – das Explanandum – , und einen Zusammenhang beider feststellende und erklärende Hypothesen H (bei deren hinreichender Bewährung: Theorien) – das Explanans.9 Ziel der erklärenden Variante empirisch-theoretischer Wissenschaft ist somit die Ableitung von Hypothesen H, die ein zu beobachtendes Phänomen P als Folge einer festgestellten Ausgangslage A erkennen. In einer prognostischen Variante ist die empirisch-theoretische Wissenschaft bemüht, aus einer Ausgangslage, verbunden mit geltenden Hypothesen, ein zu beobachtendes Phänomen vorauszusagen. Beide Varianten befassen sich mit dem Sein; es geht um kausales Wissen, um empirisch-theoretische Satzsysteme in Form von Erklärungs- und Prognosemodellen (in verbaler oder mathematischer Sprache). Diese auf die Seinswirklichkeit gerichtete, vor allem in der philosophischen Literatur auch Ontik genannte Ebene wissenschaftlicher Aussagen wird nun allerdings verlassen, wenn wir uns, nach Erklärung und Prognose, einer dritten Beziehung zwischen P, A und H zuwenden, der Gestaltung. Mit dem Bemühen, eine Ausgangslage A zu finden, die als Folge geltender Hypothesen H ein gewünschtes zu beobachtendes Phänomen P erwarten ließe, begeben wir uns auf das Feld des Handlungswissens in Form norma7 Dazu ausführlich A. Riklin, Verantwortung des Akademikers, St. Gallen 1987, S. 9. 8 Mehr bei H. Reinermann, Vom Sein und Sollen der Verwaltungsinformation, in: A. Benz/H. Siedentopf/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung – Festschrift für K. König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 481. 9 Grundlegend C. G. Hempel/P. Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 1948, S. 135. Siehe auch N. Otter, Ökonomische Erkenntnisprogramme in der Finanzwissenschaft, Marburg 2005, insbes. S. 27 ff.
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tiv-theoretischer Aussagen (mit der zuvor schon erwähnten Arbeitsteilung zwischen autorisierter Führung und Wissenschaft, was die Wertaussagen angeht) mit praxeologischen, pragmatischen oder instrumentalen Satzsystemen in Form von Entscheidungsmodellen (in verbaler oder mathematischer Sprache). Ähnliche deontisch ausgerichtete Ansätze sind unter anderen: Angewandte Wissenschaft; transdisziplinäre, weil Anwenderprobleme einbeziehende Wissenschaft; Aktionsforschung; Echtzeitwissenschaft; wissenschaftliche Politikberatung; oder partizipative Systemanalyse. Zu beachten ist nun aber, dass für wissenschaftlich begründete Gestaltungsaussagen eine einfache tautologische Ableitung aus empirisch-theoretischen Aussagen keineswegs hinreichen kann. Aus Seinsaussagen folgen keine Sollensaussagen. Über die existente Wirklichkeit soll ja gerade hinausgegangen, eine bessere gestaltet werden. Ergo ist der Bedingungsrahmen zu verlassen, der die vorgefundenen Zustände zur Folge hatte. Das zu erreichende Phänomen P, z. B. ein verändertes Selbstverständnis und Verhalten öffentlicher Verwaltungen durch einen Reformansatz wie NPM, ist dabei zunächst einmal ein Leitbild, eine Vision. Diese weitet aber den Blick auf in Betracht kommende Ausgangslagen, die geschaffen werden können und sollten, sofern die zugehörigen Hypothesen erwarten lassen, dass die Vision auf diesem Wege Wirklichkeit werden kann. Die Gestaltungsperspektive verlangt somit einerseits nach Interdisziplinarität, also nach Zusammenführung passender Aussagen10 der verschiedenen infrage kommenden Wissenschaften11, sowie nach Optimierung unter den möglichen zu schaffenden Ausgangslagen: Die Erkenntnisse aller relevanten empirisch-theoretischen Wissenschaften sind heranzuziehen, um die Tragfähigkeit der Vision und gegebenenfalls ihre bestmögliche Umsetzung zu gewährleisten. Soweit ein „Werkzeugkasten“ empirisch-theoretischer Wissenschaftsaussagen nicht existiert, bleibt den Gestaltern nichts übrig, als die Lücken selbst zu füllen. Andererseits verlangt die Gestaltungsperspektive darüber hinaus nach einer der lokal vorgefundenen Situation entsprechenden praxeologischen 10 Einen Ansatz mit Blick auf NPM liefert H. Reinermann, Neues Politik- und Verwaltungsmanagement: Leitbild und theoretische Grundlagen, in: H. Reinermann/F. F. Ridley/J.-C. Thoenig, Neues Politik- und Verwaltungsmanagement in der kommunalen Praxis – ein internationaler Vergleich, Interne Studie Nr. 158/1998 der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 1998, S. 17. 11 „Verwaltungsreformen haben . . . gezeigt, dass . . . der Nutzen wissenschaftlicher Unterstützung“ davon abhängt, „inwieweit es gelingt, eine Verwaltungswissenschaft als Integrationswissenschaft zu entwickeln“, K. König, Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsreformen, Speyerer Forschungsberichte Nr. 14, Speyer 1979, S. 25. Analog H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, in: Juristenzeitung 1989, S. 157, 159: „Staatslehre muss . . . eine Art Integrationswissenschaft werden.“
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Anpassung existierender empirisch-theoretischer Aussagen. Schon Immanuel Kant: „Die Theorie kann unvollständig und die Ergänzung derselben vielleicht nur durch noch anzustellende Versuche und Erfahrungen geschehen, von denen der aus seiner Schule kommende . . . Cameralist sich neue Regeln abstrahiren und seine Theorie vollständig machen kann und soll.“12 Man darf von empirisch-wissenschaftlichen Aussagen nicht erwarten, dass sie auf jede beliebige konkrete Situation passen. Stark vereinfacht, und die Abstraktionsebene von Reformansätzen wie NPM verlassend, entspricht den aufgezeigten Zusammenhängen dieses Anschauungsbeispiel: Die empirische verwaltungswissenschaftliche Forschung zeige, dass die Ausgangslage A „Bürgerbüros in Großstädten“ zum Phänomen P „Hohe Bürgerfreundlichkeit“ (gemessen durch Befragungen) und „Hohe Umweltfreundlichkeit“ (gemessen an den Immissionen) führe; genauer sei A beschrieben durch 1) die der betreffenden Verwaltung in der geltenden Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Handlungsformen, 2) die in diesem Falle gewählte Handlungsform Bürgerbüro als alle „vor die Klammer“ gezogenen bürgerorientierten Aufgaben der Behörde und 3) die Einwohnerzahl, die Verkehrsanbindung und die Parkplatzsituation des gewählten Standorts etc. Die Hypothese H lautet dann: „Immer wenn die Ausgangslage A gegeben ist, dann geschieht P“; sie ist so formuliert, dass sie sich empirisch auf – bis zu einer stets möglichen Widerlegung geltende – Wahrheit überprüfen lässt. Treffen Gestalter, die mit Verwaltungsmodernisierung an anderer Stelle befasst sind, auf diesen empirisch-wissenschaftlichen Befund, so bewerten sie das Phänomen P möglicherweise als „gut“ oder „erstrebenswert“, weil es in ein von ihnen vertretenes Sollkonzept, etwa NPM, passt. Dieses Ziel P lässt sich aber nun nicht einfach durch tautologische Umformung der empirischen Aussagen erreichen. Denn einmal kann sich die vorliegende zu optimierende Situation von A unterscheiden (geht es um die Bürger in einem Universitätsviertel, so könnte ein Internetportal besser sein als ein Bürgerbüro; besteht das Stadtgebiet aus mehreren Ortskernen, so könnte statt an ein an mehrere Bürgerbüros gedacht werden; etc.). Damit wäre dann auch nach entsprechenden anderen empirisch-theoretischen Befunden zu suchen, oder es wären, bei deren Fehlen, eigene Hypothesen zu entwickeln und einzusetzen. Zum andern sind gefundene empirisch-theoretische Aussagen situationsbezogen zu ergänzen. Etwa kann versucht werden, Imple12 I. Kant, Über den Gemeinspruch Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Akademie-Ausgabe (Göttinger Akademie der Wissenschaften), Band VIII, S. 273, 275. Anschaulich sein Beispiel, dass eine mathematische Theorie der Schussbahn durch den Schützen stets an die lokalen Windverhältnisse angepasst werden muss.
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mentierungswiderständen der Mitarbeiter mit Anreizen, solchen der Bürger mit Aufklärung zu begegnen. Sollanforderungen für eine bessere öffentliche Verwaltung auf verwaltungswissenschaftlicher Basis zu errichten, erfordert somit: Sollvorgaben entwickeln, die sich an im Zusammenhang mit einem Reformkonzept als „gut“ bewerteten empirisch nachweisbaren Phänomenen ebenso orientieren wie an neuen, etwa informationstechnisch ermöglichten Handlungsformen; nach empirischen Aussagen über Begründungszusammenhänge zwischen A, P und H forschen und diese gegebenenfalls in die Sollmodelle einbauen; Lücken in den gefundenen empirisch-theoretischen Aussagen ergänzen sowie Anpassungen übernommener empirisch-theoretischer Ansätze an lokal vorgefundene Bedingtheiten vornehmen. III. Empirisch-theoretisches Wissen über die Veränderbarkeit des Seins Zwar verfügt die Verwaltungswissenschaft nicht über einen „Werkzeugkasten“ mit heranzuziehenden Hypothesen und Theorien, und sie wird ihn auch, schon wegen der Offenheit der Wissenschaftserkenntnisse, nie in Reinkultur haben können; vielmehr ist es mühsam, empirische Befunde aus den infragekommenden Wissenschaften aufzufinden und zusammenzubringen.13 Aber einiges weiß man doch darüber, was beim Aufeinandertreffen von Innovation und Tradition geschieht; einige Gründe lassen sich durchaus anführen, warum sich die Umsetzung auch einsichtiger Reformabsichten in Seinswirklichkeit häufig anders als gedacht gestaltet. 1. Modellplatonismus „Es sei“ oder „ceteris paribus“ – mathematische, aber auch realwissenschaftliche Untersuchungen pflegen ihren Diskussionsraum durch gesetzte Annahmen einzugrenzen. Das ist auch notwendig, weil man anders nicht wissenschaftlich über die Wirklichkeit sprechen kann, denn mit ihren meist zahlreichen Akteuren, Handlungsvarianten, Beschränkungen und Möglichkeiten ist sie regelmäßig viel zu komplex. Die Welt kann auch nicht angehalten werden, um eine gründliche Bestandsaufnahme in einem Reformfeld zu machen. Modelle als Abstraktion von der Wirklichkeit sind also unvermeidlich. 13 Zu Anspruch und Stand von inter- und transdisziplinärer Wissenschaft siehe das Schwerpunktthema „Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, Juni 2005, S. 4.
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Die Erfahrung zeigt aber, dass bei der Modellbildung durchaus zu weit gegangen und letztlich „das falsche Problem“ zu lösen versucht wird. Das Kind wurde dann mit dem Bade ausgeschüttet, und die Sollmaßnahmen bringen nicht die erhofften Resultate. Systemtheoretisch ist bei der Modellbildung ein geschlossenes System von Erkenntnissen so zu bilden, dass dieses definiert ist durch „. . . die Grenze, die die kleinste Anzahl von Komponenten umschließt, innerhalb derer das zu untersuchende dynamische Verhalten erzeugt wird“14. Eine Modellbildung muss mithin alles ein zu verbesserndes Verhalten Konstituierende in Betracht ziehen und nur aus dieser Sicht Überflüssiges außen vor lassen. Auch haben disziplinäre Grenzen in einem zu bildenden Modell keinen Platz. Wo diese Maxime außer Acht gelassen wurde, mag man systematisches Denken betreiben – es bleibt systematisches Denken über Nicht-Systeme. Solche empirischen Erfahrungen über die Änderbarkeit des Seins werden aber durchaus nicht immer zur Kenntnis genommen, etwa werden längst am Übersehen verhaltensentscheidender Einflussfaktoren gescheiterte Ansätze von Neuem propagiert. Offenbar muss jeder seine eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen machen; sie sind, so scheint es, nur schwer übertragbar und kumulierbar. Johann Peter Hebel: „Das Fortrücken in der Kalenderjahreszahl macht wohl den Menschen, aber nicht die Menschheit reifer.“ Man unterzieht sich dann nicht der Mühe eines wissenschaftlich tragfähigen Vorgehens, etwa im Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas: Was liegt an empirischen Erfahrungen vor? Welche Komplementärmaßnahmen sind zu ergreifen, damit bekannte negative Wirkfaktoren ausgeschaltet werden können und die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Handlungsprogramms steigt? In diese Kategorie gehören wohl auch Patentlösungen. Ein typisches Beispiel war der Vorschlag des ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzministers Johann Wilhelm Gaddum, zur Erzielung von mehr Haushaltsdisziplin sollten alle dritten Lesungen von Gesetzen gemeinsam mit der Verabschiedung des jährlichen Haushaltsgesetzes erfolgen.15 Sein Vorschlag hatte immerhin den Vorzug, dass er nicht einer Symptomkur das Wort redete, sondern das Übel an der Wurzel packte; er belegt allerdings zugleich unmissverständlich, dass solche realitätsverändernden Eingriffe von den autorisierten Entscheidungsträgern vorzunehmen wären; ein vorgeschlagenes Soll ist kein Putsch- oder Revolutionsersatz. Schon der Fabeldichter Aesop fragte bekanntlich, wer denn „der Katze die Schelle umhängen“ solle. Flucht in Modellplatonismus kann auch darin begründet sein, dass der Austausch von Wissenschaft und Praxis mit vielerlei Berührungsängsten und 14
J. W. Forrester, Grundzüge einer Systemtheorie, Wiesbaden 1972, S. 88. So J. W. Gaddum, Finanz- und Steuerpolitik im Umbruch, Vortrag in der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 23. Juni 1980. 15
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Fallstricken verbunden ist. Praktiker fürchten den „Wissenschaftsschock“, Wissenschaftler den „Praxisschock“. Zum Versuch einer wissenschaftlichen Fundierung von Sollkonzepten kommt es dann gar nicht.16 2. Unterschiede zwischen Sozial- und Naturwissenschaften Sozialwissenschaften unterscheiden sich schon insofern grundlegend von den Naturwissenschaften, als sie es mit Menschen zu tun haben, die ihre eigenen Interessen verfolgen und in den untersuchten Zusammenhängen selbständig agieren. Damit sind die Handlungen dieser Akteure oft schwer vorauszusagen. Mit der Interessenabhängigkeit zusammen hängt das von Renate Mayntz so genannte „Problemlösungs-Vorurteil“17, das vielen Verwaltungsreformern eigen zu sein scheint. In der Tat müssen ja Politiker – systemgerecht – zunächst einmal an die Regierung gelangen bzw. in dieser verbleiben, um Sachprobleme lösen zu können. Erst kommt die Schicht der „politics“, geprägt von der Machtlogik eines Macchiavelli, dann die Schicht der „policies“, geprägt von der Formallogik eines Aristoteles. An dieser Reihenfolge ist nichts Ehrenrühriges. Vielmehr entspricht sie unserer parlamentarischen Demokratie: Wer nicht regiert, kann objektiv-sachlich wenig verändern. Dieser Faktor kann die Richtung, die Soll-Modelle bei ihrem Entwurf und bei ihrer Umsetzung einschlagen, entscheidend beeinflussen. Die Vermeidung negativer Folgen von, wie man diese Erscheinung auch nennen kann, parteilichem Eigennutz für das Gemeinwohl wird durch die in der Verfassung vorgesehene Parteienkonkurrenz erhofft – ganz analog übrigens zur zunächst verblüffenden Feststellung des Betriebswirtschaftlers Wilhelm Rieger, der privatwirtschaftliche Unternehmer könne es bei Strafe des Konkurses leider nicht vermeiden, den Markt zu beliefern: Auch hier soll das subjektive Eigeninteresse Gewinn über die „hidden hand“ des Wettbewerbs vor Auswüchsen bewahrt und in einen objektiven Gemeinnutz umgemünzt werden. Allerdings funktioniert dies nur, wenn Kartelle und andere Versuche, den Wettbewerb auszuschalten, durch entsprechende Gegenmaßnahmen verhindert werden.18 16 Zu den einen Wissenstransfer störenden Faktoren und Mitteln ihrer Beseitigung C. Böhret, Wissenstransfer – eine „praktische“ Zusatzaufgabe der Verwaltungswissenschaft, in: R. Koch (Hrsg.), Verwaltungsforschung in Perspektive, Baden-Baden 1987, S. 58, 79. 17 R. Mayntz, Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive, Working Paper 1/2 des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Mai 2001, S. 5. 18 Skeptisch, was eine solche Kontrolle der politischen Parteien angeht, von Arnim/Heiny/Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit (Anm. 6).
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Wenn der politische Wettbewerb greift und es zum Wechsel von Verantwortlichkeiten kommt, stellt sich für das Schicksal von Reformen wieder eine neue Frage, nämlich ob die jeweilige Regierung oder Behördenleitung die Vorhaben ihrer Vorgänger weiter unterstützt. Will man sich statt dessen von den Vorgängern absetzen, um deren Licht nicht zu hell und das eigene umso heller scheinen zu lassen, können Reformen kaum als lernender Prozess angelegt werden, wie es dem offenen Wissenschaftsverständnis eigentlich entspräche. 3. Überbewertung und Unterbewertung von Sachinformation Eine Folge der Missachtung der beiden vorgenannten Erfahrungen ist die häufig zu findende Überbewertung der Sachinformation in Sollkonzepten zur Verwaltungsreform. Eigentlich sollte stutzig machen, wenn „offenkundig“ nützliche Informationsangebote, wie sie etwa NPM anstrebt, den Entscheidern mühevoll angeboten werden müssen, statt dass sie den Anbietern aus der Hand gerissen würden. Information, die man wirklich braucht, beschafft man sich auch – und dann gilt im Umkehrschluss: Information (besser hier: Daten), die man sich nicht beschafft oder als unerbeten nicht zur Kenntnis nimmt, braucht man offensichtlich nicht. Ja, es drängt sich der Verdacht auf, „moderne“ Verfahren der Verbesserung von Verwaltungshandeln wären von den Entscheidungsträgern längst in Auftrag gegeben worden, wenn diese denn für sie wichtig wären. Es ist bemerkenswert, dass diese an sich auffällige Erfahrung so wenig bei Reformen bedacht und ihr nach Möglichkeit entgegengewirkt wird. Information als solche ist notwendig, aber in der Regel nicht für sich schon handlungsauslösend. Es ist die Realität, die uns auf Trab hält, nicht Information über sie. Erst wenn (einflussreiche) Akteure Information in Form von Forderungen und Unterstützungen vortragen, merkt das politische System auf und reagiert mit der Erwägung und, gegebenenfalls, dem Treffen von autorisierten Entscheidungen (so beispielsweise David Easton19). Das quietschende Rad bekommt das Öl. Als Beispiel reiche der Hinweis auf die zwanzig Jahre langen Warnungen vor einem Zusammenbruch unserer sozialen Sicherungssysteme20, die nun erst aufgegriffen werden. Umgekehrt kann der politische Wettbewerb nahe legen zu handeln, ohne über alle objektiv erforderlich erscheinende Informationen zu verfügen. Stuttgarts ehemaliger Oberbürgermeister Manfred Rommel wurde in den 19
Vgl. D. Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York/London/Sydney 1965. 20 So K. Littmann, Finanzpolitik bei Bevölkerungsrückgang, Speyerer Forschungsberichte Nr. 74, Speyer 1989.
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achtziger Jahren mit einer einschlägigen Feststellung hierzu zitiert: „Wir wissen zwar nicht, ob SO2 Waldsterben wirklich verursacht – aber wir haben es mehrheitlich so beschlossen.“ Dies scheint auf heutige Katastrophenszenarien übertragbar. Zwischen Sachinformation und getroffenen Entscheidungen besteht nicht immer ein direkter Zusammenhang. Diese Erfahrung kann auch durch die (kurze) Dauer von Legislaturperioden begünstigt werden, etwa wenn die Entscheidungsverantwortlichen Änderungen verordnen, ohne dass diese ausgereift sind. Die Challenger-Katastrophe 1986 gilt als Beispiel dafür, dass eine Behördenleitung aus politischen Gründen Erfolge erzielen will, ohne dass alle (hier: ingenieurwissenschaftlichen) Zusammenhänge geklärt sind. Ein „Overselling“ von Soll-Modellen durch neue Regierungen findet auch in Verbindung mit den beliebten Erfolgsfristen statt (etwa die EU-Strategien „Lissabon 2010“ und „eEurope 2005“ oder „BundOnline 2005“). Auch dieses Phänomen lässt sich jedoch nur schwer vermeiden, weil es politische Zwänge geben kann, Reformfreudigkeit unter Beweis stellen zu müssen. Eine Art Selbstverstärkung erfahren diese empirischen Zusammenhänge durch die Medien, die eher an Skandalen im öffentlichen Bereich interessiert sind als an Sachinformationen. Entsprechend schwach fällt die Informierung der Öffentlichkeit aus, die aber andererseits als Rückkoppelung für den Erfolg von Reformen wichtig wäre. In einer solchen Umgebung politischer Informationsinteressen haben es Sollkonzepte wie NPM, oder auch einzelne Bestandteile davon, nicht leicht. Allerdings ist Reformern ein Vorwurf nicht zu ersparen, wenn sie solche für unseren öffentlichen Sektor typische Realitäten nicht von vornherein in ihre Entwürfe einbeziehen. 4. Pfadabhängigkeit von Reformansätzen In aller Regel besteht in einem durch Sollvorschläge zu gestaltenden Bereich eine Vergangenheit, die gleichsam ihre genetischen Spuren hinterlassen hat und auch die Gegenwart prägt. „Bei Null beginnen“, ein Ansatz, den die Bauhaus-Bewegung propagierte, trägt meistens nicht. Selbst die Spurbreite der ersten Eisenbahnen in Großbritannien wurde an die Rillen der Römerstraßen angepasst, um die darauf ausgerichtete Infrastruktur an Stellmachern nutzen zu können. Auch in Behörden repräsentiert die vorgefundene Lage das Ergebnis früherer Aushandelungen, und das darin investierte Konsenskapital schreiben die Entscheidungsverantwortlichen nicht ohne Not ab. Dass die geltenden öffentlichen Haushalte als weitgehend zementiert gelten und auf kurze Sicht kaum Spielräume für eine Änderung von Prioritäten bieten, bestätigt diese Erfahrung nur. Der beste Indikator für die Struktur des kom-
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menden Haushalts ist der laufende. Budgetanalysen wie die von Aaron Wildavsky haben das immer wieder bestätigt.21 Wie bei einem Eisberg ragt die Gegenwart sichtbar aus dem Wasser hervor, aber der größere und tragende Teil befindet sich, mit bloßem Auge nur schwer wahrnehmbar, unter Wasser. Wie das „Sein das Bewusstsein“ bestimmt, bestimmt die Tradition das mögliche Soll.22 Deswegen sind von Zeit zu Zeit Reformen nicht weniger wichtig. Jedoch haben „Lösungen am grünen Tisch“ oder der Versuch, Reformmodelle aus anderen Bereichen zu „übertragen“, in aller Regel geringe Chancen. Vielmehr muss versucht werden, den Sachverstand des zu verändernden Bereichs, besonders den Einfluss der maßgeblichen Akteure, in den Entwurf von Sollvorstellungen einzubeziehen, um so auf gewachsene Traditionen Rücksicht nehmen zu können. 5. Komplexität und Dauer von Paradigmenwechseln Schließlich sei noch auf den Mentalitätswandel eingegangen, der gerade von Soll-Modellen des innovativen Management wie NPM gefordert wird, der aber lange Zeit in Anspruch nehmen kann. Thomas Kuhn hat gezeigt, dass der Wechsel von „Paradigmen“, also unseren Weltbildern und Denkgewohnheiten, sogar in der doch eigentlich so objektiven Naturwissenschaft Jahrzehnte dauern kann. Sein bekanntes Buch enthält genügend Beispiele von Paradigmen, die jeweils lange Zeit brauchten, bis „die Wahrheit“ gesehen werden konnte.23 Ein „kritischer Rationalismus“ im Sinne Karl R. Poppers findet hier also nicht von vornherein seine Entsprechung. Analog Max Planck, rückblickend auf seine wissenschaftliche Laufbahn: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Zwischen den Disziplinen und innerhalb deren „Schulen“ gibt es typische Auseinandersetzungen, denn „Paradigmen . . . geben Sicherheit: so21 Vgl. A. Wildavsky/A. Hammann, Comprehensive versus Incremental Budgeting in the Department of Agriculture, in: Administrative Sciences Quarterly 1965, S. 321. 22 Die „Initiative Mitteldeutschland“ vom August 2002 ist ein Beispiel: Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen planen, durch engere Kooperation ihrer Behörden effizienter zu werden – ein plausibel erscheinendes Vorhaben, das aber wegen Widerstands gegen Stellenstreichungen, Uneinigkeit über den Sitz zusammengelegter Behörden, unterschiedliche Rechtsverhältnisse, unterschiedliche Besoldungsstrukturen und unterschiedliche Verwaltungskulturen zurückgefahren werden musste, in: FAZ vom 30. Dezember 2003. 23 T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1978.
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lange sich ein Wissenschaftler paradigmatisch einordnet (die herrschende Meinung teilt und deren Grundlagen und Axiome übernimmt) bleibt er . . . anerkannt. . . . Erfreulicherweise kommt es aber immer wieder zum ‚Paradigmenwechsel‘. Die Wissenschaft befreit sich selbst . . . durch die Entwicklung ‚konkurrierender‘ Paradigmen aus der ‚Krise‘ einer drohenden Versteinerung“24. Das hat durchaus Ähnlichkeit mit Verwaltungsreformen heute.25 Können NPM oder Good Governance oder Electronic Government greifen? Die Auseinandersetzungen hierzulande26 scheinen Kuhns Analysen zum Paradigmenwandel ganz gut zu belegen. 6. Entwicklungsverlauf von Reformansätzen durch Anerkennen der Erfahrung verkürzbar Wäre man sich solcher, hier nur gestreifter Erfahrungszusammenhänge zwischen Sein und Sollen stärker bewusst, so könnten Sollmaßnahmen realistischer ausfallen. Auch wären wir besser auf Enttäuschungen vorbereitet und würden so manche Entwicklung als normal einstufen. Der Lebenszyklus von Soll-Modellen – nach Peter Mertens27 von „Ungläubigkeit über Euphorie, Spott und Frust zur (eventuellen) Reife“ – könnte verkürzt werden, was seinerseits die Erfolgsaussichten für innovative Verwaltungskonzepte bei ihrem Treffen auf Tradition steigern würde. IV. Begrenztheit des Wissens über Erfolg oder Misserfolg von Verwaltungsreformen Genau besehen erweist sich die Erfolgs- oder Misserfolgsfeststellung von Reformkonzepten für die öffentliche Verwaltung selbst als eine Aufgabe, die beträchtliche Mühe erfordert, der man sich allerdings nicht immer unterzieht. Der Zustand des öffentlichen Sektors deckt sich ja generell nicht von selbst auf, er muss mehr oder weniger mühevoll sichtbar gemacht werden.28 Wie gut funktioniert unser Sozialsystem, wie gut das Gesundheitssystem? Wie sicher ist unser Land, wie sicher sind Energieversorgung, Chemieanlagen, Brücken, Straßen, Staatsgrenzen? Wie gut werden Schüler und 24 C. Böhret, Vom Umgang mit der Wissenschaft, in: Verwaltung und Fortbildung 1985, S. 58, 63. 25 Dazu ausführlicher H. Reinermann, Neue Managementformen in der öffentlichen Verwaltung, in: Zeitschrift für Vermessungsverwaltung 1994, S. 627. 26 Anschaulich Bull, Fortschritte, Fehlschläge und Moden (Anm. 4). 27 P. Mertens, Expertensysteme in der Betriebswirtschaft, in: A. Schulz (Hrsg.), Die Zukunft der Informationssysteme, Berlin u. a. 1986, S. 62, 78. 28 Ein Ansatz sind die seit 2001 von der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh vorgelegten Bundesländervergleiche.
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Studierende ausgebildet? Antworten auf Fragen wie diese erfordern, wenn über ins Auge fallende Einzelbeobachtungen hinausgegangen werden soll, ein gezieltes Aufdecken der in aller Regel unsichtbaren Verhältnisse. Dieses „Rekonstruieren“ der öffentlichen Seinswirklichkeit erinnert in seiner Mühseligkeit durchaus an die der Rekonstruktion vergangener Lebensverhältnisse durch Archäologie oder Geschichtswissenschaft. Die „wahre Information“ bleibt gern verborgen.29 Diese Zusammenhänge gelten nun auch bei Änderungen, welche – zum Guten wie zum Schlechten – durch Verwaltungsreformen ausgelöst werden. Welche Folgewirkungen sind in der Seinswirklichkeit nachweisbar? Sind sie auf die Reformmaßnahmen zurückzuführen? Und wie werden sie tatsächlich – durch die Adressaten des Verwaltungshandelns, die behördlichen Mitarbeiter und die Öffentlichkeit – beurteilt? Die Antworten voraussetzende Mühe wird leichter durch vorgefasste Meinungen ersetzt. Es mag erstaunen, dass auf der Sollensseite in der Regel eine analoge Situation anzutreffen ist. Die mit Reformvorhaben angestrebten Wirkungen werden dann nur vage aufgeführt. Etwa sollen mit Electronic Government „die Verwaltungsabläufe verbessert“ oder „die Bürgerfreundlichkeit der Behörden“ erhöht werden. Auch, ob eine bestimmte Reformmaßnahme, die sich auf ein Sollkonzept, wie NPM, beruft, nach dem oben unter II. skizzierten Muster geplant und durchgeführt wurde, ließe sich nur auf Basis entsprechender Recherchen beurteilen. Mit dem Fehlen einer brauchbareren Messlatte ist aber selbstverständlich auch keine tragfähige Aussage über Erfolg oder Misserfolg eines Reformkonzepts möglich. Einrichtungen für diese Rekonstruktion von Sollens- und Seinsaussagen über den Zustand des öffentlichen Sektors sind dünn gesät. Es fehlt an Zentren wie das Speyerer WiDuT30, deren Aufgabe es sein müsste, Informationen über die Lage und die Aktivitäten im öffentlichen Bereich zu dokumentieren, damit diese verwaltungsintern wie -extern analysiert werden können.31 Mittlerweile informationstechnisch unterstützbare Möglich29 M. Serres: „Ich bin der Überzeugung, dass die Entscheidungen der Politiker, die Mitteilungen der Medien und die Reaktionen der Öffentlichkeit sehr weit von einer wirklichen Kenntnis des Problems entfernt sind“, in: Unsere Freiheit hängt von der wahren Information ab, Ein Gespräch mit Michel Serres, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 2000. 30 Dazu C. Böhret/C. Brenski, Dokumentation und Kommunikation der Verwaltungsmodernisierung in den Ländern: WiDuT als Instrument der Effizienzsteigerung (durch Kooperation), in: D. Bräunig/D. Greiling (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Öffentlichen Betriebswirtschaftslehre II, Festschrift für P. Eichhorn anlässlich seiner Emeritierung, Berlin 2007, S. 272. 31 Einen Schritt in die richtige Richtung tut das „Electronic Government Barometer“ der Schweiz, siehe K. Schedler, E-Government messen – aber richtig!, in:
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keiten wie die Messung der wirklichen Anwendung von Rechtsnormen und deren Folgen über Legal Knowledge-based Systems (LKBS) oder die Offenlegung öffentlichen Handelns im Internet gäbe es, sie werden aber bisher wenig benutzt, so dass man als Wissenschaftler kaum darauf zurückgreifen kann. Es fehlt weiter an empirischen Studien, wie sie Wirtz, Lütje und Schierz für die Erklärung niedriger Implementierungsgrade von eProcurement vorlegen.32 Mit solchen Studien wäre der „Werkzeugkasten“ verwaltungswissenschaftlich relevanten Reformwissens immer wieder aufzufüllen und fortzuschreiben, damit man jedenfalls in Ansätzen – denn auch eine solche Wissensbank muss ja offen sein für Änderungen – einen Bestand an empirisch-theoretischem Verwaltungswissen hat und damit zugleich besser erkannt werden kann, wenn Forscher diesem Bestand neue Erkenntnisse hinzufügen. Solange wir über solches Wissen nicht verfügen, bewegt man sich bei Evaluierungsversuchen von Verwaltungsreformen leicht im Bereich dessen, was in der wissenschaftlichen „community“ gerade modisch ist; der Sache einer besseren öffentlichen Verwaltung wird damit kaum gedient. Wer eine Evaluierung von Ansatz oder Erfolg einer Verwaltungsreform durchführt, spielt folglich eine maßgebliche Rolle. Paul Watzlawick hat mit seinem Konstruktivismus33 überzeugend dargelegt, dass es objektive Wahrheiten nicht gibt; man konstruiert sich seine „Wirklichkeit“ selbst. So gesehen haben wir es stets mit „hypothetischen Realitäten“34 zu tun. Karl R. Poppers Metapher von der „Kopflampe des Bergmanns“ bringt das ebenfalls zum Ausdruck.35 Man muss also beim Einordnen von Berichten über ein Scheitern oder einen Erfolg von Reformen mit Marshall McLuhan („Das Medium ist die Botschaft“) immer auch die Boten und ihre Absichten beachten. So ist von Politikern nicht zu erwarten, dass sie expressis verbis von ihren eigenen Reformversuchen abrücken, wenn sich diese als wenig wirksam erwiesen haben; eher spricht man dann von Fortentwicklungen. Anders verhält es sich allerdings, wenn eine ehemalige Opposition als ReBräunig/Greiling (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Öffentlichen Betriebswirtschaftslehre II (Anm. 30), S. 343. 32 Vgl. B. Wirtz/S. Lütje/G. Schierz, Elektronische Beschaffung in der Öffentlichen Verwaltung – Eine Analyse der Implementierungsbarrieren von e-Procurement in Kommunen, FÖV Discussion Paper Nr. 34, Speyer 2006. 33 Siehe z. B. P. Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, 24. Auflage, München/Zürich 2002. 34 W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 9, 30. 35 Dazu die Scheinwerfertheorie Poppers, wonach die selektive Perzeption in unserer Informationssuche von vorgängigen Motiven geleitet wird: Vgl. K. R. Popper, Die Logik der Forschung, 10. Auflage, Tübingen 2002.
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gierung ihre eigenen Reformabsichten mit neuen Begriffen ankündigt. Aber auch in der Wissenschaft findet man, dass ein Reformvorhaben nach Art einer Karikatur „definiert“ wird, um damit eine Strohpuppe zu haben, die man dann öffentlich verbrennt. Was etwa NPM beabsichtigt, ist seinerseits in hohem Maße analysebedürftig36; so macht man es sich zu leicht, wenn man diesem Konzept eine einseitige ökonomische Nutzenmaximierung vorwirft. Gern spricht dieser Zeitgeist auch mit ironischem Unterton über Reformvorschläge als „Reformrhetorik“. Man unterschätzt weiter gern die Implementierungsmühe und dabei die Rolle einer deontisch ausgerichteten Praxeologie, wenn man erwartet, dass ein Reformansatz wie, um beim Beispiel zu bleiben, NPM für die verschiedensten fachspezifischen Verwaltungskulturen hätte Gültigkeit nachweisen müssen. Einen solchen Reformansatz kann es nicht geben, weil letztlich immer generalisiert werden muss. Es ist folglich Aufgabe der Anwender und ihrer wissenschaftlichen Berater, in präskriptiv-normativer Sicht die stets und unausweichlich nötigen situativen Ergänzungen vorzunehmen, auch wenn es einfacher ist, „den Sack statt den Esel zu schlagen“, also die Ursache eines Implementierungsversagens im verwendeten Reformansatz zu suchen. Das häufige, schon von Immanuel Kant beklagte Missverständnis, „Theorie und Praxis“ passten nicht zusammen, spiegelt sich hierin. Entscheidend für die Antwort auf die Frage, ob denn eine Reform gegriffen habe, ist schließlich schon der Zeitpunkt der Messung. Erfolgt diese zu früh, haben sich möglicherweise noch nicht alle positiven oder negativen Auswirkungen entfaltet – erfolgt sie zu spät, können diese schon wieder durch neue Einflüsse, die mit der Reform wenig zu tun haben müssen, überlagert sein. Oft lässt sich auch die volle Entfaltung der Wirkungen von Reformen gar nicht abwarten. Die Welt hält ja nach der Implementierung nicht still, sondern wartet mit immer neuen Faktoren auf, auf die zu reagieren ist. Erschwert wird in diesem Zusammenhang eine tragfähige, also über „gefühlte“ und durchaus parteiische Stellungnahmen hinausgehende Evaluierung von Reformen dadurch, dass es in unseren hektischen Zeiten nicht möglich zu sein scheint, eine Zeitlang beim Namen für ein Reformkonzept zu bleiben. Begriffe wie NPM gleichen schnell abgegriffenen Münzen, die an Wert verlieren und durch einen für’s erste attraktiveren ersetzt werden. Wirkungen von Veränderungen herauszufiltern, wird somit auch terminologisch erschwert. Das schließt allerdings nicht aus, dass Reformkonzepte ihrerseits keine ewige Gültigkeit beanspruchen können, sondern sich selbst Anpassungen an die sich ändernde Seinswirklichkeit ausgesetzt sehen. 36 „Im Grunde müsste die Bedeutung der jeweils benutzten Reformvokabel genau geklärt werden, ehe man über den Grad der Zielerreichung spricht“, so Bull, Fortschritte, Fehlschläge und Moden (Anm. 4), S. 153.
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Im Ergebnis müssten wir also auf die Frage, ob sich Reformen bewährt haben,37 oft ehrlich antworten: „So genau wissen wir es nicht“. Berichte über ein Scheitern von Reformen bedürfen ihrerseits in der Regel einer genauen Überprüfung auf Stichhaltigkeit. V. Erwartbarkeit und Beeinflussbarkeit von Seinsveränderungen 1. Erwartbarkeit von Veränderungen der Verwaltungswirklichkeit Aus Erfahrung wissen wir selbstverständlich, dass sich unsere Umgebung permanent verändert. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Im Rückspiegel der Zeit werden zwei typische Änderungsverläufe erkennbar: revolutionäre wie das Verschwinden des Eisernen Vorhangs, die sozusagen bei „Überdruck im Kessel“ geschehen, und evolutionäre, die sich eher unmerklich einstellen38, Leopold von Ranke: „Der Fortschritt ist wie ein Strom, der sich auf seine eigene Weise den Weg bahnt.“ In Umsetzung des unter II. geschilderten Wissenschaftsauftrags, Seinsänderungen empirisch-erklärend zu verfolgen, sei zunächst beispielhaft eine Hypothese für den Verlauf des etwa in den sechziger Jahren beginnenden Einflusses der elektronischen Informationstechnik auf die Wirklichkeit angeboten. Versucht man, unsere Erfahrungen mit den Einflussfaktoren und Geschehnissen zu ordnen, so scheint die Hypothese plausibel, dass sich dieser Prozess auf vier Komponenten stützt, allerdings nicht notwendig berechenbar verläuft: Die Erfindung des Computers als Anstoß wurde, erstens, durch eine Reihe zusätzlicher Innovationen leistungsfähig sowie für eine breitere Mehrheit leicht nutzbar gemacht (z. B. Personalisierung, Vernetzung, Massenproduktion); aus der Erfindung entstand so ein Technologiekomplex. Dieser setzte sich allerdings nur durch, weil er, zweitens, von Informations- und Kommunikationsfesseln befreite, welche die Menschen zuvor als ihr Handeln einschränkend empfunden hatten, und weil er zeitgemäß war, also den Werten und Erwartungen der Gesellschaft überwiegend entsprach (u. a. eine neue Erreichbarkeit von Daten, Programmen und 37
Bull, Fortschritte, Fehlschläge und Moden (Anm. 4) kommt mit Blick auf die Erfolge der Neuen Steuerung zu einem gar nicht einmal so schlechten Urteil. Im Vortrag, der seiner Publikation zugrunde liegt, führte er wörtlich aus: „Ohne Neue Steuerung ist öffentliche Verwaltung nicht mehr vorstellbar“ (in der Publikation ähnlich S. 155). 38 „Die breiten Prozesse sozialer Anpassung an die geänderten Verhältnisse der Demokratisierung, Industrialisierung, Technisierung, Verstädterung usw. . . . greifen in manchem tiefer als die politisch intendierten und gesteuerten Umstellungen von Staats wegen.“ König, Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsreformen (Anm. 11), S. 22.
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Personen). Damit waren wichtige Voraussetzungen dafür gegeben, dass die neue Technologie, drittens, für innovative Lebensweisen und Handlungsformen genutzt wurde (z. B. E-Mail, Internetnutzung, Online-Buchung, Web 2.0). Allerdings erzeugten diese wiederum, viertens, einen Bedarf an komplementären Innovationen (z. B. Informationsrecht, Schulung, Infrastrukturbereitstellung, Forschung und Entwicklung). Soll technischer Fortschritt sich durchsetzen, so sind – dies also unsere Hypothese – die vier genannten Bereiche maßgeblich. In sich sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen entwickeln sie dynamische komplexe Muster der Interaktion, die zeitaufwendig, ja: niemals beendet und in ihren Ergebnissen großenteils nicht vorhersagbar sind. Gestalter (Praktiker und beratende Wissenschaftler) sind, wie man sieht, in diesem Strom der Entwicklung keineswegs nur Spielbälle, sondern sie haben verschiedene Möglichkeiten, diesen im Sinne ihrer Sollkonzepte zu beeinflussen und in Grenzen zu steuern (E-Government als Reformkonzept kann ein Handlungsprogramm dafür sein). Man könnte von Veränderung unter dem Einfluss von Sachzwängen sprechen, wie sie die Bedingungen und Herausforderungen der jeweiligen Zeit mit sich bringen. Trägt eine Analogie zur Veränderbarkeit der Verwaltungswirklichkeit durch Sollkonzepte wie, beispielsweise, NPM? Auch sie beginnen mit der Vorstellung eines Konzepts als Anstoß, das aber, erstens, im Laufe der Zeit selbst noch zu ergänzen und anzupassen ist, etwa durch die Umsetzungswahrscheinlichkeit erhöhende Unterstützungsmaßnahmen aus dem empirisch-theoretischen „Werkzeugkasten“ oder durch die Entwicklung zusätzlicher Verfahren (z. B. ein für Input- und Outputsteuerung geeignetes Rechnungswesen) oder durch Differenzierung, um jeweils Brauchbarkeit für spezifische Verwaltungsumgebungen herzustellen. Vorgeschlagene Sollkonzepte haben, zweitens, nur insoweit eine Umsetzungschance, als sie den Werten und Erwartungen der Beteiligten entsprechen (z. B. Nachhaltigkeit, Rechtzeitigkeit, Zugänglichkeit, Transparenz, Mitgestaltung oder Effizienz des Verwaltungshandelns ermöglichen), wobei allerdings zwischen den Einstellungen von Bevölkerung, Politikern, Verwaltungsführung und öffentlichem Dienst zu unterscheiden ist. Dementsprechend lassen sich mit einem Sollkonzept, drittens, innovative Verwaltungsformen gestalten (z. B. Produktbudgets, Bürgerbüros, Internetportale, ganzheitliche Aufgabenbündel, ebenen- und behördenübergreifende Wertschöpfungsketten, Agenturen). Zu deren Abstützung sind, viertens, komplementäre Maßnahmen erforderlich (z. B. Anpassung oder Schaffung rechtlicher Grundlagen, etwa im Organisations-, Haushalts- oder Personalrecht, Aufklärung, Schulung, Forschungsund Entwicklungsförderung oder das sogenannte Änderungsmanagement). Ein Zusammenhang von unter III. 5. behandelten „Paradigmenwechseln“ und „Fortschritt durch Sachzwänge“ ergibt sich wie folgt: Wissenschaftliche
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Paradigmen sind über längere oder kürzere Zeit auf sich selbst konzentriert und in sich Sachzwängen ausgesetzt, bis sie dann ihrerseits im Verlaufe der Zeit neuen Bedingungen und Herausforderungen als Paradigmenwechsel angepasst werden. Man kennt dies von naturwissenschaftlichen Theorien39, etwa die Ablösung des geozentrischen Weltbildes (Ptolemäus) durch das heliozentrische (Kopernikus) oder der Theorie der Gravitationsgesetze von Newton durch die Relativitätstheorie von Einstein. In ähnlicher Weise haben sich auch hierzulande die Verwaltungsreformschübe der Nachkriegszeit, vom Bürokratiemodell über den Planungsansatz, den Schlanken Staat, NPM, Electronic Government sowie Good Governance und weitere, jeweils in sich selbst, dann aber auch als Ganze an die sich im Zeitverlauf stellenden Bedingungen und Herausforderungen, an Sachzwänge also, angepasst und weiterentwickelt. Die Paradigmen fügen sich als Ganze ihrerseits in den Zeitstrom mit seinen Sachzwängen ein. 2. Beeinflussbarkeit von Veränderungen der Verwaltungswirklichkeit Angesichts der Ungewissheit der Zukunft sollten die Gestalter von Verwaltungsveränderungen kommenden Entwicklungen jedenfalls nicht im Wege stehen, gleichwohl aber soweit eben möglich auf sie vorbereitet sein (näherungsweise vergleichbar einem Schiff auf einem Strom, dessen Verlauf die Steuerleute wohl nutzen, aber nicht ändern können). Die Einflussnahme auf die Entwicklung ist durch deren Eigendynamik grundsätzlich begrenzt, sollte jedoch einigen Maximen folgen: Bei Reformvorhaben ist, sollen sie wissenschaftliche Ansprüche erfüllen, z. B. nach dem Hempel-OppenheimSchema vorzugehen; nach bereits vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Änderbarkeit der Verwaltungswirklichkeit muss allerdings gezielt gesucht, oft regelrecht „gefahndet“ werden. Tragfähige Lösungen lassen sich aber selten allein „am grünen Tisch“ entwerfen; wissenschaftliche Berater müssen sich in die Seinswirklichkeit, in die zu gestaltende Realität hineinbegeben, um sie in ihren tatsächlichen Funktionsweisen und Determinanten kennen zu lernen. Gleichwohl ist auf – nach wissenschaftlicher Erkenntnis mögliche – bessere Verwaltungsergebnisse immer wieder mit Nachdruck aufmerksam zu machen. Bei Maßnahmeprogrammen ist eine Serie von kleinen Schritten dann einem „big bang“ vorzuziehen, wenn so das Risiko verringert wird, Wege einzuschlagen, die sich später als Sackgasse herausstellen.40 Sollmaßnahmen sind nach Möglichkeit rückholbar anzule39 Zur Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse W. Schreckenberger, Grenzen der Wissenschaft – Ein Beitrag zur humangenetischen Forschung, Vortragstyposkript, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 2. Februar 2002. 40 B. Guggenberger, Zwischen Postmoderne und Präapokalyptikon: Zurück in die Zukunft oder Nach uns die Maschine? Zur Dialektik von Arbeitsorganisation und
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gen, denn so wenig die Welt angehalten werden kann, um gründliche Bestandsaufnahmen und eine Koordinierung aller Beteiligten vorzunehmen, so wenig hält sie auch nach der „Einführung“ von Soll-Modellen stille, vielmehr wartet sie mit immer neuen unerwarteten Faktoren auf, die Reaktionen erfordern. Rechtsnormen müssen offen für Anpassungen sein, d.h. nicht zu detailliert, unter Verwendung von Generalklauseln und wenn möglich befristet bzw. nur in Abhängigkeit von Wirkungsanalysen verlängerbar. Übereinstimmend mit einer Lehre aus Kybernetik und Regelungstheorie sollten überhaupt Maßnahmen nicht zu detailliert ausfallen, sondern der „Regelstrecke“ genügend Freiheit lassen, sich selbst an die Vorgaben anzupassen. Auch die Gestalter von Verwaltungshandeln sollten nicht klüger sein wollen als ihr Entwicklungsfeld, sondern sich auf Randbedingungen konzentrieren, welche die angestrebten Phänomene am ehesten entstehen lassen. Nach allem können Verwaltungsreformen selbstverständlich scheitern, aber sie müssen es nicht. Tatsächlich finden unter dem Sachzwang der Verhältnisse fortlaufend Veränderungen der Verwaltungswirklichkeit statt. Dafür ist ein Rahmen nützlich, ein Leitbild, auf das sich die Eingriffe zubewegen. Die sich ihrerseits den wechselnden Bedingungen und Herausforderungen immer wieder anpassenden Reformkonzepte können solche Leitbilder sein.
Daseinsgestaltung, in: P. Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrhundertausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Zweiter Band, Frankfurt am Main 1990, S. 598: „Eine möglichst große Zahl verschiedener kleiner Schritte ist dem einzigen großen Sprung nach vorn eindeutig vorzuziehen, weil sie das ganz große Risiko vermeidet, vor allem aber, weil sie den unmenschlichen Zwang von uns nimmt, uns . . . nicht irren zu dürfen“.
Governance – Good Governance Franz Strehl I. Governance – Begriff und Konzepte Die Begriffe „Governance“ und „Good Governance“ sind sowohl im akademisch-theoretischen als auch im praktischen Diskurs aktuell. Ihre Bedeutungen variieren allerdings in hohem Maße; es gibt nicht die eine, generell gültige Definition. Governance beschreibt im Prinzip grundlegende Konzepte des Wandels der Gestaltung staatlicher und über-staatlicher Systeme. Sie spiegeln die Tendenz und auch den Druck wider, das Top-Down Steuern und Regieren in Richtung eines höheren Partizipationsgrades der Betroffenen und eines Bottom-Up Regimes mit Verhandlungselementen zu verändern. Internationale Organisationen insbesondere im Finanzierungsbereich knüpfen ihre Entscheidungen über Darlehen und Kredite an Staaten zunehmend an die Bedingung, dass Reformen mit dem Ziel der Sicherstellung der Einhaltung der Prinzipien von „Good Governance“ durchgeführt werden. Im Gegensatz dazu wird allerdings das Thema „Bad Governance“ als eine der Kernursachen für das Nicht-Funktionieren von Gesellschaftssystemen angesehen. Governance bedeutet grundsätzlich die Ausübung politischer, ökonomischer und administrativer Autorität in Verwaltung und Management eines Landes. Dies findet seinen Ausdruck in der Suche nach neuen Möglichkeiten zur Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Bürgern und Institutionen. Ebenso geht es um Qualität und Leistung von Regierung und öffentlicher Verwaltung. Letztlich betrifft Governance viele Aspekte des Lebens jedes individuellen Bürgers. Es geht um den Interaktionsstil zwischen Regierung, Verwaltung und Gesellschaft und die internen Prozesse, durch die Ressourcen (Inputs) in Outputs (Leistungen, Produkte) und Outcomes (Wirkungen dieser Leistungen und Produkte) transformiert werden. Im weiteren Sinne kann dieses Governance-Konzept als ein System von Werten, politischem Handeln und Institutionen interpretiert werden, durch die eine Gesellschaft ihre ökonomischen, politischen und sozialen Aufgaben im staatlichen und privaten Sektor bewältigt. Neben den klassischen politischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen sind auch Umwelt und Ethik zu zentralen Perspektiven geworden.1 1 Vgl. F. Cloete/C. Auriacombe, Measuring transparency in public governance: Lessons from South Africa. Workshop-Paper, S. 2, 4. Congress of the Internation-
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Zur Kontrastierung des Begriffes „Good Governance“ wird der Begriff „Bad Governance“ herangezogen. Dieser ist traditionell charakterisiert durch Dimensionen wie Korruption, Nepotismus und Inkompetenz – drei verflochtene Praktiken, die in immer fortschreitender Weise die Glaubwürdigkeit des öffentlichen Sektors insbesondere in Entwicklungsländern unterminieren, in denen die Bürger praktisch nicht in der Lage sind, ihre Stimme zu erheben und Veränderungen und Fortschritte zu fordern. Korrupte Praktiken, verschärft durch Nepotismus und Machtmissbrauch sind aus ethischmoralischen Gründen nicht nur in der industrialisierten Welt inakzeptabel, sondern vor allem in den weniger entwickelten Ländern. In diesen haben sie zerstörerische Effekte, die die Möglichkeiten, die die ohnehin knappen Ressourcen bieten, weiter reduzieren. Sie machen es in diesen Ländern fast unmöglich, Ungleichheiten abzubauen und wirkungsvolle Investitionsprogramme zu realisieren. Das Problem der Verschwendung und des Missbrauchs öffentlicher Ressourcen ist natürlich nicht neu. Neu sind aber deren öffentliche Wahrnehmung und die Tatsache, dass es sich Gesellschaften nicht (mehr) leisten können, diese weiter fortzusetzen.2 Der Begriff der Governance ist in gewisser Weise modisch geworden. Die Interpretationen und Dimensionen von Governance sind allerdings vielfältig und beruhen auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen. Der Begriff wird in den unterschiedlichsten Disziplinen, wie etwa Volkswirtschaft, Management, Verwaltung, internationale Beziehungen, entwickelt. Governance ist zu einem Dachbegriff für eine Vielfalt von Phänomenen geworden: eine sich verändernde Rolle des Staates, politische Netzwerke, New Public Management, Koordination von bestimmten Sektoren der Wirtschaft, Public Private Partnerships, Netzwerke auf globaler Ebene (Global Governance) und die unternehmensbezogene „Corporate Governance“. Grundsätzlich geht es jedenfalls um die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und Wirtschaft bzw. Industrie und der politischen Steuerung von Systemen auf nationaler und internationaler Ebene.3 Die Debatte über „Corporate Governance“ ist im privaten Sektor aktuell. Der Schwerpunkt liegt auf Fragen der Gestaltung des Steuerungs- und Kontrollverhältnisses zwischen Eigentümern und Management von Unternehmen. Gesetzes- und regelkonformes Verhalten, Verantwortlichkeit und Rechenschaftslegung, Kontrolle und Transparenz stehen im Mittelpunkt der Diskussion. In vielen Ländern weral Institute of Administrative Sciences (IIAS) 16–20 July 2006, Monterrey, Mexico. 2 Vgl. A. Tobelem, Transparency, Access, and Openness for Better Public Governance. Workshop-Paper, S. 3., 12. Congress of the International Institute of Administrative Sciences (IIAS) 16–20 July 2006, Monterrey, Mexico. 3 Vgl. J. Pierre/G. Peters, Governance, Politics and the State, Basingstoke 2000, S. 14.
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den „Corporate Governance Codices“ entwickelt, deren Einhaltung von Unternehmen gegenüber der Öffentlichkeit als Imagefaktor vermarktet wird. Eine zunehmend wichtige Dimension der Governance-Debatte ist die nachhaltige Entwicklung. Bei nachhaltiger Entwicklung geht es um die Gestaltung effektiver, integrierter politischer Konzepte, um ökonomischen, umweltbezogenen und gesellschaftlichen Zielen gerecht werden zu können. Diese komplexe Aufgabe fällt mehreren Sektoren zu: Staat und Öffentlicher Verwaltung, privaten Unternehmen, Märkten, internationalen Beziehungen (Global Governance), Entwicklungspolitik (internationale Finanzierungsinstitutionen), der Gesellschaft im weiteren Sinne. Governance wird gesehen als Prozess, der auf Koordination, Stabilität und Struktur in einer Welt von Akteuren und Stakeholdern mit unterschiedlichster Größe und ausgestattet mit unterschiedlichster Macht und Ressourcen abzielt.4 Das Governance-Konzept bezieht sich sowohl auf die nationale als auch internationale Ebene. Politischer und ökonomischer Wettbewerb zwischen den Ländern hat zu neuen und besseren Methoden von Governance geführt. Gleichzeitig ist es offenkundig, dass es zu wachsenden Interaktionen und Interdependenzen auf nationalen und internationalen Ebenen kommt. Die interaktive und vielschichtige Governance von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren verändert die Rollen- und Arbeitsteilung zwischen Staat, Märkten und Gesellschaft sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene. Dieser Wandel zerstört die gegenwärtigen Modelle der Interaktion, führt zu neuen Institutionen und erfordert neue institutionelle staatliche Kapazitäten. Die Qualität von Governance eines Landes spielt im globalen Wettbewerb zwischen Ländern um die Attraktivität als Standort und Partner eine entscheidende Rolle. Die Effizienz und Effektivität der politischen und administrativen Institutionen sind zentrale Grundlagen der Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind Schlüsselfaktoren für die Attraktivität und die Entwicklung eines Landes. II. Theoretische Perspektiven von Governance Eine systematische, umfassende, theoretisch fundierte Analyse und Diskussion entwickelt Tiihonen und diskutiert fünf Perspektiven bzw. Dimensionen von Governance.5 – Governance als neues politisches Regime und Ergebnis fundamental neuer „Policies“, 4 5
Siehe dazu auch die Website: http://www.oecd.org. Vgl. S. Tiihonen, From Governing to Governance, Tampere 2004, Kapitel 2.
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– Internationale Systeme als Lösungsversuch für die fundamentalen Änderungen der internationalen Beziehungen als Folge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten, – Governance als zentraler Begriff in der Institutionenökonomie und der institutionellen Politikwissenschaft, – Governance als wesentliches Element der Entwicklungspolitik, – Governance als generelle Konzeption von Reformen in der öffentlichen Verwaltung (Public Management Reforms) vor allem in den OECDLändern. 1. Governance als neues politisches Regime und Ergebnis fundamental neuer „Policies“ Ein Governance-Regime definiert die grundlegenden Regeln, nach denen eine Gesellschaft ihre öffentlichen Angelegenheiten durchführt und verwaltet und welche grundlegenden Beziehungen Regierende und Regierte zueinander haben. Dieses Konzept liefert die strukturellen Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Allokation von Ressourcen. Insofern ist Governance „das bewusste Management von Strukturen eines Regimes mit einem Fokus auf der Erhöhung der Legitimation der öffentlichen Herrschaft“. Die „Objekte“ von Governance sind Märkte und Gesellschaft, die der Staat durch die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen regelt und steuert.6 In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage eine Rolle, inwieweit traditionelle Hierarchie-Prinzipien die strukturellen Voraussetzungen für die Bewältigung und Lösung komplexer und dynamischer Probleme moderner Gesellschaften schaffen können und welche Rollen- und Machtverteilung zwischen Staat und Markt zweckmäßig ist.7 Eine kontroversielle Debatte dreht sich um die Frage, ob Märkte mit ihren ökonomischen Spielregeln Probleme besser lösen als Hierarchien, und ob Ressourcen effizienter und effektiver verteilt und zugeordnet werden können. Dass Privat jedenfalls besser sei als Staat ist völlig unzutreffend – das zeigen viele Beispiele und Entwicklungen in diversen Ländern. Governance-Konzepte beziehen sich in diesem Zusammenhang auf die Steuerung und Koordination eines Sektors der Wirtschaft oder Industrie und auf die Prozesse, durch die eine Regierung die Wirtschaft proaktiv steuert. Ziel ist zu analysieren und zu verstehen, wie öffentliche und private Akteure und Stakeholder ökonomische Ak6
Vgl. G. Hyden, Governance and the Study of Politics, in: G. Hyden/M. Bratton (Hrsg.), Governance and Politics in Africa, Boulder 1992, S. 1, 7 ff.; vgl. auch Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 46 f. 7 Vgl. Pierre/Peters, Governance (Anm. 3), S. 14 f.
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tivitäten steuern und gewünschte Wirkungen erzielen. Regierung und Verwaltung haben jedenfalls zentrale Rollen bei der Erzielung ökonomische Wirkungen und im Management der Spannungen in modernen Wirtschaftssystemen in einer global kompetitiven Welt.8 Für die Rollenverteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gewinnen Netzwerke global zunehmend an Bedeutung und treten als machtvolle Interessenskoalitionen auf. Netzwerke als solche sind keineswegs ein neueres Phänomen, allerdings haben ihr Organisationsgrad und ihre Wirksamkeit zugenommen. Netzwerke sind in der Lage, den öffentlichen Sektor gemäß ihrer Präferenzen und Strategien zu beeinflussen. Insofern werden Hierarchien nicht (mehr) als der Gesellschaft angemessen gesehen. Sie spiegeln nicht deren Machtverhältnisse wider. Die staatlichen Ressourcen sind für die zunehmenden Aufgaben begrenzt und die Problemlösungskapazitäten in hierarchischen Strukturen nicht mehr adäquat. Netzwerke umfassen eine große Vielfalt von Akteuren und Stakeholdern. Netzwerke können die Koordination von öffentlichen und privaten Interessen und Ressourcen fördern und damit die Effizienz der Implementierung von öffentlichen Programmen erhöhen. Demgegenüber steht, dass die Interessen von Netzwerken in Konflikt zu den Interessen des Staates stehen können.9
2. Governance als Konzept für internationale Systeme und Beziehungen Unter diesem Begriff werden die Interaktionen zwischen und die Koordination von internationalen Systemen beschrieben und analysiert. Im Mittelpunkt stehen die Veränderungen der internationalen Beziehungen und die Institutionalisierung internationaler Organisationen zur Steuerung dieser Beziehungen wie z. B. EU, NAFTA (North American Free Trade Agreement), ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) MERCOSUR (Southern Common Market Agreement), SADC (Southern African Development Community). Für diese institutionellen Arrangements wird auch der Begriff „Global Governance“ verwendet. Die internationalen bzw. globalen ökonomischen Entwicklungen und die Liberalisierung der Märkte waren und sind Katalysatoren zu dieser Form der globalen Governance in Bezug auf die Güter-, Dienstleistungs- und Finanzmärkte. Ihre Gestaltung liegt in der Verantwortung der Länder, der internationalen Organisationen, Unternehmen, Nicht-Regierungs-Organisationen und anderer Akteure auf den Märkten.10 Die Globalisierung der Indus8
Ebd., S. 23. Ebd., S. 20 f. 10 Vgl. Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 63 ff. 9
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trie- und Finanzmärkte und die Entwicklung supranationaler Institutionen reduzieren die Autonomie und die Kontrollmöglichkeiten der einzelnen Staaten über die eigene Wirtschaft. 3. Governance in der Institutionenökonomie und der institutionellen Politikwissenschaft Vertreter der Institutionenökonmie waren unter den ersten, die die gegenwärtige Diskussion über Institutionen und Governance begannen. Hierzu gehörten Nobelpreisträger wie J. M. Buchanan, R. H. Coase und D. North, deren Forschungsarbeiten die Diskussion über die Rolle von Institutionen in der Entwicklung von Volkswirtschaft und Politikwissenschaft wesentlich beeinflusst haben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Beschreibung und Analyse der Entscheidungsprozesse öffentlicher Akteure und der Funktion von Anreizen und Informationen sowie die Funktionsweisen von Institutionen. Konzepte der Rationalität und der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorien sind wichtige Grundlagen. Weiters geht es um die Rollen der Institutionen des öffentlichen Sektors bei der Förderung von Wirtschaftswachstum und Einflussfaktoren auf Wirtschaftsleistung und Wirtschaftswachstum, wie Qualität und Struktur der öffentlichen und privaten Institutionen, Infrastruktur, Ausmaß an Sozialkapital und zivilem Engagement. Besonders fruchtbare Beiträge in dieser Debatte kommen aus Forschungen, die die politische Institutionentheorie in den Mittelpunkt stellen. Es wird die Wichtigkeit politischer Elemente, politischer Institutionen und der Demokratie für Governance betont. Politik wird als Interaktion von autonomen individuellen Akteuren, die ihre eigenen Präferenzen auf der Grundlage zukünftig kalkulierter Wirkungen verfolgen, gesehen. Für das Verständnis von Rolle und Funktion von Institutionen sei es demnach erforderlich, sowohl rationale als auch nicht rationale Dimensionen und Einflussfaktoren auf das Verhalten auf Individual- und Gruppenebene in die Analyse mit einzubeziehen.11 a) Mülleimer-Modell der Entscheidungsfindung Auf Grundlage ihrer Untersuchungen entwickelten March, Olsen und andere das mittlerweile als klassisch anzusehende „Mülleimer-Modell der Entscheidungsfindung“ – „Garbage Can Model of Decision Making“.12 „Mülleimer“ beschreibt Situationen, die charakterisiert sind durch 11 Ebd., S. 66 ff. Eine Debatte der grundlegenden Ideen des Neuen Institutionalismus findet sich in J. G. March/J. P. Olsen, Democratic Governance, New York 1995.
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das Zusammentreffen von Problemen, Lösungen, Teilnehmern und Entscheidungsgelegenheiten. Entscheidungsgelegenheiten werden als Situationen aufgefasst, in denen von einer Organisation eine Entscheidung erwartet wird. Diese Elemente stehen nicht in einem logisch-rationalen Zusammenhang, sondern treffen in irgendeiner Konstellation aufeinander. Verschiedene Akteure bringen verschiedene Probleme und verschiedene Lösungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein; ihre Teilnahme an Entscheidungsprozessen wechselt; sie haben unterschiedliche Kapazitäten, Energie und Zeit verfügbar; Hierarchien und Machtverteilung determinieren die Partizipationsmöglichkeiten oder -zwänge an Entscheidungsprozessen; die verfügbare Entscheidungszeit, die Kapazitäten und Belastung des Systems und der Akteure determinieren den Entscheidungsverlauf und die Entscheidungsergebnisse. Das Modell postuliert, dass Entscheidungsergebnisse keinesfalls immer „Lösungen“ sind, sondern vielmehr auch zeitliche und organisatorische Verschiebungen bzw. schlichtes Ignorieren des Problems sein können. Dieses Modell liefert einen wesentlichen Beitrag zur Beschreibung, Analyse und Erklärung von multipersonalen, multitemporalen Entscheidungsprozessen in komplexen Organisationen und eröffnet eine innovative verhaltenswissenschaftliche Perspektive zum Verständnis des Funktionierens und des Wandels von Organisationen. Das Konzept des Mülleimer-Modells liefert einen wesentlichen theoretischen und auch pragmatisch orientierten Beitrag zur Analyse und zum Verstehen des Verhaltens von Organisationen und deren Akteuren – insbesondere unter Bedingungen der Unsicherheit und Komplexität. Das Modell ermöglicht nicht nur Aussagen über Entscheidungsprozesse, sondern auch Macht- und Konfliktdimensionen und inkludiert den Aspekt organisationalen Wandels (organizational change).13 Das Modell versteht sich als Verhaltenstheorie, die es ermöglichen soll, Entscheidungsprozesse zu beschreiben und Auswirkungen bestimmter organisationaler Variablen auf diese Prozesse zu untersuchen. Es wird angenommen, dass Akteure, die in Organisationen interaktiv Entscheidungen treffen, dies nicht nach idealen Kriterien der ökonomischen Rationalität tun, sondern ihr Verhalten eine Abweichung von diesem Ideal darstellt. Individuelle Ziele, Interessen, und Gefühle beeinflussen die Entscheidungsprozesse ebenso wie sachlich-rationale Faktoren. Das Modell liefert eine konzeptionelle Möglichkeit, diese anscheinend ungeordneten und chaotisch ablaufenden Entscheidungsprozesse zu interpretieren und darin bestimmte gesetz12 J. G. March/J. P. Olsen (Hrsg.), Ambiguity and Choice in Organizations, Oslo 1982; M. D. Cohen/J. G. March/J. P. Olsen, A Garbage Can Model of Organizational Choice, in: Administrative Science Quarterly, 17 (1972), S. 1 ff. 13 M. K. Moch/L. R. Pondy, Ambiguity and Choice in Organizations, in: Administrative Science Quarterly, 22 (1977), S. 351 ff.
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mäßige Muster zu erkennen. Es wird davon ausgegangen, dass Organisationsmitglieder auf der Basis einer Vielfalt von inkonsistenten und schlechtdefinierten Präferenzen agieren, die eher eine lose verknüpfte Sammlung von Ideen darstellen als eine kohärente Struktur.14 Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist, dass Entscheidungsprozesse als sog. „organisierte Anarchie“ interpretiert werden. Präferenzen werden nicht klar vor der Handlung definiert, sondern durch die Akteure eher ex post entdeckt; Vorgangsweisen und Rollenerwartungen sind unklar; man agiert eher auf der Grundlage von Erfahrung und pragmatischen Erfindungen in einer gegebenen Situation. Es besteht eine wechselnde Teilnahme der Akteure am Entscheidungsprozess; sie investieren in unterschiedlichem Ausmaß Zeit und Energie.15 Es wird unterstellt, dass in einer Organisation keine konsistente, gemeinsame (hierarchisch aufgebaute) Zielordnung der Organisationsmitglieder existiert, sondern häufig Entscheidungssituationen unter der Bedingung der Mehrdeutigkeit vorliegen. Der Begriff der Mehrdeutigkeit ist ein zentrales Element des Modells und charakterisiert vier Aspekte:16 – Mehrdeutigkeit der Absicht: Es existieren in Organisationen im Grunde inkonsistente und schlecht-definierte Ziele (Kriterien der Ziele sind nicht eindeutig, Wege zur Zielerreichung nicht eindeutig, Qualität der Zielerreichung kann nicht eindeutig angegeben werden). – Mehrdeutigkeit des Verstehens: Für Organisationen bzw. deren Mitglieder sind kausale Ursache-Wirkungs-Beziehungen nicht erkennbar. Vorgangsweisen und Abläufe sind häufig unklar, die Umwelt ist schwer interpretierbar und es ist zudem schwierig, die Zusammenhänge zwischen organisationalen Handlungen und deren Konsequenzen zu erkennen. – Mehrdeutigkeit der Vergangenheit (Geschichte): Vergangenheit und damit Erfahrung ist zwar von großer Bedeutung für die Organisation und ihre Mitglieder; sie kann jedoch nicht leicht eindeutig interpretiert werden. Sie kann rekonstruiert und/oder verzerrt werden. Es ist schwierig festzustellen, was vorgefallen ist, warum dies so war und ob dies überhaupt so sein musste. – Mehrdeutigkeit der Organisation: Zu jedem beliebigen Zeitpunkt haben die Organisationsmitglieder ein unterschiedliches Maß an Aufmerksamkeit, das sie unterschiedlichen Entscheidungssituationen widmen können 14 F. Strehl, Reformarbeit in bürokratischen Organisationen, Baden-Baden 1989, S. 114. In Kapitel 3 wird das Mülleimer-Modell im Detail beschrieben. 15 Vgl. Cohen/March/Olsen, Garbage Can (Anm. 12), S. 1 ff. 16 Vgl. J. G. March/J. P. Olsen, Organizational Choice under Ambiguity, in: March/Olsen (Hrsg.), Ambiguity (Anm. 12), S. 10, 12 f.; vgl. auch Strehl, Reformarbeit (Anm. 14), S. 115 f.
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bzw. wollen. Als Folge sind die Muster der Teilnahme an Entscheidungen unterschiedlich intensiv und sie ändern sich. b) Mülleimer-Modell der Entscheidungsfindung und Governance Insgesamt liegt eine Stärke des Mülleimer-Modells in seinem Beitrag zur Bewusstmachung, welche Handlungstendenzen Akteure in Situationen der Mehrdeutigkeit und Komplexität an den Tag legen können und dass Entscheidungssituationen nicht nur der Entscheidung eines bestimmten Sachverhalts dienen, sondern auch einen hohen symbolischen Wert für die Teilnehmer am Entscheidungsprozess haben können, die diesen für ihre eigenen Präferenzen und Intentionen einsetzen. Das Modell erscheint geeignet, die komplexen, dynamischen und unsicheren Situationen und Prozesse der Governance-Ansätze zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären. Dies ist auch relevant für politische und administrative Systeme, die die Funktionen von Good Governance innehaben und erfüllen (müssen). Für March und Olsen geht es dabei insbesondere um die Steuerung von Identität, Solidarität und Konflikten in Bezug auf Bürger und Gruppen im politischen Umfeld; den Aufbau von Kapazitäten, die Entwicklung, Diffusion und den Transfer von Fähigkeiten und Wissen; die Verantwortung und Rechenschaftslegung des politischen Systems und insbesondere die Anpassung und Weiterentwicklung von Systemen zur Bewältigung der sich ändernden Umwelten.17 4. Governance als wesentliches Element der Entwicklungspolitik Hintergrund dieser Perspektive von Governance war das Ergebnis einer Analyse der Weltbank zum Problem von „Bad Governance“ in den afrikanischen Sub-Sahara-Ländern.18 Ausgangspunkt war die Diskussion der Gründe für das Scheitern von strukturellen Anpassungskonzepten der Bank in den 1980er Jahren. Die Studie zeigte, dass das sehr langsame Entwicklungstempo in diesen afrikanischen Ländern eng verknüpft war mit der Personalisierung von Macht, patrimonialen Regierungspraktiken, Fehlen von Menschenrechten, Korruption, geringen Kapazitäten im Wirtschaftsmanagement, ineffizienter, überdimensionierter und wirkungsloser öffentlicher Verwaltung, nicht-gewählten und nicht-verantwortlichen Regierungen, insgesamt also „Bad Governance“ und „Ineffective Public Administration“. 17
Vgl. J. G. March/J. P. Olsen, Democratic Governance, New York 1995, S. 44 ff. 18 The World Bank (Hrsg.), Sub-Saharan Africa. From Crisis to Sustainable Growth, Washington D. C. 1989.
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Diese Thematik wurde in weiteren Berichten und Konferenzen behandelt und eine klare Botschaft herausgearbeitet: wirtschaftlicher Fortschritt hängt von den Fähigkeiten der Regierung ab, ihre Autorität und Macht so einzusetzen, dass sowohl ein formaler als auch ein informaler Rahmen von Institutionen etabliert und beibehalten werden kann, in dem die gesellschaftlichen und ökonomischen Interaktionen reguliert und gesteuert werden. Der Schwerpunkt der Governance-Debatte in der Weltbank wurde auf die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Wohlfahrt und der Steigerung der Effizienz der Märkte gelegt. Good Governance wurde nicht per se als Ziel gesehen, sondern vielmehr als Instrument zur Förderung der Wirtschaftsentwicklung.19 Im Zuge dieser Weltbank-Debatte waren es Landell-Mills und Serageldin, die die Dimensionen „Partizipation“, „Freiheit“, „Rechenschaftslegung“ und „Transparenz“ als Eckpfeiler von Good Governance bezeichneten. Auf sie geht auch die Positionierung der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 als ideologische Basis der GovernanceDebatte zurück.20 Sie definieren Good Governance in bemerkenswerter Weise wie folgt:21 „Good Governance depends on the extent to which government is: – perceived and accepted by the general citizenry to be legitimate, – committed to improve general public welfare and responsive to the needs of its citizenry, – competent in assuring law and order and in delivering public services, – able to create an enabling policy environment for productive activities, – equitable in its conduct, favouring no special interests or groups.“ Grundsätzlich und als Leitsatz formuliert ist für die Vereinten Nationen Governance der Prozess, durch den öffentliche Institutionen öffentliche Angelegenheiten erledigen, öffentliche Ressourcen managen und die Sicherstellung der Menschenrechte garantieren. Good Governance erreicht dies in einer Art und Weise, die grundlegend frei ist von Missbrauch und Korruption und unter Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit.22 Voraussetzung für die Erfüllung dieser Anforderungen sind politische Verantwortung und Rechenschaftslegung, Versammlungs- und Organisationsfreiheit, objektive und effiziente Justiz, Verantwortung und Rechenschaftslegung der öffentlichen Ver19
Vgl. Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 73 f. Vgl. P. Landell-Mills/I. Serageldin, Governance and the Development Process, in: Finance and Development, Vol. 28 (1991), No. 3, S. 1, 6 f. 21 Ebd., S. 13. 22 Siehe dazu im Detail: http://www.un.org. 20
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waltung, Informationsfreiheit, Effizienz und Effektivität öffentlicher Institutionen. Mit diesen Kriterien für Good Governance wird ein Idealbild formuliert in dem die politische Dimension im Mittelpunkt steht. Für die Weltbank allerdings ist eine Einmischung in politische Angelegenheiten eines Landes nicht gestattet. 1992 formulierte die Weltbank explizit ihre Position, dass politische Aspekte von Governance von ihr nicht diskutiert würden, da diese über ihr Mandat hinausgingen.23 Sie konzentriert sich daher insbesondere auf die Bereiche Volkswirtschaft und Reformen des öffentlichen Sektors. 1995 wurde das Thema der Korruption in die Diskussion eingebracht, und damit wurden makroökonomische und finanzielle Überlegungen um gesellschaftliche Aspekte bzw. Verhaltensfragen erweitert. Die Konzeption der Weltbank diskutiert seit 2000 Governance in einem breiteren Kontext wobei die öffentliche Verwaltung als zentrale Kraft aufgefasst wird. Der Weltbank-Bericht „Reforming Public Institutions and Strengthening Governance“24 betont die Bedeutung von Regeln und Restriktionen, Mechanismen der Partizipation der Bürger und Mechanismen zur Förderung des Wettbewerbs. Regeln und Restriktionen sind verfassungsmäßige Anforderungen an ein politisches System. Zu den Mechanismen der Partizipation zählen repräsentative Entscheidungen und politische Aufsicht, direkte Partizipation der Verbraucher, Nicht-Regierungsorganisationen und Beobachtung der politischen Handlungsfelder, offene Information und Transparenz. Als Wettbewerbsfaktoren werden gesehen: politischer Wettbewerb zwischen Regionen und Parteien, Marktmechanismen für die öffentliche Verwaltung bzw. Verwaltungseinheiten und zwischen öffentlichen und privaten Anbietern von Information, Dienstleistungen und Gütern und auch Wettbewerb innerhalb der öffentlichen Verwaltung.25 5. Governance als Public Management Aus betriebswirtschaftlicher Sicht und für die öffentliche Verwaltung i. e. S. relevant ist die Diskussion von Zweck und Wirkung von Managementkonzepten und Verwaltungsreformen für Strukturen, Prozesse, Methoden und Instrumente der öffentlichen Verwaltung. Governance wird hier als generelle Konzeption für Reformen der öffentlichen Verwaltungen – insbesondere in den OECD-Ländern – zu Grunde gelegt. Der Begriff bezieht 23 Vgl. The World Bank (Hrsg.), Governance and Development, Washington D. C. 1992, S. 5. Auch Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 76 f. 24 The World Bank (Hrsg.), Reforming Public Institutions and Strengthening Governance. A World Bank Strategy. Washington D. C. 2000. 25 The World Bank (Hrsg.), Governance (Anm. 23), S. 22–31; vgl. auch Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 76 f.
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sich insbesondere auf Governance innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Er grenzt die Verwaltung von Staat (Politik), Gesellschaft und Markt ab und betrachtet nicht deren Interaktionen. In den Diskussionen zur Verwaltungsreform wird der Begriff der Governance als Ausdruck grundlegender Veränderungen in der Art und Weise des Managements der öffentlichen Verwaltung verwendet. Die angelegten Perspektiven sind allerdings vielfältig und widersprüchlich: einerseits wird Governance auf das interne Management und die Reformen der Verwaltungen bezogen. So hat z. B. die OECD den Begriff „Public Management“ durch „Governance“ ersetzt.26 Andererseits wird der Begriff wesentlich weiter gefasst und systemorientiert konzipiert. Die Grundlagen der Diskussion gehen insbesondere zurück auf die sog. „Niederländische Schule“ um Kickert, Kooiman und andere.27 Von Beginn der 1990er an wurden alternative Konzeptionen und Modelle des Public Management entwickelt.28 Die Grundlagen hierfür wurden in Deutschland in den späten 1980er Jahren gelegt, als die Diskussionen über neue Möglichkeiten der politischen Steuerung begannen. Für die Niederländische Schule bedeutet Governance die öffentliche Steuerung gesellschaftlicher Prozesse, in die eine Vielzahl von Akteuren (Stakeholdern) mit konfligierenden Interessen involviert ist. Governance beeinflusst direkt politische und soziale Prozesse in Märkten und Gesellschaft. Für Kickert ist Governance nicht auf Management-Prinzipien aufgebaut, sondern auf politischen Grundsätzen. Management-Kriterien spielen eine untergeordnete Rolle.29 Insgesamt argumentiert die Niederländische Schule, dass betriebswirtschaftlich orientierte Management-Modelle i. e. S. nicht für die öffentliche Verwaltung passen, Governance also nicht nur eine interne Funktion der öffentlichen Verwaltung sein kann, sondern sich auf die Gestaltung der Interaktionen zwischen öffentlichen und privaten Institutionen und der Gesellschaft bezieht. Demnach ist Governance im Grunde das Management von Netzewerken und Interaktionen mit einer Vielzahl von verschiedenen Stakeholdern. Governance wird als eine alternative Reformstrategie zu „New Public Management“ aufgefasst. Eine kritische Stimme zu den Interpretationen des New Public Management und der management-orientierten Reformen erhebt Klaus König. Er 26 Governance in Transition: Public Management Reforms in OECD Countries, Paris 1995. 27 W. Kickert, Complexity, Governance and Conceptual Exploration of Public Network Management, in: J. Kooiman (Hrsg.), Modern Governance, New Government-Society Interactions, London 1993, S. 191. 28 J. Kooiman, Social-Political Governance: Introduction, ebd., S. 1. 29 Vgl. Kickert, Complexity (Anm. 27), S. 191 f.
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verteidigt die rechtlich orientierte Definition der öffentlichen Verwaltung und des Verwaltungshandelns. Für König muss Governance auf bürokratischen Grundsätzen (im klassischen Sinn des Begriffs) beruhen, nach denen Verantwortung, Kompetenz und Aufgaben in der Rechtsordnung klar definiert sind und wobei nach den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu handeln ist. Die Perspektive ist, dass die öffentliche Verwaltung Dienstleistungen für Bürger erbringt und nicht für „Kunden“. Die Ökonomisierung bezieht sich nicht nur auf eine neue Gestaltung der Arbeits- und Rollenverteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch auf die Binnenrationalisierung von Staat und Verwaltung einschließlich eines unternehmerischen Geistes in der öffentlichen Verwaltung und eines virtuellen Wettbewerbs unter Einführung von Quasi-Märkten im Staat selbst. Sowohl für die Ökonomisierung nach Innen als auch nach Außen müssten ordnungspolitische Kriterien gelten. Für König darf es in der Modernisierung von Staat und Verwaltung keine Budgetierung geben, die das Primat der Volksvertretungen schwächt. Reorganisationen müssen die Befugnisse des Gesetzgebers im Wesentlichen berücksichtigen. Ein Kontraktmanagement darf nicht zur Aushebelung von Regierungs- und Ressortverantwortung führen. Privatisierungen dürfen nicht den Grundrechtsschutz beeinträchtigen. Kundenorientierung darf nicht bedeuten, dass es auf individuelle Leistungsrechte der Bürger nicht mehr ankommt. Öffentliche Organisationen dürfen nicht unter Ausnutzung von Wettbewerbsvorteilen in neue Märkte eindringen. Partnerschaften zwischen Öffentlichen und Privaten dürfen nicht dazu führen, dass die staatliche Verantwortung verloren geht usw. König ist insgesamt sehr skeptisch im Hinblick auf die Frage, ob Marktmechanismen und Privatisierung zum Konzept von Governance gehören.30 Die Anwendung von Instrumenten des privaten Sektors auf die öffentliche Verwaltung führen nach König auch zu Missverständnissen – sowohl in Theorie als auch Praxis – dahingehend, dass im privaten Sektor Managementinstrumente für die Leitung und Steuerung von Unternehmen entwickelt werden, die das Objekt von Management sind und nicht ihr sozio-ökonomisches Umfeld, d. h. der Markt. Ein primäres Ziel effizienten und effektiven Managements sei die Stärkung der Positionierung der Unternehmung im Markt. Kein Manager und kein Unternehmen würden jedoch für sich in Anspruch nehmen, den Markt als solchen zu managen, außer es handelte sich um ein Monopol. So wurden traditionellerweise Managementinstrumente auf Staat und Verwaltung transferiert, jedoch für die interne Steuerung und nicht bezogen auf die Steuerung von Bürgern, Gesellschaft und Wirtschaft. Immer stärker rückt 30 Vgl. K. König, Zur Managerialisierung und Ökonomisierung der Öffentlichen Verwaltung. Speyerer Forschungsberichte 209, Speyer 2000, S. 26.
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allerdings die Absicht in den Vordergrund, alle Angelegenheiten eines Landes mit solchen Instrumenten zu steuern („to manage a nation’s affairs“), also auch das Umfeld der öffentlichen Verwaltung.31 Insgesamt wird König dahingehend interpretiert, dass Governance in der öffentlichen Verwaltung nicht auf Managementtheorien beruhen könne.32 Neben der vielfältigen Kritik am „Managerialismus“ der und in der öffentlichen Verwaltung nimmt jedoch auch die Weiterführung und Vertiefung der – mittlerweile traditionellen „New Public Management“-Konzepte – in der internationalen theoretischen Diskussion und „best practice“ breiten Raum ein. Dies zeigt sich z. B. seit einigen Jahren in den Kongressen des International Institute of Administrative Sciences (Brüssel) zu den Themen der „Good Governance“. In den Beiträgen und Diskussionen wird dieses Spannungsfeld in kontroversieller aber auch fruchtbarer Weise deutlich, und es zeigt sich, dass sowohl in Theorie als auch Praxis in beiden Bereichen intensiv geforscht und gearbeitet wird. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass die Debatte geöffnet und weitergeführt werden muss, insbesondere auch im Hinblick darauf, dass die Umsetzung der „berühmt-berüchtigten 3 E’s“ des New Public Management (Economy, Efficiency und Effectiveness) im Kontext mit den jeweiligen Rahmenbedingungen (einer Organisation, eines Landes) zu gestalten ist.33 Trotz aller Kritik spielen Management-Konzepte für die Steigerung der Leistungsfähigkeit von Verwaltungen eine zentrale Rolle. In den späten 1980er Jahren wurde in vielen Industrieländern erkannt (und zugegeben), dass die Politik, die wachsenden öffentlichen Verwaltungen, die Bürokratie mit ihren negativen und dysfunktionalen Auswüchsen und die Beamten als solche die ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme der Länder nicht in ausreichendem Maße zu lösen vermochten. Überdimensionierte Bürokratien und Dysfunktionalitäten wie Ineffizienz, Verschwendung, zu hohe Kosten, Überbelastung usw. waren willkommene Ziele für Kritik und Forderungen nach Reformen. Dezentralisierung von Macht, Kompetenzen und Verantwortung, Einführung von Markt- bzw. Quasi-Marktmechanismen, Re31 Vgl. K. König, Good Governance – a Steering and Value Concept for the Modern Administrative State, in: J. Corkery (Hrsg.), Governance: Concepts and Applications. Working Group of the International Institute of Administrative Sciences, Brussels 1999, S. 67, 73. 32 Vgl. Tiihonen, Governing (Anm. 5), S. 61. 33 Siehe dazu z. B. die Berichte der Generalberichterstatter von Kongressen des International Institute of Administrative Sciences: a) Governance and Public Administration in the 21st Century: New Trends and New Techniques: General Report by D. Argyriades, Athen 2001 (IIAS Publikation 2002); b) Global Competitiveness and Public Administration. General Report by J. Jabbra, Abu Dhabi 2007 (im Erscheinen).
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duzierung der Regelvielfalt, weniger Staat mehr Markt, Betonung von Effizienz und Effektivität des Verwaltungshandelns („Wirkungsorientierte Verwaltungsführung“) sowie die Entwicklung und Einführung entsprechender Management-Instrumente stehen auf den Forderungslisten der Kritiker. Diese Forderungen werden nicht nur in den modernen Industriestaaten erhoben; sondern der Reformtrend mit einem Schwerpunkt auf ManagementKonzepten ist in praktisch allen Ländern zu beobachten. Die Schwerpunkte, Methoden und Instrumente sind klarerweise sehr unterschiedlich und hängen von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab. Es besteht somit eine Vielfalt länderspezifischer Governance-Ansätze und Reformkonzepte. Es können allerdings einige gemeinsame Elemente identifiziert werden:34 – Reduzierung der Rolle von Staat und Verwaltung in der ökonomischen Steuerung, – Schaffung strategischer, makroökonomischer Rahmenbedingungen als eine Funktion des Staates, – Reduzierung der Rolle des Staates im Bereich der Leistungserbringung für Bürger, – Höheres Vertrauen in Marktmechanismen und Bürgerorganisation (Interessensgemeinschaften), – Höhere Anforderungen an die „Eigenverantwortlichkeit“ der Bürger, – Steigerung von Effizienz, Effektivität, Output- und Outcome-Orientierung. New Public Management-Ansätze (insbes. in OECD-Ländern) sind eine Mischung aus theoretischen Konzepten und praktischen Erfordernissen. Sie können aus vier Perspektiven charakterisiert werden:35 – Markt-Modell: Die Annahme ist, dass Märkte höhere Effizienz und Leistungsfähigkeit aufweisen als bürokratische Monopole. – Managerial-Modell: Typisch hierfür ist die Forderung „Let the managers manage“, wie sie insbes. im „Thatcherismus“ aufgestellt worden war. Es geht hierbei um die Abkehr von der Input-Orientierung der Verwaltung und des Verwaltungshandelns hin zu einer Orientierung an Output und Leistung bzw. Wirkung des Verwaltungshandelns. Dies schlägt sich z. B. insbesondere in Instrumenten der Strategie, Planung, Zielsetzung, Budgetierung, Controlling nieder. – Programm-Strategien: Die Annahme ist, dass es die dringendste und wichtigste Aufgabe von Reformen ist, sicherzustellen, dass öffentliche 34
Vgl. Pierre/Peters, Governance (Anm. 3), S. 50 ff. Vgl. A. Schick, Opportunity, Strategy and Tactics in Reforming Public Management, in: OECD Government of the Future, Paris 2001, S. 136 ff. 35
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Ressourcen wirksam zugeordnet und verwendet werden, um die politischen Ziele zu erreichen. – Inkrementale Strategien: Die Annahme ist, dass erfolgreicher Wandel in kleinen Schritten erfolgen müsse, immer angepasst an die bestehenden Rahmenbedingungen. Diese Perspektive beruht auf den theoretischen Grundlagen des „evolutionären Wandels“ – im Gegensatz zu den Modellen des „revolutionären Wandels“.36 Typische Themen von managementorientierten Reformen sind: – Stärkung der Regierung (Zentrale) als politische und strategische Führungsinstanz durch Reformen. Ihr kommt die Verantwortung der Entwicklung, Einführung und Steuerung von Strategien für die Leitung des öffentlichen Sektors zu. – Reduzierung der Rolle der Regierung (Zentrale) im operativen Tagesgeschäft durch Reformen. Die Trennung von Gesamtleitung und operativen Managementfunktionen ist Teil der Reformansätze. – Deregulierung, Effizienz und Effektivität verbunden mit neuen Finanzierungs- und Budgetierungsprinzipien werden betont. – Neu-Definition der Kernaufgaben des Staates, wobei der Trend in Richtung einer Reduktion von Inhalt und Umfang geht. – Dezentralisierung, Reduzierung von Hierarchien. – Einführung von Marktmechanismen für Verwaltungsaufgaben, Ausgliederungen marktorientierter Bereiche in neu gegründeten Gesellschaften, stärkere Betonung von Gewährleistungsverwaltung. – Neue Beziehungsgestaltung beruhend auf dem Principal-Agent-Modell. Leistungsverträge bzw. Leistungsvereinbarungen zwischen Zentralstellen und dezentralen Organisationseinheiten. – Management by Objectives als Führungsinstrument. – Strategisches Management. – Controlling, Kosten- und Leistungsrechnung. – Einsatz von Marketing-Instrumenten für eine verstärkte Zielgruppenorientierung. Auch Informations- und Kommunikationstechnologien (IKTs) spielen für Governance eine entscheidende Rolle. Technologische Entwicklungen haben kritische Auswirkungen auf politischer und administrativer Ebene etwa 36 Siehe dazu z. B. den „Klassiker“ L. E. Greiner, Evolution and Revolution as Organizations grow, in: Harvard Business Review, July/August 1972, S. 37–46.
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für die Entwicklung und Implementierung politischer Konzepte, Strukturen und Prozesse der Verwaltungsorganisationen, Reformen, Gestaltung und Ablauf von Entscheidungsprozessen im Allgemeinen. IKTs verändern das Gesamtverhalten von Systemen und deren Elementen in hohem Ausmaß. Die Organisationsmitglieder und die externen Stakeholder sind davon massiv betroffen. Aus dieser Perspektive müssen neue Theorien der Verwaltung, des öffentlichen Managements und der Governance entwickelt werden. Diese Konzepte verstärken die Spannungen und Widersprüche zwischen den grundlegenden Prinzipien und Anforderungen einer „guten Verwaltung“ und den Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung mit dem Fokus auf der Garantie der Wahrnehmung öffentlicher Interessen, der Erfüllung öffentlicher Funktionen und der Forderung nach Effizienz und Effektivität der Institutionen und deren Prozesse. III. Governance in der Praxis: Governance Indikatoren der Weltbank Praktisch relevante und empirisch fundierte Ansätze zur Beschreibung und Analyse von Governance und ihren Komponenten bzw. Dimensionen entwickelten die Weltbank, die Vereinten Nationen, die OECD und andere internationale Organisationen. Sie haben führende Positionen in der Debatte über „Governance“, „Good Governance“ und deren Kriterien. Ein umfassendes Indikatorensystem für Governance wurde von der Weltbank entwickelt. Die Strategie der Weltbank war und ist es, die Qualität von Governance in einem Land als wesentliche Grundlage für die Gewährung von Darlehen heranzuziehen und auf Grund der jeweiligen Ergebnisse die Entwicklung und Einführung von entsprechenden Reformen als mittel- und langfristige Voraussetzung für diese Darlehen zu fordern. Die Weltbank definiert Governance wie folgt: „Governance consists of the traditions and institutions by which authority in a country is exercised. This includes the process by which governments are selected, monitored and replaced; the capacity of the government to effectively formulate and implement sound policies; and the respect of citizens and the state for the institutions that govern economic and social interactions among them“.37 Zur Messung des Status von Governance zieht die Weltbank sechs Dimensionen mit entsprechenden Indikatoren heran.38 Diese werden im 37 http://info.worldbank.org/governance/kkz2002/index.htm. http://www.world bank.org/wbi/governance/pdf/govmatters3.pdf. 38 The World Bank (Hrsg.), A Decade of Measuring the Quality of Governance. Governance Matters 2006. Worldwide Governance Indicators, S. 2 f.; http://www. worldbank.org/wbi/governance; http://www.govindicators.org.
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Abstand von zwei Jahren für praktisch alle Länder systematisch erhoben und publiziert:39 – Voice and Accountability: Ausmaß, in dem die Bürger eines Landes die Möglichkeit haben, an der Auswahl ihrer Regierung zu partizipieren; Ausmaß der Rede- und Versammlungsfreiheit und der Medienfreiheit. – Political Stability: Wahrnehmung der Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung durch nicht verfassungsmäßige Mittel oder Gewalt destabilisiert oder gestürzt wird; dies umfasst auch landesinterne Gewalt und Terrorismus. – Government Effectiveness: Qualität der öffentlichen (Dienst)Leistungen und der öffentlichen Verwaltung; Ausmaß der Unabhängigkeit von politischem Druck; Qualität der Politikformulierung und -implementierung; Glaubwürdigkeit der Regierung bzgl. ihres Commitments zu dieser Politik. – Regulatory Quality: Die Fähigkeit der Regierung qualitativ hochwertige Normen zu formulieren, die die Entwicklung des privaten Sektors gestatten und fördern. – Rule of Law: Ausmaß, in dem die Akteure (Normadressaten) in die gesellschaftlichen Normen und Regelungen Vertrauen haben und sie befolgen, insbesondere die Qualität der Vertragssicherheit, der Polizei und der Gerichte sowie die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen und Gewalt. – Control of Corruption: Ausmaß, in dem öffentliche Macht für private Bereicherung eingesetzt wird, sowohl im Kleinen wie auch in großen Formen der Korruption; die „Vereinnahmung“ des Staates durch Eliten und private Interessen. Im folgenden Schaubild ist als Beispiel eine Momentaufnahme dieser sechs Dimensionen für Deutschland dargestellt (2006). Der beste Status, der auf der Skala erreicht werden kann, ist 100. Für die an Details interessierten LeserInnen sei auf Weltbank-Website-Adressen verwiesen.40 Governance und Good Governance sind weltweit hochaktuelle Themen und werden aus der Perspektive vieler Disziplinen und auf der Grundlage verschiedenster Theorien diskutiert. Es liegt eine entsprechende Vielzahl von Modellen vor, die als idealtypisch zu sehen sind. Sie sind eine wertvolle Grundlage für die Beschreibung und Analyse von realisierten Governance-Konzepten und insbesondere das Aufzeigen von Defiziten und verbesserungsfähigen Feldern. Internationale Organisationen haben systemati39
Siehe dazu: http://www.govindicators.org. Siehe dazu: http://www.worldbank.org/wbi/governance; http://www.govindica tors.org. 40
Governance – Good Governance
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Germany Voice and Accountability Political Stability Government Effectiveness Regulatory Quality Rule of Law Control of Corruption 0
25
50
75
100
Country’s Percentile Rank (0 –100) Source: D. Kaufmann, A. Kraay, and M. Mastruzzi 2007: Governance Matters VI: Governance Indicators for 1996–2006 Note: The governance indicators presented here aggregate the views on the quality of governance provided by a large number of enterprise, citizen and expert survey respondents in industrial and developing countries. These data are gathered from a number of survey institutes, think tanks, nongovernmental organizations, and international organizations. The aggregate indicators do not reflect the official views of the World Bank, its Executive Directors, or the countries they represent. Countries’ relative positions on these indicators are subject to indicated margins of error that should be taken into consideration when making comparisons across countries and over time.
sche Instrumente entwickelt, um den Status und die Qualität von Governance empirisch zu untersuchen und Handlungsempfehlungen für Reformen zu entwickeln. Die Unterschiede in der Qualität von Governance zwischen den hoch entwickelten Demokratien und anderen Ländern sind enorm.
Les habits neufs de l’action publique Gérard Timsit «Tous ceux qui se trouvaient dans la rue ou à leur fenêtre disaient: les habits neufs de l’empereur sont admirables!»
Introduction Il faut se méfier de l’opinion commune – et des versions trop répandues de la vérité. Elles ne font parfois que dissimuler un accord paresseux sur des analyses trop rapides et des lectures incomplètes de grands livres, tellement connus que l’on a pu penser désormais inutile, les ayant lus une fois, de les relire et d’en vérifier la portée et la signification. On sait l’existence de vulgates célèbres. La mode, la complaisance ou le talent de ceux qui les ont répandues ont pu – et c’est vrai aussi dans le domaine de la science administrative – imposer des théories, ou des croyances, qui fondées sur une appréhension superficielle ou cursive des œuvres auxquelles elles se réfèrent, ne proposent, en s’y référant ainsi, qu’une compréhension partielle et limitée de la réalité qu’elles prétendent expliquer. Une lecture approximative – une certaine vulgate, toujours présente, toujours prégnante – de la théorie weberienne a pu, de cette manière, depuis longtemps, imposer de ne voir fondamentalement en l’Etat qu’un dispositif technique d’exercice de la puissance publique (l’Etat comme «monopole de la contrainte»). Elle en a, du coup, semble-t-il, oublié un autre aspect important de la théorie de l’Etat, sur lequel, pourtant, a toujours beaucoup insisté Weber lui-même – la légitimité nécessaire de son action, la nécessité d’une adhésion au pouvoir qu’il exerce (la «contrainte légitime»). Il en est résulté qu’alors que tout démontre – et spécialement la crise de légitimité que connaît l’Etat – qu’il faudrait cesser de l’analyser trop exclusivement en ces termes anciens et usés de contrainte et de coercition: l’Etat a besoin d’habits neufs pour entreprendre de refonder son action (I) –, ces habits, pourtant destinés à lui permettre d’affronter le processus de délégitimation qui l’affecte, paraissent finalement trop mal ajustés, trop mal taillés, pour permettre à l’Etat, dans ses nouveaux habits, de vraiment se réinventer (II).
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I. Tandis que, pendant longtemps, beaucoup de raisons ont expliqué que la notion de puissance publique occupât la place centrale dans l’entreprise de caractérisation de l’action publique, ces raisons n’existent plus guère aujourd’hui – au moins au même degré – dans le contexte nouveau dans lequel se meut l’administration. 1. Paradoxalement, ce n’est pas le caractère impérial – au sens d’imperium – de l’appareil d’Etat – appareil de contrainte et pouvoir d’injonction – qui place la notion de puissance publique au cœur de la vulgate de l’action publique. Sans doute ne peut-on concevoir l’Etat classique, ni d’ailleurs l’Etat tout court, sans de telles prérogatives. Pour autant, ce n’est pas là l’argument principal – cet argument, positif, d’un lien entre Etat et puissance publique – qui vient à l’appui de cette analyse. C’est plutôt, et de manière curieusement négative, la place en creux conférée à la notion de légitimité: une place symétrique et inverse de celle de puissance publique. Dans la théorie classique de l’Etat en effet, l’administration – qui dispose des pouvoirs de contrainte nécessaires à la mise en oeuvre de la relation d’obéissance qu’implique le pouvoir qu’elle exerce: un pouvoir de domination (Herrschaft, écrit Weber) – ne dispose d’aucune légitimité propre. La légitimité administrative n’est jamais qu’un reflet de la légitimité détenue par le pouvoir politique seul et qu’il tire de la tradition, de son charisme ou, dans les Etats modernes, de la légalité. La légitimité de l’administration n’est ainsi que dérivée, fondée – fondue – en celle du pouvoir politique dont l’appareil administratif n’est que l’obéissant instrument. La structure tout entière de l’administration weberienne classique en répond: une structure pyramidale dont l’obéissance à la loi, qui fait la légitimité de son action, est garantie par sa stricte hiérarchisation – la stricte subordination de l’ensemble de l’appareil administratif, de son sommet à sa base, et avec le relais de l’ «état-major» et des politischen Beamten, au pouvoir politique. Figure idéale de la légitimité et des moyens de l’assurer. Si on l’adopte, elle ne peut que justifier le retrait relatif dans lequel on tient la notion de légitimité appliquée à l’administration – notion dérivée, notion-reflet –, et au contraire, la place éminente accordée alors dans la définition de l’administration à la notion de puissance publique. Mais on mesure l’éloignement d’une telle figure de la réalité. Et l’on doit, aujourd’hui, reconnaître la force des raisons qui ont obligé à cette révision. 2. Des raisons qui ont toutes pour effet de remettre la notion de légitimité au centre de l’analyse administrative. En premier lieu, des raisons théoriques: la relecture de Weber (une lecture, en vérité, toujours à recommencer) – et la redécouverte de la place
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qu’il accorde au concept de légitimité dans la définition de l’action publique1. L’analyse de l’Etat par la doctrine traditionnelle a trop longtemps – a-t-on remarqué – négligé une dimension essentielle de la pensée weberienne: la dimension historique. La définition weberienne de l’Etat est en effet une définition de l’Etat moderne. Avant l’apparition de l’Etat, d’autres groupements humains avaient fait, selon Weber, de la violence leur moyen ordinaire. Le monopole de la contrainte qu’exerce l’Etat moderne n’est donc que le résultat d’un procès de monopolisation – Weber dit: «d’expropriation des puissances privées indépendantes» (de ces puissances qui, autour du Souverain – plus exactement: du Suzerain et pour son compte –, relayaient jadis l’exercice du pouvoir à destination de leurs sujets). Or, dit Weber, «ce qui est spécifique à l’époque présente est que tous les autres groupements [que l’Etat] ou toutes les autres personnes individuelles ne se voient accorder le droit à la violence physique que dans la mesure où l’Etat la tolère de leur part»2. Ainsi l’Etat, source unique du «droit» à la violence, n’en monopolise donc pas tant l’exercice que l’exercice légitime – c’est-à-dire la capacité de garantir des droits3. Changement de perspective fondamental. Se trouve ainsi désormais replacée au cœur de l’analyse weberienne une notion dont la vulgate s’était éloignée – celle de légitimité. Fondement du pouvoir, elle oblige en effet à s’interroger sur ce qui fait d’elle le fondement du pouvoir. La réponse de Weber pour les Etats modernes? – La légalité, dit-il. Mais encore, et au delà de cette notion de légalité qui, à tout prendre, compte tenu des moyens destinés à la faire respecter, est elle aussi l’une des formes de la violence? – Selon Weber, la réponse ne peut se trouver que dans ce qui constitue la différence entre la puissance (Macht) et la domination (Herrschaft). La puissance est pure violence – subie. La domination est une autre violence – mais acceptée de ceux auxquels elle s’impose. Ainsi se trouve-t-on renvoyé à l’analyse non de la force mais des raisons, de la part de ceux qui s’y soumettent, de l’acceptation de la force. L’analyse doit en être radicalement rééquilibrée – et transférée alors de ce qui, dans les approches traditionnelles, en faisait le centre: l’institutionnalisation et la mise en œuvre par l’Etat des moyens de contrainte et de puissance publique – à ce qui désormais apparaît au fondement de l’exercice de ces moyens: le service de la collectivité et la garantie de l’intérêt général, seules justifications – seule source de légitimité – aux yeux des membres de la collectivité de leur soumission à la violence de l’Etat. 1 Pour cette relecture et les changements qu’elle apporte à l’analyse traditionnelle, il faut se reporter à la Préface que donne Catherine Colliot-Thélène à la récente réédition et nouvelle traduction de l’ouvrage de Max Weber, Le savant et le politique, une nouvelle traduction, La Découverte-Poche, 2003, en particulier les p. 34 et ss. 2 En particulier, Weber, (note 1), p. 119. 3 Cf. Colliot-Thélène, (note 1) p. 39.
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Des raisons pratiques viennent de surcroît justifier ce rééquilibrage. Y figure au premier chef le déficit de légitimité affectant le fonctionnement de l’Etat. Un déficit de légitimité suffisamment grave pour que l’on doive s’interroger sinon sur la validité, du moins la fiabilité de l’un des principes fondateurs les mieux installés et les plus communs de nos sociétés occidentales: le principe de la démocratie représentative. La critique portée contre lui relève d’une analyse des insuffisances et des lacunes que connaissent les régimes qui prétendent l’appliquer. En particulier, l’espèce d’hibernation à laquelle, dans de tels régimes, les citoyens sont contraints entre deux élections. La critique est ancienne, mais prend une acuité nouvelle dans des pays, où, pour différentes raisons – en particulier, une structure sociale composite associée au principe démocratique un homme/une voix –, les mécanismes de fonctionnement politique finissent par ôter aux minorités – quelles qu’elles soient: politiques, sociales, religieuses, ethniques etc. – toute possibilité d’expression autonome et effective4. La critique se nourrit aussi des transferts de compétences opérés, dans le cadre de la construction européenne par exemple, par des régimes démocratiques à des instances supra-étatiques dont le caractère bureaucratique et l’éloignement à l’égard des centres de décision politique tendent ainsi à miner la légitimité. A ces phénomènes s’ajoute le constat – qui finit par s’imposer même aux plus récalcitrants et rigides théoriciens classiques – du caractère artificiel de l’analyse de l’Etat comme structure pyramidale. L’idée que puisse exister, du fait d’une telle structure, une «chaîne de légitimation ininterrompue»5 des organes administratifs au pouvoir politique qui y commande et au peuple qui confère à l’un et aux autres leur légitimité, apparaît désormais pour ce qu’elle est: parfaitement irréelle. Elle suppose une telle fluidité des flux d’informations et de contrôles, une telle transparence des structures, une telle rationalité des décisions que personne ne peut vraiment continuer de croire à un monde aussi parfait. 4 Cf. sur cette critique, appliquée en particulier au fonctionnement de la démocratie indienne; G. Rizvi, Reinventing Governement: Putting democracy and social Justice back into the Discourse, in: 7th Global Forum on Reinventing Governement, Building Trust in Governement, Public Administration and Democratic Governance: Governments serving Citizens, 26–29 June 2007, Vienna ST/ESA/PAD/SER.E/98, p. 78S. et spécialement p. 108 s. «A host of (. . .) factors have contributed to the emaciation of the will of the people and the erosion of democratic institutions (. . .). The voters are consigned to hibernation between elections. (. . .) there are few mechanisms to check the tyranny of the majority or to temper majority decisions with minorities’ legitimate concerns» (p. 108–110). 5 Cf. sur cette notion et sa critique, St. Dagron, La théorie juridique allemande de la légitimité démocratique de l’administration, in: European Review of Public Law/Revue Européenne de Droit Public, vol. 18, nº 4, winter/hiver 2006, p. 14.
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Dans le même temps, s’est en effet développé ce mouvement que certains ont prétendu théoriser sous le nom de Nouvelle Gestion Publique et qui, si on lui retire la coque idéologique qui l’entoure et dont on a voulu le parer pour en systématiser les conséquences, s’analyse en fait en un effort parfois désordonné de modernisation limitée de l’Etat. Au nombre des opérations les plus fréquemment entreprises dans ce cadre, deux séries de réformes ont été menées qui, l’une et l’autre, ont contribué à re-poser, et en termes plus aigus, le problème de la légitimité administrative. D’une part, ce mouvement, inspiré du fonctionnement des Independent Agencies américaines en particulier, qui a eu pour résultat de multiplier ce qu’en France l’on a appelé des autorités administratives indépendantes. D’autre part, le développement – en marge et à la périphérie des structures étatiques traditionnelles – de tout un système d’administration indirecte de la collectivité, le plus souvent pris en charge par des organisations publiques non étatiques, territoriales ou spécialisées, mais également par des organisations mixtes, mi-publiques, mi-privées, et de plus en plus, bien qu’en proportion encore réduite dans les pays européens occidentaux, par des organisations associatives. L’un et l’autre de ces deux mouvements, en facilitant la prolifération des circuits de décision et en contribuant à brouiller ainsi les lignes remontant au pouvoir politique ou en provenant, ont aggravé le problème déjà largement assez préoccupant du déficit de légitimité de l’Etat. On comprend que, pour toutes ces raisons, et devant le processus de délégitimation de l’action de l’administration qu’inévitablement elles induisaient, l’on ait dû se préoccuper de refonder l’action publique. La refonder? – Vraiment? II. L’action publique avait besoin d’habits neufs. Il aurait fallu que, de surcroît, ils fussent ajustés et convenablement taillés. Il semble que ce ne soit pas toujours le cas. A la crise de dé-légitimation – déficit de légitimité, disjonctions dans la chaîne de légitimation – que subit l’administration, les réponses apportées, foisonnantes il est vrai, paraissent mal adaptées. Découvrant, certes, l’impossibilité de s’en tenir à une conception de l’administration qui fût axée sur l’usage de moyens et prérogatives de puissance publique, la théorie administrative ne propose cependant, pour refonder l’action de l’administration, que des solutions qui pèchent par excès – deux excès de sens inverse –, les unes se limitant aux mécanismes et automatismes de ce qui peut apparaître comme une sous-légitimité, les autres débordant et se diluant dans les voies de la revendication d’une sur-légitimité.
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1. A. Du côté de la sous-légitimité, se trouvent d’abord celles des analyses – elles ont maintenant une certaine ancienneté, mais gardent une grande influence – qui proposent, au nom de l’efficacité de l’administration, de trouver sa légitimité dans sa soumission aux lois du marché. L’équation légitimité = efficacité = rentabilité = marché – cette équation, probablement trop brutale dans sa formulation, est en fin de compte bien réellement à l’œuvre dans beaucoup d’opérations de réforme de l’Etat et de son administration – aussi bien au plan interne qu’au niveau international. Or, cette équation ni ne rend compte des conséquences paradoxales de certaines des réformes ainsi entreprises, ni ne prend en compte les effets pervers de politiques administratives inspirées de ce type d’analyses. On ne saurait en effet ignorer, par exemple, les constatations ou conclusions désabusées qui ont pu être présentées au 7ème Forum mondial sur la gouvernance organisé par les Nations Unies à Vienne en juin 2007. Il en ressort que – bien loin que ces réformes aient tous les effets bénéfiques espérés –, elles peuvent produire – et provoquent en vérité le plus souvent – l’apparition de résultats exactement inverses de ceux attendus: «The emphasis on efficiency and cost reduction, while welcome and highly desirable, without adequate safeguards for democratic accountability and social justice, defeats its purpose. (. . .) [t]he overt and often uncritical enthusiasm for market-based reform of government has weakened democratic accountability (. . .)»6; «The pursuit of efficiency can have unintended consequences and can even lead to the opposite of its main objectives (the reduction of costs). Many European countries have adopted citizen’s charters. But, by introducing qualitative standards for the provision of services (. . .), this ‹charterism› can end up fueling litigation between private actors and public administrations, leading to a rise in costs for the public sector, at least in the short run. (. . .) The efficiency paradigm requires considering citizens as users-consumers. But this not transform civil servants into producers, as this compromise both the public ethos that ought to inspire their conduct, and the social needs underlying the provison of public goods and services»7
. . . On ne saurait mieux dire. De surcroît, l’analyse des conditions dans lesquelles, au plan international, se construit l’espace administratif européen peut donner lieu à quelque question. Déjà, quand il s’agissait de la construction d’un espace destiné alors à s’élargir aux pays qui, désormais, sont intégrés à l’Europe, l’on avait remarqué que cet espace ne se construisait que de manière fragmentaire et partielle, les administrations privilégiées dans cette construction étant celles seules participant directement à l’effort d’organisation et de 6
Rizvi, (note 4) p. 78. S. Cassese & M. Savino, Accountable Governance and Administrative Reform in Europe, in: 7th Global Forum (note 4), p. 78S. et spécialement p. 202. 7
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mise en œuvre de l’économie de marché, puisque c’est cet effort qui est au cœur de l’entreprise européenne. Aujourd’hui, dans le cadre de la politique européenne de voisinage (P. E. V.) menée à l’égard des pays qui bordent l’Europe à ses frontières Est et Sud, on peut s’interroger sur la manière dont sont conçus les plans d’action destinés à préparer et organiser ce voisinage et les conséquences qu’ils entraînent sur les structures administratives et les politiques publiques de ces pays. Tous ces plans font à très juste titre du respect de l’Etat de droit et des droits fondamentaux dans ces pays, des conditions primordiales – l’une des «conditions pré-requises essentielles» de la P.E.V, dit la Commission. Or, l’on constate que dans l’ordre effectif des priorités établi par les plans – et, à cet égard, le Plan d’action adopté pour l’Ukraine est très révélateur –, alors que se trouve proclamée hautement, le plus souvent, la nécessité de la mise en place prioritaire de l’Etat de droit, celui-ci ne se voit cependant conférer qu’une priorité secondaire par rapport à la réforme de l’administration – qui, elle, se voit systématiquement attribuer la première place dans les programmes budgétaires. On peut certes comprendre la logique d’une telle hiérarchie: l’Etat de droit, considéré comme élément primordial de la P. E. V., est en fait et justement analysé (comme d’ailleurs l’implique l’expression française8 même d’Etat de droit) sous ses deux espèces à la fois de droit et d’Etat. L’Etat de droit, ce n’est en effet pas seulement une situation où règne le droit; c’est une situation où règne le droit parce qu’une instance, l’Etat, qui l’ a élaboré, est également en mesure de le faire respecter. Ainsi, dans la hiérarchie des priorités adoptée par l’Instrument Européen de Voisinage et de Partenariat / Programme Indicatif National Ukraine 2007–2010 (IEVP/PIN), l’Etat de droit et les droits de l’homme, qui sont définis, au sein du domaine prioritaire 1 «Soutien à l’évolution démocratique et à la bonne gouvernance», comme sous-priorités 2 et 3, y sont devancés par une sous-priorité 1 consacrée à la réforme de l’administration publique. D’où l’on peut déduire que la réforme de l’Etat et de son administration est, dans ce cadre, conçue comme devant conditionner la mise en place de l’Etat de droit. Le droit – considère-t-on – ne peut régner que si l’Etat est en mesure – que si l’Etat a été réformé afin d’être en mesure – de le faire respecter. Cette notion d’Etat de droit dans le cadre de la P. E. V. va donc au-delà de la notion stricto sensu de l’Etat de droit. Pour qu’existe l’Etat de droit, non seulement il faut qu’existe un Etat qui puisse mettre en œuvre le droit et le faire respecter, mais encore que cet Etat lui-même se soumette au droit et ne menace pas les libertés et droits fondamentaux qu’implique l’existence même de l’Etat de droit. Ainsi, alors que la sous-priorité 1, dans les plans d’action, a pour objet de permettre les réformes de l’administration publique et 8
Et, naturellement, pas seulement elle . . .
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de la gestion des finances publiques destinées à donner à l’Etat et son administration les moyens matériels, l’efficacité technique, nécessaires pour lui permettre d’assurer sa mission, les sous-priorités 2 et 3 renvoient à la nécessité de donner au droit d’une part, la légitimité politique dont il a besoin pour être respecté de tous les citoyens, et à l’Etat d’autre part, les bases démocratiques requises pour qu’il soit disposé à respecter lui-même le droit qu’il a élaboré afin de satisfaire aux aspirations de ses administrés. D’où l’insistance de l’IEVP, et des autres documents, généraux ou particuliers, relatifs à la P. E. V., à la fois sur la nécessité de «mesures fondées sur une approche descendante» (réforme de l’administration publique, amélioration de la gestion des finances publiques, réforme judiciaire . . .9), mais également, et dans le même temps, de «mesures fondées sur une approche ascendante favorisant les droits des citoyens et la participation du public à la vie politique, économique et sociale – ce qui devrait avoir pour effet d’entraîner une participation accrue des citoyens à l’activité publique et au contrôle des institutions»10. Une insistance qui se manifeste également, dans les mêmes documents, sur la nécessité du développement d’une société civile11 (la société civile comme contrepoids à l’Etat et garante de l’Etat de droit): ainsi dit-on qu’il faut «améliorer la participation des citoyens au processus de prise de décision et au contrôle exercé sur celui-ci, notamment par l’intermédiaire des organisations représentant la société civile»; aussi, qu’il faut «favoriser un dialogue civil entre les parties intéressées issues respectivement du secteur privé, de l’administration et de la société civile»12 etc. . . . Cela étant, cette notion-là d’Etat de droit – si elle va bien, sur les points mentionnés dans la proposition précédente, au-delà de la notion stricto sensu et traditionnelle d’Etat de droit – reste cependant, à certains égards, en deçà de cette notion – ce qui peut avoir des incidences non négligeables sur la portée de la légitimité ainsi reconnue dans ce cadre à l’action publique. Ce qui est en effet privilégié, dans la P. E. V., ce n’est en vérité ni tout le droit, ni tout l’Etat – mais un droit et un Etat qui fonctionnent et sont au service d’une logique particulière: celle de l’économie de marché. Il en résulte une approche de l’Etat de droit – et des priorités qu’il implique (et telles qu’elles sont traduites dans les plans d’action) – qui peut, d’une certaine manière, rester limitée par le privilège accordé à la réforme de ceux des segments de l’Etat et de son administration spécialement intéressés à la mise en œuvre et l’application du droit d’une économie de marché: 9
Programme Indicatif National Ukraine, p. 5. Ibid. 11 P. I.N. Ukraine (note 9) p. 7: sous-priorité 3 du domaine prioritaire 1. 12 Ibid. 10
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réforme de la gestion des fonds publics, sans doute; réforme de la justice destinée à permettre de sanctionner les manquements aux lois de la concurrence, certes; administration des infrastructures industrielles, évidemment . . . Mais (mis à part, et bien heureusement, l’enseignement, la formation, ou la recherche, qui font en effet partie des domaines privilégiés par les plans de la P.E.V), quid des autres administrations et, par exemple, des administrations sociales? Or ce sont elles qui ont en charge la cohésion et la garantie de la solidité du tissu social, – et donc, en dernière analyse, la légitimité de l’action publique . . . B. Une légitimité que ne contribuent pas à renforcer les conceptions émergentes les plus récentes de l’action publique. Destinées d’une certaine manière à prendre le contre-pied de ces analyses trop brutales inspirées, peu ou prou, des principes de la Nouvelle Gestion Publique, elles ne s’en débarrassent cependant pas tout à fait. Partant de ce constat avéré (le «déficit démocratique»), deux sortes de thèses sont aujourd’hui couramment développées – marquées d’une certaine prudence, sinon d’une grande réserve, qui ne débouchent les unes comme les autres, et comme les précédentes analyses, que sur la construction d’une sous-légitimité – d’une légitimité de second rang. Les unes analysent le déficit démocratique selon une logique minimaliste, et ne font de la lutte contre ce type de déficit que l’un des éléments pouvant contribuer parmi beaucoup d’autres – et plutôt moins que beaucoup d’autres – à restaurer l’efficacité technique de l’Etat et de son administration. C’est cette thèse qui, semble-t-il, est à l’œuvre dans le fameux ouvrage d’Osborne et Gaebler13. L’empowerment des citoyens n’y tient en effet qu’une place mineure dans la liste des recommandations émises par les auteurs en vue de la réinvention de l’Etat (sur les 11 chapitres que comporte leur ouvrage et qui détaillent ces recommandations, seuls les chapitres 2 et 9 concernent vraiment la lutte contre le déficit démocratique). L’autre type d’analyse, s’il porte plus d’attention à la question de la légitimité, n’aborde cependant ce problème que dans une perspective assez étroitement mécaniciste – comme si les tenants de ces thèses, craignant de prononcer ce grand mot de légitimité, étaient simplement à la recherche de recettes et procédés destinés à y suppléer – à défaut de pouvoir la refonder. Ou encore, pour utiliser une image, comme si les tenants de ces thèses croyaient que pour faire démarrer ou remettre en marche un moteur en panne d’essence, il suffisait de disposer d’une boîte à outils . . . C’est en effet de «gouvernance partagée» que l’on parle14, ou de «construction de la 13
D. Osborne & T. Gaebler, Reinventing Government: how the entrepreurial spirit is transforming the public sector, 1992. 14 OCDE (2004), «La modernisation du secteur public: la modification des structures organisationnelles», L’observateur, Synthèses, 2004, p. 4.
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confiance»15 – Building Trust – ou encore, dans une formule curieusement négative, de contre-pouvoirs et d’institutions «destinés à compenser l’érosion de la confiance par une organisation de la défiance»16. Peut-être est-ce d’ailleurs cette dernière formule qui, par la sous-évaluation et l’inversion qu’elle fait subir à la notion de légitimité (la légitimité d’abord réduite à la confiance, puis travestie en son fantôme: l’absence de défiance . . .), montre finalement le plus clairement l’image assez réductrice que se font les tenants de ces analyses des sociétés auxquelles ils appartiennent et des conditions dans lesquelles l’action publique peut s’y développer . . . 2. Il est vrai qu’à l’opposé de ces conceptions – prudentes, certes, mais trop étriquées peut-être – de la légitimité, l’on en voit désormais pointer de bien plus larges – et qui risquent bien, elles, d’être très imprudentes. Elles débouchent et se diluent – nouvel excès – dans les voies de la revendication d’une sur-légitimité informelle. On a pu récemment énoncer les reformulations conceptuelles successives17 par lesquelles est passée la révision des fonctions et de la structure – ce que l’on a appelé la ré-invention – du gouvernement: 1) la reconnaissance de ce que gouvernement et gouvernance sont des concepts et désignent des phénomènes fondamentalement différents – la gouvernance s’analysant en l’ensemble des processus, institutions et règles qui permettent d’assurer la gestion et le contrôle des affaires publiques d’une collectivité; 2) l’idée que les gouvernements agissent de moins en moins comme des agences opérationnelles et de plus en plus comme des autorités de régulation; 3) cette idée, aussi, que la gouvernance d’une société requiert un effort tripartite et partagé associant au gouvernement, le marché et la société civile, chacun de ces trois secteurs prenant sa part de la gestion sans cependant que le gouvernement puisse s’exonérer de son rôle de garant de la justice sociale; 4) enfin, et en raison de la complexité croissante des sociétés, cette idée que la gouvernance ne peut être conçue comme la mise en œuvre, sur le mode hiérarchique et bureaucratique, de décisions tombées du haut de l’Olympe, mais doit être produite par un réseau d’agences qui, placées à l’intérieur de l’appareil gouvernemental, sont associées entre elles et reliées à la société civile et au marché. On voit les implications de telles reformulations. Elles ont, c’est vrai, largement contribué à ouvrir la voie à ces opérations de modernisation de l’Etat et de son administration dont nos sociétés sont aujourd’hui familières – et souvent heureusement bénéficiaires. Peut-être, cependant, n’en perçoit15 Voir le titre donné au 7th Global Forum on Reinventing Governement: Building Trust in Government. 16 P. Rosanvallon, La contre-démocratie, La politique à l’âge de la défiance, 2006, p. 12. 17 Rizvi, (note 4) p. 83.
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on pas toujours les limites nécessaires. On peut en effet s’interroger sur certaines de ces notions, et les politiques qu’elles induisent. Prétendant n’être que des conséquences ou des suites de ces reformulations, elles débouchent parfois sur les voies de la revendication de sur-légitimités informelles, désinstitutionnalisées, d’autant plus difficiles à apprécier et évaluer qu’au nom d’un approfondissement de la démocratie, elles risquent à tout moment de saper les bases toujours fragiles de la démocratie . . . Deux notions sont à cet égard à considérer. L’une est celle qui, dans le prolongement du concept devenu classique de société civile, et de celui, plus récemment apparu, de capital social18, met l’accent sur le rôle des mouvements19 sociaux de masse et leur contribution potentielle à la légitimation d’un régime démocratique. Les promoteurs de cette notion reconnaissent, c’est vrai, qu’elle ne permet pas de distinguer clairement entre les situations où de tels mouvements constituent un apport salutaire à la gestion des conflits et celles où, au contraire, elles ne sont qu’une forme dangereuse et exacerbée des fractures et confrontations qui déchirent et peuvent détruire une communauté. Il est vrai aussi qu’ils entourent l’usage de cette notion de sévères mises en garde: «. . .[d]irect public participation can go horribly wrong – (. . .) [f]or sustainable democracy other forms of direct public participation are required»20. Ils n’en font pas moins de cette notion, au risque d’en sous-estimer la virulence théorique et pratique et le potentiel désagrégateur, l’un des moyens par lesquelles se redéfinirait aujourd’hui le concept de participation directe dans les démocraties modernes21. Etrange cheminement intellectuel qui reviendrait – s’il devait se généraliser – à inverser tout le mouvement par lequel – de l’informel à l’institutionnel et du conflit armé au dialogue civil – s’est installée, perpétuée et confortée, à la fois en pratique et en théorie, la démocratie . . . L’autre notion récemment apparue – elle aussi susceptible de basculer du côté de la sur-légitimité, et elle aussi, mais pour des raisons inverses, dé18 «Social capital is .. the web of associations, networks and norms (such as trust and tolerance) that enable people to cooperate with one another for the common good. Like economic and human capital, social capital is a productive asset that accumulates with use . . . the institutionnal arrangements and values which make up social capital constitute the foundation for good governance, economic prosperity and healthy societies» L. Veneklassen Building Civil Society: The Role of Development NGOs, in: The Civil Society Initiative: concept Paper #1. Washington DC: Inter-Action (1994), cité in: A. Ghaus-Pasha, Role of Civil society Organizations in Governance: 7th Global Forum (note 4) p. 208. 19 Voir sur ce point M. Tommasoli, Representative Democracy and Capacity Development for Responsible Politics, 7th Global Forum (note 4), p. 63 ss. 20 Tommasoli (note 19), p. 66. 21 «It is fundamentally clear that mass social movements are redefining concepts of direct participation in modern democracy» M. Tommasoli, loc. cit. p. 64
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Gérard Timsit
bouchant sur une certaine étrangeté du raisonnement – est celle de «participatory governance». Explicitement assignée comme thème de réflexion à la 6ème Session du Comité d’experts en administration publique des Nations unies, elle a fait l’objet en particulier d’une note du Conseil économique et social de l’ONU22 ainsi que de l’une au moins des contributions au 7ème Forum mondial sur la gouvernance23. Définie de manière assez vague comme «one of many strategies [‹institutionnal strategies›, est-il cependant précisé] of development governance»24, elle est conçue là encore comme l’un des remèdes et contre-feux possibles aux défaillances des modes traditionnels de participation tels qu’ils fonctionnent dans le cadre de démocraties représentatives maintenant confrontées aux exigences de la mondialisation. Les échecs de l’action collective, l’inéluctable croissante hétérogénéité des sociétés rendent nécessaire une participation plus effective, un engagement civique de nature à permettre de les surmonter. A cet effet, sont énoncées, de nouveau, les conditions «pré-requises» essentielles à leur réalisation. Elles sont résumées dans l’idée de «empowered participatory governance». Sous cette dénomination – un peu inflationniste: l’idée de gouvernance d’abord substituée à celle de gouvernement, puis étayée successivement de celles de participation et de pouvoir; redondante aussi: que serait donc une gouvernance sans pouvoir?. . . –, se dissimule cette hypothèse, déjà mentionnée plus haut25, que ce qui détermine le succès de la participation, ce sont «les mécanismes qui réduisent, et peut-être neutralisent [countervailing power26] les avantages de pouvoir des acteurs les plus puissants d’une société donnée»27. Outre l’aspect mécaniciste d’une analyse de ce type, déjà relevé précédemment, et l’escamotage qu’elle produit, volens nolens, de la notion de légitimité, on ne peut que remarquer la manière dont la notion de participatory governance se trouve ainsi subordonnée pour sa réalisation effective – c’est l’une des trois pré-conditions expressément énoncées, et la seule qui soit distincte de celles de participation et de pouvoir –, à la mise en œuvre au bénéfice des citoyens de l’ensemble des droits fondamentaux (basic human rights) qui doivent leur être reconnus – ce qui ferait d’eux, et seulement à cette condition, des citoyens actifs: em22 United Nations, Economic and Social Council, Committee of Experts on Public administration, Sixth session, 10–13 April 2007. Participatory governance and citizens’ engagement in policy development, service delivery and budgeting, E/c. 16/ 2007/2 23 D. Satterthwaite and al., Participatory Governance in Cities, in: 7th Global Forum (note 4), p. 268 s. 24 United Nations, (note 22), p. 4. 25 Cf. supra p. 9. 26 United Nations, (note 22), p. 10. 27 United Nations, (note 22), p. 10.
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powered citizenry28. Mais là encore, à travers cette notion – cette série de notions qui s’emboîtent, comme des poupées russes, les unes dans les autres . . .–, c’est un curieux cheminement intellectuel qui se fait jour. Cette légitimité que fonde – que prétend fonder – la participatory governance est explicitement conditionnée par la reconnaissance des droits fondamentaux au bénéfice des membres de la collectivité. Or, c’est bien cela, cette reconnaissance des droits fondamentaux, que l’on appelle l’Etat de droit – qui devient ainsi, et dans les termes mêmes de l’analyse de la gouvernance participative, la condition de l’existence et de la réforme de l’Etat. On aura probablement observé que c’était le contraire tout à l’heure, dans les hypothèses recensées alors sous le nom et dans la catégorie de la sous-légitimité: l’existence de Etat y conditionnait la mise en œuvre de l’Etat de droit . . . Comment donc ne pas devoir, finalement, s’interroger sur les contradictions et le caractère partiel, incomplet, de ces analyses de la légitimité – privilégiant toujours trop l’un ou l’autre, l’un au détriment de l’autre, de ses aspects constitutifs, toujours près de verser dans les excès d’une sous- ou d’une sur-légitimité? Des habits mal taillés, vous disais-je . . .
28
United Nations, (note 22), p. 11.
Tabellarischer Lebenslauf von Heinrich Siedentopf 5. März 1938
in Leipzig geboren
6. März 1957
Abitur am Immanuel-Kant-Gymnasium, Bad Oeynhausen
1957–1961
Studium der Rechtswissenschaften, Universität Heidelberg, Universität Münster/Westf.
1961
Erste Juristische Staatsprüfung, Justizprüfungsamt Oberlandesgericht Hamm/Westf.
1. Juni 1963
Promotion zum Dr. iur. (Prof. Dr. Hans J. Wolff), Universität Münster/Westf., Thema: Grenzen und Bindungen der Kommunalwirtschaft
1964
Auszeichnung der Dissertation mit dem Preis 1963 der Stiftung der Deutschen Gemeinden und Gemeindeverbände zur Förderung der Kommunalwissenschaften
1964–1965
Wahlstation an der Ecole Nationale d’Administration (ENA), Paris: Regionalreform 1964
1966
Zweite Juristische Staatsprüfung, Landesjustizprüfungsamt Düsseldorf
1966–1968
Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft, Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Roman Schnur)
September 1968– Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft April 1970 (DFG), Forschungsaufenthalt in Paris 8. Februar 1971
Habilitation an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Venia für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre; Habilitationsschrift: Regierungsführung und Ressortführung in Frankreich – Zur Organisation und Funktion der Cabinets ministériels
1971
Auszeichnung der Habilitationsschrift mit dem Straßburg-Preis 1971 der Stiftung F.V.S. zu Hamburg
20. April 1971
Ernennung zum apl. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1972–1973
Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Berlin und Freiburg
1973–1975
Gastprofessur am Europa-Kolleg Brügge, Lehrveranstaltungen in französischer und englischer Sprache
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Tabellarischer Lebenslauf von Heinrich Siedentopf
1973
Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Regensburg abgelehnt
1. Februar 1973
Ernennung zum o. Professor, Lehrstuhl für Vergleichende Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1973
Eheschließung mit Elisabeth Gräfin von Ballestrem
1975 und 1977
Geburt der Söhne Philipp und Johannes
1982–1983
Gastprofessor an der Faculty of Law, National University of Singapore
1983
Ehrendoktor der Universität Aix-en-Provence, Frankreich
1983–1985
Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1983–1988
Projekt „Implementation von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten“, Europäisches Institut für Öffentliche Verwaltung Maastricht, 1984–1990 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats
seit 1985
Schriftleiter der Zeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung“, Kohlhammer Verlag
1988–1989
Gastprofessor an der Faculty of Law, National University of Singapore
1989–1991
Projekt „Personalpolitik und Führung“, Bundeskanzleramt Wien, Österreich
1991–1993
Wissenschaftlicher Beauftragter des I. Führungskollegs Speyer (FKS) der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1992–1993
Präsident der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften (IIAS) Brüssel
1997–2000
Wissenschaftlicher Beauftragter des IV. Führungskollegs Speyer (FKS) der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1997–2002
Verwaltungsreform im internationalen Dialog: Thailand, Council of State, Verwaltungsverfahrensgesetz 1996 und Verwaltungsgerichtsordnung 1999, Konrad-Adenauer-Stiftung
2004
Ehrenvorstandsmitglied der Chinesischen Gesellschaft für öffentliche Verwaltung Peking
2006
Emeritierung
Schriftenverzeichnis von Heinrich Siedentopf * Stand: Januar 2008 2008 Deutschland und Frankreich in der europäischen Integration: „Motor“ oder „Blockierer“? (Hrsg.; zusammen mit Benedikt Speer u. a.), Berlin 2008 (im Erscheinen). L’enseignement supérieur en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXX (2007) (im Erscheinen). 25 ans de réformes administratives en Allemagne: pour quel avenir?, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXX (2007) (im Erscheinen). 2007 La notion d’espace administratif européen (zusammen mit Benedikt Speer), in: Jean-Bernard Auby/Jacqueline Dutheil de la Rochère (Hrsg.), Droit administratif européen, Brüssel 2007, S. 299–317. Das Recht auf eine gute Verwaltung – eine verfassungsrechtliche Analyse, in: Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Gesellschaft (Hrsg.), Verwaltung im Umbruch: Gesammelte Vorträge, Wien/Graz 2007, S. 275–279. Dezentralisierung und Deregulierung in Deutschland – Sachstand und Perspektive, in: Bundesakademie für öffentliche Verwaltung im Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Globalisierung als Herausforderung für die Verwaltung: Korea – Deutschland, Tagungsband zum Workshop, veranstaltet von der BAKöV (Lehrgruppe 3, Berlin) mit der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und Experten aus der Republik Korea (12. bis 14. März 2007), Berlin 2007, S. 63–69. Leitbilder der Modernisierung des öffentlichen Dienstes – Kontinuität und Wandel, in: ders./Rudolf Fisch/Holger Mühlenkamp (Hrsg.), Anreizorientierte Entgeltsysteme im öffentlichen Dienst – der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und die neue Dienstrechtsreform, Speyerer Arbeitshefte 193, Speyer 2007, S. 7–16. Anreizorientierte Entgeltsysteme im öffentlichen Dienst – der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und die neue Dienstrechtsreform (Hrsg.; zusammen mit Rudolf Fisch und Holger Mühlenkamp), Speyerer Arbeitshefte 193, Speyer 2007 (116 S.). * Bearbeitet von Benedikt Speer, M. A., Mag. rer. publ.
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Schriftenverzeichnis
Parlement et administration en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXIX (2006), S. 85–98. Randbemerkung: Freiherr vom Stein und die permanente Strukturreform der deutschen Verwaltung, in: Die Öffentliche Verwaltung 2007, S. 877–878. Freiherr vom Stein zum 250. Geburtstag, in: Die Politische Meinung, Nr. 455 (2007), S. 55–58. 2006 Dokumentation zum 12. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Strasbourg am 6. und 7. Juni 2005 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 182, Speyer 2006 (136 S.). Les marchés publics en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXVIII (2005), S. 85–192. 2005 Dokumentation zum 11. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Speyer am 15. und 16. Juni 2004 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 172, Speyer 2005 (113 S.). L’administration et l’énergie en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXVII (2004), S. 163–174. 2004 Europäischer Verwaltungsraum oder europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten (zusammen mit Benedikt Speer), in: ders. (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsraum, Beiträge einer Fachtagung, Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 29, Baden-Baden 2004, S. 17–35; zugleich in: Die Öffentliche Verwaltung 2002, S. 753–763. Der Europäische Verwaltungsraum, Beiträge einer Fachtagung (Hrsg.), Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 29, Baden-Baden 2004 (301 S.). Aktuelle Leitbilder einer Modernisierung öffentlicher Dienste, in: Rainer Koch/Peter Conrad (Hrsg.), Verändertes Denken – Bessere Öffentliche Dienste?!: Ansätze und Instrumente einer dezentralen Personalwirtschaft, Wiesbaden 2004, S. 57–63.
Schriftenverzeichnis
881
Auslandserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse in der Einstellungs- und Entsendepraxis des deutschen höheren Ministerialdienstes (zusammen mit Benedikt Speer und Alexandra Unkelbach), Berliner Initiative (Hrsg.), Berlin o. J. (2004) (67 S.). Die Deutsche Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften – Kooperation, Vergleich, Beratung, in: ders./Arthur Benz/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 950, Berlin 2004, S. 103–113. Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag (Hrsg.; zusammen mit Arthur Benz und Karl-Peter Sommermann), Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 950, Berlin 2004 (753 S.). L’évolution de la fonction publique en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXVI (2003), S. 13–26.
2003 The European Administrative Space from a German Administrative Science Perspective (zusammen mit Benedikt Speer), in: International Review of Administrative Sciences 2003, S. 9–28; zugleich: L’espace administratif européen d’un point de vue administratif allemand (zusammen mit Benedikt Speer), in: Revue Internationale des Sciences Administratives 2003, S. 9–30. Stand und Entwicklungsperspektiven einer Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, in: Rainer Koch/Peter Conrad (Hrsg.), New Public Service: Öffentlicher Dienst als Motor der Staats- und Verwaltungsmodernisierung, Wiesbaden 2003, S. 79–91. Europaqualifizierung für die deutsche Länderverwaltung am Beispiel des Europa-Seminars Speyer und des Führungskollegs Speyer (FKS), in: Christoph Demmke/Christian Engel (Hrsg.), Continuity and Change in the European Integration Process: Essays in Honour of Günter F. Schäfer, Maastricht 2003, S. 1–13. Zehn Jahre Deutsch-Französische Verwaltungskolloquien zwischen der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration Strasbourg/Paris, Dokumentation zum 10. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 163, Speyer 2003 (161 S.). 25 ans de réformes administratives en Allemagne: Pour quel avenir?, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXV (2002), S. 13–30. Chroniques de vie administrative: Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXV (2002), S. 397–418.
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Schriftenverzeichnis 2002
Europäischer Verwaltungsraum oder europäische Verwaltungsgemeinschaft? – Gemeinschaftsrechtliche und funktionelle Anforderungen an die öffentlichen Verwaltungen in den EU-Mitgliedstaaten (zusammen mit Benedikt Speer), in: Die Öffentliche Verwaltung 2002, S. 753–763. Dokumentation zum 9. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Speyer am 3. und 4. Juni 2002 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 149, Speyer 2002 (106 S.). Los altos funcionarios/directivos y la modernización de la administración pfflblica alemana, in: Gobierno de la Rioja: Escuela Riojana de Administración Pfflblica (Hrsg.), La gestión del cambio cultural en la administración pfflblica, II. seminario europeo de la administración de la Rioja, La Rioja 2002, S. 21–26. Der Europäische Verwaltungsraum: Forschungsleitende Fragestellungen aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht (zusammen mit Benedikt Speer), in: Klaus König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002, S. 305–325. La gestion administrative des risques en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XXIV (2001), S. 21–29. Das neue Verwaltungsgericht, in: Thailand aktuell, Das monatliche Thailand Magazin der Konrad-Adenauer-Stiftung, Heft 12 (2002), S. 8–13. 2001 Reformprozesse in der Verwaltung und Personalentwicklung, in: Hermann Hill (Hrsg.), Modernisierung – Prozess oder Entwicklungsstrategie?, Frankfurt/New York 2001, S. 325–344. La réforme du droit de la fonction publique allemande à l’épreuve des principes traditionnels du fonctionnariat de l’article 33 alinéa 5 de la Loi fondamentale, in: Les droits individuels et le juge en Europe, mélanges en l’honneur de Michel Fromont, Strasbourg 2001, S. 401–414. Verwaltungssystem und -kultur in Frankreich am Beispiel der Entstehung, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht (zusammen mit Benedikt Speer), in: ders. (Hrsg.), Modernisierung von Staat und Verwaltung/Reform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Dokumentation zum 8. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Strasbourg am 5. und 6. Juni 2001, Speyerer Arbeitshefte 139, Speyer 2001, S. 49–63. Modernisierung von Staat und Verwaltung/Reform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Dokumentation zum 8. Deutsch-Französischen Verwaltungs-
Schriftenverzeichnis
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kolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Strasbourg am 5. und 6. Juni 2001 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 139, Speyer 2001 (65 S.). The Internationality of Public Administration, in: ders./Klaus König (Hrsg.), Public Administration in Germany, Baden-Baden 2001, S. 597–611; zugleich: Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: ders./Klaus König (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden 1996/1997, S. 711–730. Public Administration in Germany (Hrsg.; zusammen mit Klaus König), Baden-Baden 2001 (650 S.); zugleich: Öffentliche Verwaltung in Deutschland (Hrsg.; zusammen mit Klaus König), Baden-Baden 1996/1997 (807 S.). 2000 50 Jahre Bundesrechnungshof: Zwischen Finanzkontrolle und Beratung, Festvortrag, in: Bundesrechnungshof (Hrsg.), 1950–2000: 50 Jahre Bundesrechnungshof, Festakt im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestags am 23. November 2000, Bonn 2000, S. 25–38. Le contrôle de l’administration: existence ou non d’une juridiction spécialisée, in: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.), SpeyerJahrbuch 1, Speyerer Initiativen für die Praxis, Speyer 2000, S. 209–212. Staatsreform/Europapolitik, Dokumentation zum 7. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Speyer am 5. und 6. Juni 2000 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 133, Speyer 2000 (146 S.). Das Gesetz zur Reform des öffentlichen Dienstrechts: Leistungsanreize, Teilzeitarbeit und Führungspositionen auf Zeit, in: Horst Lademacher/Erwin Schleberger (Hrsg.), Die deutsche und niederländische Verwaltung zwischen Tradition und Reform, Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 25, Baden-Baden 2000, S. 81–92. Territorial und Funktionalreform in den neuen Bundesländern, in: Peter Knoepfel/Wolf Linder (Hrsg.), Verwaltung, Regierung und Verfassung im Wandel, Gedächtnisschrift für Raimund E. Germann, Basel u. a. 2000, S. 111–135. 1999 Europäische Integration/Modernisierung des Staates, Dokumentation zum 6. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Strasbourg am 17. und 18. Juni 1999 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 127, Speyer 1999 (86 S.).
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Schriftenverzeichnis
Implementation von EU-Richtlinien, in: Hans-Ulrich Derlien/Axel Murswieck (Hrsg.), Der Politikzyklus zwischen Bonn und Brüssel, Opladen 1999, S. 83–103. Maßstäbe für eine Funktionalreform, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Optimale Aufgabenerfüllung im Kreisgebiet?, Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Band 8, Stuttgart u. a. 1999, S. 11–45. Administrative Reorganization of Regions, in: Klaus König/R. Scott Fosler (Hrsg.), Regionalization below State-Level in Germany and the United States (Regionalisierung unterhalb der Landesebene in Deutschland und den Vereinigten Staaten), Speyerer Forschungsberichte 197, Speyer 1999, S. 219–228. Der schweizerische Bundesstaat aus der Sicht Deutschlands, in: Alexander Ruch (Hrsg.), 1848–1998: 150 Jahre schweizerischer Bundesstaat, Referate der Veranstaltung vom 5. November 1998, Zürich 1999, S. 83–93.
1998 Funktionalreform in Sachsen, Gutachten erstattet im Auftrag des Sächsischen Landkreistages (zusammen mit Eberhard Laux), Schriftenreihe Kommunalrecht – Kommunalverwaltung, Band 25, Baden-Baden 1998 (106 S.). Das Führungskolleg Speyer (FKS) – Fortbildung und Personalentwicklung von Führungskräften der öffentlichen Verwaltung, in: Werner Jann/Klaus König/Christine Landfried/Peter Wordelmann (Hrsg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft, Carl Böhret zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 461–473. Aufgabenkritik, Organisationsprüfung, Personalbedarfsmessung: Kommentierung aus wissenschaftlicher Sicht, in: Klaus König/Natascha Füchtner (Hrsg.), „Schlanker Staat“ – Verwaltungsmodernisierung im Bund, Zwischenbericht, Praxisbeiträge, Kommentare, Speyerer Forschungsberichte 183, Speyer 1998, S. 227–234. L’urbanisme transfrontalier entre Länder allemands, in: Henri Jacquot/Gérard Marcou (Hrsg.), L’urbanisme transfrontalier: Droit et pratique, Paris 1998, S. 289–300. Europäische Integration/Modernisierung des Staates, Dokumentation zum 5. Deutsch-Französischen Verwaltungskolloquium der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und der Ecole Nationale d’Administration in Speyer am 25. und 26. Juni 1998 (Hrsg.), Speyerer Arbeitshefte 117, Speyer 1998 (142 S.). Implementation of Administrative Law and Judicial Control by Administrative Courts (zusammen mit Christoph Hauschild und Karl-Peter Sommermann), Speyerer Forschungsberichte 180, Speyer 1998 (222 S.).
Schriftenverzeichnis
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Die Entstehung des Gemeinschaftsrechts, seine Umsetzung und Anwendung in den Mitgliedstaaten, in: Klaus Lüder (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung der Zukunft, Vorträge der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1997 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 124, Berlin 1998, S. 223–226. Führungskräfte in der Verwaltungsmodernisierung, in: Die Öffentliche Verwaltung, Sonderheft 50 Jahre DÖV, 1998, S. 838–845. Stand der Funktionalreform im Freistaat Sachsen, in: Der Landkreis 1998, S. 214–218. 1997 Nachruf Roman Schnur, in: ders./Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch (Hrsg.), Staat, Politik und Verwaltung in Europa, Gedächtnisschrift für Roman Schnur, Baden-Baden 1997, S. 1–4; zugleich in: Archiv des öffentlichen Rechts 1997, S. 141–144. Der öffentliche Dienst in Europa – Grundsätze und Gefährdungen, in: ders./Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch (Hrsg.), Staat, Politik und Verwaltung in Europa, Gedächtnisschrift für Roman Schnur, Baden-Baden 1997, S. 327–351. Staat, Politik und Verwaltung in Europa, Gedächtnisschrift für Roman Schnur (Hrsg.; zusammen mit Rudolf Morsey und Helmut Quaritsch), Baden-Baden 1997, (365 S.). Öffnung und Kooperation, I. Chinesisch-Deutsches Verwaltungskolloquium (Hrsg.), Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 23, Baden-Baden 1997 (123 S.). Europäische Regionalpolitik (Hrsg.; zusammen mit Manfred Scholle und Erwin Schleberger), Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 22, Baden-Baden 1997 (113 S.). Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, in: ders./Siegfried Magiera (Hrsg.), Die Zukunft der Europäischen Union, Berlin 1997, S. 105–125. Die Zukunft der Europäischen Union: Integration, Koordination, Dezentralisierung, Tagungsbeiträge der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 20. bis 22. März 1996 (Hrsg.; zusammen mit Siegfried Magiera), Schriften zum Europäischen Recht, Band 35, Berlin 1997 (262 S.). Die Kommunen in der Europäischen Union, in: Gerhard Seiler (Hrsg.), Gelebte Demokratie, Festschrift für Manfred Rommel, Stuttgart 1997, S. 67–81. Das Führungskolleg Speyer (FKS) – Ein Beitrag zur Personalentwicklung für Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung,
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Schriftenverzeichnis
in: Klaus Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung: Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 122, Berlin 1997, S. 477–491. Verwaltung und Umwelt, in: Henryka Olszewskiego/Boz˙eny Popowskiej (Hrsg.), Gospodarka Administracja Samorza˛d, Poznan´ 1997, S. 447–463. Administration et environnement en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Volume XIX (1996), S. 17–30. Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: ders./Klaus König (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Baden-Baden 1996/1997, S. 711–730. Öffentliche Verwaltung in Deutschland (Hrsg.; zusammen mit Klaus König), BadenBaden 1996/1997 (807 S.). Nachruf Roman Schnur, in: Archiv des öffentlichen Rechts 1997, S. 141–144. Führungskräfte für die öffentliche Verwaltung, in: Lebendiges Rheinland-Pfalz, Zeitschrift für Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, Heft 4-1996/Heft 1-1997, S. 9–12.
1996 Der Aufbau von Staat und Verwaltung in den neuen Bundesländern, in: The Korea Institute of Public Administration (Hrsg.), The Korean-German Forum: Building-up Government Administration towards Unification, o. O. (Seoul) 1996, S. 75–95. Du personnel de direction pour la fonction publique, in: L’Etat de Droit, mélanges en l’honneur de Guy Braibant, Paris 1996, S. 641–652. Chroniques de vie administrative: Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XVIII (1995), S. 283–304. Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern, in: Zeitschrift der Koreanisch-Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaften 1996, S. 74–100. Haute fonction publique et fédéralisme: L’Ecole de Speyer, in: Revue administrative, Numéro spécial: Colloque du cinquantenaire de l’ENA, 1996, S. 39–41. Pour une meilleure compréhension de l’administration allemande, in: Revue française d’administration publique 1996, S. 245–250. Transparente Kriterien für Beurteilungen erforderlich – VOP-Redaktionsgespräch mit Verwaltungsfachleuten in Kiel, in: VOP (Verwaltungsführung – Organisation – Personalwesen), Heft 10–11 (1996), S. 15–19.
Schriftenverzeichnis
887
1995 Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung: Neue Ansätze zur Führungskräfteentwicklung in Deutschland, in: De Overheids Manager, Nieuwe Ontwikkelingen in het Overheidsmanagement, Leuven 1995, S. 205–218. La fonction législative de l’administration en Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XVII (1994), S. 75–92. Chroniques de vie administrative: Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XVII (1994), S. 229–239. Randbemerkung: „Experimentierklausel – eine ‚Freisetzungsrichtlinie‘ für die öffentliche Verwaltung“, in: Die Öffentliche Verwaltung 1995, S. 193. Gedanken zum kommunalverfassungsrechtlichen „Puzzle“ in Niedersachsen: Anmerkungen zum Regierungsentwurf, in: Niedersächsischer Landkreistag, Heft 6 (1995), S. 4–10. Das Subsidiaritätsprinzip der EG und die Mitgliedstaaten, in: EUREG, Heft 2 (1995), S. 7–11. Führungsfunktionen auf Zeit: Beiträge der Experten, in: Staatskanzlei Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Voran – Schriften zur Verwaltungsmodernisierung in Rheinland-Pfalz, Heft 1: Führungsfunktionen auf Zeit – Dokumentation eines Expertengesprächs, Mainz 1995, S. 11, 13–15.
1994 Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Mainzer Runde (Hrsg.), Mainz 1994 (29 S.). Administration et constitution en République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XVI (1993), S. 175–189. Simulation and Planning Games as a Tool in the Drafting Process: Testing Law Drafts and Training of Officials, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Modernization of Legislation and Implementation of Laws, Speyerer Forschungsberichte 142, Speyer 1994, S. 17–30. Public Participation: Models and Practice in Administrative Procedure, e. g. Environmental Protection, Physical and Urban Planning, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Modernization of Legislation and Implementation of Laws, Speyerer Forschungsberichte 142, Speyer 1994, S. 45–80.
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Environmental Law Reform in the Federal Republic of Germany: Conception and Implementation of Environmental Law in the European Community, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Modernization of Legislation and Implementation of Laws, Speyerer Forschungsberichte 142, Speyer 1994, S. 111–128. Modernization of Legislation and Implementation of Laws (Hrsg.; zusammen mit Christoph Hauschild und Karl-Peter Sommermann), Speyerer Forschungsberichte 142, Speyer 1994 (258 S.). The Rule of Law in Public Administration and the Administrative Jurisdiction, Legal Materials (Hrsg.; zusammen mit Christoph Hauschild und Karl-Peter Sommermann), Speyer 1994 (196 S.). Institutionelle Bedingungen einer europäischen Raumordnungspolitik: Vergleich und Ergebnis, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Institutionelle Bedingungen einer europäischen Raumentwicklungspolitik, Hannover 1994, S. 208–226. Recapitulación: Condicionamientos institucionales de una política europea de ordenación del territorio, in: ders./Gérard Marcou (Hrsg.), Condiciones institucionales de una política europea de ordenación del territorio, Monografías de la Revista Aragonesa de Administración Pfflblica, Zaragoza 1994, S. 253–274. Condiciones institucionales de una política europea de ordenación del territorio (Hrsg.; zusammen mit Gérard Marcou), Monografías de la Revista Aragonesa de Administración Pfflblica, Zaragoza 1994 (274 S.). Die Rolle der Verwaltung auf der örtlichen Ebene in der Dritten Welt, in: Rainer Pitschas (Hrsg.; unter Mitarbeit von Christian Koch), Entwicklungsrecht und sozialökologische Verwaltungspartnerschaft, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 116, Berlin 1994, S. 321–330. Zugang, Auswahl und Einstellung im öffentlichen Dienst der EG-Mitgliedstaaten: Einführung in die Diskussion, in: ders./Siegfried Magiera (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Schriften zum Europäischen Recht, Band 17, Berlin 1994, S. 821–825. Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.; zusammen mit Siegfried Magiera), Schriften zum Europäischen Recht, Band 17, Berlin 1994 (862 S.). Bericht: Funktionalreform in Thüringen, in: Die Öffentliche Verwaltung 1994, S. 910–911. Nachruf Dr. Dr. h.c. Kurt Nederkorn, in: Die Öffentliche Verwaltung 1994, S. 472. Würdigung: Otto Bachof 80 Jahre, in: Die Öffentliche Verwaltung 1994, S. 210. Beamtenrecht in Europa: Bewegung in einer „unendlichen Geschichte“?, in: Beamte heute 1994, S. 5–8.
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1993 Der Öffentliche Dienst zwischen Einsparungszwang und Leistungserwartung: Von der Personalverwaltung zur Personalentwicklung, Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland, in: ders./Klaus König (Hrsg.), Öffentlicher Dienst und Verwaltungsaufbau: Leistungserwartung in Westeuropa – Verwaltungstransformation in Osteuropa, Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 19, Baden-Baden 1993, S. 27–32. Öffentlicher Dienst und Verwaltungsaufbau: Leistungserwartung in Westeuropa – Verwaltungstransformation in Osteuropa (Hrsg.; zusammen mit Klaus König), Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 19, Baden-Baden 1993 (109 S.). Vorwort der Herausgeber, in: ders./Karl Teppe (Hrsg., im Auftrag der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.), Vom Verwalten: Beiträge zur Staatsorganisation und zum Kommunalwesen, Sammlung von Veröffentlichungen von Eberhard Laux zum 70. Geburtstag, Schriftenreihe Verwaltungsorganisation, Dienstrecht und Personalwirtschaft, Band 27, Baden-Baden 1993, S. 7–8. Vom Verwalten: Beiträge zur Staatsorganisation und zum Kommunalwesen, Sammlung von Veröffentlichungen von Eberhard Laux zum 70. Geburtstag (Hrsg.; zusammen mit Karl Teppe, im Auftrag der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.), Schriftenreihe Verwaltungsorganisation, Dienstrecht und Personalwirtschaft, Band 27, Baden-Baden 1993 (489 S.). Law Reform and Deregulation, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Law Reform and Law Drafting, Speyerer Forschungsberichte 129, Speyer 1993, S. 3–17. Testing Draft Laws and Implementation Studies, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Law Reform and Law Drafting, Speyerer Forschungsberichte 129, Speyer 1993, S. 61–70. Law Reform and Law Drafting (Hrsg.; zusammen mit Christoph Hauschild und Karl-Peter Sommermann), Speyerer Forschungsberichte 129, Speyer 1993 (2., unveränd. Aufl. 1994) (134 S.). Abschlußbemerkungen des Wissenschaftlichen Beauftragten des I. FKS, in: Führungskolleg Speyer (Hrsg.), I. Führungskolleg Speyer 1991/93, Abschlussveranstaltung, Speyer 1993, S. 27–31. Bericht zum I. FKS (1991/93), Bericht des Wissenschaftlichen Beauftragten, in: ders. (Hrsg.), I. FKS (1991/93): Konzept und Umsetzung, Speyer 1993, S. 4–42. I. FKS (1991/93): Konzept und Umsetzung (Hrsg.), Speyer 1993 (69 S.). The Principle of the Rule of Law, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), The Rule of Law in
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Public Administration: The German Approach, Speyerer Forschungsberichte 122, Speyer 1993, S. 3–11. The Citizen Orientation and the Service Orientation of the Civil Service: Concept and Training, in: ders./Christoph Hauschild/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), The Rule of Law in Public Administration: The German Approach, Speyerer Forschungsberichte 122, Speyer 1993, S. 59–68. The Rule of Law in Public Administration: the German Approach (Hrsg.; zusammen mit Christoph Hauschild und Karl-Peter Sommermann), Speyerer Forschungsberichte 122, Speyer 1993 (2., unveränd. Aufl. 1993; 3., unveränd. Aufl. 1994) (196 S.). Groupes de pression et administration en Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XV (1992), S. 99–115. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XV (1992), S. 559–576. 1992 Höhere Kommunalverbände – ein leistungsfähiger kommunaler Partner, in: Bundesarbeitsgemeinschaft der Höheren Kommunalverbände in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Höhere Kommunalverbände – eine Organisationsform der Zukunft?, Forum in Kassel am 26. und 27. November 1992, Köln o. J. (1992), S. 39–48. Führungskolleg Speyer (FKS): Ein Zwischenbericht, Speyer 1992 (62 S.). Organisation des Personalwesen(s) in der öffentlichen Verwaltung, in: Erich Frese (Hrsg.), Handwörterbuch der Organisation, 3., völlig neu gestaltete Aufl., Stuttgart 1992, Sp. 1924–1934. Administration et fonctionnement de la justice allemande, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XIV (1991), S. 145–168. Verwaltung 2000: Modernisierungskonzepte in europäischen Staaten, in: Verantwortung und Leistung, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft der Verbände des höheren Dienstes, Heft 24, Bonn 1992 (8 S.). Vergleichende Verwaltungswissenschaft: Wissenschaft oder Kunst?, in: Die Verwaltung 1992, S. 427–435. Institutionelle Aspekte einer europäischen Raumordnung, in: Raumforschung und Raumordnung 1992, S. 163–165.
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1991 Europa 1992: Traum oder Trauma für die kommunale Selbstverwaltung, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsbarkeit – Umweltschutz – Kommunale Selbstverwaltung, Referate des 7. deutsch-polnischen Verwaltungskolloquiums, Speyerer Forschungsberichte 94, Speyer 1991, S. 227–248. Verwaltungsgerichtsbarkeit – Umweltschutz – Kommunale Selbstverwaltung, Referate des 7. deutsch-polnischen Verwaltungskolloquiums (Hrsg.), Speyerer Forschungsberichte 94, Speyer 1991 (297 S.). Führungskräfte der österreichischen Bundesverwaltung: Ausbildung, Fortbildung, Verwendung, Personalentwicklung, in: Verwaltungsakademie des Bundes (Hrsg.), Personalmanagement: Personalentwicklung in der öffentlichen Verwaltung, Wien 1991, S. 91–99. Fortbildung von Führungskräften: Ein internationaler Vergleich, in: Gerhard Teufel (Hrsg.), Führungsakademie des Landes Baden-Württemberg, Trudpert Müller zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 1991, S. 75–80. Einführung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung: Deutsche Vereinigung und institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Band 4, Stuttgart 1991, S. 1–2. Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung: Deutsche Vereinigung und institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Band 4, Stuttgart 1991 (251 S.). Regionale Kommunalverbände als Träger öffentlicher Aufgaben in einem dezentralisierten Staats- und Verwaltungssystem, in: Bezirksverband Pfalz (Hrsg.), Die Bedeutung der Höheren Kommunalverbände im Europa der Regionen, Neustadt a. d. Weinstraße 1991, S. 9–19. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XIII (1990), S. 469–495. Anmerkungen zur Reform der Kommunalverfassung in Nordrhein-Westfalen, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1991, S. 410–413. Bereichsrezension: Verwaltung/Bürokratie, in: Soziologische Revue 1991, S. 478–479.
1990 Zum Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst, in: Paul Feuchte/Manfred Rommel/Otto Rundel (Hrsg.), Initiative und Partnerschaft, Manfred Bulling zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1990, S. 155–170.
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Die Rastede-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: ihre Bedeutung für die niedersächsischen Gemeinden, Schriftenreihe des Niedersächsischen Städtetages, Heft 20, Göttingen 1990 (13 S.). Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut, Nr. 215, Saarbrücken 1990 (32 S.). Alexis de Tocqueville: The Threat to Freedom in Democracy, in: European Institute of Public Administration (Hrsg.), Alexis de Tocqueville Prize 1989/Prix Alexis de Tocqueville 1989, Awarded to His Excellency Mr. Otto von der Gablentz, Ambassador of the Federal Republic of Germany to The Netherlands on 12 October 1989, Maastricht 1990, S. 5–8. Führungskräfte der Bundesverwaltung: Ausbildung, Fortbildung, Verwendung, Personalentwicklung, Bericht der Projektgruppe „Führung und Personalwesen“ des Projektes „Verwaltungsmanagement“, Wien 1990 (43 S.). Europäische Integration und die öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten, in: Die Öffentliche Verwaltung 1990, S. 445–455. Allemagne Fédérale: Formation des hauts fonctionnaires et „flexibilité“ de la gestion – vers une nouvelle politique du personnel? (zusammen mit Christoph Hauschild), in: Revue française d’administration publique 1990, S. 383–391. L’applicazione delle direttive comunitarie da parte delle amministrazione nazionali: Uno studio comparato (zusammen mit Christoph Hauschild), in: Problemi di Amministrazione Pubblica 1990, S. 141–155; zugleich: L’application des directives communautaires par les administrations nationales (étude comparative) (zusammen mit Christoph Hauschild), in: Revue française d’administration publique 1988, S. 31–39.
1989 Verwaltungsreform, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Band 5, 7., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg u. a. 1989, Sp. 755–758. Der Beitrag der Verwaltungswissenschaften am Beispiel einzelner Arbeits- und Problemfelder, in: Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Kommunalwissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Schriften zur kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 2, BadenBaden 1989, S. 139–152. An International Perspective II: Privatisation & Institutional Modernisation in Asia & Europe (zusammen mit Klaus König), in: Ian Thynne/Mohamed Ariff (Hrsg.), Privatisation: Singapore’s Experience in Perspective, Singapore 1989, S. 167–186.
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Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung (Hrsg.), Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 15, BadenBaden 1989 (253 S.). Les privatisations en République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XI (1988), S. 159–168. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. XI (1988), S. 475–494. Investigación empírica sobre la aplicación del derecho comunitario por las administraciones de los Estados miembros, in: Autonomies, Band 10 (1989), S. 39–49. 1988 Führung: Zur Neuorientierung eines Begriffs, in: Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse/Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Band 2, Baden-Baden 1988, S. 149–168. Western Germany, in: Donald C. Rowat (Hrsg.), Public Administration in Developed Democracies: A Comparative Study, New York/Basel 1988, S. 315–338. Präambeln: Vorsprüche und Zweckbestimmungen in den Rechtsordnungen der westlichen Welt (zusammen mit Norbert Huber) in: Hermann Hill (Hrsg.), Gesetzesvorspruch: Verbesserter Zugang des Bürgers zum Recht, Heidelberg 1988, S. 37–76. The Higher Civil Service in the Industrialized Countries: Training (zusammen mit Norbert Huber), in: International Institute of Administrative Sciences (Hrsg.), The Higher Civil Service in Belgium and in Industrialized Countries, Brüssel 1988, S. 105–148; zugleich: La haute fonction publique dans les pays industrialisiés: La formation (zusammen mit Norbert Huber), in: Institut International des Sciences Administratives (Hrsg.), La haute fonction publique en Belgique et dans les pays industrialisés: Recrutement, carrière et formation, Brüssel o. J. (1987), S. 147–186. Making European Policies Work: The Implementation of Community Legislation in the Member States/L’Europe des administrations?: La mise en œuvre de la législation communautaire dans les Etats membres (Hrsg.; zusammen mit Jacques Ziller), Vol. 2: National Reports/Rapports nationaux, Brüssel/London 1988 (752 S.). La mise en œuvre de la législation communautaire par les Etats membres: Analyse comparative (zusammen mit Christoph Hauschild), in: ders./Jacques Ziller (Hrsg.), L’Europe des Administrations?: La mise en œuvre de la législation communautaire dans les Etats membres, Vol. 1: Synthèses comparatives, Brüssel 1988, S. 14–133;
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Schriftenverzeichnis
zugleich: The Implementation of Community Legislation by the Member States: A Comparative Analysis (zusammen mit Christoph Hauschild), in: ders./Jacques Ziller (Hrsg.), Making European Policies Work: The Implementation of Community Legislation in the Member States, Vol. 1: Comparative Syntheses, London 1988, S. 1–87. La mise en œuvre des directives dans les Etats membres, in: ders./Jacques Ziller (Hrsg.), L’Europe des Administrations?: La mise en œuvre de la législation communautaire dans les Etats membres, Vol. 1: Synthèses comparatives, Brüssel 1988, S. 251–264; zugleich: The Implementation of Directives in the Member States, in: ders./Jacques Ziller (Hrsg.), Making European Policies Work: The Implementation of Community Legislation in the Member States, Vol. 1: Comparative Syntheses, London 1988, S. 169–180. L’Europe des Administrations?: La mise en œuvre de la législation communautaire dans les Etats membres (Hrsg.; zusammen mit Jacques Ziller), Vol. 1: Synthèses comparatives, Brüssel 1988 (348 S.); zugleich: Making European Policies Work: The Implementation of Community Legislation in the Member States (Hrsg.; zusammen mit Jacques Ziller), Vol. 1: Comparative Syntheses, London 1988 (238 S.). L’administration publique de la République Fédérale d’Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. X (1987), S. 7–36. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. X (1987), S. 565–581. Europäische Gemeinschaft und kommunale Beteiligung, in: Die Öffentliche Verwaltung 1988, S. 981–988. Personnel policies in the Federal Republic of Germany: scarce resources and modernization programmes (zusammen mit Christoph Hauschild), in: International Review of Administrative Sciences 1988, S. 453–466. L’application des directives communautaires par les administrations nationales (étude comparative) (zusammen mit Christoph Hauschild), in: Revue française d’administration publique 1988, S. 31–39.
1987 Wissenstransfer: Curriculare Gestaltung der Verwaltungsfortbildung, in: Rainer Koch (Hrsg.), Verwaltungsforschung in Perspektive: Ein Colloquium zur Methode, zum Konzept und zum Transfer, Baden-Baden 1987, S. 233–244. Konzeptionen des Personalmanagements aus der Sicht der Verwaltung, in: Arbeitsgruppe Fortbildung im Sprecherkreis der Hochschulkanzler (Hrsg.), Personalmanagement in der Wissenschaftsverwaltung, Fortbildungsprogramm für die Wissenschaftsverwaltung, Materialien Nr. 29, Essen 1987, S. 5–18.
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La haute fonction publique dans les pays industrialisés: La formation (zusammen mit Norbert Huber), in: Institut International des Sciences Administratives (Hrsg.), La haute fonction publique en Belgique et dans les pays industrialisés: Recrutement, carrière et formation, Brüssel o. J. (1987), S. 147–186. Erneuerung von Verwaltungsführung und Personalsteuerung: Thesen zur Diskussion, in: ders./Carl Böhret/Helmut Klages/Heinrich Reinermann (Hrsg.), Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung, Opladen 1987, S. 489–493. Erneuerung der Verwaltungsführung und Personalsteuerung: Ergebnisse des Arbeitskreises IV, in: ders./Carl Böhret/Helmut Klages/Heinrich Reinermann (Hrsg.), Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung, Opladen 1987, S. 607–615. Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung (Hrsg.; zusammen mit Carl Böhret, Helmut Klages und Heinrich Reinermann), Opladen 1987 (643 S.). Building From Below: Local Initiatives for Decentralized Development in Asia and Pacific (Hrsg.; zusammen mit Anil Bhatt, Ledivina V. Carin˜o, Khalid Shams und Gaudioso C. Sosmen˜a), Vol. 3, Kuala Lumpur 1987 (465 S.). Building From Below: Local Initiatives for Decentralized Development in Asia and Pacific (Hrsg.; zusammen mit Anil Bhatt, Ledivina V. Carin˜o, Khalid Shams und Gaudioso C. Sosmen˜a), Vol. 2, Kuala Lumpur 1987 (403 S.). Decentralization for Rural Development: Government Approaches and People’s Initiatives in Asia and the Pacific, in: ders./Anil Bhatt, Ledivina V. Carin˜o/Khalid Shams/Gaudioso C. Sosmen˜a (Hrsg.), Building from Below: Local Initiatives for Decentralized Development in Asia and Pacific, Vol. 1, Kuala Lumpur 1987, S. 1–40. Building From Below: Local Initiatives for Decentralized Development in Asia and Pacific (Hrsg.; zusammen mit Anil Bhatt, Ledivina V. Carin˜o, Khalid Shams und Gaudioso C. Sosmen˜a), Vol. 1, Kuala Lumpur 1987 (142 S.). L’administration de la République Fédérale d’Allemagne et l’intégration européenne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. IX (1986), S. 15–28. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. IX (1986), S. 485–502. L’Ecole Supérieure des Sciences Administratives de Spire, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. IX (1986), S. 695–705.
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Public Administration in the Federal Republic of Germany, Speyerer Arbeitshefte 69, Speyer 1986 (41 S.). Verwaltungsreform, in: Peter Haungs (Hrsg.), 40 Jahre Rheinland-Pfalz: Eine politische Landeskunde, Mainz 1986, S. 365–382. Chroniques de vie administrative: La République Fédérale d’Allemagne – La réforme de la haute administration au Bade-Wurtemberg (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. VIII (1985), S. 483–505. Dienstrechtsreform: Eine Bilanz nach 10 Jahren, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 1986, S. 153–158.
1985 Änderungen der Aufgabenverteilung, der Organisation und der Verfahren der Verwaltung zur Beschleunigung und Verbesserung der Verwaltungsentscheidungen, in: Volkmar Götz/Hans Hugo Klein/Christian Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, München 1985, S. 279–299. Die Rechnungsprüfung, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 6, Berlin/Heidelberg 1985, S. 529–541. The Implementation of Community Legislation by Member States: Guidelines for the research project (zusammen mit Francesco Capotorti und Ghita Ionescu), Speyerer Forschungsberichte 40, Speyer 1985, (27 S.); zugleich: L’application de la législation communautaire par les Etats membres: Les lignes directrices du projet de recherche (zusammen mit Francesco Capotorti und Ghita Ionescu), Speyerer Forschungsberichte 40, Speyer 1984 (28 S.). Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. VII (1984), S. 593–615. Führungsfunktionen auf Zeit in der staatlichen Verwaltung: Leistungsprinzip und Unabhängigkeit im Beamtenrecht, in: Die Öffentliche Verwaltung 1985, S. 1033–1042.
Schriftenverzeichnis
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1984 Nauczanie i szkolenie na potrzeby administracji publicznej – doswiadczenia zachodnioeuropejskie, in: Instytut Organizacji Zarzadzania I Doskonalenia Kadr (Hrsg.), Urzednicy Panstwowi w Europie Zachodniej, Warschau 1984, S. 5–18. Nationale Ervaring: Duitse Bondsrepubliek, in: Belgisch Instituut voor Besturswetenschappen/Institut Belge des Sciences Administratives (Hrsg.), Lezingen en Studies bij de 50e Verjaardag/Conférences et études du 50ème anniversaire, Brüssel 1984, S. 36–43. L’application de la législation communautaire par les Etats membres: Les lignes directrices du projet de recherche (zusammen mit Francesco Capotorti und Ghita Ionescu), Speyerer Forschungsberichte 40, Speyer 1984 (28 S.). Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. VI (1983), S. 635–646. Vergleichende Anmerkungen zur Ausbildung des Führungsnachwuchses der Verwaltung: Esprit de corps und esprit de service (Rektoratsrede), in: Die Öffentliche Verwaltung 1984, S. 529–536.
1983 The Principles and Practices of Recruiting International Civil Servants, in: German Section of the International Institute of Administrative Sciences (Hrsg.), XIXth International Congress of Administrative Sciences: Reports of the German Section, Deventer u. a. 1983, S. 98–113. Education and Training for Public Administration, Speyerer Arbeitshefte 52, Speyer 1983 (34 S.). Réflexions sur la science administrative comparée, in: European Institute of Public Administration (Hrsg.), The Development of Research and Training in European Policy-Making, Maastricht 1983, S. 171–183. Public Administration and Institutions: A summary, Speyerer Arbeitshefte 50, Speyer 1983 (70 S.). Challenges and Opportunities for the Civil Services in Europe, in: ders. (Hrsg.), Public Personnel Management in Asian Civil Services, Mainz 1983, S. 63–75. Reforms in the Civil Service in the Federal Republic of Germany, in: ders. (Hrsg.), Public Personnel Management in Asian Civil Services, Mainz 1983, S. 228–248. Public Personnel Management in Asian Civil Services (Hrsg.), Mainz 1983 (285 S.).
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Reforma funkcjonalna w krajach Republiki Federalnej Niemiec, in: Polska Akademia Nauk: Instytut Panstwa i Prawa (Hrsg.), Administracja Republiki Federalnej Niemiec, Wroclaw u. a. 1983, S. 50–65. Verwaltungsinterne Reaktionen auf verwaltungspolitische Vorgaben, in: ders./Carl Böhret (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungspolitik, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 90, Berlin 1983, S. 47–55. Öffentlicher Dienst als Manövriermasse der Politik?, in: ders./Carl Böhret (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungspolitik, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 90, Berlin 1983, S. 213–217. Dienstrechtliche Aspekte, in: ders./Carl Böhret (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungspolitik, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 90, Berlin 1983, S. 243–245. Schlußwort, in: ders./Carl Böhret (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungspolitik, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 90, Berlin 1983, S. 333–336. Verwaltung und Verwaltungspolitik, Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg., zusammen mit Carl Böhret), Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 90, Berlin 1983 (336 S.). Personalwirtschaft und die Instrumente des Personalwesens, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 3, Berlin/Heidelberg 1983, S. 235–252. La fonction publique, in: Klaus König/Hans-Joachim von Oertzen/Frido Wagener (Hrsg.), L’administration publique en République Fédérale d’Allemagne (traduit de l’allemand par Christian Autexier), Institut International d’Administration Publique (Hrsg.), Paris 1983, S. 321–335; zugleich: Der öffentliche Dienst, in: Klaus König/Hans-Joachim von Oertzen/Frido Wagener (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1981, S. 321–335. Monitoring the Productivity of Bureaucratic Behavior: Comments, in: Horst Hanusch (Hrsg.), Anatomy of Government Deficiencies, Berlin u. a. 1983, S. 162–163. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. V (1982), S. 653–670.
Schriftenverzeichnis
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Grundsätze und Praxis bei der Einstellung der internationalen Bediensteten, in: Verwaltungswissenschaftliche Informationen, Sonderheft 5: Aspekte der Internationalen Verwaltung, 1983, S. 5–18. Administrative Science in the Federal Republic of Germany, Part B.: Present Position, in: International Review of Administrative Sciences 1983, S. 158–163. 1982 Die Reformen der kommunalen Gebietskörperschaften und Regionen in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz, in: Franz Zehetner (Hrsg.), Reformen der Kommunen und Regionen in Europa: Theorie, Praxis und kritische Auswertung, Wien/München 1982, S. 11–65. Introduction: Government Performance and Administrative Reform, in: ders./Gerald E. Caiden (Hrsg.), Strategies for Administrative Reform, Lexington, Mass. 1982, S. ix–xv. The Federal Republic of Germany: From Big Design to Stumbling, in: ders./Gerald E. Caiden (Hrsg.), Strategies for Administrative Reform, Lexington, Mass. 1982, S. 153–169. Strategies for Administrative Reform (Hrsg.; zusammen mit Gerald E. Caiden), Lexington, Mass. 1982 (246 S.). Parlement et administration en République Fédérale d’Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. IV (1981), S. 105–123. L’amministrazione delle universita’ nella Repubblicca Federale Tedesca, in: Problemi di Amministrazione Pubblica 1982, S. 145–179; zugleich: L’administration des universités en République Fédérale d’Allemagne, in: Revue française d’administration publique 1980, S. 108–130. 1981 Der öffentliche Dienst, in: Klaus König/Hans-Joachim von Oertzen/Frido Wagener (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1981, S. 321–335. Federal Republic of Germany (zusammen mit Klaus-Dieter Grunwald), in: Yves Chapel (Hrsg.), La préparation aux fonctions publiques administratives par les universités en Europe occidentale, Paris 1981, S. 251–273. République Fédérale Allemande: La réforme des collectivités locales dans l’Etat industrialisé contemporain, in: Institut Français des Sciences Administratives: Section inter-régionale pour le nord de la France (Hrsg.), La réforme des collectivités locales en Europe du nordouest (Royaume-Uni, Belgique, France, République Fédérale d’Allemagne), Paris 1981, S. 107–152.
900
Schriftenverzeichnis
Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. III (1980), S. 595–622. Juristenausbildung für die öffentliche Verwaltung: Bericht über eine nicht stattfindende Diskussion, in: Die Verwaltung 1981, S. 203–218. Le processus de réforme communale en République Fédérale d’Allemagne (1964–1980), in: Revue française d’administration publique 1981, S. 11–33. 1980 La réforme de la fonction publique en République Fédérale Allemande 1970–1980, in: Louis Boulet (Hrsg.), Science et action administratives, mélanges Georges Langrod, Paris 1980, S. 277–289. Privatisierung öffentlicher Aufgaben: Begriff und Formen, in: ders./Gerhart Baum/Benno Erhard/Jerzy Hauptmann/Alfred Krause (Hrsg.), Privatisierung: Gewinn für wen?, Schriften zur Staats- und Gesellschaftspolitik, Band 17, Bonn 1980, S. 59–76; zugleich in: VOP (Verwaltungsführung – Organisation – Personalwesen) 1980, S. 62–72. Privatisierung: Gewinn für wen? (Hrsg.; zusammen mit Gerhart Baum, Benno Erhard, Jerzy Hauptmann und Alfred Krause), Schriften zur Staats- und Gesellschaftspolitik, Band 17, Bonn 1980 (194 S.). Developments and Reforms of the Civil Service in Asian Countries: A European Perspective, in: ders./Amara Raksasataya (Hrsg.), Asian Civil Services: Developments and Trends, Kuala Lumpur 1980, S. xliii-li. Asian Civil Services: Developments and Trends (Hrsg.; zusammen mit Amara Raksasataya), Kuala Lumpur 1980 (570 S.). La politique de choix des fonctionnaires en République Fédérale d’Allemagne, in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. II (1979), S. 227–256. Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. II (1979), S. 645–662. Privatisierung öffentlicher Aufgaben: Begriff und Formen, in: VOP (Verwaltungsführung – Organisation – Personalwesen) 1980, S. 62–72. L’administration des universités en République Fédérale d’Allemagne, in: Revue française d’administration publique 1980, S. 108–130.
Schriftenverzeichnis
901
1979 Veranderingen in het lokaal bestuur in de Bondsrepubliek Duitsland, Institut Administratie-Universiteit: Departement Politieke Wetenschappen (Hrsg.), Leuven 1979 (21 S.). Strategien der Verwaltungsreform: Grenzen und Möglichkeiten der Rationalisierung öffentlicher Verwaltungen (zusammen mit Rainer Koch), in: K. Krüger/Günter Rühl/Klaus J. Zink (Hrsg.), Industrial Engineering und Organisationsentwicklung im kommenden Dezennium, München 1979, S. 319–334. Personalbemessung in der Ministerialverwaltung (zusammen mit Karl-Rolf Schmid), Speyerer Forschungsberichte 6, Speyer 1979 (35 S.). Chroniques de vie administrative: République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Michel Fromont), in: Annuaire Européen d’Administration Publique, Vol. I (1978), S. 517–534. Abschied von der Dienstrechtsreform?, in: Die Verwaltung 1979, S. 457–478. Regionalismus in Italien, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 1979, S. 224–240. Schulträgerschaft und kommunale Gebietsreform, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1979, S. 29–39.
1978 L’autonomie des collectivités locales en R.F.A.: aspects historiques et institutionnels (zusammen mit Christian Autexier), o. O. (Saarbrücken/Paris) 1978 (53 S.). Zweckrationalität und Opportunismus bei der Dienstpostenbewertung (zusammen mit Rainer Koch), in: ders. (Hrsg.), Bewertungssysteme für den öffentlichen Dienst: Zur Problematik einer leistungs- und funktionsgerechten Bezahlung in der öffentlichen Verwaltung, Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Band 25, BadenBaden 1978, S. 15–37; zugleich in: Verwaltungsarchiv 1977, S. 99–116. Bewertungssysteme für den öffentlichen Dienst: Zur Problematik einer leistungsund funktionsgerechten Bezahlung in der öffentlichen Verwaltung (Hrsg.), Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Band 25, Baden-Baden 1978 (197 S.). Beurteilungskriterien für die Übernahme, Zuweisung und Ausgliederung öffentlicher Aufgaben auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung, in: Institut für Kommunalwissenschaften (Hrsg.), Reform kommunaler Aufgaben, Studien zur Kommunalpolitik, Band 19, Bonn 1978, S. 140–184. L’enseignement universitaire préparant à la fonction publique en République Fédérale d’Allemagne (zusammen mit Klaus-Dieter Grunwald), Speyerer Arbeitshefte 22, Speyer 1978 (38 S.).
902
Schriftenverzeichnis
Deutsch-polnisches Kolloquium in Regensburg, in: Die Öffentliche Verwaltung 1978, S. 878–879. Die Wirksamkeit der kommunalen Rechnungsprüfung, in: Der Gemeindehaushalt 1978, S. 277–283. 1977 Spitzenpositionen auf Zeit in der öffentlichen Verwaltung: Ein Beitrag der vergleichenden Verwaltungswissenschaft, in: Klaus König/Hans-Werner Laubinger/Frido Wagener (Hrsg.), Öffentlicher Dienst, Festschrift für Carl Hermann Ule, Köln 1977, S. 177–192. Die kommunale Rechnungsprüfung: Bestandsaufnahme und Verbesserungsvorschläge (zusammen mit Klaus-Dieter Grunwald), Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler (Hrsg.), Speyer 1977 (104 S.). Gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie im Verhältnis zur Raumordnung und Landesplanung, Schriftenreihe des deutschen Städte- und Gemeindebundes, Heft 29, Göttingen 1977 (58 S.). Kassen- und Finanzverwaltung in den gemeindlichen Verwaltungsgliederungsplänen, in: Kommunalkassenzeitschrift 1977, S. 165–173. Entwicklungsperspektiven der gemeindlichen Selbstverwaltung, in: Städte- und Gemeindebund 1977, S. 161–167. Zweckrationalität und Opportunismus bei der Dienstpostenbewertung (zusammen mit Rainer Koch), in: Verwaltungsarchiv 1977, S. 99–116. 1976 Personalwesen der Kreise, in: Verein für die Geschichte der deutschen Landkreise e.V. (Hrsg.), Der Kreis: Ein Handbuch, Band 2, Köln 1976, S. 69–94. Recent Reorganizations of Local Government Around the World: Metropolitan areas in Western Germany, Speyer 1976 (18 S.). Effizienzeffekte der Verwaltungsreform: Exemplarische Ansätze einer Wirkungsanalyse der territorialen und funktionalen Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz (zusammen mit Peter Eichhorn; unter Mitarbeit von Bernd Adamaschek und Albrecht Graf von Ingelheim), Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Band 20, Baden-Baden 1976 (265 S.). Rationalisierung im Personalbereich, in: Wilhelm Bierfelder (Hrsg.), Handwörterbuch des öffentlichen Dienstes: Das Personalwesen, Berlin 1976, Sp. 1391–1398.
Schriftenverzeichnis
903
Verwaltungseffizienz und Motivation: Anreize zur wirtschaftlichen Verwendung öffentlicher Mittel durch die Titelverwalter (zusammen mit Jochen Denso, Dieter Ewringmann, Karl-Heinrich Hansmeyer, Rainer Koch und Herbert König), Schriften der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, Nr. 115, Göttingen 1976 (187 S.). University Education for Public Administration in the Federal Republic of Germany (zusammen mit Klaus-Dieter Grunwald), Speyerer Arbeitshefte 13, Speyer 1976 (43 S.). Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft, Darmstadt 1976, S. 1–17. Verwaltungswissenschaft (Hrsg.), Darmstadt 1976 (514 S.). Einleitung des wissenschaftlichen Leiters der Tagung, in: ders. (Hrsg.), Regierungspolitik und Koordination, Vorträge und Diskussionsbeiträge der Internationalen Arbeitstagung 1974 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 57, Berlin 1976, S. 9–11; zugleich: Introduction, in: ders. (Hrsg.), La coordination de la politique gouvernementale/Policy coordination in Government, Paris 1976, S. 1–4. Schlußwort, in: ders. (Hrsg.), Regierungspolitik und Koordination, Vorträge und Diskussionsbeiträge der Internationalen Arbeitstagung 1974 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 57, Berlin 1976, S. 487–490. Regierungspolitik und Koordination, Vorträge und Diskussionsbeiträge der Internationalen Arbeitstagung 1974 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.), Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 57, Berlin 1976 (490 S.); zugleich (gekürzt): La coordination de la politique gouvernementale/Policy coordination in Government (Hrsg.), Paris 1976 (305 S.). Ressortzuschnitt als Gegenstand der vergleichenden Verwaltungswissenschaft, in: Die Verwaltung 1976, S. 1–18. 1975 Verwaltungslehre, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 2786–2796. The Responsibility of the Civil Servant, Länderbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Tagung der European Group for Public Administration und der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau 1975 (25 S.). Hochschulausbildung für den öffentlichen Dienst: Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland (zusammen mit Klaus-Dieter Grunwald), Speyer 1975 (78 S.).
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Schriftenverzeichnis
Report on Innovation in the Procedures and Structures of Government, OECD (Hrsg.), Paris 1975 (14 S.). Die Kreise vor einem neuen Leistungs- und Gestaltungsauftrag?: Von der Territorialreform zur Funktionalreform, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1975, S. 13–20. 1974 Report on Continuing Training in Public Administration in the Federal Republic of Germany, 16. International Congress of Administrative Sciences, Brüssel 1974 (16 S.). Kreisreform im Bundesgebiet und in Niedersachsen, in: Städte- und Gemeindebund 1974, S. 219–224. 1973 Funktion und allgemeine Rechtsstellung: Analyse der Funktionen des öffentlichen Dienstes, in: Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (Hrsg.), Band 8, Baden-Baden 1973, S. 17–199. Die Entwicklung der Verwaltungswissenschaft in Frankreich: Organisatorische und institutionelle Aspekte, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, Festschrift für Hans J. Wolff, München 1973, S. 65–86. Zur Situation der Stadt Wattenscheid im Neugliederungsraum Ruhrgebiet, Gutachten, Wattenscheid 1973 (235 S.). Stellungnahme zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Ruhrgebiet (Ruhrgebiet-Gesetz), Drucksache d. Landtages Nordrhein-Westfalen 7/2800 v. 10.7.1973, Gutachten erstellt für die Städte Herne und Wanne-Eickel, Herne/Wanne-Eickel 1973 (14 S.). Stellungnahme zum Neugliederungsvorschlag des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 25. September 1972, Gutachten erstellt für die Städte CastropRauxel, Herne, Recklinghausen und Wanne-Eickel, Herne 1973 (122 S.). 1972 Zu den Konzeptionen einer territorialen Neugliederung im Ruhrgebiet, Gutachten erstellt für die Städte Castrop-Rauxel, Herne, Recklinghausen und Wanne-Eickel, Herne 1972 (76 S.). Analyse der Funktionen des öffentlichen Dienstes: Relation zwischen Funktion und allgemeiner Rechtsstellung, 2 Bände, Gutachten, Speyer 1972 (269 S.).
Schriftenverzeichnis
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Zur Entwicklung des Städtebau- und Bodenrechts in Frankreich, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 1972, S. 346–357. 1971 Dankesrede für die deutschen Preisträger, in: Stiftung F.V.S. zu Hamburg (Hrsg.), Straßburg-Preis – Prix Strasbourg, Verleihung des Straßburg-Preises 1971 durch die Universität Straßburg II am 9. Oktober 1971, o. O. 1971, S. 17–21. Zur Neugliederung in Ballungsräumen: Dargestellt an der Situation der Stadt Brackwede innerhalb des Neugliederungsraumes Bielefeld (zusammen mit Roman Schnur), Abhandlungen zur Kommunalpolitik, Band 4, Köln 1971 (54 S.). Zu den Grenzen neuer kommunalverfassungsrechtlicher Organisationsformen (Probevorlesung), in: Die Verwaltung 1971, S. 279–300. Gemeindegröße und Leistungskraft der Gemeinden, in: Der Bürger im Staat 1971, S. 112–116. 1970 Regierungsführung und Ressortführung in Frankreich: Zur Organisation und Funktion der Cabinets ministériels, Habilitationsschrift, Speyer 1970 (527 S.) (nicht veröffentlicht). Anmerkungen zum Regionalismus in Westeuropa, in: Länderreform und Landschaften: Ein Cappenberger Gespräch, Köln 1970, S. 115–122. 1969 Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung: Institutionen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung, in: Politik und Verwaltung, Heft 8 (1969) (118 S.). La région et la commune en Allemagne fédérale: Réalisation et tendance d’une réforme (1964–1969), in: Revue administrative 1969, S. 503–511. 1968 Staatsnotstand und Parlamentsauflösung in Frankreich, in: Juristenzeitung 1968, S. 363–367.
906
Schriftenverzeichnis 1967
Ist in Nordrhein-Westfalen die Erstattung von Wahlkampfkosten auf kommunaler Ebene rechtlich zulässig?, Gutachten, Bund der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen e. V. (Hrsg.), Schriftenreihe, Nr. 5, Düsseldorf 1967 (22 S.). Interkommunale Zusammenarbeit in Frankreich, in: Der Städtetag 1967, S. 308–312. Les administrations locales dans le Land Nordrhein-Westfalen, in: Administration, Revue d’information publiée par l’Association du corps préfectoral et des hauts fonctionnaires du Ministère de l’Intérieur, Nr. 60 (1967), S. 81–88. 1966 Verwaltungsreform in Frankreich, in: Die Öffentliche Verwaltung 1966, S. 558–559. 1963 Grenzen und Bindungen der Kommunalwirtschaft: Die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden im System des Privatrechts und Verwaltungsrechts, Dissertation, Stuttgart 1963 (101 S.).
Verzeichnis der Autoren Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ludwig Adamovich, Universität Wien Prof. Demetrios Argyriades, City University of New York Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hartmut Bauer, Universität Potsdam Prof. Dr. Hermann-Josef Blanke, Universität Erfurt Prof. Dr. Jean-Luc Bodiguel, Université de Nantes Prof. Dr. Carl Böhret, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Eberhard Bohne, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Potsdam Prof. Dr. Hans Peter Bull, Universität Hamburg Prof. Dr. Francis Delpérée, Université Catholique de Louvain-la-Neuve, Brüssel Prof. Dr. Christoph Demmke, European Institute of Public Administration, Maastricht Prof. Dr. Dieter Engels, Präsident des Bundesrechnungshofes Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Michel Fromont, Université Paris I – Panthéon-Sorbonne Prof. Dr. Klaus-Eckart Gebauer, Direktor beim Landtag Rheinland-Pfalz a. D. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Dr. Christoph Hauschild, Ministerialrat, Bundesministerium des Inneren, Berlin Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistags, Berlin Prof. Dr. Hermann Hill, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Gerhart Holzinger, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Wien Prof. Dr. Rainer Koch, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Dr. Klaus König, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Hans-Werner Laubinger, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Morsey, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Holger Mühlenkamp, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Matthias Niedobitek, Technische Universität Chemnitz Prof. Dr. Janbernd Oebbecke, Geschäftsführender Direktor des Kommunalwissenschaftlichen Instituts, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Theo Öhlinger, Universität Wien Prof. Dr. Matthias Pechstein, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Pitschas, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Jean-Luc Pontier, Université Aix-Marseille III – Paul Cézanne Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Püttner, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. Heinrich Reinermann, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Gerd Roellecke, Universität Mannheim Prof. Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Christian-Albrechts-Universität Kiel Prof. Dr. Gunnar Schwarting, Geschäftsführer des Städtetages Rheinland-Pfalz Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Benedikt Speer, M.A., Mag. rer. publ., Forschungsreferent, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rolf Stober, Universität Hamburg Prof. Dr. Franz Strehl, Johannes Kepler Universität Linz, Präsident des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften (IIAS), Brüssel
Verzeichnis der Autoren
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Prof. Dr. Werner Thieme, Universität Hamburg Prof. Dr. Gérard Timsit, Université Paris I – Panthéon-Sorbonne Prof. Dr. Andrzej Wasilewski, Jagellonen Universität Krakau Dr. Hedda von Wedel, Mitglied des Europäischen Rechnungshofs a. D. Dr. Christof Wolff, Oberbürgermeister der Stadt Landau in der Pfalz a. D. Dr. Pensri Wongsaree, Richterin am Verwaltungsgericht Bangkok Prof. Dr. Wolfgang Zeh, Direktor beim Deutschen Bundestag a. D. Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer Prof. Dr. Jacques Ziller, Università degli Studi di Pavia, Europäisches Hochschulinstitut Florenz