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German Pages 1035 Year 2011
Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag Herausgegeben von
Michaela Wittinger Rudolf Wendt Georg Ress
Duncker & Humblot · Berlin
Verfassung ‒ Völkerrecht ‒ Kulturgüterschutz Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Dieter Blumenwitz †, Karl Doehring, Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning
Band 26
Verfassung ‒ Völkerrecht ‒ Kulturgüterschutz Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Michaela Wittinger Rudolf Wendt Georg Ress
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bände 1 – 19 der ,,Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Mercedes-Druck, Berlin Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-13494-6 (Print) ISBN 978-3-428-53494-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83494-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Am 22. Dezember 2010 vollendete Wilfried Fiedler sein 70. Lebensjahr. Dies ist Anlass für seine Schüler, Weggefährten, Kollegen und Freunde, ihn und sein Wirken als Wissenschaftler und akademischer Lehrer mit dieser Festschrift zu würdigen und ihre Verehrung, ihren Dank und ihre Verbundenheit zu bekunden. Der Titel der Festschrift „Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz“ nimmt Bezug auf die wesentlichen Schwerpunkte im wissenschaftlichen Schaffen des Jubilars, so wie sie sich auch zeitlich entwickelten. Nach dem Abitur, im März 1960 an der Ziehen-Schule in Frankfurt a. M., und der Ableistung des Grundwehrdienstes nahm Wilfried Fiedler Ende 1960 sein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen auf; er setzte es an der Universität Hamburg fort und beendete es 1965 an der Universität Freiburg i. Br. An die Erste Juristische Staatsprüfung (im Juni 1965) schloss sich ein Studium im Verwaltungs-, Verfassungs- und Völkerrecht an der Universität Grenoble (Frankreich) an, wo er eine Arbeit zum Thema „La continuité de la France pendant la Deuxième Guerre Mondiale“ fertigte. Verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Fragen zur Staatskontinuität sollten den Jubilar auch weiterhin begleiten. Nach seiner Zeit als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Öffentliches Recht der Universität Freiburg (1968 – 1970) war die Kontinuitätsfrage Gegenstand seiner Dissertation zum Thema „Staatskontinuität und Verfassungsrechtsprechung“ (1970). Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen (1970) wurde Wilfried Fiedler Assistent am Lehrstuhl seines verehrten Lehrers Konrad Hesse (von 1970 – 1976). Die Zeit im Seminar Konrad Hesses prägte den Jubilar. Sie weckte u.a. sein Interesse an Herrmann Heller und seinen Lehren (s. etwa „Das Bild Hermann Hellers in der deutschen Staatswissenschaft“, 1994). Ferner schuf die Zugehörigkeit zum Hesse-Seminar die bleibende Verbindung zu den anderen Hesse-Schülern. Etliche dieser Weggefährten haben an dieser Festschrift mitgewirkt. In Wilfried Fiedlers Assistentenzeit erschien seine Schrift „Sozialer Wandel, Verfassungswandel und Rechtsprechung“ (1972), die das fachübergreifende Interesse des Jubilars zeigt und Einblicke nicht nur in verfassungsrechtliche Fragen des Wandels des Grundgesetzes – einer im Übrigen nach wie vor aktuellen Frage –, sondern auch in die modernen Sozialwissenschaften gibt. Im Februar 1976 wurde Wilfried Fiedler durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg i. Br. mit der Schrift „Funktion und Bedeutung öffentlich-rechtlicher Zusagen im Verwaltungsrecht“ habilitiert und erhielt die venia legendi für das Fach „Öffentliches Recht“.
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Vorwort
Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Kiel (im Sommersemester 1976) folgte im Februar 1977 die Ernennung Wilfried Fiedlers zum Professor für Öffentliches Recht an der Universität Kiel, am Institut für Internationales Recht. 1979 wurde Wilfried Fiedler dessen Direktor und von 1981 – 1984 war er dessen Geschäftsführender Direktor. In die Kieler Zeit fallen wichtige seiner verfassungsrechtlichen, verfassungsgeschichtlichen und völkerrechtlichen Schriften, etwa „Das Kontinuitätsproblem im Völkerrecht“ (1978) und „Die erste deutsche Nationalversammlung 1848 – 1849“ (1980). 1984 folgte der Jubilar dem Ruf der Universität des Saarlandes auf den Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht. Als Leiter des Seminars Völkerrecht oblag dem Jubilar die Vertretung gerade des Faches Völkerrecht in Forschung und Lehre, während die Kollegen des Europa-Instituts sich auf das Europarecht und den Aufbaustudiengang „Europäische Integration“ konzentrierten. Der Jubilar begründete und pflegte seine internationalen Verbindungen als Mitglied der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, der American Society of International Law und der International Law Association. 1991 übernahm der Jubilar eine Gastprofessur an der Tohoku-Universität in Sendai (Japan) und seit 1996 mehrere Lehraufträge an der Universität Zürich. Zugleich sah sich Wilfried Fiedler immer der Universität des Saarlandes und der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verpflichtet, etwa als er 1992 – 1993 das Amt des Dekans der Fakultät übernahm und 1995 die Schriftenreihe „Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht“ ins Leben rief. Und so sind es gerade viele Saarbrücker Kollegen, die an dieser Festschrift mitgewirkt haben, um so ihre Anerkennung für den Jubilar zum Ausdruck zu bringen. Für die Saarbrücker Studierenden war Wilfried Fiedler stets geschätzter Lehrer, Ansprechpartner und Betreuer wissenschaftlicher Arbeiten, dabei immer mit einem offenen Ohr gerade auch für ausländische Studierende und mit einer Offenheit für die Themenwahl seiner Studenten. Der Dank an Wilfried Fiedler im Vorwort einer von ihm betreuten Dissertation eines Autors, der auch an der Festschrift mitgewirkt hat, dafür, dass der Jubilar ihn mit seinem „doch recht ungewöhnlichen“ Thema bei sich promovieren ließ, bezeugt dies eindrucksvoll. Auch die Mitherausgeberin hat diese Erfahrung machen dürfen. In Saarbrücken erweiterte sich das wissenschaftliche Schaffen des Jubilars um einen wesentlichen Schwerpunkt, den Kulturgüterschutz. Wilfried Fiedlers wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kulturgüterschutz ist eng verbunden mit dem Thema des Zweiten Weltkrieges, mit den Kriegsfolgen und mit dem Schicksal von Kulturgütern, die als Kriegsbeute oder durch die Kriegswirren aus ihrem ursprünglichen Umfeld verlagert wurden; und nicht zuletzt geht es um die Frage der Rückführung, die sich lange Zeit nach Kriegsende noch immer oder erstmalig stellte. Es ist nicht fernliegend, das wissenschaftliche Interesse des Jubilars am Kulturgüterschutz auch mit biographischen Verbindungen zu erklären. Denn Wilfried Fiedler, in Hohenstadt in Mähren (Reg.-Bezirk Troppau) am 22. 12. 1940 ge-
Vorwort
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boren, erlebte als Kind den Krieg. Die Familie flüchtete vor der Roten Armee und wurde nach der Rückkehr nach Hohenstadt schließlich vertrieben; Wilfried Fiedler und seine Familie gelangten nach Westen und fanden in Hessen Aufnahme und seit 1951 in Frankfurt a.M. eine neue „Heimat“. Nur exemplarisch sind hier aus der Vielzahl der wichtigen Werke Wilfried Fiedlers zum Kulturgüterschutz und neben seiner Eigenschaft als Herausgeber der Schriften zum Kulturgüterschutz (seit 2000) zu nennen „Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage: Völkerrechtliche Probleme der Auslagerung, Zerstreuung und Rückführung deutscher Kulturgüter nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Hrsg., 1991), „Kulturgüter als Kriegsbeute“ (1995), „Deportation, Vertreibung, ,Ethnische Säuberung‘“ (1999) und die „Bibliographie zum Recht des Internationalen Kulturgüterschutzes“ (zus. mit S. Turner, 2003). Auch Praxis und Politik suchten die Expertise von Wilfried Fiedler zum Kulturgüterschutz nach, gerade im Hinblick auf die zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und Russland heikle Thematik; so war der Jubilar von 1993 bis 2000 Vorsitzender der Fachgruppe „Recht“ der gemeinsamen deutsch-russischen Kommission zur beiderseitigen Rückführung von Kulturgütern. Seine hier, in diesen schwierigen Verhandlungen zwischen beiden Staaten, erworbenen Erfahrungen flossen in seine Publikationen ein, etwa in die Abhandlungen „Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland über die Rückführung der während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter“ (Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 2008, Bd. 56, S. 217 ff.) und „Historische und rechtshistorische Argumente in den Verhandlungen über die Restitution von Kulturgütern zwischen Deutschland und Rußland“ (in: Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 229 ff.). Der Verlust der mährischen Heimat und die Kriegsfolgen lösten bei Wilfried Fiedler wohl auch insgesamt das wissenschaftliche Interesse an den Folgen des Zweiten Weltkrieges, an der Rechtslage Deutschlands und am Menschenrechtsschutz aus – Themen, zu denen er zahlreiche Veröffentlichungen verfasste. Es sind Fragen, mit denen sich insbesondere die mit der Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen verbundene Studiengruppe für Politik und Völkerrecht beschäftigt, deren Mitglied der Jubilar schon lange ist und aus deren Kreis viele Autoren diese Festschrift mit ihren Beiträgen unterstützt haben. Auch der dann friedlichen Revolution von 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands hat der Jubilar sich immer wieder wissenschaftlich gewidmet. Ende 1999 musste der Jubilar einen schweren gesundheitlichen Rückschlag verkraften. Mit Zähigkeit und Geduld und Dank der großen Unterstützung durch seine Ehefrau Brigitte und die seiner drei Kinder eroberte sich Wilfried Fiedler über viele Jahre Stück für Stück die verlorenen Kräfte zurück. Dennoch zwangen ihn im Jahre 2002 die gesundheitlichen Einbußen zur Aufgabe seines Lehrstuhls. Der Jubilar blieb Leiter der „Forschungsstelle Internationaler Kulturgüterschutz“ und konzentrierte sich auf wissenschaftliche Publikationen und die Begutachtung von Dissertationen und Habilitationsschriften des wissenschaftlichen Saarbrücker Nachwuchses.
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Vorwort
Eine Festschrift braucht viele Unterstützer. Uns Herausgebern fiel von Beginn an die so positive Reaktion der Autoren und Autorinnen auf dieses Projekt auf. Auf die Bitten, einen Beitrag für die Festschrift zu schreiben, reagierten viele mit großer Freude und der Einschätzung: Wilfried Fiedler hat eine Festschrift wirklich verdient. So bleibt uns an dieser Stelle nur der sehr herzliche Dank an alle Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung. Unser Dank gilt auch dem Verlag Duncker & Humblot für seine kompetente Betreuung und Umsetzung des Werks. Ferner danken wir der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, deren langjähriges Mitglied der Jubilar ist und in deren, im Auftrag der Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen herausgegebenen, Schriftenreihe die Festschrift erscheint. Nicht zuletzt danken wir der Montan-Stiftung-Saar für ihre großzügige finanzielle Unterstützung, die das Erscheinen der Festschrift wesentlich erleichtert hat. Die Herausgeber und Autoren dieser Festschrift haben sich mit ihren Beiträgen – 52 an der Zahl – am bisherigen Lebenswerk von Wilfried Fiedler orientiert. Wir, die Herausgeber und die Autoren, wünschen dem Jubilar im Namen aller Mitwirkenden viel Freude und Anregung bei der Lektüre seiner Festschrift – und noch viele Jahre erfolgreichen Schaffens. Karlsruhe und Saarbrücken, im Februar 2011
Michaela Wittinger Rudolf Wendt Georg Ress
Inhaltsverzeichnis Verfassungs- und Verwaltungsrecht Jan Bergmann Rechtsprechung als Spiegel der Gesellschaft – Zur Spruchpraxis des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Degenhart Volksbegehren und überholendes Parlamentsgesetz. Anmerkungen zu einem Thüringer Verfassungskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Fastenrath Menschenrechtliche Verträge im deutschen Recht – zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Vereinbarkeit von Studiengebühren mit dem Recht auf Bildung (Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) Sozialpakt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jochen A. Frowein Staatsbesuch in einem untergehenden Land – Mitterand in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helmut Goerlich Der autonome Rechtsraum des Einzelnen, Wesensgehalte der Grundrechte und die Befugnisse des Gemeinwesens – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Grupp Der Kampf gegen die „Mautflüchtlinge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annette Guckelberger „Recht auf Heimat“ und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Peter Häberle Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen (Zweite Folge) . . . . . . . . . . . . 147 Josef Isensee Die geistigen Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Bernhard Kempen Politiker entscheiden. Anmerkungen zum Verhältnis von Politik und Recht . . . . . . . . . . 177 Klaus A. Klang Kommunen und Selbstverwaltung im Wandel – zugleich ein Beitrag zu den Kommunalreformen in den ostdeutschen Bundesländern am Beispiel Sachsen-Anhalts . . . 189 Heinz Müller-Dietz Zwischen Fiktion und Realität – Zur literarischen Verarbeitung persönlicher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
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Inhaltsverzeichnis
Dietrich Murswiek Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Wolfgang Rüfner Erziehungsauftrag des Staates und religiöse Erziehung, insbesondere außerhalb der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Ulrich Stelkens Art. 79 Abs. 3 GG und die Neugliederung des Bundesgebietes (unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeit einer Auflösung des Saarlandes) . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Kulturgüterschutz Michael Anton Neuer Schutz archäologischer Kulturgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Jürgen Bröhmer / Jennifer Greaney Der Schutz der Kulturgüter der australischen Ureinwohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Frank Fechner Kulturgüterschutz und Denkmalschutz – Unterschiede und Gemeinsamkeiten – ein Rechtsgebietsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Gilbert Gornig Schutz der Kulturgüter vor Umwelteinflüssen und natürlichen Gefahren im nationalen und internationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Michael Martinek Die Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste als Soft Law-Problem . . . . . . 415 Kurt Siehr Die UN-Konvention über den Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser und das Internationale Sachenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Völkerrecht und Europarecht Christian Calliess Zu den Grenzen der Überformung mitgliedstaatlichen Eigentums durch den Unionsgesetzgeber – Überlegungen im Lichte von Art. 345 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Jean Charpentier Le retour de la France dans l’OTAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Udo Fink Das nordkoreanische Atomprogramm – eine Bedrohung des Weltfriedens? . . . . . . . . . . 485 Thomas Fitschen „Strengthening the rule of law at the national and international levels“ – Konzeptionelle Erwägungen zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in den internationalen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Christian Hillgruber Das Wechselspiel von Macht und Recht in den internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Inhaltsverzeichnis
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Eckart Klein Stimmen Zweck und Mittel im internationalen Menschenrechtsschutz überein? Überlegungen anhand des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . 541 Markus Kotzur Europas Einheit in kultureller Vielfalt – Identitätsdiskurse nach dem Reformvertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Siegrid Krülle Verantwortung in Europa. Die Deutschen in Rumänien im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . 575 Wolfgang Müller Von der Universitätsgründung bis zur Errichtung eines Seminars für Völkerrecht – Charles Chaumont, Hans Wiebringhaus, Friedrich August Freiherr von der Heydte, Karl Zemanek, Ignaz Seidl-Hohenveldern und Wilhelm Karl Geck als Repräsentanten des Fachgebiets Völkerrecht an der Universität des Saarlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Theo Öhlinger Die Mitwirkung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge in Österreich 629 Georg Ress Grundrechtsdogmatische Probleme in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Friedrich Schoch Das Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten . . 657 Meinhard Schröder Das Karlsruher Konzept der europäischen Integration. Bemerkungen zum LissabonUrteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 6. 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 Torsten Stein Wann ist es Krieg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Rudolf Streinz Wie hast du’s mit der Religion? Anmerkungen zum Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Oliver Suhr Die Leftovers des Lissabon-Vertrages: Anforderungen an die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Michaela Wittinger Verfassungen, internationale Verträge und das Recht der Europäischen Union im Wandel. Verfassungsrechtliche, völkerrechtliche und europarechtliche Betrachtungen zum Wandel mittels Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Steuerrecht und Wirtschaftsordnung Michael Elicker Internationale Steuerharmonisierung – Segen oder Fluch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Christoph Gröpl Familienstiftungen in Liechtenstein als „Steuersparmodelle“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
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Inhaltsverzeichnis
Heike Jochum Verbindliche Auskunft in Steuersachen – Bestandskraft und Korrektur . . . . . . . . . . . . . . 793 Dieter Schmidtchen Das Moraldilemma der Marktwirtschaft. Ursachen und Wege zur Überwindung . . . . . 807 Rudolf Wendt Zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 Zivil- und Strafrecht Tiziana J. Chiusi Privatautonomie oder Schutz des Schwächeren? Zu den Grenzen der Bürgenhaftung
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Thomas Gergen GEMA, VG WORT, VG BILD-KUNST: Anfänge, Entwicklungen, Herausforderungen 859 Detlev Joost Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 Heike Jung Die ganze Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 Annemarie Matusche-Beckmann / Roland Michael Beckmann Einbeziehung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen in den Versicherungsvertrag nach der VVG-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915 Filippo Ranieri Eine Begegnung mit dem Common Law an der Universität Göttingen Mitte des 18. Jahrhunderts. Zur „Commentatio iuris exotici historica de iure communi Angliae. Of the Common Law of England“ von Christian Hartmann Samuel Gatzert . . . . . . . . . . 931 Helmut Rüßmann Der Grundschiedsspruch und das Aufhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955 Elmar Wadle Der badische Entwurf eines „Gesetzes über den Schutz des Eigenthums an Werken der Literatur und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung“ von 1840 / 41 – Ein zweiter Ansatz zur Reform des Urheberrechts im Großherzogtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969 Maximilian Herberger / Stephan Weth Die Sorge um den rechten Text des Gesetzes. Das Beispiel von § 120 Abs. 2 GWB . . . . 991 Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
Verfassungs- und Verwaltungsrecht
Rechtsprechung als Spiegel der Gesellschaft – Zur Spruchpraxis des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Von Jan Bergmann*
Im Zentrum des Rechts steht der Mensch. Im Zentrum des Verwaltungsrechts steht der Mensch meist in seiner Ausprägung als Bürger, d. h. als Teil seiner Gesellschaft. Rechtsprechung, insbesondere Verwaltungsrechtsprechung, spiegelt deshalb immer auch gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen wider. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg macht hiervon keine Ausnahme. Zwar ist der Richter, anders als die erste und zweite Gewalt, die zur Rechtsetzung bzw. Ausgestaltung berufen sind, strikt und ohne normative Gestaltungsbefugnis an die Gesetze gebunden. Wann immer Gesetze jedoch „offen“ formuliert sind, besteht Raum für eigene Überzeugungen. Insbesondere bei rechtlichen Fragestellungen mit gesellschaftspolitischem Bezug unterliegen unsere Ergebnisse daher einer gewissen Relativität. Mithin lässt sich nicht ausschließen, dass bestimmte Rechtsfragen regional und vor allem temporär unterschiedlich beantwortet werden. Es stimmt wohl keinesfalls immer, dass sich „Gesetz’ und Rechte wie eine ewge Krankheit fortschleppen“. Jede rechtliche Bewertung ist vielmehr Produkt ihrer Zeit und damit ein fundamental geschichtliches Phänomen. I. Weltanschauung und Menschenbild Verwaltungsrecht entzieht sich naturwissenschaftlichen Kategorien von „richtig“ oder „falsch“. Es organisiert die Bürgergesellschaft und steht so mitten im Leben, das bekanntlich ebenfalls weder nur schwarz oder nur weiß ist. Verwaltungsrecht ist bunt, ebenso bunt wie die Gesellschaft. Gerade deshalb macht seine Juristerei übrigens Freude. Verwaltungsrecht steht im gesellschaftlichen Diskurs und unterwirft sich den Kategorien von „überzeugend“ und „weniger überzeugend“. Damit ist es notwendig offen für Wertungen und Werte. Besonders deutlich wird dies * Prof. Dr. Jan Bergmann, Stuttgart / Mannheim. Der Autor hat bei Prof. Dr. Wilfried Fiedler über „Das Menschenbild der EMRK“ promoviert (Saarbrücker Studien zum Internationalen Recht, Band 1, Baden-Baden, 1995). Er ist heute Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg sowie Honorarprofessor an der Universität Stuttgart.
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Jan Bergmann
etwa, wenn mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gearbeitet wird, wenn wir einen „atypischen Fall“ behaupten oder eine Analogie bilden, wenn wir unbestimmte Rechtsbegriffe auslegen und beurteilen, was „sittenwidrig“, „angemessen“ oder „zumutbar“ ist, kurz, wenn wir individuelle gegen kollektive oder andere individuelle Interessen abwägen, das täglich Brot des Verwaltungsrichters. Ein am Verwaltungsgerichtshof tätiger Richter ist keine Rechtsanwendungsmaschine. Er ist ebenfalls Mensch mit spezifischer Weltanschauung. Da unsere Richterschaft derzeit ganz überwiegend männlich ist (ca. 85 %), um die 53 Jahre alt, oft aus dem „jüdisch-christlich-abendländischen Bildungsbürgertum“ stammt und kaum Migrationshintergrund aufweist, ist sie selbst kein Spiegelbild der wesentlich heterogeneren südwestdeutschen Gesellschaft. Dennoch behaupten wir, offen zu sein für alle demokratischen Denk- und Argumentationsmuster. Diese wiederum beinhalten, mal mehr, mal weniger bewusst, umgreifende Leitbilder, wie insbesondere Gottes-, Welt-, Staats- und Gesellschaftsbilder. Denn in personale Leitbilder lassen sich die Einzelheiten der Erfahrungswelt einordnen; aus ihnen heraus kristallisiert sich ein bestimmtes Menschenbild. Folge von Weltanschauung und Menschenbild sind als verbindlich empfundene Direktiven, die, wie es die Anthropologen neudeutsch nennen, bei jedem Menschen zu „Patterns of behaviour“ verschmelzen. Während die Direktiven im tierischen Bereich meist ein für allemal festgelegt und mit dem Verhalten gekoppelt sind, werden sie im Menschen „labilisiert“. Der geistige Mensch, und damit auch der Verwaltungsrichter, hat sie bewusst zu ergreifen und selbst festzulegen. So müssen auch wir uns bei unserer Arbeit immer des eigenen Vorverständnisses, persönlicher Leitbilder, Wertungen und Werte bewusst sein und diese hinterfragen. Nur so kann es gelingen, im Streben nach überzeugenden Lösungen über den Rechtsstaat hinaus auch Gerechtigkeit zu leisten. Der nach Art. 97 GG im Humus des Grundgesetzes verwurzelte und sich gemäß Art. 23 GG im frischen Wind der Europäischen Integration entfaltende Verwaltungsrichter objektiviert seine persönlichen Direktiven natürlich primär vor dem Hintergrund des Menschenbilds des Grundgesetzes und der europäischen Menschenrechte. Es macht deshalb Sinn, nach diesem Menschenbild zu fragen und die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sodann anhand einzelner Menschenbildelemente zu skizzieren. Das Bundesverfassungsgericht spricht schon im Jahr 1954 in seiner Investitionshilfe-Entscheidung1, und seither in ständiger Rechtsprechung, vom Menschen als „geistig-sittlicher Person“, d. h. als in Leib – Seele – Geist gegliedertes Ganzes, dessen Handlungsfreiheit von vornherein nur besteht, soweit nicht Rechte anderer verletzt werden und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird. Das Menschenbild des Grundgesetzes sei nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz habe vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschie1
BVerfGE 4, 7 .
Rechtsprechung als Spiegel der Gesellschaft
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den, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union spricht in ihrer Präambel (Absatz 2) von den Werten der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität, die wiederum ausdrücklich die gesellschaftsgebundene Person in ihrem Mittelpunkt sehen. Einen vergleichbar personalistischen Ansatz vertritt schließlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte2, der den Menschen ebenfalls als würdiges, leibliches, beseeltes, geistiges und zudem unvollkommenes Wesen sieht. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, die – woran hier angeknüpft werden soll – vor einiger Zeit in der Ausstellung „Spiegel der Gesellschaft – Die Verwaltungsgerichtsbarkeit Baden-Württembergs nach 1945“ gezeigt wurde, sei deshalb anhand dieser Menschenbildelemente betrachtet.
II. Der Mensch als würdiges Wesen Unter dem Gesichtspunkt des Menschen als würdiges Wesen kann auf die Stellung der Menschenwürde als dem „seinsgegebenen, obersten Wert“ eingegangen werden, der aus personalistischer Sicht die Teilelemente von Freiheit und Gleichheit mit umfasst3. 1. Menschenwürde Noch vor Gründung des heutigen Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg hatte der damalige Württemberg-Badische Verwaltungsgerichtshof am 15. 09. 1949 zur Menschenwürde zu judizieren4: Ein Schausteller hielt in Karlsruhe Frauenringkämpfe ab. Nach heftigen Protesten u. a. der katholischen Gesamtkirchengemeinde, des evangelischen Oberkirchenrats sowie von Frauen- und Männerorganisationen erließ die Stadt Karlsruhe eine polizeirechtliche Verbotsverfügung. Diese wurde darauf gestützt, dass sich die Ringkämpfe „zweifellos als eine auf primitivste Instinkte abgestellte Geschäftsmacherei übelster Art“ darstellen würden, die geeignet seien, „das Ansehen und die Würde, die jede anständige Frau für sich in Anspruch nehmen kann“, in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Hierdurch werde „das Empfinden weitester Bevölkerungskreise, insbesondere der Frauenwelt, verletzt“. Das erstinstanzliche Verwaltungsgericht Karlsruhe hob die Verbotsverfügung auf. Der (mit fünf männlichen Richtern besetzte) Verwaltungsgerichtshof bestätigte dies in offener Abgrenzung zur „nationalsozialistisch propagandistisch“ geprägten, ein entsprechendes Verbot begrüßenden Damenboxkampfentscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts von 1933, und ausdrücklich ohne Rück-
2 3 4
Vgl. EuGRZ 1979, 163. Vgl. BVerfGE 6, 32 . NJW 1949, 919.
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sicht auf „,das gesunde Volksempfinden‘, das sich häufig als nichts weniger als gesund erwiesen hat“, mit folgenden Kernsätzen: „Ganz sicher sind Damenringkämpfe in hohem Maße geschmacklos, und zwar deshalb, weil sich der weibliche Körper zu echten sportlichen Ringkämpfen nicht eignet, da ein im ernsten Ringkampf vorkommendes Zusammenpressen Brust an Brust für Frauen unpassend ist. Es ist aber nicht Aufgabe der Polizei, gegen bloße Geschmacklosigkeiten einzuschreiten. Sie könnte es bei Damenringkämpfen erst dann tun, wenn hierbei die Sittlichkeit verletzt würde. Durch die Augenscheinnahme des Verwaltungsgerichts steht aber fest, dass dies nicht zu befürchten war. Die Kleidung war anständig, und auch die Bewegungen verstießen nicht gegen Sittlichkeit und Anstand. Allerdings berührte das Ganze, wie nicht zu bestreiten ist, die Würde der Frau insofern, als die Vorführung mehr den Charakter eines handfesten Scherzes hatte und geeignet war, die Heiterkeit des Publikums zu erregen. Doch ist unsere Zeit verhältnismäßig unempfindlich gegen solche Erwägungen über ,Anmut und Würde‘. Es zeigt sich in der ganzen Geschichte, dass nach schweren Kriegszeiten bei weiten Bevölkerungskreisen ein Drang zu den derben kleinen Freuden des Lebens besteht. Die niederländischen Bilder des 17. Jahrhunderts mit ihren ausgelassenen Wirtshausszenen sind eine Folge der schweren Kriegsnot, die Holland endlich überwunden hatte. So ist es auch heute in Deutschland. Es ist nicht Sache der Polizei, hier einzuschreiten, sofern nur die Grenzen der Sittlichkeit und des Anstandes gewahrt sind, insbesondere dann nicht, wenn solche Lustbarkeiten nicht in voller Öffentlichkeit, sondern in geschlossenen, nur gegen Eintrittsgeld zugänglichen Räumen dargeboten werden.“
Welch ein Sittengemälde der südwestdeutschen Nachkriegsgesellschaft! Aber, so altmodisch uns heutig die Wort- und Argumentationswahl erscheinen mag, so modern war doch sowohl deren wertphilosophische Basis als auch das zugrundeliegende liberale Gesellschafts- und Staatsbild. Der Menschenwürdeartikel 1 des soeben in Kraft getretenen Grundgesetzes wird vom Verwaltungsgerichtshof zwar nicht erwähnt. Sein Menschenwürdeverständnis entspricht aber auch heutiger Auslegung, primär in dem von Kant in der Metaphysik der Sitten5 vollendeten Sinne, dass „der Mensch von keinem Menschen bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden muss, denn darin besteht eben seine Würde, die Persönlichkeit“. Der vor allem von Luhmann in den 60er Jahren fortentwickelte sozialwissenschaftliche Ansatz des Verständnisses von Würde als Leistung, als „Wunschbegriff gelungener Selbstdarstellung“, scheint dagegen nicht einmal auf. Das kantische Menschenwürdeverständnis und gesellschaftsbezogene Sittengrenzen werden vom Verwaltungsgerichtshof rund 40 Jahre später in aller Deutlichkeit unter Zitierung von zwischenzeitlich „gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Bundesverwaltungsgerichts“ in seinem Urteil vom 11. 11. 1987 ausformuliert, in dem eine in Heilbronn erteilte Peep-Show-Genehmigung als gegen die Menschenwürde verstoßend, sittenwidrig und deshalb als nichtig bewertet wurde6: 5 6
1797, § 38. NVwZ 1988, 640.
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„Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes schützt den personalen Eigenwert des Menschen. Die Menschenwürde ist verletzt, wenn die einzelne Person zum Objekt herabgewürdigt wird. Das bloße Zurschaustellen des nackten weiblichen Körpers verletzt nicht die Menschenwürde, deshalb sind gegen die üblichen Striptease-Darbietungen insoweit keine grundsätzlichen Einwände zu erheben. Der in der Peep-Show auftretenden Frau wird dagegen eine entwürdigende objekthafte Rolle zugewiesen, wobei mehrere Umstände der Veranstaltung zusammenwirken: Die durch die Art der Bezahlung vermittelte Atmosphäre eines mechanisierten und automatisierten Geschäftsvorganges, bei dem der Anblick der nackten Frau wie die Ware eines Automaten durch Münzeinwurf verkauft und gekauft wird; die durch den Fensterklappenmechanismus und den einseitigen Sichtkontakt hervorgehobene verdinglichende Isolierung der als Lustobjekt zur Schau gestellten Frau vor im Verborgenen bleibenden Voyeuren; der durch diesen Geschehensablauf besonders krass hervortretende Eindruck einer entpersonifizierenden Vermarktung der Frau; die Isolation auch des allein in der Kabine befindlichen Zuschauers und das damit verbundene Fehlen einer sozialen Kontrolle; die durch das System der Einzelkabine bewusst geschaffene Möglichkeit der Selbstbefriedigung und deren kommerzielle Ausnutzung. Diese Umstände bewirken in ihrer Gesamtheit, dass die zur Schau gestellte Frau durch den Veranstalter wie eine der sexuellen Stimulierung dienende Sache zur entgeltlichen Betrachtung dargeboten und jedem der in den Einzelkabinen befindlichen, der Frau nicht sichtbaren Zuschauer als bloßes Anregungsobjekt zur Befriedigung sexueller Interessen angeboten wird.“
Aufgrund vielfältiger Kritik an dieser Rechtsprechungslinie stellt der Verwaltungsgerichtshof sein Urteil noch auf ein zweites Bein. Selbst wenn aufgrund der Freiwilligkeit der handelnden, allesamt erwachsenen Personen eine Verletzung der Menschenwürde zu verneinen wäre, sei dennoch ein Verstoß gegen die guten Sitten zu bejahen. Denn der Peep-Show-Betrieb stehe „mit der ungeschriebenen – durch Verfassung oder Gesetz nicht rezipierten – Sittenordnung“ nicht in Einklang, wovon der Senat im Übrigen auch aufgrund des vorgenommenen Augenscheins überzeugt sei: „Zwar mag es häufig sehr schwierig sein, im einzelnen festzustellen, ob gewerbliche Veranstaltungen das ,Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden‘ verletzen. Im vorliegenden Fall ergeben sich solche Schwierigkeiten deshalb nicht, weil die Ausgestaltung des Peep-Show-Betriebes weniger in den Bereich von Striptease-Darbietungen gehört, sondern deutlich eher in der Nähe der Prostitution einzuordnen ist, deren Unvereinbarkeit mit dem in der Rechtsgemeinschaft vorherrschenden Anstandsgefühl auch heute noch außer Frage steht . . . und die als unausrottbar erkannter Mißstand lediglich eingeschränkt toleriert wird.“
Das aufscheinende Leitbild des sittenstarken Staates wurde vom Verwaltungsgerichtshof dann allerdings gerade für den Bereich des sogenannten ältesten Gewerbes der Welt schon kurze Zeit später unter Berufung auf vorrangig anwendbares Europarecht aufgegeben. In dem mit Urteil vom 19. 04. 2000 entschiedenen Fall ging es um die Ausweisung einer in Ghana geborenen holländischen Staatsangehörigen, die mit ihren minderjährigen Kindern in Amsterdam lebte und immer wieder kurzzeitig in südwestdeutschen Bordellen arbeitete7. Der Verwaltungs7
NVwZ 2000, 1070.
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gerichtshof verwarf hier erstmals die bis dahin auch vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Auffassung, es sei „ein vernünftiger Zweifel hieran nicht möglich“, dass Prostitution „als sitten- und sozialwidrige Tätigkeit“ nicht Teil des Wirtschaftslebens im Sinne des EG-Vertrags sei. Der Senat hielt im Gegenteil die Beschränkung der Freizügigkeit durch die verfügte Ausweisung als mit dem EGVertrag unvereinbar und daher für rechtswidrig: „Die Klägerin hat mit der von ihr gewählten Art und Weise der Ausübung der Prostitution ersichtlich eine selbständige wirtschaftliche Erwerbstätigkeit erbracht, da sie auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Als Erwerbstätigkeit in dem hier maßgeblichen – gemeinschaftsrechtlichen – Sinne ist jede Art wirtschaftlicher, d. h. entgeltlicher, dem Erwerb dienender Tätigkeit anzusehen, die im Gegensatz zu reinen Gefälligkeiten, unentgeltlichen karitativen, politischen, religiösen oder kulturellen Tätigkeiten steht. Diese Voraussetzung kann auch eine Tätigkeit als Prostituierte im sog. sexuellen Dienstleistungsbereich erfüllen, in dem zum Beispiel im Jahr 1988 in der Bundesrepublik Deutschland schätzungsweise 200 000 bis 400 000 Frauen arbeiteten. Zwar fallen verbotene – insbesondere strafbare – Tätigkeiten nicht unter den gemeinschaftsrechtlichen Begriff der Erwerbstätigkeit. Zu diesen Tätigkeiten gehört die Prostitution jedoch nicht. ( . . . ) Für die Beurteilung nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht ist es nicht erheblich, dass Prostitution als sittenwidrige bzw. mit der Menschenwürde nicht zu vereinbarende und sozialwidrige Tätigkeit angesehen wird, vielmehr kommt es allein auf den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Betätigung an. Dabei können soziale, sittliche oder moralische Wertungen nicht maßgeblich sein. Entsprechende Gesichtspunkte können (nur) . . . auf nationaler Ebene Anlass zu Beschränkungen sein ( . . . ).“
Diese Ausführungen sind auch dogmatisch bemerkenswert, weil sie beim Schutzbereich den Vorrang der wirtschaftlichen EG-Grundfreiheiten selbst vor dem höchsten deutschen Verfassungswert, der durch Art. 1 GG geschützten unantastbaren Menschenwürde andeuten, und im Übrigen damit wohl auch vor dem europarechtlichen Menschenwürdeschutz. Das Herauslesen einer allgemeinen gesellschaftlichen Vorrangstellung des homo oeconomicus vor dem Menschen als würdiges Wesen wäre allerdings wohl eine Überinterpretation, wenn in der Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs auch ein Hinweis auf die gesellschaftsprägende Macht der sogenannten Globalisierung gesehen werden könnte. Das Urteil weist jedenfalls darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof bezüglich klassischer Prostitution das Verdikt der Sittenwidrigkeit aufzugeben gedenkt. Deutlicher hat dies das Bundesverwaltungsgericht im darauf erfolgenden EuGH-Vorlagebeschluss8 ausgeführt, in dem es feststellte, dass an der früheren Rechtsprechung nicht mehr festgehalten werde, auch weil „seit einiger Zeit Anzeichen für einen Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen zur Prostitution“ bestünden. Mit Urteil vom 20. 11. 2001 bestätigte schließlich der Europäische Gerichtshof – übrigens ohne den Wert der Menschenwürde auch nur zu erwähnen – in einem anderen Fall, dass die selbständig ausgeübte Prostitution eine gemeinschaftsrechtlich geschützte Dienstleistung ist, soweit sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in 8
NVwZ 2002, 339.
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Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt und wenn sie in eigener Verantwortung sowie gegen ein vollständig und unmittelbar ausbezahltes Entgelt ausgeübt wird9. Mit Urteil vom 12. 06. 2003 hat der EuGH zwischenzeitlich allerdings geurteilt, dass die Grund- und Menschenrechte im Zweifelsfall den wirtschaftlichen Grundfreiheiten vorgehen können10, was nunmehr nach Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta durch den Vertrag von Lissabon noch deutlicher gesagt werden dürfte. Im Bereich der Menschenwürde wird jedenfalls offenkundig, was es bedeutet, im Humus des Grundgesetzes verwurzelt zu sein, aber im frischen Wind des Europarechts zu gedeihen. 2. Freiheit Die enge Verzahnung der Menschenwürde mit dem Wert der Freiheit, verstanden im abendländischen Sinne der Autonomie und damit vor allem als Selbst-Gesetzgebung, Selbst-Herstellung und Selbst-Entscheidung, wurde besonders deutlich beim Thema Volkszählung, die in den 80er Jahren zu einer Prozesslawine am Verwaltungsgerichtshof führte. Heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Stationierung von Mittelstreckenraketen, die Atompolitik sowie Großprojekte wie die „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens oder der Rhein-MainDonau-Kanal trugen sicher mit dazu bei, dass sich 1983 innerhalb weniger Wochen nach Bekanntgabe der Fragebögen bereits Hunderte von Bürgerinitiativen gebildet hatten, die aus Angst vor dem „gläsernen Bürger“ und einem Orwell’schen Überwachungsstaat zum Boykott aufriefen. Im Volkszählungsgesetzurteil entschied das Bundesverfassungsgericht11, heute wohl aktueller denn je, weitsichtig zu den Risiken und Gefahren der modernen Informationsgesellschaft und entwickelte als Reaktion hierauf das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stünden Wert und Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirke. Hieraus folge – insbesondere vor dem Hintergrund menschlicher Verhaltensänderungen bei Überwachung sowie der Möglichkeiten automatischer Datenverarbeitung – die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Volkszählungsgesetzes 1987 schloss sich der Verwaltungsgerichtshof12 in seinem Beschluss vom 27. 08. 1987 inhaltlich der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts an, dass überwachte Freiheit einen rechtlich anderen Charakter hat als nicht überwachte Freiheit. Das neue Volkszählungsgesetz 1987 habe nun jedoch ausreichende organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zur Sicherung des Rechts auf informationelle SelbstRs. C-268 / 99. Rs. C-112 / 00. 11 BVerfGE 65, 1. 12 NJW 1987, 2833. 9
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bestimmung getroffen. In der Abwägung sei damit die beabsichtigte Totalerhebung nicht zu beanstanden, weil ihr gesellschaftspolitisch legitimer Zweck, verlässliche Daten über die Gesamtbevölkerung zu liefern, nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht durch andere, mildere Maßnahmen erreicht werden könne. Die Volkszählung wurde daraufhin, wiederum begleitet von massiven Boykottaktionen, durchgeführt. Solche Boykottaktionen dürften bei der nächsten, für 2011 geplanten EU-weiten Zensusrunde kaum mehr zu erwarten sein. Zum einen scheinen die Bürger in Sachen Datenschutz deutlich unsensibler geworden zu sein. Jedenfalls lassen sie sich zwischenzeitlich in großem Umfang überall auch mit sensibelsten Daten ohne Protest registrieren; Jugendliche „outen“ sich heutzutage sogar gerne gleich im World-Wide-Web. Deutschland will sich 2011 zum anderen nur mit einem registergestützten Erhebungsverfahren beteiligen; die gesamte Bevölkerung soll dagegen nicht mehr befragt werden. Um einen anderen Aspekt der Freiheit des autonomen Individuums und ihrer Grenzen ging es in der Tauchverbotsentscheidung, in der der Verwaltungsgerichtshof13 am 11. 07. 1997 erstmals in dieser Klarheit zur „Abenteuer- und Spaßgesellschaft“ unserer Tage urteilte. Hier ging es der Sache nach zugleich um Base-Jumping, Skysurfing, Eisschwimmen, House-Running oder vergleichbar riskante Freizeitbetätigungen. Streitgegenstand war ein Tauchverbot im Bereich der sogenannten Felsformation „Teufelstisch“ im Überlinger Bodensee vor der Gemarkung Konstanz. Der „Teufelstisch“ ist eine nur wenige Meter dicke Säule, die beinahe bis zur Wasseroberfläche reicht und in eine Tiefe von etwa 85 Meter steil abfällt. Wegen der Möglichkeit des Steilwandtauchens war er ein gut besuchtes Tauchrevier. Nachdem hier zwischen 1977 und 1993 insgesamt acht Taucher ums Leben kamen und vier weitere schwer verletzt wurden, sperrte das Landratsamt 1994 im Wesentlichen den gesamten „Teufelstisch“ per Allgemeinverfügung, wobei im Einzelfall Ausnahmen genehmigungsfähig sind. Hiergegen wehrten sich zahlreiche Sporttaucher unter Berufung auf ein verfassungsrechtlich garantiertes „Recht auf Selbstgefährdung“. Der Senat anerkannte dieses Recht durchaus dem Grunde nach, stellte ihm jedoch die objektive Wertordnung des Grundgesetzes entgegen, die den Staat verpflichte, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Das Recht auf Selbstgefährdung könne damit jedenfalls nur bei Ausschluss jeglicher Fremdgefährdung durchgreifen. Daran fehle es hier: „Um eine ausschließliche Selbstgefährdung handelt es sich jedoch nicht. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass Tauchgänge in aller Regel (mindestens) zu zweit ausgeführt werden, da ein von Sporttauchern nahezu ausnahmslos beachteter Grundsatz lautet: ,Tauche nie allein‘. Den gemeinsam Tauchenden kommt dabei wechselseitig die Aufgabe zu, auf den anderen zu achten und ihm in einem Notfall Hilfe zu leisten. Ein zu riskanten Unternehmungen neigender, sich selbst überschätzender oder nicht in der erforderlichen Weise ausgerüsteter Taucher bedeutet daher immer auch eine Gefahr für seinen Partner. ( . . . ) Leben und Gesundheit anderer Personen werden ferner dadurch gefährdet,
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NJW 1998, 2235.
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dass ein Taucher, der in Not gerät, unbeteiligte Dritte zu gefährlichen Rettungsaktionen veranlassen kann“ (wie im Übrigen die Vergangenheit am „Teufelstisch“ gezeigt hat).
Das fehlende Recht auf Fremdgefährdung stand auch in den Kampfhundeentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs im Zentrum. Nachdem es in bestimmten Teilen der Bevölkerung Mode geworden war, sich einen Kampfhund zu halten, und nachdem solche Hunde Menschen schwer, teilweise sogar tödlich verletzt hatten, wurden in Baden-Württemberg verschiedene Polizeiverordnungen über das Halten und Führen gefährlicher Hunde erlassen, die den Verwaltungsgerichtshof immer wieder beschäftigten. Obwohl das Problem meist am anderen Ende der Leine zu suchen ist, regelt die Verordnung des Innenministeriums und des Ministeriums Ländlicher Raum von 2000, dass bei Hunden bestimmter Rassen die Eigenschaft als Kampfhund – allerdings aufgrund einer sogenannten Wesensprüfung widerlegbar – vermutet wird, wobei mit dieser Eigenschaft eine Erlaubnispflicht, insbesondere der Leinen- und Maulkorbzwang, ein Verbot von Zucht und Ausbildung sowie das Gebot der Unfruchtbarmachung verbunden sind. Mit Urteil vom 16. 10. 2001 verwarf der Verwaltungsgerichtshof14 die hiergegen gerichteten Normenkontrollanträge von 35 Hundehaltern. Der Staat handele insbesondere nicht willkürlich, wenn er davon ausgehe, dass übersteigertes Aggressionsverhalten von Hunden auch erblich bedingt sein könne: „Im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers umso größer, je höherwertiger die Rechtsgüter sind, deren Schutz die Regelung bezweckt, und je weniger empfindlich in grundrechtlich geschützte Freiheiten eingegriffen wird. Die Verordnung dient dem Zweck, Menschen (und auch Tiere) vor den von Hunden ausgehenden Gefahren für Leib und Leben zu schützen. Der Verordnungsgeber will damit der ihm auferlegten Pflicht genügen, sich schützend und fördernd vor diese höchsten Rechtsgüter zu stellen und sie vor Eingriffen anderer zu bewahren. Ihm kommt hierbei sowohl in der Beurteilung, ob eine besondere Gefahrenlage vorliegt, die ein Eingreifen erfordert oder zumindest rechtfertigt, als auch in der Wahl des hierfür geeigneten Mittels ein weiter Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum zu. Hierbei sind, da es sich bei der Hundehaltung um eine Massenerscheinung handelt, auch typisierende Regelungen zulässig. Allerdings stellt dies den Verordnungsgeber nicht von der Verpflichtung frei, sein Handeln an einem schlüssigen Konzept auszurichten, das den erkennbaren sachlichen Gegebenheiten des jeweiligen Regelungsbereichs Rechnung trägt. Gemessen an diesen Vorgaben verstößt es nicht gegen (den Gleichheitssatz aus) Art. 3 Abs. 1 GG, wenn der Verordnungsgeber bei Hunden der Rassen American Staffordshire Terrier, Bullterrier und Pit Bull-Terrier die widerlegliche Vermutung aufstellt, sie seien Kampfhunde mit der Folge, dass ihre Halter besondere Verpflichtungen treffen.“
3. Gleichheit Womit der Wert der Freiheit zum Wert der Gleichheit überleitet, der wiederum aufs engste mit der Menschenwürde verbunden ist. Denn eine Rechtsordnung kann 14
VBlBW 2002, 292.
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ihre jederzeitige Anerkennung nur dann fordern, wenn unter ihrer Geltung vom Betroffenen nicht verantwortbare tatsächliche Ungleichheiten keinen Grund zur normativen Ungleichheit darstellen. Schließlich wird jeder Mensch unter biologischen und sozialen Bedingungen Glied der Gesellschaft, über die er nicht verfügen kann. Solche Bedingungen dürfen in einer menschenwürdigen Ordnung für niemanden Anlass sein, ihretwegen Rechtsnachteile zu erleiden. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit, der mit den sozialwissenschaftlichen Konzepten einer „komplexen Gleichheit“ etwa von Rawls oder Walzer nur bedingt übereinstimmt, beansprucht damit prinzipiell und abstrakt, den Wert der Gerechtigkeit überhaupt zu verkörpern. Um einen besonderen Aspekt der Gerechtigkeit ging es im Ohrschmuckurteil vom 04. 03. 1986, in dem der Verwaltungsgerichtshof15 eine neue Männermode mit dem Ansehen der Beamtenschaft abwägen musste. Im Streit stand ein 6 mm großer Ohrstecker, den ein Zollbeamter auch im Dienst nicht abnehmen wollte, was ein generelles Ohrschmuckverbot der Oberfinanzdirektion für männliche Dienstkleidungsträger nach sich zog. Der Verwaltungsgerichtshof entschied staatstragend, dass dieses Verbot nicht zu beanstanden sei. Der Wertung des Klägers, dass damit ein Beamtenbild geschaffen werde, welches „grau“ und „unfreundlich“ sei, müsse nicht gefolgt werden. Zwar überlagere der Ohrschmuck den Gesamteindruck der Dienstkleidung nicht so sehr, dass der Kläger nicht mehr hinreichend als Zollbeamter erkennbar sei. Die Dienstkleidung habe jedoch vor allem auch eine Funktion der Repräsentation des Staates nach innen und außen. Diese werde durch männlichen Ohrschmuck berührt, wobei der Senat keineswegs gesellschaftsblind argumentierte: „Man beobachtet im Unterschied zu früher gelegentlich, dass Männer einen Ohrschmuck tragen. Die Vorstellung einer Identifizierung mit einer umstrittenen politischen, religiösen oder kulturellen Bewegung oder Auffassung wird damit – jedenfalls im Allgemeinen – nicht ausgelöst. Ein kleinerer Ohrschmuck an Männern ist nicht mehr schlechthin unüblich. Es handelt sich um eine gewisse Modeerscheinung, die in der Öffentlichkeit nicht auf Ablehnung stößt. Die Mehrheit der Männer oder auch nur eine beträchtliche Minderheit bedient sich freilich keines Ohrschmucks. Bei unvoreingenommener Beurteilung kann man nicht sagen, ein Ohrschmuck an Männern werde von vornherein als unschicklich, lächerlich oder gar würdelos angesehen, auch wenn er nicht besonders auffällt und nicht überzogen wirkt. Es sind keine Gesichtspunkte zu erkennen, die diese Einschätzung wesentlich ändern, wenn der Ohrschmuck zur Dienstkleidung des Zollbeamten getragen wird. Erblickt man in dem Zollbeamten auch den Mitbürger, so setzt es die Achtung und das Vertrauen der Öffentlichkeit in seiner Person und das Ansehen des Zolldienstes nicht herab, wenn er die fragliche Mode in angemessener Weise mitmacht und dies beim Tragen der Dienstkleidung in Erscheinung tritt. Indessen kann Ohrschmuck an männlichen Dienstkleidungsträgern des Zolldienstes im Einzelfall zur Ansehensminderung geeignet sein. Dies hängt von der Art, Größe und weiteren Ausgestaltung eines solchen Beiwerks ab, wobei insbesondere auch an Ohrringe, Hänger und dergleichen zu denken ist. Wie nach dem Urteil eines verständigen Betrachters die Grenzen zu ziehen sind, dürfte sich kaum 15
VBlBW 1987, 149.
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mit hinlänglicher Klarheit allgemein bestimmen lassen. . . . Das den männlichen Dienstkleidungsträgern des Zolldienstes (aus dem Gedanken der Repräsentation des Staates als Bindung aus dem Beamtenverhältnis) auferlegte Verbot, zu der anzulegenden Dienstkleidung einen Ohrschmuck zu tragen, bringt (jedoch) nur eine geringe Einschränkung der individuellen Freiheit zur eigenverantwortlichen Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes mit sich. Die körperliche Sphäre selbst ist nicht betroffen. Gesundheitliche Belange sind nicht ersichtlich und werden vom Kläger auch nicht mehr angeführt. Von einer Schmälerung des individuellen Selbstwertgefühls und Wohlbefindens, was der Kläger angedeutet hat, kann objektiv keine Rede sein. Die Einschränkung ist nicht unzumutbar. Die Beamten, die sich ständig eines solchen Beiwerks bedienen, haben es in der Hand, die Sache in der Weise einzurichten, dass sie den Ohrschmuck jeweils für die Zeit des Dienstes ablegen, wie der Kläger das dem Senat auch vorgeführt hat.“
Ob diese Rechtsprechung im Lichte aktueller Bundesjudikatur noch aufrechterhalten werden kann, ist diskussionswürdig. Hiernach können tradierte gesellschaftliche Rollenerwartungen nämlich offenbar keinerlei rechtliche Ungleichbehandlungen mehr legitimieren, wie die neuere Haarschmuckrechtsprechung illustriert. Im Beschluss vom 24. 05. 2000 hatte der Verwaltungsgerichtshof16 die naturgegebene Ungleichheit der Haarpracht von Mann und Frau im Spiegel des rechtlichen Gleichheitsgebot zu bewerten. In der Beihilfeverordnung war geregelt, dass männliche Personen, die an Haarausfall leiden, ab dem 30. Lebensjahr keine Beihilfe mehr für ärztlich verschriebene Perücken erhalten, wohingegen für Frauen eine solche Altersgrenze nicht galt. Damit wollte sich der seit seiner Kindheit an totalem Haarausfall leidende Kläger auch unter Berufung auf sein Selbstwertgefühl als Beamter nicht abfinden. Der Senat folgte ihm (in der Besetzung mit drei Männern) jedoch nicht: „Die hier vorgenommene Begrenzung der Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für eine Perücke bei männlichen Personen nach dem Alter bis zum 30. Lebensjahr dient dazu, die persönliche Entwicklung junger männlicher Personen, die gerade in diesem Zeitraum in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Prägung findet, von durch totalen oder sehr weitgehenden Haarausfall möglicherweise auftretenden psychischen Belastungen freizuhalten. Sie trägt ferner dem offenkundigen Umstand Rechnung, dass ein totaler oder sehr weitgehender Haarausfall älterer männlicher Personen häufig vorkommt und in der Gesellschaft als alltägliche Erscheinung akzeptiert ist. Ausgehend hiervon ist nicht ersichtlich, dass durch die Beendigung der Beihilfegewährung nach Überschreitung des 30. Lebensjahrs die Fürsorgepflicht des Dienstherrn in ihrem Wesenskern verletzt wäre. ( . . . ) Die . . . vorgesehene zeitliche Begrenzung der Beihilfegewährung bei totalem oder sehr weitgehenden Haarausfall männlicher Personen verstößt entgegen der Ansicht des Klägers weder gegen (die Gleichberechtigung von Männern und Frauen nach) Art. 3 Abs. 2 GG noch gegen (das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nach) Art. 141 Abs. 1 EG-Vertrag, da abgesehen von deren sonstigen Voraussetzungen für diese Ungleichbehandlung gegenüber weiblichen Personen sachliche Differenzierungsgründe bestehen. Der bei weiblichen Personen weitaus seltener als bei männlichen Personen vorkommende totale oder sehr weitgehende Haarausfall wird – abgesehen von gelegentlichen, 16
4 S 3145 / 98.
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Jan Bergmann hier vernachlässigbaren Modeerscheinungen – in der Gesellschaft auch bei Frauen, die älter als 30 Jahre alt sind, ungeachtet seiner Ursache als ein derartiger Makel angesehen, dass das Tragen einer Perücke für sie unerlässlich ist, um wenigstens von außen veranlasste psychische Belastungen so weit als möglich zu verhindern. Weiterer Ausführungen bedarf dies nicht.“
Weiterer Ausführungen hätte es vielleicht doch bedurft. Das Bundesverwaltungsgericht (in der Besetzung mit fünf Männern) konnte sich diesen Wertungen nämlich nicht anschließen, sondern hob die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs durch Beschluss vom 31. 01. 2002 auf17. Die baden-württembergische Beihilfebestimmung verstoße gegen das strenge Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen des Geschlechtes nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und sei deshalb nichtig. Dass Haarausfall bei Männern weitaus häufiger auftrete als bei Frauen, sei kein tragfähiger Differenzierungsgrund. Auch deren gesellschaftliche Akzeptanz sei kein Problem, das seiner Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftrete. Aus heutiger Sicht könne „ein tradiertes geschlechtsspezifisches Selbstverständnis ebenso wenig wie tradierte gesellschaftliche Rollenerwartungen die Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG legitimieren, da der strenge Gleichheitssatz gerade derartigen Unterscheidungen begegnen soll.“ III. Der Mensch als leibliches Wesen Rechtsfragen zur Haarpracht leiten fließend über zum Menschen als leibliches Wesen. Unter dem „Leib“ des Menschen wird gemeinhin sein beseelter Körper verstanden. Leib und Seele bilden gewissermaßen eine vitale Einheit im Gegensatz zur Einheit des Geistigen. Existenzgrundlage des beseelten Körpers ist dessen Leben und sein Angewiesensein auf Materie. Darum sei nun ein Blick geworfen auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu den Aspekten des Lebens, des Körpers und der Materie. 1. Leben Dem Schutz des menschlichen Lebens als biologisch-physische Existenz misst die Rechtsordnung hohen Wert bei, wie das Lebensrecht in Art. 2 Abs. 2 GG und die Abschaffung der Todesstrafe nach Art. 102 GG verdeutlichen. Anders als bei der Menschenwürde ist dieser Schutz aber nicht absolut. Im Verteidigungsfall darf rechtmäßig getötet werden und § 54 Abs. 2 PolG sieht den sogenannten „finalen Rettungsschuss“ eines Polizisten vor. Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs gibt es hierzu bisher nicht. Zur gesellschaftlich ebenso umstrittenen Frage von Lebensschutz und Schwangerschaftsabbruch hatte der Verwaltungsgerichtshof18 17 18
NJW 2002, 2045. NJW 1991, 2362.
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jedoch in seinem Urteil vom 10. 06. 1991 zu entscheiden. Hier ging es um einen Arzt, dem das Sozialministerium die Anerkennung als Berater im Bereich Schwangerschaftsabbruch mit der Begründung verweigerte, er sehe seine Beratungsaufgabe nicht in erster Linie darin, bei zum Abbruch entschlossenen Frauen einen Sinneswandel herbeizuführen, sondern prophylaktisch-therapeutische Maßnahmen zur Bewältigung von Abbruchsfolgen zu treffen, ohne die Frauen zu einer Fortsetzung der Schwangerschaft bewegen zu wollen. Der Senat gab dem Arzt mit folgenden Argumenten Recht, die doch auch die Relativität des rechtlichen Lebensschutzes im Konfliktfall illustrieren: „Die von den Richtlinien (etwas formelhaft) umschriebene Pflicht des Beraters, „sich schützend und fördernd vor das ungeborene Leben zu stellen und es der werdenden Mutter dadurch zu ermöglichen, ihre Not- und Konfliktlage zu bewältigen und die Schwangerschaft fortzusetzen“, bietet keinen Ansatz, dem Kläger die Gewähr für eine regelgerechte Beratung abzusprechen. . . . Diese Formulierung des Beratungsziels bedarf einer sprachlichen Übersetzung im Lichte der bindenden Verfassungsauslegung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 25. 02. 1975, das mit der übernommenen Umschreibung die Schutzpflicht des Staates für das werdende Leben, also eine Pflicht vor allem des Gesetzgebers ansprach. Demgegenüber hat es der Berater nach § 218 b StGB mit einem konfliktbeladenen Individuum zu tun, dem er durch einen Vorgang der Kommunikation eine Hilfestellung in der durch die Schwangerschaft entstandenen Konfliktlage geben soll. Aufgabe des Beraters ist es, der Schwangeren alle Aspekte der von ihr nur persönlich zu treffenden Entscheidung für die Fortsetzung der Schwangerschaft und damit für das werdende Leben bewusst zu machen. Einmal soll der Berater damit Dritteinflüsse neutralisieren, welche die Schwangere zu einem fremdbestimmten Abbruch der Schwangerschaft zu bewegen versuchen. Außerdem soll er verhindern, dass die Schwangere in einer Art von Panikreaktion sich gegen die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft entscheidet, ohne im Vollbesitz ihrer Abwägungsfähigkeit zu sein und Kenntnis sämtlicher für eine umfassende Abwägung des Für und Wider erforderlichen Umstände zu haben. Der Kläger vermag aufgrund seiner Spezialisierung als Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut die fachkundige Beratung von Schwangeren auch über die psychischen Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs einzubringen, welche besonders wichtig ist, weil sie der betroffenen Frau die Tragweite ihrer Entscheidung gegen die Schwangerschaft vor Augen führt. . . . Schließlich gibt es auch weder in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Anhaltspunkt noch einen sonst erkennbaren Rechtsgrundsatz, dass der Berater einer Entscheidung der Schwangeren gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft nach erfolgter Beratung sich entgegenstellen oder sie sogar psychisch unter Druck setzen müsste. Im Gegenteil widerspräche eine solche „Beratung“ dem Wortlaut und dem Geist des Grundgesetzes. In diesem Zusammenhang verdient Hervorhebung, dass es ein wirksamerer Schutz des ungeborenen Lebens ist, wenn es dem Berater gelingt, das Vertrauen der Schwangeren durch Verständnis und Fürsorge zu gewinnen, auch wenn sich diese schlussendlich von ihrem gefassten Entschluss gegen ihr Kind nicht abbringen lässt, als wenn der Berater seine Beratung von vornherein auf einer Gegenposition zu ihr aufbaut, welche bei der Beratenen zu einer Verhärtung ihrer Auffassung und Absicht, ihre Schwangerschaft nicht fortzusetzen, bewirken muss.“
Um Fragen von Leben und Tod geht es immer wieder auch im Bereich des Asylrechtes, das Anfang der 90er Jahre, nachdem zeitweise jährlich über 400.000
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Flüchtlinge nach Deutschland strömten, die gesamte Verwaltungsgerichtsbarkeit grundlegend durchschüttelte. Beim Verwaltungsgerichtshof schwollen die Asyleingangszahlen von unter 600 im Jahr 1984 in der Spitze auf beinahe 4.000 im Jahr 1994 an, was erhebliche mittelbare Auswirkungen auf den richterlichen Arbeitsplatz hinsichtlich Erledigungstempo, Erledigungszahl und natürlich auch der Art der Prozessführung und des Stils von Entscheidungen hatte. Der zwischenzeitliche drastische Rückgang der Asylzahlen aufgrund des sogenannten Asylkompromisses und des im Entstehen begriffenen EU-Asylsystems – im Jahr 2009 gingen beim Verwaltungsgerichtshof nur wenig mehr als 500 Asylfälle ein – führt derzeit zwar zum „Rückbau“ von in Asylhochzeiten aufgestockten Richterstellen, aber wohl allenfalls partiell zur Rückdrehung der seither veränderten Gerichtskultur. Im Asylprozess wird dem Richter nicht nur von angeblichen Liberianern, die in Wahrheit Nigerianer sind, erzählt, die glückliche Flucht mit Hilfe eines Cousins und einer Strickleiter aus dem Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Monrovia sei über die Elfenbeinküste verlaufen und von dort aus, versteckt im Maschinenraum, mit dem Schiff direkt bis nach Karlsruhe. Nein, im Asylprozess muss sich immer wieder auch mit ernsthaften und schwer zu beantwortenden Fragen auseinander gesetzt werden, etwa dem Aufenthaltsrecht von an Aids erkrankten Ausländern, die im Abschiebezielstaat kaum effektive Gesundheitsversorgung zu erwarten haben (und in Deutschland voraussichtlich teuer versorgt werden müssen), oder dem Umgang mit Bürgerkrieg, Armut, Seuchen und Hungersnot. Zur heiklen Frage, deren Antwort ein Schlaglicht auf den humanitären Charakter unserer Rechtsordnung wirft, bei welchem Schutzstandard beispielsweise in die selbsternannte „Demokratische Republik“ Kongo abgeschoben werden darf, hat der Verwaltungsgerichtshof19 im Urteil vom 13. 11. 2002 mit folgenden Leitsätzen grundlegend Stellung bezogen: „Für den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Abschiebungsschutz wegen im Zielstaat drohender Gefahren für Leib und Leben, auf die der deutsche Staat keinen Einfluss hat, ist nicht der für Inlandsgefährdungen geltende grundrechtliche Schutzstandard maßgebend, sondern (nur) die Wahrung eines nach der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung unabdingbaren ,menschenrechtlichen Mindeststandards‘. Soweit es nicht um den Schutz vor gezielt gerade gegen den Ausländer gerichtetem Handeln, sondern vor allgemeinen, die Bevölkerung im Zielstaat schicksalhaft treffenden Gefährdungen von Leib und Leben geht, ist bei der Bestimmung des ,menschenrechtlichen Mindeststandards‘ auch zu beachten, dass eine verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit des deutschen Staates nur für solche Auslandsgefährdungen gegeben ist, die noch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Abschiebung stehen, und dass die ausländerpolitische Handlungsfreiheit der Exekutive (etwa hinsichtlich der Aspekte „Grenzen der Belastbarkeit“, „internationale Lastenteilung“ und „Wahl zwischen Aufnahme und Hilfeleistung vor Ort“) gewahrt bleiben muss. Die Schwelle der verfassungsrechtlich gebotenen Wahrung des ,menschenrechtlichen Mindeststandards‘ ist danach erst erreicht, wenn sich eine allgemeine Gefahr für Leib und Leben für den einzelnen Ausländer derart zuspitzt, dass er durch die Abschiebung ,sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert‘ würde; nur unter dieser 19
A 6 S 967 / 01.
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Voraussetzung ist Abschiebungsschutz zu gewähren. In Fällen allgemeiner schlechter Lebensverhältnisse im Zielstaat (soziale und wirtschaftliche Missstände) kann eine solche Extremgefahr in aller Regel nicht allein auf statistische Sterberaten gestützt werden. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, welche der spezifischen Risikofaktoren, auf die sich die statistischen Aussagen zurückführen lassen, mit welchem Gewicht und mit welcher Sicherheit gerade auf die konkrete Lebenssituation des einzelnen Ausländers zutreffen und ob Ausweichmöglichkeiten bestehen. Aus den in der Demokratischen Republik Kongo (Raum Kinshasa) herrschenden schlechten Lebensverhältnissen lässt sich keine generelle Extremgefahr für Rückkehrer herleiten, welche eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs 6 AuslG rechtfertigt. Das gilt auch hinsichtlich der Gefahren, die daraus entstehen, dass die in der Demokratischen Republik Kongo durch Infektionen erworbene Semi-Immunität gegen Malaria infolge des Auslandsaufenthalts verloren gegangen ist.“
2. Körper Wie dieses Asylurteil verdeutlicht, ist auch der Schutz des menschlichen Körpers für unsere Rechtsordnung zwar prioritär, keinesfalls aber absolut. Welche Aktivitäten der Staat zum Schutze der Gesundheit seiner Bürger entfalten muss, wird darum immer wieder streitig, insbesondere, seitdem neuartige und schwer überschaubare Gefährdungen an Gewicht gewinnen. Grundlegende Ausführungen hierzu wurden vom Verwaltungsgerichtshof bereits Anfang der 80er Jahre, gewissermaßen veranlasst durch die Anti-Atom-Bewegung getroffen. Gegen den im Oktober 1973 eingereichten Antrag für den Bau zweier Atomkraftwerke in Wyhl wurden von Bürgerinitiativen über 80.000 Einwendungen gesammelt. Im Januar 1975 erging die erste Teilerrichtungsgenehmigung und es sollte mit dem Bau begonnen werden. Rund 25.000 Menschen verdrängten jedoch die Polizei und hielten den Bauplatz rund ein Jahr lang besetzt. Ministerpräsident Filbinger tat daraufhin seinen berühmt gewordenen Satz: „Wenn Wyhl nicht gebaut wird, werden noch in diesem Jahrzehnt in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen“. Die anschließenden Gerichtsverfahren zogen sich bis zum Grundsatzurteil des Verwaltungsgerichtshofs20 vom 30. 03. 1982 hin, das nach 10 Verhandlungstagen erging und 548 Seiten umfasst. Der Sache nach wurde hier die „je-desto“-Formel geprägt und der Verwaltung bei Sicherheitsfragen ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt. Je höher das Gefährdungspotential für die Bevölkerung sei, desto stärker müssten die Sicherheitsvorkehrungen ausgebaut werden. Im Bereich der Risikoermittlung und Risikobewertung komme der Exekutive jedoch eine Einschätzungsprärogative zu. Vor diesem Hintergrund sei im konkreten Fall nicht festzustellen, dass die Sicherheit des geplanten AKW Wyhl der im Atomgesetz geforderten Vorsorge gegen Schäden nicht entspreche. Wer die 548 Urteilsseiten durchblättert, muss staunen, mit welcher Akribie und Gründlichkeit hier auch den kleinsten technischen Detailfragen im Einzelnen nachgegangen 20
X 582 / 77 ua.
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wird. Das Urteil ist zugleich abschreckendes Beispiel dafür, wie ganz erhebliche jahrelange Richterarbeitskraft politisch vergeudet werden kann. Nachdem der Verwaltungsgerichtshof grünes Licht für den AKW-Bau gegeben hatte, fand in Wyhl eine Kundgebung mit über 30.000 Demonstranten statt. Ministerpräsident Späth erklärte daraufhin überraschend, das AKW Wyhl sei „vor 1993 nicht nötig“; 1987 bekräftigte er diesen Bauverzicht „bis zum Jahr 2000“. Seit 1998 ist der Bauplatz nun als Naturschutzgebiet ausgewiesen und eine – bis auf weiteres – blühende Landschaft. Auch die zum Atomrecht entwickelten Grundsätze blühen weiter und werden im Bereich sonstiger Sicherheitsfragen angewendet. Im Gentechnikurteil vom 04. 05. 2001 hatte der Verwaltungsgerichtshof21 im Spannungsfeld Forschungsfreiheit – Risikovorsorge zu urteilen. Biomedizinische Wissenschaftler der Universität Freiburg wollten zu Forschungszwecken einen Hepatitis-Virus gentechnisch verändern. Das von der Gentechnikbehörde des Landes zuvor eingeholte Gutachten kam zum Ergebnis, dass dieses neu geschaffene Virus sehr wahrscheinlich nicht über die Luft auf Menschen übertragbar sein dürfte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit könne dies allerdings nicht ausgeschlossen werden; auch seien die pathologischen Eigenschaften des neuen Virus bezüglich Vermehrung und Ansteckung nicht wissenschaftlich geklärt. Da die zwar unwahrscheinlichen, aber denkbaren Schadensfolgen bei einer epidemischen Ausbreitung möglicherweise verheerend wären, verlangte die Behörde daraufhin von der Universität eine lufttechnische Abschirmung des Labors etwa durch Schleusen oder Unterdruck. Die Universität wehrte sich gegen diese kostspieligen Auflagen. Der Verwaltungsgerichtshof gab der Behörde Recht: „Die zum Atomrecht entwickelte Rechtsprechung ist im Gentechnikrecht entsprechend anwendbar. Dem Beklagten kommt damit ein die gerichtliche Kontrolle begrenzender Beurteilungsspielraum (Einschätzungsprärogative) zu. Nach dieser Rechtsprechung trägt die Exekutive die Verantwortung für die Risikoermittlung und Risikobewertung. Es ist deshalb – ohne dass Art. 19 Abs. 4 GG oder sonstige Verfassungsbestimmungen anderes gebieten würden – nicht Sache der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, die der Exekutive zugewiesene Wertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risikoabschätzung durch eine eigene Bewertung zu ersetzen. Die gerichtliche Kontrolle ist vielmehr auf die Prüfung beschränkt, ob die Risikobewertung der Exekutive auf Grund ausreichender Ermittlungen und willkürfreier Annahmen zustande gekommen ist.“ Dies sei hier der Fall.
Mit einer Abwägung im hochaktuellen Spannungsfeld Freiheit – Sicherheit musste sich der Verwaltungsgerichtshof22 schließlich auch im BSE-Urteil vom 07. 12. 1999 befassen. Nach dem Ausbruch des Rinderwahns und der Vermutung, der Verzehr von BSE-verseuchtem Rindfleisch könne die regelmäßig tödlich verlaufende Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen auslösen, erging 1997 eine 21 22
NVwZ 2002, 224. DVBl. 2000, 921.
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Verordnung, dass ausnahmslos alle aus Großbritannien und Nordirland sowie der Schweiz stammenden Rinder oder von solchen Rindern unmittelbar abstammende Tiere zu töten seien. Diese Tötungspflicht traf auch das 1986 in Schottland geborene weibliche Galloway-Rind „Robinia“ des Klägers, einem Bauer aus dem Landkreis Heilbronn, das er seit 1988 erfolgreich zu Zuchtzwecken einsetzte. Der Senat wog die konkrete Eigentumsgefährdung im Sinne der „je-desto“-Formel mit der abstrakten Volksgesundheit ab und entschied im Ergebnis zugunsten von Robinia. Die pauschale Unterstellung, die gesamte Gruppe der von der Verordnung erfassten Rinder sei ansteckungsverdächtig, sei hier nicht vertretbar: „Diese ,Annahme‘ ist ein Wahrscheinlichkeitsurteil, welches wegen des mit der Tötungsanordnung verbundenen Eingriffs in das grundrechtlich verbürgte Eigentum auf hinreichend aussagekräftigen tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen muss. Da die Maßnahmen des Verordnungsgebers eine große Gruppe von Tieren betrifft, müssen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Mitglieder dieser Gruppe zwar nicht vollzählig, aber doch typischerweise bzw. zu einem erheblichen Teil den Ansteckungsstoff aufgenommen haben. Für eine derartige Einschätzung reichen die dem Verordnungsgeber bekannten oder später zu Tage getretenen Anhaltspunkte nach Auffassung des Senats nicht aus.“
Das Bundesverwaltungsgericht23 bestätigte diese Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs mit Urteil vom 15. 02. 2001. 3. Materie Das Christuswort nach Matthäus 4,4: „Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“, enthält zugleich die Wahrheit: „Der Mensch lebt – auch – vom Brote“. Ohne ein Minimum an äußeren materiellen Leibes- und Lebensbedingungen fehlt dem Individuum als solchem die Fähigkeit, sich in freier Entscheidung über die unpersönliche Umwelt zu erheben. Ohne „Brot“ lebt er nicht, er kämpft ums Überleben, er vegetiert. In den modernen Industriegesellschaften kann kaum noch ein Mensch die materiellen Voraussetzungen der physischen Existenz für sich und seine Familie garantieren. Der Bürger wird seine Gesellschaft deshalb grundsätzlich nur dann voll bejahen, wenn sie ihm, in welcher Weise auch immer, im Bedarfsfall die Existenz sichert. Jahrzehntelang hat der Verwaltungsgerichtshof insbesondere im Rahmen seiner Zuständigkeit für das fallintensive Sozialhilferecht in vielfältiger Weise zur – rechtlich aus der Menschenwürde abgeleiteten – staatlichen Pflicht der Existenzsicherung judiziert. Auf diese Weise war er kontinuierlich auch mit den Problemen schlechter gestellter Gesellschaftskreise befasst. Der Gesetzgeber hat die Zuständigkeit für das Sozialhilferecht, das Arbeitslosengeld II nach Hartz IV, das Asylbewerberleistungsgesetz und die Grundsicherung für Arbeitsuchende nun jedoch 23
NJW 2001, 1592.
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zum 1. Januar 2005 auf die ohnehin bereits überlasteten Sozialgerichte übertragen, mit der nur hinter vorgehaltener Hand getuschelten Begründung, dort würde „weniger staatstragend“ und „sozialer“ geurteilt. Ob dem heute so ist, entzieht sich objektiver Beurteilung. Dass der Verwaltungsgerichtshof auf seinem sozialen Auge nicht erblindet, dafür sorgt jedenfalls die erhaltene Zuständigkeit insbesondere im Jugendhilfe-, Schwerbehinderten-, Wohngeld-, Ausbildungsförderungs-, Krankenhausfinanzierungs- sowie im Heimrecht. Der allgemeine Zusammenhalt und die Humanität einer Gesellschaft können wohl auch am Gradmesser des Umgangs mit alten Menschen gemessen werden. Diesbezüglich kann der Verwaltungsgerichtshof der südwestdeutschen Gesellschaft hin und wieder kein gutes Zeugnis ausstellen. Wer die bisweilen haarsträubenden Zustände in baden-württembergischen Heimen anlässlich von Gerichtsverfahren erlebt, kann Gründe finden, warum sich in letzter Zeit eine gesellschaftliche Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit ausbreitet, die auch das Parteiensystem tangiert. Schlaglichtartig lässt sich dies am Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs24 vom 24. 05. 2006 aufzeigen, in dem es um ein Seniorenwohn- und Pflegeheim mit dem schönen Namen „Haus im Sonnenwinkel“ ging. Aufgrund der tatsächlich wenig besonnten Verhältnisse wurde die Betreiberin von der Aufsichtsbehörde als heimrechtlich „unzuverlässig“ eingestuft, und ihr wurde der Heimbetrieb teilweise untersagt. Der Senat bestätigte dies und fand gegenüber der abwiegelnden Argumentation der Betreiberin deutliche Worte: „Der Senat ist der Auffassung, dass der Antragstellerin jedenfalls für den Betrieb der geschlossenen Abteilung ihres Heimes in B.-S. die notwendige Zuverlässigkeit fehlen dürfte. Unzuverlässig im Sinne des § 11 Abs. 2 Nr. 1 HeimG ist derjenige, der nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens Grund zu der Befürchtung bietet, dass er seinen beruflichen Pflichten beim Betrieb einer in § 1 Abs. 1 Satz 1 HeimG genannten Einrichtung in Zukunft nicht genügen wird. Bei dieser Wertung ist ein strenger Maßstab anzulegen, der wegen der erhöhten Schutzbedürftigkeit der in den Heimen betreuten Menschen weiter reicht als sonst im Gewerberecht. Daher sind Tatsachen, die auf mangelnde Zuverlässigkeit schließen lassen, nicht erst dann gegeben, wenn in einem Heim Verhältnisse herrschen, die geeignet sind, sich als unmittelbare Bedrohung der physischen oder psychischen Integrität der Heimbewohner zu erweisen. Wie sich aus dem Zweck des Gesetzes ergibt, hat die Aufsichtsbehörde vielmehr schon dann Anlass zum Einschreiten, wenn etwa – wie hier – Grund zu der Annahme besteht, dass eine angemessene Qualität der Betreuung der Bewohner oder deren ärztliche und gesundheitliche Betreuung nicht gewährleistet wird. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass dies dem Betrieb nicht wesensfremd ist, sondern ihm im Gegenteil als prägendes Merkmal anhaftet, braucht die Behörde mit Aufsichtsmaßnahmen und – letztendlich – mit der Untersagung des weiteren Betriebs nicht zuzuwarten, bis der Nachweis erbracht ist, dass den Heimbewohnern hieraus konkrete Gefahren erwachsen.“
24
PflR 2006, 494.
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IV. Der Mensch als beseeltes Wesen Solche Fälle berühren unweigerlich die Seele des am Verwaltungsgerichtshof tätigen Richters. Ist im Alltagsverständnis, d. h. nicht im wissenschaftlichen Sinne von „psyche“ oder „anima“, mit der menschlichen „Seele“ doch der Inbegriff aller Bewusstseinsregungen mitsamt ihren Grundlagen angesprochen, also das Gefühlsmäßige, das aus dem Bereich des Herzen Fließende. Seele steht insoweit vor allem im Gegensatz zum Leib und zur Materie. Zum seelischen Bereich gehören mithin Emotionen, Religion sowie die Sittlichkeit und Geselligkeit des Menschen; gesellschaftsprägende Menschenbildelemente, die sich allesamt in unserer Rechtsprechung widerspiegeln. 1. Emotionen Der Mensch lebt nicht allein aus dem Geist, dem Intellekt und der ratio heraus. In seinen Gefühlen, Stimmungen und Affekten, seinen Leidenschaften und auch Trieben wurzeln Kräfte, die bisweilen zu erstaunlichen Leistungen befähigen. Positive Emotionen setzen positive Energie frei und begründen Mitmenschlichkeit. Fehlende oder negative Emotionen dagegen lassen auch Mitmenschlichkeit verloren gehen. Dies wird gerade im Bestattungsrecht deutlich, in dem in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bisweilen die Vereinzelung der Gesellschaft und der Verlust familiärer und sozialer Strukturen aufscheinen. Das Urteil vom 15. 11. 2007 ist hierfür ein beredtes Beispiel25. Der Vater des Klägers war offenbar völlig vereinsamt in Stuttgart verstorben. Das Amt für öffentliche Ordnung veranlasste daraufhin die Feuerbestattung und Beisetzung in einem anonymen Gräberfeld des städtischen Pragfriedhofs. An Kosten fielen insgesamt 1.939 EUR an, darunter 168 EUR für die Feierhallenbenutzung und 53 EUR für das Orgelspiel des städtischen Organisten. Die Beklagte war im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Auffassung, dass zur würdigen Bestattung auch eine kleine Trauerfeier gehöre. Denn noch mit Urteil vom 25. 09. 2001 hatte der Verwaltungsgerichtshof26 in einem vergleichbaren Fall ausgeführt: „Die zuständige Behörde ist gemäß § 31 Abs. 2 BestattungsG verpflichtet, eine einfache, aber würdige Bestattung in ortsüblicher Form anzuordnen oder zu veranlassen. Diesem Erfordernis ist die Beklagte nachgekommen. Die einfache Sargausstattung und -dekoration ist dabei ebenso wenig zu beanstanden, wie der kleine religiöse Rahmen, der durch den beauftragten Organisten und Pfarrer geschaffen wurde.“
Die später ermittelten drei, teilweise in USA lebenden Kinder aus der geschiedenen Ehe des Verstorbenen sowie deren nichteheliche Halbschwester weigerten sich allesamt jedoch, irgendwelche Kosten für die Bestattung ihres Vaters zu überneh25 26
1 S 1471 / 07. NVwZ 2002, 995.
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men. Jahrelang habe keinerlei Kontakt mehr bestanden. Der schließlich gesamtschuldnerisch herangezogene Sohn weigerte sich insbesondere auch, Feierhallenbenutzung und Orgelspiel zu bezahlen. Der Senat gab ihm am 15. 11. 2007, insoweit unter Aufgabe seiner bisherigen Judikatur, Recht: „Ausdrückliche Vorgaben für das Maß der erstattungsfähigen Kosten enthält § 31 Abs. 2 BestattG nicht. Zu deren Bestimmung ist darum in erster Linie eine Orientierung am Zweck des Bestattungsgesetzes geboten, das die Behörde lediglich zur Beseitigung eines polizeiwidrigen Zustandes ermächtigt. Demnach verbietet sich eine Auslegung nach Maßgabe der bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen, die von einer (standesgemäßen) an der Lebensstellung des Erblassers ausgerichteten Beerdigung ausgehen (§ 1968 BGB), wozu ggf. auch die üblichen kirchlichen und bürgerlichen Feierlichkeiten zählen. Es begegnet auch Bedenken, die sozialhilferechtliche Rechtsprechung heranzuziehen, die den in § 15 BSHG, § 74 SGB XII verwendeten Begriff der „Erforderlichkeit“ der Kosten der Bestattung in der oben erwähnten Weise konkretisiert. Denn diese Auslegung ist vor dem Hintergrund der in § 1 Abs. 2 BSHG, § 1 Satz 1 SGB XII normierten Aufgabe der Sozialhilfe zu sehen, eine der Würde eines Verstorbenen entsprechende Bestattung sicherzustellen; hieraus kann dann auch eine Verpflichtung abgeleitet werden, ein würdiges Geleit zur letzten Ruhestätte zu ermöglichen. Solche Ziele verfolgt das Bestattungsgesetz als solches aber nicht. Die Bestattungspflicht dient dem ordnungsrechtlichen Zweck, im öffentlichen Interesse die ordnungsgemäße Durchführung der Bestattung Verstorbener zu gewährleisten. Die Bestattung soll zum einen Gefahren für die öffentliche Gesundheit und zum anderen eine Verletzung des in der Menschenwürde wurzelnden Gebots der Pietät gegenüber Verstorbenen und des sittlichen Empfindens in der Bevölkerung verhüten, die typischerweise (abstrakt) durch den fortschreitenden Verwesungsprozess nicht bestatteter menschlicher Leichen drohen. Darüber hinaus verlangt der Schutz der Totenruhe, die ebenfalls durch Art. 1 Abs. 1 GG gefordert ist, eine würdige Totenbestattung, die sicherzustellen nach allgemeiner Auffassung eine öffentliche Aufgabe ist. Auch dies zielt aber nur auf die Bestattung als solche und hat – soweit noch von Bedeutung – den Friedhofszwang im Auge, während Trauerfeierlichkeiten außerhalb des Regelungsbereichs des Bestattungsgesetzes liegen. Hiernach sind die auf die Feierhallenbenutzung und das Orgelspiel entfallenden Beträge nicht erstattungsfähig.“
In Zukunft dürften vereinsamt Verstorbene in Baden-Württemberg von ihren Kommunen regelmäßig ohne jegliche Trauerfeierlichkeiten, insbesondere ohne Organist und Pfarrer beerdigt werden, weil deren Kosten nicht mehr von den Hinterbliebenen beigetrieben werden können. Der Verlust von Mitmenschlichkeit führt so mittelbar zum Verlust auch des letzten Segens. Um Emotionen, insbesondere Heimatgefühle, geht es beim Verwaltungsgerichtshof vor allem auch im Bereich des Ausländerrechtes. In Baden-Württemberg leben unter uns Tausende hier Geborene oder als Kleinkinder mit ihren Eltern oft illegal eingewanderte Ausländer, die über kein gesichertes Aufenthaltsrecht verfügen, aus vielfältigen Gründen aber nicht abgeschoben werden können. In Frankreich etwa nennt man diese Personengruppe die „Sans-papier“, die Papierlosen; in Deutschland spricht man von den „Geduldeten“. Terminiert man solche Fälle, werden bisweilen größere Verhandlungssäle benötigt, weil auch Mitschüler, Nachbarn und Sportkameraden sowie etwa der örtliche Kirchengemeinderat erscheinen. Bis zum
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Erlass des am 01. 01. 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes hat sich auch Baden-Württemberg nicht als Einwanderungsland begriffen. Auch seither werden die Ausländerbehörden hier oftmals über Vorgaben des Innenministeriums an der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen gehindert. In seinem „Verwurzelungsbeschluss“ vom 25. 10. 2007 hat der Verwaltungsgerichtshof27 nun erstmals unter Rückgriff auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwogen, dass es im Rahmen des Schutzbereichs des Menschenrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht entscheidungserheblich darauf ankommen dürfte, ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte. Der Schutzbereich dieses Menschenrechts könne vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein. Weiter führte der Senat aus: „Der Eingriff in das geschützte Privatleben des Antragstellers dürfte im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil unverhältnismäßig sein. Insoweit ist insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der „Verwurzelung“ an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der „Entwurzelung“ abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Passstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit – i.S. einer „Handreichung des Staates“ – schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.“
Mit diesem Prüfprogramm könnte das oft pauschal zitierte „Recht auf Heimat“ nunmehr im Einzelfall gut justiziabel werden. 2. Religion Die Religiosität des Menschen, d. h. sein Bedürfnis nach einer außerhalb seiner selbst liegenden Verankerung, spiegelt sich derzeit insbesondere in der Rechtsprechung zum Thema Islam wider. Die oftmals demonstrative Religiosität von Muslimen irritiert die christliche Mehrheitsgesellschaft nachhaltig und erzeugt betroffene Abwehrreflexe. Sei es die Baugenehmigung für eine Moschee oder eine ausländische Botschaft, sei es das Schächten, die Teilnahme am Schwimmunterricht oder an der Klassenfahrt, sei es der Inhalt von Predigten oder der Religionsunterricht, im Laufe der Zeit kommt alles bei Gericht an. Der Verwaltungsgerichtshof 27
InfAuslR 2008, 29.
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war und ist in diesem Zusammenhang besonders mit dem islamischen Kopftuch beschäftigt, deren rechtliche Behandlung bis heute nicht abschließend geklärt ist. In seinem Grundsatzurteil vom 26. 06. 2001 entschied er28, dass eine Lehramtsbewerberin wegen des Tragens eines Kopftuchs im Unterricht für das angestrebte Amt einer Grund- und Hauptschullehrerin im öffentlichen Schuldienst als ungeeignet eingestuft werden darf. Der Senat argumentierte dabei – die Landesverfassung im Blick – auch mit der christlichen Prägung unserer südwestdeutschen Gesellschaft: „Ein solcher Ausgleich verlangt vom Staat nicht, dass er bei der Erfüllung des von Art. 7 Abs. 1 GG erteilten Erziehungsauftrags auf religiös-weltanschauliche Bezüge in der Schule völlig verzichtet (vgl. auch Art. 7 Abs. 5 GG). Der Staat kann und muss vielmehr bei aller gebotenen Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen aufgreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und die für die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben maßgebend sind. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, insbesondere durch die Verbreitung der christlichen Ethik, von überragender Prägekraft gewesen. Es obliegt dem für das Schulwesen zuständigen Landesgesetzgeber, das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der christlichen Verwurzelung ausgleichend zu lösen. Der Landesgesetzgeber kann sich bei seiner Regelung davon leiten lassen, dass einerseits Art. 7 GG im Bereich des Schulwesens religiös-weltanschauliche Einflüsse zulässt, andererseits Art. 4 GG gebietet, im Schulunterricht so weit wie möglich religiös-weltanschauliche Zwänge auszuschalten. Die zulässige Bejahung des Christentums bezieht sich deshalb insoweit nur auf dessen Anerkennung als prägender Kultur- und Bildungsfaktor, nicht aber auf bestimmte Glaubenswahrheiten. Zum Christentum als Kulturfaktor gehört insbesondere auch die Toleranz für Andersdenkende. Nach diesen Maßstäben hat der Verfassungsgeber des beklagten Landes durch Art. 15 und 16 der Landesverfassung keine ,christlichen Gemeinschaftsschulen‘ im Sinne eines religiösen Bekenntnisses, sondern offene Gemeinschaftsschulen geschaffen, in denen das Christentum nur als prägender Bildungs- und Kulturfaktor wirksam ist. In gleicher Weise ist der in Art. 12 LVerf als Erziehungsziel bestimmte ,Geist der christlichen Nächstenliebe‘ zu verstehen. Der Klägerin könnte die Eignung für das von ihr angestrebte Lehramt folglich nicht bereits deshalb abgesprochen werden, weil sie als Muslimin nicht in der Lage wäre, den staatlichen Erziehungsauftrag an den – im dargelegten kulturellen Sinne zu verstehenden – christlichen Gemeinschaftsschulen des beklagten Landes bestmöglich zu erfüllen. Eine derartige Auffassung, die der Beklagte auch nicht geäußert hat, würde Art. 15 und 16 LVerf verkennen und deshalb die Grenzen des Beurteilungsspielraums überschreiten. Die Erwägung des Beklagten, die Klägerin sei wegen des von ihr aus religiösen Gründen beabsichtigten Tragens eines Kopftuchs im Unterricht für das erstrebte Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen ungeeignet, hält sich dagegen im Rahmen des Beurteilungsspielraums.“
Das Bundesverwaltungsgericht29 bestätigte mit Urteil vom 04. 07. 2002 die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, wurde bekanntlich jedoch durch die Ent28 29
NJW 2001, 2899. BVerwGE 116, 359.
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scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 09. 2003 aufgehoben30. Karlsruhe judizierte, dass ein Kopftuchverbot für Lehrkräfte im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage habe. Zudem könne der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Hierauf reagierte der Landtag und fügte 2004 im Sinne einer „lex Kopftuch“ in § 38 des Schulgesetzes u. a. folgenden Absatz 2 ein: „(2) Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das religiöse Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht nach Artikel 18 Satz 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg.“
Die Annahme, das „Kopftuchproblem“ sei nunmehr rechtlich gelöst, hat sich nicht bewahrheitet. Der Streit ging vielmehr gewissermaßen in die nächste Runde: Gestützt auf das neue Verbot der Abgabe religiöser Bekundungen an öffentlichen Schulen in § 38 Abs. 2 SchulG erfolgte eine dienstliche Weisung an eine Stuttgarter Grundschullehrerin, ihr nunmehr seit 1995 getragenes islamisches Kopftuch im Unterricht abzulegen. Die Klage hiergegen hatte beim Verwaltungsgericht Stuttgart zunächst Erfolg31. Zwar stehe die Weisung nun grundsätzlich im Einklang mit dem Schulgesetz und höherrangigem Recht. Da die Schulbehörde es zulasse, dass Nonnen in Ordenstracht an staatlichen Schulen unterrichten, werde die Klägerin jedoch in ihrem Anspruch auf strikte Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen verletzt. Auch § 38 Abs. 2 Satz 3 SchulG enthalte keine Ermächtigung zur Privilegierung christlicher Bekenntnisbekundungen. Die Vorschrift regele lediglich die Vermittlung der aus der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangenen Werte; das Erfordernis einer von Glaubensinhalten losgelösten Vermittlung dieser Wertewelt werde aber nicht beseitigt. Der Verwaltungsgerichtshof vermochte diese Ansicht im nachfolgenden Berufungsverfahren nicht zu teilen und bestätigte mit Urteil vom 14. 03. 2008 die Rechtmäßigkeit der von der Lehrerin angefochtenen Verfügung32. Ob auch dieses Kopftuchverfahren eines Tages wieder in Karlsruhe landet, ist derzeit nicht absehbar. 30 31 32
BVerfGE 108, 282. NVwZ 2006, 1444. 4 S 516 / 07.
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3. Sittlichkeit Der Mensch ist auf freie sittliche Selbstbestimmung hin angelegt. Er besitzt die Gabe, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und kann deshalb von als sittlich verwerflich erkannten Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten absehen. Fragen von Ethik, Moral und vor allem der inneren Instanz des Gewissens wurden im Verwaltungsrecht in zahlreichen Prozessen um die Kriegsdienstverweigerung vor allem in den 70er und 80er Jahren virulent, in denen dem Richter die schwierige Rolle eines Gewissensprüfers zukam. Diese Prozesse spielten sich jedoch ausnahmslos nicht am Verwaltungsgerichtshof ab, da insoweit der verkürzte Rechtszug Verwaltungsgericht – Bundesverwaltungsgericht vorgesehen war und ist. Um Fragen der Sittlichkeit ging es am Verwaltungsgerichtshof jedoch etwa im „Bigamiefall“, der mit Beschluss vom 21. 08. 2007 entschieden wurde33. Hier war ein seit 1992 im Libanon verheirateter Libanese mit einer gefälschten oder jedenfalls inhaltlich falschen Ledigkeitsbescheinigung nach Deutschland eingereist und hatte hier 1997 eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Nachdem er ein eheunabhängiges unbefristetes Aufenthaltsrecht erworben hatte, ließ er sich zunächst von seiner deutschen Ehefrau scheiden und sodann, zur Verschleierung der ersten Ehe, im Libanon auch noch von seiner libanesischen Ehefrau. Mit dieser hatte er im Übrigen weiterhin guten Kontakt gehalten; sie hatte ihm im Laufe der rund siebenjährigen Doppelehe nach „Heimatbesuchen“ zwischenzeitlich zwei Kinder geboren. Seine libanesische Ex-Ehefrau heiratete er sodann drei Monate später erneut und beantragte für sie und die beiden gemeinsamen Kinder den Familiennachzug. Die Sache flog auf, weil sich aus vorgelegten Dokumenten ergab, dass der Antragsteller mit seiner „neuen“ Frau schon einmal verheiratet gewesen sein musste, was die Ausländerbehörde misstrauisch machte. Der Antragsteller behauptete, bei der 1992 geschlossenen Ehe habe es sich eigentlich nur um ein Verlöbnis gehandelt, und berief sich zudem auf den Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG. Der Verwaltungsgerichtshof folgte dem mit klaren Worten nicht: „Aufgrund des Vorliegens einer Doppelehe ist die Aufenthaltserlaubnis dem Antragsteller im Sinne des § 48 Abs. 1 LVwVfG am 09. 07. 1998 gemäß §§ 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG rechtswidrig erteilt und am 04. 07. 2001 rechtswidrig unbefristet verlängert worden. Denn nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 17 Abs. 1 AuslG soll der Ehegattennachzug nur in dem durch Art. 6 GG gebotenen Umfang erfolgen. Art. 6 GG jedoch schützt die Doppelehe grundsätzlich nicht. Nach der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfes zu § 17 AuslG hat der Hinweis auf Art. 6 GG begrenzende Funktion, um eine Nachzugsberechtigung von Familienangehörigen aus einer Mehrehe auszuschließen (vgl. BT-Drs. 11 / 6321, S. 60). Dies gilt unabhängig von dem Umstand, dass es nach internationalem Privatrecht möglich sein kann, die Mehrehe eines Ausländers zivilrechtlich als gültig anzusehen. Denn das Prinzip der Einehe gehört zu den grundlegenden kulturellen Wertvorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland und damit auch zu den auch ausländergesetzlichen Regelungen vorgegebenen verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien.“ 33
NJW 2007, 3453.
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4. Geselligkeit In der Verknüpfung mit dem Schutz von Ehe und Familie ist bereits der Bogen von der Sittlichkeit des Menschen zu seiner wesensspezifischen Geselligkeit geschlagen. Jeder Mensch steht in Beziehung zum anderen sowie zu anderen und ist vielfältig auf Gemeinschaft angewiesen. Diese erlebt er insbesondere in Freundschaft, Lebensgemeinschaft, Ehe, Familie, Gruppe, Beruf, Gesellschaft, Staat, Volk, Kulturgemeinschaft oder sogar der Menschheit im Ganzen. Der Mensch ist seinem Wesen nach Mit-Mensch, animal sociale und also auf Gemeinschaft bezogen. Dies wird besonders deutlich in der Zeit der Pubertät, wenn Gruppenbildungen die Persönlichkeit formen und die gegenseitige Anziehungskraft der Geschlechter erwacht. Auch im schulischen Bereich führt dies für die Lehrer zu Herausforderungen, wie der mit Urteil vom 28. 09. 2007 entschiedene „Dienstduschfall“ plastisch illustriert34. Die Klägerin, eine Realschullehrerin, begleitete ihre 8. Klasse ins Schullandheim nach Österreich, glitt während des morgendlichen Duschens beim Griff nach der Shampooflasche aus und verletzte sich an der rechten Schulter. Das Oberschulamt lehnte die Anerkennung eines Dienstunfalls ab, weil der Duschvorgang nicht der Dienstsphäre zuzuordnen sei. Der Verwaltungsgerichtshof sah dies anders: „Mit der Durchführung einer Klassenfahrt in ein Schullandheim nimmt ein Lehrer schulische Aufgaben wahr, sodass er diese Tätigkeit nicht als Privatperson, sondern im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben unternimmt. Abgesehen davon, dass der daraus folgende dienstlich bedingte Aufenthalt an einem fremden Ort schon grundsätzlich nicht in demselben Maß von eigenwirtschaftlichen Interessen beeinflusst ist wie der Aufenthalt am Wohnort, kommt bei einem Schullandheimaufenthalt hinzu, dass von dem oder den begleitenden Lehrern aufgrund ihrer umfassenden Aufsichtspflicht eine ständige räumliche Präsenz verlangt wird, die ein ggf. sofortiges Eingreifen ermöglicht. Die Klägerin hat bereits erstinstanzlich zutreffend vorgetragen, dass sie nicht etwa die Wahl gehabt habe, während des Aufenthalts ein Zimmer außerhalb des Schullandheims zu mieten. Vielmehr sei von ihr und dem begleitenden Kollegen erwartet worden, in den für Lehrkräfte bereitgehaltenen Räumlichkeiten im Schullandheim zu übernachten. Gleichfalls sei erwartet worden, gegenüber den ihnen anvertrauten minderjährigen Schülern die Aufsicht bei Tag und Nacht mindestens in gleicher Weise auszuüben, wie dies Pflicht der Eltern sei. Auch eine zeitliche Aufteilung der Verantwortlichkeit mit ihrem männlichen Kollegen sei jedenfalls während der Nacht nicht möglich gewesen. Für ein etwa notwendiges Eingreifen in den Räumen der Mädchen habe sie sich bereithalten müssen. Es verstehe sich von selbst, dass die Lehrkräfte erst als letzte Bewohner des Schullandheims spät in der Nacht ihre Zimmer hätten aufsuchen können und als erste am Morgen wieder einsatzbereit hätten sein müssen. Diese besonderen Anforderungen bei einem Schullandheimaufenthalt, insbesondere die elterngleiche Aufsichtspflicht, die auch der Beklagte nicht in Frage gestellt hat, rechtfertigen es, insoweit grundsätzlich davon auszugehen, dass die Klägerin während der gesamten Dauer des Schullandheimaufenthalts dienstliche Aufgaben zu erfüllen hatte, mithin 24 Stunden im Dienst war. . . . Das morgendliche Duschen der Klägerin erfolgte im vorliegenden Fall also „in Ausübung des Dienstes“. Das Duschen stand in einem engen natürli34
4 S 516 / 06.
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Jan Bergmann chen Zusammenhang mit den der Klägerin übertragenen Dienstaufgaben, da ihre Dienstund insbesondere Aufsichtspflicht während des Schullandheimaufenthalts ständig fortbestand. Sie befand sich jedenfalls „im Banne des Dienstes“, solange und soweit sie sich aufgrund ihrer entsprechenden dienstlichen Verpflichtung im Schullandheim aufgehalten hat.“
V. Der Mensch als geistiges Wesen Über dem Bewusstsein und der Seele des Menschen erhebt sich der personale Geist. Er stellt den Zusammenhang her mit der materiellen Umwelt und Welt sowie den allgemeinen Sinngehalten und Ideen. Durch das Geistige erhebt sich der Mensch am weitesten über das Tier; hierdurch entfernt er sich freilich zugleich am weitesten von der Natur. Das Geistige trägt maßgeblich dazu bei, dass der Mensch auch zum vernunftbegabten, zum kulturellen und politischen Wesen wird – drei gesellschaftsrelevante Menschenbildelemente, die sich wiederum in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs widerspiegeln. 1. Vernunft Das Bild vom „homo sapiens“, als dem von der Vernunft gesteuerten, weisen und klugen Menschen, ist seit dem Zeitalter der Aufklärung ein wesentliches Leitbild unserer postindustriellen Informations- und Wissensgesellschaft. Sowohl die theoretische Vernunft, d. h. die Fähigkeit, nach Grundsätzen zu urteilen, als auch die praktische Vernunft, mithin das Vermögen, nach Grundsätzen zu handeln, sind nur begrenzt angeboren. Sie bedürfen deshalb der Bildung und Ausbildung. Wer im Zweifelsfall hierfür finanziell aufzukommen muss, hat der Verwaltungsgerichtshof für den schulischen Bereich im Urteil zur Lernmittelfreiheit vom 23. 01. 2001 ausgeführt35. Im Streit stand hier die Rückerstattung von 9,90 DM für die Anschaffung der Erzählung „Die Outsider“ von Susan Hinton in der 8. Klasse eines baden-württembergischen Gymnasiums. Die beklagte Stadt verweigerte dem klagenden Schüler die Erstattung, weil Lerngegenstände unter 10 DM generell nicht erstattet werden müssten. Der Senat sah dies anders. Das Gebot der Landesverfassung, dass Lernmittel unentgeltlich sind, umfasse, abgesehen von einer Bagatellgrenze, grundsätzlich alle Lernmittel: „Ein Einschränkungsvorbehalt ergibt sich zunächst nicht aus dem Wesen des Art. 14 Abs. 2 Satz 1 LVerf als eines Leistungsgrundrechts. Allerdings meint die Beklagte, Leistungs- oder Teilhabeansprüche, die sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben, stünden von vornherein und stets unter dem Vorbehalt des dem Staat Möglichen sowie unter dem weiteren Vorbehalt einer anderweitigen staatlichen Prioritätensetzung unter den berührten Gemeinwohlbelangen. Ob dem in dieser Allgemeinheit beizupflichten wäre, bedarf keiner 35
DÖV 2001, 387.
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Entscheidung. Jedenfalls für Art. 14 Abs. 2 Satz 1 LVerf lässt sich hieraus nichts gewinnen. Wie bereits erwähnt, steht Art. 14 Abs. 2 Satz 1 LVerf im Zusammenhang mit Art. 11 LVerf. Diese Bestimmung verpflichtet den Staat, ein öffentliches Schulwesen zu schaffen, in dem jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung finden kann. Hierin liegt das eigentliche Teilhaberecht. Bei der Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens ist der Staat nun allerdings weitgehend frei, auf seine finanziellen Möglichkeiten – einschließlich derjenigen der kommunalen Schulträger – Bedacht zu nehmen; auch darf er das Schulwesen großzügiger oder mit Rücksicht auf andere Gemeinwohlbelange bescheidener ausstatten. Art. 14 Abs. 2 Satz 1 LVerf gibt ihm jedoch verbindlich vor, dass Unterricht und Lernmittel unentgeltlich zu sein haben, dass die Kosten hierfür also aus allgemeinen Steuermitteln und nicht aus besonderen Beiträgen der Schüler und Eltern aufzubringen sind. Es ist gerade der Sinn dieser Vorschrift, dem Schulgesetzgeber diese verbindliche Vorgabe zu machen. Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit und des Gleichgewichts des Ganzen von Staat und Rechtsordnung lässt sich deswegen nicht erkennen. Der Staat hat es nämlich selbst in der Hand, den Umkreis der notwendigen Lernmittel festzulegen. Lassen die nicht unbegrenzt verfügbaren Haushaltsmittel oder dringende andere Gemeinwohlbelange eine vielleicht wünschenswerte großzügige Ausstattung der öffentlichen Schulen mit Lernmitteln nicht zu, so müssen die Schulen mit weniger auskommen. . . . Sollten die Kosten für Schulbau, Schulausstattung und Lernmittel die kommunalen Schulträger überfordern, hat eine Entlastung der Kommunen durch das Land zu erfolgen, nicht aber durch die Schüler oder deren Eltern.“
Eng verwandt mit den Themen von Lernmittelfreiheit und Bildung ist die Frage der Rechtmäßigkeit der in Baden-Württemberg ab Sommersemester 2007 eingeführten Studiengebühren von derzeit 500 EUR pro Semester. Bei den Verwaltungsgerichten des Landes haben die neuen Studiengebühren zu Tausenden von Klagen geführt. In einem ersten Piloturteil hat das Verwaltungsgericht Freiburg36 die Studiengebühren als rechtmäßig eingestuft. Der Verwaltungsgerichtshof ist dieser Einschätzung in dem hierzu anhängigen Berufungsverfahren37 zwischenzeitlich gefolgt. 2. Kultur Kultur zielt auf Pflege, Verbesserung oder gar Veredelung der leiblich-seelischgeistigen Anlagen und Fähigkeiten des Menschen. Die Kultur auch unserer südwestdeutschen Gesellschaft drückt sich im weiteren Sinne aus in Sprache (bekanntlich können wir alles, außer Hochdeutsch) und Schrift, Sitte und Gebräuchen, Kunst und Religion, der Medienlandschaft, den Kleidungs-, Wohn- und Arbeitsformen, dem Erziehungswesen, den politisch-staatlichen Einrichtungen, in Wissenschaft und Technik und nicht zuletzt im Rechtssystem. Zur Kultur im engeren Sinne gehört primär natürlich die Kunst, die gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG „frei“ 36 37
VBlBW 2007, 426. DÖV 2009, 541.
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ist. Versuche, den Kunstbegriff inhaltlich auszufüllen und Kunst als Kunst zu definieren, sind heutzutage mehr denn je zum Scheitern verurteilt. Dennoch wird auch der Verwaltungsgerichtshof immer wieder mit Fällen beschäftigt, in denen er hierzu Stellung nehmen muss. Ein besonders lustiger war der „Showtanzfall“, der mit Beschluss vom 24. 08. 2000 entschieden wurde38. Antragstellerin war eine 1978 geborene tschechische Staatsangehörige mit abgeschlossener Tanzausbildung. Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 1999 war sie in verschiedenen Nachtclubs tätig. Das Landesarbeitsamt Baden-Württemberg hatte ihr die Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Showtänzerin gestattet. Die vom Land erteilte Aufenthaltsgenehmigung war allerdings mit dem „Verbot von Animation, Striptease und Prostitution“ verbunden worden. Speziell gegen die Stripteaseauflage wandte sich die Antragstellerin unter Berufung auf die Kunstfreiheit des Grundgesetzes. Dem Senat trug sie dazu vor, dass ihre Tätigkeit in der tänzerischen Darbietung eines zuvor choreografisch einstudierten zeitgenössischen Musikstückes bestehe. Hierbei bewege sie sich zunächst während ca. drei Minuten rhythmisch zu einem von ihr ausgewählten etwa vier Minuten dauernden Musikstück. Je nachdem, für welche Choreografie sie sich entschieden habe, entkleide sie sich „lediglich am Ende eines Musikstückes“ „zeitweise und teilweise“, wobei der Schwerpunkt ihrer Darbietung nicht auf der Entblößung ihres Körpers, sondern auf der tänzerischen Leistung liege. Der (mit drei Männern besetzte) Senat folgte, anders als das erstinstanzliche Verwaltungsgericht, der Argumentation der Antragstellerin und hielt es für möglich, dass sie eine Aufenthaltserlaubnis als „Künstlerin“ beanspruchen könne: „Denn in jedem Fall ist der weite Kunstbegriff des Grundgesetzes maßgeblich zu beachten, der sich einer generellen Definition entzieht und keiner wertenden Einengung unterliegt. Die vom Verwaltungsgericht im Wesentlichen dafür angeführten Erwägungen, dass es sich bei der von der Antragstellerin beabsichtigten Tätigkeit nicht um eine künstlerische Betätigung i. S. v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handelt, können nicht als tragfähig angesehen werden. So vermag die Erwägung, wonach bereits der Nachtclub, in dem die Antragstellerin aufzutreten beabsichtigt, keinen Ort darstelle, an welchen man sich vorwiegend aus Gründen des Kunstgenusses begebe, nicht zu überzeugen. Denn es kann in dem vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend darauf ankommen, an welchem Ort bzw. in welcher Umgebung die fragliche Leistung erbracht wird. Ebenso wenig kann es für die Qualifikation als künstlerische Tätigkeit darauf ankommen, ob das angesprochene Publikum den Aufführungsort vornehmlich zum Zwecke eines Kunstgenusses aufsucht. Denn eine künstlerische Betätigung ist an den verschiedensten Orten denkbar, und die Einstufung als Kunst i. S. v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist grundsätzlich unabhängig von der subjektiven Sicht des jeweiligen Betrachters vorzunehmen. Ein allgemeiner Grundsatz, Kunst werde in aller Regel nur an Orten erbracht, wo der darstellende Künstler berechtigterweise erwarten kann, dass das anwesende Publikum tatsächlich für einen Kunstgenuss aufnahmebereit ist, besteht jedenfalls nicht, zumal eine künstlerische Betätigung auch ohne die Anwesenheit jeglicher Betrachter gleichsam ,ganz für sich‘ nicht ausgeschlossen erscheint. Ferner kann dem Verwaltungsgericht nicht in der Auffassung gefolgt werden, wonach im Falle einer 38
NVwZ-RR 2001, 478.
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vornehmlich erotisch ausgerichteten Darbietung ein zugleich verfolgter künstlerischer Anspruch besonders darzutun sei. Denn wie das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst ausführt, schließen sich Darstellungen erotischen Inhalts und Kunst i. S. v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG keineswegs gegenseitig aus. Im Gegenteil wird die Einbeziehung erotischer Inhalte in ein künstlerisches Werk in vielen Kunstrichtungen häufig angetroffen.“
3. Politik Die politische Wesensseite des vernunftbegabten Menschen ist insbesondere eng verknüpft mit seinen kulturellen, geselligen, emotionalen und sittlichen Wesenszügen. Die Zuwendung zum Mitmenschen, die Suche nach dem Richtigen und Guten und der sinnvollen Nutzung der Lebenszeit sowie das vitale Interesse an der Entwicklung öffentlicher Dinge formen den Menschen zum „homo politicus“. Dabei sind manche Menschen natürlich wesentlich politischer als andere. Mit einem solchen besonders politischen Menschen hatte der Verwaltungsgerichtshof, nach den Auseinandersetzungen um den „Radikalenerlass“ in den 70er und 80er Jahren, erneut im „Berufsverbotsurteil“ vom 13. 03. 2007 zu tun39. Der Kläger hatte sich in Heidelberg beim Oberschulamt um eine Stelle als Realschullehrer im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg beworben. Dieses lehnte seine Einstellung wegen der Mitgliedschaft in der „Antifaschistischen Initiative Heidelberg“ sowie zahlreicher „linker“ Aktivitäten ab. Das Verwaltungsgericht bestätigte die von der Behörde angenommenen Zweifel an der Verfassungstreue des Klägers. Der Senat folgte dem jedoch nicht und gab der Klage mit grundlegenden Ausführungen zur politischen Ordnung im Wesentlichen statt: „Zu der umfassenden Treuepflicht des Beamten gehört als Kern jedenfalls die Verfassungstreuepflicht. Dies ist die Pflicht, sich mit der Idee der freiheitlichen demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung dieses Staates zu identifizieren, dem er als Beamter dienen soll. Sie fordert von dem Beamten insbesondere, dass er trotz einer durchaus erwünschten kritischen Einstellung den Staat und seine geltende Verfassungsordnung bejaht, und dass er sich durch Wort und sonstiges Verhalten in äußerlich erkennbarer Weise – aktiv – für die freiheitliche demokratische Grundordnung einsetzt. Zu den grundlegenden, sogar einer Verfassungsänderung entzogenen Grundprinzipien des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates, denen der Beamte verpflichtet ist, sind mindestens zu rechnen: Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteiensystem und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition. In diesem Sinne ist der Dienst des Beamten unter der Geltung des Grundgesetzes immer Dienst an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und muss es sein. Die Verfassungstreuepflicht gebietet dem Beamten zwar nicht, sich mit den
39
VBlBW 2007, 378.
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Jan Bergmann Zielen oder einer bestimmten Politik der jeweiligen Regierung zu identifizieren. Sie schließt nicht aus, Kritik an Erscheinungen des Staates üben zu dürfen und für eine Änderung der bestehenden Verhältnisse – innerhalb des Rahmens der Verfassung und mit verfassungsrechtlich vorgesehenen Mitteln – eintreten zu können, solange nicht eben dieser Staat und seine verfassungsmäßige Ordnung in Frage gestellt werden. Staat und Gesellschaft können an einer unkritischen Beamtenschaft kein Interesse haben. Der Beamte muss danach bei seiner beruflichen Tätigkeit die bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften beachten und erfüllen und sein Amt aus dem Geist dieser Vorschriften heraus führen, z. B. als Lehrer im Unterricht auch die Grundwerte und Grundentscheidungen der Verfassung glaubhaft vermitteln. Die Verfassungstreuepflicht verlangt ferner, dass der Beamte sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren und dass er in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen innerhalb und außerhalb des Dienstes für den Staat Partei ergreift. Ein Beamter, der diesen Erfordernissen nicht Rechnung trägt, erfüllt – unabhängig von seinen Motiven – seine Treuepflicht nicht. . . . (Davon kann beim Kläger jedoch keine Rede sein.) . . . Insbesondere kann bereits ein aktives Einsetzen des Klägers gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht festgestellt werden. Der Beklagte ist in mehrfacher Hinsicht von einem unzutreffenden bzw. unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Dies gilt zunächst, soweit er eine zum Vorschein gekommene Gewaltbereitschaft des Klägers konstatiert hat. Denn den dafür zum Beleg angeführten Vorfällen lässt sich dafür nichts entnehmen. . . . Auch von einem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz kann insoweit nicht die Rede sein. . . . Auch die weiter angeführten Vorfälle ergeben nichts für das dem Kläger unterstellte aktive Eintreten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und sind nicht geeignet, Zweifel an seiner Verfassungstreue zu begründen. Dass die (bloße) Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen, die ersichtlich ebenso vom Grundgesetz gedeckt ist wie die freie Meinungsäußerung, überhaupt erwähnt wird, vermag der Senat kaum nachzuvollziehen. . . . Der Beklagte hat mithin bei seiner dem Kläger ungünstigen Prognose wesentliche Beurteilungselemente außer Acht gelassen und ist von einem unvollständigen bzw. unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen.“
Aufgrund dieses Urteils bot das Kultusministerium dem Kläger zu Beginn des Schuljahres 2007 / 08 eine Lehrerstelle an einer Realschule an. Dort unterrichtet er seither, ohne dass irgendwelche Beanstandungen bekannt geworden wären.
VI. Der Mensch als unvollkommenes Wesen Der Mensch steht zwischen „Gut“ und „Böse“ und kann sich also auch der „Teleologie der Unwerte“ verschreiben. Nach christlicher Lehre gründet dies auf der Erbsünde, d. h. dem seit der Ursünde des ersten Menschen im Menschengeschlecht vererbten Verlust der ursprünglichen Gnade, der unverdienten Kindschaft Gottes. Im Gefolge dieser Erbsünde entstehe die auch zu „Unwerten“ drängende Unordnung menschlicher Kräfte; Geiz, Zorn, Neid, Genusssucht, Stolz, Faulheit und Unzucht werden in unserem Kulturkreis seit jeher als Todsünden begriffen. Beim Verwaltungsgerichtshof steht der Mensch als unvollkommenes Wesen vor allem im
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Bereich des Disziplinarrechts im Zentrum. Hier wird der Verwaltungsrichter, auch wenn eine Disziplinarmaßnahme juristisch nicht als „Doppelbestrafung“ verstanden wird, doch schon zum strafenden Richter und zum Richter, der die Integrität im Bereich der öffentlichen Verwaltung – auch durch Entfernung des unvollkommenen Beamten aus dem Dienste – wieder herstellen soll. Zwei Personengruppen finden sich in diesem Zusammenhang relativ häufig vor der Richterbank des Verwaltungsgerichtshofs: Der „schlagende Lehrer“ sowie der „klauende Polizist“. Dies hat allerdings in keiner Weise etwas mit diesen Berufsgruppen selbst zu tun, sondern ist reines Gesetz der Masse. In Baden-Württemberg gibt es über 98.000 Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen sowie rund 32.000 Polizistinnen und Polizisten. Gäbe es in Baden-Württemberg vergleichbar viele Richterinnen und Richter, und nicht, wie derzeit, insgesamt nur etwas über 2.000, würde wohl auch unsere Berufsgruppe disziplinarrechtlich auffallen. Denn menschliche Unvollkommenheit existiert in jeder gesellschaftlichen Gruppierung. So kann die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch insoweit als Spiegel und im Spiegel der Gesellschaft betrachtet werden.
Volksbegehren und überholendes Parlamentsgesetz Anmerkungen zu einem Thüringer Verfassungskonflikt Von Christoph Degenhart* Es war das Volk, das im Zuge der „deutschen Revolution von 1989“, wie sie Wilfried Fiedler im Handbuch des Staatsrechts zur Einheit Deutschlands so eindrücklich beschreibt,1 Demokratie für die Länder der ehemaligen DDR erstritten hat. So sprechen denn auch die Verfassungen der neu gebildeten Länder dem Volk hinreichende demokratische Reife zu, um in direkter Demokratie an der Ausübung staatlicher Gewalt teilzuhaben. Mit dem Fall eines Verfassungskonflikts zwischen direktdemokratischer und parlamentarischer Gesetzgebung befasst sich nachstehender Beitrag. I. Konfliktpotentiale im Verhältnis von volksinitiierter und parlamentarischer Gesetzgebung: das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen“ Direktdemokratische Gesetzgebung ist in den Verfassungen aller Bundesländer vorgesehen und stellt auch auf Bundesebene eine zumindest mittelfristige Option dar. Mit zunehmender Akzeptanz und zunehmendem Gebrauchmachen vom Instrumentarium direkter oder sachunmittelbarer Demokratie2 erwächst Konfliktpotential im Verhältnis von direktdemokratischer und parlamentarischer Gesetzgebung. So kann sich eine Parlamentsmehrheit veranlasst sehen, ein durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz kurzfristig aufzuheben, insbesondere dann, wenn dieses Gesetz durch im Land in Opposition befindliche politische Kräfte angestoßen wurde. Direktdemokratische Gesetzgebung kann also als Handlungsinstrument auch der * Der Verfasser weiß sich dem Jubilar verbunden, seitdem er – seinerzeit wissenschaftlicher Assistent – von ihm Mitte der siebziger Jahre die redaktionelle Arbeit für das Archiv des öffentlichen Rechts übernommen hat; der nachstehende Beitrag enthält Auszüge aus einem Gutachten, das der Verfasser dem Thüringer Landtag erstellt hat; der Verfasser war Vertreter des Landtags im Verfahren vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof. 1 Vgl. Wilfried Fiedler, Die deutsche Revolution von 1989: Ursachen, Verlauf, Folgen, in: HStR VIII, 1995, § 184. 2 Umfassende Darstellung bei Peter Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009.
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Opposition eingesetzt werden. Eine parlamentarische Mehrheit kann aber auch versuchen, einer Volksinitiative den „Wind aus den Segeln zu nehmen“, indem sie sich ihrerseits ihres Gegenstands annimmt und ein Gesetz zum gleichen Gegenstand auf den Weg bringt. Diese Konfliktlage bestand im Freistaat Thüringen in der letzten Legislaturperiode in verschärfter Form. Ein Volksbegehren für „Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen“ zielte auf Erleichterungen in den Bestimmungen der Thüringer Kommunalordnung (ThürKO) über Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Es war am 21. Januar 2008 gemäß § 13 Abs. 1 ThürBVVG3 von der Präsidentin des Landtags bekannt gemacht worden. Die Sammlungsfrist für das Volksbegehren lief vom 20. März 2008 bis zum 19. Juli 2008 und erhielt innerhalb dieses Zeitraums die Unterstützung von 235.530 gültigen Stimmen, also von mehr als 10 v. H. der Stimmberechtigten. Daraufhin wurde seitens der Ladtagspräsidentin am 23. Oktober 2008 die Zulässigkeit des Volksbegehrens festgestellt.4 Am 2. Mai 2008, also während der laufenden Sammlungsfrist für das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen“, wurde von Seiten der Mehrheitsfraktion im Thüringer Landtag ein konkurrierender Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht.5 Auch er sah den Abbau verfahrensmäßiger Hürden der ThürKO für Bürgerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid vor. Teilweise gingen die vorgesehenen Erleichterungen des Verfahrens über die im Volksbegehren vorgesehenen Änderungen hinaus, teilweise waren sie auch restriktiver, etwa in der Frage der Amtsstubensammlung anstelle der freien Sammlung. Der Entwurf wurde am 08. 05. 2008 in den Landtag eingebracht, nach intensiver Beratung in den Ausschüssen am 08. 10. 2008 in zweiter Lesung beraten und mehrheitlich angenommen und nach Ausfertigung durch die Landtagspräsidentin am 17. Oktober 2008 verkündet.6 Die konkurrierende parlamentarische Gesetzesinitiative war also eingebracht worden, während das Volksbegehren im Gang befindlich war, und der Gesetzesbeschluss des Landtags war gefasst worden, nachdem das Volksbegehren abgeschlossen war; auch wenn sein Zustandekommen noch nicht festgestellt war, zeichnete sich doch klar ab, dass das notwendige Quorum deutlich überschritten würde.
3 Thüringer Gesetz über das Verfahren bei Bürgerantrag, Volksbegehren und Volksentscheid (ThürBVVG) vom 19. Juli 1994 (GVBl. S. 918) in der vom 31. Dezember 2003 an geltenden Fassung gem. Bek. v. 23. Februar 2004, GVBl. S. 237. 4 LT-Drucks. 4 / 4550. 5 LT-Drucks. 4 / 4084. 6 GVBl. S. 353.
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II. Problemstellung: Sperrwirkung des Volksbegehrens? Mit dem Volksbegehren für „Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen“ und dem aus der Mitte des Landtags7 eingebrachten Entwurf für ein „Thüringer Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und zur verbesserten Teilhabe an kommunalen Entscheidungsprozessen“ befanden sich also über einen längeren Zeitraum hinweg zwei Gesetzentwürfe zu einem teilweise identischen Regelungsgegenstand mit teils gleichlautenden, teils ähnlichen, teils auch sich widersprechenden Inhalten im Gesetzgebungsverfahren. Denn zum Gesetzgebungsverfahren ist auch das Stadium der Vorbereitung einer Gesetzesvorlage durch die Initiativberechtigten zu zählen.8 Die Initiativberechtigung liegt nach Art. 81 Abs. 1 ThürVerf beim Landtag, bei der Landesregierung und beim Volk, wobei parlamentarische Initiativen „aus der Mitte“ des Landtags, Volksinitiativen durch Volksbegehren einzubringen sind. So sieht denn auch der Thüringer Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 19. 09. 2001 spätestens von dem Zeitpunkt an, in dem die formalen Antragsvoraussetzungen erfüllt sind und „das Volksbegehren in Gang kommt“, den verfassungsmäßigen Prozess mit dem Ziel der Änderung des geltenden Rechts in Gang gesetzt. Von diesem Zeitpunkte an agieren die Initiatoren des Volksbegehrens als Träger staatlicher Gewalt.9 Ob es zulässig war, dass der Thüringer Landtag während eines laufenden Volksbegehrens seinerseits ein konkurrierendes Gesetz verabschiedete, dessen Inhalte in teils ähnlicher, teils abweichender Gestalt gleichzeitig auch Gegenstand des Volksbegehrens waren, war in der Folge Gegenstand eines Normenkontrollantrags, doch erledigte sich das Verfahren vor gerichtlicher Klärung der verfassungsrechtlichen Fragestellung. Ihr ist im Folgenden nachzugehen, wie auch der Frage, nach welchen Kriterien im Fall einer erfolgreich abgeschlossenen Volksgesetzgebung Normwidersprüche im Verhältnis von Parlamentsgesetz und volksbeschlossenem Gesetz aufzulösen sind. Gerade auch auf die Möglichkeit derartiger Normwidersprüche stützte sich der Normenkontrollantrag. Zentrale Fragestellung war die Vorgehensweise einer Landtagsfraktion, eine Gesetzesvorlage zum Gegenstand des Volksbegehrens in den Landtag einzubringen, wie auch die Entscheidung des Landtags, das Gesetz zu einem Zeitpunkt zu verabschieden, als die Sammlung der Unterschriften für das Volksbegehren bereits abgeschlossen, sein Zustandekommen jedoch noch nicht festgestellt, wenngleich der Bescheid über das Zustandekommen nach § 17 Abs. 2 ThürBVVG aber unmittelbar zu erwarten und vom Zustandekommen des Volksbegehrens auszugehen war. Unter beiden Aspekten, im Hinblick sowohl auf die Gesetzesinitiative als auf den Gesetzesbeschluss, steht damit eine Vgl. zum Initiativrecht der Fraktion § 49 Abs. 2 GOLT. Vgl. Joachim Linck / Siegried Jutzi / Jörg Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 81 Rdn. 2 sowie ThürVerfGH LKV 2002, 83 (88). 9 ThürVerfGH LKV 2002, 83 (88). 7 8
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Sperrwirkung eines Verfahrens der Volksgesetzgebung gegenüber dem der parlamentarischen Gesetzgebung in Frage.10
III. Zum Rangverhältnis volksinitiierter und parlamentarischer Gesetzgebung: keine Sperrwirkungen 1. Gleichrangigkeit der Gesetze Das Verhältnis von direktdemokratischer und parlamentarischer Gesetzgebung zu bestimmen, ist Sache der jeweiligen Landesverfassung. Für das Verhältnis zwischen den Gesetzen, die im Volksentscheid beschlossen wurden, und den im parlamentarischen Verfahren zustandegekommenen Gesetzen ist es vor allem die Befugnis des parlamentarischen Gesetzgebers zur Änderung des unmittelbar direktdemokratisch zustandegekommenen Gesetzes, die hier zur Diskussion steht,11 ist es das parlamentarische Gesetz, das sich in seiner Ebenbürtigkeit in Frage gestellt sieht,12 wenn etwa gefordert wird, der parlamentarische Gesetzgeber dürfe das im Wege des Volksentscheids beschlossene Gesetz jedenfalls während der laufenden Legislaturperiode nicht ändern. Eine Rangstufung zwischen dem durch Volksentscheid und dem durch das Parlament beschlossenen Gesetz wird jedoch mittlerweile nahezu einhellig abgelehnt13 – Gesetze der Volksgesetzgebung haben keinen anderen Rang als die des parlamentarischen Gesetzgebers.14 Dies gilt unabhängig von der Bedeutung, die der Volksgesetzgebung im Verhältnis zur parlamentarischen Gesetzgebung beigemessen, also auch dann, wenn ersterer eine nur ergänzende Rolle zuerkannt wird.15 Aus dieser verfassungsrechtlichen Gleichrangigkeit der Gesetze wird denn auch konsequent die verfassungsrechtlich prinzipiell nicht beschränkte wechselseitige Änderungsbefugnis gefolgert.16 10
Zur Problematik etwa Klaas Engelken, DVBl. 2005, 415; Martin Borowski, DÖV 2000,
481. Vgl. ausführlich hierzu HbgVerfG NVwZ 2005, 685. So in dem HbgVerfG NVwZ 2005, 685 zugrundeliegenden Fall, vgl. Engelken, DVBl. 2005, 415 (419); zur Weimarer Lehre s. z. B. Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (418). 13 Martin Borowski, DÖV 2000, 481 bezeichnet die Frage noch als unklar und umstritten, s. aber für die ThürVerf Joachim Linck / Siegried Jutzi / Jörg Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 82 Rdn. 19. 14 So ausdrücklich SächsVerfGH NVwZ 2003, 472 (473); ebenso HbgVerfG NordÖR 2005, 524 (526 f.); HbgVerfG NVwZ 2005, 685 (686); HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06, juris, Rdn. 93 ff.; BayVerfGH BayVBl 1977, 622 (627); BremStGH NVwZ-RR 2001, 1 (2); SaarlVerfGH NVwZ 1988, 245; Momme Jacobsen, DÖV 2007, 949 (954); Klaas Engelken, DVBl. 2005, 415 (419); Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (418); für Gleichrang auch Franz-Joseph Peine, Der Staat 18 (1979), 375 (390 f.), gleichwohl für begrenzte Änderungsbefugnis des parlamentarischen Gesetzgebers. 15 So bei BayVerfGH NVwZ-RR 2000, 401 (402). 11 12
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2. Keine Sperrwirkung im Verfahren a) Parlamentarische Gesetzgebung als Regelfall Die Frage der materiellen Gleichrangigkeit der Gesetze der Volksgesetzgebung und der des parlamentarischen Gesetzgebers ist zu unterscheiden von der Frage einer formellen Sperrwirkung im Gang befindlicher Gesetzgebungsverfahren – wenngleich funktionale Gleichwertigkeit der den Regelfall bildenden parlamentarischen Gesetzgebung mit der Gesetzgebung im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid auch für eine grundsätzlich gleichberechtigte Stellung der Beteiligten im Verfahren spricht, also dafür, dass diese ihre Befugnisse unabhängig voneinander wahrnehmen können.17 So werden die für die Gesetzgebung initiativberechtigten Verfassungsorgane18 in Art. 81 Abs. 1 ThürVerf ebenso nebeneinander aufgezählt, wie in Abs. 2 Landtag und Volk als für den Gesetzesbeschluss zuständig benannt. Wenn der Verfassungstext die unterschiedlichen Initiatoren für Gesetze dergestalt nebeneinander stellt, so spricht dies zunächst für deren gleichberechtigte Stellung. Auch Art. 45 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf spricht davon, dass das Volk, von dem gemäß Satz 1 alle Staatsgewalt ausgeht, seinen Willen durch „Wahlen, Volksbegehren und Volksentscheid“ betätigt. Allerdings will der Thüringer Verfassungsgerichtshof darin, dass in Art. 45 Satz 2 ThürVerf „entgegen der an sich angezeigten alphabetischen Reihenfolge“ für die Betätigung des Volkswillens zuerst „Wahlen“, dann erst „Volksbegehren und Volksentscheid“ genannt sind, eine inhaltlich-wertende Ordnung zum Ausdruck gebracht sehen.19 Er sieht dies auch dadurch bestätigt, dass in Art. 81 Abs. 1 ThürVerf zuerst der Landtag, dann die Staatsregierung, dann das Volk als initiativberechtigt genannt werden.20 Doch 16 SächsVerfGH a. a. O.; ebenso bereits SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (217); HbgVerfG NVwZ 2005, 685 (686), dort mit zahlr. Nw. aus RSpr. und Schrifttum. 17 SächsVerfGH a. a. O. 18 Zur Stellung des Volks als Verfassungsorgan im Zuge von Volksbegehren und Volksentscheid s. Peter M. Huber, Staatsrecht, in: Huber, Thüringer Staats- und Verwaltungsrecht, 2000, Rdn.1 / 185; insbesondere zur Beteiligtenfähigkeit der Vertrauensperson eines Volksbegehrens im Organstreitverfahren s. SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216; zur Beteiligtenfähigkeit der Volksinitiative HbgVerfG NVwZ-RR 2004, 672 sowie HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 03 / 06, juris; zum Tätigwerden des Volkes als eines verfassten Staatsorgans s. HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06, juris, Rdn. 94; s. auch HbgVerfG, U.v. 31. 03. 2006 – HVerfG 2 / 05 – = DVBl. 2006, 1590 zur Beendigung der Organstellung mit Abschluss des Volksgesetzgebungsverfahrens. 19 ThürVerfGH LKV 2002, 83 (89). 20 ThürVerfGH LKV 2002, 83 (90); – demgegenüber will etwa der Sächsische Verfassungsgerichtshof im Urteil vom 11. 07. 2002 aus der Reihung der Initiativberechtigten in Art. 70 Abs. 1 SächsVerf – Staatsregierung, Landtag und Volk – ebensowenig ein normatives Rangverhältnis ableiten, wie aus der Formulierung „Wahlen und Abstimmungen“ in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf, vgl. SächsVerfGH NVwZ 2003, 472 (473); vgl. zur materiellen Gleichrangigkeit bereits SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (217); auch das Hamburgische Verfassungsgericht vermag der Reihung der Initiativberechtigten in Art. 48 Abs. 1 HbgVerf, wonach Gesetzesvorlagen vom Senat, aus der Mitte der Bürgerschaft oder durch Volksbegeh-
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unabhängig davon, ob im Wortlaut der entsprechenden Bestimmungen der Thüringer Verfassung ein Anhaltspunkt für einen normativen Vorrang der parlamentarischen Gesetzgebung gesehen werden kann – ein Vorrang für die Gesetzgebung im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid, der zu einer wie immer gearteten Sperrwirkung führen könnte, ist dem Wortlaut der Verfassung jedenfalls nicht zu entnehmen. Wenn zudem nach der grundgesetzlich vorgegebenen und auch für das Landesverfassungsrecht im Grundsatz maßgeblichen repräsentativen Ausformung des Demokratieprinzips die parlamentarische Gesetzgebung den Regelfall bilden soll,21 so spricht dies jedenfalls gegen die Annahme einer Sperrwirkung der Volksgesetzgebung. Volksbegehren und Volksentscheid sollen als Korrektiv gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebung wirken,22 die in der repräsentativen Demokratie, wie sie in der Thüringer Verfassung verwirklicht ist, den Regelfall bildet. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof insbesondere weist der Gesetzgebung unmittelbar durch das Volk eine „eher ergänzende, das Parlament punktuell stimulierende Funktion“ zu,23 tritt hierbei der Aussage des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs bei, nach dem „Grundgedanken der Verfassung“ könne „das Volk nicht in größerem Umfang an die Stelle der kontinuierlich arbeitenden Repräsentativorgane treten“.24 Um zu dieser Aussage zu gelangen, bedurfte es an sich nicht des Rückgriffs auf „Grundgedanken“ der Verfassung – schon die konkrete Ausgestaltung der Gesetzgebung durch das Volk mit ihrem mehrstufigen Verfahren gewährleistet nach der bayerischen Verfassung ebenso wie nach der von Thüringen gleichermaßen, dass dieses Verfahren – vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof zutreffend als „aufwendig und teuer“ beschrieben – die Ausnahme bleiben wird. Faktisch besteht also in allen Ländern, die Volksgesetzgebung kennen, ein RegelAusnahme-Verhältnis;25 dies ist notwendige Konsequenz auch aus dem durchweg aufwendigen und langwierigen, mehrstufig ausgestalteten Verfahren. Auch im Hinblick auf dieses aufwendige und langwierige Verfahren der Gesetzgebung im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid sieht insbesondere für den Geltungsbereich der Thüringer Verfassung der Thüringer Verfassungsgerichtshof die tatsächliche Prävalenz der parlamentarischen Gesetzgebung auch verfassungsrechtlich geforren eingebracht werden, keine Rangstufung zu entnehmen, HbgVerfG NVwZ 2005, 685 (686); ebenso Martin Borowski, DÖV 2000, 481 (485) für die entsprechenden Bestimmungen der Schl-HolstVerf. 21 In diesem Sinn versteht z. B. auch der österreichische Verfassungsgerichtshof das Leitbild der repräsentativen Demokratie, vgl. VerfGH EuGRZ 2002, 63 (65 f., 69 f.). 22 Vgl. Karl Schweiger, BayVBl 2002, 65 (68); Josef Isensee, DVBl. 2001, 1161 (1167); BayVerfGH BayVBl 2000, 397 (399), BremStGH BayVBl 2000, 342 (343). 23 ThürVerfGH LKV 2002, 83 (90). 24 BayVerfGH BayVBl 2000, 397 (398). 25 Vgl. Meissner, in: Degenhart / Meissner, HdBSächsVerf, 1997, § 13 Rdn. 24 und Degenhart ebda, § 2 Rdn. 84; Przygode, Die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Demokratie, 1995, S. 386, 421.
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dert26 und folgert hieraus, dass sie auch verfassungsrechtlich abgesichert sein muss. Er zieht hieraus Folgerungen insbesondere für die Ausgestaltung des Verfahrens,27 dahingehend, dass die von ihm zugrundegelegte Prävalenz des Parlamentsgesetzes durch verfahrensmäßige Sicherungen gewährleistet sein muss. Inwieweit dem Verfassungsgerichtshof in den Folgerungen beizutreten ist, die hieraus für die Bestimmung der Quoren für Volksbegehren und Volksentscheid gezogen werden, kann hier dahinstehen.28 Mit einem verfassungsrechtlichen Vorrang der parlamentarischen Gesetzgebung im Verhältnis zur Volksgesetzgebung sind jedenfalls generelle Sperrwirkungen letzterer gegenüber ersterer nicht vereinbar. Doch selbst dann, wenn man das Regel-Ausnahme-Verhältnis rein faktisch begründet sehen will – und dies erscheint vorzugswürdig –, würde eine generelle Sperrwirkung zu einer Behinderung des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens führen, die mit der verfassungsrechtlich begründeten Notwendigkeit eines arbeitsfähigen Parlaments nicht vereinbar wäre.29 b) Gleichberechtigte Stellung im Verfahren Eine für den Geltungsbereich einer Landesverfassung wie der Thüringer Verfassung jedenfalls faktisch vorauszusetzende Prävalenz der parlamentarischen Gesetzgebung bedingt also die verfahrensmäßige Sicherung ihrer bestimmenden Funktion durch hinreichende Anforderungen an die Ernsthaftigkeit der volksinitiierten Gesetzgebung. Sind diese Anforderungen erfüllt, so begegnen sich jedoch im Gesetzgebungsverfahren die Gesetzesinitiatoren dann jedenfalls, wenn eine wirksame Gesetzesinitiative vorliegt, das Volksbegehren insbesondere zustandegekommen ist, verfassungsrechtlich auf gleicher Augenhöhe. Dies wird deutlich aus der Befassungspflicht des Landtags, die freilich dann erst besteht, wenn mit dem Zustandekommen des Volksbegehrens die Initiatoren den Nachweis ihrer demokratischen Legitimation erbracht haben;30 dies wird deutlich aus der wechselseitigen Zuordnung des Art. 82 Abs. 7 ThürVerf. Die im Wege des Volksbegehrens zustandegekommene Gesetzesinitiative wird Gegenstand der parThürVerfGH LKV 2002, 83 (90). ThürVerfGH a. a. O. – insbesondere zu einer „Abschmelzung“ der verfahrensmäßigen Sicherungen für die Prävalenz des Parlamentsgesetzes durch das seinerzeitige Volksbegehren zur Änderung der Landesverfassung. 28 Der Verf. hat sich hierzu im Vorfeld des Verfahrens geäußert, vgl. Degenhart, Volksgesetzgebungsverfahren und Verfassungsänderung nach der Verfassung des Freistaates Thüringen, in: Neumann (Hrsg.), Sachunmittelbare Demokratie im Freistaat Thüringen, Baden-Baden 2002, S. 37 – 90 sowie ders., ThürVBl 2001, 201 – 211. 29 Vgl. zum topos der Funktionsfähigkeit als Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung Lerche, BayVBl 1991, 517 ff.; insbesondere für das Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des Art. 81 ThürVerf s. Joachim Linck / Siegried Jutzi / Jörg Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 81 Rdn. 4. 30 Vgl. Josef Isensee, DVBl. 2001, 1161 (1166). 26 27
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lamentarischen Beratung und hat hierin den gleichen verfassungsrechtlichen Stellenwert wie die aus der Mitte des Landtags eingebrachte Initiative; andererseits ist der Landtag nach Art. 82 Abs. 7 Satz 1 2. Halbs. ThürVerf befugt, aber nicht verpflichtet, über die Mitvorlage eines eigenen Gesetzesentwurfs zum Volksentscheid neben dem Volksbegehren initiativ zu werden, eine eigene Gesetzesinitiative in den Volksentscheid einzubringen. Der volksinitiierte Entwurf kann vom Parlament, der vom Parlament initiierte Entwurf kann vom Volk beschlossen werden. Staatsvolk und Parlament agieren also im jeweiligen Gesetzgebungsverfahren als gleichberechtigte Beteiligte am Verfassungsleben, gleichermaßen durch die Verfassung mit Kompetenzen ausgestattet.31 c) Fehlende Sperrwirkung Auch soweit also dem Volk und dem parlamentarischen Gesetzgeber für den Geltungsbereich der Thüringer Verfassung keine generell gleichberechtigte Teilhabe an der Gesetzgebung als Staatsfunktion zuerkannt wird, so ist doch ihre verfahrensmäßige Stellung im jeweils konkret eröffneten Gesetzgebungsverfahren im Grundsatz ebenso gleichberechtigt, wie die jeweils beschlossenen Gesetze materiell gleichrangig sind, also auch das volksbeschlossene Gesetz keinen höheren Rang genießt. Daher kann jeder der Beteiligten seine Kompetenzen unabhängig von Vorhaben des konkurrierenden Beteiligten wahrnehmen.32 Generelle Sperrwirkungen konnten ausgeschlossen werden.33 Dies betrifft die Einleitung von Gesetzgebungsvorhaben und deren Durchführung, also das Einbringen der Gesetzesinitiative und deren Behandlung im parlamentarischen Verfahren. Dies betrifft auch den Gesetzesbeschluss und die wechselseitige Abänderbarkeit der Gesetze im Verhältnis von parlamentarischem Gesetzgeber und Volksgesetzgeber. Für eine Verpflichtung etwa, das parlamentarische Verfahren, nachdem der Gesetzentwurf die vorgesehenen Beratungen durchlaufen hat, vor der abschließenden Abstimmung über das Gesetz anzuhalten, ergeben sich keine Anhaltspunkte. Eben dies würde der gleichberechtigten Stellung der Beteiligten widersprechen. Die Befugnis des Landtags, einen Gesetzentwurf konkurrierend im Volksentscheid zur Abstimmung zu stellen, schmälert nicht seine regulären, von der Verfassung vorausgesetzten Gesetzgebungsbefugnisse. Sperrende Vorwirkungen künftiger Gesetzgebung kommen im Verhältnis gleichrangiger Normen nicht in Betracht.34
Vgl. ThürVerfGH LKV 2002, 83 (90). SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (217). 33 HbgVerfG, U.v. 30. 11. 2005, HVerfG 16 / 04, juris = DVBl. 2006, 650. 34 Auch für höherrangige Normen dies weitgehend ausschließend Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1973, S. 39 ff. 31 32
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3. Ergebnis: keine Sperrwirkung – Verfassungsorgantreue als Schranke der Kompetenzausübung? Im Ergebnis ist also eine generelle Sperrwirkung der Volksgesetzgebung ausgeschlossen. Dies schließt wechselseitige Bindungen in konkreten Verfahrensstadien nicht aus. Denn wenn auch Volksgesetzgeber und parlamentarischer Gesetzgeber ihre Vorhaben unabhängig voneinander verwirklichen können, stehen sie doch nicht beziehungslos nebeneinander, wie schon aus der Verflechtung der wechselseitigen Initiativ- und Entscheidungsbefugnisse im Rahmen des Art. 82 Abs. 7 ThürVerf deutlich wird.35 Wenn hier die Beteiligten am Verfassungsleben kompetenziell befugt sind, konkurrierend auf identische Materien Zugriff zu nehmen, ergeben sich jene wechselseitigen Einwirkungsmöglichkeiten, wie sie für die Kompetenzordnung im gegliederten Staatswesen kennzeichnend sind. Ähnlich, wie Kompetenzträger im Bund-Länder-Verhältnis durch den Grundsatz des bundesfreundlichen bzw. länderfreundlichen Verhaltens in der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen verfahrensmäßigen Bindungen im Sinn einer Verpflichtung zu wechselseitiger Rücksichtnahme unterworfen werden, werden vergleichbare Bindungen auch im Verhältnis von Verfassungsorganen untereinander in Ansatz gebracht, als ein ungeschriebenes Prinzip der Verfassungsorgantreue,36 wie es von der Rechtsprechung in der Tat im Verhältnis von parlamentarischem Gesetzgeber und Volksgesetzgeber herangezogen wurde37 – ohne dass es bisher zu einer konkreten Begrenzung der Befugnisse des parlamentarischen Gesetzgebers geführt hätte.38
35 Diese wechselseitige Verflechtung spricht i.ü. auch gegen den Ansatz von Franz-Joseph Peine, Der Staat 18 (1979), 375 (398 f.), der in Anwendung einer kompetenzrechtlich begründeten actus primus – actus contrarius – Theorie die Änderung des volksbeschlossenen Gesetzes nur durch Volksentscheid zulassen will (unter Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus), da mit dem Parlament und dem Volk zwei Gesetzgebungsorgane bestünden. 36 BVerfGE 35, 1 (39); 89, 155 (191); 119, 96 (120, 122); SächsVerfGH, U. v. 29. 02. 2008 – Vf. 87-I- 06, juris, Rdn. 97; zum Grundsatz der Organtreue bei Volksentscheiden s. BerlVerfGH, U. v. 27. 10. 2008 – 86 / 08 –, juris, Rdn. 76 ff.; HbgVerfG NVwZ 2005, 252; zur Anwendung des Grundsatzes der Organtreue auf die kommunale Ebene für das Verhältnis von Gemeindeorganen und Bürgern im Rahmen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid s. VG Gelsenkirchen, B. v. 12. 04. 2006 – 15 L 382 / 06 –, juris; 15 L 382 / 06; zur ausdrücklich durch Gesetz angeordneten Sperrwirkung eines Bürgerbegehrens s. VG Arnsberg, B. v. 30. 10. 2008 – 12 L 760 / 08 –. 37 Dagegen Peine, Der Staat 18 (1979), 375 (396 f.). 38 So bei HbgVerfG a. a. O.; s. auch SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (217).
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IV. Bindungen und Sperrwirkungen im konkreten Verfahren – Verfassungsorgantreue? 1. Verfassungsorgantreue: Geltung und grundsätzliche Bedeutung a) Organtreue als Verfassungsprinzip Der Grundsatz der Organtreue begründet eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Pflicht aller Verfassungsorgane, bei Inanspruchnahme ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen auf die Interessen der anderen Verfassungsorgane Rücksicht zu nehmen,39 es geht, so das Bundesverfassungsgericht, um Sorgfaltspflichten bei der Wahrnehmung verfassungsrechtlicher Kompetenzen im Interesse der angemessenen Wahrung von Rechten und Interessen eines anderen Verfassungsorgans.40 Im Vergleich etwa zum Grundsatz der Bundestreue oder auch der Gemeinschaftstreue im Verhältnis der Mitgliedstaaten zur EU ist der Verfassungsgrundsatz der Verfassungsorgantreue in seinen Konturen eher unscharf ausgeprägt41 und sind seine Anwendungsfälle begrenzt.42 Dies liegt zum einen daran, dass das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander eminent politischer Natur ist, politisches Wirken aber keine Sache perfekter verfassungsrechtlicher Kautelen sein kann.43 Soweit das Verhältnis von Verfassungsorganen zueinander demgegenüber positiv verfassungsrechtlich normiert ist, geht es um Kompetenzen und Verfahren – Materien, die in besonderer Weise auf Rechtssicherheit durch Formalisierung angewiesen sind. Gesichtspunkte wie die des „treuwidrigen“ Verhaltens, des Rechtsmissbrauchs oder der Umgehung sollten daher zurückhaltend eingesetzt werden.44
39 BVerfGE 45, 1 (39); 89, 155 (191); 90, 286 (337); 119, 96 (122, 125); HbgVerfG NVwZ 2005, 685; VerfGH Brandenburg NVwZ-RR 2003, 798 (799); VerfGH Saarland NVwZ-RR 2003, 81 (82). 40 BVerfGE 119, 96 (122, 125): Kompetenz der Bundesregierung zur Einbringung des Haushaltsgesetzes. 41 Eine gewisse Vernachlässigung konstatiert Wolf-Rüdiger Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 22 ff.; neben der monographischen Aufbereitung durch Schenke ist vor allem die umfassende Untersuchung von Alexander Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001 zu nennen. 42 Vgl. BVerfGE 29, 221; 89, 155; 90, 286; 119, 96. 43 S. hierzu Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Rdn. 30 f., 269. 44 Dies wird auch in der Begriffsprägung von Alexander Lorz – Interorganrespekt – deutlich, s. dessen gleichnamige Monographie von 2001.
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b) Geltung im Verhältnis Landtag – Volk Als Voraussetzung für die Berufung auf den Grundsatz der Organtreue nennt die Rechtsprechung insbesondere des Hamburgischen Verfassungsgerichts zunächst die Stellung eines Verfassungsorgans oder doch eines mit vergleichbaren verfassungsmäßigen Kompetenzen ausgestatteten Beteiligten. Diesem müssen zum zweiten aktuell verfassungsrechtliche Kompetenzen zustehen.45 In der Verwaltungsrechtsprechung wird der Grundsatz der Organtreue auch auf die kommunale Ebene und dort auf das Verhältnis zwischen den Gemeindebürgern und den Organen der Gemeinde bei Bürgerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid übertragen.46 Angesichts der jedenfalls partiell gleichgeordneten Stellung im Verfahren ebenso wie der Gleichrangigkeit der das Verfahren abschließenden Gesetzesbeschlüsse, der Ausstattung des Staatsvolks mit eigenen Kompetenzen in der Gesetzgebung,47 erscheint es im Ansatz gerechtfertigt, Gesichtspunkte der Verfassungsorgantreue auch in das Verhältnis zwischen den Trägern der parlamentarischen Gesetzgebung und den Trägern von Volksbegehren und Volksentscheid einzubringen,48 muss den Beteiligten hier im Grundsatz die Berufung auf ein Verfassungsprinzip der Organtreue eröffnet sein. Demgemäß hat das Hamburgische Verfassungsgericht für den Fall der Änderung eines kurz zuvor im Wege des Volksentscheid beschlossenen Gesetzes das Parlament darauf verpflichtet, bei der Beschlussfassung über das Gesetz sich nicht leichtfertig über den durch Volksentscheid zum Ausdruck gebrachten Volkswillen hinwegzusetzen, sondern diesen zu würdigen und in seine Abwägung einzustellen.49 Wie das vergleichbar strukturierte Gebot der Bundestreue50 bestimmt also auch das Gebot der Organtreue vor allem das „procedere“ im Verhältnis der Beteiligten im Verfassungsrechtsverhältnis, die Art und Weise ihres Vorgehens in Fragen von wechselseitigem Interesse.51 Ähnlich wie der Grundsatz der Bundestreue im Rahmen der bundesstaatlichen Kompetenzordnung,52 wirkt im Rahmen der konkurrierenden Kompetenzen des parlamentarischen Gesetzgebers und des Volks der Grundsatz der Organtreue als Schranke gegenüber missbräuchlicher Kompetenzwahrnehmung.53 HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 03 / 06, juris, LS 5. VG Gelsenkirchen, B. v. 12. 04. 2006 – 15 L 382 / 06 –, juris; VG Arnsberg, B. v. 30. 10. 2008 – 12 L 760 / 08 –. 47 Vgl. ThürVerfGH LKV 2002, 83 (88). 48 S. auch Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (422 ff.). 49 HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06, juris, Rdn. 99; zur Rspr. des HbgVerfG s. Ernst Gottfried Mahrenholz, NordÖR 2007, 11 ff.; Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (420 ff.). 50 Wolf-Rüdiger Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 22. 51 Vgl. für das Bund-Länder-Verhältnis grundlegend BVerfGE 12, 205 (254 ff.). 52 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Rdn. 268 ff. 53 Wolf-Rüdiger Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 43 f. 45 46
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In Anbetracht jedoch der mehrstufigen Ausgestaltung des Verfahrens ist der Tragweite des Prinzips und auch der Frage, wer konkret Zuordnungssubjekt ist,54 für die einzelnen Verfahrensstufen ebenso gesondert nachzugehen wie den möglichen Rechtsfolgen aus einem etwaigen Verstoß gegen diesen Verfassungsgrundsatz, sollte ein solcher Verstoß denn anzunehmen sein. 2. Bedingte Geltung im Initiativstadium a) Verfassungsrechtsverhältnis? Voraussetzung dafür, ein Gebot der Organtreue in Ansatz zu bringen, ist jedoch, dass im fraglichen Zeitpunkt, also etwa dem der Einbringung eines Gesetzentwurfs aus der Mitte des Landtags bereits ein Verfassungsrechtsverhältnis besteht, das eine Verpflichtung zur Organtreue aktualisieren könnte. So ist im Zeitpunkt des Antrags auf Zulassung eines Volksbegehrens und auch während der laufenden Sammlungsfrist das Zustandekommen des im Entwurf dem Volksbegehren zugrundeliegenden Gesetzes noch zu ungewiss, um bereits inhaltliche Bindungen des parlamentarischen Gesetzgebers, sei es auch nur im Sinn einer Verpflichtung zur Abwägung, wie sie für den Gesetzesbeschluss in Ansatz gebracht wird,55 zu begründen. Will der parlamentarische Gesetzgeber ein durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz aufheben oder abändern, wozu er befugt ist, so wird für ihn aus einem Gebot der Organtreue eine Verpflichtung abgeleitet, auf den Volksgesetzgeber und dessen im Volksentscheid zum Ausdruck gebrachten Willen Rücksicht zu nehmen, ihn zu würdigen und sich im Verfahren damit auseinanderzusetzen. 56 Soweit hieraus eine Verpflichtung abgeleitet werden soll, ein Gesetzgebungsvorhaben ausnahmsweise aufzuschieben, kann hierfür der maßgebliche Zeitpunkt frühestens der Zeitpunkt der Feststellung des Zustandekommens des Volksbegehrens sein,57 und auch dies allenfalls ganz ausnahmsweise bei Hinzutreten besonderer Umstände. In einem frühen Verfahrensstadium, wenn sich, wie hier, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren noch im Stadium der Gesetzgebungsinitiative befindet und das Volksbegehren noch nicht zustandegekommen ist, fehlt es an einem feststellbaren Willen des Volksgesetzgebers.
Vgl. Rossi / Lenski, DVBl. 2008, 416 (422). HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06, juris, Rdn. 99. 56 HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06, juris, Rdn. 99. 57 Dahin tendiert auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof in SächsVBl 1998, 216 (218). 54 55
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b) Missbrauchsschranke Doch auch wenn man darauf abstellen wollte, dass nach der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Verfahrens der Volksgesetzgeber bereits für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Volksbegehrens mit eigenen Rechten ausgestattet ist, muss der parlamentarische Gesetzgeber in diesem Stadium erst recht frei darin sein, seine gesetzgebungspolitischen Ziele zu verwirklichen. Hiervon auch nur temporär Abstand zu nehmen, kann vom parlamentarischen Gesetzgeber grundsätzlich nicht verlangt werden – wie ja auch der Volksgesetzgeber ohne Rücksicht auf ein im Gang befindliches parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren initiativ werden kann.58 Soweit man also bereits in diesem Stadium des Verfahrens der Volksgesetzgebung den Grundsatz der Organtreue zur Geltung bringen wollte, kann dies allenfalls eine äußerste Missbrauchsschranke bezeichnen, im Sinn des übergreifenden allgemeinen Missbrauchsverbots. Dass es den Initiatoren eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens auch darum gehen mag, einem Volksbegehren zuvorzukommen, mag eine Frage der politischen Bewertung, kann aber nicht Gegenstand verfassungsrechtlicher Kautelen sein und ist für die verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzgebungsverfahrens unerheblich. Dies gilt auch generell für die Erwägung, ob das parlamentarische Gesetz von vornherein als politische Antwort auf das Volksbegehren gedacht war. Die politische Motivation für die Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens zu erforschen und zu bewerten, ist nicht Funktion des Verfassungsrechts. Anders mag dies zu beurteilen sein, wenn es dem parlamentarischen Gesetzgeber darum ging, durch formale oder marginale Änderungen dem im Gang befindlichen Verfahren der Volksgesetzgebung dadurch die Grundlage zu entziehen, dass sich die durch Volksbegehren vorgeschlagenen Gesetzesänderungen technisch nicht mehr in das Gesetz einfügen lassen.59 Es muss daher bei dem Grundsatz verbleiben, dass der Landtag in aller Regel nicht gehalten sein kann, ein Gesetzgebungsvorhaben auch nur zeitweise zurückzustellen. Dies vom Landtag zu verlangen, kann, so der Sächsische Verfassungsgerichtshof „allenfalls ganz ausnahmsweise“ in Erwägung gezogen werden. Er nennt als entscheidendes Kriterium hierfür – neben einem bereits weit fortgeschrittenen Verfahren, in jedem Fall dem erfolgreichen Abschluss des Volksbegehrens – eine Situation, in der der Landtag durch seine Gesetzgebung gleichsam „vollendete Tatsachen“ schaffen würde, wenn ein parlamentarisches Gesetz aus verfassungsrechtlichen oder tatsächlichen Gründen nur schwer revidierbar wäre.60
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HbgVerfG, U.v. 30. 11. 2005, HVerfG 16 / 04, juris = DVBl. 2006, 650. Vgl. Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (423). SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (218).
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3. Parlamentarische Befassung und Gesetzesbeschluss a) Verpflichtung zu parlamentarischer Behandlung der Gesetzesinitiative Der Landtag war nach Eingang der Gesetzesinitiative gehalten, den Gesetzentwurf dem parlamentarischen Verfahren zuzuführen, ihn zu beraten und darüber Beschluss zu fassen.61 Auch im Stadium der parlamentarischen Beratung kann der Landtag dabei grundsätzlich nicht verpflichtet sein, ein im Gang befindliches Gesetzgebungsvorhaben zurückzustellen; soweit dies ausnahmsweise gleichwohl in Erwägung gezogen werden sollte, ist jedenfalls wiederum zu fordern, dass zum einen das Volksbegehren zustandegekommen ist, andererseits die parlamentarische Gesetzgebung aus tatsächlichen oder verfassungsrechtlichen Gründen nicht oder nur erschwert rückgängig gemacht werden könnte.62 Angesichts des gleichberechtigten Nebeneinanders des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens und der Gesetzgebung im Wege des Volksbegehrens und Volksentscheids kann der parlamentarische Gesetzgeber auch während der parlamentarischen Behandlung der Gesetzesinitiative aus der Mitte des Landtags nur unter ganz besonderen Umständen verpflichtet, ja überhaupt erst berechtigt sein, von diesem Verfahren Abstand zu nehmen – wie ja generell das Gebot der Organtreue nicht auf eine Durchbrechung der bestehenden Kompetenzordnung gerichtet ist, sondern in aller Regel nur Direktiven geben kann für die Wahrnehmung bestehender Kompetenzen. b) Organtreue und Berücksichtigungspflicht bei Beschlussfassung des Landtags? Eine Bindung des Landtags durch ein Gebot der Organtreue kann daher allenfalls eine Verpflichtung des Landtags bedeuten, im Rahmen der parlamentarischen Behandlung der Gesetzesinitiative wie schließlich auch beim Gesetzesbeschluss sich in ähnlicher Weise mit dem volksinitiierten Gesetzesvorhaben auseinanderzusetzen, wie dies für die parlamentarische Änderung oder Aufhebung eines im Volksentscheid beschlossenen Gesetzes gefordert wird.63 Für derartige Vorwirkungen des Volksentscheids64 könnte insbesondere der prozedurale Charakter des Gebots der Organtreue sprechen. Wenn sich andererseits der Volkswille noch nicht im Volksentscheid manifestiert hat und angesichts der noch ausstehenden Feststellung des Zustandekommens des Volksbegehrens nach § 17 Abs. 2 Satz 1 ThürBVVG noch keine formelle Gesetzesinitiative vorliegt, kann es sich hierbei allenfalls um eine inhaltlich nicht determinierte Verpflichtung zur Berücksichtigung der im Ent61 62 63 64
Vgl. BVerfGE 84, 304 (329). SächsVerfGH SächsVBl 1998, 216 (218). Insbesondere durch HbgVerfG, U.v. 27. 04. 2007, HVerfG 04 / 06. Vgl. auch Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1973, S. 56 ff.
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stehen begriffenen Volksinitiative handeln, für die fraglich ist, ob es sich hierbei um eine Frage des politischen Stils oder bereits um eine justitiable Frage von verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten im Verhältnis von Verfassungsorganen oder anderen mit eigenen Rechten ausgestatteten Beteiligten des Verfassungslebens handelt. Auch hier muss gelten, dass politisches Wirken nicht abschließend verfassungsrechtlich determiniert, in verfassungsrechtliche Kautelen eingebunden sein kann.65 V. Volksbegehren, überholendes Parlamentsgesetz und Volksentscheid – zur Behandlung von Normwidersprüchen 1. Der Gegenstand des Volksentscheids – Festlegung im Volksbegehren Die Gleichrangigkeit von direktdemokratischer und parlamentarischer Gesetzgebung schließt Sperrwirkungen in jeder Richtung aus. Wird also während des laufenden Volksbegehrens das zwischenzeitlich eingebrachte Parlamentsgesetz verabschiedet, so hindert dies wiederum nicht den Volksentscheid. Was dann Gegenstand des Volksentscheids ist, könnte dann fraglich sein, wenn, wie im Fall der konkurrierenden Änderungen der Bestimmungen über Bürgerantrag und Bürgerentscheid in Thüringen, das Gesetz, auf das das Volksbegehren sich bezieht, zwischenzeitlich durch Parlamentsgesetz geändert wurde. Bezugspunkt des Volksbegehrens aber war das Gesetz, so wie es bei Zulassung des Volksbegehrens galt, und mit diesem Inhalt wird es dem Volksentscheid unterbreitet. Mit der Bekanntmachung des Volksbegehrens spätestens steht dessen Inhalt fest. Im Fall seines Zustandekommens kommt es mit eben diesem Inhalt, mit dem es bekannt gemacht und zugelassen wurde zustande. Dem Volk werden dann im Volksentscheid diejenigen Gesetzesänderungen zur Abstimmung vorgelegt, die Gegenstand des Volksbegehrens waren. Denn nur hierfür vermag das Volksbegehren die erforderliche demokratische Legitimation66 zu vermitteln.67 2. Änderungsbefehle im Volksentscheid und Normwidersprüche a) Ausgangspunkt: lex posterior-Regel Richtet sich nun der Änderungsbefehl des Volksentscheids auf eine Norm, die durch die zwischenzeitliche (parlamentarische) Gesetzesänderung nicht berührt 65 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Rdn. 267 f. 66 Vgl. grundsätzlich zu deren Erfordernis ThürVerfGH LKV 2002, 83. 67 Vgl. auch ThürVerfGH ThürVBl 2008, 56 zur fehlenden Abänderbarkeit eines Volksbegehrens.
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wurde, so ist sie ohne weiteres Gegenstand dieses Änderungsbefehls. Richtet dieser sich jedoch auf eine Norm, die zwischenzeitlich geändert wurde, so bezieht sich der im Volksentscheid zu beschließende Änderungsbefehl gleichwohl weiterhin auf die Norm in ihrer ursprünglichen Fassung – deren Änderung wird dem Stimmvolk zur Entscheidung unterbreitet. Im Fall eines Normwiderspruchs gilt dann nach der lex-posterior-Regel diese Bestimmung in der durch den Volksentscheid geänderten Fassung. b) Normwidersprüche Normwidersprüche können gleichwohl auftreten. Sie sind im Wege der Auslegung der dem Volksentscheid zugrundeliegenden Änderungsbefehle aufzulösen. Wenn auch der Inhalt des Volksbegehrens und damit der Gegenstand des Volksentscheids mit dessen Feststellung des Volksbegehrens feststehen, ist es doch weiterer Auslegung zugänglich. Am Beispiel des Widerspruchs zwischen offener Sammlung und Amtsstubensammlung im Fall der Änderung des Thüringer Kommunalrechts kann dies beispielhaft verdeutlicht werden. In ihrer ursprünglichen Fassung sah die ThürKO offene Sammlung der Unterschriften zur Unterstützung des Volksbegehrens vor. Die entsprechende Bestimmung in § 17 Abs. 4 ThürKO sollte durch den Volksentscheid nicht geändert werden, wohl aber wurde sie durch das Parlamentsgesetz geändert, im Sinn der Amtsstubensammlung. Zur Intention des Volksbegehrens stünde dies in eklatantem Widerspruch. Für derartige Fälle bedarf der Änderungsbefehl im volksbeschlossenen Gesetz näherer Bestimmung. c) Zur Auslegung der Änderungsbefehle im Volksentscheid Hierfür kommt zum einen eine enge Auslegung in Betracht, die in der Tat nur die ausdrücklichen Änderungen des Gesetzes durch den Volksentscheid als dessen Inhalt sieht, mit der Konsequenz, dass etwaige zwischenzeitliche Änderungen durch das Gesetz des Landtags, die hiervon nicht unmittelbar tangiert werden, unverändert Bestand haben – müsste es im genannten Beispiel bei der Bestimmung über die Amtsstubensammlung bleiben. Dies könnte dann in der Tat den Manipulationsvorwurf provozieren.68 Doch ist diese Auslegung keineswegs zwingend. Im Fall der Änderung der ThürKO lautete die übergeordnete Eingangsformel zum Gesetzentwurf des Volksbegehrens: „Die Thüringer Kommunalordnung in der Fassung vom 28. Januar 2003 (GVBl. S. 41), zuletzt geändert . . . wird wie folgt geändert:“. Damit aber sollte über diesen Antrag entschieden werden: Die ThürKO, in der Fassung, wie sie im Volksbegehren benannt wurde, sollte die im Gesetzentwurf des Volksbegehrens vorgesehenen Änderungen erfahren, im Übrigen aber unverän68 Vgl. Matthias Rossi / Sophie-Charlotte Lenski, DVBl. 2008, 416 (423); dies ist wohl auch maßgeblicher Angriffspunkt von Hans Meyer in der Begründung seiner Organklage und abstrakten Normenkontrolle im Schriftsatz vom 22. Dezember 2008.
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dert bleiben, sollte also nach erfolgreichem Volksbegehren und Volksentscheid in eben dieser Fassung und mit den vorgeschlagenen Änderungen gelten. Hierzu wäre die zwischenzeitliche parlamentsgesetzliche Änderung in Widerspruch geraten; sie wäre, wäre es zum Volksentscheid gekommen, derogiert worden. In den Gesetzesabschnitten jedenfalls, die durch einen Volksentscheid tangiert werden, ist gegenüber einer „engen“, allein die ausdrücklich formulierten Änderungs- und Anpassungsbefehle berücksichtigenden Auslegung des Volksbegehrens einer Auslegung der Vorzug zu geben, die die Intention des Volksbegehrens maßgeblich berücksichtigt, entsprechend allgemeinen Auslegungskriterien. Nur dies entspricht letztlich auch der Gleichwertigkeit von Volksentscheid und parlamentarischem Gesetz, von Volksgesetzgebungsverfahren und parlamentarischem Verfahren und bestätigt und rechtfertigt ergänzend das hier gefundene Ergebnis, ersterem keine Sperrwirkung beizumessen, auch nicht in Anwendung eines Grundsatzes der Organtreue: es würde der Achtung vor dem parlamentarischen Gesetzgeber widersprechen, ihm ein Aufschieben eigener Vorhaben anzusinnen; es würde aber auch der Bedeutung von Volksbegehren und Volksentscheid widersprechen, könnte das parlamentarische Gesetz, wie dies bei einer engen Auslegung der Änderungsbefehle der Fall wäre, im Fall eines bejahenden Volksentscheids zu einem inkonsistenten, in sich widersprüchlichen, nicht praktikablen Gesetz führen und so den Willen des Volksgesetzgebers konterkarieren.
Menschenrechtliche Verträge im deutschen Recht – zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Vereinbarkeit von Studiengebühren mit dem Recht auf Bildung (Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) Sozialpakt) Von Ulrich Fastenrath* I. Einleitung Deutschland ist ein menschenrechtsfreundlicher Staat. Dies wird nicht allein durch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ und die gleich im ersten Kapitel des Grundgesetzes verankerten Grundrechte dokumentiert. Vielmehr hat Deutschland auch die meisten völkerrechtlichen Verträge des regionalen europäischen wie des universellen Menschenrechtsschutzes ratifiziert.1 Trotz der Breite der eingegangenen Verpflichtungen spielen diese Verträge in der gerichtlichen Praxis – von einigen Aufsehen erregenden Fällen wie der Görgülü-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts2 und den aus dem Caroline von Hannover-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte3 resultierenden Folgeentscheidungen4 abgesehen – eine eher untergeordnete Rolle. Das ist umso erstaunlicher, als nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das gesamte deutsche Recht nach Möglichkeit völkerrechtskonform auszulegen und anzuwenden ist, wobei die Europäische Menschenrechtskonvention „auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ dient5 (was in gleicher Weise für die anderen, für Deutschland verbindlichen, menschenrechtlichen Verträge gilt). * Prof. Dr. Ulrich Fastenrath, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Technischen Universität Dresden, Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Internationale Studien. 1 Vgl. die Vertragssammlung von Bruno Simma / Ulrich Fastenrath, Menschenrechte – Ihr internationaler Schutz, 6. Aufl. 2010. 2 BVerfGE 111, 307. 3 EGMR, EuGRZ, 2004, 404. 4 BGH 171, 275; BGH, EuGRZ 2007, 503; BVerfGE 120, 180. 5 BVerfGE 111, 307 (317).
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Die richterliche Zurückhaltung bei der Berücksichtigung des internationalen Menschenrechtsschutzes mag ein Grund sein, dass noch etliche Fragen im Zusammenhang mit der Wirkung menschenrechtlicher Verträge – wie völkerrechtlicher Verträge allgemein – im deutschen Recht umstritten, zum Teil auch kaum gestellt worden sind. Einige dieser Fragen, die auch dem Jubilar mehrfach Stoff für Veröffentlichungen geliefert haben,6 sollen exemplarisch am Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 20097 zur Vereinbarkeit von Studiengebühren mit der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG sowie dem Recht auf Bildung aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 19668 (Sozialpakt) diskutiert werden. In letzterer Bestimmung erkennen die Vertragsstaaten an, dass „der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss.“ In der Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Mehrere Verfahren bezüglich der Studiengebühren sind beim Bundesverfassungsgericht anhängig; und politisch werden die Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Hochschulen bzw. Ländern ohnehin weiter gehen. In Hessen und im Saarland sind die Studiengebühren bereits wieder abgeschafft worden. Darum soll es in diesem Beitrag allerdings nicht gehen. Vielmehr werden in einer etwas allgemeineren Weise, aber rückgebunden an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, behandelt: die Einbeziehung völkerrechtlicher, insbesondere menschenrechtlicher Verträge in das deutsche Recht (II.), deren Wirkung auf Organe des Staates und anderer Hoheitsträger (III.) sowie die Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere auch des Verfassungsrechts, einschließlich der Berücksichtigung der Rechtsprechung internationaler Gerichte und der Praxis von Vertragsorganen zu menschenrechtlichen Verträgen (IV.). Dies gibt Gelegenheit, staatstheoretische Grundlagen ebenso zu beleuchten wie die zunehmende Bedeutung des Völkerrechts im Rahmen des nationalen Rechts, woraus im abschließenden Resümee Folgerungen für die Staatsrechtswissenschaft abgeleitet werden (V.).
6 Vgl. Wilfried Fiedler, Auswärtige Gewalt und Verfassungsgewichtung – Zum Problem des internationalen Verfassungsrechts, Festschrift für Schlochauer (1981), S. 57 ff.; ders., Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, in: Rudolf Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen (2000), S. 11 ff.; ders., Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000), 199 ff. 7 BVerwG, NWVBl. 2009, 428. 8 BGBl. 1973 II S. 1570.
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II. Völkerrechtliche Verträge im deutschen Recht 1. Das Lindauer Abkommen als modus vivendi für die Abschluss- und Umsetzungskompetenz Bekanntlich führten die wenigen und in ihrer Reichweite nicht recht klaren Bestimmungen des Grundgesetzes über den Abschluss völkerrechtlicher Verträge bereits in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 50er Jahre zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern.9 Gemeinsam mit dem Bund vertrat das Land Berlin die Auffassung, Art. 32 Abs. 1 GG gebe dem Bund eine umfassende Abschlusskompetenz und Art. 73 Nr. 1 oder Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG mit dem dort vorgesehenen Vertragsgesetz eine ebenso umfassende Kompetenz des Bundes zur Transformation bzw. Inkorporation der vertraglichen Bestimmungen in das deutsche Recht; den Ländern stünde im Bereich ihrer Gesetzgebungszuständigkeit eine konkurrierende Abschluss- und Transformations- bzw. Inkorporationskompetenz zu (sog. zentralistische oder Berliner Lösung). Dem entgegengesetzt nahmen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, NordrheinWestfalen und mit Einschränkungen auch Rheinland-Pfalz den Standpunkt ein, dass weder Art. 73 Nr. 1 noch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG dem Bund eine materielle Gesetzgebungskompetenz bezüglich aller in völkerrechtlichen Verträgen geregelten Materien gebe und dass die Vertragsabschlusskompetenz des Bundes nicht über seine innerstaatlichen Kompetenzen hinausreichen könne, weil andernfalls die Umsetzung der völkervertraglichen Verpflichtungen nicht gewährleistet sei und Völkerrechtsverstöße nicht ausgeschlossen werden könnten. Im Ergebnis führt dies zu einer sich wechselseitig ausschließenden Vertragskompetenz von Bund und Ländern in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen für die Gesetzgebung (sog. süddeutsche Lösung). Nach der von Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vertretenen norddeutschen Lösung fallen die Abschluss- und die Transformations- bzw. Inkorporationskompetenz hingegen auseinander. Erstere steht dem Bund umfassend zu, für die Einbeziehung des Vertrags in das innerstaatliche Recht ist er aber nur insoweit zuständig, als ihm das Grundgesetz entsprechende Gesetzgebungsund Verwaltungszuständigkeiten zuweist, wobei in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG keine materielle Rechtsetzungskompetenz gesehen und Art. 73 Nr. 1 GG inhaltlich eng begrenzt ausgelegt wird. Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder ist der Bund also auf deren Mitwirkung angewiesen. Ohne ihre Rechtsauffassung aufzugeben, haben sich Bund und Länder im Lindauer Abkommen10 aus dem Jahre 1957 auf eine großzügige Interpretation der 9 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt (1986), S. 115 ff.; Martin Nettesheim, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: April 2010), Art. 32 Rn. 53 ff.; Michael Schweitzer, Staatsrecht III: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 9. Aufl. 2008, Rn. 126 ff.
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Rechtsetzungsbefugnisse des Bundes aus Art. 73 Nr. 1 und 5 sowie Art. 74 Nr. 4 GG hinsichtlich des Abschlusses von Konsular-, Handels-, Schifffahrts- und Niederlassungsverträgen sowie von Verträgen über den Beitritt zu oder die Gründung von internationalen Organisationen verständigt. Weiterhin haben sie sich auf die Einrichtung der Ständigen Vertragskommission der Länder geeinigt, von der der Bund vor dem Abschluss von Verträgen im Bereich ausschließlicher Kompetenzen der Länder das Plazet einzuholen hat (womit sich die Länder zugleich zur landesrechtlichen Umsetzung der Verträge verpflichten). Man kann dies als weitestgehende Übernahme der norddeutschen Lösung ansehen verbunden mit einer sich aus der Bundestreue ergebenden und sich in der Einschaltung der Ständigen Vertragskommission manifestierenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Länder.11 Es wird jedoch auch die Ansicht vertreten, in der Zustimmung der Ständigen Vertragskommission zum Abschluss eines Vertrages seitens des Bundes, der ausschließliche Kompetenzen der Länder berührt, liege eine Ermächtigung, für die Länder die betreffenden völkervertraglichen Bindungen einzugehen.12 Es ist hier nicht der Ort, das Für und Wider der einzelnen verfassungsrechtlichen Positionen, den rechtlichen Status oder die Verfassungsmäßigkeit des Lindauer Abkommens zu erörtern; insoweit kann ich auf meine Ausführungen an anderer Stelle verweisen.13 Festzuhalten bleibt, dass sich das Lindauer Abkommen über die Jahrzehnte als tragfähiger modus vivendi erwiesen hat, der dem Bund materiell unbegrenzt Vertragsabschlüsse ermöglicht, bezüglich der Transformation bzw. Inkorporation dieser Verträge im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder aber Lücken aufweist. Die daraus resultierenden Fragen sind bislang auch in der Staatspraxis noch nicht geklärt. Nach der nord- wie der süddeutschen Lösung ist es an den Ländern, in diesen Bereichen für die Einbeziehung der Vertragsbestimmungen in die nationale Rechtsordnung zu sorgen. Förmliche Zustimmungsbeschlüsse entsprechend den landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen sind von den Ländern zu Verträgen des Bundes, die in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder hineinreichen, aber nicht durchgängig erlassen worden.14 Im Zusammenhang mit den Kompetenzen zum Abschluss und zur innerstaatlichen Umsetzung völkerrechtlicher Verträge hat die Wiedervereinigung DeutschAbgedruckt bei Nettesheim (Fn. 9), Rn. 52. Vgl. dazu Fastenrath (Fn. 9), S. 119. 12 Gerhard Hans Reichel, Die auswärtige Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (1967), S. 239. 13 Fastenrath (Fn. 9), S. 120 ff.; ders. / Thomas Groh, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Juli 2010), Art. 32 Rn. 61 ff. 14 Dazu Fritjof Regehr, Die völkerrechtliche Vertragspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1974), S. 202 ff.; Walter Rudolf, Mitwirkung der Landtage bei völkerrechtlichen Verträgen und bei der EG-Rechtsetzung, Festschrift für Carstens (1984), S. 757 (765 f.); ders., Bundesstaat und Völkerrecht, ArchVR 27 (1989), 1 (19 f.); Schweitzer (Fn. 9), Rn. 457a ff. 10 11
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lands ein weiteres, bislang kaum beachtetes Problem mit sich gebracht. Geht man von der süddeutschen Lösung aus, so waren die neuen Bundesländer an der danach notwendigen Ermächtigung des Bundes zum Vertragsabschluss bzw. einer etwaigen Delegation des Vertragsabschlussrechts im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung der Länder nicht beteiligt. Weiterhin fragt sich – und dies gilt gleichermaßen auch für die norddeutsche Lösung –, woraus sich eine Pflicht zur Umsetzung der Verträge des Bundes im Bereich der Landesgesetzgebung ergeben soll. Hier bietet es sich an, aus Art. 11 des Einigungsvertrags15 und der dort dokumentierten, einverständlichen Annahme der Ausdehnung der völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik Deutschland auf die neuen Bundesländer zu folgern, dass deren Abschluss auch insoweit konsentiert wurde, als sie Materien der Landesgesetzgebung einbeziehen, und zugleich die Verpflichtung übernommen wird, die landesgesetzlichen Voraussetzungen für deren Durchführung zu schaffen. Soweit die betreffenden Verträge auch von der DDR abgeschlossen und von der Volkskammer gemäß Art. 51 der DDR-Verfassung16 bestätigt worden sind – was allerdings auf die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische bzw. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht zutrifft17 –, haben sie freilich bereits eine gesetzliche Grundlage, die nach Art. 9 Abs. 1 des Einigungsvertrags im Beitrittsgebiet als Landesrecht fortgilt, soweit sie Materien der Landesgesetzgebung betreffen. 2. Folgerungen aus dem Lindauer Abkommen für menschenrechtliche Verträge Nach dem Gesagten hat der Bund fraglos die Kompetenz zum Abschluss menschenrechtlicher Verträge, nach der süddeutschen Lösung zumindest dann, wenn die Ständige Vertragskommission der Länder dem zustimmt. Im Grundgesetz fehlt jedoch eine ausdrückliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Materie „Menschenrechte“, die dem Bund eine umfassende Einbeziehung des internationalen Menschenrechtsschutzes in das nationale Recht erlauben würde. Eine solche Kompetenz ergibt sich auch nicht aus der Natur der Sache.18 Vielmehr geht das Grundgesetz in Art. 142 klar von einer parallelen Zuständigkeit von Bund und Ländern aus. Die meisten Länder haben hiervon mit eigenen Grundrechtskatalogen in ihren Verfassungen auch Gebrauch gemacht, zum Teil gehen die Gewährleistungen der Länder weiter als die des Grundgesetzes. BGBl. 1990 II S. 885. GBl. (DDR) 1968 I S. 192. 17 Im Gesetzblatt der DDR finden sich nur die Bekanntmachungen der Ratifikationen durch den Vorsitzenden des Staatsrats, GBl. (DDR) 1974 II S. 57 bzw. 105. 18 So aber Wolfgang Kleeberger, Die Stellung der Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (1992), S. 155 ff. (der allerdings – fälschlich – in erster Linie argumentiert, bei der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR handele es sich um einen Fall des Art. 24 Abs. 1 GG). 15 16
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Wollte man eine umfassende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Menschenrechte annehmen, so würde dies gerade bei den Menschenrechten der zweiten Generation, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, alle Konturen der föderalen Zuständigkeitsverteilung verschwimmen lassen. Dafür genügt ein Blick in den Sozialpakt, der vom Arbeitsrecht über die soziale Sicherheit, die „stetige Verbesserung der Lebensbedingungen“, die Gesundheitsfürsorge bis hin zur Schul- und Hochschulausbildung sowie Kultur und Wissenschaft reicht. Aber auch den bürgerlichen und politischen Rechten wohnt neben der abwehrrechtlichen Achtenspflicht eine Schutz- und eine Gewährleistungskomponente inne,19 so dass etwa das Recht auf Leben die staatliche Pflicht einschließt, Maßnahmen gegen die Obdachlosigkeit zu ergreifen20 und sich um das Schicksal HIV-Infizierter zu kümmern21. Die Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte ist eine typische Querschnittsaufgabe, die in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf allen Gebieten und auf allen Ebenen gleichermaßen zu beachten ist. Alles materielle nationale Recht ist menschenrechtlich durchformt; einseitige Kompetenzzuweisungen verbieten sich daher. Folgerichtig hat der Bund den Sozialpakt wie auch andere menschenrechtliche Verträge der Ständigen Vertragskommission unterbreitet; und zumindest einige Bundesländer haben durch parlamentarische Zustimmungsbeschlüsse diese Verträge des Bundes in das Landesrecht einbezogen.22 Beides wäre verfehlt gewesen, wenn dem Bund die ungeteilte Gesetzgebungszuständigkeit für den Menschenrechtsschutz zukommen würde. Die unterschiedslose Einordnung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf der Rangstufe eines Bundesgesetzes, vermittelt durch das Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, in der Literatur23 und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts24 erstaunt deshalb. So werden etwa in der Görgülü-Entscheidung dem Vertragsgesetz des Bundes zur Europäischen Menschenrechtskonvention ohne Einschränkung die Transformationswirkung und die Erteilung eines 19 Näher dazu Ulrich Fastenrath, Einheit der Menschenrechte: Universalität und Unteilbarkeit, in: Festschrift für Tomuschat (2006), S. 153 (170 ff.). 20 CCPR / C / 79 / Add. 105 (07 / 04 / 99) – abschließende Bemerkungen des Menschenrechtsausschusses zum Bericht von Kanada, Nr. 12. 21 CCPR / CO / 81 / NAM (30 / 07 / 2004) – Bemerkungen des Menschenrechtsausschusses zum Bericht von Namibia; CCPR / CO / 80 / LTU (04 / 05 / 2004) – Bemerkungen des Menschenrechtsausschusses zum Bericht von Litauen. 22 Vgl. Beschluss des nordrhein-westfälischen Landtags vom 25. 2. 1970 gemäß Art. 66 Abs. 2 NWVerf, Landtag NW, Prot. 6 / 70, S. 3002; Bekanntmachung des Inkrafttretens des Sozialpakts NWGVBl 1976, 171 mit Verweis auf die Veröffentlichung des Vertragstextes im BGBl. 1973 II S. 1569; vgl. weiterhin die Nachweise oben in Fn. 14. 23 Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. (2009), S. 346; Bernhard Kempen, in: Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 59 Rn. 92; Eckhard Pache, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuR 2004, 393 (398, 400); Robert Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung (1993), S. 72, 89 f. 24 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (316 f.).
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Rechtsanwendungsbefehls zugesprochen mit entsprechender Rangzuweisung als Bundesgesetz.25 Obwohl es in dem betreffenden Fall fraglos um eine Materie der Bundesgesetzgebung ging, nämlich das Sorge- und Umgangsrecht eines Vaters mit seinem nichtehelichen Kind, und sich somit die Frage einer etwaigen Landesgesetzgebungskompetenz nicht stellte, so ist die verallgemeinernde Ausdrucksweise doch verwunderlich; man könnte ihr eine Neigung zur sonst kaum vertretenen26 Berliner Lösung entnehmen. Hingegen spricht sich das Bundesverwaltungsgericht in dem eingangs erwähnten Urteil über die Zulässigkeit von Studiengebühren klar gegen die Berliner Lösung aus, indem es ausführlich begründet, dass der Bundesgesetzgeber auf Grund der Rahmengesetzgebungskompetenz für das Hochschulwesen aus dem früheren Art. 75 Nr. 1a GG zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Sozialpakts im Jahre 1976 zur Regelung von Studiengebühren befugt war27 – eine Kompetenz, die zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen nordrhein-westfälischen Studienbeitrags- und Hochschulabgabengesetzes noch bestand; sie ist erst mit der Föderalismusreform-I durch Gesetz vom 28. 8. 200628 entfallen, wobei aber das bestehende Bundesrecht gemäß Art. 125a und b GG bis zu einer ersetzenden bzw. abweichenden Gesetzgebung der Länder fortgilt.29 BVerfGE 111, 307 (316 f.). So aber Rudolf Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, HbStR VII (1992), § 174, Rn. 17; Nettesheim (Fn. 9), Art. 32 Rn. 70, Art. 59 Rn. 185 mit der Begründung: „Wenn und soweit man dem Bund die Befugnis gibt, im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu handeln, ist seinen Handlungen (einschließlich des Vertragsgesetzes) die volle Rechtswirkung zuzuschreiben“, die allerdings auf das Vertragsgesetz beschränkt sein soll, nicht aber eine etwa notwendige Ausführungsgesetzgebung erfasse (was freilich eine Selbstverständlichkeit ist: die Berliner Lösung hat sich stets nur auf die Transformation bzw. Inkorporation des Vertrags selbst bezogen, nicht auf die Kompetenz zum Erlass von Ausführungsgesetzen). Es ist aber weder zwingend, noch lässt sich dem Lindauer Abkommen entnehmen, dass dem Vertragsgesetz im Bereich der Landesgesetzgebung generell eine materiell-rechtliche Wirkung zukommt. Auch geht der an den Autor dieses Beitrags gerichtete Vorwurf fehl, er verbinde unzulässig kompetenzielle und instrumentelle Fragen miteinander. Im Zusammenhang mit Art. 32 GG und dem dort verankerten Vertragsschlussrecht von Bund und Ländern steht zur Debatte, ob es entsprechend der süddeutschen und der Berliner Lösung eine Parallelität von Abschluss- und Umsetzungskompetenz gibt oder ob beide Kompetenzen auseinander fallen, wofür die norddeutsche Lösung eintritt. Die Verknüpfung dieser Kompetenzen hat es in der Diskussion um Art. 32 GG also seit jeher gegeben. 27 BVerwG (Fn. 7), S. 429. 28 BGBl. I S. 2034. 29 Der Befugnis des Bundes zur Regelung von Studiengebühren im Jahre 1976 und der Fortgeltung entsprechender Regelungen steht auch nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 27 Abs. 4 HRG (BVerfGE 112, 226) entgegen. Denn dort wird die Nichtigkeit des bundesgesetzlich eingeführten Studiengebührenverbots ausdrücklich mit der Einführung des Erforderlichkeitskriteriums (anstelle der früheren Bedürfnisklausel) in Art. 72 Abs. 2 GG im Jahre 1994 begründet. Frühere Regelungen auf den Gebieten der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung gelten nach Art. 125a Abs. 2 GG aber auch dann fort, wenn sie den strengeren Anforderungen des Erforderlichkeitskriteriums nicht genügen. Somit konnten 25 26
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Das Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ist danach, soweit sich im Grundgesetz keine weitere kompetenzielle Grundlage für die Gesetzgebung des Bundes findet, nur ein formelles Gesetz mit der Funktion, die Ratifikation des Vertrages durch den Bundespräsidenten zu ermöglichen. Als lediglich formelles Gesetz kann das Vertragsgesetz aber keine Bindungswirkung für wen auch immer erzeugen.30 Dies ist von Bedeutung für menschenrechtliche Verträge, die in den Gesetzgebungsbereich des Bundes wie der Länder hineinreichen. Soweit sich ein Vertrag vollständig im Bereich der Landesgesetzgebung bewegt, erscheint mir allerding ein Vertragsgesetz des Bundes überflüssig zu sein. Man sollte den Wortlaut von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ernst nehmen und entgegen der herrschenden Meinung31 den Bundesgesetzgeber nur dann einschalten, wenn sich der Vertrag zumindest auch auf die Bundesgesetzgebung bezieht, und dem Vertragsgesetz auch nur insoweit materielle Rechtswirkungen zuzusprechen. Soweit der Vertrag Materien der Landesgesetzgebung betrifft, müssen hingegen aus Gründen der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung die Landesgesetzgeber die nach Landesverfassungsrecht notwendigen Beschlüsse fassen, um den Vertragsinhalt zu Landesrecht zu machen.32 Bezüglich des Sozialpakts bleibt also im Ergebnis festzuhalten, dass sowohl nach der norddeutschen wie nach der süddeutschen Lösung dem Vertragsgesetz des Bundes seit der Föderalismusreform keine Bindungswirkung mehr gegenüber dem Landesgesetzgeber zukommt, was die Regelung von Studiengebühren angeht. Allein nach der nur vereinzelt vertretenen Berliner Lösung genügt das Vertragsgesetz des Bundes, um dem Sozialpakt in vollem Umfang, unabhängig von der Föderalismusreform und ohne Ersetzungsbefugnis dauerhaft den Rang eines Bundesgesetzes zu verschaffen. Während das Bundesverwaltungsgericht von einer nur beschränkten Kompetenz des Bundes zur Einbeziehung von Vertragsrecht in das deutsche Recht ausgeht, ist die Position des Bundesverfassungsgerichts in diesem Punkt nicht deutlich; es hatte bezüglich der Geltung der Europäischen Menschenauch die sich auf Studiengebühren beziehenden Regelungen des Sozialpakts als Bundesgesetz fortgelten. Die fortdauernde bundesgesetzliche Regelung erzeugt aber für die Landesgesetzgeber wegen der Ersetzungsbefugnis gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG auf dem Gebiet der Erhebung von Studiengebühren keine Bindung mehr, d. h. das Vertragsgesetz zum Sozialpakt kann insoweit für die Landesgesetzgebung keine Sperrwirkung mehr entfalten. 30 Fastenrath (Fn. 9), S. 135; ders. / Groh (Fn. 13), Art. 32 Rn. 67, Art. 59 Rn. 53, 99, 108; Ingolf Pernice, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 32 Rn. 42 f.; Ondolf Rojahn, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 32 Rn. 55; eine Bindung des Landesgesetzgebers nehmen an Thorsten Deppner / Daniel Heck, Studiengebühren vor dem Hintergrund der Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen im Bundesstaat und der Vorgaben materiellen Verfassungsrechts, NVwZ 2008, 45 (48). 31 Vgl. Kempen (Fn. 23), Art. 59 Rn. 70; Volker Röben, Außenverfassungsrecht (2007), S. 95. 32 Näher dazu Fastenrath (Fn. 9), S. 228 ff.; ders. / Groh (Fn. 13), Art. 59 Rn. 67; Pernice (Fn. 30), Art. 59 Rn. 34; Rojahn (Fn. 30), Art. 59 Rn. 55.
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rechtskonvention bislang keinen Anlass, zu den hier angesprochenen Differenzierungen Stellung zu nehmen. Im Nordrhein-Westfalen, wo der Rechtsstreit vor dem Bundesverwaltungsgericht seinen Ausgang nahm, bleibt der Sozialpakt auch bezüglich des Hochschulrechts jedoch weiterhin verbindlich für den Landesgesetzgeber, da er einst dem Vertragsabschluss durch den Bund zugestimmt hat.33
III. Wirkung völkerrechtlicher Verträge auf staatliche Organe und Stellen Unabhängig davon, ob und inwieweit völkerrechtliche Verträge durch das Vertragsgesetz Bestandteil des deutschen Rechts werden bzw. im Sinne der Vollzugslehre deren Anwendung auf deutschem Boden durch das Vertragsgesetz angeordnet wird, ohne sie zum Bestandteil des deutschen Rechts werden zu lassen,34 unabhängig davon also, ob der völkerrechtliche Vertrag „part of the law of the land“ wird, wie man im anglo-amerikanischen Rechtskreis sagt, bindet der Vertrag den Staat auf der völkerrechtlichen Ebene. Was dies im Einzelnen bedeutet, hängt zum einen mit monistischen und dualistischen Auffassungen zum Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht zusammen, zum anderen – was meist übersehen wird – mit Vorstellungen vom geschlossenen bzw. offenen Staat. 1. Monismus versus Dualismus Der Monismus verbindet nationales Recht und Völkerrecht zu einer – wenn auch aus verschiedenen Quellen gespeisten – einheitlichen Rechtsmasse, die neben den staatlichen Stellen in gleicher Weise die Bürger bindet, soweit sie in den Normen adressiert sind.35 Normenkonflikte zwischen nationalem Recht und Völkerrecht werden entweder zu Gunsten des ersteren oder des letzteren gelöst, je nach33 Siehe oben Fn. 22. Fehlt die landesrechtliche, parlamentarische Zustimmung zu einem Vertrag, dürften die Länder aber auf Grund der Bundestreue an abweichender Gesetzgebung gehindert sein, soweit die Zuständigkeit für die betreffende Materie nach Vertragsschluss auf die Länder übergegangen ist. 34 Dazu Nettesheim (Fn. 9), Art. 59 Rn. 178. – Es handelt sich um eine rein theoretische Meinungsverschiedenheit. Ob ein völkerrechtlicher Vertrag in deutsches Recht transformiert bzw. inkorporiert wird oder ob sich die deutsche Rechtsordnung öffnet und die Anwendung des Vertrags anordnet, bleibt ohne praktische Auswirkungen, solange klar bleibt, dass die völkerrechtlichen Wirkungen des Vertrags in jedem Fall erhalten bleiben und damit auch die Eigenständigkeit der völkerrechtlichen Verpflichtungen. 35 Vgl. zum Ganzen Ulrich Fastenrath, Souveräne Grundgesetzinterpretation – zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat), in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren – Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft (2010), S. 295 (299 ff.); ders. / Groh (Fn. 13), Art. 59 Rn. 91 ff.; Schweitzer (Fn. 9), Rn. 27 ff.
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dem, welchem Recht der Vorrang eingeräumt wird; gemäßigte Auffassungen lassen Normenkonflikte aber auch, zumindest vorübergehend, unaufgelöst, so etwa die sog. Schubert-Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts36. Demgegenüber handelt es sich nach dualistischer Ansicht beim Völkerrecht und nationalem Recht um zwei verschiedene Rechtsordnungen. Zwar können beide dieselben Regelungsgegenstände betreffen – Gesetzgebung wird zum Teil für grenzüberschreitende Sachverhalte über völkerrechtliche Verträge internationalisiert37 –, und die moderne Rechtsentwicklung hat es mit sich gebracht, dass sich Völkerrecht und nationales Recht an dieselben Adressaten wenden können (etwa durch die Gewährleistung von Menschenrechten und die Statuierung von Völkerstrafrecht, wodurch Individuen unmittelbar völkerrechtlich berechtigt und verpflichtet werden), dennoch bleiben die rechtlichen Regelungen ihrer jeweiligen Ordnung verhaftet. Die völkerrechtlichen Straftatbestände in den Statuten des Jugoslawien- und des Ruanda-Tribunals38 werden nur von diesen internationalen Institutionen angewandt, und unmittelbar auf die Europäische Menschenrechtskonvention kann man sich nur vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg berufen, während ein Anspruch daraus vor deutschen Gerichten nur vermittels des deutschen Vertragsgesetzes oder anderer Gesetze geltend gemacht werden kann. In diesem Sinne formuliert das Bundesverfassungsgericht in seinem Görgülü-Beschluss: „Das Völkervertragsrecht ist innerstaatlich nicht unmittelbar, das heißt ohne Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG, als geltendes Recht zu behandeln . . .“.39 Wenn jedoch Völkerrecht als solches nach dualistischer Auffassung keinen Eingriff in Rechtspositionen von Individuen durch staatliche Organe rechtfertigt und umgekehrt aus Völkerrecht unmittelbar keine Ansprüche gegenüber staatlichen Stellen erwachsen, so bedeutet dies nicht, dass Völkerrecht ohne seine Einbeziehung in das staatliche Recht für die staatlichen Stellen und die Individuen irrelevant wäre. Ob dies der Fall ist, hängt vielmehr vom Staatsverständnis ab, das als prinzipiell geschlossen oder auch als prinzipiell offen gedacht werden kann. 2. Geschlossener versus offener Staat Der geschlossene Staat sieht das innerstaatliche Recht grundsätzlich unberührt vom Völkerrecht, das staatliche Binnenleben wird also von der Außenwelt zumindest im Ansatz strikt getrennt. Diese Vorstellung hat ihren Ursprung bei Hobbes, dessen Staats-Leviathan das Volk in sich versammelt und dieses durch seine Or36 BGE 99 I b 39, 43 ff. E.3.-4; auf menschenrechtliche Verträge findet diese Rechtsprechung allerdings keine Anwendung, BGE 125 II 417 ff. 37 Wilfried Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte (Fn. 6), S. 13 f. 38 Die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erlassenen Statute der beiden Gerichte sind abgedruckt in Simma / Fastenrath (Fn. 1), S. 130 und S. 142. 39 BVerfGE 111, 307 (318).
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gane ordnet und lenkt, es durch die Außenhaut aber zugleich vor den Einflüssen der Außenwelt abschirmt. Zwar hat der Staatskörper, bildlich gesprochen, Öffnungen, durch die etwa das Völker- und das Europarecht in den Binnenbereich einströmen können. Dies geschieht aber weder vollständig noch unkontrolliert. Vielmehr werden die Öffnungen gebildet durch generelle verfassungsrechtliche (Art. 23 bis 25 GG) und spezielle gesetzliche Rezeptoren (Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), zugleich jedoch auch eingeschränkt. Dies ist eine in der Staatsrechtslehre verbreitete Auffassung,40 die aber entgegen dem eigenen Bekunden kaum für sich in Anspruch nehmen kann, für eine offene Staatlichkeit zu stehen; allenfalls kann man von einem sich – begrenzt – öffnenden Staat sprechen.41 Nach diesem Verständnis treffen die völkerrechtlichen Verpflichtungen grundsätzlich auf einen undifferenzierten Staatskörper insgesamt, der nur als solcher gebunden wird und dessen Inneres für die rechtliche Außenwelt eine black box bildet, wie sich auch umgekehrt aus der Binnenperspektive die rechtliche Außenwelt als eine im Dunkeln bleibende, irrelevante Rechtsmasse darstellt, soweit sie nicht in das nationale Recht einbezogen worden ist. Der wirklich offene Staat hat keine das Innere vom Äußeren abschirmende Außenhaut. Das bedeutet zwar nicht, dass das Völkerrecht wie im Monismus „part of the law of the land“ würde, aber die völkerrechtlichen Verpflichtungen binden die Hoheitsträger und deren Organe in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich unmittelbar.42 Der Staat ist nach diesem Verständnis keine nach außen abgeschlossene Gesamtheit, sondern die territorial radizierte43, politische Organisation eines Volkes, die in einer globalisierten Welt vielfältigen Einwirkungen ausgesetzt ist, die auf der anderen Seite aber auch über das eigene Staatsgebiet hinauswirkt.44 Das Völkerrecht ist aus dieser Sicht auf dem staatlichen Territorium geltendes Recht und berechtigt bzw. verpflichtet unter Umständen die Bürger unmittelbar. Wenn die Europäische Menschenrechtskonvention auf dem staatlichen Territorium nicht als solche gelten würde, wäre es gar nicht möglich, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte deren Verletzung durch den Staat geltend zu machen. Ebenso wenig könnte jemand vor internationalen Institutionen wie den internationalen Straftribunalen für seine Handlungen auf staatlichem Territorium zur Verantwortung gezogen werden, wenn die in den Statuten aufgeführten Straftaten auf dem Territorium gar nicht gelten würden. Die bei fehlender staatlicher Inkorporationsnorm dem Völkervertragsrecht und Völkerrecht allgemein vom Bundesverfassungsgericht abgesprochene, unmittelVgl. etwa Nettesheim (Fn. 9), Art. 59 Rn. 189; Rojahn (Fn. 30), Art. 59 Rn. 56. Deutlich in diesem Sinne BVerfGE 112, 1 (25 f.). 42 BVerfGE 112, 1 (26). 43 Ebenso Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998), S. 5, 97 ff.; Fastenrath / Groh (Fn. 13), Art. 32 Rn. 9, Art. 59 Rn. 8. 44 Vgl. dazu bereits Fiedler, Auswärtige Gewalt (Fn. 6), S. 63 f.; siehe auch Fastenrath / Groh (Fn. 13), Art. 59 Rn. 7 f.; Nettesheim (Fn. 9), Art. 59 Rn. 19. 40 41
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bare innerstaatliche Geltung45 ist also nicht territorial, sondern (im Rahmen des gemäßigten Dualismus) auf das nationale Rechtssystem bezogen zu verstehen; innerstaatliche Geltung meint also Einbeziehung in das deutsche Recht. Ohne solche Einbeziehung kann das Völkerrecht keine Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat begründen, den staatlichen Stellen insbesondere keine Eingriffsermächtigung verschaffen. Wegen des Gesetzesvorbehalts können deshalb staatliche Eingriffe in Rechtspositionen privater Personen nicht allein auf Völkerrecht gestützt werden. Weiterhin können Privatpersonen weder untereinander noch gegenüber dem Staat Ansprüche aus völkerrechtlichen Bestimmungen ableiten und vor staatlichen Instanzen geltend machen. Die fehlende Geltung schließt eine unmittelbare Wirkung des Völkerrechts auf das nationale Recht und im nationalen Recht aber nicht aus. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur von einer unmittelbaren Bindung der Hoheitsträger und ihrer Organe an völkerrechtliche Verträge spricht, sondern sich zur Begründung dieser Bindung auch auf Art. 20 Abs. 3 GG stützt, zudem eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts fordert und grundsätzlich eine Bindung des Gesetzgebers an die völkerrechtlichen Verträge annimmt.46 Würde die Bindung an den Vertrag allein über das Vertragsgesetz vermittelt, wäre die Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG trivial, soweit es um die innerstaatliche Vertragsanwendung geht; denn die Gesetzesbindung steht außer Frage. Auswirkungen auf die Auslegung des Grundgesetzes oder eine Bindung des Gesetzgebers ließen sich hingegen allein mit dem Vertragsgesetz gar nicht begründen.47 Man wird die genannten Passagen in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts also in der Weise interpretieren müssen, dass alle deutschen Hoheitsträger und deren Organe unabhängig von der Entstehungsweise völkerrechtlicher Bestimmungen nicht nur an diese unmittelbar gebunden sind, sondern dass das Rechtsstaatsprinzip zudem gebietet, völkerrechtliche Bestimmungen anzuwenden,48 soSiehe oben Text zu Fn. 39. BVerfGE 111, 307 (317 ff.). Röben (Fn. 31), S. 139, missdeutet die Görgülü-Entscheidung, wenn er ihr nur eine Vermutung entnimmt, dass der Gesetzgeber nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen will; vielmehr ist die Bindung des Gesetzgebers für das BVerfG Teil der verfassungsrechtlich abgesicherten Völkerrechtsfreundlichkeit, die nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf, wenn tragende Grundsätze der Verfassung dies verlangen (BVerfG, a. a. O., S. 319; siehe auch BVerfGE 112, 1 [26]). 47 Vgl. dazu bereits Ulrich Fastenrath, Der Schutz des Weltkulturerbes in Deutschland – Zur innerstaatlichen Wirkung von völkerrechtlichen Verträgen ohne Vertragsgesetz (Verwaltungsabkommen i. S. d. Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG), DÖV 2006, 1017 (1022 f.). 48 In diesem Sinne BVerfGE 112, 1 (25 f.), wo von einer verfassungsunmittelbaren, prinzipiellen Pflicht zur Befolgung des Völkerrechts durch alle staatlichen Stellen die Rede ist; in diesem Sinne wohl auch Claus Dieter Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtsstaat (2009), S. 108. Anders jedoch der Kammerbeschluss zur Waldschlösschenbrücke in Dresden, BVerfG, EurUP 2007, 145; dazu Fastenrath (Fn. 35), S. 318 f.; Mehrdad Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip – Ein Beitrag des Grundgesetzes zur Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht, JöR n. F. 57 (2009), 464 (490). 45 46
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weit dem nicht Verfassungsrecht entgegensteht, insbesondere auch das rechtsstaatliche Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes. Die Hoheitsträger sind deshalb verpflichtet, den Völkerrechtssätzen nach Möglichkeit im Rahmen des nationalen Rechts Geltung zu verschaffen. Da auch der Gesetzgeber nach zutreffender Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unmittelbar an das Völkerrecht gebunden ist, hat er nicht nur völkerrechtswidrige Rechtsetzung zu unterlassen; konsequenterweise müssten darüber hinaus völkerrechtswidrige Gesetze wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG nichtig sein, soweit sie nicht ausnahmsweise zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes folgen.49 Hierfür spricht auch der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu besatzungsrechtlichen Enteignungen in der SBZ enthaltene Passus, der Gesetzgeber müsse für die deutsche Rechtsordnung gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können.50 Für Legislativverstöße stehen dafür die Normenkontrollverfahren zur Verfügung. 3. Zwischenergebnis bezüglich des Rechts auf Bildung Im offenen Verfassungsstaat führt der Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen sowohl nach monistischer wie nach dualistischer Auffassung zu einer unmittelbaren Bindung der Hoheitsträger und ihrer Organe. Insoweit sind auch die Unterschiede zwischen der Berliner Lösung auf der einen sowie der norddeutschen und der süddeutschen Lösung auf der anderen Seite aufgehoben: Eine Bindung der staatlichen Organe und Hoheitsträger in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich entsteht in jedem Falle, da hierfür keine Inkorporation des Vertrags in das nationale Recht notwendig ist. Der Unterschied zwischen Monismus und Dualismus besteht darin, dass Völkerrecht nach der ersten Auffassung ohne weiteres im innerstaatlichen Bereich angewandt werden kann, während nach letzterer das Völkerrecht allein nicht genügt, um staatliche Eingriffe in die Rechte der Bürger zu rechtfertigen; eine gesetzliche Grundlage der innerstaatlich jeweils zuständigen Ebene ist insoweit unverzichtbar. Völkerrechtliche Unterlassungspflichten können und müssen die Hoheitsträger hingegen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich auch ohne gesetzliche Anordnung befolgen. Da die Einhaltung des Völkerrechts ein 49 Siehe dazu bereits Fastenrath / Groh (Fn. 13), Art. 59 Rn. 111; i. E. ebenso Payandeh (Fn. 48), S. 484, 486 ff., der von einem faktischen Verfassungsrang des Völkerrechts auf der Basis des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit spricht; ähnlich Albert Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1996, 137 (141 f.). Mitunter ist diese Folge mit abweichender Begründung nur für Verträge nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gezogen worden, siehe Klaus Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht, JZ 1997, 161 (165 ff.); Florian Becker, Völkerrechtliche Verträge und parlamentarische Gesetzgebungskompetenz, NVwZ 2005, 289 (291). Nach BVerfGE 112, 1 (25 f.) besteht zwar nur eine „kontrollierte Bindung“ der Staatsorgane an das Völkerrecht, der Souveränitätsvorbehalt bezieht sich danach aber nur auf die nationale Verantwortung für die Achtung der Menschenwürde und die Beachtung der Grundrechte. 50 BVerfGE 112, 1 (26).
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rechtsstaatliches Gebot aus Art. 20 Abs. 3 GG ist, kann der Bürger dies auch vor den nationalen Gerichten geltend machen. Bezüglich der Erhebung von Studiengebühren bedeutet dies, dass sowohl die Landesgesetzgeber als auch die Hochschulen bei Erlass entsprechender Gesetze und Satzungen die Verpflichtungen aus dem Sozialpakt, insbesondere dessen Art. 13 Abs. 2 Buchst. c), beachten müssen. Dies gilt für alle Länder unabhängig davon, ob sie den Sozialpakt entsprechend den landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen in Landesrecht überführt haben oder nicht. Diese völkerrechtliche Verpflichtung wirkt mittelbar im Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen der Hochschule und den Studenten und kann im verwaltungsgerichtlichen wie im vorangehenden Verwaltungsverfahren über das Rechtsstaatsprinzip geltend gemacht werden. Die Verwaltungsgerichte müssen Gesetze, die die Erhebung von Studiengebühren vorsehen, verfassungsgerichtlich im Wege der konkreten Normenkontrolle prüfen lassen, wenn sie ihrer Ansicht nach einen Verstoß gegen das Recht auf Bildung darstellen. Bevor freilich eine Normenkollision des nationalen Rechts mit dem Völkerrecht in Rede steht, ist zu prüfen, ob die Gesetze zur Erhebung von Studiengebühren überhaupt vor der völkerrechtskonform auszulegenden und anzuwendenden Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG Bestand haben. IV. Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts 1. Ableitung der Pflicht a) Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Die Verpflichtung aller staatlichen Stellen, nationales Recht einschließlich des Verfassungsrechts möglichst im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands auszulegen und anzuwenden, leitet das Bundesverfassungsgericht aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ab. Diese wiederum wird – mit wechselnder Nennung einzelner Bestimmungen – auf die Präambel („als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen“), Art. 1 Abs. 2 Satz 2, Art. 23 bis 26 und Art. 59 Abs. 2 GG gestützt.51 Indem die Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts als ein ungeschriebener, hinter verschiedenen Grundgesetzbe51 BVerfGE 111, 307 (317 f.), 112, 1 (25 f.). Eingehend dazu Payandeh (Fn. 48), S. 465 ff. In der Literatur finden sich weitere verfassungsrechtliche Grundlagen für die Völkerrechtsfreundlichkeit, z. B. Art. 9 Abs. 2, 79 Abs. 1 Satz 2 und 115a ff. GG, vgl. Röben (Fn. 31), S. 207; Karl-Peter Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, AöR 114 (1989), 391 (415).
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stimmungen stehender Verfassungsgrundsatz52 und als eine verfassungsunmittelbare Verpflichtung aller staatlichen Stellen begriffen wird,52a wird die Befolgung des Völkerrechts zu revisiblem Bundesrecht. Das wirkt sich positiv auf die Durchsetzungsmöglichkeiten aus. b) Aus der Doppelverpflichtung der Hoheitsträger und Organe im offenen Verfassungsstaat Die Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts ergibt sich im offenen Verfassungsstaat auch daraus, dass alle staatlichen Stellen einer doppelten Bindung sowohl an die nationale Rechtsordnung wie auch an die Völkerrechtsordnung unterliegen. Um den normativen Anforderungen beider Rechtsordnungen gerecht werden zu können, müssen die staatlichen Stellen deren Inhalte also nach Möglichkeit harmonisieren. Nur in einem unauflöslichen Normenkonflikt können und müssen sie sich für eine Ordnung entscheiden.53 Diese Sicht der Dinge hat den Vorzug, dass das Harmonisierungsgebot auch in Richtung auf das Völkerrecht wirkt. Staatliche Stellen haben demnach die völkerrechtlichen Auslegungs- und Anwendungsspielräume zu nutzen, um den Anforderungen und Wertungen des deutschen Rechts möglichst gerecht zu werden.53a Zudem sind sie gehalten, ihren Einfluss auf die informelle Entwicklung des Völkerrechts durch soft law54 und Anwendungspraxis55 in eben diesem Sinne auszuüben. Zugleich ist die völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts über die Erstreckung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 GG auf die Einhaltung des Völkerrechts eine revisible verfassungsrechtliche Verpflichtung. c) Im Wege systematischer Auslegung Zweifelsfrei muss nach monistischer Anschauung das Völkerrecht bei der Auslegung des nationalen Rechts im Rahmen der systematischen Auslegungsmethode berücksichtigt werden. Denn nationales Recht und Völkerrecht bilden gemeinsam das „law of the land“. Aber auch unter der Annahme des Dualismus bildet das 52 Kritisch zu dieser Methode der Gewinnung von Verfassungsgrundsätzen Sommermann, a. a. O. 52a Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 (5). 53 Dazu oben III. 2. und 3. 53a In diesem Sinne, aber begrenzt auf das Verfassungsrecht BVerfGE 99, 145 (158). 54 Dazu Ulrich Fastenrath, Lücken im Völkerrecht: Zu Rechtscharakter, Quellen, Systemzusammenhang, Methodenlehre und Funktionen des Völkerrechts (1991), S. 178 ff. 55 Vgl. dazu Art. 31 Abs. 3 Buchst. b) Wiener Vertragsrechtskonvention (BGBl. 1985 II S. 927).
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Völkerrecht einen relevanten rechtlichen Kontext des nationalen Rechts, der in einem offenen Verfassungsstaat zu berücksichtigen ist. Nur wer der Vorstellung eines geschlossenen und sich allein für die Inkorporation bestimmter völkerrechtlicher Normen öffnenden Staates folgt, muss das nicht inkorporierte oder zur Anwendung befohlene Völkerrecht bei der systematischen Auslegung ausblenden, weil es sozusagen unsichtbar hinter dem impermeablen Souveränitätsschirm bleibt. Mit der systematischen Auslegung lässt sich freilich die Völkerrechtskonformität des nationalen Rechts nur bedingt erreichen, da sie nur ein Auslegungstopos unter mehreren ist und deshalb unter Umständen anderen Erwägungen weichen muss. Es wäre nach dualistischem Verständnis auch nicht zu begründen, dem Völkerrecht bei der systematischen Auslegung des nationalen Rechts ein besonderes Gewicht zuzuweisen, wie dies etwa bei der verfassungskonformen Auslegung wegen des höheren Rangs des Grundgesetzes möglich ist. 2. Berücksichtigung der Praxis von Vertragsorganen bei der Auslegung menschenrechtlicher Verträge a) Völkerrechtliche Interpretationsvorgaben Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, d. h. die Bestimmung des Inhalts der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten, richtet sich nach Art. 31 bis 33 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK)56. Maßgeblich ist danach die gewöhnliche Wortbedeutung unter Berücksichtigung des vertraglichen und völkerrechtlichen Gesamtzusammenhangs sowie im Lichte von Ziel und Zweck. Es wird unterstellt, dass alle authentischen Sprachfassungen des Vertrags ungeachtet sprachlicher Abweichungen dieselbe Bedeutung haben. Die historische Auslegung gilt lediglich als nachrangige Interpretationsmethode, um Unklarheiten zu beseitigen oder offensichtlich sinnwidrige Ergebnisse zu korrigieren. Menschenrechtliche Verträge zeichnen sich allerdings zumeist – ebenso wie Grundrechtsbestimmungen des nationalen Rechts – durch vieldeutige Kürze und vage Formulierungen aus. Dies erlaubt unterschiedliche Interpretationen in den jeweiligen kulturellen und rechtssystematischen Kontexten57 sowie eine situationsabhängige Anwendung. Die durchaus erwünschte, die kulturellen Eigenheiten achtende und die Ratifikationsfreudigkeit erhöhende Interpretationsoffenheit menschenrechtlicher Verträge wird freilich eingeengt durch die Anwendungspraxis und Verständigungen zwischen den Staaten. Beides sind wichtige Auslegungsfaktoren, sofern sie die Übereinstimmung aller Vertragsparteien (und sei es durch passive Hinnahme) signalisieren.
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BGBl. 1985 II S. 927. Näher dazu Fastenrath (Fn. 19), S. 163 ff.
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b) Bedeutung der Vertragsorgane für die Auslegung menschenrechtlicher Verträge Einen wichtigen Kristallisationspunkt für Verständigungen über die Gehalte der menschenrechtlichen Verträge bilden die verschiedenen Vertragsorgane, die die Einhaltung der Verträge überwachen sollen. Auf globaler Ebene handelt es sich um Expertenausschüsse58, auf regionaler Ebene gibt es aber auch bereits gerichtliche Instanzen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Obwohl die Tätigkeit dieser Organe weder Staatenpraxis ist noch eine Auslegungsvereinbarung der Staaten ersetzen kann und nur bei einem Gericht für die jeweils am Verfahren beteiligten Staaten zu verbindlichen Entscheidungen führt, prägen diese Organe doch ganz wesentlich das allgemeine Verständnis des betreffenden menschenrechtlichen Vertrags, der darin enthaltenen einzelnen Rechte und Rechtsbegriffe. Die Stellungnahmen der Expertenausschüsse von allgemeiner Natur („allgemeine Bemerkungen“, general comments) oder in Reaktion auf einzelne Staatenberichte (concluding observations)59 sind für die Staaten ebenso Richtpunkte wie die sich entwickelnde Rechtsprechung der internationalen Gerichtshöfe.60 Die Autorität der einzelnen Auslegungsakte von Vertragsorganen variiert allerdings.61 So hat etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die ihm vorgelegten Rechtsfragen im Einzelnen und unter Abwägung verschiedener Standpunkte nach ausführlicher Beratung zu entscheiden. Dies gibt den Urteilen ein großes Gewicht. Die verschiedenen Expertenausschüsse zu den Menschenrechtsverträgen bieten zwar ebenfalls Gewähr für ein unabhängiges Urteil, sie müssen sich aber unter hohem Zeitdruck mit der Menschenrechtslage eines Staates insgesamt – oder in allgemeinen Bemerkungen mit dem gesamten Schutzbereich eines einzelnen Rechts – beschäftigen. Das führt notwendig zu einer Konzentration 58 Vgl. dazu Art. 28 ff. des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (BGBl. 1973 II S. 1534). 59 Dazu Walter Kälin / Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2. Aufl. 2008, S. 244 ff. 60 Näher dazu Fastenrath (Fn. 54), S. 177 ff.; Bruno Simma, „Die vergessenen Rechte“: Bemühungen zur Stärkung des VN-Sozialpakts, in: Festschrift für Zacher (1998), S. 867 (878). Verfehlt ist allerdings die vom BVerfG in einem obiter dictum geäußerte Auffassung, berücksichtigungsfähig sei die Rechtsprechung einer internationalen Gerichts nur, wenn sich Deutschland dessen Gerichtsbarkeit unterworfen habe (BVerfG [Kammer], NJW 2007, 499 Rn. 62). Es geht im vorliegenden Zusammenhang nicht um die Befolgung eines Urteils, sondern eines von Deutschland abgeschlossenen Vertrags, dessen durch Auslegung zu ermittelnder, normativer Gehalt durch die Rechtsprechung geprägt wird. Wenn sich Deutschland bis zum 1. 5. 2008 nicht generell der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen hatte, lag der Grund dafür nicht darin, sich die Möglichkeit zur beliebigen Selbstinterpretation seiner vertraglichen Verpflichtungen offen zu halten. Vielmehr sollte allein eine autoritative Auslegungsentscheidung durch einen unabhängigen Dritten vermieden werden. Ein völkerrechtsfreundlicher Staat kann aber selbstverständlich nur die Interpretationsspielräume nutzen, die das Völkerrecht ihm lässt. 61 Näher dazu Fastenrath (Fn. 54), S. 194 ff.
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auf die dringlichsten Probleme und zu Generalisierungen, die auf rechtfertigende Erwägungen im Einzelfall kaum Rücksicht nehmen können. Deshalb bleibt bei den Stellungnahmen zu Staatenberichten und den allgemeinen Bemerkungen stets Raum für Ausnahmen von den darin enthaltenen Rechtsauffassungen, wie auch umgekehrt aus der fehlenden oder nur randständigen Erwähnung eines menschenrechtlichen Problems nicht geschlossen werden kann, dass es vom Schutzbereich des Vertrags nicht erfasst sei oder dass kein Verstoß gegen den Vertrag vorliege.62 c) Beachtung der Rechtskraft internationaler Gerichte Über die prägende Kraft der Entscheidungen von Vertragsorganen für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge hinaus ist die Rechtskraft von Urteilen internationaler Gerichte für die Parteien des jeweiligen Verfahrens zu beachten.63 Es ist dann nicht mehr möglich, die vom Gericht festgelegte Auslegung von Vertragsbestimmungen in Frage zu stellen. Vielmehr haben sich die Vertragsstaaten etwa in Art. 46 EMRK verpflichtet, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen. 3. Zur völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 12 Abs. 1 GG (freie Wahl der Ausbildungsstätte) im Hinblick auf Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) Sozialpakt (Recht auf Bildung) Obwohl das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zur Zulässigkeit von Studiengebühren ausführlich auf das Recht auf Bildung eingeht, ist jeglicher Ansatz zu einer völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, hier des Rechts auf die freie Wahl des Ausbildungsplatzes gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, unterblieben. Dies wirkt sich auf das Ergebnis zwar nicht aus, weil das Gericht in einer – anfechtbaren64 – Auslegung von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c) des Sozialpakts die 62 Vorschnell daher BVerwG (Fn. 7), S. 434; Eibe Riedel / Sven Söllner, Studiengebühren im Lichte des UN-Sozialpakts, JZ 2007, 270 (273). 63 Vgl. BVerfGE 111, 307 (319 ff.). Zur Rechtskraft der Urteile des EGMR siehe Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, S. 93 ff. 64 Das BVerwG reduziert das Recht auf Bildung bezüglich der Hochschulen unter Hinweis auf teleologische Erwägungen und eine nicht eben strikte Handhabung des Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) des Sozialpakts durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auf ein Recht auf chancengleichen Bildungszugang; das Ziel der Unentgeltlichkeit trete hinter dem Gleichheitsaspekt zurück (BVerwG [Fn. 7], S. 433 f.; ebenso Riedel / Söllner [Fn. 62], S. 274; so auch, aber mit umgekehrtem Ergebnis Stefan Lorenzmeier, Völkerrechtswidrigkeit der Einführung von Studienbeiträgen und der Auswirkungen auf die deutsche Rechtsordnung, NVwZ 2006, 759 [761]). Diese Deutung widerspricht allerdings der Art. 13 Abs. 1 Sozialpakt zu entnehmenden Ausrichtung des Rechts auf Bildung „auf die volle Entfaltung der Persönlichkeit“. Das Ziel dieser Vorschrift ist also nicht die gleiche Teilhabe – das kann lediglich ein Zwischenziel bis zur Erreichung der Studiengeldfreiheit sein –,
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Einführung von Studiengebühren für zulässig hält. Methodisch ist das Vorgehen jedoch falsch, zunächst isoliert deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und erst dann mit dem Sozialpakt zu prüfen. Denn die grundrechtliche Argumentation des Gerichts trägt nur im Vorwissen auf die völkerrechtliche. Das Bundesverwaltungsgericht unterscheidet bei Art. 12 Abs. 1 GG die abwehrrechtliche und die teilhaberechtliche Komponente. Letztere stehe, so heißt es wörtlich „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft verlangen kann“.65 Vernünftigerweise zu erwarten ist aber ein völkerrechtskonformer Zustand. Ähnlich wird die Beschränkung der abwehrrechtlichen Funktion von Art. 12 Abs. 1 GG „durch vernünftige Regelungen des Gemeinwohls“ als gerechtfertigt angesehen.66 Zwar ist die Leistungsfähigkeit und Effizienz der Lehre an Hochschulen ein Gemeinwohlanliegen, legitim und vernünftig sind aber nur Regelungen, die dieses Ziel mit rechtmäßigen Mitteln zu erreichen suchen. Die Rechtmäßigkeit der Einnahmebeschaffung zur Verbesserung der Lehre hängt jedoch von deren Völkerrechtskonformität ab, die also vorab hätte geklärt werden müssen.
V. Folgerungen für die juristische Lehre, Forschung und Praxis Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Erhebung von Studiengebühren zeigt exemplarisch, wie verschränkt Völkerrecht und nationales Recht inzwischen sind67, aber auch, wie wenig dies von den Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht sowie in der rechtswissenschaftlichen Literatur wahrgenommen wird. Universitäre Lehre zu den Grundrechten des Grundgesetzes kommt ohne Einbeziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der übrigen, von Deutschland ratifizierten menschenrechtlichen Verträge nicht mehr aus. Kommentare zu den Grundrechten müssten zu allen Einzelausprägungen dieser Rechte Hinweise auf die menschenrechtlichen Verträge und die Stellungnahmen der Vertragsorgane enthalten.68 Schließlich genügt es nicht mehr, dass Gerichte zur Ermittlung des normativen Gehalts der Grundrechte allein auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bezug nehmen und dieses Gericht sich in selbstreferentieller sondern die individuelle Entwicklungschance. Sie soll nicht durch finanzielle Hürden beeinträchtigt werden (so auch i. E. Deppner / Heck [Fn. 30], S. 47). Die Einführung der Studiengebühren bringt aber gerade neue Belastungen mit sich. Ein stärkeres – systematisches – Argument für die Zulässigkeit der Einführung von Studiengebühren wäre der Verweis auf Art. 28 Abs. 1 Buchst. c) der zeitlich späteren Kinderrechtskonvention (BGBl. 1992 II S. 122) gewesen, in dem die Studiengeldfreiheit nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird. 65 BVerwG (Fn. 7), S. 430. 66 BVerwG (Fn. 7; insoweit nicht abgedruckt), Urt. v. 29. 4. 2009 – 6 C 16.08, Rn. 35. 67 Dazu bereits Fiedler, Auswärtige Gewalt und Verfassungsgewichtung (Fn. 6), S. 66 ff. 68 Erstmals in dieser Weise Gerd Seidel, Handbuch der Grund- und Menschenrechte auf staatlicher, europäischer und universeller Ebene (1996).
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Genügsamkeit übt, ohne an die rechtsstaatliche Verpflichtung zur völkerrechtskonformen Auslegung allen nationalen Rechts auch dann zu denken, wenn supra- und internationale Vorgaben sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen. Notwendig ist zudem eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Staatsverständnis69, die erst den Hintergrund der je eigenen Sicht auf das Zusammenwirken von deutschem Recht und Völkerrecht erhellt. Weiterhin muss die Gesamtheit der internationalen Verflechtungen in den Blick genommen werden. Nur so lassen sich zeitgemäße und konsistente Theorien entwickeln, mit denen sich das deutsche Recht in seinem supra- und internationalen Kontext verstehen lässt und die eine Abkehr von jetzt vorherrschenden Postulaten erlauben. Hier weitet sich ein fruchtbares Betätigungsfeld.
69 Siehe dazu die umfangreichen Analysen von Frieder Günther, Denken vom Staat her: die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970 (2004); Christoph Möllers, Staat als Argument (2000); vgl. auch Fastenrath (Fn. 35), S. 296 ff.
Staatsbesuch in einem untergehenden Land – Mitterand in der DDR Von Jochen A. Frowein* I. Einführung Wilfried Fiedler hat sich eingehend mit der deutschen Revolution von 1989 beschäftigt. Er hat im Handbuch des Staatsrechts 1995 Ursachen, Verlauf und Folgen dargestellt.1 Ihn mag daher interessieren, wie sich der Staatsbesuch des französischen Staatspräsidenten Mitterand in der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. bis 22. 12. 1989 in Zusammenhang mit dieser Revolution darstellte. Dass dieser Staatsbesuch überhaupt stattfand, hat vielfach Verwunderung erzeugt. Er war lange vor dem 9. 11. geplant worden. Aus den Akten des DDR Außenministeriums, aus denen hier berichtet wird, geht hervor, dass im Dezember 1988 ein Besuch von Mitterand in der DDR für das Jahr 1989 vorgesehen wurde. Aber das war natürlich lange bevor jemand die Entwicklungen des Herbstes 1989 voraussehen konnte.2 Horst Teltschik formuliert in seinem Bericht über die 329 Tage, die zur Wiedervereinigung geführt haben: „Der Besuch Mitterands zu diesem Zeitpunkt wirkt anachronistisch. Wem soll er nützen?“3 Bundeskanzler Kohl hat den Staatsbesuch im Wesentlichen nach dem Motto „nicht mal ignorieren“ behandelt. Der Politikwissenschaftler Karl Kaiser stellte fest, die französische öffentliche Debatte und die Diskussion innerhalb der Regierung legten einen gewissen Grad an Verwirrung über die Frage offen, wie auf die deutsche Entwicklung zu reagieren sei. Dies demonstriere der Staatsbesuch von François Mitterand, „so als wolle er dem absterbenden Ancien Regime der SED, das kaum noch Kontrolle über den zweiten deutschen Staat ausübte, neues Leben einhauchen“4. * Prof. Dr. Dres. h. c., Direktor em. am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg; Prof. em. Universität Heidelberg; ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission für Menschenrechte. 1 Wilfried Fiedler, Die deutsche Revolution von 1989: Ursachen, Verlauf, Folgen, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3 – 33. 2 Der Verfasser, der sich für die Reden und Gespräche bei diesem Staatsbesuch interessierte, hat die Akte des DDR-Außenministeriums in Kopie vom Auswärtigen Amt erhalten. 3 Horst Teltschik, 329 Tage, Innenansichten der Einigung, 1992, 95. 4 Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung, Die internationalen Aspekte, 1991, 65.
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Am 28. November hatte Bundeskanzler Kohl in der Formulierung der 10 Punkte erstmals die staatliche Einheit als letzte Stufe angesprochen. In Punkt 10 hieß es ausdrücklich: „Die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“ Es war wahrscheinlich ein wesentlicher Fehler des Bundeskanzlers, den französischen Staatspräsidenten nicht vor Formulierung der 10 Punkte über deren Inhalt zu informieren. Ob eine solche Information den schon lange geplanten Staatsbesuch in der DDR verhindert hätte, lässt sich nicht sagen. Objektiv musste ein solcher Staatsbesuch nach der bereits weit vorgeschrittenen friedlichen Revolution in der DDR erstaunlich wirken. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte dieses Staatsbesuchs anhand der Akten des Außenministeriums der DDR erläutert werden. Im Vorfeld des Besuches wird in einem Vermerk über die Konzeption für den Besuch auf das „ausgeprägte französische Interesse am dauerhaften Bestand zweier deutscher Staaten, sowie an der Einhaltung des vierseitigen Abkommens über Westberlin“ berichtet. Von wann diese Aufzeichnung stammt, ist nicht feststellbar. In einem Vermerk über ein Gespräch des Außenministers Fischer mit der Botschafterin Frankreichs in Ostberlin am 13. 11. 1989 heißt es, dass die französische Regierung die mutigen Beschlüsse der Führung der DDR für die Entwicklung der Demokratie und der Freiheit in der DDR außerordentlich hoch bewerte. Präsident Mitterand übermittelte danach zugleich, dass er an seinem geplanten Besuch in der nächsten Zeit festhalte. Das wurde in einem Gespräch des Generalsekretärs des französischen Außenministeriums, Scheer, am 14. 11. 1989 mit dem Botschafter der DDR in Paris bestätigt. In dem Vermerk darüber heißt es: „Zur Diskussion in der Bundesrepublik über eine Wiedervereinigung wiederholte Scheer die Standpunkte von Mitterand und Außenminister Dumas. Er machte deutlich, dass man in Frankreich zwar nicht mit einer Wiedervereinigung, aber mit einer noch nicht näher definierbaren Annäherung beider deutschen Staaten rechnet.“
II. Der Besuch Staatspräsident Mitterand wurde am 20. 12. 1989 vom amtierenden Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Prof. Manfred Gerlach, mit militärischem Zeremoniell auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld empfangen. Der Vorsitzende des Staatsrates gab an diesem Tage ein Essen für den französischen Staatspräsidenten, bei dem er darlegte, dass in der DDR ein Prozess stattfinde, der an den ungestümen Geist der großen französischen Revolution 1789 erinnere. Die eingeleitete dynamische Umgestaltung solle durch grundlegende Reformen des politischen Systems, eine allseitige Ausgestaltung des Rechtsstaates sowie eine tiefgreifende Wirtschafsreform neue Horizonte eröffnen. Es sei das Ziel „das Volk wirklich zum Souverän seiner Geschichte zu machen“. Dabei sei auch eine europäische Dimension zu beachten. Der Staatsratsvorsitzende formulierte dann: „Existenz und Gedeihen der DDR als souveräner Staat sind von fundamentaler Bedeutung für Sicherheit
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und Stabilität auf unserem Kontinent.“5 Offenbar hat Mitterand in seiner Tischrede bereits ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es Sache der Deutschen sei, in Freiheit über ihr künftiges Schicksal zu entscheiden.6 Der französische Staatspräsident traf während des Besuchs mit dem amtierenden Staatsratsvorsitzenden Gerlach, dem Vorsitzenden des Ministerrats Modrow und dem neugewählten Vorsitzenden der SED-PDS, Dr. Gregor Gysi, zusammen. Über diese Zusammenkünfte berichten Vermerke in den Akten des DDR-Außenministeriums. Außerdem gab es ein Gespräch des Generalsekretärs der Kanzlei des Präsidenten der Französischen Republik, Bianco, mit Dr. Gysi. Am 21. 12. 1989 sprach Präsident Mitterand in Leipzig vor einer großen Zahl von Studenten, Intellektuellen und Künstlern in der Karl Marx Universität Leipzig. Hierüber liegt ein französischer Text offenbar aus der Kanzlei des Staatspräsidenten vor.7 Am 22. 12. 1989 gab der Staatspräsident in Berlin eine Pressekonferenz, für die ebenfalls eine französische Quelle vorliegt. Es erscheint von Interesse, den Inhalt der Gespräche über das Selbstbestimmungsrecht mit der Frage einer staatlichen Einheit Deutschlands sowie über das Problem der Grenzen zu analysieren.
III. Das Selbstbestimmungsrecht Schon am 20. Dezember machte Mitterand im Gespräch mit Gerlach klar, dass niemand wisse, was das Volk der DDR aus seiner gewonnen Freiheit machen werde. Das wohne der Freiheit nun einmal so inne. Grundsätzlich sei der Zusammenschluss beider deutscher Staaten für Frankreich kein Problem, wenn auch ein Staat mit 80 Millionen Einwohnern neue Fragen der Anpassung aufwerfen würde. „Doch wenn die Deutschen das wollen und können, würde es Frankreich respektieren.“8 Ebenso betonte der französische Präsident, dass die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten parallel mit dem Zusammenwachsen Europas verlaufen sollte. Am 21. Dezember erklärte Mitterand in einem Gespräch mit Modrow, dass Frankreich das Problem der Einheit nicht schrecke, es handele sich um eine historische Realität. Sie dürfe aber nicht mit einem allgemeinen Durcheinander in Europa einhergehen. Ein zu schneller Ablauf der Ereignisse berge das Risiko in sich, dass die seit 40 Jahren in Europa bestehende Ordnung Gefahr läuft, zusammenzustürzen 5 Toast des amtierenden Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, Prof. Dr. Manfred Gerlach, während des offiziellen Essens anlässlich des Staatsbesuches des Präsidenten der Französischen Republik, Francois Mitterand, am 20. Dezember 1989, Akten Außenministerium DDR. 6 Vgl. Rede des Bundeskanzlers im Rahmen einer Konferenz des Institut Francais, in: Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung, 1991, 187, 188. 7 Dazu auch FAZ v. 22. 12. 1989, S. 2. 8 Vermerk über das Gespräch, S. 4.
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und zu einer instabilen Lage führe. Man habe ihm gesagt, dass die Mehrheit des Volkes der DDR die demokratische Erneuerung wolle, aber doch innerhalb der jetzigen staatlichen Ordnung. Auf der Regierung Modrow laste also eine große Verantwortung für das europäische Gleichgewicht.9 Mehrfach kam Mitterand auf die Bedeutung bevorstehender Wahlen zurück und betonte, es sei entscheidend, welches der Wille des deutschen Volkes sei. Auch in dem Gespräch mit Gregor Gysi am 22. 12. betonte Mitterand, wenn Wahlen eine Entscheidung für eine Wiedervereinigung erbrächten, könne sich dem niemand widersetzen. In dem Gespräch zwischen Gregor Gysi und dem Generalsekretär der Kanzlei des Präsidenten Bianco am 20. 12. äußerte Bianco, dass Kohl von Politikern Westeuropas einer harten Kritik unterzogen werde. Diese müsse aber privat bleiben und könne nicht öffentlich vorgetragen werden, weil dies zu gefährlich wäre. Die Leute würden sagen, dass die Verbündeten vom Recht auf Selbstbestimmung sprechen, sich aber dagegenstellten, wenn dafür die Gelegenheit gegeben sei. Die Gefahr bestehe, bei den Deutschen das Gefühl zu nähren, die ganze Welt sei gegen sie. Nichtsdestoweniger hätten Bush, Thatcher, Italien und die Niederlande Bundeskanzler Kohl kritisiert, weil er zu schnell und zu weit gegangen sei. Auch Gorbatschow habe dies mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, ebenso auch Schewardnadse.10 Auch in seiner Rede vor Studenten am 21. Dezember in Leipzig wiederholte Mitterand, dass es Sache der Deutschen sei zu entscheiden, ob sie eine Wiedervereinigung wollten. Das müsse in freien und geheimen Wahlen geschehen. Gleichzeitig müsse aber das europäische Gleichgewicht berücksichtigt werden. Der Präsident verglich in diesem Zusammenhang den Sieg der Freiheit 1789 in Frankreich mit dem 1989 in Europa, insbesondere in Deutschland. IV. Das Problem der Grenzen In dem Gespräch mit Gregor Gysi am 21. 12. wurde das Problem der Grenzen zunächst von Gysi angesprochen. Er erklärte sich gegen die Wiedervereinigung und für die Zweistaatlichkeit. Dann fügte er hinzu: „Wenn die eine Grenze in Frage gestellt und überwunden werden sollte, wird dies auch mit allen anderen Grenzen geschehen. Darüber kann kein Zweifel bestehen.“ Nach dem Vermerk bejahte Mitterand dieses.11 Ob diese Darstellung richtig ist, mag man bezweifeln, wenn man in dem französischen Text, der die Grundlage der Rede von Mitterand in Leipzig war, die Passage zu den Grenzfragen liest. Dort werden die bestehenden Grenzen erwähnt Vermerk, S. 1 und 2. Vermerk, S. 3. 11 S. 2; die FAZ hatte am 21.12. berichtet, Mitterand habe in einem Gespräch mit dem DDR-Fernsehen gesagt, die Grenzen in Europa müssten respektiert werden (S. 1). 9
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und Mitterand bemerkte: „Wenn man beginnt die Grenzen anzurühren, dann bewegt das überall.“ Er fügte aber dann ausdrücklich hinzu, dass die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten eine andere Natur gegenüber den sonstigen Grenzen habe, weil sie eine Grenze innerhalb eines Volkes sei.12 Im Gespräch mit Gysi am 21. 12. hat Mitterand angeblich auch gesagt: „Ein Deutschland mit 80 Millionen birgt immer die latente Forderung in sich, nach Schlesien, Pommern, Masuren, Sudetenland und Tschechoslowakei.“ Es fragt sich, ob das nicht ein Zusatz des DDR-Protokollanten ist.
V. Bewertung In Bewertungen der DDR wurde vor allem betont, dass das Interesse Mitterands an einer Konsolidierung der DDR, an ihrer ökonomischen und politischen Stabilisierung zum Ausdruck gekommen sei. Danach legte die französische Seite besonderen Wert darauf, ihr Interesse an der Erhaltung der Stabilität der DDR im Verlauf ihres Erneuerungsprozesses und damit an der Gewährleistung der Sicherheit und des Gleichgewichts in Europa zu dokumentieren. Bei Anerkennung des Rechtes des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung habe die französische Seite die Notwendigkeit unterstrichen, die legitimen Sicherheitsinteressen der europäischen Staaten zu beachten, insbesondere die Respektierung der durch die europäische Nachkriegsordnung entstandenen Grenzen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stehe aus französischer Sicht nicht auf der Tagesordnung, da sie destabilisierend wirken könnte. Frankreich gehe davon aus, dass die DDR in den nächsten Jahren als Staat in Europa existiert und eine Perspektive hat. Der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit der staatlichen Wiedervereinigung wird in der Bewertung der DDR übergangen. Man wird nicht sagen können, dass Mitterand mit dem Staatsbesuch in der gespannten Lage im Dezember 1989 Deutschland einen Freundschaftsdienst erwiesen habe. Sein Besuch konnte nur als Stärkung der Eigenstaatlichkeit der DDR verstanden werden, obwohl er immer wieder Wert darauf legte zu betonen, dass letztlich die Deutschen entscheiden müssen, ob es zu einer staatlichen Vereinigung kommt. Le Monde hatte unmittelbar vor dem Besuch am 19. 12. davon berichtet, dass die Entscheidung Mitterands, den Besuch durchzuführen, für den Bundeskanzler erhebliche Schwierigkeiten bei seiner Reise in die DDR hervorgerufen habe. Das habe in Bonn „une réelle irritation contre Paris“ erzeugt.13 Dieser Bericht dürfte zutreffend sein. Am 19. Dezember 1989 hatte der Bundeskanzler seine berühmte Rede in Dresden gehalten. Dabei waren die Rufe „Deutschland, Deutschland“ und „Wir 12 13
S. 21; vgl. auch FAZ v. 22. 12. 1989, S. 2. Le Monde v. 19. 12. 1989, Artikel von Luc Rosenzweig.
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sind ein Volk“ ertönt.14 Kohl hatte die Ansprache mit den Worten beendet: „Gott segne unser deutsches Vaterland“. In dieser Situation musste ein Staatsbesuch in Ostberlin denkbar merkwürdig wirken. Außerordentlich erfreulich ist es aber, aus den Akten der DDR festzustellen, dass Mitterand nirgendwo einen Zweifel daran gelassen hat, dass Frankreich das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes respektieren werde. Dabei war klar, dass eine Selbstbestimmungsentscheidung in beiden Staaten stattfinden musste, wie Bundeskanzler Kohl es in Dresden eindeutig formuliert hatte.15 Eine Majorisierung der DDR-Bevölkerung war faktisch und rechtlich ausgeschlossen.16
Teltschick a. a. O., 91. Kohl formulierte in seiner Rede: „Und, liebe Freunde, Selbstbestimmung heißt für uns – auch in der Bundesrepublik –, dass wir Ihre Meinung respektieren. Wir wollen und wir werden niemanden bevormunden. Wir respektieren das, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes.“ Text nach J. Thies u. W. Wagner, Das Ende der Teilung, 1990, 256. 16 Dazu J. A. Frowein, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, VVDStL 49 (1990), 7, 13. 14 15
Der autonome Rechtsraum des Einzelnen, Wesensgehalte der Grundrechte und die Befugnisse des Gemeinwesens – eine Annäherung Von Helmut Goerlich*
Selbstbestimmung und Selbstverständnis des Einzelnen in Ansehung seiner Rechte stoßen oft auf die Berufung auf eine „Letztentscheidungsbefugnis“ des Gemeinwesens. Freie Verfassungen respektieren den Raum, der dem Einzelnen zukommt. Die Praxis versucht, aus der Perspektive öffentlicher Interessen beides zu vermitteln. Manchmal erweist sich, dass der Respekt für Rechte und Befugnisse des Einzelnen dem öffentlichen Interesse näher ist, als sie zurückzustutzen. Persönliche Lebensgestaltung des Individuums – nicht nur in besonders kritischen Situationen – und religiöse Disposition der Person – gerade jenseits bürokratisch erfasster herkömmlicher Bekenntnisse – führen immer wieder zu solchen Fragestellungen. Wilfried Fiedler hat sich mit der Religionsfreiheit in internationaler Perspektive besonders befasst.1 Das ist Anlass genug, Grundfragen solcher Freiheiten der persönlichen Lebensgestaltung noch einmal aufzuwerfen, zumal in der amerikanischen Diskussion in der Nachfolge von Roger Williams die Empfindlichkeit des Gewissens in solchen Fragen gerade zu einem neuen Respekt gegenüber Gewissen und Glauben führt, der Konsequenzen für das staatliche Religionsrecht einfordert. Im Ergebnis erweist sich ein egalitäres Religionsrecht als der in dieser Tradition allein gangbare Pfad.2 Darauf ist hier aber nicht näher einzugehen. Es interessiert vielmehr, welche Bedeutung heute – angesichts der Freiheitsrechte – der Rede* Prof. Dr. Helmut Goerlich, von 1992 bis 2008 Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig, wiederholt Dekan, jetzt Emeritus. Wilfried Fiedler hat mich im Jahre 1976 im Seminar von Konrad Hesse in Freiburg i. Br. kennengelernt, an dem ich damals oft teilnahm. 1 Siehe nur W. Fiedler, VVDStRL 59 (2000), 199 ff. 2 Dazu M. C. Nussbaum, Liberty of Conscience – In Defense of America’s Tradition of Religious Equality, 2008; auch dies., Gleiche Achtung. Über echte Gewissensfreiheit, Südd. Ztg. Nr. 8 v. 12. 1. 2009, S. 12; zum Buch H. Goerlich, Der Staat 48 (2009), 317 ff.; für eine jüngere europäische dogmatische Darstellung M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, 2008.
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weise vom „Letztentscheidungsrecht“ oder einer dahingehenden Befugnis des Staates oder – besser – des Gemeinwesens zukommt. Die Formel von der „Letztentscheidung“ scheint schließlich alle Freiheiten und Rechte zur Disposition der öffentlichen Gewalt zu stellen. Dabei droht Freiheit, auch als „Eingriffsabwehr“ nicht mehr wirksam sein zu können, zu schweigen von einem älteren Freiheitsverständnis, das Freiheit mit Strukturen und Verfahren einer Verfassung des Gemeinwesens verbindet, die sie zu sichern, auf Dauer zu stellen und von jeder Willkür freizuhalten in der Lage sind. Darauf ist im Blick auf jüngere Studien zum Freiheitsbegriff am Ende zurückzukommen. Zunächst geht es indes vor allem um die Frage, ob es einen unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit gibt, der nicht der Abwägung gegen andere Rechtsgüter ausgesetzt sein kann. Die jüngeren Auseinandersetzungen um die Folter haben das sichtbar gemacht, indem hier Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG als Abwägungsverbot begriffen wurde;3 ähnlich deutlich erinnert an ein solches Verbot, wenn für unzumutbar erachtet wird, die eigene Weltanschauung zu offenbaren,4 was wiederum an die so genannte Lohengrinklausel des Art. 136 Abs. 3 WRV denken lässt, der auf die religiöse Überzeugung abstellt, sicher aber heute unter Art. 140 GG auch die Weltanschauung meint; ein Verbot, das manchmal übersehen scheint.5 Solche Offenbarungspflichten bestehen ebenso wenig wie für sonstige Überzeugungen oder Meinungen.6 Das gilt auch für Gewissensfragen im Übrigen.7 Nicht zuletzt hat zudem das Folterverbot diesen Hintergrund: Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG soll nicht nur die Autonomie der Person in einer überhöhten, auf die menschliche Würde bezogenen und damit zugleich auch abstrakten Weise sowie die physisch-körperliche Integrität schützen, sondern er dient zugleich dem Schutz dagegen, genötigt zu werden, etwas gegen den eigenen Willen mitzuteilen. Manchmal macht eine Entscheidung auch sichtbar, dass Verschwiegenheit rechtswahrend wirken kann,8 etwa wenn eine Lehrerin aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung trägt, dies aber 3 Dazu Ch. Enders, DÖV 2007, 1039 (1040); Ch. Degenhart, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 104 Rn. 41 – 43; F. Rottmann, in: H. Goerlich (Hrsg.), Staatliche Folter etc., 2007, S. 75 ff.; aus der Rspr. zur Sache Gäfgen BVerfG (3. Kammer des II. Senats), B. v. 14. 12. 2004 – 2 BvR 1249 / 04 –, NJW 2005, 656; dann EGMR (Fünfte Sektion), Urt. v. 30. 6. 2008 – Nr. 22978 / 05 –, EuGRZ 2008, 466 (471 ff.); nun EGMR (Große Kammer), Urt. v. 1. 6. 2010 – Nr. 22978 / 05; vgl. hierzu mit umfassenderer Perspektive I. Meyer-Ladewig, NVwZ 2009, 1531 ff.; jüngst I. Hofmann, NVwZ 2010, 217 ff. 4 Anders BVerwGE 109, 40 (53); dagegen G. Herbert, JöR 57 (2009), 537 (540); mit zustimmendem Bezug auf H. Goerlich, NVwZ 1995, 1184 (1186). 5 Vgl. BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2005 – 7 C 20 / 04 –, NJW 2006, 1303 ff.; dazu H. Goerlich, tv diskurs 37 (2006), 94 (97). 6 Vgl. M. Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, 2001, S. 456 ff. 7 Vgl. M. Hilti (Anm. 2), S. 189 f. 8 Zum Recht, zu schweigen, A. Peters, Einführung in die Europ. Menschenrechtskonvention, 2003, S. 131 ff.; auch strafprozessual darüber hinaus J. T. Gruber, Die Lüge des Beschuldigten im Strafverfahren, 2008, S. 82 ff.; eine Aussage gegen sich selbst unter Zwang ist ausgeschlossen, vgl. BVerfGE 55, 144 (150); 56, 37 (43).
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eben nicht mit religiösen Bekundungen verbindet.9 Einen ähnlichen Hintergrund können Aussageverweigerungsrechte haben. Und die Befugnis, auf eine religiöse Formel bei der Eidesleistung oder auf den Eid überhaupt zu verzichten, kann den Rechtsraum der eigenen Person unangetastet lassen. Auf der anderen Seite löst es Besorgnis aus, dass die Rechtsprechung an einer flächig-räumlich orientierten Kernbereichsdogmatik immer mehr Abstriche zu machen scheint,10 wiewohl auch sie unverändert einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung kennt.11 Im Übrigen hilft auch die Verfassungsvergleichung weiter, so etwa mit der Schweiz, wo auch aufgrund eines älteren Rechts auf ein schickliches Begräbnis heute das säkulare Recht auf selbstbestimmte Bestattung etabliert ist, das gewiss auch die muslimische Form der sarglosen Beerdigung umfasst.12
I. Problemaufriss Das Bundesverfassungsgericht hat früher einmal im Zusammenhang eines Grundrechts von einem eigenen Rechtsraum des Individuums gesprochen, der ihm zustehe und insoweit jede staatliche Einflussnahme verbiete.13 Das Gericht sieht einen „von staatlicher Einflussnahme freien Rechtsraum“, der mit der Glaubensund Bekenntnisfreiheit gewährleistet sei; in ihm könne sich jeder eine Lebensform geben, die seiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugung entspricht. Später erläutert das Gericht in diesem Beschluss, dass allein dem Bürger als Menschen die Befugnis für Entscheidungen in Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfragen 9 Implizit so BVerwG, B. v. 16. 12. 2008 – 2 B 46.08 –, VBlBW 2009, 140 (141) = NJW 2009, 1289 (1290) – Cannstatter Kopftuch; allerdings erinnert das an die umstrittene, vielleicht alsbald durch Antidiskriminierungsschutz ersetzte US-amerikanische „don’t ask, don’t tell“-Regel beim Militär, die aufgrund eines Erlasses von Präsident Bill Clinton gleichgeschlechtlich ausgerichteten Soldaten und Soldatinnen den Verbleib im Dienst ermöglichte, ohne dies hier nun zu vergleichen; s. aber den Bericht R. Sotscheck, „Obama entlässt schwulen Offizier“, in: taz v. 15. 5. 2009, S. 11, u. zum Ergebnis FAZ Nr. 132 v. 10. 6. 2009, S. 6; ein anderer Grund, das Kopftuch zu dulden, kann Gewissensnot sein – ob sie vorlag, ist im Cannstatter Fall nicht geklärt worden, wie das Revisionsgericht in dem eben genannten Nichtzulassungsbeschluss festhielt. 10 Dazu R. Poscher, JZ 2009, 269 ff.; u. krit. U. Volkmann, AnwBl. 2009, 118 ff. 11 Deutlich BVerfG, Urt. v. 1. 4. 2008 – 1 BvR 1620 / 04 –, EuGRZ 2008, 219 (225). 12 Vgl. J. P. Müller / M. Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 160 f. 13 Vgl. BVerfGE 44, 37 (49) mit der Formulierung der Gewähr „eines von staatlicher Einflussnahme freien Rechtsraums“; vgl. schon BVerfGE 12, 1 (3); dieser Formulierung nachzugehen, könnte auch in eine vor allem historisch und punktuell an Gefährdungslagen orientierte Erschließung des Gehalts von Grundrechten führen; dies tut die eben erschienene, bei R. Wahl entstandene Dissertation; sie will der in Beliebigkeit abrutschenden Abwägungsjurisprudenz ebenfalls Einhalt gebieten; sie lag mir bei Abfassung vorliegenden Beitrages noch nicht vor, vgl. aber B. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt. Eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung, 2009; dieser Ansatz entspricht den prinzipiellen Aussagen in der früheren Rechtsprechung und wird hier geteilt, vgl. nur BVerfGE 50, 290 (337) – Mitbestimmung.
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nach Art. 4 Abs. 1 GG zukomme. Dem Grundgesetz sei eine Fürsorge des Staates in Glaubensangelegenheiten mit dem Zweck, vor übereilten Entschlüssen zu schützen, fremd. Gedanken der allgemeinen Rechtsordnung seien nicht geeignet, die Freiheiten des Art. 4 GG zu relativieren.14 Dies stellt auch eine oft behauptete alleinige Bestimmungsmacht des Staates darüber in Frage, was diese Freiheiten enthalten. Diese Behauptung geht dabei allerdings von dem Gedanken des Schutzes durch den Staat aus und meint, der Staat könne nur schützen, was er zu definieren befugt sei.15 Fraglich bleibt indes, ob es nicht doch Gegenstände gibt, die allein dem Individuum zugewiesen sind und einem paternalistischen Regime definitionsmächtigen Schutzes seitens des Staates nicht ausgeliefert sein dürfen. Auch später haben manche Formulierungen irritiert, besonders den, der offenbar dem Staat die Dispositionsbefugnis über Freiheitsrechte oder ihre Beanspruchung durch das Individuum zuweist.16 Größere Arbeiten hatten mindestens bekräftigt, dass das Selbstverständnis ein leitendes Kriterium der Auslegung des Schutzbereichs von Grundrechten ist.17 Grundsätzlicher noch verbirgt sich dahinter die Frage, ob es Freiheitsgehalte gibt, die schlechterdings nicht zur Disposition des Staates stehen, selbst dann nicht, wenn er als Gemeinwesen „Letztentscheidungsbefugnis“ über deren Deutung zu beanspruchen geneigt ist. Betont wurde dies auch mit der Schaffung eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung,18 das allerdings einzelnen Grundrechten Elemente ihres Schutzes entzog und in sich aufnahm. Vielleicht hätte hier ein Festhalten der Anseilung an den jeweiligen Schutzbereich nicht nur Differenzierungen, sondern auch mehr Substanz erhalten. In diesem Sinne kann es eine ganze Reihe von Selbstbestimmungsrechten geben,19 die Kerngehalte verschiedener Grundrechte ausmachen. 14 Vgl. BVerfGE 44, 37 (52 f.); wenig emphatisch zeigte sich dies auch, als der Eideszwang für den Zugang zum juristischen Referendariat und dem Anwaltsberuf fiel, vgl. für letzteren BVerfG (Vorprüfungsausschuss), B. v. 26. 1. 1978 – 1 BvR 1200 / 77 –, EuGRZ 1978, 99. 15 Dazu J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 35; diese Schrift richtet sich gegen P. Häberle, JZ 1975, 297 ff.; u. ders., VVDStRL 30 (1972), 42 (69 ff.); u. jetzt ders., Verfassungsvergleichung in europa- u. weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 121 (128 ff.). 16 So bzgl. eines „Bürgeropfers“ in Ansehung des Lebens Ch. Enders (Anm. 3), 1039 (1045 f.); bzgl. des Rechts aus Art. 4 Abs. 3 GG ders., Toleranz als Rechtsprinzip?, in: ders. / M. Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip, 2007, S. 243 (255 ff.); dagegen F. Rottmann, Toleranz als Rechtsprinzip?, in: Mitglieder der Juristenfakultät (Hrsg.), Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 2009, S. 551 ff. 17 Vgl. M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, bes. S. 439 ff.; vorher W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation. Grundrechtsauslegung zwischen amtlichem Interpretationsmonopol und privater Konkretisierungskompetenz, 1987. 18 BVerfGE 65, 1 (44); diese verselbstständigende Formulierung nimmt einen Bereich heraus, der neben anderen, auch durch besondere Grundrechte geschützten Bereichen steht; für eine Übersicht H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 2 I Rn. 69 ff., der von Teilgehalten spricht und zahlreiche Beispiele nennt, von privaten Tagebüchern bis zum nach außen tretenden Bild, etwa in Falschzitaten und Bildmontagen. 19 Siehe Ch. Grabenwarter, Europ. Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 22 Rn. 7, 8, 25, 39, 54 u. 86.
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II. Felder der Rechtsprechung im Ansatz Dass die Verfassung einen eigenen unantastbaren Rechtsraum zur Gestaltung einer eigenen Lebensform zuweist, erscheint indes unzweifelhaft. Ebenso gewährt sie Selbstbestimmung über das eigene Wort20, den eigenen sozialen Geltungsanspruch21 und die eigene Erscheinung in der Öffentlichkeit22. Darüber hinaus enthalten Grundrechte die Rechtsmacht, Einwirkungen der öffentlichen Hand auszuschließen,23 wobei auch dies einem Freiheitsraum für eigenverantwortliche Lebensgestaltung dient24. Das Eigentum weist damit einen Freiheitsgehalt auf, der sich auf die persönliche Lebensgestaltung bezieht, wiewohl die Qualifikation dessen, was Eigentum ist, im Übrigen weithin der Gesetzgebung überantwortet ist. Dabei ist – ganz anders als im Falle des gesetzesgeleiteten Inhalts des Art. 14 Abs. 1 GG – gerade im Zusammenhang des Art. 4 Abs. 1 GG früh das Selbstverständnis dessen, dem als Eigentümer die individuelle Rechtsmacht persönliche Freiheit sichernden Eigentums zugewiesen ist, als autonomes Auslegungskriterium herangezogen worden.25 Das gilt selbst für kollektive Formen der Wahrnehmung von Grundrechten, was dann zu den eigenen Angelegenheiten führt, die Religionsgesellschaften im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG selbst verwalten. Der soziale Bezug ist offensichtlich, wenn es um die Teilnahme an gemischt-geschlechtlichem Schwimmunterricht in der obligatorischen Schule geht; hier hat jüngst eine Entscheidung ausgeführt, dass der Kerngehalt der Religionsfreiheit nur innere Freiheit, nicht auch äußere Freiheit sichere.26 Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass viele Grundrechte die eigene Lebensgestaltung allein in die Befugnis des Einzelnen stellen. Das erreicht auch die Entscheidung über das eigene Geschlecht und zwar selbst dann, wenn man verheiratet ist.27 Es gilt auch für den Kontakt zum eigenen Kind, jedenfalls solange kein erheblicher sozialer Bezug dagegen spricht.28 Ähnlich ist auch das Bild der 20 Dazu BVerfGE 54, 148 (155 f.) – Eppler – mit Bezug auf das Selbstverständnis i. S. v. BVerfGE 24, 236 (247 f.); zuvor BVerfGE 34, 238 (246 f.); dann BVerfGE 106, 28 (39) m. w. N. 21 Siehe BVerfGE 54, 208 (217 ff.) – Böll. 22 Zuletzt BVerfGE 120, 180 (198 f.) – Caroline II. 23 Siehe BVerfGE 24, 367 (396) für das Eigentum. 24 BVerfGE 102, 1 (15); früher BVerfGE 24, 367 (389); 50, 290 (339); 53, 257 (290). 25 Vgl. BVerfGE 24, 236 (247 ff.); vgl. auch für die Zuordnung von Freiheitsraum u. allgemeinen Belangen bei Art. 14 Abs. 1 GG BVerfGE 50, 290 (339 ff.); 58, 81 (114 f.); 91, 294 (308); 110, 1 (28). 26 Schweiz. BG, Urt. v. 24. 10. 2008 – 2 C_149 / 2008 –, EuGRZ 2009, 121 (123); anders dieses Gericht früher, dazu J. P. Müller / M. Schefer (Anm. 12), S. 274 f. 27 Siehe zuletzt BVerfG, B. v. 27.5. 2008 – 1 BvL 10 / 05 –, JZ 2009, 45 (45, 47), das auf die engere persönliche Lebenssphäre und die Sphäre privater Lebensgestaltung auch dieser auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner abstellt. 28 BVerfG, a. a. O.
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Ehe des Art. 6 Abs. 1 GG in ihrer gelebten Form und Gestalt nicht in der Hand des Staates. Hier findet sich die Formulierung, wonach Art. 6 Abs. 1 GG eine Sphäre privater Lebensgestaltung garantiert, die der staatlichen Einwirkung entzogen ist.29 Im Falle der Ehe ist hier von Interesse, dass es zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft in der Ehe kommen kann, entgegen dem Bild der Ehe, das die Verfassung enthält.30 Nicht zuletzt stößt man auf solche Fragen, wenn der Einzelne entscheidet, seine Lebensweise im Falle eines Unfalles oder einer Erkrankung oder aber in höherem Alter gegen das Lebensende hin selbst zu bestimmen. Damit sind vor allem EthikKommissionen befasst. So sehr der Staat zu einem Regime einer Verpflichtung zum Schutz neigt, so sehr muss es von Rechts wegen doch dem Einzelnen überlassen bleiben, hier zu entscheiden. Das gilt etwa im Verhältnis zwischen Arzt und Patient für die „Selbstbestimmungsaufklärung“ vor einem Eingriff und für die „Sicherungsaufklärung“ nach einem Eingriff, um diesen therapeutisch abzusichern.31 Es gilt aber auch für den Fall der Patientenverfügung, die nun neu geregelt werden soll, wobei sich hier besondere Probleme der Verfügung über die eigene Existenz, der Selbstbestimmung hierbei und einer etwaigen Schutzpflicht des Staates, auf die alsbald einzugehen ist, stellen. Sie sollen gesetzlich näher geregelt werden.32 Erstaunlicherweise ist der eigene Rechtsraum des Einzelnen in seinem engsten Lebensraum, der eigenen Wohnung, nicht absolut geschützt, sondern unter ein Verhältnismäßigkeitsregime gestellt und unter den Schirm der behördlichen Integrität verbracht dahin, dass abgehörte und aufgezeichnete, aber nicht einschlägige Gespräche oder sonstige Informationen sogleich wieder gelöscht werden.33 Dieses Erstaunen setzt allerdings voraus, dass es technische Lösungen gibt, die ermöglichen, diesen Raum privater Lebensführung zu respektieren, ohne derartige vertrauensorientierte Konzepte als rettende Strohhalme ergreifen zu müssen. Nahe gelegen hätte aber ein Versuch in diese Richtung, zumal die Entscheidung nach der Rechtsprechung seit der ersten Abhör-Entscheidung34 in der Reichweite des Art. 79 Abs. 3 Ständige Rechtsprechung, zuvor zuletzt BVerfGE 107, 27 (53) m. w. N. Dazu BVerfGE 105, 313 (342 f.). 31 Dazu G. Sandberger, Rechtsfreie Räume gibt es nicht – Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Entscheidungen von Ärzten und Patienten. Tübinger Ringvorlesung des Studium Generale 2007, S. 8 d. Ms.; dazu nun auch G. Marckmann / ders. / V. Wiesing, DMW 2010, 570 ff. vgl. i. Ü. jetzt Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts v. 29. 7. 2009 (BGBl. I 2286). 32 Siehe dazu F. Kübler / W. Kübler, ZRP 2008, 236 ff.; wiederum G. Sandberger, In dubio pro vita – in dubio pro dignitate. Selbstbestimmung am Lebensende? Lebenserhaltende Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen Lebensschutz und Patientenautonomie, Ms. 2008; umfassend zum deutschen u. amerikanischen Recht U. Kämpfer, Die Selbstbestimmung Sterbewilliger, 2005; dazu aus deutscher Sicht krit. Rez. v. Ch. Hillgruber, Der Staat 48 (2009), 305 (306 ff.). 33 BVerfGE 109, 279 (308 ff.) mit abw. Meinung der Richterinnen Jäger und HohmannDennhardt. 34 BVerfGE 30, 1 (17 ff.) mit abw. Meinung der Richter Geller, v. Schlabrendorff und Rupp. 29 30
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GG ergehen musste, sich also die Frage stellte, was Teil jener Würde ist, die einen „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ betrifft, welcher einer Überwachung schlechterdings nicht zugänglich ist. Weniger problematisch mögen Maßnahmen sein, welche die Kenntnisnahme von Kontostammdaten betreffen.35 In der dazu ergangenen Entscheidung werden Sphären der Selbstbestimmung zusammengefasst, etwa von der informationellen Selbstbestimmung über das klassische Postund Fernmeldegeheimnis hin zum allgemeinen Schutz der Privatsphäre als aus Art. 2 Abs. 1 GG entwickelte und heute um ein Grundrecht auf „Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“ ergänzte Rechtsfortbildung.36 Soweit nicht unmittelbar der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ verletzt ist, gehen viele dieser Entscheidungen so vor, dass sie sich auf Varianten des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stützen, um Maßstäbe zu entwickeln. Dabei ist in der Praxis die Handhabung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in so hohem Maße von einer Würdigung der Fakten abhängig, dass die Ergebnisse sehr unterschiedlich ausfallen, wenn nicht auf den ersten Blick willkürlich erscheinen können. Dennoch hat sich kein anderer Maßstab gefunden.37 Er liegt bei einem Verständnis der Freiheit vom bloßen Eingriff her schließlich auch nahe. Soweit Richtervorbehalte oder ähnliche Vorkehrungen gefordert worden sind, haben auch sie keine andere Grundlage. Daher erscheint es auch so schwer, absolute Grenzziehungen zu begründen. Dies hat sich auch bei der Entscheidung über Online-Durchsuchungen gezeigt, die immerhin die persönliche Lebenssphäre zu schützen sucht.38 Zudem scheinen sich nun die Entscheidungsebenen nach Europa zu verlagern. Offen ist nämlich noch, ob Vorratsdatenspeicherungen nicht nur dem nationalen Verfassungsrecht39, sondern auch den Grundrechtsstandards der Europäischen Union entsprechen.40 Wie weit die Menschenrechte gegenüber Maßnahmen supranationaler oder weltweit wirksamer Autoritäten unter Aspekten der Selbstbestimmung und vor allem der Wahrung eines eigenen Rechtsraumes greifen, ist noch nicht abschließend geklärt.41 Auf nationaler Ebene lässt dieser grobe Überblick vielleicht schon erkennen, dass materiell in jenen – von staatlicher Einflussnahme freien – Rechtsraum zahlBVerfGE 118, 168 (183 ff.). BVerfGE 120, 274 (302 ff.); s. auch BVerfGE 120, 378 (397 ff.). 37 Es ist denn auch kein Zufall, dass der Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte auch von richterlicher Seite vor allem in der Beachtung strikter Verhältnismäßigkeit von Eingriffen gesehen wurde, vgl. G. Herbert, EuGRZ 1985, 321 ff.; vgl. insgesamt H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 II Rn. 14 ff. 38 BVerfGE 120, 274 (302 ff.), wobei ein Recht auf „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ postuliert wird, um die einschlägigen Grundrechte weiterhin schützen zu können. 39 Vgl. die Eilentscheidungen BVerfG, B. v. 28. 10. 2008 – 1 BvR 256 / 08 –, EuGRZ 2008, 663 ff.; BVerfGE 121, 1 ff. u. 391 f.; gegenläufig BVerfG, B. v. 15. 10. 2008 – 2 BvR 236 / 08 –, EuGRZ 2008, 656. 40 Dazu bisher ohne Grundrechtsprüfung EuGH, Urt. v. 10. 2. 2009 – Rs. C-301 / 06 – Irland v. Europäisches Parlament u. Rat der Europäischen Union –, EuGRZ 2009, 17 ff. 41 M. Kotzur, EuGRZ 2008, 673 ff. 35 36
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reiche Elemente fallen, so etwa die körperliche Integrität im Sinne von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, die eigene individuelle Lebensgestaltung, darunter die persönliche Sphäre des Gewissens, der Gedanken, der Meinungen und der Weltanschauung wie der Religion, die in aller Regel Offenbarungspflichten nicht begleiten, Darlegungslasten nicht nach sich ziehen und keiner Rechenschaft unterliegen. Daran schließt sich die Fülle der durch den Datenschutz gesicherten Elemente vieler Grundrechte an, deren Schutzbereiche dies ebenfalls abdecken, also etwa Ehe und Familie sowie die Lebensgestaltung in diesem Bereich, die schon genannten Rechte aus Art. 4 und Art. 5 GG, aber auch der Wohnung, der Kommunikation im Übrigen und des Berufs, abgesehen von den im Verlauf der Rechtsprechung aus Art. 2 Abs. 1 GG entfalteten sonstigen Rechten. Diese können auf dem knappen Raum hier nur angedeutet werden. Vor Kurzem hat das Bundesverfassungsgericht zudem eine ältere Vorstellung wieder aufgegriffen: dass nämlich die Entscheidung des Einzelnen, Grundrechte zu beanspruchen, auszuüben und dies in sichtbarer Weise zu tun, durch „Einschüchterungswirkungen“ nicht behindert werden darf, etwa indem die Verwaltung befugt wird, vorsorglich Daten demonstrationswilliger Bürger zu sammeln.42 Dieser Ansatz entspricht der älteren Dogmatik in der amerikanischen Judikatur, wonach im Umkreis der Wahrnehmung solcher Rechte kein „chilling effect“ entstehen darf.43 Dieser Gedanke geht auf die sehr alte Klage zurück, wonach die römischen Bürger und Senatoren unter den Kaisern ihre Rechte aus einer gewissen Verängstigung heraus nicht mehr wahrgenommen haben.44 Diese für den Freiheitsbegriff wichtige Vorverlagerung der Reichweite grundlegender Rechte zeigt, dass die Wahrung der Selbstbestimmung auf der Grundlage einer freien Entscheidungsbildung zu jenem gesicherten Rechtsraum zugunsten des Individuums gehört. Daher ist auch deutlich, dass Freiheit nicht nur Eingriffsabwehr meinen kann, vielmehr darüber hinaus Strukturen voraussetzt, die Verängstigungs- und Einschüchterungseffekte ausschließen. Ebenso wenig darf Bestimmungsmacht über die Entscheidungsbildung zu derlei führen. Insgesamt kann man sagen, dass all diese Elemente des Grundrechtsschutzes durch einen unübersehbaren, typisch personalen Bezug im Sinne der Selbstbestimmung geprägt sind, während mit dem Anwachsen eines sozialen Bezugs der Grundrechtsausübung die Grundrechte Eingriffen von hoher Hand eher offen stehen. Allerdings kann auch insoweit eine paternalistische oder edukatorische Bevormundung im Sinne einer Verpflichtung 42 Vgl. BVerfG, B. v. 17. 2. 2009 – 1 BvR 2492 / 08 –, EuGRZ 2009, 167 (171 f.); zu solchen Effekten auch BVerfGE 114, 339 (349 f.) u. BVerfG (1. Kammer des I. Senats), B. v. 19. 12. 2007 – 1 BvR 967 / 05 –, EuGRZ 2008, 331 (333), die Pressefreiheit betreffend. 43 L. H. Tribe, American Constitutional Law, 1. Auflage 1978, S. 639 ff., 712 ff. 798 f.; 2. Auflage 1988, S. 861 ff., 894 f., 1024 ff., 1034 f., 1038 f.; vgl. auch J. P. Müller / M. Schefer (Anm. 12), S. 375 ff. 44 Tacitus berichtet dies für die Zeit unter Kaiser Tiberius; für die Rezeption dieser Quellen in der angelsächsischen Tradition s. Q. Skinner, Hobbes and Republican Liberty, 2008, S. 214 f., 144, 67 m. N.
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auf ein „gutes Leben“ nicht Platz greifen; das wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar.45 Nichts anderes gilt für den Tod. Es kann nicht dazu verpflichtet werden, zu leben.
III. „Schutzpflichten“, Beschränkung, Ausgestaltung, Handlungsform und Gemeinwohl Seit dem Jahre 197546 entwickelten sich indes unabhängig von solchen Vorstellungen Schutzpflichten, die der Staat im Interesse der Wahrung eines Grundrechts zu erfüllen hat, zu einer allgemeinen Figur der Grundrechtsdogmatik. Zuvor war dies nur bedeutsam im spezifischen Rahmen einzelner Grundechte, etwa zu Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 GG. Die Entwicklung war indes angesichts des Verständnisses von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG als geltendes und durchsetzbares Grundrecht nicht erstaunlich. Denn dann musste auch Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG konkretere Rechtsverbindlichkeit erhalten, konnte schwerlich nur als politisches oder gesetzespolitisches Gebot zu verstehen sein. Hinzu kam dann noch, dass das Leben i. S. v. Art. 2 Abs. 2 GG als vitale Basis der Menschenwürde47 gesehen wurde und infolgedessen an deren Unantastbarkeit teilnahm. Die Lehren von den Schutzpflichten können indes nicht dazu dienen, die Freiheitssphären des Einzelnen und elementarer Gemeinschaften gänzlich in öffentliche Regie des Staates zu verbringen. Wenn die Erfüllung solcher Pflichten den Gebrauch der Grundrechte beschränkt, hat sie deshalb den einschlägigen Anforderungen an die Beschränkung von Grundrechten zu genügen. Allerdings verändern Schutzpflichtlehren die Perspektive: Die Definitionsmacht des Staates erhält die Weihe einer verfassungsrechtlichen Pflicht. Das lockert die Rigidität der Selbstbestimmung jedenfalls auf. Der eigene Rechtsraum wird aufgeschlossen für staatliche Wertungen. Es entstehen neue Schwierigkeiten der Bestimmung der Grenzen eingriffswirksamer Möblierungen dieses Rechtsraums. Nichts anderes gilt schließlich, wenn Ausgestaltungen von Grundrechten unter irgendeinem Aspekt wie Beschränkungen wirken. Ausgestaltungen sind zwar darauf ausgerichtet, den Gebrauch von Freiheiten zu ermöglichen. Teilweise machen sie dies erst möglich. Aber das schließt nicht aus, dass eine gewählte Ausgestaltung des staatlichen Rechts unter einem Aspekt oder gegenüber einer Gruppe von Adressaten als Beschränkung wirkt. Daher sind Maßnahmen, die der Erfüllung von Schutzpflichten dienen, so ambivalent wie Ausgestaltungsakte des Staates. Dies gilt unabhängig davon, in welchen 45 Abw. Meinung. v. Richter Masing zu BVerfGE 121, 317 (381, 385, 388); u. Senat in BVerfGE 22, 180 (219 f.); auch BVerwGE 82, 45 (49). 46 Beginnend mit BVerfGE 39, 1 (41 ff.). 47 BVerfGE 39, 1 (42); auch, allerdings kritisch H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 78.
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Formen gehandelt wurde. Allerdings gilt für Beschränkungen meist ein Gesetzesvorbehalt, der teilweise vom Parlament selbst im Wege des Vorbehalts des Gesetzes, also nicht auf dem Verordnungswege durch die Verwaltung wahrzunehmen ist. Dies gilt auch für Akte der Zuordnung von Grundrechten und Verfassungsgütern, die an ihren Schutzbereich angrenzen, zu konkretisieren sind und deshalb manchmal Eingriffe in diese Rechte erfordern. Der eigene Rechtsraum, den elementare Freiheitsrechte gewährleisten, kann allerdings weder im Wege der Ausgestaltung noch im Wege der Erfüllung von Schutzpflichten und ebenso wenig durch Beschränkungen von staatlicher Seite angetastet werden. Allenfalls Verfahrensregeln können legitim sein, die sicherstellen, dass es um den eigenen Rechtsraum des Individuums geht und die Voraussetzungen allein ihm zustehender Entscheidungen in jenem Rechtsraum erfüllt sind. Dies erklärt insbesondere im Bereich der Medizin und an den Grenzen des Lebens den Versuch, durch Verfahrensvorkehrungen die Durchsetzung des Rechts sicherzustellen, das darauf gerichtet ist, Schaden von auch unter Privaten anerkannten Rechtsgütern abzuwenden. Dabei geht es auch um strafrechtliche Schutzmechanismen. Dennoch ist in der Sache jener eigene Rechtsraum anzuerkennen, der dem Individuum kraft der Freiheitsrechte zusteht. Dieser Rechtsraum steht auch nicht unter einem Gemeinwohlvorbehalt, der im Wege der Gesetzgebung oder auf andere Weise auftreten könnte. Dem Grundsatz nach ist dieser Rechtsraum der Disposition des Gemeinwesens oder des Staates schlechthin entzogen. Ältere Lehren der staatsphilosophischen Traditionen des deutschen Idealismus, seiner Vorgänger und seiner Epigonen ändern daran nichts.48 Es gibt keine Parallelstruktur zu der des bestehenden Rechts, die als Notrecht oder andere Figuration das bestehende Recht verdrängen könnte. Das beruht auf der Unverrückbarkeit gerade der Gewährleistungen zunächst von Art. 1 Abs. 1 GG, wie sie Art. 79 Abs. 3 GG sicherstellt.49 Selbst wenn und soweit Art. 79 Abs. 3 GG im Wege einer neuen Verfassung beiseite gesetzt werden sollte, so setzt dies jedoch das dafür erforderliche Verfahren eines Akts der pouvoir constituante voraus. Es gilt dann ein neuer Text und nicht eine Philosophie. Im Übrigen wird dieser Akt der Tradition der Rechteerklärungen folgen müssen, die alle einen eigenen Rechtsraum für die eigene Lebenssphäre und Lebensführung des Individuums und in ihrer heutigen Fassung auch elementarer menschlicher Gemeinschaften voraussetzen. 48 Gelegentlich bezieht man sich hierzu auf G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1976, § 270, S. 415 ff. (mit der Anm. S. 421); dazu Ch. Enders, Toleranz (Anm. 16), S. 258. 49 Dabei ist hier nicht darauf einzugehen, wie die Praxis eine verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen im Lichte von Art. 79 Abs. 3 GG so vornimmt, dass aus ihrer Sicht Art. 1 Abs. 1 GG keinen Schaden nimmt; dazu A. Holzmann, Entweder – Oder!? – Das Dilemma zwischen Freiheit und effektiver Strafverfolgung am Beispiel der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Großen Lauschangriff“, in: W. Gropp / A. Sinn (Hrsg.), Organisierte Kriminalität und kriminelle Organisationen, 2006, S. 133 ff.; zur jüngeren Gesetzgebung i. Ü. H.-H. Trute, Die Verwaltung 42 (2009), 85 ff. m. w. N.
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IV. „Selbstregulierung“ und „Rechtspluralismus“ als Signalworte der Pluralisierung in Gesellschaft und Gemeinwesen Jenseits des Individuums wird der eigene Rechtsraum, der kraft Grundrechten auch kollektiven sozialen Erscheinungen zustehen muss, heute des Öfteren mit der Formel von der Selbstregulierung ausgewiesen. Hinzu tritt dabei die Formel von der regulierten Selbstregulierung50, sofern der Staat mit einer rückverlagerten, aber doch mittelbar steuernden Rolle ins Spiel kommt oder dort bleibt. Früher hätte man hier auf die freie Verbandsbildung in Staat, Gesellschaft und Kirchen verwiesen. Heute stehen dafür nicht die Deutungen der Artt. 9 Abs. 1, 21 und 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV, sondern solche terminologische Neuschöpfungen, die allerdings in diesen normativen Rahmen finden müssten. Sachlich geht es nämlich um Spielarten von Autonomie, Selbstverwaltung und letztlich, an einem Ende des Spektrums, um freie Assoziation.51 Diese neuen Formeln zeigen – ganz unabhängig von ihrer eigenen Tragfähigkeit –, dass die so genannte neue Verwaltungsrechtswissenschaft die Notwendigkeit einer autonomen Ausgestaltung des Organisations- und Handlungsrahmens für einen selbstbestimmten und zielführenden Gebrauch von Freiräumen anerkennt. In der Tat ist die Anerkennung solcher Räume unerlässlich, sollen die Freiheiten, welche die Verfassung zugunsten der Kunst, der Wissenschaft und der Religion dem Vereinswesen überhaupt und nicht zuletzt wirtschaftlichen Zusammenschlüssen erhält, wirklich werden. Sehr oft finden sich gerade zu für diese Bereiche einschlägigen Freiheitsgarantien keine Gesetzesvorbehalte. Oder es wird von dem für alle geltenden Gesetz, den allgemeinen Gesetzen oder aber von der „verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen, um Grenzen zu bezeichnen. Diese Grenzziehungen signalisieren, dass nicht jedes Gesetz der Selbstbestimmung und Selbstregulierung der betreffenden Freiheit einen Rahmen setzen kann. Es können solche Gesetze nur verfassungsgeleitete Gesetze sein. Kooperationen mit dem Staat dürfen nicht dazu dienen, das zu unterlaufen. Im wissenschaftlichen Bereich ist so etwa besonders zu beachten, dass die Steuerung vom Staat her tatsächlich in einer abgekoppelten, äquidistanten, die Autonomie respektierenden Form stattfindet, also etwa durch echte Zielvereinbarungen zwischen Staat und Universität, nicht aber etwa durch mehr oder weniger einseitige Zielvorgaben, die nur in die Form einer dem Anschein nach paritätisch getragenen Vereinbarung gegossen sind.52 Dabei gilt dies nicht primär im Blick auf die Organisationsform der Korporation Universität als vielmehr im Blick auf die Materien Wissenschaft, Lehre und Forschung, wie sie Art. 5 Abs. 3 50 Vgl. dazu H. Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: W. HoffmannRiem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 12 Rn. 52, 84 ff., 86 ff., 88 ff., der allerdings den Modus originär privater Verwaltung nicht erfasst. 51 Zum historischen Hintergrund F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965. 52 Dazu S. Schmuck, Zielvereinbarungen, Diss. iur. Leipzig 2009.
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GG gewährleistet und die ersichtlich Autonomie um der Sache willen voraussetzen. Hinzu kommen in jüngerer Zeit vermehrt Forderungen nach einem gewissen innerstaatlichen Rechtspluralismus.53 Im Allgemeinen versteht man unter Rechtspluralismus zunächst nichts weiter als eine bloße Beschreibung tatsächlicher Zustände der Vielfalt von verschiedenen Rechten nebeneinander, wie sie durch Eroberung, Kolonialisierung, Migration oder auf andere Weise tatsächlich nebeneinander geraten sind. Man könnte diesen Pluralismus aber auch normativ verstehen dahin, dass die Unterschiede auf manchen Rechtsgebieten, vor allem solchen mit religiösem Bezug, wegen der Verankerung in Freiheitsrechten nicht nur hinzunehmen, sondern anzuerkennen sind. Hier hat es damit Folgendes auf sich: Oft in noch größerer Nähe zur persönlichen Lebensführung liegen Rechtsebenen, die ebenfalls in Autonomie beansprucht werden, insbesondere wenn es um religiös bedingte Figurationen des Sozialverhaltens geht, etwa jenseits bloßer Bekleidungsvorschriften und Regeln über die Beschaffenheit von Speisen, in Bestattungs- oder Eheschließungsriten oder in der pazifistischen Ausrichtung des Lebens. Die älteste Akzeptanz solcher Unterschiede findet man in Rhode Island, jener Gründung von Roger Williams, die neben den puritanisch-protestantischen auch die indianischen, die jüdischen und die katholischen Traditionen respektierte und früh in ihrem Recht auch dann anerkannte, wenn sie damit zugleich etwas erlaubte, was in anderen Staaten der USA verboten, indes dann dort als Hoheitsakt eines anderen Gliedstaats dieser Union hinzunehmen war.54 Herkömmlich findet man Freiräume für derartige Gestaltungen und Formen nur im Wege der Toleranz oder der „accommodation“ eingeräumt, d. h., es werden Spielräume einer Duldung eröffnet, ohne die Homogenität und Maßgeblichkeit des einschlägigen einfachen Rechts des Staates in Frage zu stellen. Demgegenüber stößt man zunehmend auf die Bereitschaft, einen Pluralismus des Rechts auf diesen Ebenen innerstaatlich zuzulassen, soweit er elementare, insbesondere auch verfassungsverbürgte Grundsätze und Rechte nicht beiseite schiebt. Es ist mithin erforderlich, eine Zuordnung herzustellen, die beiden Ausrichtungen des Rechts genügt. Damit ist das angesprochen, was Konrad Hesse als „praktische Konkordanz“ bezeichnet, ohne damit solche Konflikte und sich daraus ergebende Zuordnungsprobleme im Auge zu haben.55 Allerdings gehen Begriff und Methode dieser Konkordanz56 auf Interpretationsprobleme zurück, die entstanden, nachdem die Rechtslage unter dem Grundgesetz erforderte, an sich unverein53 Zu Begriff und Feldern der Entwicklung A. Büchler, Kulturelle Vielfalt u. Familienrecht, in: G. Nolte u. a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und Internationales Recht, 2008, S. 215 ff. (235 ff.); exemplarisch auch M. Rohe, Das islamische Recht, 2. Aufl. 2009, S. 320, 382. 54 Vgl. M. C. Nussbaum, Liberty (Anm. 2), S. 124 u. passim m. w. N. 55 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, Neudruck 1999, Rn. 317 ff. u. passim. 56 Vgl. für ihre heutige Anwendung M. Morlok / L. Michael, Grundrechte, 2008, Rn. 733 ff., 710 ff. u. passim.
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bare Lebensformen aufeinander abzustimmen, also etwa die des freien Staatsbürgers und diejenige des loyalen Beamten57, woraus dann schließlich der Beamte als Staatsbürger wurde.58 In der Praxis erlaubt dies etwa, Ausnahmen rechtlich festzuschreiben vom so genannten „Sargzwang“ oder Heiratsrituale der jüdischen Orthodoxie, des Islam, der Hindus oder auch säkularer Ausrichtungen hinzunehmen, sofern sie der Ehefreiheit – im Sinne des Weges in die und aus der Ehe – des Art. 6 Abs. 1 GG nicht Abbruch tun.59 Nichts anderes gilt für Gruppierungen, die einen Pazifismus vertreten, der über die Kriegsdienstverweigerung hinausgeht. Tendenzen ähnlicher Art gibt es in Kanada, insbesondere in der Provinz Ontario, und zwar nicht nur für jüdisches Scheidungsrecht, sondern darüber hinaus, inzwischen aber auch in England und ohnehin schon lange im säkularen Verfassungsstaat Indien, der den ausdrücklichen Verfassungsauftrag zur Einführung eines einheitlichen nationalen Familien- und Erbrechts nicht erfüllt hat. Daher erhalten sich in Indien heute nebeneinander hinduistisches und islamisches Recht auf diesen Gebieten. Wieweit die Rechtsstrukturen der Habsburger Donaumonarchie solchen Vielfaltsanforderungen ihrer auch religiös sehr unterschiedlich ausgerichteten Nationalitäten und Minderheiten schon zu genügen suchten, das mag hier dahinstehen und steht auf einem anderen Blatt der Geschichte rechtsstaatlicher Entwicklungslinien. Diese Rechtsstrukturen wirken ersichtlich noch nach und befähigen offenbar Österreich zu einem beweglicheren Umgang mit ihrem Substrat, etwa im Falle des Islam. In all diesen Fällen hat die Gewähr eines eigenen Rechtsraumes in aller Regel jedenfalls auch einen personalen Bezug zu Rechtsräumen der Gewissens-, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn der säkulare Staat hier auf Grenzen stößt, die er – wie im Falle Indiens – trotz seiner Homogenitätserwartungen nicht zu verschieben vermag oder aber – wie nun in Westeuropa und Großbritannien – zu akzeptieren beginnt, trotz der erreichten Homogenität des einschlägigen Rechts und der zugrunde liegenden sozialen und religiösen Traditionen.
V. Autonomie, Konstituierung der Person, Würde und eigener Rechtsraum Konstituierend für die Offenheit des Verfassungsstaates für einen Rechtspluralismus ist historisch wohl nicht – wie früher in der Donaumonarchie und heute verVgl. H. Zwirner, Politische Treupflicht des Beamten (1956), 1987, S. 233 ff. So der Titel F. Rottmann, Der Beamte als Staatsbürger, 1981, S. 213 ff., 226 ff. 59 Allerdings können sich Konflikte mit dem Inzestverbot ergeben, wie eine Gesetzgebung in Rhode Island aus dem Jahre 1798 zeigt, die heute noch gilt, vgl. M. C. Nussbaum, Liberty (Anm. 2), S. 124; das stellt auch rigide Sanktionen in Frage, dazu BVerfGE 120, 224 ff. mit abw. Meinung des Richters Hassemer. 57 58
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deckt in manchem Nationalstaat, etwa in der Türkei oder programmatisch in Indien, das kein Nationalstaat im westlichen Sinne sein will – die Präsenz von Gruppen, Nationalitäten, Glaubensgemeinschaften, sondern der Umstand, dass die Autonomie der menschlichen Person im Sinne der westlichen Tradition den Raum für eine solche Vielfalt erfordert. Es geht also nicht um Minoritäten, Religionen und Kulturen; es geht darum, dass der Westen selbst in seiner Rechtstradition die Selbstbestimmung des Einzelnen zum Ausgangspunkt von Freiheitsrechten machte, die schon früh in ihrem Kern Raum für diese Selbstbestimmung schufen und später darin die Würde der Person verankerten. Das ergibt selbstläufig die Annahme eines eigenen Rechtsraums, der vom „Staat“ und von einem aus ihm erwachsenen verfassten Gemeinwesen weder ausgeräumt noch verschlossen werden kann. Beobachtet man die Entwicklungslinien der Rechtsprechung, so zeichnet sich ab, dass die Eigenständigkeit der Person zwar gefordert und vorausgesetzt wird, dass sie aber zugleich ständig konfrontiert ist mit dem öffentlichen Interesse, das kraft der Befugnis des Gemeinwesens herangeführt wird und zum Bruch mit jener Eigenständigkeit einlädt. Dann droht im Sinne der alten Formel der Einzelne zum bloßen Objekt zu werden. Auf einer abstrakten Ebene ist der von staatlicher Einwirkung freie Rechtsraum zwar zugewiesen, auf einer konkreten Ebene ist er indes fortgesetzt gefährdet. Am Ende steht nicht die Ausgrenzung jenes freien Rechtsraumes, sondern eine allmähliche Durchdringung mit staatlichen Mitteln der Informationsbeschaffung, der mittelbaren Einflussnahme oder gar des Eingriffs. Auf der anderen Seite verzichtet der Staat mit einer Pluralisierung des Rechts durch eine größere Zahl von Teilordnungen darauf, die Lebensweise auf seinem Territorium stärker vorzuprägen. Zwar gewinnt der Staat, was die Möglichkeiten mittelbarer Einflussnahme angeht – und teils greift er massiv ein –, aber auf der anderen Seite verzichtet er auf die Homogenität der Lebensform, die gänzliche Transparenz fördert, und die Leichtigkeit und Sicherheit der Kommunikation unter solchen Voraussetzungen. Bei näherem Hinsehen ergibt sich aber auch etwas anderes: Der Ertrag liegt in der Authentizität der Artikulation der Interessen der Bürger und der damit einhergehenden Stärkung der demokratischen Teilhabe auch am politischen Prozess. Wer sich nämlich in der eigenen Lebensgestaltung eigene Formen zu geben vermag, der ist auch befähigt, die Interessen seiner Gemeinschaft ebenso zu präsentieren wie die ureigenen, kraft des höchstpersönlichen Lebensraums. Autonomie fördert insoweit die Demokratie; Autonomie wiederum ist möglich, je mehr die Konstituierung der Person in Würde in einem eigenen Rechtsraum ungestört stattfinden kann und sich vollzieht. Allerdings stellt sich die Frage, ob die staatliche Durchdringung vieler Räume individueller Lebensgestaltung insbesondere seit der Gesetzgebung, die auf den 11. September 2001 folgte, diese autonomen Elemente individueller Konstitution und kollektiver Sozialorganisation zum Erliegen bringt. Dies erscheint als eine zu weit greifende Sorge, da die menschlichen Kräfte der Selbstorganisation auch die
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Einschüchterungseffekte solcher Maßnahmen überwinden. Insofern bleibt es bei der Bestimmungsmacht der autonomen Persönlichkeit und selbst organisierter Gruppen, Verbände und Gruppierungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Reaktionen der westlichen Staaten auf den organisierten Terror teilweise völlig verfehlt waren und sind. Es handelt sich nämlich nicht um ein militärisches, sondern um ein polizeiliches Problem, dem allerdings soziale und wirtschaftliche Konflikte zu Grunde liegen, etwa die unbeschreibliche Arbeitslosigkeit in der islamischen Welt. Das liegt aber bei vielen innerstaatlichen polizeilichen Problemen nicht anders; auch sie sind gesellschaftlich bedingt. Darauf ist zwar vereinzelt auch von Richtern hingewiesen worden,60 dennoch blieb es dabei, hier von einem „Krieg gegen den Terror“ zu sprechen; es hat also mithin oft auch die mediale Präsentation die kritische Analyse verdrängt, übrigens mit Folgen für den Prestigegewinn der betreffenden Gruppen. Allerdings hat erst jüngst wiederum ein Richter, dessen Dezernat viele dazu relevante Entscheidungen vorbereitet hat, zum Abschied dazu ausgeführt, dass im Vergleich zwischen jenem „Terror“ und dem Straßenverkehr in Europa auf den Straßen sehr viel mehr Opfer zu beklagen sind, die Reaktion darauf aber nicht etwa ist, entsprechende Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen o. Ä. einzuführen, ganz anders als im erstgenannten Falle, abgesehen von der Fragwürdigkeit der Zweckdienlichkeit und des Erfolgs vieler Maßnahmen im Rahmen der „Terrorbekämpfung“.61 Es mag also durchaus so sein, dass die soziale Reorganisation der Konstituierung von Autonomie von den realen Bedingungen stärker beeinflusst wird als von den Veränderungen im rechtlichen Rahmen, die auf eine Fehldeutung der Situation und auf eine Wahl ungeeigneter Mittel zurückzuführen sind.
VI. Die Rolle des verfassten Gemeinwesens, der hohen Hand verschiedener Rechtsebenen und die Notwendigkeit der Freiheitssphären eigener Rechtsräume individueller Autonomie Bleibt daher vor allem die Gegenfrage: Wie steht es mit der Souveränität des Staates insbesondere nach innen? Dabei ist zunächst festzuhalten, dass auch dieser Aspekt der Souveränität in einem verfassten Gemeinwesen rechtlich eingehegt erscheint. Souveränität nach innen ist schließlich dem Recht der Verfassung unterworfen, nimmt man die Verfassung beim Wort. Hinzu kommt: Dieser Staat ist bekanntlich in einem regionalen und zugleich globalen so genannten Mehrebenensystem in dem Maße Bindungen eingegangen, wie es vor der Globalisierung geboten war, um diese im Interesse der wirtschaftli60 Vor allem D. Grimm hat verschiedentlich hierzu in der Presse Stellung genommen, etwa Süddt. Zeitung Nr. 293 v. 17. 12. 2008, S. 6. 61 Vgl. W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2008, 557 (560, 561).
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chen Entwicklung zu bewirken und sie alsdann zu begleiten. Dabei kann dahinstehen, ob die heute eingerichteten Rechtsebenen ausreichen, um die begleiteten Prozesse der Entwicklung zu steuern. Jedenfalls hat der „Staat“ als abstrakte Handlungseinheit hier erheblich an Handlungsräumen eingebüßt. Nicht anders verhält es sich indes nach innen: Mit der Globalisierung hat eine Migration eingesetzt, ja wurde diese zunächst befördert, die ihre volle Entfaltung vor allem in Kanada und in Großbritannien, aber auch in weiteren ehemaligen Kolonialmächten, insbesondere in Frankreich, erreicht hat. Deutschland folgte dem allmählich, teils verzögert und gehindert durch den Schein und die Realität der Homogenität, die der Nationalsozialismus und der Krieg hinterlassen hatte, teils nun gelockert durch die gewollte Migration vor allem aus Italien, Griechenland und nicht zuletzt der Türkei und dem Balkan sowie nun schließlich, auch im Rahmen der europäischen Integration, gefolgt von Zuwanderung aus aller Welt, abgesehen von den Zuwanderern aus den Nachfolgestaaten der früheren UdSSR kurz nach der Vereinigung Deutschlands. Die damit präsenten Religionen, Lebensstile, Kulturen und Gewohnheiten lassen sich nicht in das Prokrustesbett eines homogenen Rechts oder unter die Herrschaft eines vermeintlich nach innen souveränen, d. h. rechtlich kaum gebundenen Staates zwingen. Dieser muss um des sozialen Friedens willen Freiräume offen halten, wie sie die Verfassung des durch sie eingerichteten Gemeinwesens anerkennt; und hierzu gehören die Rechtsräume, die Freiheitsrechte gewähren. Dass dem Staat im Sinne eben dieses für alle geltenden Gesetzes, das die Verfassung darstellt und ausdifferenziert enthält, Rechtsregeln der Zuordnung, der Freiheitsgewähr im Sinne der Grundrechte und nicht zuletzt in diesem Sinne im Interesse des Gemeinwohls zu schaffen, aufgegeben ist, steht demgegenüber außer Zweifel. Die Interessen des ordre public der Verfassung und das öffentliche Interesse im Sinne des in der Verfassung angelegten und ausdifferenzierten Gemeinwohls sind ebenso zu wahren wie die Selbstbestimmung in eigenen Rechtsräumen des Individuums. Dabei vollzieht sich die dafür erforderliche Zuordnung in einem steten Wechselspiel zwischen beiden Seiten. Aber keine der beiden Seiten, weder die öffentliche Befugnis noch die individuellen Freiheiten, kann und darf aus diesem beweglichen System verdrängt, marginalisiert oder geleugnet werden. Aufgabe des Gemeinwesens ist es, mit seiner ausdifferenzierten gewaltenteiligen Funktionenordnung diesem Spiel einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu erhalten. In diesen Rahmen gehören aber auch Freiheiten, die einen eigenen Rechtsraum – frei von staatlicher Einflussnahme – im Sinne der eingangs genannten Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts gewähren. Daher kann in einem offenen System dieser Art nicht von einer „Letztentscheidungsbefugnis“ des Staates schlechthin gesprochen werden, sondern nur von einer Entscheidungsbefugnis des Gemeinwesens in diesem Rahmen „for the time being“, d. h., solange noch keine andere Perspektive in Legislative, Rechtsprechung oder Verwaltung und last but not least bei den Bürgern Platz greift. Daher bleibt es zwischen Selbstbestimmung im grundrechtsgewährten eigenen Rechtsraum des Einzelnen und von Personenmehrheiten einer-
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und Entscheidungen der hohen Hand andererseits bei einer im Ausgang offenen Balance.
VII. Freiheitsbegriffe, Rechtsraum und verfasste Republik Von Interesse ist endlich, welchen Freiheitsbegriff eine Grundrechtsinterpretation voraussetzt, die einen dem Individuum zugewiesenen eigenen Rechtsraum kennt, der nicht durch die Beliebigkeit einer Letztentscheidungsbefugnis in Frage gestellt sein kann. Ohne hier einen eigenen Ansatz zu entwickeln, wofür auch kein Platz bleibt, hilft vielleicht schon ein Blick über den Tellerrand der heutigen Rechtswissenschaft hinaus weiter: Das kann vielleicht auch erhellen, weshalb ein auf bloße Eingriffsabwehr gerichtetes Verständnis von Grundrechten nicht ausreicht, um die Wirkungen von Grundrechten zu erfassen. Sie werden nämlich in einem gewissen Umfang ausgreifend und zugleich rigide wirksam dahin, dass es auch unüberwindbare Hürden dagegen gibt, sie von hoher Hand zu bestimmen. Jüngere Arbeiten von Quentin Skinner haben im Anschluss an Untersuchungen insbesondere von Sir Isaiah Berlin62 nicht nur den älteren Freiheitsbegriff – „liberty before liberalism“ – gehoben.63 Sie haben vielmehr auch den auf bloße Eingriffsabwehr fixierten negativen Freiheitsbegriff von Thomas Hobbes analysiert. Dieser Freiheitsbegriff ermöglichte Hobbes die Verteidigung der absoluten Monarchie. Freiheit musste dafür unabhängig von der Staatsform und den Strukturen der Ausübung der Staatsgewalt verstanden werden. Das war der Fall, wenn man sie als bloße Eingriffsabwehr versteht. Dann kommt es auf die Legitimation der Staatsgewalt und die Frage der Willkürlichkeit ihrer Ausübung nicht an. Ein monarchischer Absolutismus ist angesichts eines solchen Freiheitsbegriffs kein Problem, wenn es nicht zu Eingriffen kommt.64 Die politischen Gegner der Monarchie, im Wesentlichen republikanischen Formen der Regelförmigkeit der Ausübung der öffentlichen Gewalt, ihrer Rechtsbindung und dem Ausschluss jeder Willkürherrschaft verpflichtet, bestimmten Freiheit bezogen auf die damit verbundene öffentliche Verfassung des Gemeinwesens. In diesem Sinne verstanden sie Freiheit als geprägt von dieser Verfasstheit. Deshalb war nach ihrer Sicht schon keine Freiheitsgewähr mehr gegeben, wenn der so verfasste Rechtsraum der Freiheit von der Latenz willkürlicher Übergriffe der hohen Hand gefährdet schien. Außerdem ist Willkür in diesem Sinne nur ausgeschlossen, wenn rechtliche Bindungen bestehen, denen auch die Staatsleitung zu gehorchen hat. Daher sind Befugnisse und Rechte verbindlich umrissen. Die Stel62 Siehe I. Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders., Four Essays on Liberty, 1969, S. 118 ff.; vgl. auch die Übersetzung ders., Freiheit. Vier Versuche, 1995, S. 197 ff. 63 Vgl. Q. Skinner, Liberty before Liberalism, 1998, S. 114 f.; auch Ch. Meier, Kultur, um der Freiheit willen, 2009, S. 17 ff. 64 Siehe auch für das Folgende Q. Skinner (Anm. 44), S. 65 und 211 ff.
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lung gewährt zunächst dem Bürger eines solchen Gemeinwesens einen Rechtsraum, der ihm nicht entzogen werden kann. Diese Vorstellungen, die weithin auch in der schon für die Renaissance typischen Weise noch auf die Antike zurückgreifen, begnügen sich nicht mit bloßen neuzeitlichen Souveränitätskonzepten, binden vielmehr dieses Konzept in die Rechtsverfassung ein. Diesen Rechtsraum füllt das Individuum als solches seit der Reformation kraft eigener Glaubensvorstellungen, seit der Aufklärung nimmt es ihn zur Gänze in Selbstbestimmung wahr. Viele einzelne Topoi in diesem Raum – wie etwa Rechte der Privatsphäre – entstehen erst allmählich, mit dem Wandel der sozialen Verhältnisse und der Lebensformen. Dieser eigene Rechtsraum lässt sich daher schwer abschließend umschreiben. Sicherlich gehören „in“ ihn all jene Äußerungen und Entscheidungen, in denen man Richter in eigener Sache – iudex in propria causa – zu sein befugt ist, also selbst entscheiden kann, sei es das eigene Meinen oder Verhalten, sei es das Wissen über die eigene Person und ihr Verhalten oder den eigenen Umgang;65 dabei ist hier schon aus Gründen des Raumes nicht mehr auf die klassischen Unterscheidungen zwischen Handlungen, Meinungen und kommunikativem Verhalten einzugehen, die ermöglicht haben, hoheitliche Eingriffe gegenüber ersteren um der Gefahrenabwehr willen für rechtens zu erachten; also jene Unterscheidungen i. S. von Baruch Spinoza und anderer66 bis zu jenen Beispielen, wie das vom Ruf „Feuer“ in einem vollbesetzten Theater angesichts der nahe liegenden Gefahr, dadurch eine Panik auszulösen,67 was rechtfertigt, eher von einem Verhalten denn von einer Meinungsäußerung zu sprechen.68 Diese Ergebnisse der geistesgeschichtlichen Forschung zeigen, dass die Redeweise oder besser Formulierung vom eigenen Rechtsraum einen substantiellen Hintergrund hat. Sie ist nicht zufällig. Sie zeigt, dass Verkürzungen des Verständnisses des Freiheitsbegriffs zugleich dazu führen, Grundrechte in ihrer grundlegenden Struktur zu verändern. Die theoriegeschichtliche Wirkung des mechanistischen und später positivistischen Freiheitsbegriffs eines Hobbes hält bis heute an. Einige Ansätze, diese Wirkungen zu überwinden, haben sich bisher schon in der Rechts65 Zur Geschichte dieser historisch einzigartigen Ausnahme von „nemo iudex in propria causa“ kraft der Glaubensfreiheit H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 294, 298 f.; es erstaunt dabei nicht, dass sich Verstöße gegen den eigenen Rechtsraum des Individuums i. S. v. körperlicher Integrität oder privater Kommunikation als negative Befugnisse ausdrücken, etwa in der Verpflichtung, Daten zu löschen, Lauschangriffe abzubrechen o. ä.; vgl. i. Ü. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 04. 12. 2008 – Nr. 30562 / 04 –, EuGRZ 2009, 299 ff.; u. etwa BVerfGE 109, 279 (324). 66 Dazu B. Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat (1670), Nachdruck der 5. Aufl. (1955), 1965, Kap. 20, S. 361 f., mit der interessanten Einschränkung, dass für aufrührerische Meinungen, welche die Verbindlichkeit von Recht und Versprechen leugnen, diese Unterscheidung aufgehoben scheint, vgl. ebd., S. 355. 67 Vgl. Justice Holmes, Opinion of the Court, Schenck v. U.S., 249 US 47, S. 52 f. (1919) zum „clear and present danger“ test. 68 Zur Differenz „speech-conduct“ L. H. Tribe (Anm. 43 – 1978), S. 825 ff., 1133 ff.; heute auch E. Chemerinsky, Constitutional Law, 2. Auflage 2005, S. 1314.
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praxis finden lassen. So war nicht zufällig, dass Grundrechte – zunächst noch nicht unter diesen Stichworten, aber in der Sache – Wirkungen für Organisation und Verfahren entfalten konnten. Das hat sich alsbald in der Theorie gespiegelt, seit dem berühmten Referat von Peter Häberle im Jahre 197269 und späteren historischen Arbeiten.70 Es sollte hier nur ergänzt werden, dass auch im materiellen strukturellen Verständnis der Freiheitsgewähr durch Grundrechte die Rechtsprechung Wege gewiesen hat, die noch nicht ganz abgeschritten sind. Dabei kann künftig eine Rolle spielen, dass der dank der Grundrechte dem Einzelnen zugewiesene Rechtsraum zugleich eine materielle und eine kompetentielle sowie die schon angesprochene verfahrensorientierte Seite aufweist. Der traditionelle Gedanke, materielle Verkürzungen durch prozedurale Sicherungen zu kompensieren, hat also einem weiteren Aspekt zu genügen: Wenn solche Verkürzungen stattfinden, so müssen sie nicht nur durch Verfahren kompensiert, sondern auch von Strukturen flankiert werden, welche die Meinungsbildung, die Entscheidungsfreiheit, kurz: die Autonomie des Individuums dauerhaft sichern. Es kann nicht mehr gelten: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“; vielmehr muss Freiheit in republikanischer Weise durch Rechtsstrukturen gewährleistet bleiben, die den Rahmen einer freien und offenen Debatte bilden, in welcher der Einzelne in der Sache seine Identität, seine Überzeugungen, sein Selbstbewusstsein, seine Lebensgestaltung, in Summe: seine Würde als Persönlichkeit wahren und entfalten kann. Darin liegt wohl auch – von Grundrecht zu Grundrecht in verschiedener Weise – der Wesensgehalt der Grundrechte, also das, was in der Schweiz der unantastbare „Kerngehalt“ der Grundrechte ist.71 Diese Entfaltung ist heute nur in einer freiheitlichen Demokratie möglich, die in dieser Absicht Freiheit und – ohne dass das hier behandelt worden wäre – dies im Übrigen in Gleichheit sicherstellt. Eine Letztentscheidungsbefugnis des Gemeinwesens in Grundrechtsfragen hat dabei keinen Platz; es wird eine solche Befugnis immer den eigenen Rechtsraum des Individuums und die Entscheidungen zu berücksichtigen haben, die es auf dieser Grundlage trifft.
69 Vgl. P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), 42 (86 ff.); ergänzend H. Goerlich, Zu Geschichte u. Gegenwart der Konstitutionalisierung von Justizgrundrechten, in: W. Gropp u. a. (Hrsg.), Deutsch-Türkisches Kolloquium – Gießen / Istanbul, 2009, i.E. 70 Etwa W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 257 ff., und früher zum republikanischen Diskurs, der zur „rule of law and not of men“ führt. 71 Dazu M. Schefer (Anm. 6), S. 94 ff., 133, 140 f., zu Würde als gleicher Freiheit der Lebensgestaltung und Selbstbestimmung als Kerngehalt u. J. v. Bernstorff, Die Wesensgehalte der Grundrechte etc., in: F. Arndt u. a. (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, 2009, S. 40 ff.; in eine ähnliche Richtung unter Aspekten des Wesensgehaltes B. Rusteberg (Anm. 13), S. 29 ff., 223 ff.
Der Kampf gegen die „Mautflüchtlinge“ Von Klaus Grupp* Während völkerrechtliche Probleme und insbesondere Fragen des Kulturgüterschutzes den Schwerpunkt im Schaffen des Jubilars bilden, galt das wissenschaftliche Interesse Wilfried Fiedlers stets auch Aspekten des Verwaltungsrechts, denen er vor allem in den frühen Jahren gewichtige Publikationen widmete,1 dabei die Auswirkungen auf die betroffenen Einzelnen immer berücksichtigend – eine Sichtweise, die für die Beurteilung der Maßnahmen gegen die „Mautflucht“ ebenfalls geboten ist. I. Die Ausgangssituation Schon bald nachdem mit der Umsetzung des „Gesetzes über die Erhebung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen (Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge – ABMG)“2 in Verbindung mit der „Verordnung zur Festsetzung der Höhe der Autobahnmaut für schwere Nutzfahrzeuge (Mauthöheverordnung – MautHV)“3 gemäß § 12 Abs. 1 ABMG am 1. Januar 2005 begonnen worden war, setzte in den Medien und in der Politik eine Diskussion über den sog. „Mautausweichverkehr“ ein: Mehrfach wurden Beschwerden geäußert über sog. „Mautflüchtlinge“ 4 und „Maut* Als Professor für Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes 23 Jahre Kollege des Jubilars. 1 Vgl. außer der Monographie über Funktion und Bedeutung öffentlichrechtlicher Zusagen im Verwaltungsrecht, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen 42, 1977, beispielsweise die Zeitschriftenbeiträge: Zum Problem der Berufungszusage aus der Sicht des § 34 Abs. 1 Satz 1 EVwVfG 1983, in: WissR 7 (1974), 134 ff.; Zum Wirkungsbereich der clausula rebus sic stantibus im Verwaltungsrecht, in: Verwaltungsarchiv 67 (1976), 125 ff.; Berufsfreiheit als Schranke der Verwaltungsmonopole, in: DÖV 1977, 390 ff.; Die materiell-rechtlichen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die Systematik der verwaltungsrechtlichen Handlungsformen, in: AöR 105 (1980), 79 ff.; Allgemeines Verwaltungsrecht und Steuerrecht, in: NJW 1981, 2093 ff. 2 Vom 5. April 2002 (BGBl. I S. 1234) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3122), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 29. Mai 2009 (BGBl. I S. 1170). 3 Vom 24. Juni 2003 (BGBl. I S. 1001). 4 Vgl. z. B. die Dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Landtag Niedersachsen vom 23. Januar 2006 zur Frage von Fahrverboten für den Lkw-Durchgangs-
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Preller“5, die eine Zunahme des Schwerlastverkehrs auf nicht mautpflichtigen Straßen verursachen und dadurch einen Anstieg von Lärm- und Abgasimmissionen bei den Anliegern dieser Straßen herbeiführen würden, und Gegenmaßnahmen erörtert.6 In den einzelnen Bundesländern wurden auf Ausweichstrecken, die vermutlich von Verkehrsverlagerungen betroffen waren, Verkehrszählungen durchgeführt und die Bundesregierung legte, einem Beschluss des Bundestages vom Dezember 2001 nachkommend, am 13. Dezember 2005 einen Bericht über die Verlagerungen von schwerem Lkw-Verkehr auf das nachgeordnete Straßennetz infolge der Einführung der Lkw-Maut vor.7 Danach ging die Bundesregierung davon aus, dass Mautausweichverkehre kein Flächenproblem darstellen, doch ließen sich Schwerpunkte von Verkehrsverlagerungen feststellen. Hierbei handele es sich vornehmlich um gut ausgebaute Strecken, die aufgrund ihres Ausbaustandards diesen Verkehr auch aufnehmen könnten (z. B. autobahnähnlicher Ausbau) und die bereits verkehr (http: //www.fraktion.gruene-niedersachsen.de/cms/landtag/dok/110/110562.dringliche _anfrage_mautfluechtling_hirch.htm). 5 So der bayerische Innenminister Dr. Günther Beckstein (vgl. Bayerische Staatskanzlei, Presseinfo vom 12. Juli 2005: Bayern startet Bundesratsinitiative gegen Mautausweichverkehr zum Schutz von Anwohnern und Umwelt / Beckstein kritisiert handwerkliche Fehler der Bundesregierung: „Die Schleichwege der Maut-Preller müssen dicht gemacht werden“ / Änderung der Straßenverkehrsordnung ermöglicht Sperrung von Ortsdurchfahrten für Transitverkehr [http: //www.bayern.de/Presse-Info/PM/2005MRat/050712-Ministerrat.html #2]). 6 Vgl. beispielsweise nur den Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 29. März 2005: „Feinstaub / Brummis auf die Autobahn“ (http: //www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/ 197/50147/), die Äußerungen von Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe: Bis zu zwölf Bundesstraßen ab 2006 mautpflichtig / Minister Stolpe will bei LKW-“Ausweichstrecken“ gegensteuern, ZDF-heute-Nachrichten vom 27. April 2005 (http: //www.heute.de/ZDFheute/ inhalt/5/0,3672,2291973,00.html), die Forderungen des Verkehrsclubs Deutschland e. V. (VCD): „Sechs Monate Lkw-Maut auf deutschen Autobahnen / VCD-Umfrage zeigt: LkwAusweichverkehr belastet viele Orte / Maut für das gesamte Straßennetz gefordert“, VCDPressemitteilung vom 30. Juni 2005 (http: //www.vcd.org/20.html?&tx_cwtpresscenter_pi1 [showUid]=110&cHash=cd9b6ccd59), den Beschluss der Bayerischen Staatsregierung in der Kabinettssitzung am 12. Juli 2005 (Bayerische Staatskanzlei, Presseinfo vom 12. Juli 2005 [http: //www.bayern.de/Presse-Info/PM/2005MRat/050712-Ministerrat.html#2]), die Äußerungen des niedersächsischen Wirtschafts- und Verkehrsministers Walter Hirche: „Erhöhte Belastungen durch LKW-Ausweichverkehr“, Presseinformationen des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 26. Juli 2005 (http: //www.mw.niedersachsen.de/master/C12243712_L20_D0_I712.html), den Artikel in der Allgemeinen Zeitung Mainz vom 16. September 2005: „Es brummt, klappert, quietscht und donnert / Anwohner von Bundesstraßen klagen über Lärm durch Mautflüchtlinge / Bürger in Wiesbaden fordern Durchfahrtsverbot“ (http: //www.main-rheiner.de/region/serie/laerm/objekt.php3?artikel_id= 2040929), die Forderungen der FDP in Hessen vom Oktober 2005: „Maut-Flüchtlinge: Kampf gegen Lärm und Abgase“ (hr-online.de, Nachrichtenarchiv vom 7. Oktober 2005 [http: //www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/index.jsp?rubrik=5710&key=standard _document_11804710]) sowie die Äußerungen des hessischen Verkehrsministers Alois Rhiel: „Mautausweichverkehr: Rhiel sieht Notwenigkeit von Straßensperrungen bestätigt“, Verkehrsrundschau vom 18. Oktober 2005 (http: //www.verkehrsrundschau.de/sixcms/detail. php?id=349130). 7 BT-Drucks. 16 / 298.
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vor Einführung der Lkw-Maut überdurchschnittliche Verkehrsbelastungen aufwiesen; gemäß ihrer Widmung seien diese Straßen auch für die Aufnahme des LkwVerkehrs vorgesehen.8 Ungeachtet dessen wurden weiterhin Maßnahmen gegen einen Mautausweichverkehr erörtert: Neben verstärkten Polizeikontrollen und der Einführung der Mautpflicht für betroffene Teile von Bundesstraßen waren schon früher vor allem zeitlich unbeschränkt oder für die Nachtstunden geltende Durchfahrverbote für den Schwerlastverkehr auf Ausweichstrecken genannt worden.9 Um die Anordnung derartiger Fahrverbote zu erleichtern,10 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2006 § 45 Abs. 9 StVO durch Einfügung eines neuen Satzes 3 dahingehend ergänzt,11 dass Beschränkungen oder Verbote des fließenden Verkehrs auch angeordnet werden dürfen, „soweit dadurch erhebliche Auswirkungen veränderter Verkehrsverhältnisse, die durch die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge hervorgerufen worden sind, beseitigt oder abgemildert werden können“.
Zugleich damit wurde in § 41 Abs. 2 Nr. 6 StVO u. a. ein neuer Satz 6 eingefügt, in dem für Verkehrsverbote, die für den Durchgangsverkehr von Nutzfahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 12 t gelten, festgelegt wird, dass Durchgangsverkehr nicht vorliegt, „soweit die jeweilige Fahrt a) dazu dient, ein Grundstück an der vom Verkehrsverbot betroffenen Straße oder an einer Straße, die durch die vom Verkehrsverbot betroffene Straße erschlossen wird, zu erreichen oder zu verlassen, b) dem Güterkraftverkehr im Sinne des § 1 Abs. 1 des Güterkraftverkehrsgesetzes in einem Gebiet innerhalb eines Umkreises von 75 km, gerechnet in der Luftlinie vom Mittelpunkt des zu Beginn einer Fahrt ersten Beladeortes des jeweiligen Fahrzeugs (Ortsmittelpunkt), dient; dabei gehören alle Gemeinden, deren Ortsmittelpunkt innerhalb des Gebietes liegt, zu dem Gebiet, oder
8 Bericht der Bundesregierung über die Verlagerungen von schwerem Lkw-Verkehr auf das nachgeordnete Straßennetz infolge der Einführung der Lkw-Maut, BT-Drucks. 16 / 298, S. 17. 9 Vgl. etwa Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe: Bis zu zwölf Bundesstraßen ab 2006 mautpflichtig / Minister Stolpe will bei LKW-“Ausweichstrecken“ gegensteuern, ZDF-heuteNachrichten vom 27. April 2005 (http: //www.heute.de/ZDFheute/inhalt/5/0,3672,2291973, 00.html), und den niedersächsischen Wirtschafts- und Verkehrsminister Walter Hirche: „Erhöhte Belastungen durch LKW-Ausweichverkehr“, Presseinformationen des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 26. Juli 2005 (http: //www. mw.niedersachsen.de/master/C12243712_L20_D0_I712.html). 10 Vgl. z. B. „Mautausweichverkehr: Stolpe kündigt Änderung der StVO an / Länder sollen zusätzliche Instrumente zur Sperrung von Bundesstraßen erhalten“ (Verkehrsrundschau.de vom 30. August 2005 [http: //www.verkehrsrundschau.de/sixcms/detail.php?id=338769]). 11 Fünfzehnte Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung vom 22. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3714).
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c) mit in § 1 Abs. 2 des Autobahnmautgesetzes für schwere Nutzfahrzeuge bezeichneten Fahrzeugen durchgeführt wird.“
Bereits vor der Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung waren in einigen Bundesländern Fahrverbote statuiert worden, mit denen dem Mautausweichverkehr begegnet werden sollte: Neben der Sperrung von Ortsdurchfahrten waren beispielsweise in Hessen die Bundesstraße B 7 auf einer Länge von 39 km und die Bundesstraße B 27 auf einer Länge von 118 km ganztägig für den Durchgangsverkehr von Lastkraftwagen über 12 t zulässigem Gesamtgewicht gesperrt worden. Bis zum Dezember 2006 waren in acht Bundesländern außer für Ortsdurchfahrten und Innenstadtbereiche auf insgesamt 32 Teilstrecken von Bundesstraßen Durchfahrverbote für Lkw in unterschiedlichem Ausmaß, mit Abschnittslängen zwischen 2 km und 119 km sowie teilweise nicht ganztägig, sondern nur während der Nachtzeit, angeordnet worden.12 In der Regel gingen die zuständigen Straßenverkehrsbehörden davon aus, dass eine durch die Auswertung von Verkehrszählungen ermittelte Zunahme des Schwerlastverkehrs auf die Einführung der Autobahnmaut zurückzuführen sei und dass durch diese Veränderung der Verkehrsverhältnisse erhebliche Auswirkungen in Form von Lärm- und Luftschadstoffbelastungen sowie ungünstige Auswirkungen auf Verkehrssicherheit, Verkehrsablauf und Verkehrsverhalten auf den betroffenen Straßen ebenso wie im nachgeordneten Verkehrsnetz eingetreten seien. Diese Auswirkungen könnten durch die Fahrverbote beseitigt oder abgemildert werden; insbesondere die Lärmbelastung könne – je nach betroffenem Straßenabschnitt – um Werte zwischen 1,2 dB(A) und 2 bis 3 dB(A) gemindert werden. Die wirtschaftlichen Folgen der Straßensperrungen sind bisher nicht ermittelt worden. Generell wurde festgestellt, dass ein größerer Teil der Speditions- und Transportunternehmen die Mautkosten auf die Auftraggeber abwälzen könne, in einigen Teilmärkten dies aber nur teilweise möglich sei.13 Insbesondere kleinere Transportunternehmen sähen sich gezwungen, die Mautkosten teilweise selbst zu tragen.14 Im Übrigen wies das Bundesamt für Güterverkehr in einem Sonderbericht darauf hin, dass der Umfang der Mautausweichverkehre insgesamt relativ gering sei und das nachgeordnete Straßennetz unterschiedlich betreffe.15 Ein Umfahren von Autobahnabschnitten erfolge vielfach nicht mit dem Ziel der Mautvermeidung, sondern aus anderen Gründen, beispielsweise weil die Autobahnstrecke deutlich länger sei als die Ausweichstrecke, weil es autobahnähnlich ausgebaute Straßen des nachgeordneten Netzes parallel zur Autobahn gebe oder weil die Autobahn 12 Vgl. die von der IHK Region Stuttgart veröffentlichte Übersicht: http: //www.stuttgart.ihk24.de/servicemarken/Verkehrswirtschaft/Strassenverkehr/Maut/Mautausweichverkehr. jsp. 13 Vgl. näher dazu Bundesamt für Güterverkehr, Marktbeobachtung Güterverkehr. Sonderbericht: Eineinhalb Jahre streckenbezogene Lkw-Maut – Auswirkungen auf das deutsche Güterverkehrsgewerbe, November 2006, S. 10 ff. 14 Bundesamt für Güterverkehr, ebd., S. 14. 15 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bundesamt für Güterverkehr, ebd., S. 18 ff.
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besonders staugefährdet sei. Vor allem bei relativ kurzen Beförderungsstrecken werde eher auf die Autobahnbenutzung verzichtet, so dass Ausweichverkehre vergleichsweise mehr im Regional- und Nahbereich als im Fernbereich festzustellen seien. Nicht zuletzt diese Bemerkungen geben Anlass, die Rechtmäßigkeit der Durchfahrverbote näher zu betrachten. So stellt sich die Frage, ob nicht Bundesstraßen prinzipiell auch für die Aufnahme des Schwerlastverkehrs bestimmt sind; darüber hinaus ist nicht geklärt, ob und inwieweit die zur Begründung der Streckensperrungen angeführte Zunahme des Lkw-Verkehrs auf bestimmten Teilstrecken von Bundesstraßen durch die Erhebung der Autobahnmaut verursacht ist.
II. Die geltenden Rechtsgrundlagen Art und Umfang der Nutzung von Bundesfernstraßen werden durch unterschiedliche Rechtsnormen bestimmt. Während der Gebrauch der Bundesfernstraßen dem Grunde nach straßenrechtlich geregelt ist, werden seine Grenzen im Wesentlichen straßenverkehrsrechtlich statuiert.16 1. Straßenrechtliche Regelungen Das Bundsfernstraßengesetz17 umschreibt in seinem § 1 Abs. 1 Satz 1 den Begriff der Bundesfernstraßen lapidar mit den Worten: „Bundesstraßen des Fernverkehrs (Bundesfernstraßen) sind öffentliche Straßen, die ein zusammenhängendes Verkehrsnetz bilden und einem weiträumigen Verkehr dienen oder zu dienen bestimmt sind.“
Ergänzend bestimmt § 1 Abs. 2 FStrG, dass sie sich in Bundesautobahnen und in Bundesstraßen mit den Ortsdurchfahrten gliedern. Trotz des eher kargen Wortlauts weist die Begriffsbestimmung für die Bundesfernstraßen zwei wesentliche Merkmale auf:18 Das Gesetz stellt auf ein technisches Element – den Netzzusammenhang – und auf die räumliche Funktion der Verkehrsbeziehungen – den weiträumigen Verkehr – ab; nur für die weitere Untergliederung in Bundesautobahnen und Bundesstraßen ist ein zusätzliches technisches Kriterium – der Ausbauzustand – maßgeblich. 16 Vgl. auch Richard Bartlsperger, Das Fernstraßenwesen in seiner verfassungsrechtlichen Konstituierung, 2006, S. 67. 17 Bundesfernstraßengesetz (FStrG) i. d. F. d. Bek. vom 20. Februar 2003 (BGBl. I S. 286), zul. geänd. durch Gesetz vom 9. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2833), ber. durch BGBl. 2007 I S. 691. 18 Vgl. hierzu und zum Folgenden näher schon Klaus Grupp in Ernst Marschall / H. Wolfgang Schroeter / Fritz Kastner, Bundesfernstraßengesetz (FStrG), 5. Aufl. 1998, § 1 Rn. 15 ff.
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Das zusammenhängende Verkehrsnetz der Bundesfernstraßen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG wird von den Bundesautobahnen und den Bundesstraßen gemeinsam gebildet; die Vorschrift verlangt nicht ein je eigenes Netz für diese beiden Gruppen von Straßen, sondern lässt es auch zu, dass der weiträumige Verkehr einer Bundesstraße für eine Teilstrecke auf eine Bundesautobahn verwiesen wird.19 Der Netzzusammenhang wird regelmäßig dadurch hergestellt, dass eine Bundesfernstraße (zumindest) an ihren beiden Enden mit einer anderen Bundesfernstraße verbunden ist, die ihrerseits wiederum in gleicher Weise Teil des zusammenhängenden Verkehrsnetzes ist. Selbst wenn indes ein vielfältiges System von Maschen und Verknotungen durch Kreuzungen, Verbindungen und Straßenäste dem Bild einer Vernetzung am ehesten entspricht, so erfordert § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG nach der zutreffenden Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts20 doch nicht die vollständige bautechnische Verknüpfung sämtlicher Bundesfernstraßen miteinander und lässt auch nicht lediglich am „äußeren Rand“ des Netzes – an der Bundesgrenze – oder aus topographischen Gründen – etwa an der Meeresküste – den Verzicht auf den beidseitigen Anschluss einer Bundesfernstraße an das Netz zu.21 Die Vorschrift geht vielmehr von der Anbindung der Bundesfernstraßen an ein Straßensystem aus, dessen verkehrliche Leistungsfähigkeit durch seine einzelnen Teile in unterschiedlicher Weise hergestellt, bewahrt und vergrößert werden soll; der Netzzusammenhang soll in erster Linie die überregionale Verkehrserschließung sicherstellen, die nicht zwangsläufig stets die beidseitige Anbindung an das Verkehrsnetz der Bundesfernstraßen bedingt. Diese Erschließungsfunktion ist bereits erfüllt, wenn die Straße wenigstens an einer Stelle an eine andere Bundesfernstraße anschließt22 und im übrigen etwa als Bundesautobahn auf der einen Seite in unmittelbarer Anbindung an ein Netz von Gemeindestraßen beginnt oder als Bundesstraße an einem Flughafen oder einem Güterbahnhof, vergleichbar einer Stichstraße, endet und auf diese Weise für den weiträumigen Verkehr eine Verknüpfung mit dem überörtlichen Straßennetz herstellt.23 Neben dem Netzzusammenhang ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 maßgebliches Charakteristikum einer Bundesfernstraße ihre Verkehrsbedeutung: Bundesautobahnen und Bundesstraßen müssen einem weiträumigen Verkehr dienen oder zu dienen bestimmt sein.24 In straßenrechtlicher Hinsicht bestimmt sich die Verkehrsbedeutung einer Straße nicht nach dem Umfang des Verkehrsaufkommens,25 sondern – entsprechend den ihr zugewiesenen Funktionen, Lebens-, Wirtschafts- und NaturVGH BW, NVwZ-RR 1991, 399. Buchholz 316 § 74 VwVfG Nr. 20 = DVBl. 1993, 449. 21 So aber beispielsweise Franz-Rudolf Herber in Kurt Kodal / Helmut Krämer, Straßenrecht, 6. Aufl. 1999, S. 256. 22 Anders BayVGH, NVwZ 1991, 590. 23 Vgl. auch BVerwG, Buchholz 316 § 74 VwVfG Nr. 20 = DVBl. 1993, 449. 24 Näher dazu Grupp in Marschall / Schroeter / Kastner, FStrG, § 1 Rn. 20 ff. 25 Missverständlich BayVGH, DVBl. 1999, 866. 19 20
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räume verkehrlich zu erschließen und zu verbinden – nach den räumlichen Verkehrsbeziehungen, die sie vermittelt.26 Der Begriff der Weiträumigkeit ist freilich sehr vage und sagt nicht mehr aus, als schon dem Terminus „Fernverkehr“ zu entnehmen ist, doch ergeben sich aus dem Zweck des § 1 Abs. 1 Satz 1, die Bundesfernstraßen gegenüber den nach Landesrecht zu beurteilenden Straßengruppen (und damit die Straßenbauaufgaben von Bund und Ländern) abzugrenzen, einige Konturen: Die Landesstraßen (Staatsstraßen, Landstraßen I. Ordnung) dienen, wie die Landesstraßengesetze vielfach deutlich festlegen, dem durchgehenden Verkehr innerhalb des jeweiligen Landes;27 der Durchgangsverkehr wird teilweise näher charakterisiert durch den Zusatz, dass er über das Gebiet eines Kreises28 oder benachbarter Landkreise29 hinausgehe, und die Verkehrsbedeutung wird z. T. als mindestens regional bezeichnet30. Daraus lässt sich folgern, dass Bundesfernstraßen vornehmlich überregionale und die Grenzen der Bundesländer überschreitende Verkehrsbeziehungen vermitteln; sind sie ausschließlich geeignet, dem Durchgangsverkehr innerhalb eines Landes zu dienen, erfüllen sie die vom Bundesgesetzgeber statuierten Voraussetzungen nicht. Hingegen dürften zu den Bundesfernstraßen nicht allein diejenigen Straßenzüge zählen, die das Bundesgebiet insgesamt erschließen, an das benachbarte Ausland anschließen sowie die großen Teilräume untereinander verbinden.31 Vielmehr genügt es für das mit dem Bundesfernstraßengesetz angestrebte Ziel, die überregionale Verkehrserschließung des Bundesgebiets zu gewährleisten, dass eine Bundesfernstraße aufgrund des Netzzusammenhangs geeignet ist, eine regionale Grenzen überschreitende Verkehrsanbindung ohne Wechsel der verkehrlichen Qualität zu ermöglichen. Demgemäß ist beispielsweise auch eine Straße, die zwei Bundesautobahnen und zwei Bundesstraßen miteinander verbindet und nach Art einer „Querspange“ die Aufgabe einer Zubringerschiene für das Autobahnnetz erfüllt, wegen ihrer Netzfunktion als Bundesfernstraße einzustufen.32 Wenn sich der weiträumige Verkehr nach Benutzung der Fernstraßen auf andere Straßen verteilt, die überwiegend dem örtlichen oder regionalen Verkehr dienen, besteht aufgrund dessen jedoch noch keine Veranlassung, sie in das Bundesfernstraßennetz 26 Vgl. BVerwG Buchholz 407.4 § 1 FStrG Nr. 4; BayVGH DVBl. 1999, 866; HessVGH NVwZ-RR 1989, 338; HessVGH UPR 1989, 280; Hans Carl Fickert, Straßenrecht in Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 3. Aufl. 1989, § 3 Rn. 9, unter Hinweis auf OVG RP, Urt. v. 16. 11. 1982 – 7 A 33 / 82 –, n. v. 27 Vgl. z. B. § 3 Abs. 1 Nr. 1 StrG BW; Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayStrWG; § 3 Abs. 2 BbgStrG; § 3 Abs. 1 Nr. 1 HessStrG; § 3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG; § 3 Abs. 1 Lit. a SaarlStrG; § 3 Abs. 1 Nr. 1 SächsStrG; § 3 Abs. 1 Nr. 1 StrG LSA; § 3 Abs. 1 Nr. 1 ThürStrG. 28 So § 3 Abs. 1 Nr. 1 HessStrG. 29 § 3 Abs. 2 BbgStrG; § 3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG. 30 Vgl. § 3 Abs. 2 BbgStrG; § 3 Abs. 2 StrWG NW. 31 So aber Herber in Kodal / Krämer, S. 256. 32 Vgl. VGH BW UPR 1993, 190; s. auch BVerwG Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 86 = DVBl. 1990, 789; HessVGH NVwZ-RR 1989, 338; HessVGH UPR 1989, 280.
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einzubeziehen, und ebenso wenig kann aus dem Überwiegen örtlicher oder regionaler Verkehrsbeziehungen auf Bundesfernstraßen im Einzugsbereich größerer Städte gefolgert werden, sie dienten nicht der Vermittlung überregionaler Verkehrsbeziehungen.33 Entscheidend ist, ob diese Straßen in bedeutenderem Umfang dem weiträumigen Verkehr dienen oder zu dienen bestimmt sind. Dabei können auch zu erwartende oder anzustrebende Veränderungen des Verkehrs, soweit sie naheliegen oder unmittelbar bevorstehen, berücksichtigt werden.34 Die Festlegung in § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG, dass Bundesfernstraßen dem weiträumigen Verkehr dienen oder zu dienen bestimmt sind, erklärt die Funktionszuordnung einer Straße als maßgeblich für ihre Verkehrsbedeutung: Die Eigenschaft einer Bundesfernstraße kann sowohl durch das Verkehrsaufkommen als auch durch die mit dem Bau und der Unterhaltung der Straße verfolgte Verkehrskonzeption begründet sein; beide Kriterien zur Charakterisierung der Verkehrsfunktion stehen gleichberechtigt nebeneinander.35 Die Begriffe „dienen“ und „zu dienen bestimmt“ sind nicht deskriptiver, sondern normativer Natur und verdeutlichen, dass die Klassifizierung einer Straße sich danach bestimmt, welche verkehrlichen Beziehungen sie vermitteln kann und soll. Eine Bundesfernstraße „dient“ einem weiträumigen Verkehr, wenn sie nicht nur vereinzelt, sondern in einem erheblichen und regelmäßigen Umfang ihrer Erschließungs- und Verbindungsfunktion entsprechend tatsächlich für überregionale Verkehrsvorgänge genutzt wird.36 Das Bundesfernstraßengesetz legt freilich nicht fest, in welchem Ausmaß eine derartige Nutzung erfolgen muss, doch wird es Straßen, die ausschließlich dem weiträumigen Verkehr dienen, kaum geben, weil Verkehrsvorgänge mit geringerer Reichweite in gleicher Weise zugelassen sind. Eine Straße dient jedenfalls dem weiträumigen Verkehr, wenn dieser überwiegt37 (vgl. auch die Regelungen in mehreren Landesstraßengesetzen,38 wonach die Straßen danach zu klassifizieren sind, ob es sich „vorwiegend“ oder „überwiegend“ um einen Verkehr bestimmter Reichweite handelt), aber dies meint nicht die absolute, sondern die relative Mehrzahl der Verkehrsvorgänge39: Der Anteil des weiträumigen Verkehrs muss größer sein als der Anteil jeder sonstigen Art von Verkehr mit bestimmter – überörtlicher oder örtlicher – Reichweite. Bei der Beurteilung sind Durchschnittswerte zugrunde zu legen: Maßgeblich sind nicht die Verkehrsvorgänge in einzelnen räumlichen oder zeitlichen Abschnitten, vielmehr ist der gesamte StraVgl. BayVGH DVBl. 1999, 866 (867). OVG RP DÖV 1988, 697. 35 Vgl. auch Kurt Kodal, Die Kategorisierung der Straßen, in: Richard Bartlsperger / Willi Blümel / Hans-Wolfgang Schroeter (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, 1980, S. 507 ff. (517). 36 Vgl. auch Herber in Kodal / Krämer, S. 262. 37 Kritisch zu dem Begriff Kodal, S. 514. 38 Beispielsweise § 3 Abs. 1 StrG BW; § 3 Abs. 1 HessStrG; § 3 StrWG-MV; § 3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG; § 3 Abs. 1 StrG LSA; § 3 Abs. 1 StrWG SH. 39 Siehe auch BayVGH DÖV 1991, 252 (254). 33 34
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ßenzug einer Bundesfernstraße und die Nutzung unabhängig von temporären Schwankungen zu berücksichtigen.40 Insbesondere im Einzugsbereich von Großstädten und in Verdichtungsräumen kann der örtliche Verkehr auch auf Bundesfernstraßen den weiträumigen beträchtlich überschreiten; gleichwohl kann eine solche Teilstrecke Bundesfernstraße sein, wenn auf der Straße insgesamt der Verkehr vorwiegend überregionaler Natur ist oder wenn sie zur Netzbildung erforderlich ist.41 Ebenso wenig verliert eine Straße ihren Charakter als Bundesfernstraße, wenn die Nutzung für den weiträumigen Verkehr zwar nicht ständig, aber periodisch (z. B. an Wochenenden oder in der Urlaubszeit) – und nicht lediglich vereinzelt (etwa zu einmal jährlich stattfindenden Großveranstaltungen) – erfolgt;42 es genügt, dass die Straße insgesamt weiträumige verkehrliche Beziehungen vermitteln kann und zu diesem Zweck in nicht unbeträchtlichem Maße genutzt wird. Anders als der das tatsächliche Verkehrsaufkommen umschreibende Begriff des „Dienens“ weist das Kriterium „zu dienen bestimmt“ auf die der Straße zugedachte Verkehrsfunktion, d. h. die mit dem Bau und der Unterhaltung verfolgte Verkehrskonzeption, hin.43 Sie ergibt sich für die Bundesfernstraßen bereits aus der Aufnahme eines Bau- oder Ausbauvorhabens in den dem Fernstraßenausbaugesetz als Anlage beigefügten Bedarfsplan; denn gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 FStrAbG entsprechen diese Vorhaben den Zielsetzungen des § 1 Abs. 1 FStrG.44 Im Übrigen kann die vom zuständigen Straßenbaulastträger verfolgte Verkehrskonzeption in Raumordnungsplänen, Straßenausbauplänen und kommunalen Verkehrsplänen ebenso wie in der individuellen Planung einer Straße, in der Durchführung von Bau- und Ausbauvorhaben (für eine geänderte Verkehrslenkung) oder in der Entscheidung über die Aufstufung einer Straße (zur Übernahme in seine Baulast zwecks Herstellung des Netzzusammenhangs) u. ä. zum Ausdruck kommen45 und ist demgemäß zwar zukunftsgerichtet, erfasst aber neben künftigen auch bereits vorhandene Straßen. Maßgebend für die „Bestimmung“ ist somit der subjektive Wille des Straßenbaulastträgers, der sich in unterschiedlichen Formen von Erklärungen, insbesondere den Einstufungsentscheidungen, und konkludenten Handlungen äußern kann. Die gesetzliche Grundlage für die Benutzung der Bundesfernstraßen stellt § 7 Abs. 1 Satz 1 FStrG dar: 40 Ebenso Herber in Kodal / Krämer, S. 263; Dieter Lorenz, Straßengesetz für BadenWürttemberg, 1992, § 3 Rn. 9, 12. 41 Vgl. BayVGH DÖV 1991, 252. 42 Ebenso Lorenz, § 3 Rn. 9. 43 Vgl. z. B. Fickert, § 3 Rn. 14; Kodal, S. 515; Herber in Kodal / Krämer, S. 263; Lorenz, § 3 Rn. 7 f.; BVerwG Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 86 = DVBl. 1990, 789; HessVGH NVwZ-RR 1989, 338. 44 Vgl. auch BVerwG NVwZ 1996, 381 (383); Urt. v. 21. 3. 1966, BVerwGE 100, 388 (390); VGH BW NVwZ-RR 1994, 373. 45 Siehe auch Herber in Kodal / Krämer, S. 263.
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„Der Gebrauch der Bundesfernstraßen ist jedermann im Rahmen der Widmung und der verkehrsbehördlichen Vorschriften zum Verkehr gestattet (Gemeingebrauch).“
Gemeingebrauch ist nach dieser Legaldefinition das jedermann, also auch Ausländern oder Gebiets- und Gemeindefremden, gewährte subjektive öffentliche Recht, eine Bundesfernstraße ohne besondere Zulassung, sei sie nun förmlicher oder formloser Natur, zu Zwecken des Verkehrs im Rahmen der Widmung zu benutzen.46 Damit wird die Straße als öffentliche Sache charakterisiert und ihre Benutzung für den Verkehr festgelegt. Der Begriff des Gemeingebrauchs umfasst dabei sowohl die normativ begründete Nutzungsmöglichkeit als auch die tatsächliche Ausübung dieses Rechts.47 Einen einheitlichen bundesrechtlichen Begriff des Gemeingebrauchs gibt es indes nicht: § 7 Abs. 1 FStrG enthält nur eine Regelung des Gemeingebrauchs an Bundesfernstraßen. Gesetz (§ 1 Abs. 1 und 348 FStrG) und Widmung legen zunächst den Umfang des abstrakten Gemeingebrauchs fest, der auf einer bestimmten Straße (beispielsweise einer Bundesautobahn) zulässig ist. Dieser widmungsgemäße, abstrakte Gemeingebrauch wird unterschieden von dem konkreten Gemeingebrauch, der Art und Ausmaß der Benutzung umschreibt, wie ihn die Straßenverkehrsvorschriften gestatten, die innerhalb des abstrakten Gemeingebrauchs aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs diejenigen Beschränkungen statuieren, die sich für die einzelne Straße aus den generellen Normen des Straßenverkehrsrechts und aus den in ihrem Vollzug erlassenen Einzelakten, den Verkehrszeichen, ergeben. § 7 Abs. 1 Satz 1 enthält somit eine Definition des konkreten Gemeingebrauchs, doch wird die spezifische Verkehrsaufgabe einer Bundesfernstraße und dadurch der Nutzungsrahmen im Verhältnis zum Straßenverkehrsrecht und zu den Straßenverkehrsbehörden durch die auf der Grundlage des FStrG vorgenommene Widmung verbindlich festgelegt.49 2. Straßenverkehrsrechtliche Beschränkungen Wie § 7 Abs. 1 Satz 1 FStrG bestimmt, ist der Gebrauch der Bundesfernstraßen nur im Rahmen der verkehrsbehördlichen Vorschriften gestattet; die Straßenverkehrsregelungen bilden die praktisch wichtigste Grenze für die Ausübung des GeNäher hierzu bereits Grupp in Marschall / Schroeter / Kastner, § 7 Rn. 1 f. m. w. N. Lorenz, § 13 Rn. 7; anders Hans-Werner Laubinger, Straßenkunst: Gemeingebrauch oder Sondernutzung?, in: VerwArch 81 (1990), 583 ff. (601 f.), der darin nur den tatsächlichen Vorgang sieht. 48 § 1 Abs. 3 FStrG lautet: „Bundesautobahnen sind Bundesfernstraßen, die nur für den Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen bestimmt und so angelegt sind, dass sie frei von höhengleichen Kreuzungen und für Zu- und Abfahrt mit besonderen Anschlussstellen ausgestattet sind. Sie sollen getrennte Fahrbahnen für den Richtungsverkehr haben.“ 49 Udo Steiner, Rechtliche Aspekte einer städtebaulich orientierten Verkehrsplanung in den Gemeinden, 1980, S. 30 f.; ders., Straßen- und Wegerecht, in: Udo Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1995, S. 649 ff. (711). 46 47
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meingebrauchs. Dies bedeutet zugleich, dass ein Verkehrsvorgang, der sich innerhalb der Widmung hält und prinzipiell den Verkehrsvorschriften entspricht, als straßenrechtlicher Gemeingebrauch einzustufen ist,50 weil das Straßenverkehrsrecht insoweit den Verkehrsbegriff bestimmt. Diese Folge ergibt sich aus dem Verhältnis des Straßenrechts zum Straßenverkehrsrecht: Es handelt sich um zwei selbstständige Rechtsmaterien, die jedoch in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen;51 denn das Straßenverkehrsrecht setzt das Straßenrecht voraus, weil dessen Vorschriften und deren Vollzug festlegen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang dem einzelnen der Gebrauch der Straße offen steht. Hiernach besteht ein Vorbehalt des Straßenrechts,52 d. h. es liegt in der Zuständigkeit des Straßenbaulastträgers, durch die Widmung und ggf. deren Abänderung die spezifische Verkehrsaufgabe einer Straße mit Wirkung auch für das Straßenverkehrsrecht und die Straßenverkehrsbehörden verbindlich vorzugeben und damit festzulegen, in welchem Rahmen die Straßenverkehrsvorschriften zur Anwendung kommen und im Hinblick auf die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs das Verhältnis der – nach der Widmung zugelassenen – Verkehrsteilnehmer untereinander regeln oder die Straßenverkehrsbehörden zur Regelung ermächtigen. Daher können die Art und das Ausmaß der widmungsgemäßen Nutzungen einer Straße durch verkehrsrechtliche Maßnahmen nicht erweitert werden,53 so dass Verkehr, der auf einer öffentlichen Straße widmungsrechtlich nicht zugelassen ist – etwa weil Gewichtsbegrenzungen überschritten sind oder es sich um eine ausgeschlossene Fahrzeugart handelt (wie Radverkehr auf einer Kraftfahrstraße) –, auch durch die Gewährung einer Ausnahme nach § 46 StVO nicht zum Gemeingebrauch wird, sondern damit aufgrund von § 8 Abs. 6 Satz 1 FStrG als Sondernutzung erlaubt ist.54 Demgegenüber besteht ein Vorrang des Straßenverkehrsrechts für die Ausfüllung des straßenrechtlich gezogenen Rahmens, weil der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG erschöpfende verkehrsrechtliche Regelungen getroffen hat, die dem (Fern-) Straßenrecht vorgehen und eine „Überlagerung“ der Widmung bewirken können.55 Zwar dürfen durch Maßnahmen, die auf 50 BVerwGE 34, 320 (321), und NJW 1982, 2332; s. auch BVerfGE 67, 299 (321 ff.); Fickert, § 14 Rn. 18; Friedrich Grote in Kodal / Krämer, S. 581 f.; Grupp in Marschall / Schroeter / Kastner, § 7 Rn. 16; Helmut Krämer in Kodal / Krämer, S. 111 f. 51 Vgl. BVerfGE 40, 371 (378); BVerfGE 67, 299 (314); BVerwGE 34, 241 (243); BVerwGE 62, 376 (378); Udo Steiner, Zulässigkeit und Grenzen der verkehrsrechtlichen Anordnung von Nachtfahrverboten zu Lasten des Lastkraftwagenverkehrs auf Bundesstraßen. Rechtsgutachten, o. J., S. 15 f. 52 Vgl. dazu Hans-Jürgen Papier, Straßenrecht, in: Norbert Achterberg / Günter Püttner / Thomas Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, 2. Aufl., Heidelberg 2000, S. 840 ff. (847); Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 711 f. 53 Vgl. BVerwGE 62, 376 (378 f.); BVerwG, Urt. v. 28. 7. 1989, BVerwGE 82, 266 (269); VGH BW NJW 1984, 819 (821). 54 Ebenso Lorenz, § 13 Rn. 30, 34.
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straßenverkehrsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützt sind, keine Nutzungszustände herbeigeführt werden, die im Ergebnis eine dauernde (Teil-)Einziehung bedeuten,56 aber durch die Anordnung von Verkehrsverboten und Verkehrsbeschränkungen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs können widmungsrechtlich zulässige Verkehrs- und Benutzungsarten begrenzt und ausgeschlossen werden.57 Dies beruht auf der Annahme, dass derartige Maßnahmen der Gefahrenabwehr lediglich situationsbedingt und deshalb nicht auf Dauer getroffen, sondern bei Eintritt des Erfolgs wieder aufgehoben werden, obwohl eine Einschränkung der widmungsgemäßen Nutzung durch Verkehrsverbote und -beschränkungen auch dann als rechtmäßig angesehen wird, wenn bei ihrem Erlass nicht erkennbar ist, wie lange die Gefahrensituation andauern wird.58 Die in der Straßenverkehrs-Ordnung enthaltenen Ermächtigungen zur Anordnung der Durchfahrverbote für den Schwerlastverkehr beruhen in erster Linie auf § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG, der auszugsweise lautet: „Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird ermächtigt, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen über ... 3. die sonstigen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen . . . oder zur Verhütung von Belästigungen erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr, und zwar hierzu unter anderem ... d) über den Schutz der Wohnbevölkerung und Erholungssuchenden gegen Lärm und Abgas durch den Kraftfahrzeugverkehr . . . , . . .“.
Demgemäß weist § 45 StVO u. a. folgende Ermächtigungen auf: „(1) Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben sie ... 3. zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen, ... 55 Jürgen Salzwedel, Der Gemeingebrauch, in: Richard Bartlsperger / Willi Blümel / HansWolfgang Schroeter (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, Hamburg 1980, S. 97 ff., S. 107; Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 711; a.A. Fickert, § 14 Rn. 14 f., 18. 56 Fickert, § 14 Rn. 16; Krämer in Kodal / Krämer, S. 110; Grote in Kodal / Krämer, S. 589 f.; Lorenz, § 13 Rn. 29, 33; Papier, S. 848; Franz-Joseph Peine, Die Einrichtung von Fußgängerzonen als Problem der Abgrenzung von Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht, in DÖV 1978, 835 ff. (838); Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 712 m. w. N. 57 Vgl. etwa BVerwG DVBl. 1980, 1045; BVerwGE 92, 32 (36); VGH BW DÖV 1982, 206 (m. Anm. v. Udo Steiner, DÖV 1982, 555 ff.). 58 Vgl. Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 712 f.; einschränkend Peine, S. 838.
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(1 b) Die Straßenverkehrsbehörden treffen auch die notwendigen Anordnungen ... 5. zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm und Abgasen . . . , ... (9) Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Abgesehen von der Anordnung von Tempo 30-Zonen nach Absatz 1 c oder Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen nach Absatz 1 d dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Abweichend von Satz 2 dürfen zum Zwecke des Absatzes 1 Satz 1 oder 2 Nr. 3 Beschränkungen oder Verbote des fließenden Verkehrs auch angeordnet werden, soweit dadurch erhebliche Auswirkungen veränderter Verkehrsverhältnisse, die durch die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge hervorgerufen worden sind, beseitigt oder abgemildert werden können. . . .“.
III. Die straßenrechtliche Wirkung der Sperrmaßnahmen Die Eigenschaft als Bundesfernstraße erhält eine Straße grundsätzlich nach § 2 Abs. 1 FStrG durch die Widmung, der freilich die Widmungsfiktion gemäß § 2 Abs. 6 a FStrG gleichgestellt ist. Die Widmung als Kreationsakt der Bundesfernstraße59 begründet nicht nur den öffentlichen Sachstatus der Straße, sondern auch deren Zweckbestimmung. Als gesetzliche Folge der Widmung wird der Allgemeinheit die Nutzung der Straße – der Gemeingebrauch – eröffnet und deren Einstufung als Bundesautobahn oder Bundesstraße vorgenommen. Damit wird zugleich die Zweckbestimmung konkretisiert, die bei Bundesfernstraßen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG in der Nutzung für den – weiträumigen – öffentlichen Verkehr besteht. In der Widmung können zudem – über die abstrakte und typisierte Einstufung hinaus – zur Konkretisierung des für die einzelne Straße entwickelten Verkehrs- und Nutzungskonzepts ausdrückliche Beschränkungen der Benutzung statuiert werden; insoweit kann und muss auch der tatsächliche Ausbauzustand der zu widmenden Straße berücksichtigt werden. In Betracht kommt bei Bundesfernstraßen vor allem die Begrenzung der Benutzungsarten – etwa die Beschränkung einer Bundesstraße auf den Kraftfahrzeugverkehr (Autostraße) – und die Festlegung von Gewichtsbeschränkungen für Fahrzeuge. Als Gegenstück zur Widmung regelt § 2 Abs. 4 FStrG die Einziehung, der in § 2 Abs. 6 a Satz 2 FStrG die Einziehungsfiktion gleichgestellt wird; darüber hinaus 59 Vgl. Peter Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994, S. 57.
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lässt § 2 Abs. 5 Satz 2 FStrG eine Einziehung von Teilstrecken im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder im Zusammenhang mit unwesentlichen Änderungen bestehender Bundesfernstraßen zu. Andere Formen der Einziehung sieht das Bundesfernstraßengesetz nicht vor. § 2 Abs. 4 FStrG eröffnet nach seinem Wortlaut allein die Möglichkeit, eine Straße völlig einzuziehen, doch wird eine Teileinziehung herkömmlich als ein Anwendungsfall der gänzlichen Einziehung betrachtet und als deren „minus“ auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage für zulässig gehalten. Der Gemeingebrauch kann durch Teileinziehung in dem Maße eingeengt werden, das auch bei einer anfänglichen Widmungsbeschränkung zulässig wäre:60 In Betracht kommt so namentlich der Ausschluss von Kraftfahrzeugen oder die Festlegung von Gewichtsbeschränkungen für Fahrzeuge. Die Teileinziehung bildet daher ein wirksames Instrument zur Steuerung des Verkehrs,61 das allerdings in der Praxis überwiegend nur für die Schaffung von Fußgängerbereichen verwendet wird, während im Übrigen zur Lösung von Verkehrsproblemen vornehmlich auf die Möglichkeiten zurückgegriffen wird, die das Straßenverkehrsrecht bietet, weil sie mit geringerem Verfahrensaufwand zu verwirklichen und leichter zu korrigieren sind.62 Der völlige Ausschluss des Kraftfahrzeugverkehrs wäre freilich bei Bundesfernstraßen mit deren Zweckbestimmung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG für den weiträumigen Verkehr unvereinbar,63 doch ist die Festlegung von Gewichtsbeschränkungen für Fahrzeuge und von Benutzungszeiten sowie die Sperrung für bestimmte Fahrzeugarten zulässig; Bedeutung kommt der Teileinziehung zudem für die Beschränkung des Gemeingebrauchs an Bundesstraßen auf den Kraftfahrzeugverkehr (Einrichtung von Kraftfahrstraßen) und bei der Aufstufung von Straßen zu Bundesautobahnen (wegen der dadurch herbeigeführten Begrenzung auf den Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 FStrG) zu. Die speziellen Vorschriften des Straßenverkehrsrechts sind umfassend, beziehen sich indes lediglich auf den Verkehr, so dass verkehrsrechtliche Maßnahmen allein von den Straßenverkehrsbehörden getroffen werden dürfen, es dem Träger der Straßenbaulast jedoch unbenommen bleibt, mit straßenrechtlichen Mitteln auch Aufgaben der Gefahrenabwehr wahrzunehmen.64 So ist die Sperrung einer Straße für den Schwerlastverkehr aus Gründen des Lärmschutzes gleichermaßen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 1 b Satz 1 Nr. 5 StVO wie durch eine Beschränkung der Widmung möglich;65 denn der Träger der Straßenbaulast kann bei der Realisie60 Fickert, § 7 Rn. 16; Herber in Kodal / Krämer, S. 290; Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 664 Fn. 68. 61 Vgl. hierzu und zum Folgenden beispielsweise Udo Steiner, Möglichkeiten und Grenzen einer Verringerung der Kraftfahrzeugmengen im Innenstadtbereich mit den Mitteln des Straßen- / Straßenverkehrsrechts, in: Willi Blümel, Einschaltung Privater beim Verkehrswegebau, – Innenstadtverkehr, 2. Aufl. 1993, S. 59 ff. (64 ff. m. w. N.) 62 Vgl. hierzu BVerwG DÖV 1977, 105 (106); HessVGH NVwZ-RR 1992, 5 (6). 63 Ebenso Herber in Kodal / Krämer, S. 294. 64 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 714 f.
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rung seines Nutzungskonzepts Widmungsbeschränkungen zur Wahrung sämtlicher öffentlichen Interessen, d. h. auch zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, mit dem Ziel des Verkehrs-Umweltschutzes oder unter städtebaulichen Aspekten, vornehmen. Die Anordnung von ganztägigen Fahrverboten für den Schwerlastverkehr bedeutet den völligen Ausschluss eines widmungsgemäßen gemeingebräuchlichen Verkehrs von der Nutzung der Straße. Sie stellt zwar eine Verkehrsregelung wie etwa die nächtliche Sperrung einer Straße für Lastkraftwagen ab einem bestimmten zulässigen Gesamtgewicht (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 1 b Satz 1 Nr. 5 StVO) dar,66 geht damit aber über zeitlich begrenzte Beschränkungen der Straßenbenutzung deutlich hinaus. Es erscheint deshalb fraglich, ob die Sperrung der Teilstrecken von zahlreichen Bundesstraßen sich innerhalb des zuvor umschriebenen Rahmens hält. Bei der Anordnung von Verkehrsbeschränkungen und -verboten auf Bundesfernstraßen ist nämlich zu beachten, dass diese Straßen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG dem weiträumigen Verkehr dienen oder zu dienen bestimmt sind und – wie auch § 7 Abs. 1 Satz 2 FStrG verdeutlicht – deshalb dem fließenden Verkehr besondere Bedeutung zukommt.67 Dieser Gesichtspunkt besitzt vor allem außerhalb der geschlossenen Ortslage erhöhtes Gewicht, doch bleibt selbst hinsichtlich der Ortsdurchfahrten zu berücksichtigen, dass sie in erster Linie den überörtlichen Durchgangsverkehr aufzunehmen haben und daher einschränkende Maßnahmen dem Rechnung tragen müssen.68 Insoweit kann insbesondere nicht unbeachtet bleiben, dass die kürzeste Teilstrecke (auf der B 8 / 27) 2 km beträgt und die längste Sperrung (auf der B 4) sich über 119 km erstreckt. Angesichts dessen kann nicht mehr von Verkehrsregelungen ausgegangen werden – der rechtliche Charakter der Anordnungen entspricht vielmehr dem von Teileinziehungen. Anders als die Nachtfahrverbote, die sich als temporäre, streckenbegrenzte und verkehrsartbezogene Maßnahmen einstufen lassen,69 handelt es sich bei den ganztägigen Fahrverboten über längere Streckenabschnitte um Anordnungen, die das Nutzungskonzept verändern; sie sind „statusnahe“ straßenverkehrsbehördliche Anordnungen,70 die aufgrund ihrer weitgehenden Wirkung in ihrem Schwerpunkt nicht mehr verkehrsrechtlicher Natur sind. Durch Maßnahmen, die auf straßenverkehrsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützt sind, dürfen keine Nutzungszustände herbeiVgl. VGH BW DÖV 1982, 206 (m. Anm. v. Steiner, DÖV 1982, 555 ff.). Näher hierzu Steiner, Rechtsgutachten, insbes. S. 13 ff. 67 Vgl. auch Grote in Kodal / Krämer, S. 591, (603 f.); vgl. zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf einem etwa 116 km langen Streckenabschnitt einer Bundesautobahn BVerwG NJW 1996, 333. 68 Udo Steiner, Anm. zum (Zwischen-)Urteil des VGH Mannheim vom 21. 10. 1993, DVBl. 1994, 348, in: DVBl. 1994, 351, spricht im Zusammenhang mit der Anordnung von geschwindigkeitsbeschränkten Zonen von der „Festlegung eines sog. Vorbehaltsnetzes von Hauptverkehrsstraßen mit erlaubter höherer Geschwindigkeit“. 69 Steiner, Rechtsgutachten, S. 14. 70 Steiner, Rechtsgutachten, S. 16, HessVGH NVwZ-RR 2006, 832. 65 66
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geführt werden, die im Ergebnis eine dauernde Teileinziehung bedeuten,71 wenngleich durch die Anordnung von Verkehrsverboten und Verkehrsbeschränkungen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs widmungsrechtlich zulässige Verkehrs- und Benutzungsarten begrenzt und ausgeschlossen werden können.72 Allerdings hängt die Rechtmäßigkeit derartiger Maßnahmen der Gefahrenabwehr davon ab, dass sie lediglich situationsbedingt sind und deshalb nicht auf Dauer getroffen, sondern bei Eintritt des Erfolgs wieder aufgehoben werden; indessen wird eine Einschränkung der widmungsgemäßen Nutzung durch Verkehrsverbote und -beschränkungen auch dann als rechtmäßig angesehen, wenn bei ihrem Erlass nicht erkennbar ist, wie lange die Gefahrensituation andauern wird.73 Diese Voraussetzungen sind jedoch bei den Sperrungen von Teilstrecken der Bundesstraßen in den einzelnen Bundesländern nicht gegeben: Wenn die Zunahme des Verkehrs tatsächlich durch „Mautausweichverkehr“ verursacht wäre, könnten die Durchfahrverbote für den Schwerlastverkehr nicht aufgehoben werden, ohne dass erneut mit einem Anstieg dieses Verkehrs auf den wieder für den Durchgangsverkehr freigegebenen Strecken gerechnet werden müsste. Daran wird deutlich, dass die Anordnung der Durchfahrverbote nicht der Abwehr einer vorläufigen Gefahr dient, sondern zu einem Nutzungszustand führt, der im Ergebnis eine dauernde Teileinziehung darstellt. Obwohl die Maßnahmen auf eine straßenverkehrsrechtliche Ermächtigung gestützt sind, weisen sie im Kern straßenrechtliche Wirkung auf und sind damit rechtswidrig. Demgegenüber geht die Begründung zur Einfügung von § 45 Abs. 9 Satz 3 in die Straßenverkehrs-Ordnung davon aus, die Widmung der Straßen für den Durchgangsverkehr bleibe unangetastet und am grundsätzlichen Gemeingebrauch ändere sich nichts,74 weil die Definition des Durchgangsverkehrs Ausnahmen für den lokalen und regionalen Bereich aufweise. Diese Argumentation lässt indessen für die Bundesstraßen unberücksichtigt, dass deren Funktion nach § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG gerade in der Bereitstellung von Straßen für die weiträumige Benutzung besteht, d. h. insbesondere auch für den Durchgangsverkehr, der keine regionalen und lokalen Berührungspunkte aufweist. Durch die Durchfahrverbote wird diese Funktion der Bundesstraßen für den Schwerlastverkehr in einem Maße eingeschränkt, dass die straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen materiell die Widmung beschränken und damit unzulässig wie eine Teileinziehung wirken mit der Folge, dass der Gemeingebrauch rechtwidrig eingeschränkt wird. Die Länge der gesperrten Teilstrecken kann überdies bewirken, dass deren prinzipielle Zweckbestimmung beeinträchtigt wird: Erstrecken sich Durchfahrverbote 71 BVerfGE 67, 299 (322); Fickert, § 14 Rn. 16; Kodal / Krämer, S. 554; Lorenz, § 13 Rn. 29, 33; Papier, S. 848; Peine, S. 838; Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 712 m. w. N. 72 Vgl. etwa BVerwG DVBl. 1980, 1045; BVerwGE 92, 32 (36); VGH BW DÖV 1982, 206 (m. Anm. v. Steiner, DÖV 1982, 555 ff.). 73 Vgl. Steiner, Straßen- und Wegerecht, S. 712 f.; einschränkend Peine, S. 838. 74 Entwurf der 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, Begründung zu Artikel 1 Nr. 1 (§ 41 Abs. 2 Nr. 6), BR-Drucks. 824 / 05, S. 6 f. (7).
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auf Straßenabschnitte mit einer nicht lediglich als gering einzustufenden Länge (was bei mehr als 20 km anzunehmen sein dürfte), dienen die betreffenden Bundesstraßen nur noch eingeschränkt dem weiträumigen Verkehr und erfüllen insoweit auch nicht mehr ihre Netzfunktion. Die Durchfahrverbote für Kraftfahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 12 t verhindern für diesen Benutzerkreis den überörtlichen Durchgangsverkehr, für den Bundesfernstraßen gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG bestimmt sind, und machen es damit unmöglich, über diese im Fernstraßennetz vorhandenen Straßen andere Bundesfernstraßen zu erreichen. Derartige Beeinträchtigungen der Zweckbestimmung sind noch mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar, sofern sie nur kurze Teilstrecken betreffen und das nachgeordnete Straßennetz so beschaffen ist, dass der überörtliche Durchgangsverkehr darüber ausweichen kann. Diese Voraussetzungen sind indes bezüglich der gesperrten Straßenabschnitte zumeist gerade nicht gegeben – mit den Durchfahrverboten soll vielmehr erreicht werden, dass der Schwerlastverkehr die Bundesautobahnen benutzt. Damit wird durch diese Maßnahmen die Bestimmung des § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG unterlaufen, weil auf den gesperrten Teilstrecken der weiträumige Verkehr für einen von der Widmung erfassten Benutzerkreis in einem wesentlichen Maß ausgeschlossen wird, obwohl der Ausbauzustand dieser Streckenabschnitte dies nicht erfordert, sondern einen widmungsgemäßen, der gesetzlichen Bestimmung entsprechenden Verkehr zulässt; die Durchfahrverbote sind deshalb mit § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG nicht vereinbar. Die Überlagerungs- oder Verdrängungsfähigkeit straßenverkehrsrechtlicher Anordnungen mit einschränkenden Wirkungen für die Widmung und für den ihr gemäßen, gemeingebräuchlichen Verkehr ist zwar prinzipiell anerkannt,75 aber sie besteht nicht unbeschränkt: Insbesondere wenn Landesstraßenverkehrsbehörden in Bezug auf Bundesfernstraßen auf der Grundlage von § 45 StVO Anordnungen treffen, müssen sie – ungeachtet der Tatsache, dass für den Erlass der Widmungsverfügung im Rahmen der Auftragsverwaltung gemäß § 2 Abs. 6 Satz 1 FStrG formell eine Landesbehörde zuständig ist – Rücksicht auf die vom Bund festgelegte Nutzungskonzeption nehmen;76 denn die Landesbehörde hat nach § 2 Abs. 6 Satz 3 FStrG vor Erlass der Widmungsverfügung das Einverständnis des Bundes einzuholen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die bundesrechtliche Norm des § 45 StVO zu Verkehrsverboten und -beschränkungen ermächtigt; denn dies ändert nichts an der Unzulässigkeit dauerhafter Änderungen des Nutzungszustandes, die vom Bundesfernstraßenrecht nur aufgrund straßenrechtlicher Maßnahmen – Widmungsänderung bzw. Teileinziehung – vorgesehen sind, und nicht durch straßenverkehrsrechtliche Anordnungen, wie sie die Straßenverkehrsbehörden mit dem Erlass der Durchfahrverbote getroffen haben.
75 Vgl. z. B. HessVGH NVwZ-RR 2006, 832; BayVGH, Beschl. vom 7. Dezember 2006 – 11 CS 06.2450 –, UA S. 17 (= juris Rn. 34); Steiner, Rechtsgutachten, S. 16. 76 HessVGH, ebd.; BayVGH, Beschl. vom 7. Dezember 2006 – 11 CS 06.2450 –, UA S. 18 (= juris Rn. 35); ausführlich Steiner, Rechtsgutachten, S. 22 ff.
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IV. Die straßenverkehrsrechtliche Ermächtigung Selbst wenn die straßenrechtlichen Wirkungen der Fahrverbote außer Betracht bleiben, ergeben sich Zweifel, ob § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO eine gültige Ermächtigung für derartige Maßnahmen darstellt, weil die Norm nicht dem Bestimmtheitsgebot genügen könnte. Das Gebot der Bestimmtheit staatlicher Normen ist ein aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Rechtsstaatsprinzip abgeleiteter Grundsatz. Es zielt darauf ab, dem Bürger die Möglichkeit zu geben, sein Verhalten auf die geltenden Rechtsvorschriften abzustellen;77 die damit geforderte Messbarkeit und Berechenbarkeit setzt voraus, dass die staatlichen Regelungen klar und ohne innere Widersprüche sind.78 Das Maß an Bestimmtheit, das von gesetzlichen Normen eingehalten werden muss, erhöht sich „mit der Intensität, mit der auf der Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen werden kann“79 und ist weiterhin abhängig von den sachlichen Eigenarten des Regelungsgegenstandes.80 Die Interpretationsbedürftigkeit einer Norm ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Unbestimmtheit,81 so dass es dem Normgeber nicht verwehrt ist, unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden82 und es ist Aufgabe der Gerichte, durch schrittweise Konkretisierung dieser unbestimmten Begriffe die Berechenbarkeit staatlichen Handelns sicherzustellen.83 Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot könnte in der Verwendung des Begriffs „erheblich“ zur Charakterisierung der Auswirkungen mautbedingter veränderter Verkehrsverhältnisse zu sehen sein. Wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dargelegt hat, wird der Begriff „sowohl in der Umgangs- als auch in der Rechtssprache in doppeltem Sinne verwendet. Er erfasst zum einen Sachverhalte, die ,groß‘, ,bedeutsam‘, ,gewichtig‘ etc. sind; zum anderen wird er – gerade in juristischen Texten – benutzt, um die Grenze zu kennzeichnen, ab der eine Tat77 Bernd Grzeszick in Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz. Kommentar (Stand. Mai 2009), Art. 20 VII Rn. 58. 78 Vgl. BVerfGE 17, 306 (314); 31, 255 (264); 37, 132 (142); 75, 329 (341); 78, 205 (212); 84, 133 (149); Karl-Peter Sommermann in Herrmann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 2000, Bd. 2, Art. 20 Rn. 279. 79 BVerfGE 83, 130 (145); zustimmend Grzeszick in Maunz / Dürig, Art. 20 VII Rdnr. 60; Sommermann in v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20 Rn. 281. 80 Vgl. BVerfGE 49, 168 (181); 59, 104 (114); 87, 234 (263); 89, 69 (84); 93, 213 (238); 102, 254 (337); 102, 347 (361); s. auch Grzeszick in Maunz / Dürig, Art. 20 VII Rn. 60; Sommermann in v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20 Rn. 281. 81 BVerfGE 83, 130 (145); 84, 133 (149); Sommermann in v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20 Rn. 279. 82 BVerfGE 78, 214 (226); 80, 103 (108); 87, 234 (263 f.); 102, 254 (337); 103, 21 (33); Grzeszick in Maunz / Dürig, Art. 20 VII Rn. 61; Sommermann in v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20 Rn. 279. 83 Sommermann in v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 20 Rn. 279.
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sache, mag sie selbst ggf. auch nur geringfügig sein, ,Relevanz‘ erlangt, weil die Rechtsordnung erst von da an bestimmte Folgen eintreten lässt (mithin ,Rechtserheblichkeit‘ vorliegt), oder weil einem Umstand nach den außerrechtlichen Gesetzlichkeiten der jeweiligen Materie erst ab einer bestimmten Schwelle Bedeutung (,fachliche Erheblichkeit‘) zukommt.“84 Das Gericht hat diese Frage indes offen gelassen und damit verdeutlicht, dass die Bedeutung des Begriffs „erheblich“ schwierig zu ermitteln ist. Daraus hat es jedoch nicht die Folgerung abgeleitet, dass § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt, sondern in Anlehnung an § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 der 16. BImSchV85 den Terminus „erheblich“ im Hinblick auf Lärmbelastungen wie den dort definierten Begriff „wesentlich“ interpretiert;86 das Bundesverwaltungsgericht hat diese Auffassung in der Folgezeit ebenfalls vertreten.87 Eine erhebliche Belastung liegt demnach vor, wenn der Beurteilungspegel des von dem zu ändernden Verkehrsweg ausgehenden Verkehrslärms um mindestens 3 dB(A) oder auf mindestens 60 dB(A) in der Nacht erhöht wird. Zumindest mit dieser Auslegung wird für den Rechtsunterworfenen deutlich erkennbar, was „erhebliche Auswirkungen“ i. S. v. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO sind; er kann auf diese Weise erkennen, wann ein Durchfahrverbot, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen ansonsten erfüllt sind, erlassen werden darf, so dass das staatliche Handeln für ihn berechenbar wird. Daher liegt kein Verstoß gegen das rechtsstaatlich fundierte Bestimmtheitsgebot vor und § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO ist deshalb als gültige Ermächtigung für den Erlass von Fahrverboten anzusehen.
V. Die Sperrung auf der Grundlage des geltenden Straßenverkehrsrechts Ausgehend hiervon bleibt im Einzelfall zu prüfen, wann die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Straßensperrung vorliegen. Insoweit ist zu ermitteln, ob veränderte Verkehrsverhältnisse eingetreten sind, die durch die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge hervorgerufen worden sind, und die BayVGH, Beschl. vom 7. Dezember 2006 – 11 CS 06.2450 –, UA S. 14 (= juris Rn. 28). Sechzehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) vom 12. Juni 1990 (BGBl. I S. 1036), geänd. durch Gesetz vom 19. September 2006 (BGBl. I S. 2146). 86 BayVGH, Beschl. vom 7. Dezember 2006 – 11 CS 06.2450 –, UA S. 15 (= juris Rn. 29); anders VG Ansbach, Urt. vom 25. Mai 2007 – AN 10 K 06.02661 – (= juris Rn. 46 f.); kritisch Adolf Rebler, Die Möglichkeiten der StVO zur Bekämpfung der „Mautflucht“, in: BayVBl. 2007, 230 (233). 87 BVerwGE 130, 383 (392 f. [Rn. 33 ff.]). 84 85
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erhebliche Auswirkungen verursacht haben, die aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs oder zum Schutze der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen
den Erlass der Maßnahme rechtfertigten. 1. Mautbedingte Veränderungen der Verkehrsverhältnisse § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO legt ausdrücklich fest, dass die Straßenverkehrsbehörden Verkehrsverbote und -beschränkungen auf dieser Grundlage nur treffen dürfen, wenn zum einen sich die Verkehrsverhältnisse verändert haben und zum anderen diese Veränderung auf die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge zurückzuführen ist.88 Es ist jedoch mehr als fraglich, ob diese Voraussetzungen für die in mehreren Bundesländern gesperrten Teilstrecken von Bundesstraßen vorliegen. Um dies feststellen zu können, muss zunächst der Schwerlastverkehr auf den betroffenen Straßenabschnitten nach der Einführung der Mautpflicht zugenommen haben, was durch Verkehrszählungen prinzipiell ermittelbar ist. Allerdings haben die an Bundesstraßen angebrachten Dauerzählstellen jedenfalls bis zum Jahr 2005 Lastkraftwagen über 12 t nicht gesondert erfasst,89 so dass in den meisten Fällen keine zuverlässigen Zählergebnisse existieren. Die Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen entspricht unter diesen Umständen vielfach kaum der in der Begründung zur Einfügung von § 45 Abs. 9 Satz 3 in die Straßenverkehrs-Ordnung enthaltenen Erwartung des Normgebers, es sei selbstverständlich, „dass vor Anordnung verkehrsbeschränkender oder -verbietender Maßnahmen vorher auf der Ausweichstrecke insbesondere die Verkehrsbelastung und die Verkehrsstrukturen erhoben werden“,90 und genügt deshalb den rechtlichen Anforderungen für den Erlass der Durchfahrverbote nicht. Vielmehr hätten die zuständigen Behörden durch einen detaillierten, aussagekräftigen Vergleich91 zwischen der Verkehrsbelastung vor dem Beginn der Mauterhebung und der vor der Anordnung der Streckensperrungen darlegen müssen, inwieweit sich die Verkehrsverhältnisse verändert haben. Erst auf dieser Grundlage hätte sich feststellen lassen, ob die Zunahme des Schwerlastverkehrs so wesentlich innerhalb des Gesamtverkehrs auf dem gesperrten Straßenabschnitt war, dass sie zu erheblichen Auswirkungen auf die Rechtsgüter nach § 45 Abs. 1 Satz 1 – Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs – oder Satz 2 Nr. 3 StVO – Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen – führen konnte. Dies dürfte zudem nur im Hinblick auf die jeweiligen örtlichen Verhältnisse festzustellen sein,92 nicht aber pauschal für StraVgl. Peter Hentschler, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage 2007, § 45 StVO Rn. 28 a. Vgl. BVerwGE 130, 383 (394 [Rn. 36]). 90 Entwurf der 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, Begründung zu Artikel 1 Nr. 2 (§ 45), BR-Drucks. 824 / 05, S. 7 f. (8). 91 Vgl. Henschel, § 45 StVO Rn. 28 a. 92 Hentschel, ebd. 88 89
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ßenteile mit einer Länge von bis zu 119 km. Demgegenüber nimmt das Bundesverwaltungsgericht an, die zuständigen Behörden seien „nicht darauf beschränkt, lediglich den mautfluchtbedingten Mehrverkehr herauszufiltern“,93 weil sie derart selektive Maßnahmen praktisch nicht treffen könnten, und legt die Ermächtigungsnorm deshalb dahin aus, dass die Behörden Durchfahrverbote auch dann treffen dürften, wenn diese im Ergebnis über eine bloße Mautfluchtbekämpfung hinausgingen, wenngleich die Maßnahmen nach Möglichkeit hierauf zu beschränken seien. Diese Auffassung steht indes im Widerspruch zu § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO, wonach insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 StVO genannten Rechtsgüter – namentlich des Schutzes der Wohnbevölkerung vor Lärm oder Abgasen – erheblich übersteigt; die Ausnahmevorschrift des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO kann deshalb nicht erweiternd ausgelegt werden. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO verlangt freilich weiterhin, dass die Veränderung der Verkehrsverhältnisse „durch die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge hervorgerufen worden“ ist. In dieser Hinsicht fehlen aussagekräftige Feststellungen für die angeordneten Durchfahrverbote; die zuständigen Behörden haben lediglich von der Zunahme des Schwerlastverkehrs auf die Mauterhebung als Grund hierfür geschlossen. Stattdessen hätte ermittelt werden müssen, inwieweit die Entscheidung für die Benutzung einer Bundesstraße anstelle der Autobahn tatsächlich durch die Pflicht zur Zahlung von Maut bedingt war; denn die Wahl der Bundesstraße kann, wie das Bundesamt für Güterverkehr dargelegt hat, nicht mit dem Ziel der Mautvermeidung, sondern aus anderen Gründen erfolgt sein, beispielsweise weil die Autobahnstrecke deutlich länger ist als die Ausweichstrecke, weil es autobahnähnlich ausgebaute Straßen des nachgeordneten Netzes parallel zur Autobahn gibt oder weil die Autobahn besonders staugefährdet ist;94 darüber hinaus kann nicht unbeachtet bleiben, dass aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Gütertransportverkehr in neuerer Zeit insgesamt zugenommen hat.95 Hinzu kommt, dass ganz überwiegend unberücksichtigt geblieben ist, ob der Belade- oder Entladeort der Fahrzeuge innerhalb des zu sperrenden Straßenabschnitts liegt – ein Umstand, der auch bei großen Transportunternehmen im Teilladungs- und Stückgutverkehr von Bedeutung sein kann. Insoweit wären konkrete Tatsachenfeststellungen – etwa durch Einsicht in die Frachtpapiere, durch Befragung der Unternehmen o. ä. – notwendig gewesen, weil andernfalls nicht zu erkennen ist, inwieweit eine Änderung der Verkehrsverhältnisse mautbedingt ist.96 Fehlen aber die erforderlichen Ermittlungen zur ursächliBVerwGE 130, 383 (395 [Rn. 38]). Bundesamt für Güterverkehr, Marktbeobachtung Güterverkehr. Sonderbericht: Eineinhalb Jahre streckenbezogene Lkw-Maut – Auswirkungen auf das deutsche Güterverkehrsgewerbe, November 2006, S. 19. 95 Ebd., S. 16 f. 93 94
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chen Verknüpfung zwischen Mauterhebung und Veränderung der Verkehrsverhältnisse, durften keine Beschränkungen oder Verbote des fließenden Verkehrs aufgrund der Ermächtigung in § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO angeordnet werden. 2. Erheblichkeit der Auswirkungen Selbst wenn unterstellt wird, dass sich die Verkehrsverhältnisse auf den gesperrten Straßenabschnitten verändert haben und dass dies auf die Erhebung der Maut nach dem Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge zurückzuführen ist, bleibt doch fraglich, ob dadurch erhebliche Auswirkungen i. S. v. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO hervorgerufen wurden. Nach der Rechtsprechung ist – wie erwähnt – der Begriff „erheblich“ jedenfalls hinsichtlich der Lärmbelastung in Anlehnung an § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 der 16. BImSchV wie der dort definierte Begriff „wesentlich“ zu verstehen.97 Das erfordert jedoch nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine Lärmberechnung oder Abgasmessung;98 vielmehr soll insoweit eine fundierte Schätzung der Auswirkungen des Mautausweichverkehrs auf die Umwelt und die Gesundheit der Anlieger genügen.99 Nach der Begründung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, wonach „die schutzwürdigen Interessen der Wohnbevölkerung mit den verkehrlichen Erfordernissen, insbesondere auch der verkehrlichen Bedeutung der Straße, im Einzelfall gegeneinander abzuwägen sind“,100 dürfte aber für eine fundierte Schätzung eine Untersuchung notwendig sein,101 mit der die Belastung unter Berücksichtigung der konkreten Vorbelastung, der örtlichen Straßenverhältnisse, der Verkehrsbedeutung der Straße und des vorhandenen Lärmschutzes an einzelnen Punkten der für eine Sperrung vorgesehenen Streckenabschnitte ermittelt wird. Erst wenn diese Vorbedingung erfüllt ist, darf ein Durchfahrverbot angeordnet werden. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass auch Lärmmehrbelastungen von weniger als 3 dB(A) berücksichtigt werden,102 aber wenn Berechnungen vorliegen oder Schätzungen erfolgen, als deren Ergebnis Lärmbelastungen unterhalb dieser Erheblichkeitsschwelle erwartet werden, so wird deutlich, dass die Auswirkungen der veränderten Verkehrsverhält96 Vgl. auch den Entwurf der 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, Begründung zu Artikel 1 Nr. 2 (§ 45), BR-Drucks. 824 / 05, S. 7 f. (8). 97 BVerwGE 130, 383 (392 f. [Rn. 33 ff.]); BayVGH, Beschl. vom 7. Dezember 2006 – 11 CS 06.2450 –, UA S. 15 (= juris Rn. 29); kritisch Rebler, Die Möglichkeiten der StVO zur Bekämpfung der „Mautflucht“, in: BayVBl. 2007, 234. 98 Vgl. Entwurf der 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, Begründung zu Artikel I Nr. 2, BR-Drucks. 824 / 05, S. 7 f. (8). 99 BVerwGE 130, 383 (394 [Rn. 36]). 100 Vgl. auch den Entwurf der 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, Allgemeine Begründung, BR-Drucks. 824 / 05, S. 4 ff. (5). 101 So VG Ansbach, Urt. vom 25. Mai 2007 – AN 10 K 06.02661 – (= juris Rn. 47); ebenso Rebler, BayVBl. 2007, 234. 102 Vgl. BVerwGE 130, 383 (394 [Rn. 37]).
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nisse nicht erheblich im Sinne dieser Vorschrift sind. Sofern im Einzelfall – etwa an einzelnen Häusern – dieser Wert überschritten sein sollte, wäre es unverhältnismäßig, Durchfahrverbote von bis zu 119 km Länge anzuordnen; in einem derartigen Fall wäre es angesichts der überragenden verkehrlichen Bedeutung der Bundesstraßen für den weiträumigen Durchgangsverkehr angemessen, den Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm durch andere Maßnahmen – wie den Einbau von Schallschutzfenstern – zu erreichen.
VI. Ergebnis Der Kampf gegen die „Mautflüchtlinge“ ist folglich mit unzulässigen und partiell untauglichen Waffen geführt worden: Die Anordnung von ganztägigen Fahrverboten für den Schwerlastverkehr bedeutet den völligen Ausschluss eines widmungsgemäßen gemeingebräuchlichen Verkehrs von der Nutzung der Straße. Sie stellt zwar der Form nach eine Verkehrsregelung dar, geht aber über eine zeitlich begrenzte Beschränkung der Straßenbenutzung deutlich hinaus. Die auf § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO gestützten ganztägigen Fahrverbote über längere Straßenabschnitte sind in ihrem Schwerpunkt nicht mehr verkehrsrechtlicher Natur; sie sind „statusnahe“ straßenverkehrsbehördliche Anordnungen, die ihrem rechtlichen Inhalt nach Teileinziehungen sind, weil sie nicht der Abwehr einer vorläufigen Gefahr dienen, sondern das für die Straße bestehende Nutzungskonzept verändern, was mit straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen nicht erfolgen darf. Darüber hinaus ist die in der Straßenverkehrs-Ordnung enthaltene Ermächtigung zur Anordnung von Durchfahrverboten ungeeignet, den Mautausweichverkehr wirksam zu begrenzen; denn die Straßenverkehrsbehörden können weder zuverlässig feststellen, inwieweit eine Änderung der Verkehrsverhältnisse auf Bundesstraßen nach Einführung der Mautpflicht auf eben diesen Umstand zurückzuführen ist, noch zutreffend ermitteln, ob die Zunahme des Schwerlastverkehrs auf nicht mautpflichtigen Bundesstraßen durch die Mauterhebung auf Autobahnen bedingt ist. Die Anordnung der Durchfahrverbote für den Schwerlastverkehr auf der Grundlage von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO ist somit rechtswidrig; sie beeinträchtigt zwar nicht ein – vereinzelt in der Literatur angenommenes – „Grundrecht auf Mobilität“,103 wohl aber die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Handlungsfreiheit der betroffenen Transportunternehmer.
103 Michael Ronellenfitsch, Verfahrensprivatisierung in der Verkehrswegeplanung, in: Hoffmann Riem / Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, S. 113 ff. (114); ders., Die Verkehrsmobilität als Grund- und Menschenrecht – Betrachtungen zur „zirkulären“ Mobilität in der Europäischen Union, in: JöR 44 (1996), 168 ff.; s. schon Udo Steiner, Recht der Verkehrswirtschaft, in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 2, 1995, S. 127 ff. (142 m. w. N.).
„Recht auf Heimat“ und Grundgesetz Von Annette Guckelberger* I. Einführung Während es viele Stellungnahmen zum Recht auf (die) Heimat aus völkerrechtlicher Perspektive gibt,1 wird dieses Thema auf verfassungsrechtlicher Ebene allenfalls am Rande gestreift. Bestes Beispiel für seine Unerforschtheit ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2008. In dieser blieb offen, ob Art. 11 Abs. 1 GG ein Recht auf Heimat gewährt und auch vor Umsiedlungen wegen des von einem geplanten Flughafen ausgehenden unzumutbaren Lärms schützt.2 Insoweit bestätigt sich die oft anzutreffende literarische Klage über die Dürftigkeit der dogmatischen Durchdringung des Grundrechts auf Freizügigkeit.3 Da sich Bewohner bei Vorhaben mit großem Flächenverbrauch, wie dem Braunkohleabbau oder beim Talsperrenbau zum Zweck der Wasser- und Energieversorgung durchaus zum Wegzug von einem ihnen lieb gewordenen Ort gezwungen sehen können, soll nachfolgend untersucht werden, ob und inwieweit sie gegenüber staatlichen Instanzen ein „Grundrecht auf Heimat“ in Ansatz bringen können. Weil das Grundgesetz selbst kein explizites „Grundrecht auf Heimat“ kennt, kann sich dieses allenfalls aus dem Gehalt eines der anderen Grundrechte mit umfassenderem Schutzbereich oder der Zusammenschau mehrerer Einzelgrundrechte ergeben.
* Die Verfasserin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. 1 S. dazu Blumenwitz, Das Recht auf die Heimat, in: ders., Recht auf die Heimat im zusammenwachsenden Europa, 1995, S. 41 ff.; du Buy, Das Recht auf die Heimat, Realität oder Fiktion?, 1975; Gornig IFLA 1997, S. 121 ff.; Kimminich, Das Recht auf die Heimat, 1989, S. 65 ff.; Murswiek, Die völkerrechtliche Geltung eines „Rechts auf die Heimat“, in: Gornig / Murswiek, Das Recht auf die Heimat, 2006, S. 21 ff.; Tomuschat, Das Recht auf die Heimat, in: FS für Partsch, 1989, S. 183 ff.; de Zayas, Das Recht auf die Heimat, ethnische Säuberungen und das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien, AVIZ 35 (1997), 29 ff. 2 BVerfG NVwZ 2008, 780, 786. 3 Pernice, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 11 Rn. 10; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, S. 446.
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II. Der Begriff „Heimat“ 1. Heimat aus historischer Perspektive Der Begriff „Heimat“ steht in enger Verbindung mit dem althochdeutschen „heimot“ und dem mittelhochdeutschen „heimôti“, bei denen – im Unterschied zur verunsichernden Fremde – Ruhe, Rast und friedvolles Geborgensein betont werden.4 Häufig findet sich die Feststellung, dass, die „Heimat“ eine Weiterbildung des Wortes „Heim“ enthalte, deren Wurzeln bis ins Sanskrit zurückzuverfolgen seien.5 Heimat setzt sich danach aus zwei Komponenten zusammen – dem Heim, Haus, Wohnort auf der einen Seite und dem „Lieben“, „Wertvollen“ bzw. „Vertrauten“ auf der anderen Seite.6 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war „Heimat“ ein nüchternes Wort, das vornehmlich in Amtsstuben verwendet wurde, wenn es um den Geburts- oder Wohnort oder um das Herkunftsland ging.7 Mit ihm wurde ein rechtlicher Zuständigkeitsraum umschrieben.8 Während Heimat zunächst im Wesentlichen als Synonym für Haus und Hof fungierte, erhielten mit der Einrichtung von „Heimatrechten“ auch die Besitzlosen eine Heimat, indem sie jeweils einer bestimmten Gemeinde zugeordnet wurden, die zu ihrer Unterstützung verpflichtet war.9 Unter dem Eindruck einer sich massiv verändernden Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung wurde die Heimat in gefühlsbetonter Sichtweise besonders von der romantischen Dichtung reflektiert und zur Beschreibung des Idealbildes eines Ortes verwendet, wo die Welt noch wie in vergangenen Zeiten in Ordnung ist.10 Auf diese Weise entstanden „Heimatkunstbewegungen“ und „Heimatliteratur“. 11 Bis heute werden Brauchtum und Tradition in zahlreichen Heimatvereinen gepflegt.12 Angesichts der Heimat-Propaganda und den auf die Heimat-Verteidigung gestützten Verbrechen des NS-Regimes verwundert es nicht, dass man in Deutsch4 Eisert, Das Menschenrecht auf die Heimat in der Landesverfassung von BadenWürttemberg, 1991, S. 11; Mildenberger, Das Recht auf die Heimat und das Grundgesetz, 1964, S. 26. 5 Gornig IFLA 1997, 121; Kimminich (Fn. 1), S. 23; Neumeyer, Heimat. Zu Geschichte und Phänomen eines Begriffs, 1992, S. 6. 6 Gornig IFLA 1997, 121; Kimminich (Fn. 1), S. 23. 7 Stichwort „Heimat“ abgerufen über Wikipedia am 13. 11. 2009. 8 Neumeyer (Fn. 5), S. 8. 9 S. Neumeyer (Fn. 5), S. 9 sowie Baer NVwZ 1997, 27, 29; Kimminich (Fn. 1), S. 29; Lippe FoR 1998, 91, 92. 10 Artikel in Wikipedia (Fn. 7); Hübner, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, S. 942; Lippe (Fn. 9), S. 92; Neumeyer (Fn. 5), S. 17 ff. 11 Artikel Wikipedia (Fn. 7); Stichwort „Heimat“, in: Brockhaus, Enzyklopädie, Band 12, HANF-HURR, 21. Aufl. 2006, S. 222; Neumeyer (Fn. 5), S. 22 ff. 12 Artikel Wikipedia (Fn. 7); s. zum Heimatfilm nach Ende des 2. Weltkrieges Neumeyer (Fn. 5), S. 45.
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land bis weit in die 1960er Jahre dem Begriff „Heimat“ skeptisch gegenüberstand.13 Als „Heimatvertriebene“ wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Flüchtlinge aus den Ostgebieten bezeichnet. Dadurch sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die von diesem Schicksal Betroffenen nicht nur die Grundlage ihrer Lebensexistenz, sondern zugleich ihre persönliche Identität verloren haben.14 Manche sahen in dem in diesem Kontext erhobenen Postulat eines „Rechts auf Heimat“ einen Vorwand für die Rückgängigmachung der Folgen des verlorenen Krieges, wie sie in den territorialen Verlusten Deutschlands sichtbar wurden.15 Erst allmählich begann eine kritische Neubeschäftigung mit dem Heimat-Begriff, als in den zentralisierten Staaten Europas Bestrebungen um regionale Autonomie aufkamen (Korsen, Basken, Katalanen, Schotten) und sich anlässlich der Zerstörung der Umwelt, etwa durch Kernkraftwerke oder Verkehrsgroßprojekte, lokal und regional ein ökologisches Bewusstsein ausbildete.16 Angesichts der immer abstrakter und globaler werdenden Zusammenhänge in Politik und Gesellschaft stieg das Interesse an einer Betrachtung der eigenen Lebenswelt unter der Perspektive der „Nahoptik“.17 Der Heimatbegriff wandelte sich abermals, als Heimat nicht mehr nur als romantisch verklärtes, vor allem auf die Vergangenheit und einen vorgestellten Schutzraum bezogenes Gefühl, sondern als konkrete Utopie „kleiner“ Gemeinschaften ins Gespräch gebracht wurde.18 Heimat soll sich positiv auf die Anteilnahme eines Menschen an der Gestaltung seines Lebensumfelds und die demokratische Mitwirkung auswirken.19 Vor dem Hintergrund, dass die modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften ein hohes Maß an Mobilität fordern, lässt sich Heimat immer weniger mit stabilen Ortsbezügen zur Deckung bringen.20 So finden sich Äußerungen, wonach der moderne Mensch als Weltbürger überall zu Hause sei,21 und für viele Menschen die Heimat längst nicht mehr den früheren Stellenwert habe, zumal sich in einer Welt der Internationalisierung, Globalisierung, Standardisierung in Industrie und Mode, der kommunikativen Vernetzung und fremdsprachlichen Bildung, Investitionspolitik und Massenmedien regionale Besonderheiten abschleifen wür13 Brockhaus (Fn. 11), S. 125; s. zu diesen Vorbehalten auch Baer NVwZ 1997, 27, 28; speziell zur Heimat und NS-Ideologie Lippe (Fn. 9), S. 92 f. 14 Hübner (Fn. 10), S. 942. 15 Nachweise bei du Buy (Fn. 1), S. 7; Hadrossek, Stand und Kritik der rechtstheoretischen Diskussion zum natürlichen Recht auf die Heimat, 1969, S. 11; Neumeyer (Fn. 5), S. 40. 16 Brockhaus (Fn. 11), S. 223; s. auch Baer NVwZ 1997, 27, 29. 17 Brockhaus (Fn. 11), S. 223. 18 Artikel Wikipedia (Fn. 7); Brockhaus (Fn. 11), S. 223 f.; s. zur Verbindung mit einem vorwärtsgewandten, aktiv-gestaltenden Element Lippe (Fn. 9), S. 93; Neumeyer (Fn. 5), S. 55 f. 19 Busek, Heimat und Globalisierung – Das Ende des Nationalstaates?, in: FS für Baudenbacher, 2007, S. 803, 804, 814 f. 20 So Hübner (Fn. 10), S. 944. 21 Murswiek (Fn. 1), S. 17; s. zur Weltgesellschaft auch Busek (Fn. 19), S. 812.
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den.22 Daraus kann aber keinesfalls gefolgert werden, dass die „Heimat“ nun obsolet geworden ist. Die Bürgerkriege auf dem Balkan haben vor Augen geführt, dass für viele Menschen Heimat weiterhin etwas Elementares ist.23 Mildenberger hat in seiner Dissertation herausgearbeitet, dass für die heutige Gesellschaft ein Nebeneinander von Mobilität und Sesshaftigkeit kennzeichnend ist. Trotz der erwähnten Umstände gebe es nach wie vor viele Menschen, die – soweit dies möglich ist – in ihrer angestammten Umgebung bleiben wollen.24 Neuerdings wird betont, dass Menschen, die mobil sein müssen, trotzdem nach Formen der Beheimatung suchen würden25 und es sich durchaus als sinnvoll erweisen könne, einen lebendigen, erlebbaren und nachvollziehbaren Bezugsrahmen aufzubauen, in dem Zugehörigkeit, selbstverständliche Einbindung und Geborgenheit möglich sind.26 Wenn sich die Beziehungen des Menschen zum Raum aufgrund freiwilliger situationsbedingter Entscheidungen verschieben können, wird vor allem die psychologische Dimension der Heimat aktuell, die aus den individuellen Einstellungen zu Ort, Gesellschaft und persönlicher Entwicklung des Einzelnen besteht und zur Identifikation beiträgt.27 Auf diese Weise erklärt sich, dass sich ein Mensch für eine „Wahlheimat“ entscheiden kann oder ein anderer Ort im Laufe der Zeit zur „neuen“ bzw. „zweiten“ Heimat wird, insbesondere wenn dort ununterbrochen der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse liegt.28 2. Rechtlich relevante Bedeutung Anhand der vorherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass „Heimat“ ein vielschichtiger Begriff ist, dessen Bedeutungsgehalt sich wandeln kann,29 und je nach dem Kontext, in dem diese Formulierung verwendet wird, Irritationen hervorrufen kann. Welche Bedeutung „Heimat“ hat, lässt sich aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, genannt seien nur die Politologie, Psychologie, Soziologie und Theologie, beleuchten.30 Da nach Art. 3 Abs. 3 GG niemand wegen „seiner Heimat“ benachteiligt werden darf, handelt es sich um einen Begriff, der durchaus juristische Relevanz entfalten kann. Dabei herrscht weitestgehender Konsens, dass ein ausschließlich an einem subjektiven Gefühl ausgerichMurswiek (Fn. 1), S. 19. Murswiek (Fn. 1), S. 19. 24 Mildenberger (Fn. 4), S. 17. 25 Hübner (Fn. 10), S. 944. 26 Busek (Fn. 19), S. 814. 27 S. Artikel Wikipedia (Fn. 7); s. zum Identitätsaspekt auch Baer NVwZ 1997, 27, 29. 28 S. zu Letzterem Eisert (Fn. 4), S. 87; VGH Kassel ESVGH 13 / 1, S. 1, 3. Mit wenigen Ausnahmen wird davon ausgegangen, dass es nicht nur eine einmalige Heimat geben kann, s. dazu Neumeyer (Fn. 5), S. 92 ff. m. w. N. 29 S. zur Vielschichtigkeit Neumeyer (Fn. 5), S. 2, 63. 30 S. zum interdisziplinären Charakter auch Kimminich (Fn. 1), S. 20. 22 23
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teter Heimatbegriff rechtlich wenig brauchbar ist.31 Ein (verfassungs-)rechtlich geschützter Heimatbegriff ist justiziabel zu bestimmen.32 Dafür werden objektive oder objektivierbare Anknüpfungspunkte benötigt, bei denen aber durchaus auf die allgemeinen Vorstellungen rekurriert werden kann, die herkömmlich mit dem Begriff „Heimat“ assoziiert werden.33 Da „Heimat“ an den Terminus „Heim“ anknüpft, ist ihr eine räumliche Komponente inhärent.34 Dabei kann die Beziehung zwischen Mensch und Raum je nachdem, in welchem Kontext der Begriff „Heimat“ verwendet wird, unterschiedlich weit ausfallen. Dies zeigt sich an Formulierungen wie der „Heimatgemeinde“, dem „Heimatstaat“ 35 oder der „Heimat Europa“.36 Insoweit wird auch von einer Heimat im engeren oder weiteren Sinne geredet.37 Soll Heimat grundrechtlich geschützt sein, dürfen die Anforderungen in räumlicher Hinsicht nicht so hoch gezogen werden, dass dieses Recht nur wenigen Personen zukommen kann. Deshalb und auch angesichts der damit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten kann sich ein Recht auf Heimat nicht nur auf malerische, schöne oder idyllische Orte beschränken. Auch die gestaltete Großstadt kann eine Heimat bieten.38 Angesichts der Anknüpfung an das „Heim“ soll nachfolgend unter „Heimat“ nur ein engerer räumlicher Lebensbereich verstanden werden. Nach den vorhergehenden Ausführungen gehört zur Heimat aber mehr, nämlich eine besondere Verbundenheit zu einem bestimmten Ort,39 die sich deshalb im Juristischen wiederfinden sollte. Da eine besondere Beziehung zwischen dem jeweiligen Raum und dem Menschen vorliegen muss, bietet es sich an, dies bei der juristischen Begriffsbestimmung zu berücksichtigen.40 „Beziehung“ ist ein juristischer Terminus, der sich ähnlich wie derjenige des „Rechtsverhältnisses“ mit juristischen Methoden erschließen lässt.41 Auf dieser Linie bewegt sich auch die Regelung in Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG, wonach bei einer Neugliederung des Bundesgebiets „die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Gornig IFLA 1997, 121; Kimminich (Fn. 1), S. 43. Baer NVwZ 1997, 27, 29; s. auch Kimminich (Fn. 1), S. 13 f., 22. 33 Murswiek (Fn. 1), S. 21; Wilms, Das Recht auf die Heimat im Recht der Europäischen Union, in: Gornig / Murswiek, Das Recht auf die Heimat, 2006, S. 51, 52. 34 Eisert (Fn. 4), S. 20 f.; Gornig IFLA 1997, 121; s. auch Kimminich (Fn. 1), S. 24 f.; Neumeyer (Fn. 5), S. 65 ff. 35 S. auch Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, 1970, S. 1251 sowie Mildenberger (Fn. 4), S. 25. 36 S. dazu Mildenberger (Fn. 4), S. 25 f., wonach der Begriff „Heimat“ ausgeweitet wird, je mehr sich der Mensch von seinem ursprünglichen Aufenthaltsort entfernt. 37 So Mildenberger (Fn. 4), S. 37. 38 S. zu Letzterem Neumeyer (Fn. 5), S. 76. 39 Gornig IFLA 1997, 121; s. zur Unzulänglichkeit der reinen Raumkomponente Kimminich (Fn. 1), S. 24. 40 Gornig IFLA 1997, 121, 122. 41 Gornig IFLA 1997, 121, 122; Kimminich (Fn. 1), S. 43. 31 32
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Zusammenhänge“ zu berücksichtigen sind.42 Nach Meinung von Gornig ist „Heimat“ räumlich, persönlich und zeitlich zu bestimmen.43 Andere beschreiben die für die Annahme von Heimat nötige Nähebeziehung schlagwortartig als durch soziale „Verwurzelung“ geprägte Beziehung eines Menschen zu einem bestimmten Raum.44 Baer will unter „Heimat“ einen freiwillig gewählten, identitätsstiftenden, soziokulturellen, territorial bezogenen und gesicherten Zusammenhang verstehen.45 Diese Umschreibung besticht durch ihre Nüchternheit.46 Die einzelne Wohnung oder das Zelt machen allein danach noch keine Heimat aus. Ebenfalls scheidet das bloße Ferienhaus mangels der erforderlichen psycho-sozialen Komponente als Heimat aus, solange es nicht zum Lebensmittelpunkt des Einzelnen avanciert ist.47 Die Offenheit dieser Heimatumschreibung führt dazu, dass sich auch Personen, die beispielsweise aus beruflichen oder familiären Gründen nicht mehr an ihrem Geburtsort ansässig sind, auf ein derartiges Recht berufen können, wenn sie am neuen Ort „heimisch“ geworden sind. In der modernen, mobilen, sich schnell verändernden Welt muss der Heimat eine andere Bedeutung zukommen, als in den starren und stabilen Verhältnissen der vorindustriellen Zeit.48 Auch wenn die Jahre der Kindheit als Zeit intensiver Umweltbeziehungen für einen emotionalen Raumbezug durchaus prägend sind, ist mit den Worten von Neumeyer das Erlangen einer Heimat auch später und jederzeit wieder möglich.49 Richtigerweise dürfte sich der Zusatz „freiwillig gewählt“ erübrigen. Sofern man bei Kleinstkindern nicht auf die Erziehungsberechtigten abstellt, lässt sich bei diesen nur schwer von einer freien Wahl der Heimat sprechen. Auch kommt man in Schwierigkeiten, wenn eine Person sich anfangs „zwangsweise“ an einem bestimmten Ort niederlässt, dieser aber im Laufe der Zeit zur zweiten oder neuen Heimat wird.50 Bereits über das Erfor42 Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG stellt im Unterschied zum Recht auf Heimat nicht auf den Bezug der Einzelperson zu einer Raumeinheit ab. 43 Gornig IFLA 1997, 121, 122; s. zur zeitlichen Komponente auch Kimminich (Fn. 1), S. 38 ff. 44 Eisert (Fn. 4), S. 21. 45 Baer NVwZ 1997, 27, 30; s. auch Degenhart, Das Recht auf die Heimat im deutschen Verfassungsrecht, in: Gornig / Murswiek, Das Recht auf die Heimat, 2006, S. 65 (67); BVerwG DVBl. 2008, 1509. Nach Neumeyer (Fn. 5), S. 127 stellt sich Heimat als eine unmittelbare, alltäglich erfahrene und subjektive Lebenswelt dar, die durch längeres Einleben in ihre sozialen, kulturellen und natürlichen Bestandteile Vertrautheit und Sicherheit, emotionale Geborgenheit und befriedigende soziale Beziehungen bietet und verschiedene (Grund-)Bedürfnisse befriedigt. 46 Ablehnend Lippe (Fn. 9), S. 93, wonach die Identität heute zu heterogen geworden ist, um sie durch einen Begriff wie „Heimat“ alleine beschreiben zu können. 47 Baer NVwZ 1997, 27, 30. 48 Neumeyer (Fn. 5), S. 93. 49 Neumeyer (Fn. 5), S. 93. 50 Man könnte allenfalls argumentieren, diese Person habe sich im Laufe der Zeit freiwillig für diesen Ort entschieden.
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dernis des identitätsstiftenden Zusammenhangs dürfte sichergestellt sein, dass niemandem eine Heimat aufgedrängt wird, die er nicht haben möchte. Diese Umschreibung weist eine gewisse Parallelität zur Prüfung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Ausweisung von Ausländern unter dem Blickwinkel des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) auf. So heißt es etwa in einer Entscheidung, der Beschwerdeführer, der in Deutschland geboren wurde und hier sein gesamtes Leben verbracht hat, habe starke Bindungen an Deutschland51 und in einer weiteren Entscheidung werden als für die rechtliche Beurteilung relevante Kriterien die Länge des Aufenthalts im Gastland sowie die Festigkeit sozialer, kultureller und familiärer Bande mit dem Gastland bzw. dem Herkunftsstaat herangezogen.52 Nach Meinung des VGH Baden-Württemberg kann eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, „die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng . . . verbunden sind, dass sie quasi deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bundesrepublik Deutschland faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland nur noch das formale Band im wesentlichen ihrer der Staatsangehörigkeit verbindet“.53 Das VG Stuttgart hielt den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK für eröffnet, weil sich der Kläger insoweit auf ein „Recht auf Heimat“ berufen könne. Der bloß längere Aufenthalt eines Ausländers mache diesen nicht zu einem faktischen Inländer. Neben einem mehrjährigen Aufenthalt sei dafür eine vollständige Integration in das hiesige wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben im Sinne einer „Verwurzelung“ erforderlich.54 Die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des Begriffs „Heimat“ in Art. 3 Abs. 3 GG beziehen sich vornehmlich auf Situationen, in denen sich eine Person an einem anderen als ihrem Heimatort befindet und insoweit geschützt wird, als sie nicht wegen ihrer Heimat diskriminiert werden darf. Nach einer Entscheidung im 102. Band meint „Heimat“ die örtliche Herkunft eines Menschen nach Geburt oder Ansässigkeit im Sinne einer emotionalen Beziehung zu EGMR InfAuslR 2007, 325 f. EGMR InfAuslR 2007, 221, 222; s. zu dieser Thematik auch Thym DVBl. 2008, 1346 ff.; ders. EuGRZ 2006, 541 ff. 53 VGH Mannheim VBIBW 2006, 200, 202. 54 VG Stuttgart, NVwZ-RR 2006, 577, 578. Auch das VG Freiburg InfAuslR 2008, 252, 257 spricht von einem „Recht auf Heimat“ wie es sich etwa bei weiter Auslegung des Art. 8 EMRK mit Blick auf eine langjährige Verwurzelung in einem Aufenthaltsstaat unter dem Aspekt des Schutzes des Privatlebens nach der Rechtsprechung des EGMR ergeben kann. Diese Formulierung ist insoweit missverständlich, als nach EGMR NVwZ 2005, 1043, 1045 Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht das Recht gewährt, den Ort zu wählen, der für den Aufbau des Familienlebens am besten geeignet ist und dieser Vorschrift auch kein allgemeines Abschiebungsverbot eines ausländischen Staatsangehörigen zu entnehmen ist, nur weil er sich für eine gewisse Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats aufhält. 51 52
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einem geographisch begrenzten, den Einzelnen mitprägenden Raum (Ort, Landschaft).55 Allein aus dem Wohnsitz oder Aufenthalt einer Person an einem bestimmten Ort könne nicht automatisch geschlossen werden, dass dieser für sie Heimatcharakter hat.56 Im Sondervotum ist diese Auslegung des Heimatbegriffs „in volkstümelnder Weise“ in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch kritisiert worden. Die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale seien nach den historischen Erfahrungen unter bestimmten Bedingungen immer wieder Ausgangsund Anknüpfungspunkte für Diskriminierungen gewesen. Der Begriff „Heimat“ sei hauptsächlich zur Verhinderung der Diskriminierung von Flüchtlingen und Vertriebenen in das Grundgesetz eingefügt worden. Würde man den Heimatbegriff des heutigen allgemeinen Sprachgebrauchs zugrunde legen, würde das Diskriminierungsverbot praktisch leer laufen und der Wille des Verfassungsgebers vernachlässigt. Die Festschreibung eines konkreten Aufenthalts zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Folge fortwirkender Rechte oder Benachteiligungen sei rechtstechnisch eine durchaus übliche Art, um an das Merkmal der Heimat anzuknüpfen. Eine Benachteiligung wegen der „Heimat“ sei deshalb immer bei Regelungen gegeben, die auf die Herkunft im Sinne der Geburt oder Ansässigkeit abstellen.57 In einer früheren Entscheidung meinte das Bundesverfassungsgericht, unter „Heimat“ im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG werde der örtliche Bereich verstanden, durch den eine Person in ihren Kindheits- und Jugendjahren geprägt werde.58 Insbesondere bei Art. 3 Abs. 3 GG zeigt sich eine große Unsicherheit bei der Bestimmung des im Unterschied zur Staatsangehörigkeit, Gemeindezugehörigkeit oder zum Wohnsitz nicht normgeprägten59 Heimatbegriffs. Während Personen, die z. B. im Interesse des Braunkohletagebaus weichen sollen, in ihrer aktuellen Heimat tangiert werden, hat Art. 3 Abs. 3 GG auch die in der Vergangenheit liegende Heimat im Blick. Deshalb ist es durchaus denkbar, in beiden Konstellationen den Heimatbegriff unterschiedlich zu bestimmen. Mit Art. 3 Abs. 3 GG wollte man bei Erlass des Grundgesetzes u. a. verhindern, dass Personen, die ihre Heimat verlassen mussten, wegen dieses Merkmals diskriminiert werden. In dieser Situation ist nach Kriterien zu suchen, aus denen sich eine spezifische Beziehung einer Person in Form der „Prägung“ oder „identitätsstiftenden Bedeutung“ zu einem bestimmten Ort ergibt.60 Diese kann durch Geburt, aber auch durch Zuzug hergestellt werden.61 Bei genauer Betrachtung schafft Art. 3 Abs. 3 GG damit die Voraussetzun55 BVerfGE 102, 41, 66; VGH München BayVBl 2009, 307, 309; Bergmann, in: Hömig, GG, 8. Aufl. 2007, Art. 3 Rn. 22; Degenhart (Fn. 45), S. 66; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 3 Rn. 123; Sodan, in: ders., Grundgesetz, 2009, Art. 3 Rn. 28. 56 BVerfGE 102, 41, 63; s. auch BVerfGE 92, 26, 50. 57 BVerfGE 102, 41, 66; Osterloh, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 3 Rn. 295; die Abgrenzungsfrage konnte in BVerfGE 107, 257, 269 offen gelassen werden. 58 BVerfG RPfleger 1997, 320, 321. 59 Degenhart (Fn. 45), S. 66. 60 Jarass (Fn. 55), Art. 3 Rn. 123. 61 So auch Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 3 Rn. 76.
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gen dafür, dass eine Person an einem anderen Ort heimisch werden kann, weil sie an Letzterem nicht wegen ihrer Heimat diskriminiert werden darf.62 Wegen der gewandelten Verhältnisse, aber auch der Tatsache, dass Art. 3 Abs. 3 GG für jedermann Geltung beansprucht, ist der dortige Heimatbegriff so auszulegen, dass er nicht nur auf eine bestimmte Personenkategorie zutrifft. Selbst wenn Art. 3 Abs. 3 GG hauptsächlich auf Personen abzielt, die ihre Heimat verlassen haben, kommt diese Verfassungsbestimmung auch solchen Personen zugute, die seit jeher an einem Ort leben, nun aber zur Zielscheibe von Diskriminierungen werden.
III. Vermittelt die Verfassung ein Recht auf Heimat? Sieht man von dem Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG ab, erwähnt das Grundgesetz kein Recht auf Heimat.63 Demgegenüber bekennt sich das Volk des Landes Baden-Württemberg in Art. 2 Abs. 2 LVerf vom 11. November 1953 über die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte hinaus „zu dem unveräußerlichen Menschenrecht auf Heimat.“ Nach einer Entscheidung des VGH Baden-Württemberg kann sich daraus jedoch schon deshalb keine eigene Position ergeben, weil das Recht nur einen „Programmsatz“ beinhalte, aus dem sich allenfalls eine Rechtspflicht der Verfassungsorgane ergebe, das ihnen Mögliche zu seiner Verwirklichung beizutragen.64 Ebenfalls erkennt der Freistaat Sachsen in Art. 5 Abs. 1 seiner Verfassung vom 27. Mai 1992 das „Recht auf Heimat“ seines sich aus den Bürgern deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit zusammensetzenden Volkes an. Ohne auf den Normtext näher einzugehen, lehnte der Verfassungsgerichtshof des Freistaates vor kurzem eine auf dieses Recht gestützte Verfassungsbeschwerde mangels Grundrechtseigenschaft ab.65 Während für diese Einordnung die systematische Verortung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 SächsVerf innerhalb des Abschnitts „Grundlagen des Staates“ streitet,66 haben sich Schimpff / Partsch unter Verweis auf die historischen Erfahrungen für die Annahme eines Abwehrrechts ausgesprochen, weil man damit auf die brutalen Eingriffe des Braunkohletagebaus reagieren wollte und den Verfassern die vielen, von der DDR eingegangenen, aber missachteten völkerrechtlichen Verpflichtungen noch in Erinnerung gewesen seien.67 Siehe auch Dürig (Fn. 61), Art. 3 Rn. 76. S. dazu auch Eisert (Fn. 4), S. 107 f. 64 VGH Mannheim VBlBW 2006, 200, 205; s. dazu auch Eisert (Fn 4), S. 88 ff., 197 ff.; für die Annahme eines subjektiven Rechts Schimpff / Partsch LKV 1994, 47, 48 unter Verweis auf die Stellung sowie den Willen, neueste Entwicklungen im Völkerrecht aufzunehmen; in diese Richtung auch Degenhart (Fn. 45), S. 69 f. unter Verweis auf die Stellung der Norm ganz am Anfang der Verfassung. 65 VerfGH Leipzig, Beschl. v. 28. 2. 2008 – Vf. 7-IV-08; für eine Reduktion auf eine Staatszielbestimmung angesichts einer Kollision mit Bundesrecht Bendig NJ 1998, 169, 174. 66 Degenhart (Fn. 45), S. 70. 62 63
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Auf Landesebene erwähnen somit nur zwei Bundesländer ein „Recht auf Heimat“ in ihrer Verfassung, das jedoch nach der Rechtsprechung nur die Bedeutung einer Staatszielbestimmung bzw. eines Programmsatzes hat. Auch wenn es dem Einzelnen kein subjektives Abwehrrecht vermittelt, kann die explizite verfassungsrechtliche Erwähnung den Stellenwert der Heimat verdeutlichen, womit die Rechtsvorgabe schneller und durchgreifender in das allgemeine Rechtsbewusstsein gelangt.68 Staatszielbestimmungen enthalten vor allem einen Auftrag an den Gesetzgeber und verpflichten zu einer das Staatsziel in Rechnung stellenden Abwägung sowie Auslegung in Verwaltung und Rechtsprechung.69 Dass die anderen Bundesländer keine entsprechende Regelung kennen, kann verschiedene Ursachen haben. Möglicherweise sahen sie bislang einfach kein Bedürfnis, ein solches Recht expressis verbis aufzustellen.70 Des Weiteren könnte die Zurückhaltung darauf zurückgehen, dass auch die Mütter und Väter des Grundgesetzes von einem solchen Recht abgesehen haben. Lässt sich aber aus der Tatsache, dass das Grundgesetz außer in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG die Heimat im Grundrechtsteil nicht erwähnt, die Schlussfolgerung ziehen, dass in dieser Hinsicht kein weiterer grundrechtlicher Schutz besteht? Jedenfalls nach einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist die Anerkennung eines „Grundrechts auf Heimat“ durch die Rechtsprechung nicht ersichtlich.71 1. Entstehungsgeschichtlicher Kontext In der 42. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates schlug das Mitglied Dr. Seebohm von der Deutschen Partei die Aufnahme folgenden Artikels 1a in die Verfassung vor: „Jeder Mensch hat das Recht auf seine Heimat. Geborgenheit und Frieden sind für alle Deutschen ohne Rücksicht auf ihre Stammeszugehörigkeit zu gewährleisten.“72 Er wollte mit diesem Grundrecht gerade dem, der wider Recht und Gesetz aus seiner Heimat vertrieben wurde, den unabdingbaren Anspruch auf Wiedergutmachung dieser schweren Rechtskränkung geben. Damit sollte eine Grundlage für die Forderung nach Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimat bzw. nach Entschädigung geschaffen werden.73 Des Weiteren verwies er darauf, dass die Vertreibung der deutschen Menschen auf Rechtsgrundlagen erfolgte, für welche ausländische Mächte unter Billigung der übrigen Welt 67 Schimpff / Partsch LKV 1994, 47, 49; s. zu diesem Recht auch Degenhart (Fn. 45), S. 68 f. 68 S. die Wiedergabe Dr. Mockers bei du Buy (Fn. 1), S. 158. 69 S. zu den Staatszielbestimmungen nur BbgVerfG LKV 1998, 395, 400; Plecher-Hochstraßer, Zielbestimmungen im Mehrebenensystem, 2006; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997. 70 Du Buy (Fn. 1), S. 153 ohne Bezug auf die Bundesländer. 71 VGH München, Beschl. v. 14. 2. 2002, Az. 24 ZS 01.3129. 72 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948 / 49, S. 531. 73 Dr. Seebohm (Fn. 72), S. 531.
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ohne deutsche Zustimmung durch einen Willkürakt die Voraussetzungen geschaffen haben. „Es ist aus dem Grundrecht des Menschen auf seine Heimat und aus der Kränkung dieses Grundrechtes dann abzuleiten, dass wir für die Vertriebenen und ihre Lebenssicherung internationale Hilfe beanspruchen können, wie sie ja auch den Heimatvertriebenen, die nicht deutscher Volkszugehörigkeit sind, ohne weiteres gewährt wurde und weiter gewährt wird.“74 In der anschließenden Diskussion wies Dr. von Mangoldt zu Recht darauf hin, dass die vorgeschlagene Vorschrift zunächst einmal nach außen gerichtet ist und sich nicht mit den anderen Grundrechten in Einklang bringen lässt. „Sie ist dann ein Grundrecht, das in die Grundrechte der Vereinten Nationen hineingehört und nicht in diese Verfassung.“75 Des Weiteren fuhr er fort: „Wenn wir schließlich dieses Grundrecht . . . in seiner Bedeutung nach innen . . . betrachten, so ist das, was hier gefordert wird, schon in den anderen Artikeln gesagt: einmal in dem Artikel über die Freizügigkeit, in dem die Niederlassungs- und Aufenthaltsfreiheit gewährt wird, dann in dem Artikel über den Schutz der Wohnung; die Wohnung als Heimund Freistätte ist geschützt. Wir brauchen also dieses Grundrecht nach innen nicht, und wegen seiner Wendung nach außen scheint es mir eben in den ganzen Aufbau unserer Grundrechte nicht hineinzupassen.“76 Dr. Heuss hielt darüber hinaus den Ausdruck „Recht auf Heimat“ für eine „rechtspolitisch unmögliche Formulierung“. Denn schon der „Begriff der Heimat überhaupt ist ein Gefühlsbegriff, der gar nicht rechtlich zu umschreiben ist“.77 Des Weiteren sei es „barer Illusionismus“, auf diese Weise eine Rechtsunterlage für Auseinandersetzungen mit der Welt zu bekommen. Auch die Annahme eines Anspruchs auf Unterstützung dieser Millionen von Menschen sei eine seltsame Verdrehung einfacher Dinge.78 Dr. Eberhard schloss sich seinen Vorrednern an und äußerte die Hoffnung, dass einem Teil des Anliegens von Dr. Seebohm durch das auf die Heimat abstellende Diskriminierungsverbot Rechnung getragen werde.79 Anschließend wurde der vorgeschlagene Artikel 1a mehrheitlich abgelehnt.80 Alles in allem zeigt sich, dass die grundgesetzliche Verankerung eines Rechts auf Heimat vor allem wegen der Heimatvertriebenen diskutiert wurde. Dass sich für die Verwirklichung bestimmter Großvorhaben einmal die Notwendigkeit ergeben könnte, Personen an einen anderen Ort umzusiedeln, wurde damals kaum gesehen. Die Unbrauchbarkeit des Wortes „Heimat“ als Rechtsbegriff wird durch seine Erwähnung in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG widerlegt. Des Weiteren ergibt sich aus der Diskussion im Parlamentarischen Rat, dass man der Annahme eines grund74 75 76 77 78 79 80
Dr. Seebohm (Fn. 72), S. 531 f. Dr. von Mangoldt (Fn. 72), S. 532. Dr. von Mangoldt (Fn. 72), S. 532. Dr. Heuss (Fn. 72), S. 532. Dr. Heuss (Fn. 72), S. 532. Dr. Eberhard (Fn. 72), S. 532. Parlamentarischer Rat (Fn. 72), S. 533.
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rechtlichen Schutzes der Heimat nicht per se ablehnend gegenüberstand. Vielmehr nahm man an, dass dies bereits über andere Grundrechte geschehen sei.
2. Freizügigkeit gemäß Art. 11 GG Dr. von Mangoldt hielt eine Verankerung des Rechts auf Heimat wegen des Grundgesetzartikels über die Freizügigkeit für entbehrlich.81 Gemäß Art. 11 Abs. 1 GG genießen alle Deutschen Freizügigkeit „im ganzen Bundesgebiet“. Somit wird kein Anspruch auf Freizügigkeit in verloren gegangene Gebiete vermittelt, die sich außerhalb des Bundesgebiets befinden und einst für Deutsche eine Heimat waren.82 Berechtigt werden Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG.83 Ausländern, die lange Zeit an einem bestimmten Ort im Bundesgebiet leben und dort verwurzelt sind, kann diese Verfassungsbestimmung keinen Schutz der Heimat vermitteln.84 Ausgehend vom Terminus „Freizügigkeit“ wird durch Art. 11 Abs. 1 GG die Freiheit des Wegzuges, die Freiheit des Zuzuges sowie der freie Zug selbst geschützt.85 Nach ständiger Rechtsprechung beinhaltet die Freizügigkeit das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen.86 Dabei kommt nach der Entstehungsgeschichte das Grundrecht auch solchen Deutschen zugute, die zum Zweck der Wohnsitznahme in das Bundesgebiet einreisen.87 Die Freizügigkeit wird interföderal zwischen den Ländern, interkommunal zwischen den Gemeinden und interlokal innerhalb einer Gemeinde gewährleistet.88 Art. 11 Abs. 1 GG ermöglicht es den Grundrechtsberechtigten, innerhalb des Bundesgebiets den Rahmen ihres Lebensbezugs frei zu bestimmen. Das Freizügigkeitsrecht bildet eine Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung anderer Grundrechte, etwa der verfassungsrechtlich garantierten Religions-, Wohnungs- oder Berufsfreiheit.89 Dr. von Mangoldt (Fn. 72), S. 532. Randelzhofer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 43. Erg.-Lfg. Okt. 1981, Art. 11 Rn. 44; s. auch du Buy (Fn. 1), S. 66. 83 Im Rahmen der Diskussion hatte Dr. Seebohm gefordert, den in Art. 11 vorgesehenen Begriff „Bundesangehörige“ durch „jeder Deutsche“ zu ersetzen, siehe S. 532 sowie BVerfGE 2, 266, 272 f. S. im Übrigen nur Ziekow, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 4. Erg.-Lfg. IV / 02, Art. 11 Rn. 76 ff. 84 Denkbar wäre jedoch eine Heranziehung des Art. 2 Abs. 1 GG. 85 Heitsch, Grundrechtsprobleme der luftverkehrsrechtlichen Planfeststellung, in: Ziekow, Aktuelle Fragen des Fachplanungs-, Raumordnungs- und Naturschutzrechts, 2008, S. 10. 86 BVerfGE 110, 177, 190; BVerfG NVwZ 2008, 780, 785; BVerwG NVwZ 2009, 331. 87 BVerfGE 2, 266, 273; 110, 177, 191; s. auch Ziekow (Fn. 83), Art. 11 Rn. 29; s. zu den Gegenargumenten Gusy, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 11 Rn. 38. 88 BVerfGE 2, 266, 273; 43, 203, 211; 110, 177, 191; s. auch Kunig, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 11 Rn. 12 sowie Merten (Fn. 35), S. 29 ff.; Ziekow (Fn. 3), S. 476 ff. 81 82
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Es herrscht überwiegend Konsens, dass das Grundrecht auf Freizügigkeit nicht in dem Moment endet, in dem sich eine Person örtlich niedergelassen hat. Dies zeigt sich schon darin, dass mit dem „Wohnsitz“ die ständige Niederlassung an einem Ort mit dem Willen, ihn zum Lebensmittelpunkt zu machen, gemeint ist.90 Mit den Worten von Eisert muss der freie Zug, wenn er nicht von vornherein sinnentleert sein soll, die Möglichkeit implizieren, sich nach erfolgter Inanspruchnahme an einem bestimmten Ort aufhalten zu dürfen.91 Erst durch die Möglichkeit, an dem Ort der Wahl zu bleiben, gewinnt das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht zum Ziehen seine fundamentale freiheitliche Bedeutung.92 Da man im Rahmen der Debatte um die Einfügung eines „Rechts auf Heimat“ in das Grundgesetz davon ausging, dass dieses bereits über andere Grundrechte ausreichend geschützt sei und dabei Art. 11 GG erwähnt wurde, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte, dass diese Verfassungsnorm das Recht zum Verbleib an einem konkreten Ort gewährleistet.93 Die Verwirklichung dieses Rechts zum auch längeren Bleiben kann zur Folge haben, dass der Aufenthaltsort zum Lebensmittelpunkt und zur Heimat des jeweiligen Grundrechtsberechtigten avanciert.94 Nur die dogmatische Konstruktion dieses meistens so bezeichneten „Rechts auf Heimat“95 ist streitig. Häufig wird auf die negative Freizügigkeit rekurriert, wonach Art. 11 Abs. 1 GG zugleich ein Bleiberecht vermittelt.96 Jedenfalls wenn eine Person von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht und einen anderen Ort zu ihrer „neuen“ Heimat erkoren hat, stellt sich das Recht zum dortigen Verbleib nach zutreffender Ansicht als integraler Bestandteil des (positiven) Rechts auf Aufenthaltswahl dar.97 Das Freizügigkeitsrecht des Art. 11 Abs. 1 GG steht damit in der Tradition der Weimarer Reichsverfassung,98 dessen Art. 111 WRV allen Deutschen die Frei89 Baldus, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Std.: 15. 7. 2009, Art. 11 Rn. 1; Pernice, in: Dreier, Art. 11 Rn. 10; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 9; Ziekow (Fn. 83), Art. 11 Rn. 29; ders. (Fn. 3), S. 455. 90 Heitsch (Fn. 85), S. 9; Schoch Jura 2005, 34, 35; Sodan (Fn. 55), Art. 11 Rn. 2; a.A. Pagenkopf, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 11 Rn. 14, wonach der dauerhafte Verbleib unter die allgemeine Handlungsfreiheit fällt. 91 Eisert (Fn. 4), S. 120; ähnlich Merten (Fn. 35), S. 41; Mildenberger (Fn. 4), S. 46. 92 Heitsch (Fn. 85), S. 10; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 9. 93 BVerwG NVwZ 2009, 331. 94 Eisert (Fn. 4), S. 120. 95 Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 34; Hailbronner, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 6, 2. Aufl. 2001, § 131 Rn. 28; Heitsch (Fn. 85), S. 10; Hufen, Staatsrecht II, 2. Aufl. 2009, § 18 Rn. 4; Merten (Fn. 35), S. 39 ff.; Michael / Morlok, Grundrechte, 2008, Rn. 333; Pernice (Fn. 3), Art. 11 Rn. 10; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 55; Ziekow (Fn. 3), S. 480. 96 Baer NVwZ 1997, 27, 30; Hailbronner (Fn. 95), § 131 Rn. 28; Michael / Morlok (Fn. 95), Rn. 333; Pernice (Fn. 3), Art. 11 Rn. 17; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 55. 97 Durner, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, 50. Erg.-Lfg. Juni 2007, Art. 11 Rn. 91; Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 34; Heitsch (Fn. 85), S. 11; Ziekow (Fn. 3), S. 480. Nach BVerwG NVwZ 2009, 331 schließt das Recht, einen Wohnsitz zu nehmen, unmittelbar das Recht ein, an dem gewählten Ort zu bleiben.
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zügigkeit und das Recht einräumte, „sich an beliebigem Orte des Reichs aufzuhalten und niederzulassen“.99 a) Relevanz des „Rechts auf Heimat“ für den Schutzbereich des Art. 11 GG? Dass das sog. „Recht auf Heimat“ gerade im Kontext des Art. 11 GG erörtert wird, dürfte auf die Diskussion um seine grundgesetzliche Verortung sowie auf den Raumbezug des Freizügigkeitsrechts zurückgehen. Zunehmend wird jedoch die Sinnhaftigkeit der Erörterung des „Rechts auf Heimat“ infrage gestellt.100 Zumindest was die Eröffnung des Schutzbereichs dieses Grundrechts anbetrifft, kann man sehr gut ohne den Begriff der „Heimat“ operieren. Nach der Formulierung des Freizügigkeitsrechts ist es für seine Wahrnehmung unerheblich, aus welchem Grund sich eine Person an einen anderen Ort begibt. Auch derjenige, der an einen bestimmten Ort innerhalb der Bundesrepublik für einige Zeit zieht, ohne sich dort eine Heimat aufbauen zu wollen, kann sich auf dieses Grundrecht berufen.101 Die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Paarformel zur Umschreibung des sachlichen Schutzbereichs der Freizügigkeit bringt klar zum Ausdruck, dass sowohl eine längere („Wohnsitz“) als auch eine kürzere („Aufenthalt“) Ortsberührung geschützt wird.102 Neuere Ansätze, wonach Art. 11 GG im Hinblick auf seine Schranken und zur besseren Abgrenzung der über Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Fortbewegungsfreiheit nur „Heimatorte“ erfassen soll, an denen Menschen miteinander auf Dauer leben,103 entsprechen weder dem Wortlaut noch der Genealogie des Freizügigkeitsrechts.104 Dieses besteht für das „ganze Bundesgebiet“. Einige der in Art. 11 Abs. 2 GG genannten Einschränkungsmöglichkeiten, wie der „Kriminalvorbehalt“ oder die „drohende Seuchengefahr“, sind im Übrigen keinesfalls zwangsläufig an einen langfristigen Aufenthalt gekoppelt.105 Heitsch (Fn. 85), S. 11. RGBl. 1919, S. 1383, 1404. 100 S. dazu auch Schoch Jura 2005, 34, 36; ablehnend gegenüber dem Begriff Pieroth / Schlink, Grundrechte, 25. Aufl. 2009, Rn. 867. 101 Eisert (Fn. 4), S. 119; Kunig (Fn. 88), Art. 11 Rn. 14; a.A. früher BVerwGE 3, 308, 312. 102 Ziekow (Fn. 3), S. 460; s. auch Eisert (Fn. 4), S. 120; Kunig (Fn. 88), Art. 11 Rn. 14; s. auch Alberts NVwZ 1997, 46, 47. 103 Baer NVwZ 1997, 27, 31. 104 Zu Letzterem Heitsch (Fn. 85), für den es im Übrigen gekünstelt wirkt, zunächst objektiv auf derartige Orte abzustellen und zur Vermeidung von Lücken im Grundrechtsschutz wieder subjektive Kriterien heranzuziehen. Ebenfalls ablehnend Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 92. 105 Alberts NVwZ 1997, 45, 47; s. im Übrigen zu den Bedenken, ausgehend von den Schranken eines Grundrechts auf dessen Schutzbereich zu schließen, Ziekow (Fn. 3), S. 434 ff. 98 99
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Genau genommen bildet der Aufenthalt an einem bestimmten Ort lediglich eine Bedingung dafür, dass eine Person in dem neuen Umfeld heimisch werden kann.106 Mit den Worten von Gusy garantiert Freizügigkeit nur den Aufenthalt an einem bestimmten Ort, aber nicht jene Faktoren, welche ihn zur „Heimat“ machen.107 So ergibt sich aus Art. 11 Abs. 1 GG weder das Recht, sich am örtlichen Vereinsleben zu beteiligen noch bestimmte Nachbarn (nicht) zu haben.108 Dies dürfte auch die Äußerung des Bundesverwaltungsgerichts erklären, wonach der identitätsstiftende Zusammenhang als solcher nicht Schutzgut des Freizügigkeitsrechts ist.109 Das oft herangezogene Recht auf Heimat kann keinesfalls so weit gehen, dass es zu einer totalen Versteinerung der Verhältnisse kommt. Da das Grundgesetz nur eine institutionelle, aber keine individuelle Garantie von Gemeinden kennt110 und unter den Voraussetzungen des Art. 29 GG das Bundesgebiet neu gegliedert werden darf, kann der Einzelne nicht unter Berufung auf Art. 11 GG verhindern, dass sein Heimatgebiet in eine andere Gemeinde eingegliedert oder einem anderen Bundesland zugeordnet wird.111 Denn die jeweilige Person kann weiterhin am angestammten Ort bleiben. Dass Art. 11 GG vielfach ein „Recht auf Heimat“ entnommen wird, dürfte damit zusammenhängen, dass für den Einzelnen das Recht verbürgt wird, sich an einem Ort innerhalb des Bundesgebiets niederzulassen. Dadurch wird ihm die Gelegenheit eröffnet, für sich dort eine „Heimat“ zu begründen.112 Allerdings wird seit jeher angenommen, dass die Möglichkeit des Zuzugs an einen bestimmten Ort von gewissen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen abhängt, die nicht durch Art. 11 Abs. 1 GG erfasst und garantiert werden. Wer nicht über die nötigen Finanzmittel verfügt, um sich am präferierten Ort eine Wohnung zu mieten oder gar ein Haus zu kaufen, kann dort keinen Wohnsitz begründen.113 Ebenso setzt das Freizügigkeitsrecht voraus, dass an dem Ort des beabsichtigten künftigen Wohnsitzes eine solche Nutzung überhaupt rechtlich zulässig ist.114 Nach dem Bundesverwaltungsgericht bezieht sich die Freizügigkeit „nur auf Orte, die zum Wohnen und Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 30. Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 30. 108 Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 30. 109 BVerwG NVwZ 2009, 331, 332. 110 BVerfGE 86, 90, 107; Nierhaus, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 28 Rn. 42. 111 S. zu Art. 29 GG Merten (Fn. 35), S. 41; auch Baer NVwZ 1997, 27, 31 kommt zu dem Schluss, dass mit der von ihr angenommenen engen Fassung des Schutzbereichs des Art. 11 GG keine Bestandsgarantie für Heimatorte verbunden ist. 112 Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 30. 113 BVerwG NVwZ 2009, 331; nach BVerfG, einstw. Anordnung v. 31. 8. 2004, 1 BvQ 36 / 04, lässt sich aus Art. 11 GG kein Anspruch herleiten, ein vom Staat nach einem Vertrag nur befristet überlassenes Grundstück über die Nutzungsdauer hinaus für einen dauerhaften Aufenthalt zu nutzen. 114 BVerwG NVwZ 2009, 331; s. auch Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 121; Merten (Fn. 35), S. 35; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 43; a.A. Pernice (Fn. 3), Art. 11 Rn. 22. 106 107
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zum Aufenthalt im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung verfügbar sind“. Es sei nicht Aufgabe des Freizügigkeitsrechts, Wohnsitznahme- oder Aufenthaltsmöglichkeiten erst durch planungsrechtliche Entscheidungen zu schaffen.115 Die planungsrechtliche Nutzbarkeit von Grundstücken ist somit keine Schranke der Freizügigkeit, sondern Voraussetzung für die Niederlassung an einem konkreten Ort.116 Ist die Nutzung eines Grundstücks zu Wohnzwecken nach den bauplanungsrechtlichen Vorschriften nicht möglich, ist dies zu respektieren. Dies entspricht der Genealogie des Freizügigkeitsrechts. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867117 gewährte jedem Bundesangehörigen das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht an jedem Orte innerhalb des Bundesgebietes, „wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen im Stande ist“. Sind diese Voraussetzungen gegeben, folgt aus Art. 11 Abs. 1 GG das Recht, an diesem Ort bleiben zu dürfen und damit seinen engeren Lebenskreis beizubehalten.118 b) Beeinträchtigungen des Freizügigkeitsrechts In die Freizügigkeit darf grundsätzlich nur unter den Bedingungen des Art. 11 Abs. 2 GG eingegriffen werden. Auch wenn Personen sehr lange an einem Ort wohnen, können sie danach zur Bekämpfung einer Naturkatastrophe gezwungen werden, ihren angestammten Lebenskreis zu verlassen. Nachdem es im Ortsbereich Nachterstedt zum Abbruch eines etwa 350 Meter breiten Landstreifens in den südlichen Ausläufer des Concordiasees gekommen ist, wird das wegen der Gefahr weiterer Erdrutsche weiträumig abgesperrte Unglücksgebiet vermutlich nie mehr bewohnt werden können.119 In solchen Situationen kann der Staat – eine entsprechende gesetzliche Regelung vorausgesetzt – den Menschen gebieten, sich an einen anderen Ort zu begeben bzw. ihren Wohnsitz zu verlassen. Der Katastrophenvorbehalt in Art. 11 Abs. 2 GG soll die notwendigen Maßnahmen zur organisatorischen Bewältigung der eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden Situation ermöglichen. Nach seinem Sinn und Zweck können darauf auch Maßnahmen abgestützt werden, welche die Folgen der Katastrophe für die Betroffenen mildern oder abwenden sollen, ohne unmittelbar auf den Gefahrenherd einzuwirken.120 Die Einschränkung des Freizügigkeitsrechts dient der Bewältigung einer ungeordneten Massenmobilität und gestattet Zwangsevakuierungen.121 115 BVerwG NVwZ 2009, 331; Giegerich, in: Grote / Marauhn, EMRK / GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 26 Rn. 44; Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 29; Merten (Fn. 35), S. 35 f.; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 1, 2006, S. 1142 f.; a.A. wohl Pernice (Fn. 3), Art. 11 Rn. 22. 116 Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 29; Randelzhofer (Fn. 82), Art. 11 Rn. 43. 117 BGBl. NdtBd 1867, S. 55 ff. 118 Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 30. 119 S. den Artikel „Nachterstedt“, abgerufen über Wikipedia am 13. 11. 2009. 120 Ziekow (Fn. 3), S. 568 f.
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Neben den sog. klassischen Eingriffen in das Freizügigkeitsrecht, etwa durch das Gebot, einen bestimmten Aufenthaltsort zu verlassen,122 kann das Grundrecht auf Freizügigkeit durch mittelbare oder faktische Maßnahmen beeinträchtigt werden. Bereits § 1 Abs. 2 FreizG 1867123 untersagte Beschränkungen der Freizügigkeit „durch lästige Bedingungen“.124 Auch derartige mittelbare Eingriffe müssen hinreichend verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.125 Voraussetzung ist allerdings, dass diese Maßnahmen nach ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen.126 Letzteres wird man bejahen müssen, wenn sie dem Einzelnen eine andere Entscheidung unzumutbar machen und ihn zum Ziehen zwingen.127 Ohne zur Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 GG Stellung zu nehmen, hat die 3. Kammer des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Entscheidung zur Planfeststellung für den Verkehrsflughafen Berlin-Schönefeld einen mittelbar relevanten Grundrechtseingriff verneint. Durch die Begrenzung des Ausgleichsanspruchs für teure Schallschutzmaßnahmen auf 30% des Grundstücksverkehrswertes werde kein unzumutbarer Druck zum Wegzug ausgeübt. Weil nicht erkennbar sei, dass Gesundheit oder Eigentumsnutzung in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt werden, kommt es zu dem Schluss: „Die unterhalb dieser Schwelle hinzunehmenden Lärmbeeinträchtigungen können nicht als Eingriff in das Recht auf Freizügigkeit gewertet werden, zumal ein solcher auch nicht bezweckt ist.“128 Sind Menschen freiwillig zum Wegzug bereit, scheidet ein Eingriff in Art. 11 Abs. 1 GG aus.129
Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 147; Schoch Jura 2005, 34, 38. S. dazu BVerfG NVwZ 2008, 780, 786. 123 S. bei Fn. 116. 124 S. dazu auch Ziekow (Fn. 3), S. 543. 125 BVerfGE 110, 177, 191; s. auch Ziekow (Fn. 83), Art. 11 Rn. 93; ders. (Fn. 3), S. 544 f. 126 BVerfGE 110, 177, 191; BVerfG NVwZ 2008, 780, 786; s. auch Ziekow (Fn. 3), S. 544 f. 127 Ziekow (Fn. 3), S. 545; ihm folgend Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 113; nach BVerwGE 110, 92, 98 kommt ein Verstoß gegen Art. 11 GG bei mittelbaren Einwirkungen in Betracht, die objektiv geeignet sind, einen beherrschenden Einfluss auf die Willensbildung auszuüben. S. auch Schoch Jura 2005, 34, 37. 128 BVerfG NVwZ 2008, 780, 786; auch Baer NVwZ 1997, 27, 32 verneint einen Eingriff, wenn die Menschen weiterhin die realisierbare Entscheidung zum Verbleib in ihrer Heimat haben. Für die Annahme eines Eingriffs bei unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen Heitsch (Fn. 85), S. 20. 129 S. zum Abschluss von Umsiedlungsverträgen durch den Vorhabenträger Heitsch (Fn. 85), S. 15 ff., der Zweifel an der Freiwilligkeit anmeldet, wenn sich Betroffene wegen der Ausweisung eines entsprechenden Raumordnungsziels auf eine solche vertragliche Einigung einlassen. 121 122
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c) Umsiedlungsmaßnahmen aufgrund nachträglich ergangener Planungsentscheidungen In jüngster Zeit hat sich eine kontroverse Debatte darüber entwickelt, ob die mit der Zulassung eines Rahmenbetriebsplans für einen Braunkohletagebau im Zusammenhang stehende Umsiedlung eines gesamten Dorfes am Freizügigkeitsrecht zu messen ist. Mehrere Stimmen im Schrifttum bejahen dies.130 Das Brandenburgische Verfassungsgericht scheint keine Bedenken an der Einschlägigkeit des Grundrechts zu haben, verneint aber einen Eingriff, weil planerische Entscheidungen nicht auf die Beschränkung der Freizügigkeit gerichtet sind.131 Durner meint in seiner Kommentierung zu Art. 11 GG, dass es Planungen, die eine Fläche der Besiedelbarkeit entziehen, bereits am finalen Element der freizügigkeitsbezogenen Tendenz fehle und eklatante Wertungswidersprüche entstehen würden, wenn das Bleiben einem stärkeren Schutz als der Zuzug unterstellt würde.132 Seiner Meinung nach beinhaltet Art. 11 GG zwar ein Bleiberecht und schützt vor zwangsweisen Umsiedlungen, jedoch nur dort, wo durch die staatliche Maßnahme anders als bei raumplanerischen Entscheidungen „gezielt“ in Art. 11 Abs. 1 GG eingegriffen wird.133 Von den zuletzt genannten Stimmen hebt sich die jüngste Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit ab, als nach seiner Ansicht gewisse rechtliche und tatsächliche Voraussetzungen, von denen die Möglichkeit des Zuzugs an einen bestimmten Ort ebenso wie des dortigen Verbleibs abhängen, bereits aus dem Schutzbereich des Art. 11 GG herausfallen:134 „Gegen eine Enteignung und damit gegen den Entzug der Möglichkeit, an diesem konkreten Ort von seinem Grundrecht Gebrauch zu machen, schützt nicht Art. 11 I GG, sondern allein Art. 14 III GG.“135 Wenn das Freizügigkeitsrecht nicht darauf abziele, durch planungsrechtliche Entscheidungen erst entsprechende Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen, werde der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG deshalb auch umgekehrt durch bau- oder planungsrechtliche Entscheidungen nicht berührt, welche für dieses Gebiet eine andere Nutzung als bisher erzwingen. „Entzieht eine Planung einer Fläche die bisher gegebene Möglichkeit der Besiedelung, ist damit ebenfalls nur der Schutzbereich des Art. 14 I oder III GG betroffen.“136 In den Fällen bergbaubedingter Umsiedlung werde der Zwang zum Verlassen des Gebiets nicht durch die 130 Baer NVwZ 1997, 27, 32; Michael / Morlok (Fn. 95), Rn. 333; Pernice (Fn. 3), Art. 11 Rn. 22; wohl auch Schoch Jura 2005, 34, 39; Sodan (Fn. 55), Art. 11 Rn. 5 bejaht jedenfalls die Eröffnung des Schutzbereichs des Grundrechts. Für die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs durch planerische Maßnahmen auch Heitsch (Fn. 85), S. 18 ff. 131 BbgVerfG LKV 1998, 395, 406; zustimmend Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 123. 132 Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 123; ebenfalls einen Eingriff verneinend Jarass (Fn. 55), Art. 11 Rn. 8. 133 Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 123. 134 So die Erläuterung von Neumann jurisPR-BVerwG 3 / 2009 Anm. 1. 135 BVerwG NVwZ 2009, 331. 136 BVerwG NVwZ 2009, 331.
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Zulassung des Rahmenbetriebsplans, sondern erst durch die nachfolgende Grundabtretung ausgelöst. Dafür entfaltet jedoch die Zulassung des Rahmenbetriebsplans keine enteignungsrechtliche Vorwirkung im fachplanerischen Sinne. Infolgedessen sei die Notwendigkeit der Umsiedlung ausschließlich die Folge von staatlichen Entscheidungen, welche allein Art. 14 GG berühren.137 Die Relevanz des Meinungsstreits resultiert daraus, dass bei Annahme eines Eingriffs in das Freizügigkeitsrecht die qualifizierte Schrankenregelung des Art. 11 Abs. 2 GG gelten würde, staatliche Planungsentscheidungen aber äußerst selten den dortigen Kriterien genügen werden.138 Bestimmt man den Schutzbereich eines Grundrechts jedoch von seinen Schranken her, läuft man leicht Gefahr, es zu nivellieren.139 Folgt man dem Bundesverwaltungsgericht, wären Umsiedlungen, die auf staatliche Planungsentscheidungen zurückgehen, ausschließlich an Art. 14 GG zu messen. Bei der Bestimmung, ob eine Enteignung für das Vorhaben zum Wohle der Allgemeinheit erforderlich ist, ist eine Abwägung nach Verhältnismäßigkeitskriterien zwischen dem öffentlichen Interesse an der Enteignung und dem Interesse des Eigentümers an der Substanzerhaltung vorzunehmen.140 Ist eine Enteignung zulässig, ist dem Betroffenen eine Enteignungsentschädigung zu gewähren. Ihre Höhe ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und des Betroffenen festzulegen. Auch wenn die Entschädigung nicht notwendig zum Verkehrswert erfolgen muss,141 steht eine solche auf jeden Fall mit Art. 14 Abs. 3 GG in Einklang, weil dadurch das Vermögensopfer des Betroffenen voll ausgeglichen wird.142 Anhand dieser kurzen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass Art. 14 GG allein den Schutz eigentumsfähiger Positionen in Form konkreter vermögenswerter Rechtsgüter im Blick hat.143 Nur wenn man wie das Bundesverfassungsgericht das Besitzrecht des Mieters in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie einbezieht, 144 lässt sich dartun, dass die Anliegen derjenigen Personen, die nur kraft eines Mietvertrages an einem bestimmten Ort wohnen, auch bei einer BVerwG NVwZ 2009, 331; s. auch Pieroth / Schlink (Fn. 100), Rn. 867. Neumann (Fn. 134); s. auch Baer NVwZ 1997, 27, 31; so kommt Heitsch (Fn. 85), S. 21 zu dem Schluss, dass etwaige Eingriffe in das Freizügigkeitsrecht nicht durch das öffentliche Interesse an der Verwirklichung eines planfestzustellenden Flughafens gerechtfertigt werden könnten. S. auch den Vortrag der Beschwerdeführer in BVerfG NVwZ 2008, 780, 786. 139 Eingehend zu den Bedenken Ziekow (Fn. 3), S. 434 ff.; s. auch BVerfGE 32, 54, 72. 140 BVerwGE 117, 138, 139; s. auch BVerfG, Nichtannahmebschl. v. 8. 7. 2009, 1 BvR 2187 / 07; s. eingehend zur Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG Guckelberger, in: Ziekow, Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts, 2006, S. 237, 240 ff. 141 BVerfGE 24, 367, 420 f.; 41, 126, 161; 46, 268, 284 ff.; Jarass (Fn. 55), Art. 14 Rn. 83. 142 BVerfGE 24, 367, 423; BVerfG NVwZ 1998, 947, 948. 143 BVerfGE 24, 367, 369; 53, 257, 290; Jarass (Fn. 55), Art. 14 Rn. 7. 144 BVerfGE 89, 1, 5 f.; BVerfG NJW 2000, 2658, 2659; NJW-RR 2004, 440, 441; BVerwG NVwZ 2009, 1048. 137 138
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Außerachtlassung des Freizügigkeitsrechts bei planerischen Zulassungsentscheidungen mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung zu berücksichtigen sind.145 Führt eine planerische Entscheidung dazu, dass die für ein bestimmtes, im öffentlichen Interesse liegendes Vorhaben benötigten Grundstücke notfalls im Wege der Enteignung beschafft werden können, geht damit zugleich für die dort lebenden Personen die Konsequenz einher, ihren bisherigen Aufenthalts- bzw. Wohnort verlassen zu müssen. Während die Maßgeblichkeit von Art. 14 GG eindeutig ist,146 dreht sich der eigentliche Streit darum, ob daneben weitere Grundrechte heranzuziehen sind. Richtigerweise wird man dies bejahen müssen. Im Schrifttum wurde zutreffend herausgearbeitet, dass Umsiedlungen eine weitere Freiheitsdimension als die objektbezogene haben.147 Baer meint etwa, dass es den von Umsiedlungsmaßnahmen für den Braunkohleabbau betroffenen Bürgern der Ortschaft Horno nicht nur um den Erhalt ihres Eigentums, sondern ihrer Heimat gehe.148 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Auflösung der Gemeinde Horno und die Umsiedlung ihrer Einwohner nicht nur am Recht auf Eigentum (Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK), sondern zugleich am Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung (Art. 8 Abs. 1 EMRK) geprüft. Dort heißt es: „Unabhängig von der tiefgreifenden Veränderung, die es für jeden bedeutet, aus seiner gewohnten Lebensumgebung herausgerissen zu werden, kann die Umsiedlung der Einwohner einer Dorfgemeinde dramatische Folgen insbesondere für alte Menschen haben, die sich schwerer in eine neue Umgebung einpassen.“149 Nur wegen des Beurteilungsspielraums der staatlichen Behörden hinsichtlich der Notwendigkeit des Eingriffs sowohl in Bezug auf den gesetzlichen Rahmen als auch hinsichtlich der besonderen Anwendungsmaßnahmen wurde die Menschenrechtsbeschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit in der Sache einstimmig für unzulässig erklärt.150 Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte.151 Da – wie man an der Rechtsprechung des EGMR gut sehen kann – der Gewährleistungsgehalt des Art. 14 GG nicht in allen Fällen sämtliche mit einem Umzug für den Einzelnen an einen anderen Ort verbundenen Folgen abdeckt, liegt ein typischer Fall vor, in dem zwei Grundrechte einschlägig sein 145 S. zur Unternehmensflurbereinigung im Hinblick auf Pächter BVerwG NVwZ 2009, 1047 ff., das auch auf die mögliche Gegenläufigkeit der Interessen zwischen Eigentümer und Pächter verweist. 146 S. auch Baer NVwZ 1997, 27, 32. 147 Baer NVwZ 1997, 27, 32; Heitsch (Fn. 85), S. 13. 148 Baer NVwZ 1997, 27, 32. 149 EGMR LKV 2001, 69, 71. 150 S. zu der EGMR-Entscheidung Lenz LKV 2001, 446 ff. 151 BVerfGE 111, 307, 317.
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können.152 Während den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG Genüge getan wird, wenn der Substanzverlust entschädigt wird, kommt man erst über eine Einbeziehung der „Heimatkomponente“ dazu, die von der Umsiedlung betroffenen Bewohner möglichst gemeinsam und nicht allzu weit entfernt von ihrer früheren Umgebung wieder anzusiedeln.153 Art. 14 GG findet unterschiedslos auf eine Vielzahl von vermögenswerten Positionen Anwendung. Würde man Planungsentscheidungen mit enteignender Vorwirkung allein am Maßstab dieser Verfassungsnorm beurteilen, würden der Eigentümer eines Hausgrundstücks, der noch nie am Ort gelebt hat, und derjenige, der seit fünfzig Jahren dort wohnt, gleich behandelt, obwohl die Planungsentscheidung für Letzteren eine ganz andere Tragweite hat. Dieser Unterschied kann jedoch unschwer abgebildet werden, wenn sich die zusätzlich von der Aufgabe ihres Lebenskreises betroffene Person auf Art. 11 Abs. 1 GG berufen könnte. Dafür spricht zudem die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Denn bei der Erörterung des gegen die deutschen, also nicht ausländischen staatlichen Stellen gerichteten „Rechts auf Heimat“ ging man davon aus, dass diese Facette hinreichend über das Freizügigkeitsrecht und andere Grundrechte, wie Art. 13 GG, abgedeckt werde. Das Eigentumsgrundrecht kam jedoch nicht zur Sprache. Geht man auf das Freizügigkeitsgesetz von 1867154 zurück, bestand das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nur für solche Orte, wo sich der Einzelne eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen zu verschaffen im Stande ist. Kann ein Grundrechtsberechtigter aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen an einem bestimmten Ort des Bundesgebiets keinen Wohnsitz begründen, kann er sich in dieser Hinsicht nicht auf sein Freizügigkeitsrecht berufen und wird sich deshalb einen anderen Aufenthalts- bzw. Wohnsitzort suchen. Ist der Einzelne dagegen dazu in der Lage, sich am ausgewählten Ort niederzulassen, erscheint es durchaus plausibel, wenn er nun auch einen stärkeren grundrechtlichen Schutz genießt. Illustrierend sei auf folgendes Beispiel verwiesen: Ist es kürzlich an einem unbewohnten Ort zu einem Erdrutsch gekommen, bei dem ein ganzer Landstreifen in einem See versank, und besteht aufgrund der geologischen Gegebenheiten die Gefahr weiterer Einbrüche, wird aus tatsächlichen Gründen kein vernünftig Denkender seinen Wohnsitz in der Nähe der Abbruchkante nehmen. Die Bedeutung des Katastrophenvorbehalts des Art. 11 Abs. 2 GG besteht vor allem darin, den staatlichen Stellen eine geordnete Umsiedlung von bisher an einem solchen Ort wohnenden Personen zu ermöglichen. Würde man dem Bundesverwaltungsgericht folgen, wäre jedoch ein Rekurs auf Art. 11 Abs. 2 GG unnötig, weil es schon an den tatsächlichen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts fehlen würde. 152 Baer NVwZ 1997, 27, 31 f.; Heitsch (Fn. 85), S. 12; Michael / Morlok (Fn. 95), Rn. 333; s. zur Kumulation und Konkurrenz von Grundrechten auch Ziekow (Fn. 3), S. 416 ff. 153 S. zu dieser Besonderheit bei der Umsiedlung von Horno EGMR LKV 2001, 69, 71. 154 S. Fußnote 117.
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Aus den zuvor genannten Gründen wird hier der Standpunkt bevorzugt, dass nachträgliche planerische Entscheidungen, welche mit der vorhandenen Besiedelung eines Gebiets kollidieren, durchaus das Freizügigkeitsrecht tangieren können. Ob ein relevanter Eingriff in dieses Grundrecht vorliegt, ist für jede Planungsentscheidung gesondert zu ermitteln. Wenn dadurch letztverbindlich festgelegt wird, dass künftig dort keine Wohnnutzung mehr möglich ist, und für die Betroffenen ein Wegzug die einzig verbleibende Möglichkeit ist, ist eine Beeinträchtigung des Art. 11 Abs. 1 GG gegeben. Während es für die Eröffnung seines Schutzbereichs unerheblich ist, ob eine Person an einem bestimmten Ort ihre „Heimat“ gefunden hat, kann dieser Aspekt bei der Bestimmung der Schwere des Eingriffs durchaus Relevanz entfalten. Denn das Freizügigkeitsrecht bildet die Voraussetzung dafür, dass eine Person einen bestimmten Ort zu ihrem Lebensmittelpunkt machen und dort heimisch werden kann. Je stärker sich der Aufenthalt einer Person verfestigt hat, desto gravierender werden sich regelmäßig staatliche Maßnahmen für den Betroffenen auswirken und desto gewichtiger müssen bezogen auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Rechtfertigungsgründe sein.155 Damit bleibt nur noch zu klären, worauf planerische Entscheidungen zur Verwirklichung bestimmter, im öffentlichen Interesse liegender Vorhaben abgestützt werden können. Kürzlich wurde vorgeschlagen, den weiten Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG dadurch zu relativieren, dass auch die Zerstörung einer „ausreichenden Lebensgrundlage“ zum „besonderen Wohl der Allgemeinheit“ gemäß Art. 11 Abs. 2 GG nicht ausgeschlossen sei.156 So bestechend dieser Ansatz auf den ersten Blick erscheint, lautet der genaue Verfassungstext, dass „eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden.“ Aus dem Merkmal „besondere Lasten“ folgt, dass das Merkmal „ausreichende Lebensgrundlage“ auf den Grundrechtsträger bezogen ist, der seinen Lebensmindestbedarf nicht aus eigener Kraft befriedigen kann.157 Nach heutigem Stand können Grundrechtseingriffe nicht nur durch ausdrücklich normierte Schranken, sondern ebenfalls durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden.158 Das in der Schrankenregelung des Art. 11 Abs. 2 GG verwendete Wort „nur“ steht deshalb einem Rückgriff auf derartige verfassungsimmanente Schranken nicht zwangsläufig entgegen. Dies gilt jedenfalls dort, wo der Verfassungsgeber unverzichtbare Einschränkungsbedürfnisse mit Verfassungsrang ersichtlich nicht berücksichtigt hat.159 So hatte das Bundesverfassungsgericht Wie hier Giegerich (Fn. 115), Kap. 26 Rn. 44. Michael / Morlok (Fn. 95), bei Fn. 38. 157 BVerfGE 2, 266, 278; 110, 177, 192; s. dazu Ziekow (Fn. 3), S. 546 ff. 158 S. nur BVerfGE 28, 243, 261; 92, 91, 109; Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, 44. Erg.-Lfg. Febr. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 43 m. w. N. 159 Durner (Fn. 97), Art. 11 Rn. 160; s. auch Jarass (Fn. 55), Art. 11 Rn. 18; Ziekow (Fn. 83), Art. 11 Rn. 118; gegen einen Rekurs auf verfassungsimmanente Schranken bei Art. 11 GG Gusy (Fn. 87), Art. 11 Rn. 53; Heitsch (Fn. 85), S. 20 f. S. zur Frage der in Betracht kommmenden Schranken, ob neben Grundrechten auch andere Verfassungswerte herangezogen werden können, Baer NVwZ 1997, 27, 33. 155 156
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keine Bedenken, Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts Minderjähriger aus Art. 6 Abs. 2 GG und dem dort verankerten elterlichen Sorgerecht als kollidierendem Verfassungsrecht zu entnehmen.160 Je nachdem, um was für eine Planung es geht, kann sich deshalb ihre Rechtfertigung etwa aus dem Gesichtspunkt der Energieversorgung und der Sicherung von Arbeitsplätzen gerade in strukturschwachen Regionen ergeben,161 vorausgesetzt dass die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall gewahrt ist.
IV. Fazit Sechzig Jahre nach Erlass des Grundgesetzes ist immer noch nicht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt, ob Art. 11 GG ein „Recht auf Heimat“ vermittelt. Während früher die Verankerung des Freizügigkeitsrechts ein wichtiger Schritt war, um den Bürgern überhaupt den Fortzug zu ermöglichen, leben wir heute in einer durch Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft, in der die Freizügigkeit gerade wegen ihrer Gewährleistung im Grundgesetz und im europäischen Primärrecht als selbstverständlich angesehen wird. Dies führte dazu, dass man den Aspekt des Bleibens weitgehend aus dem Auge verloren hat. Angesichts der bei Erlass des Grundgesetzes in diesem Maße sicherlich nicht vorausgesehenen Entwicklungen sollte de constitutione ferenda überlegt werden, die Schrankenregelung des Art. 11 Abs. 2 GG zeitgemäß auszuformulieren und so dem Grundrecht auf Freizügigkeit mehr Griffigkeit zu verleihen.
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BVerfG NJW 1996, 3145, 3146. S. Baer NVwZ 1997, 27, 33.
Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen (Zweite Folge)1 Von Peter Häberle* Dieser Beitrag für die Festschrift Fiedler sei aus guten Gründen mit einer Skizzierung der Kunst, verfassungsrechtliche Seminare einzurichten und weiterzuentwickeln, eröffnet. Denn der Jubilar war, wie der Verfasser dieser Briefe selbst, mehr als ein Jahrzehnt Mitglied des schon legendären Freiburger Seminars von Konrad Hesse. Unvergessliche, wissenschaftliche und persönliche Erinnerungen sind damit verbunden.
I. Wissenschaftliche Seminare Wissenschaftliche Seminare auf dem Gebiet der Jurisprudenz können das „Herzstück“ der Gelehrten-Biographie eines deutschen Professors und die Lieblingsveranstaltung eines interessierten Studenten sein. (Dem Jubilar W. Fiedler zuliebe, der ein langjähriger Seminarist bei K. Hesse war, sei im Folgenden detaillierter behandelt, was in Grundlinien schon in der Ersten Folge dieser „Pädagogischen Briefe“ angedeutet ist.) Im Idealfall ereignet sich eine „Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden“ im Sinne der deutschen Universitätstradition eines Wilhelm von Humboldt. Äußere Maximen der Organisationsform sind: etwa zwanzig Teilnehmer aus verschiedenen Altersgruppen bzw. Semesterjahrgängen: vom Erstsemester über den Doktoranten bis zum Habilitanten; in jeder Sitzung sollte nur ein einziges Referat gehalten werden – Blockseminare oder Wochenendseminare dienen meist nur der Bequemlichkeit des Dozenten; das Übermaß an fünf und mehr Referaten an einem Tag überfordert alle Beteiligten; am besten ist es, wenn das Referat vorher allen Seminarmitgliedern per E-mail zugestellt wird, damit diese sich zu Hause vorbereiten * Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Geschäftsführender Direktor des Bayreuther Institutes für Europäisches Recht und Rechtskultur sowie der Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht, Universität Bayreuth. Der Jubilar war, wie der Verfasser, mehr als ein Jahrzehnt Mitglied des Freiburger Seminars von Konrad Hesse. 1 Die Erste Folge findet sich in der Gedächtnisschrift für Blumenwitz: Iustitia et Pax, 2008, S. 861 ff., die Dritte Folge wird in der FS Mendes (Brasilien) erscheinen (2010).
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können. Auf diese Weise ist das langwierige Vorlesen des dreiviertelstündigen Referates überflüssig. Notwendig wird eine so genannte „Einstimmung“. In ihr fasst der Referent seine wichtigsten Thesen zusammen; überdies kann er aktuelle, vor allem politische Bezüge herstellen oder neue (auch politische) Entwicklungen skizzieren, die nach der Fertigstellung seines Referats erfolgt sind. Im Anschluss daran empfiehlt es sich, „Fragen zum Verständnis des Referats“ zuzulassen. Auch können sich alle Anwesende an kritischen Bemerkungen zur „äußeren Präsentation“ des Referats beteiligen und kritische Fragen zur Auswertung der einschlägigen Literatur stellen. Für süddeutsche Studenten empfiehlt sich die „Einstimmung“ auch deshalb, weil sie sich im mündlichen Vortrag und gutem Hochdeutsch üben können (Hegel soll ebenso wie F. Schiller breites Schwäbisch gesprochen haben). Der Leiter des Seminars sollte vor der Sitzung (ggf. mit dem Assistenten und dem Referenten) eine Gliederung erarbeitet haben, die er am Anfang der Diskussion bekannt gibt. (Am besten an einem schwarzen Brett im Seminarraum.) Der Dozent tut gut daran, sich im Verlauf der Diskussion darum bemühen, möglichst jeden Studenten (mitunter sogar durch pädagogische „Tricks)“ zum Sprechen zu bringen und die sich abzeichnenden Gegensätze humorvoll zuzuspitzen. Mitunter empfehlen sich zum Schluss der zwei- bis dreistündigen Diskussion „Zusammenfassungen“ (so gerne und unnachahmlich von Konrad Hesse in Freiburg praktiziert, wie dies dem Jubilar W. Fiedler gewiss noch vor Augen steht). Pädagogisch sehr wirksam ist es auch, bei kontroverser Diskussion über eine Entscheidung des BVerfG förmlich „abstimmen“ zu lassen. In Glücksfällen kann sich im Ergebnis der Abstimmung sogar die Tendenz von etwaigen Sondervoten im BVerfG widerspiegeln (K. Hesse hat solche nie „gebraucht“)2. Damit ist bereits eine inhaltliche Maxime angedeutet. Ein Seminar – am besten kontinuierlich jedes Semester über Jahrzehnte hin durchgeführt und auch in sogenannten „Forschungssemestern“ nicht unterbrochen – sollte inhaltlich die ganze Bandbreite heutiger juristischer Arbeit behandeln: von der Analyse klassischer oder neuerer Entscheidungen des BVerfG, EGMR und EuGH über die Besprechung ausgewählter Monographien zu Grundsatzfragen (Dissertation oder Habilitationsschrift) bis hin zu verfassungspolitischen Fragen, etwa die kürzlich (2008) gescheiterte Diätenregelung für Bundestagsabgeordnete, die gelegentlich propagierte Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk oder die Diskussion um die öffentliche Anhörung von Richter-Kandidaten für das BVerfG. Im Zeitalter der 1983 / 1991 dargestellten Entwicklung von „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ ist es besonders wichtig, fremde nationale Rechtskulturen (ihre Verfassungen und große Judikate ihrer Verfassungsgerichte) zu behandeln. Auch wissenschaftliche Grundsatzliteratur in fremden Sprachen sollte einbezogen werden, etwa Werke von G. Zagrebelsky, J. Miranda oder F. Balaguer, auch P. Ridola. 2 Würdigungen des wissenschaftlichen Lebenswerkes von K. Hesse in: JöR 55 (2007), S. 455 ff. (P. Lerche), 57 (2009), S. 527 ff., auch vom Verf.: ZevKR 50 (2005), S. 569 ff.; AöR 130 (2005), S. 285 ff.; ZÖR 60 (2005), S. 279 f.
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Eine institutionelle Bereicherung von ständigen Seminaren lässt sich dadurch erzielen, dass zusätzlich zu den regelmäßigen Seminarterminen Wochenendseminare durchgeführt werden. In Freiburg waren dies ab 1957 bis in die 80er Jahre hinein die unvergesslichen Wochenend-Seminare auf dem „Schau-ins-Land“, in Marburg hat der Verfasser dieses Geburtstagsblattes solche intensive Seminartage in Dörnberg / Nordhessen, in Augsburg in Herrsching (Ammersee) und in Bayreuth in Mitwitz bzw. Thurnau durchgeführt (Mitglied war damals u. a. A. Voßkuhle). Solche Unternehmungen können zur einer intensiven Begegnung unter den Studenten, Assistenten und Professoren beitragen. Die Umrahmung durch ein mehr oder weniger ernstes Kulturprogramm (kleine Hauskonzerte, Sketche oder ähnliches) hat sowohl pädagogisch als auch allgemein menschlich beglückende Momente geschenkt. Sachdienlich ist in organisatorischer Hinsicht zu Beginn der Seminarsitzungen die an einen Studenten gerichtete Bitte, den Verlauf der Diskussion in einem Protokoll festzuhalten. Sowohl bei Konrad Hesse (und auch seinem Lehrer R. Smend in Göttingen) als auch in den Seminaren des Verfassers (seit 1969 in Marburg, dann Augsburg (1976 – 1981 und schließlich Bayreuth 1981 bis heute) haben sich viele Freundschaften über die Jahre hin entwickelt. Überdies sind sie eine „Probebühne“ für junge werdende Wissenschaftler bis hin zum Habilitanten. In den letzten Jahren kam es dadurch zu großen Bereicherungen, dass ausländische Gaststudenten, aber auch Gastprofessoren monatelang Mitglieder des Seminars sind (so geschehen im Bayreuther Seminar des Verfasser seit 1981 im Blick auf fast alle romanischen Länder, viele südamerikanische und manche osteuropäischen und afrikanischen). Der „pädagogische Eros“ im Sinne von Platon und das Wissenschaftsverständnis der deutschen Universität bzw. des deutschen Idealismus findet im heute zunächst auch rechtsvergleichend ausgerichteten Seminar sein schönstes Forum. Auch diesseits / jenseits des unseligen „Bolognaprozesses“ sei an diesen vielleicht altmodischen Thesen festgehalten: Weder die deutsche Universität3 noch das traditionsreiche verfassungsrechtliche Seminar darf untergehen! II. Der Lehrstuhl Was ist ein Lehrstuhl? Die Einheit des Lehrstuhls ist eine Eigenart, ja traditionsreiche Errungenschaft der deutschen Wissenschafts- und Rechtskultur. Im heutigen Ausland findet sie kaum eine Entsprechung, auch wenn z. B. Spanien das Wort „Catedrático“, Brasilien das Wort „Titular“ kennen. Freilich ist der deutsche Lehrstuhl als solcher gerade heute gefährdet, so wie die Universitätsidee von W. v. Humboldt insgesamt. In Deutschland gibt es berühmte Genealogien von Lehr3 Dazu mein „Thesenpapier aus der Provinz“: Die deutsche Universität darf nicht sterben, JZ 4 / 2007, S. 183 f. Zu den vielen Einwänden gegen „Bologna“ gehören: die drohende Verschulung, das Punktesystem, die nur äußerliche „Mobilität“ in Europa, das Korsett der Lehrpläne, vor allem aber der Verlust der Bildungsidee. S. noch FN 16.
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stühlen und Lehrstuhlnachfolgern. Beispiele sind: A. v. Campenhausen in der Nachfolge von R. Smend in Göttingen, A. Hollerbach in der Nachfolge von Erik Wolf in Freiburg. Für den angehenden Jura-Studenten stellt sich „der Lehrstuhl“ als eine personale und organisatorische Einheit von Professor, Assistenten und studentischen Hilfskräften dar: im Zeichen von Forschung und Lehre. Erste Anlaufstelle für den Studenten ist die Sekretärin, die bald als „Drachen“, bald als „Herzstück“ eines Lehrstuhls wirken kann. Innerhalb des Lehrstuhls findet eine Arbeitsteilung statt. Der Professor lehrt und forscht – im Idealfall unablässig. Die Assistenten sind einerseits verpflichtet, Anfängerkurse abzuhalten und Studenten beratend zur Seite zu stehen, andererseits müssen sie sich selbst durch Publikationen nach und nach wissenschaftlich qualifizieren. Meist arbeiten sie zunächst an ihren Dissertationen. Zur Doktorandenbetreuung durch den Professor gehört meines Erachtens auch die regelmäßige Einforderung von Gliederung und Teilen des schon Geschriebenen durch den Doktorvater. Die nicht seltene „Ausrede“ des Doktoranden, er habe im Kopf schon alles geschrieben, darf der Lehrer nicht gelten lassen. Dies gilt auch für lehrstuhlfremde Doktoranden. Die studentischen Hilfskräfte arbeiten zu: z. B. durch Anfertigen von Kopien, im optimalen Falle sogar durch kluges Auffüllen von im Umriss schon vorgegebenen Fußnoten sowie durch Korrekturlesen bei Druckfahnen (Studentinnen arbeiten hier meist genauer als Studenten). Ihrer auch fachlichen Betreuung durch den Professor insbesondere in Form von guten Ratschlägen für die Vorbereitung auf das schriftliche und mündliche Examen (auch jenseits des Repetitors) kommt ebenfalls große Bedeutung zu. Stichworte sind: das Erlernen vollständiger Fallbearbeitung im begrenzten Zeitrahmen der Examensklausur, Beratung bei der Anfertigung von Seminarreferaten, Anleitung zum täglichen Memorieren von Prüfungsschemata durch den Kandidaten bei jeder Gelegenheit (z. B. beim Rasieren oder Spazierengehen), gezielte Förderung der Schüler im Rahmen von Seminardiskussionen. Im günstigen Falle kann ein Lehrstuhl fast eine „platonische Einheit“ oder eine kleine „akademische Familie“ auch mit intensiven persönlichen Beziehungen sein (Einladungen im Hause des Professors, die freilich in der 68er Revolution oft in Frage gestellt wurden). Mitunter kommt es sogar zu gemeinsamen Kulturprogrammen, etwa dem Besuch von Konzerten und Filmen mit anschließenden Diskussionen in einem Lokal. Hier gibt es auch Überschneidungen mit der Seminarkultur. Freilich finden sich auch berüchtigte Beispiele für den Missbrauch dieser Ideale eines deutschen Lehrstuhls: Manche Lehrstuhlinhaber überfordern ihre Assistenten mit der Anfertigung von Auftragsgutachten, welche Gattung der Verfasser dieser Briefe ohnedies von Anfang an abgelehnt hat4 – das Gutachten kann eine sublime Form von Korruption sein. Auch soll es vorgekommen sein, dass einzelne Professoren manche ihrer wissenschaftlichen Publikationen (vor allem in Kommentaren) primär oder sogar ausschließlich von ihren Assistenten erarbeiten ließen. Diese 4
Dazu P. Häberle (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 30 ff.
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Ausnahmefälle müssten Gegenstand der neu gegründeten Ethik-Kommissionen an den deutschen Universitäten sein. Zuletzt ein weiteres Beispiel für Missbräuche: Manche Professoren reisen allzu gerne zu Kolloquien und Seminaren, auch während des Semesters. Dies führt dazu, dass die wissenschaftlichen Assistenten als Ersatz, sogar zuweilen wochenlang, fungieren müssen. Gewiss, das plötzliche Ersetzen des Lehrers durch seinen Schüler kann auch einen pädagogischen Sinn haben. So erinnert sich der Verfasser dieser Zeilen dankbar daran, dass H. Ehmke im Rahmen seiner Prozessvertretung in der Spiegel-Affäre (1963) ihn von heute auf morgen bat, drei Vorlesungsstunden in Freiburg zu übernehmen. Man wurde sozusagen ins „kalte Wasser“ geworfen. Auch kann die punktuelle Wahrnehmung einer Vorlesungsstunde durch einen Assistenten dann einen guten pädagogischen Effekt haben, wenn der professorale Lehrer der Stunde persönlich beiwohnt und im Anschluss mit dem jungen Assistenten über Stärken und Schwächen seiner Vorlesung berät. So hielt es der Verfasser dieser Zeilen etwa mit den später erfolgreichen Gelehrten H. Schulze-Fielitz, I. Pernice, auch A. Blankenagel, L. Michael und M. Kotzur.
III. Maximen für die Jurastudenten bzw. ihr Studium Der junge Jurist hat es am Anfang besonders schwer, weil ihm von der Schule im Gegensatz zu anderen Fakultäten wenig mitgegeben wird (die verbreitete „Staatsbürgerkunde“ genügt kaum)5. Zu Beginn sei empfohlen, dass er alle angebotenen Lehrveranstaltungen besucht, sich dann aber rechtzeitig für die seinem Temperament bzw. seiner Persönlichkeit entsprechende Lehrveranstaltung entscheidet; sich ein Semester lang durch eine schlechte Vorlesung zu schleppen, kann ihm viel Freude am ganzen Studium nehmen. Auch sollte der Student früh beginnen, „seinen Lehrer“ (bis hin zur Promotion) zu suchen und zu finden (z. B. durch aktive Mitarbeit in den Vorlesungen und Übungen sowie dann im Seminar). Die von ihm nicht besuchten Vorlesungen sollte er durch eine Doppelstrategie des Lernens ersetzen: einerseits Grundlagenliteratur z. B. zum Grundgesetz von Platon über Aristoteles, Montesquieu und die „federalist papers“ bis zu G. Radbruch, R. Smend, H. Heller, G. Dürig und K. Hesse studieren, andererseits die sog. Studienliteratur, d. h. Kurzlehrbücher wie Pieroth / Schlink, F. Hufen (2007) oder L. Michael / M. Morlok (2008) lesen. Vor allem die Semesterferien müssen der Vertiefung dienen. Empfehlenswert ist es, ganz bewusst einen Freundeskreis von gleichgesinnten Kommilitonen aufzubauen. Gleichermaßen empfohlen sei es, die Studentenverbindungen vor Ort zu „testen“: Freilich sind aus meiner Sicht die großen Traditionen der deutschen Verbindungen aus dem „Vormärz“ 1848 heute kaum 5 Ob der Student sich an der „Neubewertung“ der Jura-Fakultäten orientieren kann, sei hier offen gelassen. Aus der Lit.: Jura-Magazin Sept. / Okt. 2008. Dem beliebten „Ranking“ sind viele Vorbehalte entgegenzubringen.
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mehr zu entdecken. Stattdessen sollten die politischen Parteien nahestehenden Hochschulgruppen oder überparteilichen Hochschulgruppen wie ELSA, AIESSEC oder auch Debattiervereine „getestet“ werden. Der Student ist gut beraten, wenn er sich selbst recht frühzeitig daraufhin prüft, wo seine eigenen Begabungen liegen: etwa in der Rhetorik (Anwaltsberuf, Politiker), in der wissenschaftlichen Vertiefung (Hochschullehrer), in der praktischen konkreten Rechtsanwendung und im entschlossenen Zugriff (Anwalt, Verwaltungsbeamter), in der abwägenden Gerechtigkeitssuche (Richter), in der kritischen Recherche (Journalist). Die so genannten „Scheine“ für praktische Übungen sollten in angemessenem Zeitraum, aber nicht überhastet erworben werden (dies eröffnet die Möglichkeit zu einem Auslandsjahr nach dem 4. Semester z. B. im Rahmen von „Erasmus-Programmen“). Recht früh wird der sensible, offene und begabte Student erkennen, auf welchem der drei Rechtsgebiete seine Schwerpunktinteressen liegen könnten: der Anfänger ist meist vom Strafrecht begeistert: „lebensnahe“ Fälle, Sensationsjurisprudenz! Das Privatrecht bleibt indes das „Schatzhaus“ in Jahrhunderten gewachsener Rechtskultur mit ihren Höhepunkten im Römischen Recht. Es folgt schließlich das Öffentliche Recht, das dem Verfasser dieser Briefe naturgemäß spätestens ab dem 4. Semester die teuerste Teildisziplin seines Studiums wurde. Rechtsvergleichung ist in allen drei Teildisziplinen ergiebig, aber erst in höheren Semestern möglich. Dem jungen Studenten erscheint es viele Semester lang, als seien die drei „Fächer“ all zu sehr voneinander getrennt. In Wahrheit umfängt das Verfassungsrecht alle Teilgebiete bis hin zum Familienrecht und Erbrecht (Art. 6, 14 GG) und erst recht zum Strafrecht (vgl. Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz). Es war lange Zeit eine törichte Tradition, die dem Verfasser leider auch in Freiburg begegnete, wonach die privatrechtlichen Professoren den öffentlich-rechtlichen mit Misstrauen gegenübertraten. Es gilt besonders heute, die Propria aller drei Teilgebiete zu erkennen und zugleich ihre Zusammenhänge zu sehen. Hier könnte das jüngst erschienene Buch von O. Lepsius / M. Jestaedt „Rechtswissenschaftstheorie“ (2008) ein glücklicher Anfang sein. In den mittleren Semestern muss der Student erkennen, welchem sog. „Schwerpunktbereich“ er sich widmen will. Beispiele sind „Europäisches und Internationales Recht“, „Politik und Verwaltung“ (Würzburg) oder „Vertragsgestaltung und geistiges Eigentum (Bayreuth). Als Höhepunkt seines Studiums sollte der Student den Besuch mehrerer Seminare gestalten, s. o.
IV. Maximen für die Vorbereitung auf das 1. Staatsexamen Die Vorbereitung auf das erste Staatsexamen birgt zwei Möglichkeiten. Die seit langem nahezu „klassische“ besteht in Gestalt des Besuches eines merkantilen Repetitors, der Falllösungsschemata und mechanisch-schulmäßig die Kunst der
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Falllösung vermittelt. Dieses „Schwarzbrot“ sollte auch vom wissenschaftlich geprägten Professor nicht gering geschätzt werden. Leider können diese Lernprogramme die juristischen Fakultäten seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts offenbar nicht leisten (der ehemalige Bundeskanzler K.G. Kiesinger war zunächst Repetitor in Berlin!). Universitäre Examensklausuren reichen offenkundig nicht aus. Auf allen Wegen muss der Kandidat im Vorfeld seiner schriftlichen und mündlichen Prüfungen Folgendes lernen: das Verfolgen rechtsprechungsorientierter Zeitschriften, z. B. JURA und BayVBl., die Beachtung des politischen Alltags (anhand von abwechselnd abonnierten Tageszeitungen, wie FAZ, SZ und NZZ), der in seiner Aktualität oft zum „Aufhänger“ für die schriftliche und mündliche Prüfung wird, schließlich das Repetieren der Falllösungstechnik in freundschaftlichen Kleingruppen.
V. Lehrer-Schüler-Verhältnisse in der akademischen Welt Lehrer-Schüler-Verhältnisse im wissenschaftlichen Bereich dürften zum Schönsten gehören, was die akademische Welt bietet oder im Rückblick bot. Sie bilden eine Variante des „Generationenvertrages“, hier in der Form des wissenschaftlichen Generationenvertrages. Das politische Gemeinwesen ist fiktiv und real durch eine Vielzahl von Generationenverträge charakterisiert. Generationenverträge sind in die Zeit gedachte Gesellschaftsverträge. Klassisch bleiben die Konstruktionen von J. Locke und I. Kant, auch J. Rawls. Verfassungsentwicklungen eines Volkes können als in der Zeit fortgeschriebene Gesellschaftsverträge als Generationenverträge verstanden werden. Im Recht der Sozialversicherung wird seit langem mit der Idee des „Generationenvertrages“ gearbeitet, auch wenn hier und heute in Deutschland wohl Modifizierungen erforderlich sind (Stichwort: rechtzeitige private Teilvorsorge der älteren Generation). Der wissenschaftliche Generationenvertrag dürfte unangefochten Geltung beanspruchen: im Handwerk zwischen Meister und Schüler, auch Geselle6. In der Kunst im Rahmen von so genannten „Werkstätten“ etwa von Rubens und Rembrandt, gibt der Ältere, der Meister, dem Jüngeren sein Wissen und Können (z. B. in den Münsterbaustätten der mittelalterlichen Städte) weiter. (Man denke auch an die geheime Kunst des Geigenbaus in Cremona.) Berühmt ist das Meister-Schüler-Verhältnis zwischen Platon und Aristoteles oder Giorgione und Raffael. Zurück zur Rechtswissenschaft. Im Seminar (s. o.) kann der erste Grundstein für ein lebendiges Geben und Nehmen zwischen dem Meister und Schülern gelegt werden. Beispiele für berühmt gewordene Schulen in Deutschland sind: die Smend-Schule, zu der ein K. Hesse, H. Ehmke, P. von Oertzen und E.G. Mahren6
Man ist versucht, Parallelen zu suchen bei W. Strabo, De cultura hortorum, Reclam 2002.
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holz gehören; auch die Schule von C. Schmitt. „Schulbildungen“ werden von Außenstehenden oft belächelt, meist uneingestandenermaßen beneidet. Gewiss, sie dürfen nicht zu dogmatischen Engführungen kommen und das Wissen versteinern: so vermutlich die Kelsen-Tradition (vgl. auch die „Versteinerungstheorie“ in Österreich). Der Schüler ehrt den Meister wohl auch dadurch, dass er in dessen Geist oder darüber hinaus zu Neuem aufbricht. Der Meister muss lernen, dem Schüler beginnend bei der Dissertation und endend bei der Habilitationsschrift Stück für Stück mehr Freiheit zu geben und eine eigene Identität zu eröffnen. All diese Prozesse sind für beide Seiten nicht leicht. Es gibt schmerzhafte Beispiele in der deutschen Staatsrechtslehre dafür, dass es zu offenkundigen Entfremdungen zwischen Schüler und Meister kam. Toleranz ist gefordert. Der „Meister“ muss gegebenenfalls hinnehmen, dass seine Schüler „weiter“ sehen, nicht nur weil sie auf seinen „Schultern“ stehen. In jedem Fall muss der Meister glücklich sein, wenn der Schüler selbst zum Meister wird und vieles anders sieht. In der deutschen Staatsrechtslehre findet sich sogar ein Beispiel dafür, dass ein Doktor- / Habilitationsvater von zwei seiner Schüler weit überflügelt wurde. Umgekehrt kann es sein, dass die Schüler ihren ehemaligen Meister nie erreichen, geschweige denn überhöhen. Gerade die 68er Generation tut sich hier schwer und neigt zu gewaltsamen Emanzipationsbewegungen . . . . Der vielleicht größte Glücksfall ist es, wenn man als deutscher Staatsrechtslehrer ausländische Wissenschaftler zu Schülern gewinnt, denn von ihnen kann er seinerseits besonders viel lernen. Der Generationenvertrag wird hier zum „Rechtsgespräch“ (A. Arndt) zwischen verschiedenen Rechtskulturen. Im Kontext Europas als „werdender Verfassungsgemeinschaft eigener Art“7 mit einer Pluralität von nationalen Teilverfassungen ist dies besonders fruchtbar. Dem Verfasser war dann auch etwa fünfmal vergönnt, die von ihm mitbetreute Dissertation eines ausländischen Doktoranden, z. B. in Spanien durch Vorworte in der fremdsprachigen Druckfassung zu eröffnen8. In diesem Sinne sind individuelle und wissenschaftliche Generationenverträge Vehikel für die Entwicklung des Verfassungsstaates in Raum und Zeit. Neben den schon erwähnten Verbindungen und Bindungen zwischen einem R. Smend und K. Hesse sind weitere zu nennen, etwa die schöne Brücke zwischen H. Krüger und T. Oppermann. H. Heller in der Weimarer Zeit ist solches wegen seiner Emigration bzw. seines frühen Todes in Madrid (1934) nicht vergönnt gewesen. C. Schmitt scharte einen großen Schülerkreis um sich, der sich freilich mit dem Wort von M. Stolleis in den 90er Jahren parodieren ließ: „die Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 209 ff. Vorwort (Prólogo) zu José María Porras Ramírez, El conflicto en defensa de la autonomía local ante el Tribunal Constitucional, Madrid, 2001, S. 9 – 18; Vorwort zu José Antonio Montilla Martos, Minori politica y Tribunal Constitucional, Madrid, 2002, S. 11 – 13; Vorwort zu M. Azpitarte, Cambiar el Pasado, 2008, S. 15 – 17; Vorwort zu Enrique Guillén López, El Cese del Gobierno y El Gobierno en Funciones en el Ordenamiento Constitucional Español, 2002, S. 17 f. 7 8
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Jünger am leeren Grabe . . .“. Der Verfasser dieser Zeilen suchte das Ideal des Lehrer-Schüler-Verhältnisses vierzig Jahre lang zu verwirklichen, wobei er als „spätes Glück“ die Verbindungen zu ausländischen jungen Gelehrten empfindet (etwa zu M. Azpitarte in Granada, und H. Bofill in Barcelona, jüngst auch zu C. Amaral in Brasilia). Als Pädagoge muss man den Schüler zunächst fordern und ihn ein Stück besser sehen, als er ist (pädagogischer Optimismus). Durch eine pädagogische List wird er dann auch im Laufe der Zeit tatsächlich besser. Die Ausbildung – und Bildung – umfasst die Vermittlung der älteren Literatur, insbesondere der Klassiker9, weil die heutige Nachwuchsgeneration der jungen Professoren dazu neigt, nur noch die Literatur zu zitieren, die in den letzten sechs Jahren entstanden ist. Leidvolle Beispiele des Verfassers dieser Zeilen seien selbstironisch genannt: Die frühe Theorie zum „Religionsverfassungsrecht“ (DÖV 1976, S. 73 ff.) oder die wohl erstmalige verfassungstheoretische Konzeption des Generationenvertrags (FS Zacher, 1998, S. 215 ff.) wird in der heutigen Literatur schon nicht mehr berücksichtigt.10 Die professorale Anregung zur breit gestreuten Publikation der Schüler in möglichst vielen Literaturgattungen gehört hinzu (von der Rezension über den Grundlagenaufsatz bis zur Rechtsprechungsanmerkung). Für Festschriftenbeiträge 11 ist es naturgemäß noch zu früh. Ein pädagogischer Glücksfall kann es sein, wenn der Lehrer am Erarbeiten eines Beitrages verhindert ist und er den Schüler kurzfristig als „Ersatzautor“ benennt. Nicht zu unterschätzen ist die Vermittlung von handwerklichen Techniken wie korrektes Zitieren12, pluralistische Literaturauswahl, stilistische Kunst und transparenter Aufbau, persönliche Glaubwürdigkeit. Freilich können Lehrer-Schüler-Verhältnisse auch gefährdet sein. Der Lehrer selbst sollte lernen, im Laufe der Zeit dem Schüler immer mehr innere und äußere Freiheit zu geben. Er muss ihn Schritt für Schritt buchstäblich „loslassen“. Im Glücksfall kann die Überführung in „gleichberechtigte“ Freundschaftsverhältnisse gelingen. Der Lehrer muss bereit sein, nun seinerseits Kritik des dann „ehemaligen Schülers“ entgegen zu nehmen. Es gibt schmerzhafte Beispiele dafür, dass es zu einem Bruch zwischen Lehrer und Schüler in der deutschen Staatsrechtslehre gekommen ist. Zu hohe Erwartungen einerseits, Undankbarkeit andererseits können Gründe sein. Es gibt Fälle dafür, dass große Forscher keinen einzigen guten Schüler hervorgebracht haben. Umgekehrt finden sich aber auch Beispiele dafür, dass durchschnittliche Forscher vorzügliche Schüler zu akademischer Reife geführt haben. Dazu allgemein: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Vgl. die Beiträge zur Erlanger Staatsrechtslehrertagung 2008 in DVBl. 2008: C. Walter, Religiöse Freiheit als Gefahr, S. 1073 ff., sowie M. Schuler-Harms, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, S. 1090 ff. 11 Zu dieser Literaturgattung vergleichend mein Beitrag: Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff. 12 Zum Teil hilfreich: T. Walter, Kleine Stilkunde für Juristen, 2003. S. auch B. Sharon / M. Lehmann, Zitierfibel für Juristen, 2007. 9
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Assistenten können in besonderer Weise dadurch gefördert werden, dass der Lehrer sie auf wissenschaftliche Reisen mitnimmt. Vorbildlich war hier J. Esser in Tübingen, auch K. Hesse dem Verfasser dieser Briefe gegenüber in den 60er Jahren (z. B. Reise zum schweizerischen Juristentag in Genf 1969). Besonders hilfreich ist es, wenn der Professor seinem Schüler bei wissenschaftlichen Auslandreisen zur rechten Zeit die Gelegenheit gibt, ebenfalls einen Vortrag zu halten (Beispiele aus der „Werkstatt“ des Verfassers dieser Zeilen sind: M. Kotzur in Granada, 2000 / 2002, und M. Azpitarte in Brasilia, Porto Alegre und Rio, 2008.)
VI. Forschung und Lehre als zusammengehörige Direktiven für Lehrveranstaltungen aller Art Das Grundgesetz nennt diese beiden Begriffe in denkbar glücklicher Weise in einem Atemzug (Art. 5 Abs. 3 S. 1). Entstehungsgeschichtlich spielt das deutsche Universitätsideal von W. von Humboldt (seit 1810) eine prägende Rolle. Hinzuzunehmen ist das wirkmächtige Wort von F. Paulsen und R. Smend13 (1927): „Das Grundrecht der deutschen Universität“. Die gute Forschung von heute ist die Lehre von morgen! Umgekehrt kann der gute Lehrer im beglückenden Moment der Vorlesung auch plötzlich selbst zu neuen wissenschaftlichen Ergebnisse gelangen. Unsäglich und unselig sind die jüngsten Pläne in Deutschland, reine Lehrprofessuren einzurichten, zugleich dann reine Wissenschaftsprofessuren. Der auf die Lehre reduzierte Professor, der ausschließlich fremde Forschungsergebnisse gleich dem Repetitor vorträgt („Fachhochschule“!), entspricht nicht dem Bild der „Einheit von Forschung und Lehre“ der deutschen Tradition. Gewiss, auch der „klassische Professor“ soll nicht nur seine eigenen Forschungsergebnisse vortragen, sondern gemäß dem Gebot des Pluralismus und der Fairness auch fremde Lehrmeinungen und Paradigmen seinen Studenten vermitteln. Diese zugegebenermaßen idealen Postulate gelten in differenzierter Weise für Lehrveranstaltungen aller Art. Zwar steht das Seminar als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden an höchster Stelle der Einheit von Forschung und Lehre. Doch auch die klassische Vorlesung kann Forschung und Lehre miteinander verbinden. In der dritten Kategorie von Lehrveranstaltungen im Studium der Rechtswissenschaften in der so genannten „kleinen“ und „großen“ Übung steht die Lehre, vor allem bei der Falllösung, im Vordergrund. Doch auch in auf Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Landesverfassungsgerichte beruhenden Fällen ist ohne weiteres erkennbar, dass selbst in der Übung Forschung und Lehre unverzichtbar zusammengehören. Man denke an das Mauerschützenurteil des BVerfG mit seiner Berufung auf die Radbruch’sche Formel (E 95, 96, (134 f.)).
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R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1927), S. 44 (57 ff.).
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VII. Ratschläge für eine Promotion Gute Dissertationen, zumal im öffentlichen Recht, gleichen „Gesellenstücken“. Wichtig ist, dass der Doktorvater das Thema nicht etwa aus dem Reservoir eigener Forschungspläne schöpft, sondern ein auf den Doktoranden, dessen Persönlichkeitsprofil, dessen Möglichkeiten und Grenzen zugeschnittenes Thema vorschlägt. Gewiss, der Doktorand sollte sich mit den bisherigen Schriften des Doktorvaters vertraut machen, doch darf er unter Anleitung eigene Wege suchen und gehen (Ermutigung zu kritischem Denken und konsequenten Argumentieren). Der Verfasser dieser Zeilen arbeitete 40 Jahre lang mit zwei Möglichkeiten: entweder er ließ den Doktoranden autonom ein Thema suchen oder er bot ihm eines oder mehrere Themen an. Unerlässlich ist die regelmäßige Kontrolle des Fortschreitens der Arbeit durch Vorlagen von Gliederungen und Zwischenberichten. Manche Doktoranden glauben nur zu gerne, sie hätten schon alles „im Kopf“; gerade sie muss man zwingen, mit dem Schreiben früh zu beginnen, da sich viele Probleme erst im Schreiben zeigen. Die Parallele zu H. von Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ liegt nahe. Der „Doktorvater“, und dieses schöne Wort ist entgegen der 68er Tradition ernst zu nehmen – heute allenfalls durch die „Doktormutter“ zu ergänzen –, sollte eine Mischung von Ermutigung und Kritik bei der Begleitung dieses mindestens 18monatigen Weges suchen. In unseren Tagen des Aufstiegs der Vergleichenden Verfassungslehre, zumal nach dem „annus mirabilis“ 1989, empfiehlt es sich, entsprechend der etwaigen Themenwahl dem Doktoranden einen Auslandsaufenthalt zu verschaffen, der nicht notwendig mit einem formalen Abschluss z. B. Master of Laws kombiniert sein muss. Der Doktorand ist gut beraten, die Arbeit auch stilistisch in gutem Deutsch zu verfassen – hier können Eltern oder etwaige Freundinnen „auf Zeit“ gute Dienste leisten. Der Doktorvater sollte Selbstkritik des jungen Wissenschaftlers an den eigenen Thesen nicht abkappen, sondern gegebenenfalls ermutigen. Er muss vor allem Freiraum für „Kühnheiten“ lassen. So ist dem Verfasser unvergesslich, wie sein großer Lehrer K. Hesse 1960 ihn ermutigte, die damals neue These von der Ausgestaltungsbedürftigkeit aller Grundrechte zuzuspitzen mit dem Satz: „Eingriffe sind rechtswidrig!“14. Es gehört zum guten Stil eines intakten Betreuungsverhältnisses, dass der verantwortliche Doktorvater den Dissertationsentwurf seines Schützlings möglichst rasch begutachtet bzw. korrigiert (innerhalb von 3 Monaten nach der Abgabe!). Unabhängig von der verwaltungs- und disziplinarrechtlichen Seite dieses Problems ist es ungehörig, wenn manche Kollegen Berge von Doktorarbeiten mehr als zwei Jahre liegen lassen . . . . Die mündliche Doktorprüfung („Rigorosum“) stellt eigene Probleme. Ihr Verfahren ist je nach Universität in Deutschland verschieden geregelt. In Freiburg 14 Kritik des Eingriffs- und Schrankendenkens bei P. Häberle, in: „Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG“, 1. Aufl. 1962, S. 145 ff. u.ö. (3. Aufl. 1983, S. VII).
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musste man 1961 drei Fächer plus einer Digestenexegese bewältigen. Das Bayreuther Modell ist fast ideal: Der Doktorvater prüft aus der schriftlichen Arbeit, der Koreferent schließt daran an, und ein dritter Professor prüft aus dem Wahlfach des vom Kandidaten gewünschten Gebietes, wie z. B. der Rechtsgeschichte. Bekanntlich bleibt es nicht selten bei „Dissertationsdrucken“ als Veröffentlichungsform. Dem Doktorvater wie dem Doktoranden selbst sollte jedoch die wissenschaftliche Schrift ein solches Anliegen sein, dass gemäß der hohen Note (etwa „magna cum laude“ oder „summa cum laude“) die Publikation in einem angesehenen Verlag möglich wird (etwa beim Verlag Duncker & Humblot in Berlin in dessen Reihe „Schriften zum Öffentlichen Recht“). Einer altmodischen, aber doch wohl schönen Tradition gemäß sollte nach dem Rigorosum ein kleine Feier im engsten Kreis stattfinden: Die Eltern sollten beim symbolischen Aufsetzen eines alten (vom Verfasser seit Marburg 1969 aufbewahrten) Doktorhutes ebenso zugegen sein wie Referent und Koreferent der Arbeit, gegebenenfalls auch künftige Ehefrauen oder Ehemänner oder gar schon vorhandene Kinder (nur ganz selten ist es dem Verfasser dieser Zeilen als Betreuer geglückt, einen „späten“ Doktoranden zum Erfolg zu führen, obwohl dieser bereits in der Praxis nach dem zweiten Staatsexamen tätig war und / oder eine Familie begründet hatte). Hier empfiehlt sich listigerweise ein Pakt mit der Ehefrau des Doktoranden – solches ist dem Verfasser zweimal geglückt.
VIII. Ehrendoktorate Für junge Verfassungsjuristen ist es nicht nur eine Frage der Neugier, wie eigentlich die Prozeduren der Gewinnung bzw. Verleihung von Ehrendoktoren im Deutschland von heute verlaufen. Unterscheiden lassen sich – bei aller Intransparenz der Verfahren – drei Gründe, die eine Juristenfakultät veranlassen können, einem Kollegen einen Ehrendoktor zu verleihen: a) die wissenschaftliche Leistung, b) Verdienste um den Aufbau einer Fakultät (besonders häufig nach der Wende 1989 / 90 im Blick auf die neu gegründeten ostdeutschen Jurafakultäten, c) Verleihung von Ehrendoktorwürden an ehemalige und – noch schlimmer – amtierende Politiker (für Letzteres gibt es das unglückliche Beispiel der Verleihung eines naturwissenschaftlichen Doktors an den seinerzeitigen Bundeskanzler G. Schröder in Göttingen). Anderes mag im Blick auf ausländische Ehrendoktorate für Politiker gelten: so erhielt Bundeskanzler H. Kohl zahlreiche (ca. 20) Ehrendoktoren auch in Übersee, Bundespräsident R. Herzog erhielt den Ehrendoktor der berühmten Universität Bologna. In letzter Minute abgewendet wurde vor etwa fünf Jahren die geplante Ehrenpromotion von Rußlands Staatspräsidenten W. Putin an der Hamburger Universität, Ähnliches widerfuhr G. Schröder in Bayreuth.
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Gegen die Ehrung ehemaliger Politiker ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Auszeichnung amtierender Politiker. So erhielt in Bayern vor etwa 15 Jahren der damalige bayerische Wirtschaftsminister einen Ehrendoktor der Universität Bamberg. Bewegend kann es sein, wenn ein Schüler, der mittlerweile selbst etabliert ist, seinem akademischen Lehrer einen Ehrendoktor vermittelt (so geschehen in Würzburg im Falle D.H. Scheuing bzw. O. Bachof (1989)). Bekannt ist, dass manche Fakultäten bzw. Universitäten grundsätzlich keine Ehrendoktorate vergeben (so die Juristenfakultät in München). Andererseits gibt es Fakultäten, die recht gerne Ehrendoktorate verleihen. Leider kommt es mitunter zu verschwiegenen Formen der Korruption: Gemeint ist das „Geben und Nehmen“ von Ehrendoktoraten zwischen zwei Fakultäten. Solche Fälle sind in Deutschland nicht ganz selten. Für den klassischen Staatsrechtslehrer ist ein Ehrendoktor die vielleicht schönste Auszeichnung. Sie wird in den geisteswissenschaftlichen Fächern eher erst am Ende eines Gelehrtenlebens möglich und glaubwürdig. Anderes mag für die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Disziplinen gelten, in denen die wissenschaftlichen Höhepunkte schon früher erreichbar bzw. erreicht sind. Speziell die Gelehrtenbiographien in der Geschichtswissenschaft zeigen, dass der Professor und sein wissenschaftliches Werk erst im Alter ausgereift sind. Das Zusammenwachsen Europas eröffnet neue Horizonte, auch im Blick auf Ehrenpromotionen. So gibt es Beispiele dafür, dass italienische Gelehrte in Spanien ausgezeichnet werden oder deutsche in Griechenland, Spanien und Portugal.
IX. Zugang zu Stipendien Für junge Jurastudenten stellt sich das Stipendienwesen als undurchschaubarer Dschungel dar. Die Möglichkeiten von Stipendien bzw. Mitgliedschaften in Stiftungen sind im heutigen Deutschland um so wichtiger, als manche Bundesländer Semestergebühren wieder eingeführt haben.15 Im Folgenden sei ein knapper Überblick über die Begabtenförderung heute unternommen. „Hochbegabtenförderung“ ist die Studienstiftung des Deutschen Volkes sowie wohl das Cusanus-Werk sowie Villigst. Eine glückliche Einrichtung sind die parteinahen Stiftungen, d. h. die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU), die (wohl älteste) Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD), die Hanns-Seidel-Stiftung (CSU), die FriedrichNaumann-Stiftung (FDP), die Heinrich-Böll-Stiftung (GRÜNE). Es gereicht jeder Stiftung zur Ehren, dass die von den Professoren vorgeschlagenen Kandidaten nicht primär nach ihrer parteipolitischen Orientierung hin ausgewählt werden, sondern in strengen Verfahren durch Fragen nach politischer Allgemeinbildung, Interessen über das Studium hinaus, Interesse am Studium selbst, bisherigen Studien15
Vgl. auch BVerfGE 108, 1 ff.
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leistungen und Abitursnote ausgewählt werden. Der Wettbewerb ist groß, die verlangten Leistungen und Ansprüche sind ebenfalls weit überdurchschnittlich. Alle deutschen parteinahen Stiftungen, aber auch die überparteilichen, vergeben nicht nur „Büchergelder“, sondern unterstützen auch Auslandsaufenthalte und stellen ideelle Förderung bereit (z. B. durch Seminare). Alle parteinahen Stiftungen zeichnen sich durch intensive Kontakte zu fremden Ländern und Kontinenten aus. Ungemein fruchtbar wirkt z. B. die Konrad-Adenauer-Stiftung (von Montevideo aus). Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellt viele wissenschaftliche Verbindungen nach Osteuropa her. Die SPD in Verbindung mit der „FES“ leistete Geburtshilfe für den ANC bzw. die südafrikanische Verfassung in den 90er Jahren. Dem jungen Verfassungsjuristen sei nahe gelegt, seiner Stiftung lebenslang die Treue zu halten, auch wenn er später zu „Amt und Würden“ gelangt ist.
X. Summer Schools Summer Schools sind eine vor allem in den letzten Jahren fast weltweit verbreitete Lehr- und Wissenschaftsform. Hierbei gibt es folgende Typen: Sie können Teil des regulären Ausbildungsprogramms im Bachelor- oder Master-Studienprogramms sein.16 Das Ziel ist die Reduktion der Semesterzahl und die Verkürzung der Studienzeit. Die Summer School kann zur themenbezogenen Veranstaltung mit Seminarcharakter werden. Sie wird teils von nur einer Universität veranstaltet, teils von mehreren in Kooperation. Zu ihren Zielen gehören: der interuniversitäre und internationale Austausch (wichtig angesichts des weltweiten Wirkungszusammenhangs der Verfassungsstaaten), die Bewährung von Fremdsprachenkenntnissen, die Vertiefung in einen speziellen Schwerpunktbereich, die Vorbereitung eines längeren Auslandsstudiums, der Austausch zwischen unterschiedlichen Ausbildungsund Universitätssystemen. Die Summer School wird so im Idealfall Teil des so genannten „Ausbildungsmarktes“, freilich oft exklusiver Privatuniversitäten mit hohen Kursgebühren. Beispiele aus der jüngsten Zeit sind die Kooperation zwischen Leipzig und Miami, die Summer Schools amerikanischer Elite-Universitäten und die Summer Schools in Europa für lateinamerikanische Zielgruppen, in China im Rahmen von Völkerrechtsprogrammen. Ein Wort zur Infrastruktur: Summer Schools werden gerne bei Partneruniversitäten an attraktiven Orten durchgeführt (ähnlich den beliebten Außenministertreffen etwa in Rapallo oder Genf). Beispiele sind die Programme der Duke-University in den USA, andere in Brüssel, Genf und Hongkong (das der normale Europäer ebenso wie Rio de Janeiro nur aus manchem 16 Zu „Bologna“ vgl. meinen kritischen Beitrag „Die deutsche Universität darf nicht sterben, zehn Thesen aus der Provinz“, JZ 2007, 183 f., in portugiesischer Übersetzung, in: direito e justiça, 2007, Curitiba (Brasilien), S. 12; englische Übersetzung in: Stellenbosch Law Review, 2007, Vol. 18 No. 1, S. 3 – 5. – Aus der Lit. zuletzt C. Schäfer, „Bologna“ in der Juristenausbildung? – Das Mannheimer Modell eines LL.B.-Studiengangs, NJW 2008, 2487 ff.; J. Nida-Rümelin, Der Bachelor-Bankrott, SZ vom 2. / 3. Oktober 2008, S. 56.
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James-Bond-Film kennt). Durchgeführt werden die Summer Schools an besonderen Instituten, die eine spezielle Infrastruktur bereithalten. (Musterbeispiel ist das kroatische Dubrovnik International University Institute, von dem Verfasser dieser Zeilen und Prof. M. Kotzur 2006 und 2008 dank Prof. Z. Posavec (Zagreb) in Anspruch genommen.) Summer Schools werden auch bei internationalen Organisationen durchgeführt (Beispiel: The Hague Programme an der „Hague Academy“). Die vorbildlichen Moot-Court-Veranstaltungen (nachgestellte Gerichtsverhandlungen) seien als Merkposten eigens erwähnt.
XI. Freud und Leid eines Herausgebers Der Verfasser dieser Briefe hat einige Erfahrungen als Herausgeber, teils im Rahmen des AöR zur gesamten Hand, teils als alleiniger Herausgeber des JöR seit 1983. Er hat seine Aufgabe stets als Teil eines kulturellen Generationenvertrages verstanden. Entsprechend groß waren und sind die Herausforderungen, Chancen und Maßstäbe, auch Defizite. Auch Jahrbücher kommen in die Jahre. Ihre Literaturgattung hat sich zunehmend verbreitet, zum Teil bereichert (im Ausland ist renommiert: z. B. das von L. Favoreu begründete Annuaire International de Justice Constitutionnelle, zuletzt XXIII 2007, s. auch Anuario de Derecho Constitucional Latinoamericano, 14. ° año 2008). Neue Jahrbücher nehmen sich in Deutschland vor allem neuer Spezialgebiete, etwa zum Umweltrecht an. Manche vierteljährlich erscheinenden Zeitschriften machen dem JöR auf nicht wenigen Feldern „Konkurrenz“. Das kann für alle Beteiligten ein Vorteil sein, sofern der sog. „Markt“ nicht machtbedingte Verzerrungen mit sich bringt, die dem Pluralismuskonzept bzw. der offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten (auch Autoren) schaden. Bei all dem dürfte das Jahrbuch wegen seiner langfristigen Konzeption und Komposition in der Vielfalt der Literaturformen aber seinen Platz behalten, auch wenn oder gerade weil das Zeitschriftenwesen immer kurzatmiger wird. Der Herausgeber bzw. Verfasser dieses Briefes sucht dem durch den kontinuierlichen Aufbau eines weltweit orientierten „Netzes“ von regelmäßigen und ad hoc gebetenen Mitarbeitern zu entsprechen, deren konzeptionelle Unterschiede bewußt gefördert wurden. Dabei kann er naturgemäß keine „Repräsentativität“ für die Verfassungsentwicklung aller Länder der „Welt des Verfassungsstaates“ beanspruchen, so sehr er sich bemühte, nach und nach viele Stimmen der Völker respektive Verfassungen hörbar bzw. sichtbar werden zu lassen: in Texten und Kommentaren. Der kulturwissenschaftliche Ansatz wies ihm dabei so manchen Weg; dieser fand und findet besonderes Echo in den romanischen und lateinamerikanischen Staaten, zunehmend auch in Japan und Korea, zuletzt in Osteuropa, auch Südafrika. Ein Grund dürfte in der durch ihn ermöglichten Entwicklung eigener Identität sein, trotz aller Rezeption von Texten, Theorien und Judikaten.
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Konnte 1983 an die Grundstruktur des JöR von G. Leibholz (JöR 1 (1951) bis 31 (1982)) bis heute angeküpft werden, so wurde es indes Zeit, sich behutsam an neue Literaturgattungen bzw. Rubriken zu wagen, denn nicht nur die Generationen und Menschen, Verfassungen und Gesetze, auch die Jahrbücher altern. Mitunter können sie jedoch neue „Jahresringe“ ansetzen. Alle sieben Jahre sollte ein sichtbarer Innovationsschub glücken. In diesem Sinne sind die neuen Rubriken „Richterbilder“ (seit Bd. 32 (1983), zuletzt 48 (2000)), „Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“ (seit Bd. 32 (1983); s. auch 36 (1987)) und später „Europäische Staatsrechtslehrer“ (seit Bd. 44 (1996), zuletzt JöR 49 (2001)) sowie „Internationale Staatsrechtslehrer“ (seit Bd. 57 (2009)) zu verstehen. Selbst bei langfristiger, vom Herausgeber den Zeitraum von jeweils vier Jahren umfassender Planung können sie indes nicht Band für Band erscheinen (zu groß sind die „Wechselfälle des Lebens“). Andere Literaturgattungen wie Rechtsprechungsberichte konnten nur vereinzelt (vgl. z. B. JöR 42 (1994)), andere wie Berichte „Vom Staatsleben“ (vgl. die Tradition in JöR alte Folge, z. B. Bd. XIII (1925): F. Poetzsch) mangels Autoren bis jetzt gar nicht gepflegt werden. Auf einen Rezensionsteil bzw. die Rezensionsabhandlung wird bewußt verzichtet (Ausnahme: Bd. 42 (1994)), obwohl sie im Blick auf das Ausland ein Desiderat bleiben (thematisch gebündelte, etwa eine Dekade umfassende Literaturberichte je nach den einzelnen nationalen Rechtskulturen). Inhaltlich wurden und werden Schwerpunktbände langfristig geplant und veröffentlicht. Der erste galt im Blick auf ein Jubiläumsjahr der „Werkstatt Schweiz“ (JöR Bd. 40 (1991 / 92)), fortgeführt aus Anlaß der mustergültigen Totalrevisionen vieler Kantonsverfassungen und dann auch der nBVSchweiz 2000 (zuerst JöR 34 (1985); später 48 (2000), zuletzt JöR 57 (2009)). Der zweite Schwerpunktband widmete sich Frankreich im Blick auf das Jahr 1789 (vgl. JöR 38 (1989)). Das „annus mirabilis“ 1989 war es glücklicherweise, das eine fünfteilige Dokumentation der Verfassungsentwicklungen in Osteuropa ermöglichte, die dem Herausgeber hinsichtlich der Beschaffung von Dutzenden von Verfassungsentwürfen äußerste Anstrengungen abverlangte (JöR 43 (1995) bis JöR 46 (1998)). Leichter war die Beschaffung der rund 40 Entwürfe und endgültigen Verfassungstexte aus den neuen deutschen Bundesländern (JöR 39 (1990) bis JöR 43 (1995)). Da der Herausgeber hier (in Deutschland) wie dort (in Osteuropa) beratend tätig war (vgl. JöR 43 (1995), S. 134 – 183), gelang mancher „Fischzug“ vor Ort, zumal sich damals das Internet noch nicht so stark etabliert hatte wie heute. Der nächste Schwerpunkt, die europäische Einigung als „andere Seite“ der deutschen Einigung, konnte nicht in einem Band, er mußte und muß noch kontinuierlich angelegt werden: gemäß den „trial and error“-Verfahren in der Entwicklung der europäischen Verfassung. Gezielt begonnen wurde damit in JöR 32 (1983), dort auch bereits zum „Gemeineuropäischen“ (S. 9, 16 f. 25 f. mit Anmerkung 68), sodann in Bd. 44 (1996), 48 (2000), zuletzt JöR 57 (2009) und 49 (2001). Die Eröffnung des Bayreuther Instituts für Europäisches Recht und Rechtskultur (November 1999) konnte in JöR 49 (2001) dokumentiert werden. Das Jubiläum „Sechzig Jahre Grundgesetz“ wird 2009 / 10 / 11 in drei Folgen mit prominenten Stimmen auch aus dem Ausland gefeiert.
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Dem Geist von G. Leibholz gemäß wurde die Entwicklung des Landesverfassungsrechts in (West)Deutschland kontinuierlich weiterverfolgt (vgl. etwa JöR 36 (1987); 45 (1997)). Darauf folgte in Band 51 (2003) ein das ganze Deutschland in allen seinen Ländern umgreifender Schwerpunkt. Das JöR ist wie jede Wissenschafts- und Literaturgattung auf eine hohe Rezensionskultur bzw. „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft“17 angewiesen. „Spitze Federn“ sind erwünscht, sofern sie zugleich dem um Kontinuität und Innovation ringenden Informationsgehalt der Bände gerecht zu werden versuchen. Der Herausgeber weiß sich manchen (auch verstorbenen) Rezensenten dankbar verbunden. Das Jahrbuch soll auch als Forum für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem In-, vor allem auch Ausland, dienen. Der Herausgeber und Verfasser dieses Briefes hofft, auch in den kommenden Jahren so manche „Entwicklungen des Verfassungsrechts“ einfangen zu können, um Texte und Kontexte, alte und neue Klassikertexte von nationalen und regionalen Verfassungen so zu erschliessen, daß sich Wort und Tat von der „Rechtsvergleichung als kultureller Verfassungsvergleichung“ (1982), der Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung (1979) und der „Rechtsvergleichung als ,fünfter‘ Auslegungsmethode“ (1989) weltweit bewähren können. Vielleicht kann dieser „Brief“ den Jurastudenten (vgl. schon JöR 50 (1992), S. V f.) etwas Einblick gewähren in die oft recht mühselige, aber doch auch schöne Verantwortung eines Herausgebers. Dieser leidet nur dann, wenn die Autoren ihre Manuskripte nicht rechtzeitig liefern oder wenn er schlechte Beiträge ablehnen muss (daraus können freilich lebenslange Feindschaften entstehen). W. Fiedler – der Jubilar – braucht diesen Brief selbst aktuell nicht, vielleicht frischt er bei der Lektüre manche eigene Erfahrungen auf (er diente als AöR-Assistent in Freiburg bei K. Hesse in den 70er Jahren mit großer Hingabe). Sein Heidelberger Staatsrechtslehrerreferat „Staat und Religion“ (VVDStRL 59 (2000), S. 199 ff.) war ein Höhepunkt in seinem Schaffen. Die Gründung des Saarbrücker Instituts für internationalen Kulturgüterschutz bleibt eine Pionierleistung deutscher Forschung (dazu der Jubilar, z. B. in JöR 56 (2008), S. 219 ff.).
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Dazu der vom Verf. betreute gleichnamige Band von 1992.
Die geistigen Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips Von Josef Isensee* I. Inhalt und Sinn des Subsidiaritätsprinzips Wie alle wirkmächtigen politischen Ideen entzieht sich die Idee der Subsidiarität einer trennscharfen Definition. Sie strahlt aus auf unterschiedliche soziale Beziehungen und zeigt immer weitere Facetten.1 Wer ihre Sinnidentität erschließen will, tut gut daran, sich ihren geistigen und geschichtlichen Quellen zuzuwenden. Wie das klassische Leitbild der Gewaltenteilung in Montesquieus „De l’esprit des lois“ zu finden ist, so das Urbild der Subsidiarität in Papst Pius’ XI. Enzyklika „Quadragesimo anno“. Das Lehrschreiben aus dem Jahre 1931 bringt zwar in der Sache nicht schlechthin Neues. Es schöpft aus kirchlicher wie weltlicher Tradition. Aber ihm gelingt die klassische Formulierung. Es bringt die Sache auf den Begriff. An diesem entzündet sich die politische Diskussion. Von ihm geht die Weltwirkung des Subsidiaritätsprinzips aus: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Gemeinwesen unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“2 Das Subsidiaritätsprinzip regelt die Verteilung und Ausübung der Zuständigkeiten3 in einem Gemeinwesen mit mehreren Handlungsebenen, so innerhalb der * Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Institut für Öffentliches Recht, Bonn. 1 Zur heutigen Diskussion des Subsidiaritätsprinzips Jirí Georgio (Hg.), Princip Subsidiarity v Práoní Teorii a Praxi. Grundsatz der Subsidiarität in der Rechtstheorie und Praxis, Cevro Institut Prag o. J. (2007). Weit. Nachweise: Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 22001. 2 Enzyklika „Quadragesimo anno“ vom 15. Mai 1931, in: AAS XXIII (1931), S. 177 (203), n. 78 – 80. 3 Zu den Kategorien der Aufgabe und der Zuständigkeit (Kompetenz): Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: ders. / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. IV, 32006, § 73 Rn. 12 ff., 19 ff., 27 ff.
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Europäischen Union zwischen den supranationalen Institutionen und den Mitgliedstaaten, innerhalb des Nationalstaates zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten, zwischen Staatsverwaltung und Selbstverwaltung, zwischen Staatsorganisation und freier, sich selbst organisierender Gesellschaft. Das Prinzip setzt eine hierarchische Gliederung voraus, die auf der Vertikalachse als höher oder niedriger, auf der Horizontalachse als weiter oder enger erscheinen kann. Die verschiedenen Handlungsebenen bilden eine Solidareinheit. Alle tragen gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwohl. Sie haben seinen Anforderungen arbeitsteilig Genüge zu tun. In gewissem Maße können sie einander substituieren. Die höhere Ebene kann die Aufgaben der unteren übernehmen und umgekehrt. Nur soweit die Ebenen einander ersetzen können, in einem System konkurrierender Zuständigkeiten, greift das Subsidiaritätsprinzip ein, nicht aber, soweit der einen Ebene ausschließliche, unvertretbare Zuständigkeiten zugewiesen sind. Wo virtuelle Konkurrenz in der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben herrscht, löst das Subsidiaritätsprinzip die Konkurrenz auf und leitet die Energien in gemeinwohlgerechte Bahnen. Der Vorrang im Handeln kommt der jeweils unteren Ebene zu. Die obere steht unter Rechtfertigungszwang, wenn sie eine Aufgabe an sich zieht, dahin, daß sie den Erfordernissen des Gemeinwohls besser und wirksamer genügen könne als die untere. Die obere Einheit darf ihren Handlungsraum auf Kosten der unteren Einheiten nur ausdehnen, wenn und soweit Belange des Gemeinwohls es erfordern und der unteren nicht unverhältnismäßige Nachteile entstehen (Übermaßverbot). Was aber, wenn sich zeigt, daß selbst die höchste Ebene des nationalstaatlichen Systems den Aufgaben, die es heute zu bewältigen hat, nicht mehr gewachsen ist? Nun erfordert das Subsidiaritätsprinzip, daß der Staat sich um zwischen- und überstaatliche Lösungen bemüht und gegebenenfalls mitwirkt, entsprechende neue Handlungsebenen zu schaffen. So kann die Europäische Union nicht nur ihre Kompetenzen, sondern auch ihre Existenz als Kompetenzträger mit dem Subsidiaritätsprinzip begründen, aber eben auch nur in dem Maße, in dem sie die Aufgaben besser und wirksamer erfüllen kann als die Mitgliedstaaten. In allen seinen Funktionen erweist sich das Subsidiaritätsprinzip als doppelwirksam: es begründet die Verteilung wie die Ausübung von Kompetenzen, und es begrenzt sie. Seiner Geltung nach ist das Subsidiaritätsprinzip ethisches Gebot. Als solches strebt es dahin, sich rechtlich zu verfestigen und sich so zum Rechtsprinzip zu entwickeln. Darüber hinaus erweist es sich als Klugheitsregel: es ist ein Gebot optimaler Nutzung aller Handlungsressourcen, daß sich das Gemeinwesen dezentral und subsidiär organisiert.
II. Ideenverwandtschaft mit dem Föderalismus Das Subsidiaritätsprinzip verbindet sich mit der verwandten Idee des Föderalismus.4 Diese wird heute vielfach nur in ihrer bundesstaatlichen Erscheinung gese-
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hen. In der Tat bietet sich hier dem Subsidiaritätsprinzip ein Anwendungspotential darin, die bestehende Kompetenzverteilung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten zu begründen und die Kompetenzausübung zu leiten.5 Doch die Idee verwirklicht sich in vielen anderen Formen, so in der Selbstverwaltung, der kommunalen, der kulturellen (Universität), der sozialen (Sozialversicherung), der wirtschaftlichen und beruflichen (Kammersystem), in staatsentlastendem Wirken kirchlicher und sonstiger gemeinnütziger Verbände. Föderale Elemente finden sich auch im nichtstaatlichen Raum, etwa in der Ordnung des Marktes wie in der Tarifautonomie. Ein neues Feld tut sich auf oberhalb der staatlichen Ebene in internationalen Kooperationsformen, staatlichen Bündnissen, supranationalen Verbänden, in der Weltgemeinschaft der Staaten, in den Aktivitäten nichtgouvernementaler Organisationen. Die Europäische Union ist föderativen Grundsätzen verpflichtet.6 Der föderalen Idee entspricht die Vielfalt relativ eigenständiger gesellschaftlicher Verbände, die sich aus freier Einsicht zu einem Bunde fügen. Sie verbindet das Eigenrecht der Glieder mit der Solidarität zum Gesamtverband. Der Föderalismus zielt wie sein Gegenprinzip, der Unitarismus, auf Einheit des Ganzen. Doch der Unitarismus setzt auf die zentrale Organisation, der die Glieder zu dienen haben. Der Föderalismus geht von der Eigenständigkeit der Glieder aus, die sich zu einem Ganzen verbinden, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren. Dort ist Einheit von vornherein gewährleistet, hier muß sie sich in stetigem Prozeß der Integration immer wieder herstellen. Soweit eine Hierarchie der Verbände besteht, vermag das Subsidiaritätsprinzip die Autonomie der niederen Verbände zu schützen, indem es die Wirksamkeit der höheren begrenzt. Zugleich bietet es den höheren Verbänden den Maßstab, ihre Existenz wie ihre Kompetenz zu begründen. So rechtfertigt sich heute der supranationale Verband der Europäischen Union aus dem Unvermögen der kleineren, der staatlichen Einheiten, den wirtschaftlichen und politischen Anforderungen der globalisierten Gegenwart zu genügen. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, die im formalen Modell so einfach erscheint, läßt sich nur mit vielen Vermittlungen in die komplexe Realität übertragen. Hier sind rechtliche Grundunterscheidungen geboten zwischen Handlungseinheiten innerhalb der Staatsorganisation, zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Potenzen, zwischen Trägern grundrechtlicher Freiheit, die auf dem Boden der 4 Isensee, Subsidiaritätsprinzip (N 1), S. 37 ff. Zur Idee des Föderalismus allgemein: Constantin Frantz, Der Föderalismus, 1879; Ernst Deuerlein, Föderalismus, 1972; Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, 1972, S. 582 ff.; Bernd Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996, S. 21 ff. 5 Mit weit. Nachw. Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR Bd. VI, 32008, § 126 Rn. 184, 220, 262; Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 542 ff. 6 So Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG.
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Rechtsgleichheit und Privatautonomie miteinander verkehren, sowie zwischen Staaten und internationalen Verbänden. Das Subsidiaritätsprinzip hebt die vorgegebenen Unterschiede nicht auf. Aber es vermag, sich ihnen anzupassen.
III. Der moderne Staat als Herausforderung Subsidiarität ist ein Gedanke der Moderne. Dem Mittelalter war er fremd. In sein statisches Weltbild paßte kein elastisches Regulativ für die Verteilung und Ausübung von Kompetenzen. Sein Intellektualismus baute auf die ewige Ordnung der Dinge, in der die vernunftbegabte Autorität zu lesen verstand, was der Tag erheischt. Die Institutionen legitimierten sich aus gutem, altem Recht. In der Moderne aber, da Grund und Grenze der Wirksamkeit des Staates zum Problem geworden sind, die politischen Strukturen sich verflüssigen und die Zuständigkeiten ins Schwimmen geraten, erscheint die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr als Vorgabe göttlichen Willens oder geheiligter Tradition, sondern als Aufgabe der Vernunft und als Werk des politischen Wollens. Unter diesen Voraussetzungen entwickelt sich zu Beginn der Neuzeit der moderne Staat als säkulare, aktivistische, rationale Herrschaftsorganisation, die virtuelle Allzuständigkeit, das Monopol legitimen physischen Zwangs und Souveränität nach innen wie nach außen beansprucht. Seine Verfassung gilt als machbar. Seine Strukturen bewegen sich und seine Aufgabenfelder wachsen.7 Nunmehr werden die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zum grundsätzlichen Problem. Das Subsidiaritätsprinzip weist auf eine Lösung. Es reguliert die Wahrnehmung der virtuellen Allzuständigkeit, indem es jedwede Inanspruchnahme unter Rechtfertigungszwang setzt. Es schützt den Handlungsraum der Individuen und der gesellschaftlichen Potenzen und leistet so Widerstand gegen die Tendenz zur Totalisierung des Staates. Den Souveränitätsanspruch des Staates bindet es ein in das Ethos des Gemeinwohls. Mit seiner Proklamation des Subsidiaritätsprinzips nimmt Pius XI. die Herausforderung des modernen Staates an. Da die überkommenen Zuständigkeiten der Gesellschaft in Bewegung geraten sind, sucht er nach einem unverrückbaren Grundsatz, der die Verteilung der Zuständigkeiten regelt. Dabei geht es ihm darum, unter den Bedingungen der modernen Welt etwas von der Vielgestalt zu erneuern, die in der versunkenen alten Welt dem gesellschaftlichen Leben eigen war, das sich – so die verklärende Rückschau – „einst blühend und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltet hatte“.8 7 Zum Modell des modernen Staates: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Studienausgabe 1956, S. 1034 ff.; Hermann Heller, Staatslehre, 31963, S. 125 ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 11964, S. 83 ff., 674 ff.; Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. II, 32004, § 15 Rn. 46 ff. (Nachw.). 8 Quadragesimo anno, n. 78.
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IV. Philosophische Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck 1. Klassischer Universalismus Man mag versucht sein, die Spuren des Subsidiaritätsprinzips zurückzuverfolgen bis Platon, der die Existenz des Staates von seiner Zweckbestimmung her rechtfertigt. Die Ursache, weshalb es Staaten gibt, lag für ihn darin, daß der einzelne Mensch sich nicht selbst genug, sondern angewiesen ist auf die Hilfe anderer. Ihrer bedürfe es, damit er Nahrung, Kleidung, Wohnung erhalte. Um für die Bedingungen zu sorgen, die zum physischen Überleben und zum zivilisatorisch guten Leben erforderlich seien, fänden die Menschen an einem Wohnplatz zusammen, von dem Willen geleitet, einander beizustehen, jeder auf seine Weise, in wechselseitiger Ergänzung. Eine solche arbeitsteilige Siedlungsgemeinschaft gilt nach Platon als Staat.9 Der Staat rechtfertigt sich daraus, daß er für seine Zugehörigen die Leistungen erbringt, deren sie bedürfen, aber die sie, auf sich gestellt, nicht selber erbringen könnten. Insofern also Legitimation aus Subsidiarität. Die Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck geht allen Kompetenzfragen voraus. Sie rührt an den Grund des Subsidiaritätsprinzips. Eigentlich läge die Folgerung nahe, daß der Staat, wenn er denn die Form der Daseinsbewältigung und -verbesserung ist, sich mit ergänzenden Diensten begnügen müsse und nicht übernehmen dürfe, was seine Zugehörigen aus eigener Kraft leisten könnten. Doch ein solcher Gedanke ist Platon fremd. Für ihn geht es darum, das Dasein des politischen Gemeinwesens zu begründen, nicht aber das Eigenrecht seiner Glieder. Für ihn geht der Einzelne im Gemeinwesen auf, das ihm seinen Platz und seine Aufgabe zuweist. Die Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen ist erst ein Thema der Moderne. Platon scheidet nicht den Wirkungskreis des Staates von dem der Individuen, die sich zu ihm vereinigt haben. Ihm geht es um die Vollendung des Staates, nicht um das Eigenrecht seiner Teile. Alle Elemente des philosophischen Konstrukts folgen dem Leitgedanken, „daß die höchste denkbare Vollkommenheit des Staats der einzige Zweck desselben, der einzelne Bürger, nur insofern für etwas zu rechnen sei, als er bloß für das Ganze lebt, und immer bereit ist, diesem seine natürlichsten Triebe und gerechtesten Ansprüche aufzuopfern. Ob der Staat solche Opfer zu fordern berechtigt sei, ist bei ihm keine Frage“.10 Der ideale Staat, den der Philosoph in der „Politeia“ als Wirklichkeit der Gerechtigkeitsidee entwirft, ist hierarchisch gegliedert in drei Stände, die je eigene Leistungen zu erbringen haben (Ernährung, Wächterdienst, Staatsführung). Doch die Stände sind nicht um ihrer selbst, sondern nur um des Ganzen willen da; innerhalb dessen haben sie ihre jeweils ausschließliPlaton, Politeia, II, 369 – 374. So die treffende Charakteristik durch Christoph Martin Wieland, Aristipp, 3. Bd. (1800 / 01), in: ders., Sämtliche Werke, 23. Bd., 1856, S. 140, s. auch S. 90. 9
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chen und unverrückbaren Zuständigkeiten. Ihnen kommt nicht jene relative Autonomie zu, die durch ein Kompetenzregulativ gehegt werden könnte. Platons Ideal ist nicht die Differenzierung des Gemeinwesens, sondern die größtmögliche Verbundenheit seiner Glieder. Die Gesetze sind darauf auszurichten, daß sie Zusammenhalt und Homogenität fördern und der Gefahr von Spaltung und Zerfall wehren.11 Die staatstragende Schicht der Wächter hat sich zu einer Gemeinschaft zu fügen, in der ein jeder sein Selbst aufzugeben, auf Eigenständigkeit und Privatheit, auf Eigennutz und Eigentum, auf ausschließlich persönliche Beziehungen zu verzichten, sich vorbehaltlos den Zwecken des Ganzen zu unterwerfen hat. Jedoch die höchstmögliche Verdichtung der Einheit des Staates, so kritisiert Aristoteles, richtet den Staat zugrunde. „Es gibt einen Grad der Einheit, bei dem der Staat nicht mehr bestehen würde, und es gibt einen Grad, bei dem er zwar noch Staat bliebe, aber an die Grenze seiner Existenzfähigkeit geriete, ähnlich, wie wenn man die Symphonie auf Monotonie reduzierte und den Rhythmus auf einen einzigen Schlag.“12
Der idealkommunistischen Güter- und Kindergemeinschaft, die Platon für die Wächter vorsieht, hält Aristoteles entgegen: was sehr vielen gemeinsam gehöre, für das werde am wenigsten gesorgt. Am meisten denke man an seine eigenen Angelegenheiten, an die gemeinsamen weniger oder doch nur, soweit sie einen als Einzelnen berührten. Man nehme hier die Sache leichter, weil man daran denke, ein anderer werde schon dafür sorgen, ähnlich wie im Haushalt viele Diener mitunter schlechter aufwarteten als wenige.13 Bei Aristoteles sind Anklänge an das Subsidiaritätsprinzip als Klugheitsregel unüberhörbar. Die Übereinstimmung reicht sogar tiefer. Auf ihn zurück geht die Vorstellung der engeren und weiteren Gemeinschaften, die das Individuum umgeben. Seiner Natur nach dazu bestimmt, mit anderen zu leben, findet der Einzelne in der Familie und in der Gemeinde nur Teilerfüllung seiner Anlagen und Ziele. Die vollkommene und ganzheitliche Erfüllung bietet erst die politische Gemeinschaft als societas perfecta et completa. Diese absorbiert aber nicht die engeren Gemeinschaften, vielmehr umschließt und ergänzt sie diese und sichert so als Einheit in der Vielheit das gute Leben. Der Staat erscheint als differenziert gegliederter Organismus. Die Genese des Subsidiaritätsprinzips wurde beeinflußt von aristotelischem Denken. Doch in der aristotelischen Philosophie selbst ist es nicht auszumachen. Sie entwirft das Bild der Polis, wie sie der Wesensverfassung des Menschen gemäß organisiert ist und funktioniert. Der Bau- und Funktionsplan liegt a priori fest. Es bedarf keines Regulativs, das die Aufgaben a posteriori zuweist oder verändert. Überhaupt verträgt sich das Subsidiaritätsprinzip nicht mit dem Verständnis des Staates als Organismus, der gewachsen ist, nicht gemacht und 11 12 13
Platon, Politeia, V, 462 a, b. Aristoteles, Politik, II, 5 (1263 b). Aristoteles, Politik, II, 3 (1261 b).
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nicht machbar. Er folgt seiner eigenen, naturgegebenen Gesetzlichkeit. Organe im biologischen, aber auch im rechtlich-metaphorischen Sinne können einander nicht substituieren, das Herz nicht die Niere, das Hirn nicht die Lunge. Sie haben eine je eigene, unersetzliche Funktion für das Ganze. Das Subsidiaritätsprinzip aber tritt nur dort auf den Plan, wo die Ordnung problematisch, die Verteilung der Kompetenzen beweglich und situationsoffen ist. Der Organismus ist angewiesen auf funktionstüchtige Organe und Glieder. Diese aber sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern um des Organismus willen. Ihre Bestimmung ist es, diesem zu dienen. Die aristotelische Teleologie ist universalistisch. Individuen und kleinere Gemeinschaften sind Teile des Ganzen der Polis und haben sich als Teile in das Ganze zu fügen. Das Ganze aber kann gegenüber seinen Teilen nicht subsidiär sein. Die societas perfecta et completa bildet keine selbständige, handlungsfähige Größe im Verhältnis zu ihren Gliedern. Wäre sie es, so hätte sie selber nur den Charakter einer Teileinheit (wie es dem modernen Begriff des anstaltlichen Staates entspräche). Im universalistischen Konzept geht es auch nicht um die Autonomie der Teile gegenüber dem Ganzen, sondern um deren Integration, nicht um deren Selbstbehauptung, sondern um deren Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Darin liegt für den Menschen nicht die Beschränkung seiner Freiheit, sondern die Entfaltung seiner Selbst als auf die staatliche Gemeinschaft hin angelegtes Wesen (zóon politikón). Der Zweck des Staates ist für Aristoteles, daß der Mensch gut, d. h. glücklich und tugendhaft, lebe.14 Doch geht es nicht um den Menschen als einzelne Person, sondern um den Menschen als Gattungswesen, auch nicht um seine subjektiven Bedürfnisse, sondern um seine objektiven Wesensziele. Freilich bringt der Staat praktische Vorteile der Daseinsbewältigung, Schutz vor gegenseitigen Übergriffen und Rechtsschutz im privaten Tauschverkehr. Doch seiner eigentlichen und letztlichen Bestimmung nach bildet er „die Gemeinschaft in einem guten Leben unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins“.15 Der Universalismus des Aristoteles bietet dem Subsidiaritätsprinzip ebensowenig Raum wie der Universalismus Thomas von Aquins oder der Hegels.16 2. Individualismus der Moderne Subsidiarität setzt an bei der Initiative und dem Leistungsvermögen der einzelnen Menschen („a singularibus hominibus“).17 Darin liegt nicht nur der Ansatz für die diskursive Beschreibung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern vor allem der Aristoteles, Politik, III, 9 (1280 b, 1281 a). Aristoteles, Politik, III, 9 (1280 b). 16 Versuche, das Subsidiaritätsprinzip bei Thomas zu verorten: Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 1997, S. 60, oder bei Hegel: Jacob Barion, Hegels Staatslehre und das Prinzip der Subsidiarität, in: Die Neue Ordnung 7 (1953), S. 193 ff., 279 ff. 17 Quadragesimo anno, n. 79. 14 15
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Ansatz zu ihrer Rechtfertigung, zum Entwurf ihres richtigen Aufbaus und der richtigen Verteilung der Aufgaben. Ausgangsgröße ist nicht, wie bei Aristoteles, der Mensch als philosophische Abstraktion, sondern als Individuum in der Wirklichkeit des sozialen Lebens; nicht das Gattungswesen, sondern das Individuum als Person.18 Die Person tritt als Inhaber ursprunghafter Autonomie in Erscheinung, indes die theonome Deutung der irdischen Ordnung, die der scholastischen Tradition entsprach, in den Hintergrund rückt. Das Subsidiaritätsprinzip soll Abhilfe schaffen gegen die zerstörerischen Folgen des Individualismus; doch es ist selbst Ausdruck des Individualismus. Das mag erstaunen. Denn die katholische Soziallehre beteuerte im 20. Jahrhundert, solange der West-Ost-Gegensatz der Staatenwelt währte, sie halte Distanz zum Kapitalismus wie zum Kommunismus; jenseits von Liberalismus und Kollektivismus sei sie der dritte Weg.19 Doch die praktische Philosophie kann der Entscheidung, vor die sie die grundsätzliche Alternative Universalismus oder Individualismus stellt, nicht ausweichen. Tertium non datur. Das Subsidiaritätsprinzip baut auf der Entscheidung für den Individualismus, indem es das Recht der Person und der kleineren Lebenskreise sichert und Widerstand leistet gegen grenzenlose Ausdehnung und Intensivierung staatlicher Wirksamkeit, gegen maßlosen Interventionismus, gegen die Tendenz zum totalen Staat. Individualistischem Denken entspricht das Bedürfnis, die Handlungsbereiche der Individuen und der Gemeinschaften, vor allem den des Staates, kompetenziell zu definieren. Damit wandelt sich unversehens der Staatsbegriff. Ein Staat mit begrenztem Wirkungskreis ist nicht mehr das Ganze des Gemeinwesens, sondern selber nur noch dessen Teil. Der Staat stellt sich in diesem Zusammenhang nicht mehr als societas perfecta et completa dar, sondern nur noch als sektorale, wenngleich in ihrem Bereich höchste Gemeinschaft, genauer: als Herrschaftsanstalt und Leistungsträger. Mit dem engeren Staatsbegriff, von dem auch das moderne Verfassungsrecht, zumal in den Grundrechten, ausgeht, rückt auch sein Gegenüber in das Blickfeld, die Gesellschaft als die Gesamtheit der dem Staat im engeren Sinne zugeordneten Individuen und Organisationen.20 Unter den gegebenen Verhältnissen erscheint das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geradezu als das eigentliche Feld des Subsidiaritätsprinzips. Die Legitimation des Gemeinwesens von unten nach oben vollzieht die kopernikanische Wende vom Universalismus zum Individualismus.21 Zutreffend Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 53 f. Zum dritten Weg des Solidarismus oder Personalismus: Franz Klüber, Grundlagen der katholischen Gesellschaftslehre, 1960, S. 115 ff.; Höffner (N 16) S. 47 f. 20 Vgl. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. II, 32004, § 15 Rn. 61; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ebd., § 31 Rn. 17 ff., 29 ff., 44 ff. 21 Näher Isensee (N 1), S. 23 ff., S. 45 ff. Am Beispiel der Menschenrechte auch ders., Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG, kan. Abt. LXXIII (1987), S. 296 ff. (Nachw.). Zum Individualismus des Subsidiaritätsprinzips Höffe (N 18), S. 126 ff. 18 19
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Die Wende ereignet sich freilich nicht expressis verbis, sondern unmerklich, unter möglichster Wahrung der Tradition in Sprachgebrauch wie Inhalt. So paßt sich über das Subsidiaritätsprinzip das durch Thomas vermittelte aristotelische Erbe den modernen Gegebenheiten an. Die Individuen aber sind nicht die hobbesianischen Einzelgänger, die in natürlicher Freiheit für sich und in natürlicher Feindschaft widereinander leben und sich erst a posteriori auf die Notlösung des staatlichen Daseins verständigen, sondern von vornherein auf Gemeinschaft bezogene Wesen. Freiheit erscheint auch in diesem Licht vornehmlich im positiven Sinn, als Freiheit zum gemeinwohldienlichen Handeln. Doch die Realisierung des Gemeinwohlbezugs ist heute prekär geworden. Die Ordnung von Staat und Gesellschaft ist aus den Fugen geraten. Sie wird nicht mehr als prästabilierte Harmonie erfahren, noch nicht einmal mehr als solche gedacht. Die Verfassung muß überhaupt erst hergestellt werden. Das Leitbild der richtigen Verfassung ist in seinen abstrakten Strukturen, zu denen das Subsidiaritätsprinzip gehört, der Vernunft erkennbar. Sache der Vernunft ist es, das Leitbild unter den gegebenen Umständen zu realisieren. Das Subsidiaritätsprinzip zeigt sich offen für die raumzeitlichen Gegebenheiten, für Mannigfaltigkeit und Wandel. Es vermag sich der modernen Gesellschaft anzupassen.
V. Begründung aus dem Liberalismus Wenn das Subsidiaritätsprinzip die Eierschalen seiner aristotelisch-thomasischen Herkunft gänzlich abstreift, stimmt es überein mit der Staatszwecklehre des Liberalismus. Diesem erscheint der Staat nicht unter dem ganzheitlichen Aspekt des Gemeinwesens, sondern dem engeren der Herrschafts- und Leistungsorganisation, die sich legitimiert aus dem Nutzen, den sie den Individuen bringt. Thomas Hobbes rechtfertigt den Staat als Nützlichkeitsveranstaltung zu dem Zweck, einen Gesamtzustand der Sicherheit zu gewährleisten, den die Menschen als einzelne nicht hervorzubringen imstande sind. John Locke verfeinert die Legitimation dadurch, daß er Einsatz, Auswahl und Umfang der Machtmittel, die der Verwirklichung des Staatszweckes zur Verfügung stehen, an das Übermaßverbot knüpft. Der Staat darf Freiheit und Eigentum nicht weiter einschränken, als es zu deren Sicherstellung geboten ist. Die individualistische Lehre von den Staatsaufgaben bleibt nicht bei dem Staatszweck Sicherheit stehen. Adam Smith weist dem Staat drei Aufgaben zu: – das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriffe anderer Staaten zu schützen, – jeden Bürger soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch andere Bürger zu bewahren oder ein zuverlässiges Justizwesen einzurichten und – „bestimmte öffentliche Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein Einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte“.
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Neben die beiden genannten Aufgaben der äußeren und der inneren Sicherheit tritt also eine offene dritte, die generalklauselhaft nach dem Subsidiaritätsprinzip definiert wird. Unter dieser Aufgabe versteht Smith Einrichtungen, die den Handel erleichtern und die Erziehung der Jugend sowie die Ausbildung der gesamten Bevölkerung fördern.22 Gleichwohl hat der Staat das Eigenleben der Wirtschaft und der Kultur zu respektieren. Der Eingriff des Staates, so Benjamin Constant, wirkt „fast immer“ als Störung und Behinderung. „Jedesmal wenn sich die gemeinschaftliche Macht um die privaten Unternehmungen kümmern will, bedrückt sie die Unternehmer. Jedesmal wenn die Regierungen unsere Angelegenheiten zu besorgen vorgeben, besorgen sie sie viel schlechter als wir.“ Der Staat hat keinen eigenen Erziehungsauftrag. Vielmehr hat er nur die äußeren Voraussetzungen des Bildungswesens bereitzustellen. „Wir brauchen die Regierung nur, um von ihr die allgemeinen Unterrichtsmittel entgegenzunehmen, . . . gleich wie die Reisenden die durch sie erstellten Landstraßen benutzen, ohne sich von ihr den Weg vorschreiben zu lassen, den sie wählen.“23 Die Wirksamkeit des modernen Staates weitet sich über den Sicherheitszweck hinaus zu virtueller Allzuständigkeit. Deren Gegenprinzip ist die Freiheit des Individuums und die der Gesellschaft überhaupt. Die Freiheit wird als unbegrenzt und ursprunghaft gedacht. Sie konstituiert die primäre Handlungsebene. Die Staatsgewalt ist dazu bestimmt, die rechtlichen und realen Voraussetzungen der Freiheitsausübung zu gewährleisten. Staatliche Einschränkungen der Freiheit bedürfen der Rechtfertigung durch den Nachweis, daß Belange des Gemeinwohls nicht hinlänglich durch gesellschaftliche Selbstregulierung gesichert werden und daher die ordnende oder die leistende Macht des Staates gefordert ist. In den Worten Georg Jellineks: „Nur soweit die freie individuelle oder genossenschaftliche Tat unvermögend ist, den vorgesetzten Zweck zu erreichen, kann und muß ihn der Staat übernehmen; soweit reine Individualinteressen vorliegen, bleibt ihre Erringung auch dem Individuum überlassen.“24 In liberaler Version lautet das Subsidiaritätsprinzip: So viel private und gesellschaftliche Autonomie wie möglich, so wenig staatliche Heteronomie wie nötig. 22 Adam Smith, An inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 51789, IV, 9, V, 1; dt. Ausgabe hg. von Horst Claus Recktenwald, 1978, S. 582, 612. 23 Benjamin Constant, Von der Freiheit des Altertums, verglichen mit der Freiheit der Gegenwart (1820), dt. Ausgabe in: ders., Über die Freiheit, 1946, S. 27 (37, 51). 24 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 259. – Die Begründung staatlicher Subsidiarität auf der Grundlage der virtuellen Allzuständigkeit hatte vor Jellinek bereits Robert von Mohl konzipiert. Zur liberalen Genese des Subsidiaritätsprinzips mit Nachw., Isensee (N 1), S. 44 ff., 137 ff.; Detlef Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: ders. (FN 3), S. 77 (90 f.); Georgios Kassimatis, ÐåρM ô'ò 6ρ÷'òôç ô'ò 7ôôéκïõρéκüôçôïò ôïõ κρÜôïõò, Athen 1974. – Zur Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, in: Petra Kolmer / Harald Korten (Hg.), Recht – Staat – Gesellschaft, 1999, S. 21 (37 ff.).
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Die negative, abgrenzende Funktion dominiert. Der Freiheitsbegriff zeigt nun vornehmlich seine negative, emanzipatorische Seite: als Abwesenheit von staatlicher Regulierung, indes die positive, gemeinwohlbezogene Kehrseite zumeist verdeckt bleibt. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie verschwände. Das Subsidiaritätsprinzip verbindet sich mit den Grundrechten in ihrer Staatsabwehrfunktion zum Schutz individueller und gesellschaftlicher Autonomie vor heteronomen Ingerenzen, zum Schutz privater Initiative und kultureller Spontaneität gegenüber staatlichem Plan, zum Schutz freier Träger gemeinnütziger Dienste gegenüber öffentlichen Trägern, zum Schutz der Selbstregulierung des Marktes gegenüber staatlicher Regulierung. Heute weitet sich das Subsidiaritätsprinzip auf das Verhältnis der Staaten zur Europäischen Union. Es vermag, die Existenz und die Kompetenzen des supranationalen Verbandes zu rechtfertigen aus dem Unvermögen der Mitgliedstaaten, den Anforderungen der Gegenwart zu genügen und sich in der globalisierten Welt zu behaupten. Das Subsidiaritätsprinzip hat positivrechtliche Geltung in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV erlangt als Regulativ für die Ausübung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft, die mit denen ihrer Mitgliedstaaten konkurrieren. Insofern ist es darauf angelegt, den Wirkungskreis der Gemeinschaft zu begrenzen.25 Die rechtspraktischen Wirkungen lassen allerdings noch auf sich warten. Bisher dient es nur als Placebo gegen die Irritationen, welche die ungehemmte Expansion der supranationalen Macht auslöst. Würde es juridisch ernst genommen, könnte es dahin wirken, die supranationale Entwicklung berechenbar zu machen, dem rationalen Diskurs zu überantworten und der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen und so Rechtsvertrauen zu stiften.
25 Zur europarechtlichen Dimension: Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 21999, S. 76 ff.; Wolfgang Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 3b EG-Vertrag, in: AöR 118 (1993), S. 414 ff.; Brigitte Gutknecht, Das Subsidiaritätsprinzip als Grundsatz des Europarechts, in: FS für Schambeck, 1994, S. 921 ff.; Georg Lienbacher, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 5 EGV; Hans-Jürgen Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: FS für Isensee, 2007, S. 691; Herbert Schambeck, Subsidiarität und Europäische Union, ebd., S. 707 ff.
Politiker entscheiden Anmerkungen zum Verhältnis von Politik und Recht Von Bernhard Kempen* I. Die gleichförmige Unterworfenheit unter das Gesetz Ob Private sich entscheiden, mit ihrer Hände Arbeit Geld zu verdienen, oder ob Politiker sich entscheiden, ein Steuergesetz zu verabschieden, ob Private sich entscheiden, zu heiraten, oder ob Politiker sich entscheiden, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, macht keinen Unterschied. Alle diese Entscheidungen sind nach Verfahren, Form und Inhalt in irgendeiner Weise rechtlich determiniert, durch berufsrechtliche, verfassungsrechtliche, eherechtliche oder völkerrechtliche Regelungen. Ist das private Leben von der Wiege bis zur Bahre normativ erfasst, so ist es das politische vom ersten Amtsantritt bis zum rühmlichen oder unrühmlichen Ausscheiden aus dem letzten Amt. Einfache Einsichten sind dies, und doch sind sie keineswegs banal. Denn es war nicht immer so, dass die Urheber rechtlicher Regeln in genau derselben Art und Weise normativ gebunden sind wie jedermann. Erst die politische Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts sorgte dafür, dass niemand über dem Gesetz steht. Die gleichförmige Unterworfenheit unter das Gesetz, die in der verfassungsrechtlichen Formel von der „Gleichheit vor dem Gesetz“ (Art. 3 Abs. 1 GG) anklingt, zählt seitdem zum stillschweigenden politischen und gesellschaftlichen Grundkonsens, dessen fundamentale Bedeutung nur gelegentlich, im Kontrast mit unaufgeklärten staatlichen Systemen sichtbar wird. Dann aber, wenn in einem europäischen oder außereuropäischen Staat ein Machthaber für sich in Anspruch nimmt, nicht oder auf andere Art und Weise an die Gesetze gebunden zu sein, wenn er für sich reklamiert, über den Gesetzen zu stehen, wird für einen kurzen Augenblick in Erinnerung gerufen, dass die Überwindung absolutistischer Herrschaft keineswegs so selbstverständlich ist wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Die gleichförmige Unterworfenheit unter das Gesetz ist ein einfach zu verortender Ausgangspunkt. Die Schwierigkeiten beginnen mit dem berechtigten und doch schwer zu fassenden Begriff der „politischen Entscheidungen“ (II.), den ich nur * Professor Dr. iur. Bernhard Kempen, Universität zu Köln, Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht. Der Autor war von 1983 – 1986 als Rechtsreferendar wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl des Jubilars.
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kurz streifen werde, setzen sich fort in einer Betrachtung „politischer Entscheidungsmacht und politischer Ohnmacht“ (III.), reichen hin zur „Außenpolitik jenseits von Staatsräson“ (IV.) und finden ihren Abschluss in einigen Bemerkungen zur „Entscheidungskompetenz von Politikern“ (V.).
II. „Politische Entscheidungen“ Mit einem Rhythmus von etwa zehn Jahren richtet sich die Politikwissenschaft komplett neu ein, um ihren Gegenstand zu bestimmen. Gelegentlich modisch inspiriert aus dem transatlantischen Ausland, im Wesentlichen aber aus sich selbst schöpfend, variiert sie den Begriff des Politischen, fixiert ihn neu, schreibt ihm eine normative, eine systemtheoretische, eine dekonstruktivistische, eine postmarxistische oder eine machttheoretische Bedeutung zu. Schien eben noch die Entgrenzung des Politischen vom wissenschaftlichen mainstream getragen zu sein, schwimmt bald eine neonormativistische Theorie obenauf. Natürlich geschieht dies alles nicht in größter Einmütigkeit und in stringenter zeitlicher Folge, im Gegenteil, es gab und gibt Theorie-Gleichzeitigkeiten, und es gab und gibt Lager und Schulen, die im besten Fall miteinander streiten und im schlechtesten gegeneinander Krieg führen.1 Juristen sollte vielleicht nicht das Kriegführen, wohl aber der intensive Diskurs Respekt abnötigen, mit dem eine wissenschaftliche Disziplin versucht, sich ihres eigenen Sujets zu versichern. Meist aber haben Juristen für die Bemühungen der Nachbardisziplin nicht mehr als ein Achselzucken übrig, leben sie doch in der Gewissheit, mit einem genuin juristischen Ansatz Staat und Gesellschaft, Öffentliches und Privates, Politik und Nichtpolitik voneinander scheiden, auf den Begriff bringen und deuten zu können. Gewiss, die Rechtswissenschaft ist mehr als nur Wissenschaft der Rechtsanwendung, sie erschöpft sich nicht darin, den „Inhalt“ von Normen zu ermitteln und auf diese Weise deren „Anwendung“ vorzuzeichnen. Juristische Dogmatik ist mehr als bloße Hochseilakrobatik im luftleeren Raum. Stets wechselt der juristische Blick hin und her zwischen normativer Ordnung und gesellschaftlicher Wirklichkeit, zwischen Sein und Sollen. Im juristischen Subsumtionsvorgang findet die Vergewisserung eines Teilausschnitts der Lebenswirklichkeit statt, im aktenmäßig aufgearbeiteten „Fall“ wird Wirklichkeit rekonstruiert. Ist die Rechtswissenschaft daher immer und notwendigerweise auch Geistes- und Sozialwissenschaft, so eignen ihr allerdings nicht die Instrumente und Methoden, um außerhalb juristischer 1 Vgl. Armin Nassehi / Markus Schroer, Einleitung in: dies. (Hrsg.), Der Begriff des Politischen, 2003, S. 9; Ernst Vollrath, Was ist das Politische? – Eine Theorie des Politischen und seine Wahrnehmung, 2003, S. 21 f.; Kari Palonen, The Struggle with Time. A Conceptual History of ,Politics‘ as an Activity, 2006; Ulrich von Alemann, Politik, in: Heun / Honecker / Morlok / Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 1803 f. (1804); Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: ders. (Hrsg.), „Politik“ – Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, 2007, S. 9.
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Zusammenhänge zu einer abgeschlossenen Gesamtschau zu gelangen. Juristen sind daher geneigt, den Begriff „politische Entscheidungen“ für die Entscheidungen von Amtsträgern der ersten und zweiten Gewalt zu pachten, und es weit von sich zu weisen, dass auch die Judikative gewollt und ungewollt politische Entscheidungen trifft.2 Sie sehen „politische Entscheidungen“ als Direktiven staatlicher Institutionen und blenden die Programmatik der politischen Parteien und Verbände aus. Sie sehen Politik notwendig bezogen auf die Rechtsordnung, so als sei alle Politik Rechtspolitik, und nehmen die rechtsordnungsaversen Felder von Politik nicht wahr. Freilich ist es nicht verboten, sich diese verkürzte, juristische Sicht des Politischen zu Eigen zu machen. Ein Rundgang durch die juristische Landschaft des Politischen verspricht so lange Ertrag, wie das Bewusstsein der eigenen Erkenntnisschwäche vorhanden ist. Immerhin ist nicht auszuschließen, dass schon die Ahnung des Unsichtbaren das Sichtbare deutlicher hervortreten lässt.
III. Politische Entscheidungsmacht und politische Ohnmacht Ein Gesetz verdankt in Deutschland seine Existenz nicht einer, sondern zahlreichen politischen Entscheidungen. Es ist nie auf den Gesetzgebungswillen eines Individuums, nicht einmal auf den Willen eines Organs zurückzuführen.3 So gehen die Bundesgesetze auf die Initiative der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundesrates zurück und beruhen dort wiederum jeweils auf eigenen formalisierten Anstößen. Im weiteren Verlauf eines Bundesgesetzgebungsverfahrens schließlich werden mit der föderalen Verschränkung von Bundestag und Bundesrat und mit dem Zusammenspiel der Organe von Exekutive und Legislative multikausale Ableitungszusammenhänge wirksam, die monokausale Zuschreibungen vollends ausschließen. Die Redeweise, „der Gesetzgeber“ habe dieses oder jenes Gesetz erlassen, ist also ungenau. Folgenreich ist dieser Sprachgebrauch aus zweierlei Gründen, erstens, weil bei der historischen Auslegung der Gesetze Intentionen und Motive „des Gesetzgebers“ oft eher fingiert als tatsächlich ermittelt werden und das juristische Auslegungsergebnis daher fragwürdig bleibt, zweitens aber, 2 Aus politikwissenschaftlicher Perspektive Rüdiger Voigt, Das Bundesverfassungsgericht in rechtspolitologischer Sicht, in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 65 ff. (73 ff.). Kritisch zur Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts Christine Landfried, Die Wahl der Bundesverfassungsrichter und ihre Folgen für die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), ebenda S. 229 ff. 3 Dazu Ulrich Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion – Der Beitrag der Rechtswissenschaft zur Gesetzgebung in interdisziplinärer Perspektive, 2006, S. 75 ff.; zu den historischen rechtswissenschaftlichen Bezügen, die weit vor der vermeintlich neuen „Gesetzgebungslehre“ (Ulrich Karpen) anzutreffen sind, Sigrid Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006, S. 3 ff., 18 ff. International vergleichend Werner Jann, Parlamente und Gesetzgebung: Akteure und Ressourcen der parlamentarischen Gesetzgebung im internationalen Vergleich, 1989.
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und dies wiegt schwerer, weil die politische Verantwortung für die Gesetze vernebelt wird. Das Verantwortungsproblem lässt sich nicht mit der – nur in einem juristischen Sinne zutreffenden – These überspielen, für das Gesetz als Sollenssatz sei alleine maßgeblich, was das Parlament mit dem Parlamentsbeschluss in seinen Willen aufgenommen hat, alles andere sei vorbereitendes, juristisch irrelevantes Beiwerk. Darin liegt eine Stilisierung des Parlaments, respektive des Bundestages, zum alleinigen legislativen Entscheidungsträger, die den tatsächlich obwaltenden wesentlich komplizierteren politischen Strukturen auch nicht annähernd Rechnung trägt. Wird ein Bundesgesetz auf Initiative der Bundesregierung verabschiedet, wäre es freilich umgekehrt genauso unangemessen, ausschließlich die Regierung als Entscheidungsverantwortlichen identifizieren zu wollen. Die Riester-Rente ist nicht das freundliche Geschenk eines früheren Arbeits- und Sozialministers, sondern eine auf ministerielle Initiative zurückgehende, vom Bundestag unter Mitwirkung des Bundesrates in Gesetzesform beschlossene neue Form der Altersvorsorge. Eine strukturadäquate Betrachtung der Gesetzgebungsentscheidungen kommt nicht umhin, die unterschiedlichen Entscheidungsanteile der unterschiedlichen politischen Akteure zu notieren und zu gewichten. Juristen und Nichtjuristen pflegen stattdessen eine politisch simplifizierende Semantik. Sind die Hartz-IV-Gesetze unter der Entscheidungsverantwortung der damaligen Bundesregierung oder der Entscheidungsverantwortung des Bundestages verabschiedet worden, oder zeichnet dafür womöglich ein früherer Volkswagen-Vorstand verantwortlich? Die semantischen Unschärfen bei der Außenbetrachtung politischer Entscheidungsvorgänge finden interessanterweise eine Entsprechung in der Innensicht der Politik. Politiker neigen dazu, politische Entscheidungen, an denen sie mitgewirkt haben, je nach erwarteter öffentlicher Reaktion als Frucht eigener Entscheidungsautorität oder aber als Entscheidung des politischen Widersachers darzustellen. Eine differenziertere Sicht ist selten anzutreffen. Kennzeichnend ist insoweit der Bundeskanzler Brandt zugeschriebene, im Grunde nicht und nur aus wissenschaftlichen Gründen zitierfähige Ausspruch: „Ich lasse mir meine Ostpolitik nicht von acht Arschlöchern in Karlsruhe kaputt machen“.4 Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor im Urteil zum Grundlagenvertrag5 die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Wiedervereinigungsgebots betont. Neben der wenig eleganten Sprachwahl ist die Inanspruchnahme der Ostpolitik als eigene politische Leistung („meine Ostpolitik“) bemerkenswert. Ausgeblendet bleibt dabei, dass es Jahre zuvor schon unter Adenauer eine Annäherungspolitik an den Osten gegeben hatte6, dass es einen sozialliberalen 4 Vgl. Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und sozialliberale Koalition unter Willy Brandt – Der Streit um den Grundvertrag, in: van Ooyen / Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 163; Rolf Lamprecht, Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 128 ff. 5 BVerfGE 36, 1.
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Koalitionspartner gab, der an der Ostpolitik der Regierung Brandt beteiligt war, vor allem aber, dass die sog. Neue Ostpolitik auch das Produkt gesetzgeberischer Entscheidung war, weil die auswärtige Gewalt als Staatsgewalt zur gesamten Hand von Exekutive und Legislative7 nun einmal auf die Mitwirkung der Gesetzgebungskörperschaften des Bundes angewiesen war. Politische Entscheidungsmacht ist in der Demokratie des Grundgesetzes immer nur Mitwirkungsmacht. Carl Schmitts Erkenntnis, dass alle politische Macht abhängig ist von denen, die durch einen Vorhof der Macht Zugang zum Mächtigen haben,8 trifft zu, bedarf aber der Ergänzung. Der politische Entscheidungsträger ist in Wahrheit nicht mächtig, sondern abhängig von anderen Entscheidungsträgern, er fühlt sich möglicherweise entscheidungskompetent, ist aber in Wahrheit nur ein mehr oder weniger unwichtiges Bauteil in der komplexen Architektur politischer Entscheidungen. An Brandts Ausspruch lässt sich nicht nur die Diskrepanz zwischen gefühlter individueller und tatsächlicher kollektiver Entscheidungskompetenz studieren, sondern auch das Verhältnis der Politik zur Rechtsprechung. Etliche Jahre vor Brandt hatte Adenauer mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht, das seine Pläne durchkreuzt hatte, bundesrechtlich eine Deutschlandfernsehen-GmbH zu errichten,9 konsterniert festgestellt: „So ham wer uns dat nich vorjestellt“. 10 Bei einem bestenfalls freundlich distanzierten Verhältnis zwischen Regierung und Bundesverfassungsgericht ist es in der Folgezeit geblieben, und dies trotz oder wegen der frühen Selbstbehauptungsversuche des Gerichts und der späten Selbstbeschränkungseinsichten der Regierung. Freilich beschreibt das nicht immer spannungsfreie Verhältnis von Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht11 nicht die Gesamtbeziehung von Politik und Recht oder von politischen Entscheidungen und rechtlichen Vorgaben, aber es bildet einen Ausschnitt ab, der in einigen Hinsichten durchaus als exemplarisch gelten darf. Auffällig ist dabei der eigenartige Gegensatz zwischen der vom Gericht bei vielen Gelegenheiten hervorgekehrten politischen Entscheidungsprärogative12 von Regierung, Bundestag und Bundesrat und
6 Dazu Boris Meissner, Moskau-Bonn – Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955 – 1973, Dokumentation 1975, Band II, S. 745 ff., 751 ff. 7 Zu den problematischen Seiten dieser gesamthänderischen Kompetenz Bernhard Kempen, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 5. Auflage 2005, Art. 59 Rdnr. 31 ff. 8 Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1952, Neudruck 2008. 9 BVerfGE 12, 205. 10 Vgl. Rolf Lamprecht (Anm. 4), S. 126. 11 Aufschlussreich der Bericht über eine Podiumsdiskussion mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda in der Evangelischen Akademie Tutzing im SPIEGEL, 1978, Heft 48, S. 38.
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den auch nach außen getragenen Ohnmachtsgefühlen der politischen Akteure im Angesicht drohender verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Beides, politische Entscheidungsprärogative und Ohnmachtsgefühl, scheint nicht recht zusammenzupassen, und doch ist es bezeichnend für das Selbstverständnis der politischen Entscheidungsträger. Das Bundesverfassungsgericht hat sich, ohne in die Gefolgschaft des US-Supreme Court zu treten, eine gleichsam unpolitische Rolle zugedacht, die es konsequent durchhält. Im Unterschied zu dem höchsten amerikanischen Verfassungsgericht hat es nie eine Dogmatik des „political self-restraint“ entwickelt oder eine „political question doctrine“ formuliert, sondern durch die vollständige Zuweisung politischer Entscheidungskompetenz an die übrigen staatlichen Organe schlichtweg keinen Raum gelassen für eigene politische Gestaltungsmacht.13 Möglicherweise hat genau dies dafür gesorgt, dass dem Gericht bis zum heutigen Tag eine ungebrochene und nur gelegentlich getrübte Zustimmung der Bevölkerung gewiss ist.14 Der Einwand, viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seien aber doch „politische Entscheidungen“, zeugt von einem überdehnten Verständnis des Politischen und geht ins Leere. Gewiss, die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch,15 das Volkszählungsurteil,16 die Entscheidungen zur dualen Rundfunkordnung17 oder zur Ostpolitik,18 das Kruzifix-Urteil,19 das Urteil zum Luftverkehrsicherheitsgesetz,20 um nur einige zu nennen, haben enorme politische Wirkungen hervorgerufen, und doch sind sie keine „politischen Entscheidungen“ in dem Sinne, dass sich richterliche Gewalt politischer Gestaltungsmacht bedient hätte. Nach Verfahren und Inhalt bleiben die Judikate unpolitisch. Sie sind stets nur Reaktion, niemals Aktion, dafür sorgt schon das obligatorische Antragserfordernis, das es dem Gericht verbietet, von Amts wegen tätig zu werden. Sie sollen stets nur Beurteilung des Zurückliegenden am Maßstab des Verfassungsrechts sein, nicht Gestaltung der Zukunft nach Maßgabe politischer Opportunität. Sie sind dazu bestimmt, nicht selbst zu gestalten, sondern fremden politischen Gestaltungswillen am Maßstab des Verfassungsrechts zu bestätigen oder zerbrechen zu lassen. 12 Dazu in intensiver Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 5. Auflage 2005, Art. 93 Rdnr. 35 ff. 13 Beispielhaft in BVerfGE 36, 1 (14), 59 360 (377); 62, 1 (51); 67, 256 (289); 68, 1 (97); 72, 330 (390). 14 Uwe Kranenpohl, Quellen der gesellschaftlichen Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts, in: ders., Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010, S. 440 ff. m. w. N. 15 BVerfGE 39, 1. 16 BVerfGE 65, 1. 17 BVerfGE 12, 205; 31, 314; 57, 295; 73, 118; 74, 297; 83, 238; 87, 181; 90, 60. 18 BVerfGE 36, 1; 40, 141. 19 BVerfGE 93, 1. 20 BVerfGE 115, 118.
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Was für die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, gilt nicht minder für die übrigen Gerichtsbarkeiten. Auch sie sind nicht auf politische Gestaltung programmiert, sondern auf Wahrung und Pflege des Rechts. Insgesamt kommt der Rechtsprechung nicht die Funktion zu, die politische Zukunft zu gestalten, sondern das Produkt komplexer politischer Mitwirkungsprozesse, das wir politische Entscheidung nennen, einer rechtlichen Produktkontrolle zu unterziehen. Den Maßstab, den die Gerichte dabei anwenden, bildet das Gesetzesrecht, das wiederum nichts anderes ist als das frühere Produkt politischer Entscheidung. Die Begrenzung politischer Entscheidungen durch das Recht erschließt sich somit erst im Blick auf die Zeitachse. Das Gesetz als Ausdruck vormals getroffener politischer Entscheidung bildet den Maßstab, an dem neuer politischer Gestaltungswille zu messen ist. Schickt sich dieser an, den vormaligen zu überwinden, ein Gesetz zu ändern, so muss er immer noch damit rechnen, dass durch frühere politische Entscheidungen zusätzliche Änderungshürden errichtet sind, die nicht21 oder nur unter bestimmten Voraussetzungen überwunden werden können, etwa indem durch Verfassungsgesetz dem Bundes- oder Landesgesetzgeber die Änderung des einfachen Gesetzesrechts erschwert oder unmöglich gemacht ist (Art. 79 Abs. 2 und 3 GG). Jeder neuen politischen Entscheidung steht die alte, hierarchisch gegliederte Gesetzesordnung zunächst entgegen, nicht unüberwindlich, aber doch versehen mit prozeduralen Absicherungen und bewehrt mit institutionalisierter richterlicher Gewalt. Entscheidungsprärogative und Ohnmachtsgefühle der politischen Entscheidungsträger gehen angesichts dessen notwendigerweise Hand in Hand. Die Rolle und das Bewusstsein, vor der richterlichen Gewalt zur politischen Entscheidung berufen zu sein, geradezu einen Auftrag zur politischen Gestaltung zu besitzen – nicht von ungefähr ist ja oft vom Wählerauftrag die Rede –, wird begleitet von der Rolle und dem Bewusstsein, die in der Vergangenheit getroffenen politischen Entscheidungen achten zu müssen und sie nur unter besonderen Voraussetzungen revidieren zu können. Politische Schelte an der Justiz verkennt deren Funktion, auf unpolitische Weise das Erbe der vormals politisch Entscheidenden zu wahren.
IV. Außenpolitik jenseits von Staatsräson Das Amt des Außenministers gilt aus verschiedenen Gründen als attraktiv. Es hebt seinen Inhaber über die Niederungen der kleinlichen politischen Streitereien im Inneren, es bietet ihm mannigfaltige Gelegenheiten, sich im Glanz des internationalen Parketts zu spiegeln, es bescheinigt seinem Inhaber gleichsam automatisch eine besondere fachliche Kompetenz, es positioniert ihn in unmittelbarer Nähe der weithin sichtbaren Staats- und Regierungschefs, kurzum: es verspricht politischen Erfolg. Bei näherem Hinsehen weist das Nebeneinander von politischer Entschei21 Überwindung des Rechtsrahmens kann dann nur durch Revolution erfolgen; dazu differenzierend Wilfried Fiedler, Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, Der Staat 31 (1992), S. 436 ff.
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dungsmacht und Ohnmacht allerdings einige Besonderheiten auf, die nicht wenigen Außenministern erst spät, in einigen Fällen wohl auch zu spät, bewusst geworden sein dürften. Denn auf dem Feld der Außenpolitik trifft der politische Gestaltungswille nicht auf eine schwer überwindbare, sondern auf eine zu leicht überwindbare Ratio der Rechtsnormen. Völkerrechtliche Regeln sind nicht schon abänderbar im Wege innerstaatlicher Mitwirkungsprozeduren. Deren bedarf es zusätzlich, um beispielsweise einen völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen, zu ändern oder aufzuheben. Zuerst und vor allem aber ist in der Auseinandersetzung mit den politischen Entscheidungsträgern der anderen Völkerrechtssubjekte auf die Verwirklichung des eigenen Gestaltungswillens hinzuwirken. Und das ist keineswegs einfach. Nicht, dass Diplomatie ein Handwerk mit einer besonders anspruchsvollen Meisterprüfung wäre. Die besonderen Schwierigkeiten liegen in der Erkenntnis dessen, was geltendes Recht ist, liegen im Umgang mit den völkerrechtlichen Normen. Die verbreitete dynamische Auslegung22 völkerrechtlicher Verträge scheint auf den ersten Blick Ausweis eines modernen Völkerrechtsverständnisses zu sein, bei näherem Hinsehen erweist sie sich als Belastung für das Verhältnis von Politik und Recht. Eine für das europäische Gemeinschaftsrecht immerhin noch nachvollziehbare, im Unionsrecht erkennbar angelegte inhaltliche Dynamik23 bleibt im Fall des Nordatlantikvertrages letztlich nur eine bloße Behauptung. Die NATO wandelt sich nach dem Ende des Kalten Krieges vom regionalen Verteidigungsbündnis zur global einsatzbereiten Weltpolizei, sie ändert ihre Geschäftsgrundlage, misst sich eine gänzlich neue Rolle zu,24 und alles dies, ohne dass ein Buchstabe des Nordatlantikvertrages geändert worden wäre. „Fließende Übergänge zwischen Vertragsauslegung und Vertragsänderung“ konstatiert das Bundesverfassungsgericht25 und fol22 Vgl. aus der frühen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs: IGH ICJ Reports 1949, 174 – Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations; ICJ Reports 1950, 4 – Competence of the General Assembly for the Admission of a State to the United Nations; ICJ Reports 1962, 151 – Certain Expenses of the United Nations; kritisch zur dynamischen Betrachtung der EMRK als living instrument durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Kempen / Hillgruber, Völkerrecht, 2007, S. 326 f. 23 Dazu Albert Bleckmann, Teleologie und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1979, S. 239 ff.; Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 127 ff.; mit der Auslegungslehre vom effet utile hat der EuGH eine eigenständige Methode dynamischer Auslegung entwickelt, aus jüngerer Zeit: EuGH vom 22. 11. 2005, Rs. C–144 / 04 (Mangold) Slg. 2005 I–09981; vom 25. 10. 2005, Rs. C–229 / 04 (Crailsheimer Volksbank) Slg. 2005, I–09273; vom 23. 10. 2003, Rs. C–245 / 01 (RTL) Slg. 2003, I–12489; vom 30. 09. 2003, Rs. C–224 / 01 (Köbler) Slg. 2003, I–10239; vom 17. 09. 2002, Rs. C–413 / 99 (Baumbast) Slg. 2002, I–07091. 24 Ausführlich Johannes Varwick, Die NATO – vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?, 2008, S. 40 ff., 84 ff.; vgl. ferner Frank Schimmelfennig, Internationale Politik, 2008, S. 236 ff. 25 BVerfG 90, 286 (362); bestätigt unter sich weiter verändernden tatsächlichen Bedingungen in BVerfGE 104, 151; 118, 244.
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gert, dass der Rollenwechsel der NATO eines innerstaatlichen Vertragsänderungsverfahrens nicht bedurft hätte. Ob die Bestimmungen der UN-Charta über das Selbstverteidigungsrecht ebenfalls als mobile, politisch disponible Vertragsklauseln anzusehen sind,26 hatte das Bundesverfassungsgericht nach dem amerikanischen Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 nicht zu entscheiden. Möglicherweise hätte es sonst angenommen, das Selbstverteidigungsrecht habe sich im Wege dynamischer Interpretation zu einem präemptiven Interventionsrecht gewandelt, das schon bei der ersten Ahnung militärischer Bedrohung einen massiven militärischen Erstschlag rechtfertigt. Politische Entscheidungsmacht und politischer Gestaltungswille stoßen in der Außenpolitik auf Vertragsbestimmungen, deren Inhalt dem politischen Zugriff weiter offen steht als jedes innerstaatliche Gesetz. Das war nicht immer so, die Thesen vom Auslegungswandel und der dynamischen Interpretation sind vergleichsweise jung. Heute sieht sich der Außenminister kühnen und abwegigen auswärtigen Vertragsinterpretationen gegenüber, und nach wie vor stehen ihm prozedurale Regeln und justizförmige institutionelle Sicherungen auf der Ebene des Völkerrechts nur ansatzweise hilfreich zur Seite. Umgekehrt steht ihm eine eigene Interpretationshoheit nur begrenzt zur Verfügung. Denn das Bundesverfassungsgericht ist in der Lage, über das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag dessen Interpretation zu kontrollieren. Der Minister, hin und her gerissen zwischen dem Ansinnen fremder Interpretation und dem Rechtsgehorsam gegenüber der innerstaatlich authentischen Auslegung durch das höchste deutsche Gericht, bleibt nicht viel anderes übrig, als schlingernd durch die unruhigen Fahrwasser der Außenpolitik zu manövrieren – und dies ist ganz der Eindruck, den die Außenpolitik der letzten Jahre vermittelt. Eine klare Linie deutscher Außenpolitik ist seit 1990 kaum mehr zu erkennen. Ihr Kurs besteht darin, nicht anzuecken. Mit Blick auf den internationalen Frieden ist dies kurzfristig nicht einmal das Schlechteste, aber möglicherweise auf mittlere Sicht trotzdem nicht zielführend. War die Bundesrepublik Deutschland gut beraten, sich dem NATO-Ansinnen einer völkerrechtswidrigen27 militärischen Intervention 1999 im Kosovo durch Übernahme eher peripherer militärischer Operationen halbherzig zu entziehen? Hätte es damals nicht näher gelegen, jede militärische Mitwirkung zu unterlassen und die Bündnispartner unverblümt auf die Rechtswidrigkeit 26 Zahlreiche Nachweise über entsprechende Deutungen in der anglo-amerikanischen Literatur bei Christopher Greenwood, International Law and the Pre-emptive Use of Force: Afghanistan, Al-Qaida, and Iraq, San Diego ILJ 4 (2003), S. 7 ff. 27 Natürlich ist die rechtliche Beurteilung umstritten, vgl. Jochen A. Frowein, Intervention ohne UN-Mandat, in: Lutz (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Versagen der Politik, 2000, S. 287 ff.; Christian Tomuschat, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konfliktes, Die Friedenswarte 1999, S. 33 ff.; Georg Nolte, Kosovo und Konstitutionalisierung: zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, ZaöRV 59 (1999), S. 941 ff.; Udo Fink, Der Kosovo-Konflikt und die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht, in: Dörr / Fink u. a. (Hrsg.), Festschrift Schiedermair, 2001, S. 803 ff.; Kirsten Schmalenbach, Recht und Gerechtigkeit im Völkerrecht, JZ 2005, S. 637 ff.
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ihres Vorhabens hinzuweisen? Und hätte die Bundesrepublik 2003 dem politischen Druck der USA, mit der „Koalition der Willigen“ in einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak zu ziehen, nicht deutlich und schnörkellos die völkerrechtliche Rechtslage entgegensetzen müssen? Solidarität, Loyalität und Bündnistreue sind unverzichtbare, stabilisierende Faktoren in den internationalen Beziehungen. Ihre stabilisierende Funktion können sie aber nur so lange entfalten, wie sie im Rahmen des geltenden Völkerrechts praktiziert werden. Bündnistreue im Unrecht läuft Gefahr, destabilisierend zu wirken. Wie soll von „Schurkenstaaten“ Rechtsgehorsam verlangen können, wer es selbst mit dem Völkerrecht nicht so genau nimmt? Mit dem sorgfältigen Ermitteln der völkerrechtlichen Rechtslage und dem kompromisslosen und konsequenten Eintreten für den als richtig erkannten Rechtsstandpunkt werden überhaupt erst die Voraussetzungen für berechenbare, verlässliche und stabile internationale Beziehungen geschaffen. Eine Staatsräson, die glaubt, jenseits des geltenden Völkerrechts lohnende politische Handlungsfelder ausmachen zu können, führt geradewegs zurück in vor-völkerrechtliche Zeiten, in denen nicht das Recht, sondern die Macht regierte. V. Entscheidungskompetenz von Politikern Politische Entscheidungen unter der Herrschaft des Rechts haben nicht zur Voraussetzung, dass die an der Entscheidung Beteiligten allesamt eine juristische Ausbildung absolviert haben – aber sie schadet natürlich auch nicht. Schädlich dürfte allerdings die gelegentlich anzutreffende Politikerattitüde sein, alles, was mit Juristerei zu tun hat, als rückwärtsgewandte Bedenkenträgerei, als hinderlichen Formkram oder überhaupt als überflüssigen Ballast zu empfinden und zu bezeichnen. Letztlich trifft die beschriebene Attitüde nicht das System des Rechts, sondern das der Politik. Sie signalisiert eine grundsätzliche Distanz von den zurückliegenden politischen Entscheidungen, die Gesetz geworden sind, und offenbart ein gestörtes Verhältnis zu den politischen Entscheidungsmechanismen. Wer sich in seinem politischen Tatendrang durch die Gesetze gebremst sieht, sollte gewahr sein, dass die Gesetze nichts anderes sind als zurückliegende politische Entscheidungen, die keine Argumentations- und Beweislast für den eigenen Fortbestand zu tragen haben. Argumentations- und beweispflichtig ist vielmehr, wer zur Überwindung des Gesetzes ansetzt. Argumentativ schwierig dürfte dabei sein, Gesetze revidieren zu wollen, bevor sie überhaupt politisch wirksam geworden sind. Zur Eignung von Politikern zählt aus meiner Sicht auch, ob sie die Souveränität aufbringen, jenseits aller politischen Profilierungsnotwendigkeit zu einem gelassenen Umgang mit dem politischen Wandel zu finden. Die Entdeckung der Langsamkeit muss nicht, kann aber sehr wohl auch ein Zeichen von besonderer politischer Eignung sein. Nicht auf schnelle, sondern auf gute Gesetze kommt es an. Neben dem richtigen Entscheidungstempo kommt es auch auf die Art und Weise des Entscheidens an. Werden politische Entscheidungen bewusst unter Aufhe-
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bungsvorbehalt getroffen, dürfen sie auf Akzeptanz der Entscheidungsadressaten nicht hoffen, wohl aber darauf, einen wichtigen Beitrag zur Politikverdrossenheit geleistet zu haben. Eine Gesetzgebung, die sich ihrer Übereinstimmung mit höherrangigem Recht nicht gewiss ist, die im Gegenteil darauf spekuliert, höchstrichterlich in die Schranken verwiesen zu werden, die also gleichsam einen experimentellen Charakter hat, ist ungeeignet, die Zukunft zu gestalten. Ob die „Pendlerpauschale“ vor diesem Hintergrund auf die politisch Verantwortlichen ein gutes Licht wirft, mag dahin stehen.28 Ungeeignet ist aber auch ein politisches Verständnis, dass sich anschickt, die eigene Moral und Ehre beispielsweise im Zusammenhang von Parteispendenangelegenheiten über das Gesetz zu stellen. Für solche Formen individueller Ehrauffassung Verständnis aufzubringen, ist nicht illegitim, so wie es auch nicht illegitim ist, für die Motive einer Hunger leidenden Ladendiebin Verständnis aufzubringen. Und doch zeugt die Erhebung des eigenen Ehrverständnisses über das Gesetz von einer Haltung, die unter den Bedingungen der gleichförmigen Unterworfenheit unter das Gesetz politisch und rechtlich nicht hinnehmbar ist. Der Wähler indes lässt manches Vorgefallene gnädig Geschichte werden, er bestimmt das Verhältnis von politischen Entscheidungen zum Recht im Wechsel der Legislaturperioden nicht grundlegend neu, wohl aber lässt er neue politische Akteure die Bühne betreten, die auf die rechtlichen Begrenzungen treffen, die ihnen ihre Vorgänger hinterlassen haben. Und diese wiederum werden rechtliche Regelungen treffen, die ihren Nachfolgern Schranken setzen, und so weiter und so fort. Die Begrenzung politischer Entscheidungen durch das Recht ist im Kern nichts anderes als eine Generationenfrage.
28
Dazu BVerfG 2 BvL 1 / 07 u. a., Urteil vom 9.12.2008.
Kommunen und Selbstverwaltung im Wandel – zugleich ein Beitrag zu den Kommunalreformen in den ostdeutschen Bundesländern am Beispiel Sachsen-Anhalts Von Klaus A. Klang*
Wesensmerkmal der kommunalen Selbstverwaltung ist nach traditionellem Verständnis die Gestaltung der näheren Umgebung durch die betroffenen Menschen selbst. Ihre Begründung findet sie insbesondere unter den Aspekten Partizipation, Sozialisation und Effizienz. Hier wirkt die Bevölkerung am Gemeinwesen unmittelbar mit, hier erlernen Menschen politisch relevante Verhaltensweisen und schließlich ermöglichen die Kommunen so gegenstandsnahe Lösungen zur Bewältigung der Problemstellungen des örtlichen Alltags. In der Vergangenheit hat sich kommunale Selbstverwaltung somit und gerade in Umbruchzeiten beständiger als staatliche Einheiten erwiesen.1 Kommunale Selbstverwaltung in heutiger Ausgestaltung ist das Produkt mehrerer Reformen und damit Entwicklungsstufen, die jeweils Abbild politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse sind und auch künftig sein werden. Dies galt auch für die Entwicklung bei und nach der Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands. Die damalige Situation war Folge eines historischen Prozesses und zugleich Ausgangspunkt für die sich dann vollziehende Entwicklung zunächst in Ost- und dann in Gesamtdeutschland. Zum Gesamtverständnis sowie zur Einschätzung aktueller und Planung künftiger Prozesse ist die Betrachtung der wesentlichen Entwicklungslinien unerlässlich.
* Der Autor promovierte bei Prof. Dr. Wilfried Fiedler zur Zeit dessen Lehrtätigkeit an der Christian-Albrechts-Universität Kiel über das Thema „Soziale Sicherheit und Freizügigkeit im EWG-Vertrag“. Nach der Tätigkeit im Niedersächsischen Innenministerium ist der Autor seit 1991 im Ministerium des Innern Sachsen-Anhalts tätig, er leitet als Ministerialdirigent die Abteilung „Kommunalangelegenheiten, Wahlen“ und ist zudem Landeswahlleiter. Die nachstehenden Ausführungen sind seine persönliche Auffassung. 1 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 273.
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I. Kommunale Verwaltungsformen in Entstehung und Wandel 1. Ideengeschichtlicher Ausgangspunkt und Anfänge in der Provinz Sachsen Waren Vorläufer einer kommunalen Selbstgestaltung mit Freiräumen für die Akteure vor Ort bereits in germanischen Dörfern mit einer Art genossenschaftlicher Struktur bis zum Aufkommen des Lehnswesens und später in den mittelalterlichen Städten bis zur Zeit des Absolutismus2 vorhanden, so entwickelte sich „Kommunalrecht“ erst nach der französischen Revolution aus diversen Quellen3, letztere hatten aber mit kommunaler Selbstverwaltung im heutigen Verständnis kaum etwas gemeinsam. Ihren ideengeschichtlichen Ausgang nahm die moderne kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mit der preußischen Stein’schen Städteordnung vom 19. November 18084, die ein Bestandteil der Reformen des preußischen Staatswesens war. Das spätere Bild der modernen Verwaltung wurde durch diese großen Reformvorhaben des 19. Jahrhunderts geprägt.5 Schon hieraus wird deutlich, dass grundlegende Reformen der Verwaltung und ihrer Träger nicht neu sind, auch wenn sie mit unterschiedlichen Zielen und unter verschiedenen Rahmenbedingungen erfolgten. Die preußische Städtereform hatte die Überwindung der Folgen der napoleonischen Zeit und des damit einhergehenden Zusammenbruchs des Königreichs Preußen zum Ziel. Es handelte sich um eine „Reform von oben“, die durch Dezentralisierung der Verwaltung das bürgerliche Element enger mit dem Staat verbinden wollte, den Gegensatz zwischen Obrigkeitsstaat und Untertanen abzumildern trachtete, um durch die selbstverantwortliche, ehrenamtliche Beteiligung der Bürgerschaft an der öffentlichen Verwaltung in der Kommunalebene den Gemeinsinn und das politische Interesse des einzelnen am Ganzen zu beleben und damit den preußischen Staat zu stärken. Das Reformziel Steins war nicht die „freie Gemeinde“, sondern die Festigung des Staates. Dennoch wurden 2 Vgl. z. B. Wittek, Zur Freiheit südhansischer Rolandstädte im Mittelalter – Halberstadt, Magdeburg, Nordhausen und Erfurt, in: Tullner (Hrsg.), Sachsen-Anhalt Beiträge zur Landesgeschichte, Heft 11, Halle (Saale) 1998, S. 7 ff. 3 Z. B. 1806 das Gemeindeedikt in Bayern, diverse kommunalrelevante Maßnahmen durch die französische Besatzung, vgl. einführend hierzu: Bannasch, Die preußische Städtereform von 1808, in: Das Rathaus 2008, S. 180 f.; zur Entwicklung bis zum Wiener Kongreß: Vietmeier, Die staatlichen Aufgaben der Kommunen und ihrer Organe, Schriftenreihe des Freiherr-vom-Stein-Institutes Münster, Köln 1992, S. 5 ff. 4 Pr. GS., S. 324; vgl. ferner auch „Ordnung für sämtliche Städte der Preußischen Monarchie mit dazu gehöriger Instruktion, Behufs der Geschäftsführung der Stadtverordneten bei ihren ordnungsmäßigen Versammlungen“, Verordnungen von 1808, Nr. 57, GS., S. 472 ff. 5 Vgl. beispielsweise das Gendarmerie-Edikt vom 30. 7. 1812, Pr. GS., S. 141, die revidierte Städteordnung vom 17. 3. 1831, Pr. GS., S. 10, die Allgemeine Gemeindeordnung vom 11. 3. 1850, Pr. GS., S. 213, die am 13. 12. 1872 in Kraft getretene Preußische Kreisordnung, vgl. auch: Thiel, Gemeindliche Selbstverwaltung und kommunales Verfassungsrecht im neuzeitlichen Preußen (1648 – 1947), in: Die Verwaltung, 35. Bd., S. 25.
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mit der Stein’schen Städteordnung wichtige Prinzipien in Kraft gesetzt, die bis heute das deutsche Kommunalrecht bestimmen: Die Städte erhielten das Recht, Angelegenheiten ihres eigenen Wirkungskreises in eigener Verantwortung zu regeln, eigener und übertragener Wirkungskreis wurden erstmals klar voneinander getrennt. Die Bürgerschaft, auch wenn der damalige Begriffsinhalt mit dem heutigen allenfalls teilidentisch ist, konnte die Stadtverordneten als ihre Repräsentanten selbst in das städtische Vertretungsorgan wählen, wenngleich das Wahlrecht Beschränkungen unterlag.6 Die Aufsicht des Staates über die Städte wurde beschränkt und erstreckte sich nur auf einige, wenn auch nicht unwichtige Bereiche. Mit den staatstheoretischen Vorstellungen gingen nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft im mitteldeutschen Raum auch territoriale Entwicklungen des in diesem Beitrag zu betrachtenden Gebiets sowie die Herausbildung der preußischen Provinz Sachsen und deren Gebietsänderungen einher7. Im staatlichen Bereich wurden im Jahr 1816 Regierungsbezirke zur Anpassung der Strukturen an das nach den Festlegungen des Wiener Kongresses wesentlich vergrößerte Staatswesen gebildet. Es erfolgte eine Aufgabenverlagerung von oben nach unten, somit ein Bruch mit bestehenden Verwaltungstraditionen im absolutistischen Preußen und eine Hinwendung zu einer modernen – in dieser Untersuchung aber nicht näher zu betrachtenden8 – Staatsverwaltung. Da die Regierungen der Mittelinstanzen anders als die Provinzen und der Gesamtstaat nicht über eigene Repräsentationen verfügten und auch nicht eigene Gestaltungsfreiheiten besaßen, fand keine gänzlich neue Art der Staatsverwaltung statt9. Seit 1867 teilten die Provinz Sachsen und das seit 1863 vereinigte Herzogtum Anhalt das Schicksal des preußisch bestimmten Reiches, Gemeindevertretungen und Landtage wurden aber weiterhin nach dem üblichen Wahlverfahren gewählt.10 6 Zur ersten Wahl (18. – 22. 4. 1809) nach diesem System waren in der Stadt Berlin weniger als acht Prozent der Einwohnerschaft wahlberechtigt, vgl. dazu Bannasch (Fn. 3), S. 181. 7 Vgl. hierzu Klein: in: Hubatsch, Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945, Reihe A: Preußen, Band 6: Provinz Sachsen, Marburg / Lahn 1975, S. 9 ff. 8 Zum Entwicklungsprozess einer kommunalen Selbstgestaltung in dem zu betrachtenden Gebiet und dem Streben danach: Freitag, Städtischer Liberalismus in der Provinz Sachsen 1844 – 1849, in: Tullner (Fn. 2), Heft 16, Halle (Saale) 2000, S. 7 ff. 9 Am 1. 4. 1816 nahm die Regierung in Magdeburg für den Regierungsbezirk Magdeburg die Amtsgeschäfte auf. Die Einrichtung und die förmliche Amtseinführung der „Königlichen Regierung von Niedersachsen zu Magdeburg“ durch den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen wurde im Amtsblatt für die königliche Regierung zu Magdeburg Nr. 1 vom 13. 4. bekannt gegeben. In den Folgejahren wurden noch eine Reihe von Verbesserungen bei der Kreiseinteilung, dem Gerichtswesen und auf anderen Gebieten vorgenommen. 10 Zur bürgerlichen Selbstverwaltung in der Kommune vgl. Nipperdey, Bürgerliche Selbstverwaltung und Lebensform: Die Stadt, in: ders., Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II, Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 140 ff.; und zur Entwicklung der Provinz Sachsen allgemein: Tullner, Die preußische Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Ersten Weltkrieg, in: ders., Geschichte des Landes SachsenAnhalt, 3. Aufl., Magdeburg 2001, S. 89 ff.
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Die Kreise im Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt11 erhielten mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 parallel zu den Regierungsbezirken und als deren Untergliederung erste Grundlagen für eine Struktur. Diese wurden nach und nach ausgebaut, wie beispielsweise durch die Kreisordnung vom 17. März 1828. Die preußische Provinz Sachsen hatte, abgesehen von wenigen minimalen Grenzkorrekturen12, bis zu ihrer Auflösung am 1.Juli 1944 einen sehr stabilen Gebietsbestand. Eine in der gesamten Provinz Sachsen zu beobachtende Erscheinung mit Auswirkungen auf die Kreiseinteilung war die Tendenz zur Bildung eigener Stadtkreise der größeren Städte. Sie begann in Magdeburg 1828 und setzte sich bis in die Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts fort. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Zeitraum von 1890 bis 1910. 2. Historische Entwicklung bis zur Weimarer Republik Die restaurative Entwicklung und das Erstarken der politischen Reaktion führten zur Revidierten preußischen Städteordnung vom 17. März 1831.13 Der Versuch, im Gefolge der Revolution von 1848 ein liberales Gemeinderecht für Städte und Gemeinden durch Selbstverwaltungsgarantie 14 in ganz Deutschland zu schaffen, scheiterte abermals an der politischen Reaktion infolge der Niederlage der Revolution15. Das Kommunalrecht, das ansatzweise schon Selbstverwaltung verfolgte, regelten die deutschen Länder, wie in Preußen die Allgemeine Gemeindeordnung vom 11. März 185016 und die Städteordnung vom 30. Mai 185317, die an die von 1831 anknüpfte, in Braunschweig die Landgemeindeordnungen vom 19. Mai 185018 und vom 18. Juni 189219, im Königreich Hannover die Landgemeindeord11 Zur ideengeschichtlichen und tatsächlichen Entwicklung der Kreise vgl. allgemein von Unruh, Der Kreis, Ursprung und Ordnung einer kommunalen Körperschaft, Köln, Berlin 1964; ders., Der Landrat. Mittler zwischen Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung, Köln, Berlin 1966; Vietmeier (Fn. 3), S. 26 ff. 12 Übergang des Kreises Ilfeld von der Provinz Hannover im Jahre 1932. 13 Pr. GS. 1831, S. 10 ff., zu den einzelnen Ausgestaltungen vgl. Vietmeier (Fn. 3), S. 10 ff. 14 Vgl. § 184 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. 3. 1849, RGBl. I 1849, S. 101; zur Arbeit der Nationalversammlung: Fiedler: Die erste deutsche Nationalversammlung 1848 / 49. Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, Königstein / Ts.1980, insbes. Parlament und Verfassung im Jahre 1849, S. 9 ff.; ders., Die südwestdeutschen Abgeordneten und ihre Bedeutung für die Paulskirche, in: Wadle (Hrsg.): Philipp J. Siebenpfeiffer und seine Zeit im Blickfeld der Rechtsgeschichte, Schriftenreihe der Siebenpfeiffer-Stiftung 1, Sigmaringen, 1991, S. 43 ff. 15 So durch Art. 105 Abs. 2 und 3 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. 1. 1850, Pr. GS. 1850, S. 17 ff. 16 Pr. GS. 1850, S. 213 ff., zu den Inhalten vgl. auch Vietmeier (Fn. 3), S. 14 ff. 17 Städte-Ordnung für die sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie, Pr. GS. 1853, S. 261 ff.
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nung vom 28. April 185920, später die Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891.21 Auf der Landkreisebene erfolgten gleiche Entwicklungen, wie beispielsweise die preußischen Kreisordnungen vom 3. Dezember 187222 und vom 19. März 188123 oder in der damaligen Provinz Hannover die Provinzialordnung vom 7. Mai 1884.24 Mit der Weimarer Reichsverfassung von 191925 erhielten Gemeinden und Gemeindeverbände durch Art. 127 das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze. Auffallend ist hierbei der Standort der Garantie im Grundrechtsabschnitt der Verfassung, die Ausgestaltung erfolgte individual-gesellschaftlich und nicht staatsorganisatorisch. Die Länder behielten jedoch weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten, so dass die historisch gewachsenen kommunalen Verfassungssysteme in den Ländern weitgehend erhalten blieben. Nur in Baden, Sachsen, Thüringen und Bayern entstanden zwischen 1921 und 1931 neue Gemeindeordnungen mit Elementen von mehr Bürgerbeteiligung und Bürgernähe. Bis zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich kommunale Selbstverwaltung zwar nicht komplett aber doch tendenziell in Richtung ihres heutigen Verständnisses. 3. Kommunen im Nationalsozialismus Ein Bruch setzte 1933 ein, als der kommissarische preußische Innenminister sämtliche Gemeindevertretungen Preußens auflöste und Neuwahlen ansetzte. Parallel dazu wurden im gesamten Reichsgebiet die kommunalen Organe unter Gewaltandrohung aufgelöst. Das nicht durch Parlamentsakt zustande gekommene Preußische Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. Dezember 193326 gestaltete das bisherige preußische Kommunalrecht trotz sprachlicher Bezugnahme auf die vomStein’schen Vorstellungen nach nationalsozialistischen Vorstellungen um, so durch die Einführung des Führerprinzips, nach dem der nunmehr ohne Wahl in Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern hauptamtlich auf 12 Jahre berufene und in Br. GVS S. 349. Br. GVS S. 357. 20 Hann. GS I, S. 393. 21 Pr. GS S. 233. 22 Pr. GS. S. 661. 23 Pr. GS. S. 155. 24 Pr. GS. S. 181 und 237. 25 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919 („Weimarer Reichsverfassung“), RGBl. S. 1383 und diverse spezielle Regelungen wie Verordnung über die anderweitige Regelung des Gemeindewahlrechts vom 24. 1. 1919, Pr.GS., S. 15 ff. (Ablösung des Drei-Klassen-Wahlrechts durch ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen); Gesetz betreffend vorläufige Regelung verschiedener Punkte des Gemeindeverfassungsrechts vom 18. 7. 1919, Pr. GS., S. 118 ff.; Gemeindewahlgesetze vom 12. 2. 1924, Pr. GS., S. 99. 26 Pr. GS. 1933, S. 427 ff. 18 19
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kleineren Gemeinden auf sechs Jahre ehrenamtlich berufene Gemeindeleiter das Organ „Bürgermeister“ ablöste und nur noch dessen Bezeichnung führte. Seine Stelle wurde wie die der ihn vertretenden Beigeordneten öffentlich ausgeschrieben, das Berufungs- und ggfs. ein Abberufungsverfahren oblag dem Kreisleiter der NSDAP, der der zuständigen Behörde27 drei Bewerber vorschlug. Einen direkt gewählten Gemeinderat gab es nicht mehr, statt dessen wurden Bürger auf sechs Jahre durch den Beauftragten der NSDAP im Benehmen mit dem Bürgermeister berufen28, die zwar die Bezeichnung Ratsherren oder Gemeindeälteste führten, aber nur zur Beratung beigeordnet waren. Abstimmungen waren verboten29. Die Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 193530 übernahm die Regelungen nahezu inhaltsgleich für das gesamte Reich. Der Leiter der Verwaltung führte die Bezeichnung (Ober-)Bürgermeister und war das allein verantwortliche Verwaltungsorgan, der Gemeinderat war lediglich ein beratendes Gremium. Der Parteieinfluss wurde durch die – regelmäßig auf Kreisebene – Berufung des „Beauftragten der NSDAP“, der meist auch Kreisleiter der Partei war, institutionalisiert. Die Gemeinden waren auf diese Weise gleichgeschaltet, es erfolgte eine zentralistische Ausrichtung unter Ablösung der bisherigen Gemeindeverfassungen, Städte- und Landgemeindeordnungen in den deutschen Ländern.31 Verstärkt wurde die Umformung der Kommunen zu bloßen Weisungsempfängern der untersten staatlichen Verwaltungsstufe schließlich durch diverse Einzelakte im Zuge der Kriegsereignisse.32 4. Getrennte Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg Neubelebungen der kommunalen Selbstverwaltung setzten erst wieder nach 1945 ein, als die Alliierten zunächst handlungsfähige Gemeindeverwaltungen und später gemeindliche und Länderstrukturen schufen. Ab diesem Zeitpunkt nahm das kommunale Gemeinwesen in Deutschland einen unterschiedlichen Verlauf.
27 Vgl. §§ 4, 27 und 34 des Gemeindeverfassungsgesetzes von 1933. Zuständige Behörde war der Reichsminister des Innern für Stadtkreise mit mehr als 100 000 Einwohnern, für kleinere der Reichsstatthalter, der Regierungspräsident für die Städte und der Landrat für die Gemeinden. 28 Vgl. §§ 41, 49 des Gemeindeverfassungsgesetzes von 1933. 29 Vgl. §§ 40, 46 Abs. 4 des Gemeindeverfassungsgesetzes von 1933. 30 Gesetz vom 30. 1. 1935, RGBl. I, S. 49 ff. 31 Abweichende Ausnahmen vorläufiger Art galten nur für die Hauptstadt Berlin und die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck. 32 Vgl. hierzu die Übersichten bei Vietmeier (Fn. 3), S. 24 f.
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a) Ausprägung kommunaler Selbstverwaltung als Verfassungsprinzip in Westdeutschland In den westdeutschen Ländern – insbesondere ab 1946 in den neuen Landesverfassungen – entstanden Kommunalverfassungssysteme, die an geschichtliche Vorbilder der Länder anknüpften, teilweise aber auch durch die jeweilige Besatzungsmacht geprägt waren. Die Länderkompetenz für die Kommunalgesetzgebung führte zu einer Vielzahl von Ausprägungen innerer Verfassungsmodelle, wie beispielsweise die süddeutsche und norddeutsche Ratsverfassung, die Magistrats- und die Bürgermeisterverfassung. Später wurde in Art. 28 GG für alle Kommunen in der Bundesrepublik den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht gewährleistet, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Kommunen erhielten eigene Hoheitsrechte, die mit – auch gerichtlich durchsetzbaren – Abwehrrechten gegenüber dem Staat gesichert sind. Die Gestaltung der näheren Umgebung geschieht in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (eigener Wirkungskreis) durch die Selbstverwaltungsorgane und das ehrenamtliche Engagement der Bürger und Einwohner, im Bereich der Aufgabenerfüllung nach Weisung (übertragener Wirkungskreis) durch die Hauptverwaltungsbeamten und deren Verwaltung. Dabei gilt für die Erledigung staatlicher Aufgaben das Prinzip der Subsidiariät, d. h. die Ansiedlung von Entscheidungskompetenzen hat möglichst auf der untersten kommunalen Ebene zu erfolgen. Dies sichert den Entscheidungsträgern den unmittelbaren Einblick in die Bedürfnisse und Belange der betroffenen Menschen und ermöglicht letztlich Bürgernähe der Verwaltung in räumlicher und funktionaler (materieller) Hinsicht. Verwaltung ist auf allen Ebenen, insbesondere auch auf der kommunalen, kein Selbstzweck, sondern besitzt Servicecharakter. Letzterer hat auf Qualitäts- und zunehmend auch auf Effizienzaspekte Rücksicht zu nehmen. Diese Ausrichtung geht angesichts sich wandelnder und noch zu betrachtender Rahmenbedingungen dabei weit über – mehr interne – haushaltswirtschaftliche Vorgaben hinaus, wie sie allen Kommunalverfassungen gemein sind.33 Neben der Fortentwicklung der rechtlichen Strukturen fanden in den westdeutschen Flächenländern in den siebziger Jahren Gebiets- und Verwaltungsreformen zur Leistungssteigerung aller kommunalen Ebenen statt. Die dabei entstandenen Strukturen und Größenverhältnisse bestehen heute noch weitgehend unverändert.
33 Zum aktuellen Stand der Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung vgl. Schoch, Stand der Dogmatik, in: Henneke / Meyer (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bewahrung, Bewährung und Entwicklung, Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht, Band 27, Stuttgart 2006, S. 11 ff.
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b) Kommunale Verwaltung in Ostdeutschland aa) Die Situation von 1945 bis 1952 Ganz anders verlief die Entwicklung in Ostdeutschland, so im Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt. Nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches trugen erste Maßnahmen des Neuaufbaus von Behörden und Verwaltungen durch Amerikaner und Engländer hier nur provisorischen Charakter, da das von ihnen besetzte Gebiet nicht zu deren Besatzungszonen gehörte. Nach der Übernahme des gesamten Raumes durch sowjetische Besatzungsorgane wurde am 16. Juli 1945 die frühere preußische Provinz Sachsen faktisch neubelebt, indem eine „Provinz Sachsen“ gebildet wurde. Diese bestand aus den Regierungsbezirken Magdeburg und Merseburg und dem hinzugekommenen Regierungsbezirk Dessau, der aus den anhaltischen Gebieten bestand. 1946 wurde der Name in „Provinz Sachsen-Anhalt“ geändert, 1947 wurden die Regierungsbezirke aufgelöst und zu dem Land Sachsen-Anhalt zusammengefasst. Die Kommunen besaßen verfassungsrechtlich den Charakter „Selbstverwaltungskörper“, der Gesetzeswortlaut über ihre Rechtsstellung ist mit dem der heutigen Normen vergleichbar.34 Auch in der sowjetischen Besatzungszone und danach in der DDR bestand zunächst noch der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung („Demokratische Gemeindeordnung für die sowjetische Besatzungszone Deutschlands“ von 1946). Dieser entsprach auf den ersten Blick dem in den westlichen Ländern35, wurde dann aber rasch und zunehmend ausgehöhlt. Im Zuge der Auflösung der Länder wurde er faktisch beseitigt und schließlich aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen, obwohl Art. 139 der DDR-Verfassung von 1949 die kommunale Selbstverwaltungsgarantie noch erwähnte. Gemeinden und Kreise bestanden als Gehäuse zwar fort, ihr Aufgabenbestand war jedoch wesentlich reduziert. Sie wurden zu örtlichen Teilen des Staatsapparates. bb) Zentraler Staatsaufbau der DDR ab 1952 Am 23. Juli 1952 beschloss die Volkskammer der DDR das „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe“, das die fünf Länder auflöste und 14 Bezirkstage und Räte der Bezirke der DDR bildete. 34 Vgl. Art. 69 ff. der Verfassung der Provinz Sachsen-Anhalt von 1947; zur Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung zwischen 1947 und 1952: Pollmann / Tullner, Die Verfassung der Provinz Sachsen-Anhalt vom 10. Januar 1947, Magdeburg 1998, S. 8 ff.; zur Herausbildung der Verwaltungsstrukturen nach der Übernahme der Gebiete des heutigen westlichen Sachsen-Anhalts und der Errichtung von sowjetischen Militärverwaltungen vgl. Tullner, Zwischen Demokratie und Diktatur, die Kommunalwahlen und die Wahlen zum Provinziallandtag in Sachsen-Anhalt im Jahre 1946, Magdeburg 1996, S. 9 ff. 35 Am 8. 9. 1946 fanden vorgeblich „freie“ Gemeindewahlen statt, deren Wahlbewerber jedoch einer „Registrierung“ durch die sowjetische Besatzungsmacht bedurften, dabei wurden in mehr als 1 000 Gemeinden der Provinz Sachsen die Listen der CDU und LDP nicht zugelassen, vgl. Tullner (Fn. 34), S. 25 ff. m. w. N.
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Der Landtag Sachsen-Anhalt beschloss zudem am 25. Juli 1952 seine Selbstauflösung und die Bildung der Bezirke Halle und Magdeburg. In beiden nunmehrigen Bezirkshauptstädten konstituierten sich am 1. August in Halle und am 8. August in Magdeburg Bezirkstage. Parallel dazu traten an die Stelle der 132 alten 217 neue Kreise, mit der Zerstückelung der Kreise36 ging deren Bedeutungsverlust einher, die Bezirke waren nunmehr die regionalen Instanzen des zentralen Machtapparates. Die Bildung der Bezirke diente der Durchsetzung des „demokratischen Zentralismus“ bzw. der Beseitigung der Reste des Föderalismus in der DDR. Der Zugriff des Staates auf alle Belange des Lebens wurde somit gesichert. Der „Rat des Bezirkes“ an der Spitze war Schaltstelle für Regierungsprogramme, die bis auf geringfügige Ausnahmen von der Zentrale bestimmt, vorgegeben oder zumindest genehmigt worden waren. In personeller Hinsicht flankierte die Beseitigung des Beamtentums den Umgestaltungsprozess.37 Im kommunalen Bereich wurden die Kreise mittels einer Kreisreform ebenfalls in die zentralistische Struktur eingebunden. Gleichzeitig wurden auch historisch gewachsene Kreise rigoros verändert und dem Zentralismus angepasst. Die Verringerung der politischen Gestaltungsfreiheit und der Verwaltungskraft erfolgte also parallel zur Verkleinerung kommunaler Gebietsstrukturen. Die Entwicklung der Rechtsvorschriften über Kommunen und die kommunale Gebietsstruktur in der DDR war durch dirigistische Handlungs- und Entscheidungsformen, staatliche zentrale Planung und Leitung und damit durch Machtkonzentration gekennzeichnet. Die Bedeutung der Kommunen fand zunehmend nur noch am Rande der Gesellschaft statt. Sie waren keine selbständigen Verwaltungsträger und Gebietskörperschaften, sondern lediglich Territorien des Einheitsstaates. Sie besaßen keine autonomen Selbstverwaltungs- und Gestaltungsrechte bei örtlichen Verhältnissen, sondern waren von Amtsinteressen zentraler und vornehmlich bezirklicher Verwaltungen überlagert.38 Hierzu stellte das Bundesverwaltungsgericht später anläßlich der Grundstücksrestitutionsklage einer Gemeinde unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung39 denn auch fest, dass die Existenz der Gemeinden in der DDR als selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts spätestens mit Inkrafttreten des Gesetzes über die weitere Demokratisierung des 36 Sehr vereinzelt wurde dieser Prozess später korrigiert, so z. B. bei der Auflösung der Landkreise Kalbe / Milde und Tangerhütte (Bezirk Magdeburg), die weit unter 20 000 Einwohner hatten. 37 Zu den Folgen für Qualität und Berufsethos des Personals, Rechtsstaatsausrichtung sowie den praktischen Auswirkungen auf das Verwaltungshandeln und dessen Entwicklung insgesamt vgl. Schneider, Der Aufbau der Kommunalverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern, in: Beilage „Das Parlament“ B 36, S. 18 ff., 19. 38 So Preiß in: Schmidt-Eichstaedt / Petzold u. a., Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR, Köln 1990, S. V ff. 39 BVerwG NVwZ-RR 2009, 611 unter Hinweis auf BVerwG VIZ 1997, 432 sowie dass., LKV 2000, 160.
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Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. Juli 195240 endete. Zwar wurde dieses Gesetz zunächst nur für Bezirke und Kreise umgesetzt41, entfaltete aber schon bald Wirkungen auf Gemeinden, wenngleich der gesetzgeberische Umgestaltungsprozess auch erst zum 17. Januar 195742 abgeschlossen wurde. Kennzeichnend für die neue Struktur war die Anlehnung an das sowjetische Führungsmodell eines zentralistischen Staats- und Verwaltungsapparates. Kommunen wurden entsprechend diesen Prinzipien des demokratischen Sozialismus „Grundeinheiten der einheitlichen Staatsmacht“. Die im deutschen öffentlichen Recht bestehende Differenzierung zwischen Staats- und Selbstverwaltungsorganen entfiel, Bezirke, Kreise und Gemeinden waren als örtliche Staatsorgane Teile einer einheitlichen Kette, sie unterlagen dem „demokratischen Zentralismus“ auf der jeweiligen Ortsebene.43 Ausdruck dessen waren klare staatliche Weisungsstränge in allen Bereichen bis hin zur Ortsebene, die parallel begleitet wurden durch eine entsprechende Lenkungsstruktur auf Parteiebene mit Verknüpfungen zwischen Verwaltung und Partei auf allen Ebenen („Prinzip der doppelten Unterstellung“).44 Verwaltung war stärker auf Parteitagsbeschlüsse denn auf Rechtsvorschriften festgelegt.45 Deutlich wird diese Ausrichtung bei einem Vergleich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG mit den Bestimmungen der DDRVerfassung von 196846, die rechtsförmlich die Selbstverwaltung beseitigte. Art. 41 führte hierzu aus: „Die sozialistischen Betriebe, Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände sind im Rahmen der zentralen staatlichen Leitung und Planung eigenverantwortliche Gemeinschaften, in denen Bürger arbeiten und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten.“ Dass hier die Betriebe vor den Kommunen genannt werden, ist Ausdruck des untergeordneten Stellenwertes. Deren Aufgabe wird in Art. 43 Abs. 1 Satz 1 wie folgt beschrieben: „Die Städte, Gemeinden und Gemeindeverbände gestalten die notwendigen Bedingungen für eine ständig bessere Befriedigung der materiellen, sozialen, kulturellen und sonstigen gemeinsamen Bedürfnisse der Bürger.“ Diese Linie setzte sich im „Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe in der DDR“ vom 12. Juli 1973 und auch im „Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen“ aus dem Jahr 1985 fort.47 ZielrichGBl. DDR S. 613. Ordnung für den Aufbau und die Arbeitsweise der staatlichen Organe der Bezirke vom 24. 7. 1952, GBl. DDR S. 621, Ordnung für den Aufbau und die Arbeitsweise der staatlichen Organe der Kreise vom 24. 7. 1952, GBl. DDR S. 627. 42 GBl. DDR I S. 65. 43 Vgl. hierzu BVerwG NVwZ-RR 2009, 611, 612. 44 Zu den praktischen Unterstellungs- und Weisungsverhältnissen vgl. Schneider (Fn. 37), S. 18 ff. und Melzer, Zum Kommunalgesetz, in: Marcuse / Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, Berlin 1991, S. 217. 45 Bernet / Lecheler, Zustand einer DDR-Stadtverwaltung vor den Kommunalwahlen vom 6. 5. 1990, LKV 1991, S. 70. 46 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. 4. 1968. 40 41
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tung war auch hier die weitere Stärkung der sozialistischen Staatsstruktur. Bei den Kommunen als Teil des Staatsapparates waren Aufsicht und Weisung identisch, ein echter eigenverantwortlicher Entscheidungsspielraum bestand nicht. Jegliches Verwaltungshandeln unterlag der lückenlosen Kontrolle durch den Staat. Aufsicht bedeutete uneingeschränktes Weisungsrecht von oben nach unten in allen Angelegenheiten. So lautete § 5 Abs. 3 des Gesetzes: „Der Ministerrat ist für die Anleitung und Kontrolle der Räte der Bezirke verantwortlich“ und § 9 Abs. 2 bestimmte für die örtlichen Räte, dass diese dafür verantwortlich sind, „dass in der staatlichen Arbeit die Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse . . . konsequent durchgeführt werden“.48 Während der Staat also in der Bundesrepublik den Kommunen Selbstverwaltung in den örtlichen Belangen garantiert, waren Gemeinden und Kreise in der DDR als „Gehäuse“ zwar vorhanden, jedoch ohne Selbstverwaltung und im Aufgabenbestand deutlich reduziert. Sie waren unterster Baustein in der zentralen Planungs- und Leitungsinstanzenhierarchie und Ausführer der Beschlüsse höherer Ebenen.49
II. Kommunen in der Umbruchzeit 1989 / 1990 Zum Zeitpunkt der „Wende“ 1989 hatte sich die Rechtsstellung der Kommunen in West- und Ostdeutschland in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. In der „alten“ Bundesrepublik hatten sie einen verfassungsrechtlich garantierten Gestaltungsfreiraum für eigene Angelegenheiten, eigene unabhängige Organe und unterlagen in diesem Rahmen lediglich einer Legalitätskontrolle (Kommunalaufsicht). Lediglich bei übertragenen (staatlichen) Aufgaben standen dem Staat sachliche Weisungen im Einzelfall zu. Die Gebietsgrößen waren so ausgestaltet, dass eine hinreichende Leistungsfähigkeit zur Aufgabenerledigung gegeben war. Im Selbstverwaltungsbereich ergaben sich Handlungsbeschränkungen nur durch die Rechtsordnung oder aus monetären Zwängen. Jegliche staatliche Intervention in diesem Bereich war gerichtlich überprüfbar. Dagegen waren die Kommunen in der DDR 1989 vollends in das staatliche System eingebunden, echte Entscheidungskompetenzen politischer Art waren nicht gegeben, Gleichschaltung bzw. der Abgleich mit der parteipolitischen Struktur fand auf allen Ebenen statt. Der Umgestaltungsprozess wurde in räumlicher Hinsicht durch die systematische Zerschlagung gewachsener Kreisgebiete 1952 verstärkt. Abwehrmöglichkeiten gerichtlicher Art existierten nicht, kommunale Selbstverwaltung war nicht vorhanden. GBl. DDR I Nr. 18, S. 213. Ähnliche Formulierungen fanden sich für die Kreistage in § 39 Abs. 2 und für die Volksvertretungen der Gemeinden in § 61 Abs. 2. 49 Vgl. Kregel (Hrsg.), Kommunen im Aufbruch, 10 Jahre Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt, Halle / Saale 2000, S. 13 f.; Schneider (Fn. 37), S. 18. 47 48
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Die Rahmenbedingungen änderten sich erst nach der Volkskammerwahl 1990 mit der Bildung der Regierung de Maiziere.50 Diese hatte bei der Neugestaltung komplizierte strukturelle Ausgangsbedingungen zu bewältigen. Die Zahl der Landkreise entsprach in der DDR durch die früher gewollte Kleinteiligkeit und den Bedeutungswandel in etwa der Summe aller westdeutschen Landkreise. Im Kommunalbereich wurde nun ein rigoroser Richtungswechsel vollzogen, es sollten kommunale Selbstverwaltungsstrukturen herausgebildet werden. Leitvorstellung war dabei das aus den westdeutschen Bundesländern bekannte System. Die Kommunalverfassung sollte dabei stets Lösungen auf der kommunalen Ebene im Verhältnis Gemeinde zum Landkreis finden und nicht durch übergeordnete staatliche Einflüsse dirigiert werden.51 Die schwierigste Aufgabe in dem Reformprozess bestand darin, genügend Menschen zu finden, die bereit und fähig waren, altes Denken durch neues Handeln zu ersetzen, politische Verantwortung zu übernehmen und in den jungen Gebietskörperschaften mit wachsendem Sachverstand auszuüben. Der im Herbst des Jahres 1989 gebildete Runde Tisch schien einen Lösungsweg zu bieten, hier hatten sich erstmalig in der vom Untergang gezeichneten DDR Vertreter aller politischen Parteien und Bewegungen gefunden, um gemeinsam über einen gesellschaftlichen Neuanfang nachzudenken und kleine Schritte zur Demokratisierung des Alltagsgeschehens zu diskutieren.52 Bei der Erarbeitung eines Kommunalverfassungsgesetzes fungierten als Berater mehrere Vertreter aus den alten Bundesländern, im Ergebnis stellte dann die letztlich von der Volkskammer verabschiedete Kommunalverfassung von 1990 ein compositum mixtum dar, das grundsätzlich der bekannten westdeutschen Selbstverwaltungsstruktur entsprach, in der Ausgestaltung aber einige systembedingte Brüche aufwies, da mehrere westliche Ländermodelle kombiniert wurden. Die unterschiedlichen Regelungen führten denn auch zu einer teilweisen Nicht-Parallelität von Gemeindeordnung und Landkreisordnung. Die neue Kommunalverfassung wurde zudem in einer sehr kurzen Zeit zwischen März und Mai 1990 ausgearbeitet und lehnte sich nicht an eine bestimmte Kommunalverfassung der Bundesrepublik (Nord- und Süddeutsche Ratsverfassung, Magistratsverfassung oder Bürgermeisterverfassung)53 an, sondern trug einen eigenständigen Charakter. Es wurden zunächst die vertikalen Machtverhältnisse im politisch-administrativen System neu 50 Zur staatsrechtlichen Einschätzung des Umbruchs in Deutschland vgl. Fiedler, Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, in: Der Staat 31 (1992), S. 436; zur Frage der demokratischen Legitimation kommunalen Handelns in dieser Situation: Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 189 ff., 301 ff. und Henneke, 60 Jahre, doch ein bisschen leise: Die grundgesetzlich garantierte kommunale Selbstverwaltung, in: Der Landkreis 2009, S. 399. 51 Vgl. Preiß (Fn. 38), S. VII. 52 Michaelis, Altes Denken durch neues Handeln ersetzen, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Aufbruch in die Selbstverwaltung, Halle 1994, S. 400 ff. 53 Zu den Modellen vgl. Schmidt-Jortzig, Gemeindeverfassungstypen in der Bundesrepublik Deutschland, DöV 1987, S. 281.
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bestimmt, die Kommunen erhielten den Rechtscharakter einer Gebietskörperschaft zurück. Das Gesetz definierte die Gemeinde als eine Bürgergemeinschaft, die „in bürgerschaftlicher Selbstverantwortung das Wohl und das gesellschaftliche Zusammenleben ihrer Einwohner“ förderte. Die kommunale Selbstverwaltung wurde insbesondere durch die eigene Verantwortung über die Finanzen, die Satzungshoheit sowie durch einen umfassenden Katalog von Selbstverwaltungsaufgaben gesichert. Letzterer wurde durch die Möglichkeit ergänzt, öffentliche Aufgaben per Gesetz zu übertragen. Selbstverwaltungsorgane der Gemeinde waren die Gemeindevertretung und der Bürgermeister. Aus der Geschichte heraus war auch das Verhältnis zwischen Gemeinden und Landkreisen neu zu definieren. Waren die Gemeinden zuvor in der Rolle von Bittstellern gegenüber den Kreisen, bei denen zu DDR-Zeiten materielle und finanzielle Fonds konzentriert waren, so wurde die Existenz der Kreise nach der Wende als Selbstverwaltungsebene grundsätzlich in Frage gestellt, zumindest aber sollte diese stärker an die Voten der Gemeinden angebunden sein.54 Wichtigstes Gemeindeorgan wurde die Gemeindevertretung (Stadtverordnetenversammlung), die über alle wesentlichen Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeinde in eigener Zuständigkeit entscheiden sollte. Als eine Reaktion auf die Entmachtung der Gemeindevertretungen in der DDR sollte eine Machtkonzentration beim Bürgermeister und seiner Verwaltung verhindert werden, indem das Gesetz von dessen Urwahl absah und der Gemeindevertretung in § 30 sogar ein Abwahlrecht einräumte. Damit erhielt die Vertretung eine Schlüsselstellung, wenngleich begrenzende Faktoren aufgenommen wurden: Angesichts der negativen Erfahrungen aus der DDR und insbesondere den positiven Eindrücken aus den Wendezeiten waren die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger am Gemeindeleben bis hin zu kommunalen Plebisziten55 ausführlich ausgestaltet. Hierdurch sollten Bürgernähe und -beteiligung, Gemeinwohlausrichtung und Effizienz der örtlichen Verwaltung gefördert werden. Die Kommunalverfassung orientierte sich bei ihrer Entstehung ausdrücklich an der Tradition der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland von der Stein’schen Städteordnung über die demokratische Gemeindeordnung von 1946 bis hin zu den Kommunalverfassungen der westdeutschen Flächenländer.56 Kenngrößen des Gesamtprozesses waren politischer Pluralismus, das Bekenntnis zu demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Grundsätzen und damit Dezentralisation von Macht als Ziel einer Verwaltungsreform. Hierdurch sollten auch zwei weitere Ziele verfolgt werden, die Annäherung an die westdeutschen Länder und die Erreichung allgemein anerkannter gesamteuropäischer Standards kommunaler Selbstverwaltung, wie sie in der „Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung“ vom 15. Oktober 1985 niedergelegt sind. 54 Vgl. hierzu grundlegend: Knemeyer (Hrsg.), Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in der DDR. Grundsätzliches und Dokumentation zur Entstehung der Kommunalverfassung, Baden-Baden 1996. 55 § 18 Bürgerantrag, Bürgerentscheid, Bürgerbegehren. 56 Vgl. auch Preiß (Fn. 38), S. V f.
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Die Praxis verschärfte die rechtlichen Unwuchten dadurch, dass der Umgestaltungsprozess – noch in der Endphase der DDR – durch eine unter mehreren Aspekten rechtshistorisch wohl einmalige Besonderheit gekennzeichnet war. Handlungsabläufe, die nach traditionellem Verständnis aufeinander aufbauen, verliefen teilweise parallel und führten zu der historischen Umbruchsituation geschuldeten Friktionen. Der Umbau der staatsgelenkten Kommunalverwaltung, die sich zuvor als „fester Bestandteil der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht, Hauptinstrument des von der Arbeiterklasse und ihrer Partei geführten werktätigen Volkes zur weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der DDR“ verstand, zu einer demokratisch kontrollierten und dem Rechtsstaat verpflichteten Selbstverwaltungskörperschaft erfolgte unter schwierigen Bedingungen. Hilfestellungen konnten die Kommunen von der ehemaligen zentralen staatlichen Leitungsund Planungsebene und durch das „Rückgrat“ der politisch administrativen Handlungsstränge der alten DDR in den Bezirken nicht mehr und von den erst später gebildeten Länderorganen noch nicht erhalten. Unmittelbar vor der Wirtschaftsund Währungsunion füllten die Kommunen mit ihren im Aufbau begriffenen Verwaltungen ein Entscheidungsvakuum nach eigenen Handlungsmaximen und besten Absichten.57 Sofort nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 setzten die Arbeiten zur Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung ein, die zum Zeitpunkt der Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 noch nicht abgeschlossen waren. Die Kommunalwahlen selbst fanden noch unter Geltung des „Gesetzes über die örtlichen Volksvertretungen in der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 4. Juli 1985 statt. Es handelte sich mithin um Wahlen auf einer durch die Verfassungswirklichkeit schon überholten bzw. nicht mehr verbindlichen Rechtsgrundlage und damit um eine Situation, die es nur in Zeiten eines Umbruchs geben konnte.58 In dieser Rechtsunsicherheit verliefen auch die Wahlen. Teilweise wussten weder die Wähler noch die Gewählten in den Städten, Gemeinden und Landkreisen, nach welchen Rechtsnormen sie zu handeln hatten. Unmittelbar nach den Kommunalwahlen im Mai 1990 sahen sich die gewählten kommunalen Mandatsträger vor die Aufgabe gestellt, die vom Runden Tisch und den verbliebenen Mitarbeitern des Rates des Kreises und des Rates der Gemeinde notdürftig aufrechterhaltene Verwaltung von Grund auf umzugestalten und die gesamte Führungsspitze, insbesondere Landräte, Bürgermeister, Dezernenten, Gemeindevertretungsvorsteher und Fraktionsvorsitzende neu zu besetzen. Oft übernahmen neugewählte Mandatsträger unter Aufgabe ihres Berufes die für sie berufsfremden kommunalen Führungsfunktionen. Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern stellte eine komplexe Herausforderung dar: Ein in personeller Erneuerung begrif57 Vgl. Leimbach, Nach dem Untergang des Rates des Kreises Aschersleben, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Fn. 52), S. 9 ff. und zur Gesamtsituation: Scheytt, Reorganisation der kommunalen Selbstverwaltung in: Rühl (Hrsg.): Institutionelle Reorganisation in den neuen Ländern – Selbstverwaltung zwischen Markt und Zentralstaat, Marburg 1992, S. 34 f. 58 Kregel (Fn. 49), S. 20.
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fener Verwaltungsapparat hat auf der Basis neuen Rechts eine Vielzahl ungewohnter Aufgaben zu erfüllen.59 In tatsächlicher Hinsicht hatte sich die Situation noch weiter fortentwickelt: Die gewählten kommunalen Mandatsträger waren „wendebewegt“ bestrebt, ihre örtliche Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung schnellstmöglich zu vollenden und nahmen dazu die Arbeiten zeitnah auf, obwohl materiellrechtliche Grundlagen neuen Typus noch nicht existierten. Das „Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR“ (Kommunalverfassung) wurde von der Volkskammer nämlich erst am 17. Mai 1990 beschlossen60. Es gelangte oft erst Mitte Juni 1990 in die Kommunen und somit einen Monat nach der tatsächlichen Arbeitsaufnahme der neugewählten Organe. Die kommunalen Handlungsträger kannten damit zur Zeit der Konstituierung61 der neugewählten Vertretungen oft die gültigen formalgesetzlichen Vorgaben nicht. Über die Verfassung einer Kommune und die Aufgaben ihrer Organe gab es keine Vorgaben oder Hinweise, allenfalls vage Vorstellungen. Bestehende formalrechtliche Legitimationen für Rechtshandlungen bei der Konstituierung gab es nicht, außer der Eröffnung der konstituierenden Sitzung der Vertretung durch den an Jahren ältesten Mandatsträger war auch nichts vorbereitet. Es bestand lediglich die Absicht, einen Vorsitzenden, einen Vorstand, einen Landrat, Bürgermeister, Beigeordnete und Mitglieder des Kreisausschusses zu wählen und weitere Ausschüsse zu bilden. Kandidaten waren vorhanden, aber keine Geschäftsordnung, keine Wahlordnung und kein Wahlvorstand. Satzungen, die die Aufgaben der zu besetzenden Gremien irgendwie bestimmt hätten, existierten ebenso wenig wie eine Verwaltungsstruktur. Trotz einer gewissen Fülle alter und neuer, durch die Volkskammer hektisch beschlossener Gesetze war die Anwendbarkeit alter Rechtsvorschriften zweifelhaft, die neuen Normen waren entweder unbekannt oder für die Akteure vor Ort unverständlich. Anleitungen und Unterstützungen durch den Staat fanden nicht statt. Der frühere dirigistisch steuernde Rat des Bezirkes, nunmehr zur Bezirksverwaltungsbehörde umgewandelt, war handlungsunfähig. Die gerade erst gebildete letzte Regierung der DDR war so schon von Beginn an durch erste Auflösungserscheinungen gekennzeichnet.62 Die kommunale Praxis erarbeitete daher ihre örtlichen Verwaltungsstrukturen unter Verwendung des Gedankengutes des Runden Tisches. Die Auswahl von Amtsleitern erfolgte aus den Personalvorschlägen des Runden Tisches und des ehemaligen Rates des Kreises sowie aus direkten Bewerbungen unter Beteiligung des Personalausschusses der jeweiligen Vertretung. Ausschlaggebend war für die Be59 Wöllmann, Kommunalpolitik und Verwaltung in Ostdeutschland: Institutionen und Handlungsmuster im paradigmatischen Umbruch, in: Blanke (Hrsg.), Staat und Stadt, Politische Vierteljahresschrift 1991, S. 238 f. 60 GBl. DDR I, S. 255. 61 In aller Regel konstituierten sich die neugewählten Vertretungen zwischen Mitte Mai und Anfang Juni 1990. 62 Dube, Zwischen Burgen und Weingärten – Landkreis Naumburg, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Fn. 52), S. 306 ff.
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ratung im Personalausschuss die fachliche Eignung unter deutlicher Beurteilung der politischen Vergangenheit. Alle Amtsleiter wurden durch die Vertretung gewählt.63 In fachlicher Hinsicht griffen die Kommunen regelmäßig auf Empfehlungen von Beratern aus den westdeutschen Bundesländern zurück, die ihr jeweiliges „Heimatrecht“ zur Anwendung brachten. Diese Empfehlungen entsprachen aber insbesondere im Bereich der inneren Verfassung nicht immer den parlamentarischen Festlegungen in der Kommunalverfassung. So entstand in den Kommunen oft ein „buntes“ Bild. Diese örtlichen „Sonderstrukturen“ wurden angesichts drängender Sachfragen zunächst nicht an die gesetzliche Vorgabe angepasst, eine hierzu zwingende Kommunalaufsicht existierte faktisch nicht. So gab es in einigen Kommunen, dem Vorbild der niedersächsischen Partner folgend, die die norddeutsche Verfassung kennzeichnende Doppelspitze, bestehend aus dem Stadt- / Gemeindedirektor und dem ehrenamtlichen Bürgermeister als Ratsvorsitzendem, in anderen Gemeinden entschied man sich für das an die süddeutsche Ratsverfassung angelehnte eingleisige Modell. Die Kompetenzausgestaltung an der Spitze erfolgte beim zweigleisigen Modell oft „freihändig“, indem sich Bürgermeister und Stadtdirektor bzw. Landrat und Oberkreisdirektor die Aufgaben „teilten“, hauptamtlich tätig waren und in der Spitzenbesoldung vergütet wurden. Die Parallelstrukturen bestanden teilweise bis zum Ende der ersten Wahlperiode im Juni 1994. Getragen wurden diese Entwicklungen durch den unbedingten Gestaltungswillen aller Akteure, aber auch vor dem Hintergrund der damaligen Arbeitsmarktsituation. Aus dem Selbstverständnis der „runden Tische“, betreffend weitumfassende Beteiligung am demokratischen Entscheidungsprozeß, wurde zudem eine oft sehr hohe Zahl an Beigeordneten gewählt, die regelmäßig auch hauptamtlich tätig waren und entsprechende Dezernate leiteten.64 Die Kommunalverfassung von 1990 beließ diesen Spielraum.65
III. Situation nach der Länderbildung 1. Aufbau neuer Rechtsgrundlagen Mit dem Einigungsvertrag, dem Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 und mit dem Vollzug der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 entsprach der Status der neu gebildeten Länder grundsätzlich dem der westdeutschen Bundesländer. Die DDR-Bezirke waren aufgelöst, im Land Sachsen-Anhalt wurden die Regierungsbezirke Dessau, Halle und Magdeburg gebildet. Die neuen Lan63 Mewes, Anmerkungen des Osterburger Landrats, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Fn. 52), S. 348. 64 So hatte 1990 ein Landkreis mit 30 000 Einwohnern 18 Beigeordnete gewählt. 65 Vgl. §§ 28 und 92 der Kommunalverfassung.
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desorgane konnten jedoch noch nicht sofort und umfassend agieren, die Landesparlamente der ostdeutschen Bundesländer wurden erst am 14. Oktober 1990 gewählt und nahmen danach langsam ihre Arbeit auf. Die Landesregierungen mussten auch aufgebaut werden, die volle Arbeitsbereitschaft setzte frühestens ab Sommer 1991 ein. Für den kommunalen Bereich ergaben sich zunächst keine unmittelbaren Änderungen. Die Kommunen waren angesichts des Landesaufbaus mit der Rechtsentwicklung und der Gestaltung der örtlichen Verhältnisse auf sich allein gestellt. Die oft entgegen der Kommunalverfassung von 1990 selbst gebildeten Strukturen verfestigten sich immer mehr, eine korrigierende handlungsfähige Kommunalaufsicht des Landes existierte noch nicht. Mit der staatlichen Einheit hatte die vom Grundgesetz garantierte kommunale Selbstverwaltung auch für die neu entstandenen Länder Verfassungsrang, die neuen Landesverfassungen gestalteten diese Garantie später landesverfassungsrechtlich aus66. Demgemäß verfügten zu diesem Zeitpunkt die Länder noch nicht über eigene Kommunalverfassungsgesetze. Der Einigungsvertrag hatte deshalb bestimmt, dass die Kommunalverfassung der DDR vom 17. Mai 1990 mit ihren Folgeregelungen als Landesrecht so lange in Kraft bleiben sollte, bis die Landtage der neuen Bundesländer sie durch eigene Kommunalgesetze ersetzen würden. Es bestand die dem formalen Anschein nach ungewöhnliche Situation, dass unter dem Schirm des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Recht der inzwischen untergegangenen DDR weiterhin Bestand hatte. Dieser scheinbare Gegensatz relativierte sich jedoch insofern, als diese letztlich aus einer friedlichen Revolution hervorgegangene Kommunalverfassung des Jahres 1990 wieder auf den Grundsätzen der kommunalen Selbstverwaltung basierte. Zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens konnte davon ausgegangen werden, dass die staatliche Einheit Deutschlands in der Form des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß dessen Artikel 23 zustande kommen würde. Die Normen der DDR-Kommunalverfassung waren in Abstimmung mit bundesdeutschen Experten erarbeitet worden. Sie waren in ihren maßgeblichen Regelungen eng an das rechtsstaatliche Verständnis kommunaler Selbstverwaltung angelehnt und konnten deshalb auch langfristig als Grundlage für deren weitere Ausgestaltung dienen. Erst nach und nach griff der Landesgesetzgeber durch eigene Regelungen in das kommunale Gefüge ein,67 der Zeitraum für die landesrechtliche Gesamtgestaltung des kommunalen Verfassungsrechts erstreckte sich in den ostdeutschen Ländern über mehr als drei Jahre. In Sachsen-Anhalt endete er mit dem Inkrafttreten der Gemeindeordnung und der 66
So Art. 87 LV LSA; Art. 97 BBg LV; Art. 72 LV MV; Art. 84 Sächs LV; Art. 91 Thür
LV. 67 So in Sachsen-Anhalt zuerst durch Art. II des Gemeindefinanzierungsgesetzes vom 23. 4. 1991, GVBl. LSA S. 28 und durch die Einführung dienstrechtlicher Vorschriften in die Kommunalverfassung durch das Gesetz zur Änderung der Kommunalverfassung vom 23. 8. 1991, GVBl. LSA S. 286.
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Landkreisordnung zum 1. Juli 1994.68 Die Gesetze folgten im Wesentlichen dem bundesüblichen Standard, die innere Verfassung lehnte sich an die süddeutsche Ratsverfassung an, beschritt aber bei der Feinausgestaltung einen Sonderweg, der die Machtverteilung zwischen Vertretung und Hauptverwaltungsbeamten stärker ausbalancierte.69 Im Ergebnis war die Entwicklung des Kommunalverfassungsrechts bis 1994 ein „Aufholprozess“, der entscheidend durch das Bestreben nach qualitativer Parallelität zu den westdeutschen Kommunalverfassungsgesetzen geprägt war.70 Alle ostdeutschen Länder entschieden sich bei der inneren Verfassung für die süddeutsche Ratsverfassung als Grundmodell. Besonderes Augenmerk wurde auch auf die Ausgestaltung kommunaler Plebiszite gelegt, die, wie schon ausgeführt, zu den allerersten Neuerungsüberlegungen bei der Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung 1990 gehörten.71 In der Folge beider Grundausrichtungen setzten entsprechende Diskussionsprozesse auch in den westdeutschen Flächenländern ein, die zuvor so nicht stattgefunden hatten oder hätten, wie die Beispiele der Aufgabe der „ehernen“ und Jahrzehnte lang praktizierten norddeutschen Ratsverfassung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen belegen, wenngleich dort auch zunächst eine nachhaltig modifizierte Form des süddeutschen Modells implementiert wurde. Im Bereich kommunaler Plebiszite führte die Diskussion zunächst zu einem neuen bundesweiten Standard und danach zu einer Fortentwicklung durch westdeutsche Länder wie den Freistaat Bayern, deren noch aktuelle Vorreiterrolle in diesem Bereich zuvor nicht unbedingt zu vermuten war. Mit ihrer Ausgestaltung des Kommunalverfassungsrechts konnten die ostdeutschen Länder Mitte der neunziger Jahre damit nicht nur den qualitativen Aufholprozess beenden, sondern darüber hinaus auch einige Trends setzen, die zu politischen Diskussionen, Rechtsänderungen und auch partiellen Neuausrichtungen in den westdeutschen Ländern führten. Seither verlaufen die Modifizierungen des Kommunalverfassungsrechts im Wesentlichen parallel, die notwendigen Regelungsbereiche sind identisch, wie insbesondere die Ausgestaltung des Unionsbürgerrechts im Kommunalbereich, die Grundüberlegungen zum kommunalen Wirtschaftsrecht, die Einführung eines neuen Haushalts- und Kassenwesens und die Rechtsanpassungen an die Vorgaben des europäischen Unionsrechts (Dienstleistungsrichtlinie, Vergaberecht) zeigen.
68 Gesetze vom 5. 10. 1993, GVBl. LSA S. 568 und 598; vgl. hierzu: Klang, Neugestaltung der Kommunalverfassung in Sachsen-Anhalt, LKV 1994, S. 265. 69 Vgl. hierzu Klang / Gundlach, Gemeindeordnung Sachsen-Anhalt, Kommentar, Magdeburg 1995, Erl. zu § 36 Rn. 4; § 44 Rn. 1 ff.; zu § 47 Rn. 2; zu § 48 Rn. 4; zu § 64 Rn. 1 ff.; Klang, Gemeindeordnung Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1994, S. 6 ff. 70 So in der Einschätzung ähnlich: ThürVerfGH, Urteil vom 18. 12. 1996, LVerfGE 5, 391, 418 und Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. 7. 2007, Az. LVerfG 9 – 17 / 06, Entscheidungsgründe CII2a; zur Situation in Sachsen-Anhalt: Klang, Entwicklung des Kommunalverfassungsrechts in Sachsen-Anhalt, LKV 1996, S. 40 und ders., Novellierung des Kommunalverfassungsrechts in Sachsen-Anhalt, LKV 1998, S. 81. 71 Vgl. Kap. B.
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2. Strukturelle Ausgangsbedingungen Besondere Herausforderungen für die Ausbildung leistungsstarker Kommunalstrukturen in den neuen Ländern verursachten die vorhandenen Strukturen, insbesondere die Größe kommunaler Gebietskörperschaften sowie die quantitative und qualitative Personalausstattung. Sachsen-Anhalt liegt mit seiner Größe nach Fläche und Einwohnerzahl im Mittelfeld der Bundesländer. Es weist in den Landesteilen eine sehr unterschiedliche Bevölkerungsdichte auf. Der größte Teil der Bevölkerung ist im ländlichen Raum ansässig. Die kommunale Landschaft Sachsen-Anhalts zur Zeit der Ländereinführung war durch eine große Zergliederung gekennzeichnet. Das Land verfügt über eine Fläche von 20 444 qkm, auf der am 3. Oktober 1990 insgesamt 2 890 474 Menschen lebten.72 Das Land war in drei Regierungsbezirke, 37 Landkreise, drei kreisfreie Städte gegliedert und hatte am 31. 12. 1990 insgesamt 1 364 kreisangehörige Einheitsgemeinden. 71 Prozent der Gemeinden besaßen weniger als 1 000 Einwohner und lediglich 4,5 Prozent mehr als 5 000 Einwohner. Kleinräumigkeit kennzeichnete auch die Struktur der Landkreise, die bei Einwohnerzahl, Fläche und ökonomischer Leistungskraft erhebliche Unterschiede aufwiesen. Die Einwohnerspanne variierte zwischen 21 229 und 120 850, die Flächenspanne zwischen 178 und über 1 000 qkm, die Einwohnerdichte zwischen 40,7 und 279,2 Einwohner je qkm. Da die meisten Gemeinden hauptamtlich verwaltet wurden, wies die erste amtliche Personalbestandsstatistik für Sachsen-Anhalt für Gemeinden und Landkreise am 30. Juni 1991 rund 119 500 Beschäftigte (einschließlich Krankenhäuser) aus. Entsprechend hoch war der Personalkostenanteil am Verwaltungshaushalt, der oft über 60 Prozent lag und das bei einem im Vergleich zu den westdeutschen Kommunen wesentlich geringeren Vergütungsniveau, die Reformnotwendigkeit in dieser Hinsicht war frühzeitig erkennbar. Hinzu kam, dass das kommunale Verwaltungspersonal in der Regel nicht über den Ausbildungs- und Erfahrungsstand westdeutscher öffentlich Bediensteter verfügte. Landrat, Bürgermeister, Dezernenten und auch die einige Zeit später ins Amt gekommenen Amtsleiter stammten zum großen Teil aus verwaltungsfremden Berufen. Die wichtigsten Qualifikationsmerkmale für eine Einstellung waren politische Unbelastetheit, unbedingter Wille zum Engagement und Lernfähigkeit. Geeignete Bewerber wurden mehr gesucht als dass sie sich anboten. Ein Landrat charakterisierte die anfängliche Personalsituation als Zeitzeuge mit den Worten „Dilettanten mit gutem Willen“.73 Noch deutlicher wird die Situation aus dem Zeitzeugenbericht eines weiteren Landrates: „Daher experimentierten wir mit der Zahl der Dezernate von anfänglichen neun bis zu derzeit vier. Da der Rat des Kreises 18 Ratsbereiche hatte, kam uns die Reduzierung auf Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt. Schindler, Der Weg im Landkreis Köthen, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Fn. 52), S. 277. 72 73
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neun Dezernate als eine große Vereinfachung vor. Das Fehlen landesrechtlicher Gesetze, der Übergang von DDR- zu Bundesrecht und eine allgemeine Rechtsunkenntnis aller Mitarbeiter erschwerte die Arbeit enorm. Anfänglich war im ganzen Landratsamt kein einziger im bundesdeutschen Recht ausgebildeter Jurist. Es dauerte ein dreiviertel Jahr, bis sich ein geeigneter Bewerber fand.“74 Quantitativ erwies sich die Struktur der Verwaltung nach bundesdeutschen Vorstellungen als deutlich zu umfangreich und konnte daher – auch unter Finanzaspekten – nur eine des Übergangs sein. Die Notwendigkeit einer beständigen Weiterentwicklung und einer Personalreduzierung war schon früh erkennbar. Sie war gleichwohl aus sozialen Erwägungen heraus nicht sofort vermittelbar. Zudem glaubte die Bevölkerung, der Bürgermeister oder der Landrat könne mit seiner „Allmacht“ dieses Problem lösen.75 Dies alles hatte Auswirkungen auf die Verortung von Verwaltungsaufgaben: Ist die Situation in westdeutschen Bundesländern im Interesse der Bürgernähe durch eine möglichst umfassende Anbindung im kommunalen Bereich gekennzeichnet, so war dies in Anbetracht der Größe und der Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Kommunen nicht in gleichem Umfang möglich, im Ergebnis führte das zur Errichtung zahlreicher staatlicher Sonderbehörden und tendenziell einer dortigen Aufgabenanbindung.76 In diesem Zusammenhang wurde schon im ersten Jahr der neugebildeten Länder die Frage nach der hinreichenden Leistungsfähigkeit, Veranstaltungs- und Organisationskraft der Kommunen gestellt. Um den wachsenden Anforderungen an die Verwaltungskraft gerecht zu werden, sollte sich die gemeindliche und die kreisliche Ebene perspektivisch auf Zusammenarbeit in den bekannten Formen kommunaler Gemeinschaftsarbeit konzentrieren.77 Die erste Landesregierung Sachsen-Anhalts hatte im Jahre 1990 angesichts der Umwälzungen im staatlichen Bereich nicht beabsichtigt, bereits in der ersten Legislaturperiode den Gebietszuschnitt der Gemeinden und Landkreise zu verändern. 3. Reformen Die schwierigen strukturellen Ausgangsbedingungen führten nach einer Regierungsumbildung im Sommer 1991 zur Erkenntnis, dass die Gebietsstrukturen und die damit verbundene Verwaltungskraft insbesondere der Landkreise den Anforderungen an eine leistungsfähige Kreisverwaltung nicht mehr genügen und der Änderung bedürfen. Die Aspekte der Bevölkerungsentwicklung, der Wirtschafts- und Mahlo, Quedlinburger Wegstrecken, in: Landkreistag Sachsen-Anhalt (Fn. 52), S. 362 ff. So der zeitbezeugende Bericht des Landrates Mewes (Fn. 63), S. 348. 76 Vgl. beispielsweise die Verortungen in den Zuständigkeitsverordnungen im Immissions-, Gewerbe- und Arbeitsschutzrecht, GVBl. LSA 1992, S. 41, über sachliche Zuständigkeiten für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, GVBl. LSA 1991, S. 244. 77 Als Instrumente wurden Zweckverbände und Zweckvereinbarungen favorisiert. 74 75
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Finanzkraft sowie die öffentliche Finanzsituation waren zu der Zeit noch nicht im Fokus. a) Kommunal- und Funktionalreform 1994 Die Landesregierung berief 1991 eine Projektgruppe, die den Auftrag hatte, Leitbilder für hauptamtlich verwaltete Körperschaften in der Gemeinde- und der Landkreisebene zu erarbeiten. Die Gebietskörperschaften sollten die für künftige Aufgabenstrukturen notwendige Veranstaltungs- (für die Selbstverwaltungsaufgaben) und Verwaltungskraft besitzen. Die Gebietsneugliederung sollte mit einer Verwaltungsneuordnung einhergehen, um die Akzeptanz beim Bürger zu erhöhen. Das bedeutete die Eingliederung möglichst vieler Aufgaben staatlicher Sonderbehörden in die Bündelungsverwaltungen der Landkreise und Bezirksregierungen. Die Landkreise sollten so gestaltet werden, dass sie die übergemeindlichen Aufgaben künftig sachgerecht wahrnehmen, den Ausgleich der unterschiedlichen Leistungskraft der Gemeinden leisten, Einrichtungen unterhalten können, zu denen einzelne Gemeinden nicht imstande sind, und die Gemeinden verwaltungsmäßig unterstützen können. Sie sollten die Gesamtverantwortung für die Entwicklung des Kreisgebietes wahrnehmen können und in der Lage sein, leistungsfähige überörtliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu unterhalten, etwa Schulträgerschaft oberhalb der Grundschulebene, Kreisstraßenträgerschaft, Abfallwirtschaft, Sozialhilfe und Jugendhilfe, übergemeindlicher Brandschutz, Katastrophenschutz und Rettungsdienst, Krankenhausversorgung, kulturelle Aufgaben, öffentlicher Personennahverkehr, Energieversorgung, Trägerschaft für die Regionalplanung. Daneben sollten die Landkreise zur ortsnahen, fachtechnisch spezialisierten und rationellen Erfüllung der übertragenen Verwaltungsaufgaben in einer Bündelungs- und Einheitsbehörde fähig sein. Das 1992 fertig gestellte Leitbild wies für Gemeinden unter verwaltungsökonomischen Gesichtspunkten eine sinnvolle Größenordnung von 10 000 bis 12 000 Einwohnern aus. Bürgernähe, Überschaubarkeit und letztlich Akzeptanz bei Berücksichtigung von Bevölkerungsdichte und -struktur, topografischen Gegebenheiten, historischen Entwicklungen, sozio-ökonomischen Beziehungen, kultureller und verkehrlicher Infrastruktur sowie Verwaltungskraft führten zur Erkenntnis, dass die aufgezeigten Kriterien in jedem Einzelfall einer gründlichen Abwägung bedürfen. Hier lag die Schwierigkeit vor allem darin, die für den Zuschnitt von Einzugsbereichen errechneten Größen als fassbare Kriterien der Verwaltungsökonomie mit den Kriterien der Akzeptanz zu verknüpfen, die weit weniger in Zahlen fassbar sind. Danach erschien es sinnvoll, als untere wirtschaftliche und funktionale Größenordnung Einheiten von 5 000 Einwohnern zu akzeptieren. Im Ergebnis wurde für die Kreisebene festgestellt, dass ausgehend von einem angemessenen Verhältnis von Leistungskraft und Auslastung auf der einen Seite und von Kosten und Nutzen auf der anderen Seite Landkreise mit einer Einwohnerzahl von möglichst 100 000 bis 120 000 erreicht werden sollen. Wegen der nicht oder
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nur unvollständig quantifizierbaren Abwägungskriterien sollten im Einzelfall auch kleinere Landkreise akzeptiert werden, ohne eine Unterschreitung der Grenze von 80 000 Einwohnern.78 Daraufhin wurde in den Jahren 1993 / 1994 flächendeckend eine Kreisgebietsreform und eine Gemeindeverwaltungsreform durchgeführt. Angesichts zahlreicher Widerstände im politischen Bereich blieb die politische Umsetzung jedoch deutlich hinter den Erkenntnissen der Arbeitsgruppe zurück (Beispiel Altmark). Das tatsächlich erreichte Ergebnis verkehrte einige Aspekte in ihr Gegenteil, in dem die dünn besiedelten Gebiete große Einheiten schafften, während dicht besiedelte Gebiete bei kleineren Einheiten verhafteten. Das zum 1. Juli 1994 in Kraft getretene Gesetz zur Kreisgebietsreform79 reduzierte die Zahl der Landkreise von 37 auf 21. Im Gemeindebereich fand angesichts der fortgeschrittenen Legislaturperiode keine Gebiets-, sondern eine Verwaltungsreform statt, die den bisherigen § 31 der Kommunalverfassung (Verwaltungsgemeinschaften) in Anlehnung an die schleswig-holsteinische Ämterstruktur weiter ausbildete und zudem auf Freiwilligkeit setzte.80 Den Gemeinden wurde flächendeckend empfohlen, durch Abschluss einer öffentlich-rechtlichen Vereinbarung Verwaltungsgemeinschaften zur Stärkung ihrer Verwaltungskraft zu bilden. Grundlage hierfür war das Gesetz zur Neuordnung der kommunalen Gemeinschaftsarbeit vom 9. Oktober 1992,81 dessen § 4 die für die Durchführung der Aufgaben erforderliche Leistungsfähigkeit regelmäßig ab einer Einwohnerzahl 5 000 annahm. Diese Einwohnerzahl wurde jedoch nicht als absoluter Grenzwert angesehen, Abweichungen nach unten blieben zulässig. Hiervon wurde auch Gebrauch gemacht. Da sich bis Frühjahr 1994 nicht alle Gemeinden im Lande zu Verwaltungsgemeinschaften zusammengeschlossen hatten, wurde das Gesetz zur Neuordnung der kommunalen Gemeinschaftsarbeit um eine Verordnungsermächtigung ergänzt, die es der Landesregierung ermöglichte, Gemeinden zwangsweise einer Verwaltungsgemeinschaft zuzuordnen.82 Mit der Verordnung über die Zuordnung von Gemeinden zu Verwaltungsgemeinschaften 83 konnte die Reform mit der Bildung von insgesamt 219 Verwaltungsgemeinschaften zum 30. Juni 1994 abgeschlossen werden. Das Modell der Verwaltungsgemeinschaften 78 Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, „Leitbild der zukünftigen Strukturen der Gebietskörperschaften im Land Sachsen-Anhalt“, Magdeburg 31. 3. 1992. 79 Gesetz zur Kreisgebietsreform vom 13. 7. 1993, GVBl. LSA S. 352. 80 Ähnliche Strukturen bildeten, wenngleich auch unter teilweise anderen Bezeichnungen, die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen, vgl. z. B. Meyer, Ämterverfassung und Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1993, S. 399; Bernet, Zu Grundfragen der kommunalen Gemeindeverwaltungs- und Kreisgebietsreform in den neuen Ländern, LKV 1993, S. 393. 81 Gesetz zur Neuordnung der kommunalen Gemeinschaftsarbeit vom 9. 10. 1992, GVBl. LSA S. 730. 82 GVBl. LSA 1994, S. 164. 83 GVBl. LSA 1994, S. 495.
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war als Körperschaft ausgestaltet, der Charakter einer Gebietskörperschaft war nicht gewollt.84 Die drei kreisfreien Städte und auch die drei Regierungsbezirke blieben erhalten. b) Leitbild für eine Kommunalreform 1999 Anders als die anderen ostdeutschen Bundesländer85 setzte das Land SachsenAnhalt seine Reformbemühungen nach dem Wahljahr 1994 zunächst nicht weiter fort. Nach und nach wurde jedoch erkannt, dass die Bildung von Verwaltungsgemeinschaften nicht in allen Fällen zur Steigerung der gemeindlichen Verwaltungskraft geführt hatte. Gründe hierfür waren der wegen der Betreuung vieler Mitgliedsgemeinden hohe Verwaltungsaufwand, Fehlen originärer Selbstverwaltungsaufgaben, Spannungen im Verhältnis zwischen ehrenamtlichen Bürgermeistern der Mitgliedsgemeinden und der hauptamtlichen Verwaltung der Verwaltungsgemeinschaft und das nicht immer mit dem Gesetz kongruente Amtsverständnis einiger ehrenamtlicher Bürgermeister. Verwaltungsqualität litt teilweise unter dem „politischen Preis“ der freiwilligen Bildung der Verwaltungsgemeinschaften, in deren Verwaltung oftmals das gesamte Personal der bisher selbständigen Mitgliedsgemeinden ohne Rücksicht auf Qualifikation, Eignung und Bedarf zur Aufgabenerledigung übernommen wurde.86 Zudem waren im ländlichen Raum stark abnehmende Einwohnerzahlen zu konstatieren, mehrere Verwaltungsgemeinschaften waren bereits deutlich unter die Mindestgröße von 5 000 Einwohnern abgesunken, gleiche Entwicklungen waren für die Einheitsgemeinden und Landkreise festzustellen. 68 Prozent der Gemeinden besaßen weniger als 1 000 und 38 Prozent sogar weniger als 500 Einwohner. Ein ähnliches Bild boten die Landkreise, bei denen sechs der 21 die 1994 geforderte Mindestgröße nicht mehr erreichten und nur vier über die damals vom Landtag festgelegte Idealgröße verfügten.87 In einem 1999 vorgelegten „Leitbild für Sachsen-Anhalt (Kommunalreform und Reform der Landesverwaltung)“ bewertete die Landesregierung den Zustand der Kommunen neu88 und erkannte die demografische Entwicklung in Ostdeutschland als wesent84 Zur Verwaltungsgemeinschaft in Sachsen-Anhalt vgl. Klang / Müller / Kirchmer, Handbuch Kommunalrecht Sachsen-Anhalt, Halle 1999, S. 181 ff. und Klang / Gundlach, Gemeindeordnung und Landkreisordnung für das Land Sachsen-Anhalt, 2. Aufl., Magdeburg 1999, S. 325 ff. 85 Vgl. z. B. Stüer / Landgraf, Gebietsreform in den neun Ländern – Bilanz und Ausblick, LKV 1998, S. 209; Pfeil, Der gesetzliche Abschluss der Gemeindegebietsreform im Freistaat Sachsen, LKV 2000, S. 129; Schmahl, Die Brandenburgische Gemeindereform auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, DVBl. 2003, S. 1300; Meyer, Zukunftsfähige Gemeinde- und Ämterstrukturen in Mecklenburg-Vorpommern?, LKV 2004, S. 241. 86 Kregel (Fn. 49), S. 163 f. 87 Die Bevölkerungsdichte betrug im Landesdurchschnitt 130 Einwohner / qkm, bei den Landkreisen variierte sie zwischen 44 und 225, in den kreisfreien Städten zwischen 585 und 1 934. Zu den Reformbestrebungen 1999 bis 2001 in Sachsen-Anhalt vgl. Püchel / Klang, Kommunalreform in Sachsen-Anhalt, LKV 2001, S. 5 ff.
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lichen Nachteil für die Wettbewerbsfähigkeit, Finanz- und Leistungskraft der Kommunen. In einem Zeitraum von fünf Jahren hatten die kreisfreien Städte bis zu 12,5 Prozent an Einwohnern, die Landkreise bis zu fünf Prozent verloren, gleichzeitig gewannen vier an die kreisfreien Städte angrenzende Umlandlandkreise deutlich, bis zu 23 Prozent, hinzu.89 Reformbedarf wurde hinsichtlich der Durchführung einer Gemeindegebiets-, Kreisgebiets- und Funktionalreform, die unter Nachhaltigkeitserwägungen einen Bestand von mindestens 20 Jahre haben sollte, festgestellt. Die beabsichtigte Organisationsstruktur sah den Vorrang der Einheitsgemeinde, die Stärkung der Ortschaft, die Zulässigkeit der Verwaltungsgemeinschaft nur noch ausnahmsweise und bei einer Mindestgröße von 10 000 Einwohnern und nicht mehr als sieben Mitgliedsgemeinden, die ihrerseits mindestens 1 200 Einwohner besitzen sollten. Gemeinden im Umland kreisfreier Städte sollten sich zu Einheitsgemeinden zusammenschließen oder in die kreisfreien Städte eingemeindet werden. Die Landkreise sollten mindestens 150 000 Einwohner besitzen. Der politische Diskussionsprozess mündete in mehreren Vorschaltgesetzen für eine Kommunalreform, unter anderem mit einem beabsichtigten Modellwechsel der bisherigen Verwaltungsgemeinschaften hin zum Modell der rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde90. Diese Reformvorstellungen konnten angesichts der fortgeschrittenen Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt werden und fielen letztlich der Landtagswahl 2002 zum Opfer.91 c) Verwaltungsgemeinschafts- und Kreisgebietsreform 2002 bis 2006 Die 2002 neu ins Amt gelangte Landesregierung veränderte den Reformansatz völlig und führte eine Verwaltungsgemeinschaftsreform durch. Ziel war die Stärkung hauptamtlicher Verwaltungsstrukturen auf Gemeindeebene und die dauerhafte Sicherung der erforderlichen Leistungsfähigkeit. Der Reformprozess sollte ausdrücklich nicht den ehrenamtlichen Bereich, also die Gebietsstrukturen der Mitgliedsgemeinden und deren Organe, erfassen, um so das ehrenamtliche Element kommunaler Selbstverwaltung gerade im ländlichen Bereich zu bewahren. Die Erkenntnisse aus der demografischen Entwicklung wurden ebenso berücksichtigt wie die gewachsenen Strukturen, bisherige Körperschaften sollten möglichst voll88 Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Leitbild für eine Kommunalreform in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1999. 89 Vgl. Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt (Fn. 88), Kap. B. IV. 4. 90 Nach Billigung des Leitbildes durch den Landtag (LT-Drs. 3 / 68 / 5222 B) wurden das Erste Vorschaltgesetz zur Kommunalreform vom 5. 12. 2000, GVBl. LSA. S. 664; das Zweite Vorschaltgesetz zur Kommunalreform und Verwaltungsmodernisierung vom 15. 5. 2001, GVBl. LSA. S. 168 und das Dritte Vorschaltgesetz zur Kommunalreform vom 26. 10. 2001, GVBl. LSA. S. 434 verabschiedet. 91 Aufhebung der Vorschaltgesetze durch das Gesetz zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung vom 7. 8. 2002, GVBl. LSA S. 336.
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fusioniert werden, um Friktionen zu vermeiden. Die gesetzgeberische Leitvorstellung92 wurde in einer Definition des Begriffs „erforderliche Leistungsfähigkeit“ und dem Weg dahin in § 76 Abs. 1 Satz 2 ff. der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalt verankert. Von einer dauerhaften Leistungsfähigkeit war danach regelmäßig auszugehen, wenn die Einwohnerzahl mindestens 10 000 aufwies. Soweit eine im Landesdurchschnitt weit unterdurchschnittliche Bevölkerungsdichte im Interesse der Bürgernähe eine Abweichung von der Mindestgröße nahe legte und eine andere sinnvolle Zuordnung nicht möglich war, konnte die Feststellung der Leistungsfähigkeit im Einzelfall auch aufgrund anderer Kriterien erfolgen, das waren nach der genannten Norm der jeweilige gesetzliche Aufgabenbestand der Verwaltungsgemeinschaft, die allgemein anerkannten Grundsätze der kommunalen Verwaltungsorganisation, der daraus zu ermittelnde quantitative und qualitative Bedarf an Verwaltungspersonal sowie der Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Haushaltswirtschaft. Dabei durfte die Einwohnerzahl 5 000 nicht unterschritten werden. Einheitsgemeinden mussten nach § 10 Abs. 1 Satz 3 der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalt mindestens 8 000 Einwohner aufweisen. Dies führte zu einer nachhaltigen Reduzierung der Anzahl hauptamtlicher Verwaltungseinheiten auf Gemeindeebene. 93 Die Reform konnte innerhalb einer Legislaturperiode abgeschlossen werden, so dass sich die Landesregierung noch in derselben Wahlperiode zur Durchführung einer Kreisgebietsreform entschloss. Ausgangspunkt war auch hier die Erkenntnis, dass der demografischen Entwicklung auf allen Ebenen der Verwaltung Rechnung getragen werden muss. Die Neugestaltung der Kreisebene wurde dabei nach der Ersetzung der drei Regierungspräsidien durch ein Landesverwaltungsamt als staatliche Mittelinstanz und die Stärkung der gemeindlichen Verwaltungskraft durch die Verwaltungsgemeinschaftsreform als logische Abfolge der Reformschritte angesehen.94 Im Bundesvergleich der Landkreise wies Sachsen-Anhalt bei der durchschnittlichen Einwohnerzahl den niedrigsten, bei der durchschnittlichen Flächengröße einen relativen hohen Wert auf. Demgemäß gehörte die durchschnittliche Einwohnerdichte zu den geringsten.95 Die konkreten Größen wiesen erhebliche Spannen auf.96 Der Gesetzgeber hatte der Reform mit dem Gesetz über die 92 Gesetz zur Fortentwicklung der Verwaltungsgemeinschaften und zur Stärkung der kommunalen Verwaltungstätigkeit vom 13. 11. 2003, GVBl. LSA S. 318. 93 Es existierten 94 Verwaltungsgemeinschaften und 36 Einheitsgemeinden. 94 Vgl. „A“ der Allgemeinen Begründung zum Entwurf eines Kommunalneugliederungsgesetzes, LT-Drs. 4 / 2182 vom 18. 5. 2005. 95 Die durchschnittliche Kreiseinwohnerzahl betrug in Sachsen-Anhalt 95 330, im Bundesdurchschnitt 174 540, die Durchschnittsflächengröße war mit 950 qkm ähnlich hoch wie im Bund (1 054 qkm) und in Baden-Württemberg (963 qkm), Bayern (964 qkm), NordrheinWestfalen (974 qkm) und Thüringen (902 qkm) und höher als in Rheinland-Pfalz (782 qkm), Saarland (428 qkm) und Sachsen (781 qkm). Die durchschnittliche Einwohnerdichte der Landkreise in Sachsen-Anhalt (100 Ew. / qkm) wurde nur von Brandenburg (75 Ew. / qkm) und Mecklenburg-Vorpommern (53 Ew. / qkm) unterschritten, im Bund betrug sie 165 Ew. / qkm. Vgl. Nr. B.4.1.b der Gesetzesbegründung, LT-Drs. 4 / 2182.
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Grundsätze für die Regelung der Stadt-Umland-Verhältnisse und die Neugliederung der Landkreise (Kommunalneugliederungs-Grundsätzegesetz)97 ein Leitbild vorgegeben, das für die künftigen Strukturen auf die sich aus der 3. Regionalisierten Bevölkerungsprognose für das Jahr 2015 ergebenden Einwohnerzahlen abstellte.98 So sollte den Anforderungen an die kreisliche Ebene auch bei rückläufigen Einwohnerzahlen genügt werden. Als Anforderungen an die Leistungsfähigkeit wurden dabei die Aspekte bürgerfreundliche Verwaltung, wachsende Qualitätserwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Verwaltung, zunehmende haushaltswirtschaftlich schwierige Situation für die Landkreise sowie die enormen Auswirkungen der demographischen Entwicklung, die schon aus Gründen der Kostenbelastung der Bevölkerung zu berücksichtigen sind, gesehen.99 Abstrakte Leitvorstellungen beim Zuschnitt waren (gem. § 6 Kommunalneugliederungs-Grundsätzegesetz) Vollfusion bereits bestehender Landkreise mittels Neubildung und nicht Inkorporation, regelmäßige Mindestgröße von 150 000 Einwohnern auf der Basis Bevölkerungsprognose 2015 (ausnahmsweise Unterschreitung von nicht mehr als fünf Prozent bei dünnbesiedelten Räumen mit weniger als 70 Ew. / qkm) und – wegen möglichst homogener Verwaltungsgliederung – Maximalgröße unter 300 000 Einwohner, flächenmäßige Begrenzung auf 2 500 qkm mit der Möglichkeit des Übersteigens in begründeten Fällen um bis zu zehn Prozent. Mit der Ausweisung von Obergrenzen für Einwohnerzahlen und Fläche sollte der ehrenamtlichen Tätigkeit als Wesensmerkmal der kommunalen Selbstverwaltung Rechnung getragen werden, indem die Gebietskörperschaft überschaubar und damit die „kommunalpolitische Regierbarkeit“ erhalten bleibt. In der Umsetzung wurde die Zahl der Landkreise von 21 auf elf reduziert, lediglich zwei dünnbesiedelte Landkreise blieben unverändert. Die neuen Strukturen traten zum 1. Juli 2007 in Kraft, die neuen Größenspannen betragen 94 000 (in der äußerst dünn besiedelten Altmark) bis 243 000 Einwohner (Harz) und 1 413 bis 2 422 qkm in der Fläche.
d) Aktuelle Reformvorhaben Die Landtagswahl 2006 führte zu einem Koalitionswechsel und zur Neuaufnahme des gemeindlichen Reformprozesses. Gemäß Koalitionsvertrag wurde nun die Durchführung einer Gemeindegebietsreform zentraler Bestandteil der Verwaltungsmodernisierung in Sachsen-Anhalt. Die noch 1 053 Gemeinden, von denen rund 69 Prozent weniger als 1 000, sogar 40 Prozent weniger als 500 Einwohner und einige unter 100 Einwohner besaßen, sollten zukunftsfähig gestaltet werden. 96 So in der Einwohnerzahl zwischen 65 000 und 137 000, in der Fläche zwischen 370 qkm und 2 400 qkm sowie in der Bevölkerungsdichte zwischen 42 und 204 Ew. / qkm. 97 Gesetz vom 11. 5. 2005, GVBl. LSA S. 254. 98 Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Dritte Regionalisierte Bevölkerungsprognose; Statistischer Bericht, Bevölkerungsvorausberechnung nach Alter und Geschlecht, März 2004. 99 Vgl. Nr. B.3 der Gesetzesbegründung, LT-Drs. 4 / 2182.
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Neben den Betrachtungen der weiter verschärften demografischen Entwicklung wurde in den Leitbilderwägungen auch auf die sich ändernde Altersstruktur der Bevölkerung abgehoben, die zur Umstrukturierung der sozialen und technischen Infrastruktur und damit zu steigenden Ausgaben führt, denen nicht mehr die erforderlichen Einnahmen gegenüber stehen. Kommunen stoßen so zunehmend an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit, viele benötigen Liquiditätshilfen. Dadurch verengen sich Gestaltungsspielräume der kommunalen Selbstverwaltung. Kleinstgemeinden sind häufig nicht selbständig in der Lage, die notwendige Infrastruktur der in ihre Zuständigkeit fallenden Aufgaben gemäß den gesetzlichen Anforderungen vorzuhalten oder gar Folgekosten aus der Einrichtung moderner Gemeinschaftseinrichtungen zu tragen.100 Diesen Auswirkungen tritt die Zielsetzung der Reform entgegen bei der gleichzeitigen Wahrung der bürgerschaftlichen Beteiligung an der kommunalen Selbstverwaltung (§ 1 Abs. 1 Gemeindeneugliederungs-Grundsätzegesetz).101 Die neuen hauptamtlichen Strukturen auf der Gemeindeebene sollen im Regelfall mindestens 10 000 Einwohner aufweisen, den Charakter einer Gebietskörperschaft besitzen und in der Rechtsform der Einheitsgemeinde oder – bei Findung in der freiwilligen Phase der Gebietsreform bis Ende Juni 2009 – alternativ als gleichgroße Verbandsgemeinde mit Mitgliedsgemeinden von mindestens je 1 000 Einwohnern und ohne die Möglichkeit einer Ortschaftsverfassung erfolgen.102 Eine Flächenbegrenzung enthält das Gesetz nicht. Der Umsetzungsprozess dauert gegenwärtig noch an, zum Ende der freiwilligen Reformphase umfasste der gemeindliche Bereich noch 86 Einheitsgemeinden und 18 Verbandsgemeinden mit 115 Mitgliedsgemeinden. 151 weitere Gemeinden werden im Zuge der gesetzlichen Phase größeren Einheiten zugeordnet.
IV. Künftige Herausforderungen für die kommunale Selbstverwaltung Anders als im ersten Durchgang kommunaler Reform in den ostdeutschen Ländern in den neunziger Jahren treten seit diesem Jahrzehnt zunehmend die Aspekte der Bevölkerungsentwicklung, der Wirtschafts- und Finanzkraft sowie die öffentliche Finanzsituation in den Fokus. Risiken bestehen hier für den Erhalt kommunaler Selbstverwaltung, die angesichts der neuen Rahmenbedingungen an Grenzen stößt. 100 Vgl. Nr. A.I der Begründung zum Entwurf eines Begleitgesetzes zur Gemeindegebietsreform, LT-Drs. 5 / 902 vom 2. 10. 2007. 101 Begleitgesetz zur Gemeindereform vom 14. 2. 2008, GVBl. LSA S. 40, Art. 1 (Gemeindeneugliederungs-Grundsätzegesetz). 102 Vgl. Art. 1, § 2 des Begleitgesetzes zur Gemeindereform. Zu den Vorstellungen einer Verwaltungs- und Funktionalreform in Sachsen-Anhalt vgl. im Übrigen auch Jock (Hrsg.): Aktivitäten auf dem Gebiet der Staats- und Verwaltungsmodernisierung in den Ländern und beim Bund 2006 / 2007, Speyerer Forschungsberichte 256, Speyer 2008, S. 433 ff.
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Politische Sicherungs- und Gestaltungsmittel wurden bisher überwiegend in Maßstabsvergrößerungen durch Gebietsreformen gesehen. Die Sichtweise unterlag bei den jüngeren Reformvorhaben in Sachsen-Anhalt einer Modifizierung und in Mecklenburg-Vorpommern sogar einem Wandel. Die Neuorientierung in diesem Feld wird dabei intensiv von der Rechtsprechung begleitet. 1. Begrenzende Faktoren aus der neueren Verfassungsrechtsprechung Alle kommunalen Reformvorhaben in den ostdeutschen Ländern mussten sich verfassungsgerichtlichen Kontrollen unterziehen. Die gerichtlichen Prüfungskriterien, wie Ausrichtung der Reform am Gemeinwohl, Aufstellung eines Leitbildes, Vermeiden von Systembrüchen, Einhalten der Verfahrensvorschriften, insbesondere Durchführung von Anhörungen und Bürgerbeteiligung, Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, entsprachen denen der Rechtsprechung der 70er Jahre in den westdeutschen Bundesländern.103 Die jüngere Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts hatte sich neuen Fragen zu stellen, da die Landesgesetzgeber in beiden Ländern bei der Begründung ihrer Reformen auf die sich aus der demografischen Entwicklung ergebenden Handlungsnotwendigkeiten abstellten. Die Rechtsprechung entwickelt hier Ansätze zur Klärung der Frage, wie weit Reformen in schwierigen Zeiten gehen dürfen, wo hier Grenzen staatlichen Eingriffshandelns vor der verfassungsrechtlichen kommunalen Selbstverwaltungsgarantie liegen. In der Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt (LVG 12 u. a. / 08) hielt das im Begleitgesetz zur Gemeindegebietsreform kodifizierte Leitbild der gerichtlichen Überprüfung stand104. Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern105 erklärte im Zuge einer Kreisgebietsreform das Gesetz über die Funktional- und Kreisstrukturreform 103 So z. B. VerfGH Rh-Pf DVBl. 1969, 799, 804 f.; BayVerfGH BayVBl. 1991, 399,400; StGH B-W NJW 1975, 1205, 1212 ff.; Saarl VerfGH NVwZ 1986, 1008, 1009; Nds. StGH, Nds. MBl. 1979, 547 ff. und für die ostdeutschen Länder: LVerfG LSA, LVerfGE 2, 273, 276, 285 und 2, 323, 324, 331; SächsVerfGH, LVerfGE 5, 311, 319 f.; ThürVerfGH, LVerfGE 7, 361, 380; VerfG Bbg, SächsVBl. 1995, 294 ff. und zuletzt: LVerfG LSA, Urteile vom 21. April 2009, verbundene Verfahren Az. LVG 12, 27, 56, 58, 71, 83, 86, 99 und 145 / 08 sowie verbundene Verfahren Az. LVG 118, 119 und 120 / 08 Gründe Nr. 2.2.2.2.2.3.3.2 hinsichtlich der Prüfkriterien, ob der gesetzgeberische Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sowie frei von willkürlichen Erwägungen ist; und hierzu allgemein: Knemeyer, Die Bedeutung des Kontrollsystems des BVerfG für Gebietsreformen in den neuen Bundesländern, LKV 1992, S. 313. 104 LVerfG LSA, Urteile vom 21. 4. 2009, verbundene Verfahren Az. LVG 12, 27, 56, 58, 71, 83, 86, 99 und 145 / 08 sowie verbundene Verfahren Az. LVG 118,119 und 120 / 08; zum Beschwerdegegenstand vgl. Kap. C. III. 4. 105 LVerfG MV, Urteile vom 26. 7. 2007, verbundene Verfahren Az. LVerfG 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17 / 06.
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in Mecklenburg-Vorpommern106 für verfassungswidrig. Hier sollten die bisherigen 12 Landkreise und sechs kreisfreien Städte in fünf neu zu bildenden Landkreisen aufgehen. Prognosen zu den Kreisgrößen im Jahr 2020 wiesen mit wenigen Ausnahmen ein Absinken der Einwohnerzahlen der existenten Kreise auf deutlich unter 100 000 (der Leitbildgrößenvorstellung der ersten Kreisreform 1993 / 94) aus, der Gesetzgeber sah dadurch die kommunale Selbstverwaltung gefährdet. Die neuen Gebilde würden Größenspannen zwischen 244 092 und 498 372 Einwohnern sowie zwischen 3 182 und 6 997 qkm in der Fläche besitzen. Deutschlands bisher flächengrößter Landkreis Uckermark (Brandenburg) umfasst 3 058 qkm. Beide Gerichte sahen als Wesensmerkmal der kommunalen Selbstverwaltung den Zusammenschluss der in der örtlichen Gemeinschaft lebenden Menschen zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben der engeren Heimat mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren. Sie erkannten das staatliche Interesse an sachgerechter und effektiver Erfüllung der sich aus dem Sozialstaatsprinzip und aus den Verpflichtungen der Einrichtungsgarantien und den Staatszielen ergebenden Aufgaben durch die Kommunen als Gemeinwohlgrund für eine Neugliederung an.107 Dabei habe sich der Schwerpunkt öffentlicher Aufgaben von der Eingriffs- auf die Leistungsverwaltung verlagert108. Bei dem Bemühen um die Stärkung kommunaler Leistungsfähigkeit im Interesse einer bestmöglichen Daseinsvorsorge für die Einwohner sowie einer wirksamen und wirtschaftlichen Bewältigung der Verwaltungsaufgaben durch die Kommunen habe der Gesetzgeber, wie auch schon vom BVerfG ausdrücklich anerkannt,109 hinsichtlich Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Prognosen einen Beurteilungs-, Prognose- und Gestaltungsspielraum, bei dessen Kontrolle sich die Gerichte zurücknehmen.110 Hier werden – wegen des politischen Charakters – Abwägungen nur daraufhin überprüft, ob sie eindeutig widerlegbar, offensichtlich fehlerhaft sind oder im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen. Habe sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert, so sei seine Prognose im Hinblick auf Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme – abgesehen von Fällen evidenter Fehleinschätzung – als inhaltlich vertretbar anzusehen, zumal im Staatsorganisationsrecht anders als bei Grundrechtseingriffen die Anwendung des mildesten Mittels nicht zwingend sei.111 Bei der konkreten materiellen Prüfung verweisen die Gerichte auf die Notwendigkeit einer Gesetz vom 23. 5. 2006, GVOBl. M-V S. 194. So LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.I.3b in Anlehnung an BVerfGE 11, 266, 275 f.; 107, 1, 12. 108 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.1 unter Bezugnahme auf StGH BW, ESVGH 25,1,7. 109 BVerfGE 79, 127, 148. 110 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.2.3. 111 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.2.3.3.3 mit Hinweis auf Papier, Interkommunaler Kompetenzkonflikt, DVBl. 1984, S. 453. 106 107
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Abwägung im Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung und – als Ausfluss des Demokratieprinzips – dem Streben nach einer wirksamen Teilnahme der Bürger an den Angelegenheiten des Gemeinwesens, das sich auch in einem politischen Gestaltungswillen niederschlage, insbesondere hinsichtlich des aktiven und des passiven Wahlrechts in Kommunen.112 Das LVerfG Mecklenburg-Vorpommern führt dann weiter und im Anschluß an das BVerfG aus, dass die Verfassung der ökonomischen Erwägung, eine zentralistisch organisierte Verwaltung könne rationeller und billiger arbeiten, den demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung der öffentlichen Aufgaben entgegensetze und ihm den Vorzug gebe.113 Dabei bedeute Vorzug nicht, dass dem Gesetzgeber letztlich verwehrt wäre, bei einem Gesetzesvorhaben sich zu Lasten bürgerschaftlicher Mitwirkung für eine ökonomisch sinnvolle Lösung zu entscheiden. Er müsse aber die Grundentscheidung des Grundgesetzes und der Landesverfassung für bürgerschaftlich-demokratische Mitwirkung stets im Blick haben und mit dem entsprechenden Gewicht einbeziehen. Der Gesetzgeber habe also zu bedenken, dass die Gebietsvergrößerung einem Kommunalpolitiker die Ausübung seines Ehrenamtes erschweren kann. Die kommunale Selbstverwaltung müsse auch gegen solche Beeinträchtigungen geschützt werden, die sich aus einer wesentlichen, die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung gefährdenden Verschlechterung ihrer Rahmenbedingungen ergeben. Das LVerfG Sachsen-Anhalt billigte im Rahmen dieser Abwägung die Annahme des Gesetzgebers, dass die Bereitschaft zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeit dadurch beeinträchtigt werde, dass bestimmte freiwillige Aufgaben in leistungsschwachen Kommunen nicht mehr wahrgenommen werden könnten und somit Entscheidungsspielräume entfielen. Nicht beanstandet wurde auch die Ansicht, Bürger hätten in größeren Kommunen bei der Besetzung der Mandate mehr Auswahl als in kleineren, obwohl in letzteren die Wahlbeteiligung prozentual höher liegt, denn die Praxis habe öfter gezeigt, dass die Kandidatenzahl bei Gemeinderatswahlen kleinerer Gemeinden nicht einmal die gesetzliche Mitgliederzahl der Vertretung erreichte und bei Bürgermeisterwahlen mitunter kein Kandidat zur Verfügung stand. Der Gesetzgeber Sachsen-Anhalt habe auch davon ausgehen dürfen, dass Erschwerungen bei der Ausübung des Ehrenamtes angesichts räumlicher Entfernungen durch organisatorische und technische Mittel teilweise kompensiert werden können.114 Der Aspekt der bei Gebietsreformen sinkenden Mandatsdichte oder 112 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.3.1.1.1 und 2.2.2.2.3.1.1.3 mit Bezugnahme auf BVerfGE 79,127,153; LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.I.3b mit Verweis auf ThürVerfGH, LVerfGE 5, 391, 417. 113 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. C.I.3e unter Bezugnahme auf BVerfGE 79, 127, 153; 82, 310, 313; 83, 363, 381 f.; 107, 1, 11 f. 114 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.3.1.2.6.1 mit Verweis auf: Bull, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Funktional-, Struktur- und möglichen Gebietsreform in Schleswig-Holstein, Gutachten im Auftrag der Staatskanzlei Schleswig-Hol-
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Repräsentationsquote schlage nicht durch, da kein Verfassungsgebot für eine bestimmte Größe dieser Messzahl existiere.115 Der Gesetzgeber dürfe daher die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auch auf mögliche Bewerberzahlen einplanen. Schließlich sei die Funktionsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung auch nicht davon abhängig, dass jeder historisch gewachsene Ort im Gemeinderat durch einen „eigenen“ Mandatsträger vertreten ist.116 Dem Aspekt der Flächengröße hat das LVerfG Mecklenburg-Vorpommern ein besonderes Augenmerk zugewandt. Es hat die Zulässigkeit der Schaffung der mit deutlichem Abstand größten Landkreise Deutschlands dahin stehen lassen, weil das Gesetz aus anderen Gründen verfassungswidrig war117, dann aber kritisiert, dass der Gesetzgeber zwar die gute verkehrsmäßige Erreichbarkeit der Kreissitze für die Bevölkerung, aber nicht die Erschwerung von ehrenamtlicher Tätigkeit in großen Regionen in seinen verschiedenen Facetten betrachtet habe. Damit sei die Bedeutung der Kreise als Selbstverwaltungskörperschaft marginalisiert worden. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers gewesen, Kriterien für eine „gewisse Ortsnähe“ zu entwickeln. Stattdessen aber würden mit den Feststellungen, dass nebenberuflich ehrenamtlich tätige Kreistagsmitglieder nicht alles entscheiden könnten und außerdem eine Professionalisierung der Kreistagsarbeit vorgesehen sei, Gesichtspunkte betrachtet, die der Eigenheit kommunaler Willensbildung nicht gerecht würden. Auch das Argument des Gesetzgebers, dass die örtliche und regionale Identität für die Bürger eine weitaus größere Rolle spiele als eine „vermeintliche Kreisidentität“, wie die geringen Wahlbeteiligungen bei Kreistags- und Landratwahlen belegen würden, lässt das Gericht – wegen der Vielfalt möglicher Ursachen geringer Wahlbeteiligung – als Beleg für eine fehlende Identifikation des Bürgers mit seiner Kommune nicht gelten.118 Bei größerer Fläche werde jedoch die Belastung der Kreistagsmitglieder angesichts des größeren Zeitaufwandes für die Wege zwischen Wohnung und Sitz der Kreisverwaltung erheblich höher und auch weiter entfernt wohnenden Kreisbewohnern müsse eine Mandatswahrnehmung möglich sein, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass Probleme der häufig strukturschwachen Randbereiche nicht genügend in den Blick genommen würden.119 Zweifelhaft ist für das Gericht auch, ob die Kreistagsmitglieder in Großkreisen die Verantwortung, die sie in der Fläche haben, hinsichtlich der kreisintegralen Aufgaben und der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben der Kreise noch hinreichend wahrnehmen könnten. Die Überschaubarkeit des Gebiets, die ein Wesensmerkmal des Kreises stein, August 2007, http: //staedteverbandsh.de/inhalte/Verwaltungsstrukturreform_Bull.pdf, S. 70 f. 115 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.3.1.2.6.1: Zwei Drittel der kommunalen Mandate entfallen durch die Gemeindegebietsreform in Sachsen-Anhalt, dies entspricht in etwa der Größenordnung der Reformen der 60er und 70er Jahre in westdeutschen Ländern. 116 So LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.3.1.2.6.1. 117 Vgl. LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.III. 118 Vgl. LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.IV.5. 119 Vgl. LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.IV.6c.
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sei, erscheine jedenfalls bei dem in Mecklenburg-Vorpommern beabsichtigten Zuschnitt fraglich. Überschaubarkeit verlange, dass Mandatsträger sich auch über die Verhältnisse in entfernten Bereichen der Kommune zumutbar eigene Kenntnis verschaffen könnten, da viele der in der Vertretung und ihren Ausschüssen zu treffenden Entscheidungen, so bei Schulen, Jugendhilfe, Museen, durch Raumbezug gekennzeichnet seien und Kenntnisse über die örtlichen Verhältnisse erforderten.120 Die durch Erhöhung der Zahl der Mandatsträger mögliche bessere Arbeitsteilung behebe diesen Mangel nicht, da die Belastung des einzelnen grundsätzlich unverändert bleibe.121 Die betrachtete Rechtsprechung, insbesondere die des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern stellt erstmals tiefgreifendere Erwägungen zu möglichen Flächenobergrenzen bei staatlichen Kommunalzuschnitten an, indem sie die Gebietsgröße unter dem Aspekt der „kommunalpolitischen Regierbarkeit“ in unmittelbare Beziehung zur ehrenamtlichen Tätigkeit als eine tragende Säule der kommunalen Selbstverwaltung stellt. Im Ergebnis wird eine konkrete Grenzziehung zwar nicht vorgenommen, der Entscheidung dürfte aber angesichts der mehrfachen Bezugnahme auf einen Vergleich mit dem bisher flächenmäßig größten Landkreis zu entnehmen sein, dass hier (bei etwa 3 000 qkm) ein Orientierungswert für eine Obergrenze liegt, dessen Überschreitung zu einer „besonderen“ gerichtlichen Betrachtung führen dürfte. Grundsätzlich übertragbar dürften die Erwägungen des Gerichts auch auf den gemeindlichen Bereich sein, wenngleich auch in anderen und noch nicht ausgeurteilten Größenordnungen. Über die konkreten Reformen hinaus ist fraglich, ob die Flächengröße begrenzende Wirkung auch bei freiwilligen Fusionen von Gebietskörperschaften entfaltet. Hier stehen sich der Wille der kommunalen Akteure zur Selbstgestaltung und das für alle Gebietsänderungen geltende Gemeinwohlprinzip gegenüber. 2. Finanzsituation Gewaltige Herausforderungen ergeben sich angesichts der Entwicklung der kommunalen Finanzen. Die Landkreise haben in den Jahren 2002 bis 2006 finanzwirtschaftlich eine ihrer schwersten Krisen erlebt. Fünf Jahre in Folge mussten milliardenschwere Defizite hingenommen werden, die sich bis auf 6,6 Mrd. Euro aufsummierten und zu einem Kassenkredithöchststand von 5,6 Mrd. Euro in 2006 führten. Die Hoffnung, dass die Kassenkredite angesichts der deutlich gestiegenen Steuereinnahmen der kreisangehörigen Gemeinden sowie die erhöhten Zuweisungen der Länder in den Folgejahren zurückgeführt werden könnten, hat sich nicht erfüllt. Trotz eines Überschusses von 833 Mio. Euro in 2007 nahmen die Kassenkredite 2007 weiter zu (5,66 Mrd. Euro). Auch ein in 2008 erzielter Überschuss von 1,4 Mrd. Euro führte nur zu einer Verringerung der Kassenkreditbestände um 120 121
Vgl. LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.IV.6d. Vgl. LVerfG MV (Fn. 105), Gründe Nr. C.IV.6e.
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282 Mio. auf 5,38 Mrd. Euro. Für 2009 war zwar noch mit einem Überschuss zu rechnen, der Stand der Kassenkredite blieb aber bei über 5 Mrd. Euro. Insoweit hat sich der wirtschaftliche Boom vergangener Haushaltsjahre – wie befürchtet – mehr als Atempause, denn als Konsolidierungsphase erwiesen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise lässt dies für die Zukunft der Kreisfinanzen angesichts der bereits heute absehbaren Einbrüche in den Zuweisungen und der Kreisumlage auf der einen und den zu erwartenden Zuwächsen bei den Ausgaben für soziale Leistungen auf der anderen Seite schlimmste Befürchtungen aufkommen.122 Ähnlich verläuft die Entwicklung im gemeindlichen Bereich. Trotz positiver Finanzierungssalden in den Jahren 2005 bis 2008 sind auch hier die Kassenkredite nicht gesunken. Dass die Finanz- und Konjunkturkrise die Städte und Gemeinden erreicht hat, ist spätestens seit dem vierten Quartal des Jahres 2008 zu spüren und zeigt sich durch den drastischen Rückgang des kommunalen Finanzierungssaldos: Zwischen dem Niveau des Finanzierungssaldos von 2008 in Höhe von +7,6 Mrd. Euro und dem für 2009 von rd. –2,9 Mrd. Euro liegt eine Differenz von mehr als 10 Mrd. Euro. Für die Jahre 2010 und folgende werden zweistellige Finanzierungsdefizite befürchtet.123 Zudem trifft der aktuelle Abschmelzungsprozess und schließlich der vollständige Wegfall der Transferleistungen aus dem Solidarpakt II ab 2019 die ostdeutschen Länder und Kommunen nachhaltig, da letztere fürchten, an den Mindereinnahmen beteiligt zu werden. Gestaltungsräume für Kommunen nehmen auch unter Finanzaspekten nachhaltig ab. Die Forderungen der Kommunen nach vermehrten und im innerkommunalen Verteilungsmodus veränderten Finanzzuweisungen des Staates werden deutlich heftiger und durch die neuere Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte zu den kommunalen Finanzausgleichsgesetzen zudem gestützt.124 In letztgenannter Hinsicht nehmen einige ostdeutsche Länder, entweder gezwungenermaßen wie Thüringen125 oder – noch – freiwillig und vorausschauend wie Sachsen-Anhalt126 bei der Neuausrichtung des Finanzausgleichs eine Vorreiterrolle im Bundesvergleich ein. Erstmalig in Deutschland wird hier das erforderliche Finanzausgleichsvolumen mittels einer Aufgabenbetrachtung und -bewertung ermittelt und somit den verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich Konnexität127 und angemessener 122 Vgl. Wohltmann, Kreisfinanzen 2008 / 2009 – Kreishaushalte vor den Auswirkungen der Konjunkturkrise, in: Der Landkreis – Zeitschrift für kommunale Selbstverwaltung, Juni 2009, S. 238 ff.; und Henneke / Wohltmann, Kreisfinanzbericht 2008 / 2009, ebenda, S. 236 f. 123 Vgl. so der Deutsche Städtetag in seinem „Gemeindefinanzbericht 2009“. 124 So die Entscheidungen des ThürVerfGH vom 21. 6. 2005, Az. 28 / 03, www.thverfg. thueringen.de; des LVerfG Mecklenburg-Vorpommern vom 11. 5. 2006, Az. 5 / 05 und 9 / 05 M-V, www.landesverfassungsgericht-mv.de; des BayVerfGH vom 28. 11. 2007, Az. 15-VII-05, www.bayern.verfassungsgerichtshof.de. 125 Thüringer Finanzausgleichsgesetz vom 20. 12. 2007, GVBl. S. 259. 126 Finanzausgleichsgesetz (FAG) vom 16. 12. 2009, GVBl. LSA S. 684. 127 Vgl. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 Verf LSA, GVBl. LSA 1992, S. 600.
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Finanzausstattung128 rechnerisch belegbar genügt. Die Ausgestaltung des Finanzausgleichs im Einzelfall erweist sich dabei besonders schwierig, da die staatliche Finanzsituation ebenfalls überaus angespannt ist und eine Steigerung der Kommunalquote im Landeshaushalt129 im Interesse der Aufrechterhaltung der Aufgabenerfüllung des Landes kaum zulässt. Die aufgabenbezogene Verteilung des ermittelten Ausgleichsvolumens führt zu einer Umverteilung im kommunalen Bereich, die letztlich zu Lasten der kleineren und ehrenamtlich verwalteten Einheiten geht, da diese im freiwilligen Bereich über weniger und im Bereich pflichtiger Selbstverwaltungs- und staatlicher Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung (übertragener Wirkungskreis) keine Aufgaben wahrnehmen. Verschärft wird die Situation dadurch, dass diese kleineren Kommunen auf Gemeindeebene zudem oft strukturschwach sind. Dies verringert deren Veranstaltungskraft sowie Attraktivität als Arbeits- und Wohnstätte und fördert letztlich tendenziell die Entvölkerung, obwohl sie unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt gleichwertiger Lebensverhältnisse in Art. 72 Abs. 2 GG der staatlichen Unterstützung bedürfen. Es existiert hier ein circulus vitiosus: Kleinere Kommunen sind auch wegen der Finanzsituation Anlass für Fusionsreformen und Zentralisierung, gleichzeitig verlieren sie tendenziell mit der Eigenständigkeit auch an Zuständigkeiten bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und damit finanzielle Zuweisungen. Nach Verlust der Selbständigkeit sind sie als Untergliederungen abhängig von kommunalpolitischen Entscheidungen anderer und größerer Einheiten. Jetzige Ortsteile treten so in einen Wettbewerb um innergemeindliche Finanzzuweisungen zur Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben, hierin liegen Chancen aber auch Risiken. Sollten in diesen neukonfigurierten Gebieten Veranstaltungskraft und Entwicklung jedoch weiterhin – und letztlich bis hin zur Frage nach ihrer Existenz – abnehmen, würde dies höhere Aufwendungen des Staates erfordern, um letztlich gleichwertige Lebensverhältnisse auch in diesen Ortsteilen zu sichern. Eine Durchbrechung der Situation erscheint nur dadurch möglich, dass der Staat auch diesen Bereichen eine für die Erhaltung der Attraktivität als Lebensraum angemessene Finanzausstattung sichert. Angesichts begrenzter eigener staatlicher Haushaltsmittel wird Handlungsspielraum nur über die Freisetzung von Finanzmitteln im kommunalen Bereich selbst gewonnen. Dies gelingt aber nur über eine umfassende Aufgabenkritik und Deregulierung bei – eben den staatlich veranlassten – Pflichtaufgaben. Letztendlich ist dabei zu entscheiden, was sollen und können die Kommunen an Aufgaben erledigen, die zudem auch für das Gesamtgefüge des Staates noch finanzierbar sind. Staat und Kommunen befinden sich in einer Konsolidierungspartnerschaft.
Vgl. Art. 88 Abs. 1 Verf LSA, GVBl. LSA 1992, S. 600. Die Kommunalquote als Summe staatlicher Zuweisungen über alle Einzelpläne des Landeshaushalts hinweg beträgt in Sachsen-Anhalt knapp 40 Prozent. 128 129
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3. Demografische Entwicklung Anders als bei den westdeutschen Kommunalreformen der siebziger und den ostdeutschen der neunziger Jahre gewinnt bei den aktuellen Reformdiskussionen die Betrachtung der demografischen Entwicklung eine immer größere Bedeutung. Bevölkerungsprognosen verschärfen sich immer schneller und nachhaltiger. Die Auswirkungen werden immer bedrohlicher und beherrschen die Diskussionen in allen Bereichen. Während die Bevölkerung der Bundesrepublik zwischen 1990 und 2008 um 2,8 Prozent (2,25 Mio. Menschen) wuchs, schrumpfte sie in den ostdeutschen Ländern bis zu 17 Prozent.130 Dabei waren die Bevölkerungsrückgänge in Sachsen-Anhalt131, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern zunächst in erster Linie auf Wanderungsbewegungen, hingegen in Sachsen, Brandenburg auf ein Geburtendefizit zurückzuführen. Diese jeweiligen Ursachen mögen sich mittelfristig abschwächen, der allgemeine Trend wird sich aber noch verschärfen. Für das Land Sachsen-Anhalt wird für den Zeitraum 2005 bis 2025 ein Bevölkerungsrückgang von 20,0 Prozent prognostiziert, so dass der Gesamtrückgang von der Wende bis 2025 dann deutlich über 30 Prozent betragen würde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist bereits festzustellen, dass die „Durchgangszahlen in den Zwischenjahren“ gemäß der Fortschreibung „Vergleich zur Regionalisierten Bevölkerungsprognose“ deutlich unterschritten werden.132 Hier wird als Folge des Prozesses eine zunehmende Urbanisierung erkennbar: Große Städte verzeichnen dabei eher einen kleinen Zuwachs als kleinere, da sie vor allem als Ausbildungs- und Arbeitsplatzzentren eine starke Sogwirkung entfalten, ländliche Einheiten verlieren an Attraktivität und Bevölkerung. Für das Land Sachsen-Anhalt wird der Bevölkerungsrückgang für den kreisangehörigen Raum in der aktuellen Vierten Regionalen Bevölkerungsprognose doppelt so hoch prognostiziert als für die kreisfreien Städte. Periphere ländliche Räume werden zu Problemregionen, gerade wegen der stark abnehmenden Bevölkerungsdichte,133 die Auswirkungen auf die gesamte Daseinvorsorge und damit das Arbeits- und Wohnumfeld der Menschen entfaltet. Signifikantes Beispiel für diese Entwicklung ist der dünnbesiedelte Landkreis Stendal, dessen 130 Der Rückgang in Prozent betrug in Sachsen-Anhalt 17,1, Mecklenburg-Vorpommern 13,5, Thüringen 13,1, Sachsen 12,0 und Brandenburg 2,2; Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. 131 Sachsen-Anhalt hatte zwischen dem 3. 10. 1990 und dem 31. 12. 2008 einen Bevölkerungsrückgang von 508 602 Personen (17,6 Prozent), Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt. 132 In Sachsen-Anhalt ausweislich der – aktuellen – Vierten Regionalen Bevölkerungsprognose, zum aktuellen Stand vgl. Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Bevölkerung der Gemeinden nach Landkreisen – Natürliche Bevölkerungsbewegungen, Wanderungen, Gebietsstände 15. 07. 2009, Halle (Saale) 2009, S. 8 ff. und 61 ff. 133 Schwankte die Bevölkerungsdichte für 2005 in Sachsen-Anhalt im kreisangehörigen Raum noch zwischen 159 und 42 Einwohnern / qkm, wird für 2025 eine Spanne zwischen 129 und 34 Einwohnern / qkm prognostiziert; Quelle: Statistische Landesamt Sachsen-Anhalt, Ergebnisse der 4. Regionalisierten Bevölkerungsprognose Sachsen-Anhalt 2025.
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Einwohnerzahl von 157 743 im Jahre 1990 auf 123 874 Ende 2008, mithin um 21,5 Prozent abnahm und prognostisch im Jahr 2025 nur noch 96 111 Einwohner haben wird, also nochmals um 22,4 Prozent abnehmen wird, und so im Verhältnis zu 1990 um insgesamt 39,07 Prozent. Diese Entwicklung setzt sich fort: Mittelfristig angelegte Prognosen weisen in allen ostdeutschen Bundesländern – mit Ausnahme im Berliner / Potsdamer Umfeld, Leipzig, Dresden – für den Zeitraum 2005 bis 2025 einen Bevölkerungsrückgang um mehr als zehn Prozent aus. Neu in den Blick rückt aber, dass auch Teile der schleswig-holsteinischen Ostseeküste, der niedersächsischen Nordseeküste, Südniedersachsens, des östlichen Hessens, des südöstlichen Nordrhein-Westfalens, des Saarlandes und des Bayerischen Waldes eine negative Bevölkerungsentwicklung haben werden. Bevölkerungsrückgänge zwischen drei und zehn Prozent in diesem Zeitraum werden auch für das restliche Saarland, Teile Baden-Württembergs, Rheinland-Pfalz, Nordbayerns, Ostniedersachsens, nahezu die gesamte deutsche Nordseeküste und weitere Gebiete erwartet.134 Auch für die künftige Entwicklung in Gesamtdeutschland wird nach der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung 2009 ein deutlicher – wenngleich auch wegen der Prognoselaufzeit in den Höhen letztendlich noch nicht ganz so sicherer – Bevölkerungsrückgang prognostiziert, der von 82,0 Mio. Menschen im Jahre 2008 auf 80 Mio. im Jahre 2020, in 2050 je nach Berechnungsvariante auf 69,4 bis 73,6 Mio., in 2060 je nach Berechnungsvariante auf 65 bis 70 Mio.135 bis schlimmstenfalls unter 50 Mio. im Jahre 2100 angenommen wird,136 wenngleich auch die Entwicklung regional – zumindest mittelfristig – unterschiedlich sein wird.137 Einher geht dieser Prozess mit einer nachhaltigen Veränderung des Altersaufbaus der deutschen Bevölkerung, der sich tendenziell nach oben orientiert, so dass die Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass die Hälfte der Bevölkerung im Jahr 2025 älter als 47 Jahre sein wird – in den ostdeutschen Bundesländern sogar älter als 53 Jahre, wohingegen im Jahr 2006 noch jeder Zweite jünger als 42 Jahre alt 134 Vgl. die Datenbasis: BBR-Bevölkerungsprognose 2005 – 2025 / bbw; nach Erkenntnissen der Bertelsmann-Stiftung sind Rückgänge auch in Hagen und Gelsenkirchen mit jeweils 10 Prozent und in Wolfsburg mit 9 Prozent zu erwarten, während andererseits München um 12, Köln um 6 und Hamburg um 4 wachsen, so: Große Starmann / Klug: Blick in die Zukunft – Deutschland verändert sich, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Wer, wo, wie viele? – Bevölkerung in Deutschland 2025, Gütersloh 2009, S. 8. 135 Bei Berücksichtigung der beiden mittleren Berechnungsvarianten gem. 12. koordinierter Bevölkerungsvorausberechnung, Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland von 2009 bis 2060, in: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. 11. 2009 in Berlin, S. 12 und 46. 136 So Birk, Dynamik der demografischen Alterung, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20 / 2003, S. 7; zur demografischen Entwicklung in den einzelnen Ländern vgl. Die ausführlichen Darstellungen in: Bertelsmann-Stiftung (Fn. 134), S. 20 – 134. 137 Vgl. allgemein: Große Starmann / Klug (Fn. 134), S. 5 ff.
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war.138 Für das Land Sachsen-Anhalt nimmt die Prognose für den Zeitraum 2005 bis 2025 in den Altersgruppen 0 bis 20 Jahre und 20 bis 65 Jahre einen Rückgang von jeweils 30 Prozent an, während für die Altersgruppe 65 Jahre und älter ein Zuwachs um 13 Prozent erwartet wird, 54 Prozent der Bevölkerung im Land wird dann älter als 50 Jahre sein. Auch für den Bundesbereich werden spätestens im Jahr 2050 die stärksten Bevölkerungsjahrgänge im Rentenalter liegen. Die Problematik erfasst insoweit mittelfristig die meisten Teile Deutschlands, stellt sich damit nicht mehr als eine rein ostdeutsche Erscheinung dar, wenngleich die Auswirkungen zeitlich versetzt eintreten werden. Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung betreffen viele Lebensbereiche, insbesondere auch die Planung des kommunalen Personalbestandes,139 der als wesentlicher Kostenfaktor auch Anlass für Reformen war. Wie bereits gezeigt, hatten Anfang der 90er Jahre die ostdeutschen Kommunen im Vergleich zu den westdeutschen einen überhöhten Personalbestand, der bis heute kontinuierlich um mehr als die Hälfte zurückgeführt wurde bei – nach Ausbildungs- und Erfahrungsstand der Beschäftigten – weitgehender Angleichung an das Qualitätsniveau westdeutscher Kommunen. Gleichwohl bleibt die Personalausstattung in der Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung ein entscheidender Punkt, da der starke Bevölkerungsrückgang unter der Bemessungsgröße Verwaltungskosten / Einwohner zu einem weiteren Druck auf die Personalbestände führen wird. Der Personalbestand dürfte in den nächsten 20 Jahren unter haushaltswirtschaftlichen Aspekten erheblich zurückgehen, zumal im Gleichschritt mit der Bevölkerungsentwicklung auch die Einnahmen sinken werden. Erforderlich ist hier die Entwicklung eines „intelligenten“ Gesamtkonzepts, das die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit trotz Personalrückführung gewährleistet. 4. Auswirkungen der demografischen Entwicklung – neue Fragestellungen für Staat und Kommunen Der demografische Wandel – als zusammenfassender Begriff für sinkende Bevölkerungszahlen und stetige Alterung der Gesellschaft – ist eine zentrale Herausforderung für die kommunale Selbstverwaltung. Nur in größeren Verwaltungsräumen können Regionen mit hohen Bevölkerungsverlusten in der Zukunft überhaupt noch funktionierende und finanzierbare Infrastrukturen aufrechterhalten,140 die neuen Herausforderungen treffen tendenziell eher dünn besiedelte und kleinere Große Starmann / Klug (Fn. 134), S. 5 ff. m. w. N. Vgl. hierzu die Studie „Demographieorientierte Personalpolitik der öffentlichen Verwaltung“, in: www.bosch-stiftung.de und Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt, Kommunalnachrichten Sachsen-Anhalt 2009, Nr. 10, S. 18. 140 So Seitz in: Bertelsmann-Stiftung, Kommunalfinanzen in Ost- und Westdeutschland – Eine Bestandsaufnahme und Analyse unter Beachtung der demographischen Entwicklungstrends, Arbeitsversion zum Kommunalkongress 2007, S. 34 f. und 70 f. 138 139
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Räume. Der Staat steht vor der Frage, was soll und darf die Kommune sich überhaupt noch leisten, können und müssen alle kommunalen Körperschaften überhaupt noch infrastrukturell aufrechterhalten werden, darf die Förderpolitik auf Wachstumskerne („Leuchttürme“) beschränkt werden, dürfen entlegene und nahezu entvölkerte Orte „aufgegeben“ werden? Hier besteht ein Spannungsfeld mit dem Verfassungsprinzip der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen und damit der Sicherstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge (Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen, Ver- und Entsorgungseinrichtungen, Öffentlicher Personennahverkehr) auch in dünn besiedelten ländlichen Bereichen. Die zentrale Frage lautet, wie „nahe“ müssen Infrastruktureinrichtungen beim Bürger sein. Diese Fragen korrespondieren mit der Entscheidung über die generelle Aufgabenverteilung zwischen Staat und Kommunen (Funktionalreform). Was müssen / können Kommunen künftig noch leisten, was darf der Staat an pflichtigen Aufgaben übertragen, auch vor dem Hintergrund, dass die für den kommunalen Finanzausgleich zur Verfügung gestellten Mittel zunehmend begrenzt sind. Dies alles verschärft den Zielkonflikt zwischen der Wirtschaftlichkeit kommunaler Strukturen und den sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Auswirkungen für die kommunale Selbstverwaltung. Es könnte sich sogar die Frage stellen, ob im Extremfall das von der Rechtsprechung geforderte Abwägungsgebot – mit prinzipiellem Vorrang der bürgerschaftlichen Mitwirkung und Gestaltung vor Ort – überhaupt noch durchführbar ist. Dies würde im Ergebnis die partielle Aufgabe von Verfassungsverbürgungen aus Sachzwängen heraus bedeuten und ist schon deshalb abzulehnen. Soll nun aber die kommunale Selbstverwaltung in ihrer jetzigen Ausprägung auch künftig gesichert sein, müssen Staat und Kommunen Lösungen für die neuen Herausforderungen entwickeln. Dem Staat fällt dabei die Aufgabe der Gestaltung der Rahmenbedingungen zu. Den Kommunen hingegen obliegt die Feinausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung. Die Herausforderungen für sie werden oft auch durch ein hohes Maß an Zersiedelung größer. Erhalt und Ausbau kommunaler Infrastruktur erweist sich damit zunehmend als schwierig, zumal die wirtschaftliche Entwicklung und die allgemeine Haushaltssituation der öffentlichen Hand den Trend eher verschärfen. Bei Investitionsprojekten, so in der aktuellen Situation überhaupt möglich, ist eine vorausschauende Beachtung demografischer Entwicklungen („Demografie-Check“) unerlässlich, da mit diesen in der Regel erhebliche langfristige Folgelasten verbunden sind. Daseinsvorsorge und Gestaltung des kommunalen Lebens erfahren neue Fragestellungen: Wie soll sich das Zusammenleben in den Kommunen weiter entwickeln, wie sinnvoll ist beispielsweise die Ausweisung eines Neubaugebietes am Stadtrand bei innerstädtischen Leerständen und abnehmender Bevölkerung? Wie können kommunale Planungen aussehen, wenn der Bevölkerungsanteil der jüngeren Erwerbstätigen stark rückläufig ist, der der älteren hingegen sprunghaft steigt, wie soll der notwendige Stadtumbau ausgestaltet werden, wenn altengerechte Wohn- und Infrastrukturangebote damit zunehmend wichtiger werden und der Pflege- und Betreuungsbedarf rasant ansteigt? Welche Folgen hat es für die kommunale Infrastruktur und für die Attraktivität einer Kom-
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mune als Wohnort, wenn die Schülerzahlen deutlich zurückgehen und Schulstandorte unter Umständen aufgegeben werden müssen. Hier liegen Risiken aber auch Chancen, beispielsweise für eine Qualitätssteigerung im Bildungsbereich durch kleinere Klassen und auch im Standortwettbewerb mit anderen Kommunen. Entscheidend für die Zukunftsfähigkeit sind langfristige, nachhaltige Konzepte und Planungen für die Weiterentwicklung und Gestaltung der regionalen wie auch der kommunalen Lebensräume.141 Die demografische Entwicklung wird auch Lösungen zu anderen oder neuen rechtlichen Fragestellungen verlangen, die mit dem bisherigen gesetzlichen Instrumentarium nur bedingt lösbar erscheinen. So ist bei Vergrößerung von Gebietsstrukturen zu bedenken, wie die Menschen in abgelegenen Ortsteilen an der bürgerschaftlichen Mitwirkung gerade vor Ort und mit wirklichen Entscheidungsrechten teilhaben können, damit bei ihnen der „Gemeinsinn“ im Vom-Stein’schen Sinne erregt werden kann. Herausforderungen ergeben sich aber auch durch die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung, die das Zusammenleben in den Städten und Gemeinden maßgeblich bestimmt. Hier stellt sich angesichts der enormen Verschiebung von Altersblöcken die Frage, wie den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Entscheidungsprozess Gehör verschafft und zwischen ihnen ein angemessener Interessenausgleich der ganz unterschiedlichen Bedürfnislagen erreicht werden kann. Neben praktischem kommunalpolitischen Handeln hat auch eine intensive rechtliche Prüfung der gesetzlichen Regeln zu kommunalen Entscheidungsabläufen und Handlungsweisen und damit letztendlich des Rechts der inneren Verfassung der Kommunen zu erfolgen. V. Schlussbetrachtung Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland war und ist Spiegelbild der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situationen. Waren nach diversen unbedeutenden Vorläufern die ersten „echten“ Ursprünge der Stein’schen Städteordnung noch als Begleiterscheinung bei der Überwindung napoleonischer Strukturen in den besetzten Teilen Preußens zu sehen, so gewannen die Kommunen in der Folgezeit nach und nach Handlungsspielräume und letztlich verfassungsrechtlich verbürgte Freiheiten, die jedoch in Zeiten des Nationalsozialismus und danach während des Bestehens der DDR beseitigt wurden. Kommunales Leben durfte sich dort nur in den strikten Vorgaberahmen staatlicher Instanzen entfalten und unterlag nachhaltiger staatlicher politischer Kontrolle, auffällig ist die Parallelität der Ausgestaltung der staatlichen Gleichschaltungsinstrumente gegenüber den Kommunen. 141 Zu möglichen Lösungsansätzen vgl.: Genz / Große Starmann / Klug / Loos: Know-how für kommunale Praktiker, in: Bertelsmann-Stiftung (Fn. 134), S. 135 ff.; Witte / Osner (Bertelsmann-Stiftung), Kommunen schaffen Zukunft- Grundsätze und Strategien für eine zeitgemäße Kommunalpolitik, Gütersloh 2008; Verbundnetz für kommunale Energie (Hrsg.), Fibel Interkommunale Kooperationen, Magdeburg, Oktober 2009.
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Die bis 1945 einheitliche Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung nahm danach bis zur Wende 1989 einen unterschiedlichen Verlauf. Während sie im Osten – trotz kurzer Unterbrechung in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – nicht stattfand und auch strukturell durch Gebietsneuzuschnitt ausgeschlossen wurde, entwickelte sie sich im Westen zur verfassungsrechtlichen Verbürgung in der heute bekannten Prägung, ausgestaltet durch Praxis, Wissenschaft, Politik und nicht zuletzt die Rechtsprechung. Dieser Gegensatz bestand zur Zeit der Wende. Die politische Neugestaltung 1990 brachte eine Hinwendung zum und eine Nachvollziehung des bundesrepublikanischen kommunalen Selbstverwaltungssystems. Dies geschah in einer rechtshistorisch einmaligen Situation: Die 1990 gewählten Organe gestalteten ihre die Verhältnisse vor Ort ohne eine formalgesetzliche Grundlage, da die Kommunalverfassung von 1990 die Kommunen oft erst nach deren Konstituierung erreichte. Die tatsächliche Ausgestaltung vor Ort wurde beeinflusst durch die „Zufälligkeit“ des das jeweilige Landesmodell anpreisenden anwesenden Beraters aus westdeutschen Partnerkommunen. Die Kommunalverfassung 1990 war zudem ein Konglomerat unterschiedlicher kommunaler Verfassungstypen, das inhaltliche Widersprüche aufwies. So entwickelte sich ein buntes Bild kommunaler Strukturen, gewissermaßen ein Spiegelbild des föderalen deutschen Kommunalrechts. Die tatsächlichen Verhältnisse wurden häufig auch nach Kenntnis des Gesetzes nicht oder zumindest nicht sofort angepasst. Diese Situation hielt über die Länderneubildung und dem Beginn der staatlichen Einheit Deutschlands hinaus an, da die neuen Länder nicht sofort handlungsfähig waren, Verwaltungsstrukturen waren faktisch erst ab Sommer 1991 arbeitsfähig. Die Kommunalaufsicht entwickelte sich erst nach diesem Zeitpunkt, so dass die Entwicklung landeseinheitlicher Kommunalrechtsstrukturen erst nach und nach gelang, entweder durch Fortentwicklung und Novellierung der Kommunalverfassung von 1990 oder durch Schaffung eines neuen – landeseinheitlichen – Kommunalverfassungsrechts. Zu diesem Zeitpunkt endete ein Prozess des Nachempfindens und der Anpassung an westdeutsche Gesetzeskörper und in einigen Bereichen wurden sogar neue „Trends“ gesetzt, die Eingang in die Gesetzgebung der westdeutschen Bundesländer fanden. Prägnantestes Beispiel dürften die Abkehr von der norddeutschen Ratsverfassung in den Ländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gewesen sein sowie die Ausgestaltung kommunaler Plebiszite und im Wahlrecht die Stärkung von Wählergruppen. Seither verläuft die Entwicklung des Kommunalrechts in Deutschland parallel. Eine ähnliche Entwicklung fand bei der Gestaltung kommunaler Gebietsstrukturen statt. Diese waren in der DDR – zumindest auf der Kreisebene – systematisch verkleinert worden. Seit der Länderbildung 1990 haben die ostdeutschen Länder in zwei Jahrzehnten auf allen kommunalen Ebenen zum Teil mehrere Reformen vorgenommen. War die erste Reformwelle in den neunziger Jahren dabei noch durch das Anpassungsbestreben an westdeutsche Größenvorstellungen getragen, so lag der zweiten Welle in diesem Jahrzehnt die Erkenntnis zugrunde,
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dass die im ersten Durchgang erreichten Strukturen nicht nachhaltig und zukunftsfähig waren und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der Finanzsituation einer dringenden Korrektur bedurften. Der neue Reformansatz ist verfassungsrechtlich nicht unproblematisch: Neben dem zu beachtenden Verbot der Mehrfachneugliederung142 können bei dem Streben nach größtmöglicher Verwaltungseffizienz kommunale Gebietsstrukturen entstehen, die angesichts geringer Bevölkerungsdichte so groß geraten, dass das Wesensmerkmal der kommunalen Selbstverwaltung, die Regierbarkeit eines Gebildes im Sinne von Überschaubarkeit für ehrenamtliche kommunale Entscheidungsträger, zu zerfallen droht. Hier greift die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung (zunächst in Mecklenburg-Vorpommern) ein, die eine Neuausrichtung des Gesetzgebers auf dieses Wesensmerkmal einfordert. Unzulässig ist danach eine Struktur, die faktisch zu einer Professionalisierung des Ehrenamtes führen würde. Der flächenmäßige Zuschnitt kommunaler Gebietskörperschaften begrenzt mit zunehmender Größe den Handlungs- und Gestaltungsspielraum des Reformgesetzgebers. In diesem Maße wird auch der von der Rechtsprechung zugebilligte, in der gerichtlichen Überprüfung eingeschränkte Beurteilungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers eingeengt. Gefragt sind neue Konzepte, sowohl auf staatlicher als auch auf kommunaler Seite. Kommunale Selbstverwaltung mit den Wesensmerkmalen Ehrenamt und Bürgerbeteiligung, Bürgernähe, Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und zugleich Wirtschaftlichkeit bilden ein magisches Viereck, das rechtlich und tatsächlich am ehesten mit Kooperation und Arbeitsteilung zu bewältigen sein dürfte. Ein strikt aufgabenorientierter Finanzausgleich, Funktionalreform, Aufgabenkritik, Deregulierung, Aufgabenverzicht, Ausschöpfen der Möglichkeiten kommunaler Gemeinschaftsarbeit, nicht zuletzt Stärkung des Ehrenamtes und Ausbau des Ortschaftsrechts könnten als schon vorhandene Instrumente genutzt werden, neue sind zu entwickeln. Seit der Verschärfung der Auswirkungen der demografischen Entwicklung, der zunehmenden Verknappung öffentlicher Haushaltsmittel und der Wirtschaftskrise müssen die ostdeutschen Länder und Kommunen aus einer äußerst drängenden Situation heraus Antworten auf Zukunftsfragen entwickeln und umsetzen, die zwar zeitversetzt, aber in gleicher Weise in weiten Teilen der westdeutschen Länder auftreten werden. Auch wenn die demografischen Prognosen hinsichtlich ihrer konkreten Eintrittswahrscheinlichkeit umso unsicherer sein mögen, je länger der Prognosezeitraum bemessen ist, so ist diese Betrachtung gleichwohl alternativlos, sollen Gestaltungsmöglichkeiten durch Abwarten nicht gefährdet werden. Insoweit erscheint die Erkenntnis des Zukunftsforschers Jerome C. Glenn zur aktuellen Wirtschaftskrise „je schneller die Welt sich ändert, umso weiter müssen wir vorausschauen“ auf die gegenwärtige kommunale Situation in den ostdeutschen wie auch auf die baldige in westdeutschen Ländern voll 142 Vgl. hierzu die Ausführungen des LVerfG LSA (Fn. 104), Gründe Nr. 2.2.2.2.2.3.1 unter Verweis auf BVerfGE 86,90,109 f.
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übertragbar.143 Die ostdeutschen Länder und Kommunen rücken aus einer Aufholsituation zur Zeit der Wende hier – wenngleich ungewollt – in eine Vorreiterrolle.
143 Glenn, Wie verändert die Krise unsere Welt?, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Deutschland 2020 – Blick nach vorn! Haltungen und Ideen für Wege aus der Krise, Sonderheft 2009, S. 70 ff.
Zwischen Fiktion und Realität – Zur literarischen Verarbeitung persönlicher Beziehungen Von Heinz Müller-Dietz „Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.“1
I. Prolegomena 1. „Kulturgüterschutz“ als Ausgangspunkt Der überaus geschätzte Kollege, dem dieser Beitrag zum 70. Geburtstag gewidmet ist, hat sich in seinem ebenso gewichtigen wie vielseitigen Werk und Wirken nicht zuletzt um Kulturgüter und deren Schutz verdient gemacht. Im Mittelpunkt dieser Studien stehen namentlich die katastrophalen Auswirkungen, welche die zugleich menschen- und kunstfeindliche Politik des „Dritten Reiches“2 und der Zweite Weltkrieg für zahlreiche Kunstschätze gehabt haben, sowie die rechtlichen Möglichkeiten auf internationaler Ebene, das europäische Kulturerbe zu sichern und zu bewahren. Eine Fülle von Veröffentlichungen Wilfried Fiedlers bis in die jüngste Zeit hinein zeugt – gleichermaßen wie seine Gründung und Leitung der „Forschungsstelle Internationaler Kulturgüterschutz“ an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes – von diesem seinem langjährigen kenntnisreichen Engagement.3 1 Milan Kundera, Die Kunst des Romans, 1987, S. 13 f. Zit. nach Wildfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 1994, S. 818. 2 Vgl. nur Hildegard Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 1963; PeterKlaus Schuster (Hrsg.), Die ,Kunststadt‘ München. Nationalsozialismus und ,Entartete Kunst‘, 5. Aufl. 1998. 3 Vgl. nur pars pro toto Wilfried Fiedler (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage. Völkerrechtliche Probleme der Auslagerung, Zerstreuung und Rückführung deutscher Kulturgüter nach dem Zweiten Weltkrieg, 1991; ders., Kulturgüter als Kriegsbeute? Rechtliche Probleme der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Rußland, 1995; ders., Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz. Zur Entwicklung des Kulturgüterschutzes nach kriegerischen Konflikten, in: Frank Fechner / Thomas Oppermann / Lyndel V. Prott (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes. Ansätze im deutschen, europäischen und internationalen Recht, 1996, S. 159; ders., Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland
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Heinz Mu¨ller-Dietz
Der Jubilar teilt mit dem Verfasser die Vorliebe und Sympathie für Werke, die zum kulturellen Erbe zählen und deshalb der öffentlichen Anerkennung und Unterstützung wie des rechtlichen Schutzes bedürfen. Ganz im Sinne dieser Prämissen hat denn auch mein Essay ein Thema zum Gegenstand, das mitten in die künstlerische Gestaltung von Werken und deren rechtliche Grenzen hineinführt – und dementsprechend immer wieder die Gerichte beschäftigt. Betrifft doch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Realität in literarischen Texten nicht nur ein zentrales literaturwissenschaftliches Problem, das bis heute eine in ihrer Vielfalt kaum noch überschaubare Fülle von Publikationen hervorgerufen hat,4 sondern eben auch das bedeutsame juristische Problem des Verhältnisses zwischen den verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten der Kunstfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 2. Persönliche Zugänge zum Thema Das Verhältnis von Fakten und Fiktionen in literarischen Darstellungen hat mich schon seit langem beschäftigt. Ein relativ früher Anreiz dazu ist von der Darstellung der – letztlich gescheiterten – Liebesbeziehung zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann ausgegangen, wie sie der Schriftsteller in seiner 1975 erschienenen Erzählung „Montauk“ geschildert hat. Mir ist damals noch nicht bekannt gewesen, dass diese Verbindung zuvor schon in beider Werk Ausdruck gefunden hatte. Frisch hatte der Dichterin 1958 für ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ Lob gezollt, Ingeborg Bachmann dann der Pariser Aufführung seines Stückes „Biedermann und die Brandstifter“ beigewohnt. Dort sollte dann ein gemeinsames Abendessen eine überaus wechselvolle, spannungsgeladene Liebesbeziehung einleiten. Frisch und Bachmann lebten dann – durch Reisen unterbrochen – zunächst in Zürich, dann in Rom zusammen. In dieser Zeit hat es immer wieder Trennungen und Versuche eines Neubeginns gegeben. Nach vier Jahren, 1962, war das Ende der Beziehung gekommen – nicht nur, aber auch weil der Schriftsteller, der die Frauen liebte, nunmehr die junge Studentin Marianne Oellers kennenlernte, die seine zweite Frau wurde.5 über die Rückführung der während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter, JöR NF 56 (2008), S. 217. 4 Vgl. z. B. Birgit Stolt, „Was ist wahr?“ Eine alte Kontroverse aus textlinguistischer und rhetorischer Sicht, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Internationaler Germanisten-Kongreß in Göttingen. Ansprachen, Plenarvorträge, Berichte, 1986, S. 53; Lutz Rühling, Fiktionalität und Poetizität, in: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hrsg.), 2. Aufl. 1997, S. 25; Katja Bär / Kai Berkes / Stefanie Eichler / Aida Hartmann / Sabine Klaeger / Oliver Stoltz (Hrsg.), Text und Wahrheit. Ergebnisse der interdisziplinären Tagung Fakten und Fiktionen der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, 28. – 30. November 2002, 2004; Ruth Klüger, Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur, 2006. Vgl. auch Daniel Halft, Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels ,Cyankali‘ von Friedrich Wolf, 2007, S. 42.
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Frisch hat bereits in seinem 1964 erstmals veröffentlichten Roman „Mein Name sei Gantenbein“ seine kurz zuvor beendete Liebesbeziehung mit der Dichterin in mehr oder minder verschlüsselter Form thematisiert.6 Die Antwort der Schriftstellerin findet sich – eher versteckt und verdeckt, teilweise unerkannt – in ihrem Roman „Malina“ von 1971.7 Jenem fast schon rätselhaft anmutenden Text, der viele Fragen aufwirft und vielleicht mehr noch offenlässt. Bachmann hat ihre Version des Scheiterns der Beziehung zu Frisch dann in ihrem unvollendet gebliebenen Zyklus „Todesarten“ weiter fortgesponnen.8 Einmal mehr sollte Frisch in seiner autobiografischen Retrospektive, Rückschau und Selbstanalyse „Montauk“ auf jene Beziehung zurückkommen.9 Dieses Werk hat mich – wie auch die Schriftstellerin Karin Struck10 – eher befremdet und dann erschüttert aufgrund der Art und Weise, in der Frisch mit der Geschichte in seiner Rückblende verfahren ist. Nicht dass er die einstige Liebesbeziehung überhaupt zum Gegenstand seines Erinnerungswerkes gemacht hat, wird mehr oder minder sensible Leser getroffen haben. Man muss die Kärntner Autorin mitnichten – einer unnahbaren Ikone vergleichbar – auf den Podest einer Verehrung heben, um von den einschlägigen Passagen angerührt zu werden. Es sind auch keineswegs „anstößige Stellen“, die ein empfindliches Gemüt nur schwer ertragen könnte. Vielmehr ist es eine Art von Offenbarung, die manche Leser lieber in das Arkanum des ganz Privaten, ja Intimen verbannt sähen. Hier zeigt sich übrigens, wie viel Darstellungen solcher Provenienz nicht nur mit dem literarischen Zeitgeschmack – 5 Volker Hage, Max Frisch mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1983, S. 98; Karin und Lutz Tantow, Max Frisch. Ein Klassiker der Moderne, 1994, S. 132. Die Tochter Frischs hat nunmehr in einem gleichfalls sehr persönlich gehaltenen autobiografischen Rückblick die nicht minder schwierige Beziehung zu ihrem Vater geschildert, den Bruch mit ihm und die vergeblichen Versuche, mit ihm noch vor seinem Tod ins Reine zu kommen. Vgl. Ursula Priess, Sturz durch alle Spiegel, 2009. Auch in diesem Werk kommt die Beziehung Ingeborg Bachmanns zu Frisch zur Sprache. Dazu Hage, Frauen wie Schmetterlinge, Der Spiegel v. 8. 6. 2009, S. 134; Ingeborg Gleichauf, Wo bist du, Vater?, Bad. Zeitung v. 13. 6. 2009; Ursula März, Liebe nach dem Tod, Die Zeit v. 18. 6. 2009, S. 45; Friedmar Apel, Verlorene Zeit, vertane Chance, FAZ v. 27. 6. 2009. 6 Gudrun Kohn-Waechter, Das Verschwinden in der Wand. Destruktive Moderne und Widerspruch eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns „Malina“, 1992, S. 110; Joachim Hoell, Ingeborg Bachmann, 2001, S. 13. Vgl. aber Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, 2003, S. 337. Über Frischs Roman heißt es in einem Nachruf auf den Schriftsteller: „Das sind die Romane, in denen Frischs Grundthema, das unaufhörliche Wechselspiel zwischen gelebtem Leben und literarischer Fiktion, seine Form gefunden hat.“ (Der Spiegel v. 8. 4. 1991, S. 265). 7 Kohn-Waechter (Fn. 6), S. 151, 158. Vgl. auch Edith Bauer, Drei Mordgeschichten. Intertextuelle Referenzen in Ingeborg Bachmanns Malina, 1998. 8 Monika Albrecht, „Die andere Seite“. Zur Bedeutung von Werk und Person Max Frischs in Ingeborg Bachmanns Todesarten, 1989. 9 Über die Erzählung Gerhard vom Hofe, Zauber ohne Zukunft (1976), in: Walter Schmitz (Hrsg.), Max Frisch, 1987, S. 340. 10 Struck, Der Schriftsteller und die Frauen (1976), in: Schmitz (Fn. 9), S. 11 (16).
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über den sich ja stets streiten lässt –, sondern auch mit dem subjektiven Verhältnis des Einzelnen zur Privatsphäre zu tun haben.11 An den Leser gewendet, beansprucht Frisch, mit „Montauk“ „ein aufrichtiges Buch“ vorgelegt zu haben – um im Anschluss daran die Frage aufzuwerfen: „Was verschweigt es und warum?“.12 Dazu könnte passen, dass er der Figur, die Ingeborg Bachmann verkörpert, die Worte in den Mund legt: „Ich habe mit dir nicht gelebt als literarisches Material. Ich verbiete es, daß du über mich schreibst.“13 Das Scheitern der Beziehung kommentiert Frisch mit der vielzitierten Feststellung: „Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.“14 Ingeborg Bachmann hat auf diese Darstellung nicht mehr antworten können. Ihr plötzlicher Verbrennungstod 1973 in Rom – der in ganz anderer Weise, als es in Wolfgang Koeppens Roman geschildert wird, nämlich nur im Titel, an den „Tod in Rom“ (1954) erinnert – hat ihr die Feder aus der Hand genommen. Vermutlich trifft die Feststellung ihres Biografen Joachim Hoell zu: „Für Bachmann ist die Beziehung mit Frisch wahrscheinlich der schmerzhafteste Einschnitt in ihrem Leben.“15 Die Problematik literarischer Darstellung persönlicher Beziehungen, insbesondere von Liebesbeziehungen, ist für mich lange Zeit „nur“ ein Thema der Beschäftigung mit Werk und Leben Ingeborg Bachmanns geblieben.16 Es ist dann aber vor Jahren unter dem Vorzeichen des Verhältnisses von Fakten und Fiktionen in literarischen Texten erneut in mein Blickfeld getreten.17 Dabei ist mir einmal mehr deutlich geworden, in welchem Maße Schriftsteller auf Wirklichkeitserfahrungen und persönliches Erleben in ihren Texten zurückgreifen, was ihnen über allgemein zugängliche Quellen hinaus als Material für ihre Sujets, Charakterisierungen von Personen und Schilderungen von Handlungen dient. An konkreten literarischen Beispielen habe ich solche Rückgriffe auf „Realitätspartikel“ zu veranschaulichen gesucht. Und dass die Verarbeitung erlebter oder erlittener Wirklichkeit Anlass wie Gegenstand oder Inhalt künstlerischen Schaffens werden kann. Eine aus anderem Grund entstandene Untersuchung zum Verhältnis von literarischer Fiktion und 11 Die ja – wie der gegenwärtige (juristische) Diskurs zeigt – beileibe nicht nur im Hinblick auf etwaige Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Romane, sondern auch aus ganz anderen Gründen an (rechtlicher) Bedeutung erheblich gewonnen hat. Vgl. nur BGH JZ 2009, 212; OLG Hamburg NJW 2009, 1510; Christine Hohmann-Dennhardt, Freiräume – zum Schutz der Privatheit, NJW 2006, 545; Stephan Finsterbusch, Der Verlust der Privatsphäre, FAZ v. 23. 8. 2008. 12 Frisch, Montauk. Eine Erzählung, 1975, S. 197. 13 Frisch (Fn. 12), S. 105. 14 Frisch (Fn. 12), S. 151. Vgl. z. B. Volker Hage, Max Frisch, ein Album, Die Zeit v. 12. 4. 1991, S. 53 f. 15 Hoell (Fn. 6), S. 94. Eine ebenso kenntnisreiche wie einfühlende Darstellung des „Verwertungsprozesses“, dem Ingeborg Bachmanns Leben und Werk ausgesetzt waren, findet sich bei Sigrid Weigel (Fn. 6), S. 299 ff. 16 Über meine bisherige Beschäftigung mit Werk und Persönlichkeit Ingeborg Bachmanns Müller-Dietz, Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein, 1999, S. 176. 17 Müller-Dietz, Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen, 2007, S. 205.
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Realität hat die Beschäftigung mit diesem Problemkreis – der ja gerade in der Weltliteratur eine bedeutsame Rolle spielt – weiter angeregt.18 Schließlich sind entsprechende Anstöße von der Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis von Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht für mich ausgegangen. Paradigmatischen Charakter in diesem Sinne hatten und haben namentlich die Entscheidungen über Klaus Manns Roman „Mephisto“19 – was bekanntlich eine Fülle von Stellungnahmen ausgelöst hat20 – und Maxim Billers Roman „Esra“.21 Freilich sind die Sachlagen in beiden Fällen überaus verschieden und die Entscheidungen des BVerfG auch differenziert ausgefallen. Beide Judikate haben ja mit Recht eine ausgiebige Diskussion über die Maßstäbe und Kriterien ausgelöst, die Schriftstellern rechtliche Grenzen bei der literarischen Verarbeitung privaten Erlebens – namentlich von Begegnungen mit Zeitgenossen und ihrer Charakterisierung – ziehen. Was in literaturwissenschaftlicher Hinsicht interessieren mag, ob und inwieweit in die narrative Schilderung von Personen und Handlungen reale Erlebnisse eingegangen sind, kann sich dann in rechtswissenschaftlicher Hinsicht als verfassungsrechtlicher Konflikt zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht darstellen. Was dann folgerichtig die weitere Frage zur Konsequenz hat, woran Autoren sich in solchen Fällen bei der Gestaltung ihrer belletristischen Texte und Verleger bei der Veröffentlichung einschlägiger Werke halten müssen.22 Dass sich damit das vielberufene „weite Feld“ Fontanes öffnet, liegt auf der Hand – ebenso aber auch, dass es in einem Beitrag wie dem vorliegenden beileibe nicht ausgeschritten, sondern nur höchst fragmentarisch – und vielleicht auch vorläufig – skizziert werden kann.
II. Zeitgenössische literarische Beispiele – und Kontroversen 1. Von „Mephisto“ bis zum „Tod eines Kritikers“ Literarische Texte, die andere Zeitgenossen und etwaige Beziehungen zu ihnen betreffen, können Erlebnisse der verschiedensten Art widerspiegeln. Sie können 18 Müller-Dietz, Literatur, Recht und Staat. Zur neueren Entwicklung einer kritischen Beziehung, GA 156 (2009), 699 ff. 19 BVerfGE 30, 173. 20 Vgl. z. B. Harm Peter Westermann, Klaus Manns Mephisto-Roman und die Justiz, in: Hans-Albrecht Koch, Gabrielle Rovagnati und Bernd H. Oppermann (Hrsg.), Grenzfrevel. Rechtskultur und literarische Kultur, 1998, S. 167. Eine späte Nachzeichnung der „(Prozess-) Geschichte“ bei Britta Dittmann / Ralf Peter Anders, „In Deutschland wird es verboten und verschlungen werden“, SchlHA 2007, 458. 21 BVerfG NJW 2008, 39 = JZ 2008, 571. 22 Vgl. z. B. das Interview „Keine Trumpfkarte im ,Fall Esra‘“, das Dieter Grimm der ZRP 2008, 29 f., gegeben hat.
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die ganz private, berufliche, gesellschaftliche oder politische Sphäre zum Gegenstand haben. An Beispielen für die Vielfalt einschlägiger Anlässe und Sujets ist kein Mangel. Die „Geschichte literarischer Indiskretionen“ – wenn man denn sie so nennen kann – hat gewiss nicht mit Maxim Billers Roman „Esra“ begonnen. Diesem Werk ist aber auch keineswegs Klaus Manns Roman „Mephisto“ allein vorausgegangen, wie zahlreiche Werke der Literaturgeschichte belegen. Doch sind die beiden Romane in gewisser Weise symptomatisch für Zeiterscheinungen, namentlich den Zeitgeist und dessen literarische Widerspiegelung – sowie nicht zuletzt für deren thematische Spannweite. Klaus Mann etwa hat sich in seinem Roman „Mephisto“ in kritischer Absicht – und in mehr oder minder verfremdeter Darstellung – mit der Rolle, die der Schauspieler Gustav Gründgens in jedem Sinne des Wortes im „Dritten Reich“ gespielt hat, auseinanderzusetzen versucht23 – wie er es ja bereits nach der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 mit der einem sacrificium intellectus gleichenden Hinwendung Gottfried Benns zum NS-Regime getan hat.24 Ein weiteres Beispiel, das unmittelbar den Literaturbetrieb der Gegenwart betrifft – aber gleichfalls in gewisser Weise den zeitgeschichtlichen Hintergrund widerspiegelt –, bildet der Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) von Martin Walser.25 Die Veröffentlichung dieses Werkes hat zwar keinen Prozess – etwa wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki –, aber überaus zwiespältige Urteile über den Verfasser selbst ausgelöst. Walser wurde, wenngleich keineswegs nur aufgrund dieses Romans, sondern auch gestützt auf seine Friedenspreis-Rede von 1998 in der Paulskirche sowie sein essayistisches und literarisches Werk insgesamt, eine antisemitische Haltung vorgeworfen. Diese Auseinandersetzung hat ohne Frage eine unbefangene Deutung des Textes vor dem Hintergrund der spezifisch Walserschen Schreibweise und Ästhetik26 erschwert, verdunkelt, wenn nicht gar – wie manche Kritiker gemeint haben – verhindert.27 23 Über die Rolle des Schauspielers während des NS-Regimes auch Carl Zuckmayer in einem Dossier für den US-amerikanischen Geheimdienst von 1943 / 44. Vgl. Zuckmayer, Görings Luxuschampion, FAZ v. 22. 1. 2002. 24 Müller-Dietz, Recht und Nationalsozialismus. Ges. Beiträge, 2000, S. 164. Zur alsbald folgenden massiven Kritik des Schriftstellers am NS-Regime Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, 1990, S. 486. 25 Thomas Henne, Alles schon mal dagewesen? – Parallelen zwischen den „Mephisto“Entscheidungen der deutschen Gerichte und der Debatte um Walsers Tod eines Kritikers, NJW 2003, 639. Walser hat ja bereits in früheren Romanen – wie etwa „Die Verteidigung der Kindheit“ (1991) (vgl. Müller-Dietz [Fn. 17], S. 272) und „Finks Krieg“ (1996) (vgl. Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2. Aufl. 2002, S. 325) – reale Personen und deren Leben zum Gegenstand literarischer Darstellungen gemacht. 26 Die verschiedentlich auch unter dem bezeichnenden Stichwort des Walserschen „Sounds“ figuriert, das man – anders als vielleicht Joachim Kaiser – auch durchaus kritisch verstehen kann. 27 Vgl. aber Elke Schmitter, Skandale sind hilfreich, Der Spiegel v. 1. 7. 2002, S. 160.
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Massiven Einwänden gegen antisemitische Grundtendenzen, die der Art und Weise der Charakterisierung des Protagonisten entnommen wurden,28 stehen wohlwollende, ja anerkennende Würdigungen des Romans gegenüber, die in diesem vielmehr eine gelungene, von antisemitischer Sichtweise freie Satire auf den gegenwärtigen Literaturbetrieb erkennen wollen.29 Es spricht nach den bisherigen Erfahrungen alles dafür, dass der einschlägige Diskurs nicht nur angesichts auseinanderdriftender hermeneutischer Voraussetzungen und Perspektiven noch länger andauern wird – wenn er denn je zum Abschluss kommen kann.30 Dem „Fall Walser“ – wenn man ihn denn so nennen kann – ist eine ganze Reihe von Prozessen wegen anderer Veröffentlichungen, nicht zuletzt des Romans „Esra“, gefolgt, in denen die Kläger Verletzungen ihres Persönlichkeitsrechts geltend gemacht haben. Diese Entwicklung ist denn auch im Oktober 2003 mit der Feststellung kommentiert worden: „Der deutsche Bücherherbst findet vor Gericht statt“ – was freilich mitnichten den Winter des Büchersterbens eingeläutet hat.31 Umgekehrt sind solche Klagen aber auch mit der Begründung gerechtfertigt worden: „Kunstfreiheit ist kein Freibrief für Vertrauensverrat“.32 Der Stoßseufzer einer Autorin konnte freilich gleichfalls nicht ausbleiben, die – ironisierend oder nicht – den „armen Poeten“ mit den Worten beklagte: „Niemand fühlt sich vor Gericht so missverstanden wie der Schriftsteller“.33 2. Zum Roman „Esra“ Der Roman „Esra“ ist – anders als seinerzeit der Roman „Mephisto“ – aufgrund des vom BVerfG unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bestätigten Verbotes nicht mehr über den Buchhandel zu beziehen. Er kann allenfalls noch auf 28 Vgl. etwa Jochen Hörisch, Für den, der ein Schschscheriftstelerrr ist, FR online v. 27. 6. 2002; Matthias N. Lorenz, Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, 2005. Vgl. auch das Interview, das Ruth Klüger dem „Spiegel“ v. 11. 8. 2008, S. 144 (147), gegeben hat. 29 Dieter Borchmeyer, Helmut Kiesel (Hrsg.), Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, 2003. Vgl. auch Jörg Magenau, Martin Walser. Eine Biographie, 2005, S. 524. Bereits in Walsers frühem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957) wurden satirische Elemente konstatiert. Vgl. z. B. Ludger Claßen, Satirisches Erzählen im 20. Jahrhundert. Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Martin Walser, F. C. Delius, 1985, S. 114. 30 Vgl. Wolfgang Schneider, Mangelnder Sinn für die Leiden anderer, Literaturen 1 / 2, 2006, S. 52; Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, Bd. II, 2007, S. 123 f. 31 Alex Rühle, Conciergen der Literatur, SZ v. 11. / 12. 10. 2003. Vgl. auch Karl-Heinz Ladeur, Tobias Gostomzyk, Mephisto reloaded – Zu den Bücherverboten der Jahre 2003 / 2004, NJW 2005, 566. Uwe Wittstock, Die Welt v. 11. 10. 2003, hat das schmeichelhafte Urteil des Justiziars eines Verlags über die Rechtsprechung jener Zeit wiedergegeben: „Die Gerichte werden immer dümmer.“ 32 Ulrich Greiner, Bücher vor Gericht, Die Zeit v. 23. 10. 2003, S. 1. 33 Julia Encke, Das justiziabelste Buch der Welt, SZ v. 27. / 28. 9. 2003.
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antiquarischem Wege erworben werden. Der unterschiedliche Umgang mit den beiden Bücherverboten mag seinen Grund in der ungleich größeren zeit- und kulturgeschichtlichen Bedeutung des Werkes von Klaus Mann haben, die ja auch einen entsprechend großen Kreis an Interessenten nach sich gezogen hat. Während die – umstrittene – Darstellung der Rolle, die der berühmte Schauspieler Gustav Gründgens im „Dritten Reich“ wahrgenommen hat, keineswegs nur literarhistorische Nachwirkungen zeitigt, konnte das aktuell vor allem um die Person des Autors sich rankende Interesse an der Liebesbeziehung, deren Entwicklung und Scheitern Maxim Biller ins Zentrum seines Romans gerückt hat, rascher verblassen. Es ist in gewisser Weise Ausdruck einer eher medial aufgeputschten öffentlichen Erregung, die sich mit Zeitablauf bald wieder legen könnte. Zumal in einer Gesellschaft, in der – auch in künstlerischen Belangen – ein Ereignis das andere jagt, um dann seinerseits im allgemeinen Bewusstsein alsbald von einem neuen verdrängt zu werden. Dem Werk „Esra“ haften alle jene Elemente und Ingredienzen an, die einen Schlüsselroman postmoderner Prägung charakterisieren. Der Begriff des sog. Schlüsselromans, der der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts entstammt, verkörpert eine „Grenzgattung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalen Text“. „Wegen der Evidenz der Verknüpfung von ,Abbild‘ und ,Urbild‘ wohnt jedem Schlüsselroman notwendig eine gewisse Indiskretion inne.“34 Merkmale der postmodernen Literatur sind der (sprach-) spielerische Umgang „mit Fiktions- und Wirklichkeitsebenen“ sowie die Auflösung der Schranken zwischen Phantasie und Realität, Geschichte und Gegenwart, Autor und literarischer Figur, Kunst und Alltag.35 Nicht nur, dass sein Autor Biller die selbsterlebte, im Grunde unglückliche Liebesgeschichte zum Fokus seiner Darstellung gemacht hat. Vielmehr hat er auch – wie so oft in solchen Fällen – Fiktion und Wirklichkeit in einer für Dritte, die mit seiner persönlichen Situation und seinem unmittelbaren Umfeld nicht näher vertraut sind, nicht erkennbaren Weise miteinander verschmolzen. Was Realität und was dichterischer Phantasie entsprungener Erfindung im Roman ist, ist vermutlich noch nicht einmal durch die Prozesse und Entscheidungsgründe der Gerichte mit letzter Klarheit deutlich geworden. Zumal die Klägerinnen verständlicherweise nach Kräften bemüht gewesen sind, die ihnen im Roman zugeschriebenen negativen Eigenschaften, Einstellungen und Handlungen zurechtzurücken. Als Prototyp eines postmodernen Werkes erscheint „Esra“ vor allem deshalb, weil sein Verfasser ein überaus freizügiges Spiel mit dem Ich-Erzähler und mit sich selbst als Autor treibt und so weit geht, die später realiter eingetretenen juristischen Kontroversen in seiner Darstellung gleichsam zu antizipieren.36 Es ist diese – 34 Bernhard von Becker, Fiktion und Wirklichkeit im Roman. Der Schlüsselprozess um das Buch „Esra“. Ein Essay, 2006, S. 20. 35 von Becker (Fn. 34), S. 24; Barner (Fn. 1), S. 817 f. 36 von Becker (Fn. 34), S. 37.
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in literaturwissenschaftlicher Fachsprache – „Selbstreferentialität“, die den Roman charakterisiert. Der Verfasser begnügt sich nicht damit, das (Liebes-)Leben des Protagonisten – natürlich aus seiner Perspektive – zu schildern, sondern mischt sich als Autor in einer die verschiedenen Rollen verwischenden Weise in den narrativen Duktus ein. Dass er in die Darstellung der Liebesbeziehung mehr oder minder drastisch geschilderte Sexszenen einflicht, fügt sich gleichfalls in das Bild des postmodernen Romans, der sich auch insoweit keine Zügel anlegt. Es ist zwar nicht die Geschichte von Adam und Eva, wohl aber die etwa vier Jahre andauernde konfliktreiche Liebesbeziehung des Schriftstellers Adam und der Schauspielerin Esra, die im Zentrum des Romans steht. Ort der Handlung ist – bezeichnenderweise, weil milieutypisch (?) – der bekannte künstlerisch geprägte Stadtteil Münchens, also Schwabing. Dem Glück der beiden Hauptpersonen stellen sich etliche, namentlich im Charakter und Verhalten Esras und ihrer Mutter begründete Schwierigkeiten entgegen, die dann schließlich zum Bruch zwischen Adam und Esra führen. Die Mutter ist mit einer ganzen Reihe negativer Züge ausgestattet. Sie wird als herrsch- und streitsüchtig, depressiv und zugleich dem Alkohol- und Nikotingenuss ergeben geschildert. Esra selbst lebt in einer eigenen Gedankenwelt, der sie sich ganz und gar hingibt, und ist Tagträumen verhaftet. Als Schauspielerin weitgehend erfolglos wendet sie sich der Malerei zu und arbeitet in einem Grafikbüro. Ihre Lebensführung, namentlich ihre Entfaltungsmöglichkeiten sind vor allem durch die schwere Krankheit belastet, an der die einer gescheiterten Ehe entstammende Tochter Ayla leidet. Noch während die Beziehung zu Adam andauert – die freilich immer wieder durch Krisen, insbesondere Trennungen, gekennzeichnet ist – wird Esra von Thorben, einem Jugendfreund, schwanger. Unentschlossen, wie sie in ihrer Lebensführung überhaupt ist, ist sie auch unsicher, ob sie das Kind bekommen soll. Am Ende haben die Belastungen, denen die Beziehung zu Adam mehr oder minder ständig ausgesetzt ist, deren Scheitern zur Folge. Es sind wohl nicht nur die in verschiedener Hinsicht negativ anmutenden Charakterisierungen von Mutter und Tochter, welche die Klägerinnen letztlich dazu veranlasst haben, zur Wahrung ihres Persönlichkeitsrechts auf ein gerichtliches Verbot des Romans hinzuwirken. Dazu mag auch das im Roman inszenierte „Gedankenspiel“ mit einer durch die Veröffentlichung drohenden oder zu erwartenden juristischen Auseinandersetzung beigetragen haben. Vor allem aber könnten Begleitumstände den Anlass zur gerichtlichen Klage gegeben haben, die überaus deutlich der früheren Geliebten den Eindruck vermittelt haben mögen, der Roman diene namentlich dem Bestreben seines Autors, das Scheitern der Liebesbeziehung auf die ihm gemäße, nicht nur literarische Weise „aufzuarbeiten“. Hat Biller doch vor dem Erscheinen des Werkes auf dem Buchmarkt der ehemaligen Lebensgefährtin ein Vorabexemplar mit der persönlichen Widmung übersandt: „Dieses Buch ist für Dich. Ich habe es nur für Dich geschrieben, aber ich verstehe, dass Du Angst hast, es zu lesen. Vielleicht liest Du es, wenn wir alt sind – und siehst dann noch einmal, wie sehr ich Dich geliebt habe.“37
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In der Summe mögen nicht nur der Inhalt, sondern auch die Begleitumstände auf die – in jeder Hinsicht – (davon) betroffenen Personen wie eine Herausforderung gewirkt haben, gegen die Veröffentlichung des Werkes vorzugehen. Wobei hier freilich offen bleiben muss, ob ihnen bei ihrer Entscheidung bewusst gewesen oder wenigstens geworden ist, dass gerade durch den Prozess ein mehr oder minder großes Publikum, das mit den dem Roman zugrunde liegenden realen Fakten nicht näher vertraut war, auf sie erst aufmerksam gemacht worden ist, dass also das Geschehen durch die gerichtliche Auseinandersetzung jene Publizität erlangt hat, die sich mancher Autor gerade in einer Mediengesellschaft wünschen mag. Das zeigen allein schon öffentliche, namentlich publizistische Reaktionen nach Beginn des Prozesses38 – während der Roman vor dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung bemerkenswerterweise weitgehend positiv beurteilt wurde.39 Nach dem Urteil des BGH 40 ist freilich die Auseinandersetzung um das Pro und Contra eines Buchverbots in voller Schärfe entbrannt.41 3. Der Roman „Esra“ im literatur- und rechtswissenschaftlichen Diskurs In seiner „Esra“-Entscheidung hat das BVerfG zwar die Maßstäbe, die es seinem „Mephisto“-Urteil zugrunde gelegt hat,42 im Hinblick auf den postmodernen Roman modifiziert.43 Es hat namentlich mehr als bisher der Verschränkung von Fiktion und Realität im (Schlüssel-)Roman Rechnung zu tragen versucht. Dass aus der durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleisteten Kunstfreiheit das Gebot einer „kunstspezifischen Betrachtung“ folge, hat das Gericht zwar auch schon in der „Mephisto“-Entscheidung dargelegt. Es hat ihr aber nunmehr eine „Vermutung für die Fiktionalität“ entnommen. Doch liegt ein wesentliches Problem der jüngsten Entscheidung im Maßstab, den das BVerfG jetzt an die Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht 37 Zit. nach Reinhard Müller, Diese Frau ist keine Fiktion, sagt Karlsruhe, FAZ v. 13. 10. 2007. Gekürzte Fassung bei von Becker (Fn. 34), S. 41. 38 von Becker (Fn. 34), S. 46 f. 39 von Becker (Fn. 34), S. 45. 40 NJW 2005, 2844 = JZ 2006, 193. 41 Vgl. nur Inés Obergfell, Anm. zum Urteil des BGH, JZ 2006, 196; Endress Wanckel, Der Schutz der Persönlichkeit bei künstlerischen Werken, NJW 2006, 678; Fedor Seifert, Dichtung und die „Elle der Realität“, in: Festschrift für Eike Ullmann, 2006, S. 111; Christian Rath, Von wegen Wirklichkeit, Bad. Zeitung v. 22. 6. 2005; Gerd Roellecke, Esras Sieg, SZ v. 22. 6. 2005; Ulrich Greiner, Die Rechte der Person, Die Zeit v. 27. 7. 2006; Richard Kämmerlings, Kann Dichtung dem Leben schaden?, FAZ v. 5. 1. 2007. Krit. bereits zum LG-Urteil Julia Encke, Zu nah am Leben, SZ v. 16. 10. 2003; Bettina Schulte, Eine schwere Niederlage für die Literatur, Bad. Zeitung v. 17. 10. 2003. Zur einstweiligen Verfügung des LG gegen den Roman Dieter Borchmeyer, Literatur vor Gericht, FR v. 14. 10. 2003. 42 BVerfGE 30, 173. 43 BVerfG NJW 2008, 39 = JZ 2008, 571.
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angelegt wissen möchte. Einmal mehr steht danach das Maß an Übereinstimmung oder Diskrepanz zwischen dargestelltem „Abbild“ und realem „Urbild“ im Mittelpunkt, an das der Autor in seinem Roman angeknüpft hat. „Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“44 Es kann – auch nach dem bisherigen Diskussionsstand – nicht weiter überraschen, dass dieses Abgrenzungskriterium sowohl im Senat selbst als auch im rechts- wie im literaturwissenschaftlichen Schrifttum auf Kritik gestoßen ist. Der Einwand liegt nahe, dass dieser graduell erscheinende, gleichsam gleitende Maßstab den Autor zu einer Art Abstufung – oder besser: Quantifizierung – der Merkmale oder Elemente zwingt, mit denen er das Persönlichkeits- und Charakterbild einer Person zeichnet. So wird denn auch in einem der beiden abweichenden Voten konstatiert: Die Schlussfolgerung der Senatsmehrheit „je mehr Verfremdung, desto mehr Kunst, je mehr Erkennbarkeit, desto größer die Beeinträchtigung, und je mehr Intimbereich, desto mehr Verfremdung sei notwendig“, werde der „qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht“.45 Bei solcher Betrachtung drohe der Roman in Tatsachendarstellungen und fiktionale Elemente aufgelöst zu werden, obgleich er doch als Kunstwerk eine (innere) Einheit verkörpere. In der Sicht dieser Kritik kann auch ein literarischer Text nur dann als eine ein Verbot rechtfertigende Darstellung, weil Persönlichkeitsrechtsverletzung, gewürdigt werden, wenn der Romancharakter vorgetäuscht werde, um ihn zur Herabsetzung und Verleumdung geschilderter realer Personen zu missbrauchen.46 Ein weiteres Sondervotum ist aufgrund der Anlegung eines kunstspezifischen ästhetischen Maßstabs zu einer ähnlichen Beurteilung gelangt, die im Falle „Esra“ für die Kunstfreiheit sprechen würde.47 Auch anderwärts hält man dafür, dass die „Je-desto-Formel“ des BVerfG nicht geeignet erscheint, den Konflikt zwischen künstlerischer Freiheit der Darstellung und hinreichendem Schutz der Persönlichkeit einer befriedigenden Lösung zuzuführen. In diesem Sinne hat etwa Christoph Enders angemerkt, das Urteil verkenne das Proprium der Kunst – und damit ihrer Freiheit. „Mit ihrer Frage nach dem Wahrheitsgehalt der erzählerischen Informationen verfehlt die Entscheidung den Schutzzweck der Kunstfreiheit.“ Der „Wirklichkeitsbezug der Kunst“ gebe für die Schrankenziehung nichts her. „Liegt das Wesen der Kunst in ihrem Spiel mit der im Kunstwerk selbst nie völlig aufgehobenen Differenz zwischen der Wirklichkeit und einer künstlerischen Bearbeitung, die die ,Realien‘ transzendiert, so verdient BVerfG JZ 2008, 571. Hohmann-Dennhardt / Gaier, JZ 2008, 576 (577). 46 JZ 2008, 578. 47 Hoffmann-Riem, JZ 2008, 578. Krit. auch Heribert Prantl, Die Kunstrichter von Karlsruhe, SZ v. 13. 10. 2007; Ralf H. Dorweiler, Grenzen für die Kunstfreiheit, Bad. Zeitung v. 13. 10. 2007. 44 45
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eben die dadurch erzeugte Mehrdeutigkeit der Aussage, mit dem das Kunstwerk das Publikum konfrontiert, in ihrer zur Auseinandersetzung anregenden, vielfach auch provozierenden Wirkung rechtlichen Schutz vor einseitiger, objektiver Festlegung von Staats wegen.“ Das ist denn auch als folgerichtige Konsequenz der Auffassung zu verstehen, die im Interpreten und nicht im Urheber denjenigen erblickt, der dem Text letztlich seinen Sinngehalt beilegt.48 Auch diese kunstorientierte „literaturfreundliche“ Sicht des Abwägungsproblems wird – so wie die Dinge liegen – schwerlich das letzte Wort in der Sache sein. Gegen eine prononciert kunstspezifische Betrachtung wird natürlich weiterhin ins Feld geführt werden (können), dass die im Falle „Esra“ konstatierte „brutale Zudringlichkeit in den Intimbereich“ – jenseits moralisierender oder gar prüder Sichtweisen – sowohl mit einem verfassungskonformen Verständnis des Persönlichkeitsrechts als auch der Freiheit künstlerischer Entfaltung schwerlich in Einklang gebracht werden kann.49 Natürlich ist man versucht, die Frage der Verletzung des Persönlichkeitsrechts nach dem Grad oder Maß der Darstellung intimer Szenen zu beurteilen, die womöglich mit einer mehr oder minder harschen Bloßstellung der Partnerin oder des Partners verbunden ist. Je mehr ein Text sexuelle Details – gerade ungewöhnlicher oder gar abstoßender Provenienz – zur Sprache bringt, desto eher würde man bei einer solchen Betrachtungsweise dem Autor ein Überschreiten der ihm gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen entgegenhalten können. Das ist ja auch womöglich wohl ein als solcher nicht eigens artikulierter Grund für die Annahme einer Persönlichkeitsrechtsverletzung im Falle „Esra“ gewesen. Auf der anderen Seite bedeutet eine solche Sichtweise letztlich, dass der rechtlichen Beurteilung ein gleitender Maßstab zugrunde gelegt wird, der nicht nur an die Detailgenauigkeit, sondern auch an die (sprachliche) Darstellung intimer Vorgänge anknüpft. Er öffnet damit zum Einen unterschiedlichen Bewertungen eines Textes Tür und Tor, weil er natürlich keine feste Grenze zwischen der unter persönlichkeitsrechtlichen Auspizien (noch) erlaubten und der (schon) nicht mehr gestatteten Schilderung anzugeben vermag. Zum Anderen setzt er die rechtliche Beurteilung eines Textes der Gefahr moralisierender Wertungen aus, die freilich bei der Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht fehl am Platze wäre. Demgegenüber steht eine Position, die lediglich eine in Romanform gekleidete, in Wahrheit aber auf Herabsetzung realer Personen zielende „Schmähschrift“ dem Verdikt aussetzen möchte, vor der Schwierigkeit, Motivforschung betreiben zu müssen, was der Autor mit seiner Darstellung eigentlich bezweckt hat. Sicher mag äußeren Umständen ein gewisser indizieller Charakter zukommen, dem Hinweise in der einen oder anderen Richtung entnommen werden können – insbesondere Christoph Enders, Anm. zur Entscheidung des BVerfG, JZ 2008, 581 (584). Andreas Zielcke, Weil sie es ist, SZ v. 20. / 21. 10. 2007. Vgl. auch Remigius Bunia, Warum stört es die Literaturwissenschaft, dass Literatur Wirkungen hat?, FAZ v. 13. 10. 2007. 48 49
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auch, ob sich der Autor bei der mehr oder minder verfremdeten Wiedergabe und Veröffentlichung „seiner“ Liebesgeschichte von einer kunstfremden Absicht hat leiten lassen. Aber womöglich käme man dann nur in recht eindeutig gelagerten Extremfällen – in denen der Charakter des Buches als Roman ohnehin schon zweifelhaft erschiene – zur (juristischen) Feststellung einer ein Verbot rechtfertigenden Persönlichkeitsrechtsverletzung. Die Frage ist indes auch, ob eine auf die wahren Intentionen des Autors abstellende Betrachtungsweise ein taugliches Kriterium für die Abgrenzung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht darstellen würde. Ist im Laufe und zur Verfügung stehenden Zeitraum eines solchen „Klärungsprozesses“ etwa ein Philologe, Literaturkritiker oder Jurist – in welcher Eigenschaft oder Rolle auch er sich mit dem zur Diskussion stehenden Text beschäftigen muss – in der Lage, hinreichende „Motivforschung“ zu treiben, die wenigstens zur verfahrensrechtlich erforderlichen Klarheit über die wirklichen Absichten verhilft? Ob es dem Autor dabei um den ureigenen Ausdruck seines ganz persönlichen Literaturverständnisses – etwa im Sinne der Postmoderne – gegangen ist, so dass die von ihm verwendeten „Realitätspartikel“ nur als Material für die Darstellung von Personen und Handlungen im Sinne des intendierten Werkes gedient haben. Oder ob er – was eigentlich seinem literarischen Anspruch, seinem künstlerischen Ethos widersprechen würde – bei der Erstellung des Werkes von Rache- oder Hassmotiven gegen eine reale Person geleitet war, der er es im äußeren Gewande eines Romans oder Theaterstücks „heimzahlen“ möchte. Motivforschung gründlicher und zugleich umfassender Art könnte wohl erst ein späterer Biograf in Angriff nehmen, der unter Heranziehung aller zugänglichen Dokumente – etwa von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Interviews – herausfinden könnte, was den Autor letztlich zu seiner Schilderung bewogen hat. Die Konsequenz wäre dann, dass außerliterarische Beweggründe mit letzter Gewissheit erst mehr oder minder lange Zeit nach dem – etwa auf prozessualem Wege – in die Öffentlichkeit getragenen Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht ermittelt werden könnten. Was natürlich für die gerichtliche Entscheidung zu spät käme. Der Verdacht drängt sich auf: Sind es nicht letztlich ästhetische Kriterien, die zur Grenzziehung zwischen verfassungsrechtlich statthaften und persönlichkeitsrechtsverletzenden Darstellungen beitragen? Also Gesichtspunkte, die zwar für die Beurteilung der literarischen Qualität und Bedeutung eines Werkes zentrales Gewicht haben, denen aber nach verfassungsrechtlichen Maßstäben eigentlich keinerlei rechtliche Relevanz zukommen darf. Doch liegt keineswegs nur die Versuchung nahe, sich auf der Grundlage solcher Kriterien ein Urteil zu bilden, das gerade zur Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den miteinander konkurrierenden Grundrechten auf die Art und Weise rekurriert, in der der Autor die realiter gescheiterten Liebesbeziehungen in seinem Werk wieder aufleben lässt. Gelingt es ihm, sie – unabhängig von der Frage, wie nahe oder wie fern die Darstellung der vergangenen Wirklichkeit ist – in einer Weise zu schildern, die sie zugleich litera-
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risch verfremdet und überhöht, dann könnte er aufgrund seiner künstlerischen Begabung peinlich oder unangemessen wirkende Szenen entweder ganz aussparen oder aber auf einem auch rechtlich unangreifbaren Qualitätsniveau wiedergeben, das anstößige Passagen oder Formulierungen von vornherein meidet.50 Ist er aber, vielleicht nach wie vor gefangen, ja besessen von dem einstigen Erleben oder im Banne seiner eigenen Schreibweise, nicht in der Lage, in seiner Schilderung hinreichende Distanz zum realen Geschehen zu gewinnen, läuft er leicht Gefahr, der geschilderten Beziehung zu nahe zu kommen, der Person – mit der ihn einst persönlich so viel verbunden hat – zu nahe zu treten, ihr im buchstäblichen Sinne auf den Leib zu rücken. Die gewiss gleitende Skala möglicher Übergänge von der einen Darstellungsform in die andere lässt sich schon unter ästhetischen Vorzeichen nur schwer fassen und birgt deshalb auch die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit verschiedener kontroverser Urteile über die literarische Qualität des Werks. Umso riskanter erscheint es, sie rechtlichen Abgrenzungen zugrunde zu legen, die über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Veröffentlichung entscheiden. Dass aber eben auch die bisher – namentlich von der Rechtsprechung des BVerfG – entwickelten Maßstäbe, die gleichermaßen der Kunstfreiheit wie dem Persönlichkeitsrecht Rechnung tragen wollen (und sollen), Einwänden ausgesetzt sind, verweist darauf, dass eine „Patentlösung“ für die ganze Problematik nicht in Sicht, weil wahrscheinlich gar nicht denkbar ist. Die Kontroversen zwischen den Verfechtern einer „kunstspezifischen“ und einer am Persönlichkeitsrecht orientierten Betrachtungsweise dürften also weitergehen.51 Für kreative „argumentative Phantasie“ bleibt weiterhin viel Raum.
III. Über Fakten und Fiktionen in der Literatur 1. Der Autor und sein Werk Das Verhältnis von Fakten und Fiktionen bildet ein zentrales Thema von Literatur überhaupt. In ihren Texten verarbeiten Schriftsteller individuelle Kenntnisse und Erfahrungen, die sie im (bisherigen) Leben gesammelt haben. Es gehört zum selbstverständlichen Vorgang des Schreibens, dass das, was von Autoren persönlich erlebt wurde, in ihre Darstellungen eingeht. Das künstlerische Proprium be50 Man erinnert sich noch an den einstigen – nicht zuletzt durch Walsers Roman „Das Einhorn“ (1966) ausgelösten – Diskurs über das ganz andere Problem, welche Schwierigkeiten selbst renommierte Schriftsteller mit einer ästhetisch gelungenen Schilderung amouröser oder sexueller Szenen haben (können). Vgl. z. B. Jost Hermand, Blumiges und Unverblümtes. Zur Problematik des literarischen Bettgesprächs, in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur, Bd. 6 (1976), S. 160. Vgl. auch Magenau (Fn. 29), S. 235. 51 Vgl. auch Tobias Gostomzyk, Wahrheit, keine Dichtung, NJW 2008, 737 (739).
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steht in der Art und Weise, wie solches Erleben und Erfahren in Texten dann gestaltet wird, wie es seinen narrativen Niederschlag findet. Die Beziehung zwischen Fiktion und Realität ist sowohl ein genuin literarisches wie ein spezifisch literaturwissenschaftliches Problem. Schriftsteller beschäftigt es insofern, als eben die Wirklichkeit, die sie umgibt und die sie wahrnehmen, ihnen die Anregungen, Bausteine und Versatzstücke liefern kann, die dann gleichsam das Material für ihre Texte abgeben. Sie können zu deren Grundlage oder Fokus werden. Ihre Bedeutung für künstlerisches Wirken kann sich aber auch darin erschöpfen, dass sie bloße Anstöße für ihre Phantasie und damit für eine die Wirklichkeit übersteigende Gestaltung literarischer Werke bilden. Autoren denken in der Regel weniger über die theoretische Relevanz jener Beziehung nach als vielmehr darüber, wie sie am besten – von ihrem eigenen Literaturverständnis ausgehend – mit den Ingredienzen verfahren können, die ihnen das Leben und die gesellschaftliche Realität zu bieten haben. Die (Welt-)Literatur ist voller Beispiele dafür, dass und wie Schriftsteller im Rahmen des Entstehungsprozesses ihrer Werke aus eigenen Erfahrungen im Leben oder aus Informationen, die ihnen etwa andere Medien oder die Wissenschaften geliefert haben, geschöpft haben. Von allzu großen Skrupeln bei der Verwertung solcher Kenntnisse und Erkenntnisse hinsichtlich tatsächlicher Begebenheiten oder Entwicklungen kann zumeist nicht die Rede sein. Manche Autoren – wie z. B. Bertolt Brecht – legen ein geradezu ausbeuterisches Verhältnis zur Wirklichkeit, wie sie sie in Geschichte und Gesellschaft wahrnehmen, an den Tag. Dies geschieht wohl nicht zuletzt deshalb, weil und insofern beim schöpferischen Prozess die Vorstellung oder das Empfinden eine Rolle spielen kann, dass der Rückgriff auf Selbsterlebtes oder -wahrgenommenes zugleich die eindrucksstärkste Darstellung nach sich zu ziehen vermag. Dass Schriftsteller in ihren Texten eigene Lebenserfahrungen und Kenntnisse verwerten, ja buchstäblich ausschlachten, versteht sich also praktisch von selbst. Der eigene Lebens- und Erfahrungsbereich wirkt allemal als eine Art Stimulans, aus dem sich das Streben nach künstlerischer Gestaltung speist. Dabei existiert kein Phänomen oder Gegenstand der Wirklichkeit, das oder der nicht literarischen Ausdruck fände. So hat die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger auf „das Spiel mit Weltgeschichte in der Literatur“ hingewiesen.52 Es ist mitnichten auf die Gattung des historischen Romans beschränkt, sondern findet sich gerade in der zeitgenössischen Literatur, die in einem verwirrenden Maße alle nur erdenklichen Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung ausschöpft, miteinander 52 Klüger (Fn. 4), S. 143. Zur Verwandlung von Geschichte in Literatur Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), 1973; Paul Michael Lützeler, Geschichte in der Literatur. Studien zu Werken von Lessing bis Hebbel, 1987; Walter Hinck, Geschichtsdichtung, 1995. Vgl. auch Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag, 1997.
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mischt und auf diese Weise den Kanon und die Grenzen „klassischer“ Gattungen sprengt, aber auch der Realität ein völlig anderes, ja zuweilen ausgesprochen phantastisches Gesicht verleiht.53 Das Thema ist alt: Schriftsteller schreiben über Kollegen – oder mehr noch Kolleginnen –, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet sind. Und mit denen sie manches verbunden hat, nicht selten, vor allem wenn es sich um Autorinnen handelt, sogar Liebe. Das geht oft genug nicht ohne Schwierigkeiten, Spannungen und Konflikte ab. Namentlich dann, wenn die Beziehung – aus welchen Gründen immer – scheitert. Es gibt persönliche Verletzungen, die sich keineswegs im bloßen Be- oder gar Getroffensein erschöpfen. Gut beraten scheinen jene „Opfer“, die sich zu einschlägigen Darstellungen nicht äußern – vielleicht weil sie diese als Teil ihres „literarischen Schicksals“ begreifen und hinnehmen, das sich natürlich von ihrem Privatleben nicht trennen lässt. Natürlich treiben Schriftsteller in ihren Texten auch und gerade mit Personen ihr (Vexier-)Spiel. In welchem Maße und mit welcher Gestaltungskraft sie Begegnungen mit anderen Menschen oder zumindest Kenntnisse über sie literarisch zu verarbeiten vermögen, ist literaturwissenschaftlich vielfach dokumentiert und analysiert worden. Hier mag – gleichsam für viele andere – ein einziges Beispiel stehen. Der Literaturwissenschaftler Karl Corino hat im Rahmen einer fast schon einzigartigen jahrzehntelangen Spurensuche die Zeitgenossen, die Robert Musil dann in seinen Werken – vor allem in seinem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“, aber auch in dem frühen Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder in den Theaterstücken „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“ und „Die Schwärmer“ – zu literarischen Figuren geformt hat, großenteils ausfindig gemacht, beschrieben und ist obendrein noch ihren Wegen, insbesondere ihren Begegnungen mit dem Autor selbst, gefolgt.54 Die Berliner Lebensgefährtin Hermine Dietz hat gleichsam Modell für die Hauptfigur in der Erzählung „Tonka“ des Schriftstellers gestanden. Dank der eingehenden Studien Corinos lassen sich viele der von Musil geschilderten Frauen- und Männergestalten identifizieren. Daraus ist dann gleichsam das Panorama einer Lebenswelt geworden, deren Spiegelung oder Widerspiegelung das Werk jenes Schriftstellers verkörpert. Damit hat er aber auch zugleich den Veränderungen, wenn nicht gar Metamorphosen Ausdruck gegeben, die reale Personen im Prozess literarischer Einverwandlung erfahren haben. Sie haben Charakterzüge wie Handlungen dieser Menschen, aber auch die Art und Weise ihrer Begegnungen mit dem Autor selbst zum Gegenstand. An diesem Beispiel wird deutlich: Die Frage, wie weit und in welcher Weise sich ein Schriftsteller in seiner Darstellung der von ihm wahrgenommenen Wirklichkeit annähert oder von ihr entfernt, ist allemal ein Thema – oder Problem – des 53 So lässt z. B. Milan Kundera im Schlussteil seines Romans „Die Unsterblichkeit“ (1992) Goethe und Hemingway erinnerungsselige Gespräche miteinander führen. 54 Corino, Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, 1988; ders., Robert Musil. Eine Biographie, 2003.
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Sujets selbst, vor allem aber der (ästhetischen) Vorstellung, die der Autor von der künstlerischen Gestaltung seines Textes entwickelt oder überhaupt hat. Natürlich spielen dabei auch seine sprachlichen Interessen und Gestaltungsmöglichkeiten eine gewichtige Rolle. Das alles kann dazu führen, dass er – ganz im Banne unmittelbar erlebten Geschehens – einer persönlichen Begegnung und Lebensproblematik in der Schilderung eigene Züge verleiht. Es kann aber auch geschehen, dass er eben aus diesem Grunde in der Darstellung auf Distanz zu seinen eigenen Erfahrungen und Empfindungen geht. Offenkundig existiert hier eine außerordentliche, inhaltlich kaum zu fassende Bandbreite an solchen Möglichkeiten literarischer Verarbeitung persönlichen Erlebens. Schriftsteller schreiben über Begegnungen mit anderen Zeitgenossen oder Verbindungen mit ihnen aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus. Es muss sich beileibe nicht nur um eine vordergründig erscheinende Beschäftigung mit einem beim Publikum beliebten Thema handeln. Autoren können damit vielmehr anstreben, literarisch zu verarbeiten, was in der engen, ja intimen Beziehung zu einem anderen Menschen misslungen, zerbrochen ist. Etwa weil ihnen andere Möglichkeiten, das Geschehen seelisch zu „bewältigen“, nicht zugänglich sind, ihnen aber die Sprache als Ausdrucksmöglichkeit zu Gebote steht, das zu sagen, was sie auf andere Weise nicht zu sagen vermögen. Darin kann der Versuch zu sehen sein, einen inneren Bruch, eine zutiefst erfahrene Verletzung auf literarischem Weg überwinden zu wollen. Die Einverwandlung erlebten Geschehens in Literatur kann sich bis zur Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis, der eigenen Identität steigern, in der die Liebesbeziehung untrennbar mit der Lebensgeschichte verwoben ist. Oft wird die einstige Liebesbeziehung dichterisch „vereinnahmt“, ganz in den Dienst des literarischen Werkes gestellt – wozu es keineswegs, wie man vielleicht meinen könnte, seelisch robuste Naturen braucht. Wie Beispiele aus der Weltliteratur zeigen, nehmen sich gerade sensible Schriftsteller, die sich in die Psyche des anderen einfühlen können, solcher Sujets an. Nicht selten gehen verschiedene Schreibimpulse und -motive – ob reflektiert oder unbewusst – ineinander über, fließen zusammen. In Fällen, in denen es um die Darstellung einer Liebesbeziehung geht, ist die Problematik literarischer Rekonstruktion eines sehr persönlichen, intimen Geschehens offenkundig. Die einstige Partnerin muss kein Verständnis für eine durch die Profession geforderte Haltung aufbringen, der alles, was ein Schriftsteller wahrnimmt und erlebt, zum „Stoff“ wird, aus dem er seine Anregungen und Impulse bezieht. Sie kann in der literarischen „Verwertung“ eines sehr privaten Teils ihrer Lebensgeschichte einen „Missbrauch“ ihrer Person erblicken. Dies gilt umso mehr, je nachhaltiger die Darstellung in die Beschreibung intimer Details mündet – mögen sie nun realitätsgetreu geschildert oder in fiktionaler Weise verfremdet sein. Das gilt mitnichten nur in Fällen, in denen die einstige Partnerin – um es fast schon salopp auszudrücken – in der Schilderung „schlecht wegkommt“. Letzteres könnte sie freilich darüber hinaus noch als „Racheakt“ in literarischer Form emp-
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finden, der ihr die Verantwortung für das Scheitern der Liebesbeziehung zuschreibt und sie in dieser undankbaren Rolle auf mehr oder minder schäbige Weise bloßstellt. Dabei wird es von der Sensibilität und dem Einfühlungsvermögen des Schriftstellers bei der literarischen Rekonstruktion des einstigen Geschehens abhängen, wie eine reale Person die Darstellung eines bedeutsamen Abschnitts ihres Lebens wahrnimmt – und vielleicht auch seelisch verkraftet. Es bedarf gewiss keiner besonderen Hervorhebung, dass es sich in vielen, wenn nicht den meisten Fällen dieser Art um einen heiklen Vorgang handelt, der namentlich dem Autor ein entsprechendes Fingerspitzengefühl und Sensorium abverlangt. 2. Fakten und Fiktionen in der Sicht Bernhard von Beckers und Juli Zehs Eine der gediegensten Studien, die über die Problematik des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit – und damit aber auch von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht – im Roman „Esra“ und sich an ihm in grundsätzlicher Hinsicht entfaltend vorliegt, stammt von Bernhard von Becker.55 Sie ist zwar vor dem „Esra“-Urteil des BVerfG erschienen, hat sich also mit dessen Gedankengang und der Kritik daran nicht mehr auseinandersetzen können, hat aber ungeachtet ihres literaturwissenschaftlichen Bezugs die neuralgischen Punkte herausgearbeitet – die freilich nicht durchweg in der späteren Entscheidung und in dem darüber geführten Diskurs entsprechenden Ausdruck gefunden haben. Die Aspekte, auf die Becker aus kunst-, insbesondere literaturtheoretischer Sicht aufmerksam macht, weisen indessen über das zugrunde liegende literarische Exempel hinaus. Sie sind allgemeiner Natur, namentlich was die Beziehung von Fiktion und Wirklichkeit im postmodernen Roman anlangt. Einmal mehr verdeutlichen sie die Schwierigkeiten einer zureichend präzisen Herausarbeitung von Kriterien, welche die Abgrenzung von realitätsbezogenen und fiktionalen Passagen in literarischen Texten ermöglichen könnten, die nicht als dokumentarische Darstellung, Biografie oder Autobiografie verstanden werden wollen 56 – und sehr wahrscheinlich auch nicht können. Dass diese Schwierigkeiten in der heutigen Literatur eher noch zugenommen haben, weil sich gerade in Romanen vielfach Elemente der Selbstdarstellung des Autors, seiner ganz persönlichen Erfahrungen und Sichtweisen mit fiktionalen Aspekten in oft untrennbarer Weise mischen, eine nicht mehr auflösbare Symbiose eingehen, kommt bei Becker unübersehbar zur Sprache. Dass die für ihn entscheidenden Gesichtspunkte, die für das Verständnis der mitnichten durchweg in gleicher Weise vom Diskurs rezipierten Begriffe der Erkennbarkeit, Ähnlichkeit und Identität einerseits 57, Urbild, Abbild und Typus andererseits58 maßgebend sind, 55 56 57 58
von Becker (Fn. 34). von Becker (Fn. 34), S. 83. von Becker (Fn. 34), S. 65. von Becker (Fn. 34), S. 75.
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nicht in entsprechender Weise Eingang in die verfassungsgerichtliche Entscheidung, sondern eher in kritische „literaturfreundliche“ Kommentare gefunden haben, verwundert allerdings angesichts vorausgegangener normativer Festlegungen in der Rechtsprechung weniger. Die Präzision und Schärfe, mit der der Autor die verschiedenen Begriffe analysiert, voneinander unterschieden und definiert hat, hat vieles geklärt, was im bisherigen Diskurs oft genug verschwommen oder unklar geblieben ist. In gewisser Weise hat Becker in seiner subtilen Studie auch den vordergründig mehr oder minder schwelenden Verdacht bestätigt, dass Urteile über die literarische Qualität eines Werkes – die sich, wie gesagt, eigentlich bei streng juristischer Betrachtung verbieten – im Gesamtkomplex einschlägiger Fragestellungen doch nicht ganz ausklammern lassen.59 Inwieweit freilich äußere Merkmale und Selbstcharakterisierungen – wie etwa die Etikettierung eines Textes als Roman sowie der vielfach übliche Hinweis darauf, dass es sich um eine fiktionale Darstellung und nicht um eine realitätsbezogene Schilderung von Personen und Ereignissen handle – hinreichende Abgrenzungskriterien bilden, wird auch nach dieser fundierten Untersuchung Gegenstand des Diskurses bleiben (müssen). Das letzte Wort zu einem Thema, das in einem essayistischen Beitrag wie diesem schwerlich ausgeschöpft werden kann, soll einer ebenso begabten wie kundigen Schriftstellerin eingeräumt werden, die gleichermaßen mit dem literarischen wie dem juristischen Metier vertraut ist60. Juli Zeh hat in ihrem einschlägigen Essay von 2006 zwar weniger den literatur- und rechtswissenschaftlichen Aspekten des Verhältnisses von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht nachgespürt als vielmehr den Finger auf die offene Wunde gelegt, die gleichsam als zeittypischer Hintergrund die gegenwärtige Konjunktur jener Problematik offenbart: Es ist nicht nur die allgemein-menschliche Neugier, sondern vielmehr das vor allem mediengesteuerte, durch die „Unterhaltungsindustrie“ forcierte Interesse an Fakten, die auch und gerade fahndungsgleich in literarischen Werken aufgespürt werden.61 In ihrer kritischen Abrechnung mit diesem Trend weist sie einmal mehr auf die alte, seit der Antike immer wieder beglaubigte Erfahrung hin, dass Schriftsteller den Stoff ihrer Lebenswirklichkeit entnehmen: „Das Leben des Autors ist ein Steinbruch, der Material liefert“62. Mit daraus folgender, gleicher Entschiedenheit besteht die Schriftstellerin auf dem fiktionalen Charakter literarischer Werke, die – soweit es sich nicht um dokumentarische Darstellungen (etwa biografischer oder autobiografischer Provenienz) handelt – mitnichten beanspruchen, Realität abzubilden, sondern sie vielmehr im mimetischen Sinne in eine „höhere Wirklichkeit“ zu transformieren.63 von Becker (Fn. 34), S. 102 f. Über Juli Zeh z. B. Müller-Dietz, Schülergewalt in literarischer Perspektive, in: Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 119 (129 ff.). 61 Zeh, Zur Hölle mit der Authentizität!, Die Zeit v. 21. 9. 2006, S. 59 f. 62 Zeh (Fn. 61), S. 59. 59 60
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Doch konstatiert Zeh beim gegenwärtigen Umgang mit literarischen Texten die fatale Tendenz, „die eher an eine Mischung aus Voyeurismus und Indizienprozess erinnert als an literarische Rezeption“. Danach suchen viele Zeitgenossen, voran der viel zitierte „Jedermann“, etwa in Romanen reale Personen und Ereignisse in einer Weise dingfest zu machen, als handle es sich bei jenen Werken um biografische oder dokumentarische Literatur oder journalistische Informationen. Zeh meint damit gewiss nicht den literaturwissenschaftlichen Positivismus eines Karl Corino, dem zeitlebens daran gelegen war und ist, das Material, das etwa Musil in seinem Werk verwendet und literarisch einverwandelt hat, ausfindig zu machen. Ihre Kritik zielt vielmehr auf eine Bewusstmachung der alten Erkenntnis, dass Literatur per se keinen Wahrheitsanspruch im Sinne eines Abbildungscharakters erhebt, sondern vielmehr Ausdruck künstlerischer Aneignung und Einverwandlung der vom Autor erlebten Wirklichkeit und Welt ist. Diese Erkenntnis richtet sich freilich nicht nur an den Leser, der – wenn er denn begriffen hat, was Kunst ist und ausdrückt – Literatur nicht als Reproduktion von Wirklichkeit, als „Abklatsch“ von Realität versteht. Sie ist auch als Mahnung an Schriftstellerkollegen gedacht, die durch die Art der Darstellung in ihren Texten glauben dem zeitgenössischen „Echtheitswahn“ und Voyeurismus Rechnung tragen zu sollen. Dementsprechend – so meint Zeh – verhält sich ein Schriftsteller, „der versucht, sich mit seinem literarischen Schaffen vollständig hinter dem Schutzschild des Gattungsbegriffs ,Roman‘ zurückzuziehen“, „auf komplementäre Weise genauso naiv wie ein Leser, der überzeugt ist, der Autor müsse dieselbe Sockenfarbe tragen wie seine Hauptfigur“.64 Dreimal darf man raten, welcher Autor mit dieser Charakterisierung gemeint sein könnte – aber einmal dürfte genügen. Aus ihrem so verstandenen Plädoyer für die Freiheit des Autors, mit seinem Material seinen künstlerischen Intentionen entsprechend zu verfahren, folgert Juli Zeh: „Objektive Festlegungen von qualitativen oder gar juristischen Maßstäben müssen sich auf einem Terrain, das praktisch nur aus Grauzonen besteht, als unhaltbar erweisen und sollten deshalb tunlichst vermieden werden.“ Das ist gewiss keine „Patentlösung“ für den Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht – die es ja auch nicht gibt –, wohl aber eine Erinnerung daran, wie Literatur, die ihren künstlerischen Anspruch einzulösen sucht, von Autor und Leser verstanden werden muss. Weshalb denn auch Juli Zeh aus dieser ihrer Position heraus an ihre Schriftstellerkollegen die selbstbewusste, sich ihrer selbst sichere Mahnung richtet: „Wir haben die Sprache, wir haben die Idee, wir haben das Privileg, keinen Wahrheitsanspruch behaupten zu müssen – mon Dieu, stay fictional, und zur Hölle mit der Authentizität!“. 65
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Vgl. auch von Becker (Fn. 34), S. 102. Zeh (Fn. 61), S. 60. Zeh (Fn. 61), S. 60.
Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns Von Dietrich Murswiek*
Jeder Bürger hat das Recht, mit der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen, daß ein Hoheitsakt, insbesondere ein (verfassungsänderndes) Gesetz, verfassungswidrig sei, weil er gegen den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten unabänderlichen Verfassungskern verstoße. Dies ist eines der innovativen Ergebnisse des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts1. Der objektive Schutz der Verfassung wird auf diese Weise subjektiviert. Das ist eine notwendige Ergänzung des objektiven Verfassungsschutzes. Denn Art. 79 Abs. 3 GG soll eine „legale“ Revolution verhindern; er soll verhindern, daß die fundamentalen Verfassungsprinzipien, insbesondere die Garantie der in der Menschenwürde wurzelnden individuellen Freiheit und der Demokratie, vom verfassungsändernden Gesetzgeber mit den qualifizierten Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, die in Art. 79 Abs. 2 GG für Verfassungsänderungen vorgesehen sind, ganz oder teilweise beseitigt werden. Nach der bisher vorherrschenden Auffassung konnte der Einzelne gegen ein mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbares Gesetz nur dann mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen, wenn er geltend machen konnte, daß dieses Gesetz gegen individuelle Grundrechte verstoße. In Betracht kommen insbesondere die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) oder das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG), das notwendiger Bestandteil des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und deshalb durch Art. 79 Abs. 3 GG mit geschützt ist. Die Verletzung objektiver Verfassungsprinzipien (etwa des Bundesstaatsprinzips, der Gewaltenteilung oder des Sozialstaatsprinzips) konnten nach herrschender Meinung jedoch nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Eine gewisse Subjektivierung des Schutzes objektiver Prinzipien hatte freilich schon das Maastricht-Urteil gebracht. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht bereits Art. 38 Abs. 1 GG über seinen Wortlaut – und das heißt über das Wahlrecht – hinaus als Grundrecht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation interpretiert und auf diese Weise die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ermöglicht, * Der Autor ist Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Er ist Wilfried Fiedler insbesondere durch lange Zusammenarbeit in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht verbunden. 1 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a. – Lissabon.
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mit der geltend gemacht wird, die Kompetenzen des Bundestages würden durch die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union in einem Maße ausgehöhlt, das mit den Anforderungen demokratischer Legitimation nicht mehr vereinbar sei2. Das Lissabon-Urteil geht darüber – wenngleich auch nicht ganz widerspruchsfrei – noch weit hinaus. Indem das Bundesverfassungsgericht jedem Staatsbürger das Recht gibt, mit der Verfassungsbeschwerde ein Verfahren einzuleiten, in welchem das Bundesverfassungsgericht kontrolliert, ob ein Staatsorgan die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG überschritten hat, wird die Beachtung der unabänderlichen Verfassungsprinzipien uneingeschränkt3 der Kontrolle im Wege der Verfassungsbeschwerde unterworfen. Auf diese Weise bleibt der Schutz der Verfassung gegen diejenigen, die allein in der Lage sind, eine „legale Revolution“ durchzuführen, weil sie über die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat verfügen, nicht mehr denen überlassen, die das Recht zur Einleitung einer abstrakten Normenkontrolle haben – und das sind, wenn nicht institutionell, so doch politisch, dieselben politischen Kräfte, gegen die im Falle des Versuchs einer verfassungswidrigen Verfassungsänderung der Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG zur Wirkung kommen müßte. Ich vertrete seit langem die Auffassung, daß es ein subjektives – mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares – staatsbürgerliches Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns durch die Staatsorgane gibt4. Und ich habe diese Auffassung im Verfassungsprozeß um den Vertrag von Lissabon dem Bundesverfassungsgericht vorgetragen5. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Recht freilich anders begründet als ich. Es hat dieses Recht nicht auf Art. 20 Abs. 4 GG, sondern auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützt, und die Reichweite dieses Rechts ist in den Urteilsgründen nicht so klar, wie sie es nach systematischer Betrachtung sein muß. Es wird damit zu rechnen sein, daß die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auf Kritik stoßen wird6, zumal schon das Maastricht-Urteil in diesem BVerfGE 89, 155 (171 f.) – Maastricht. Dies ist in der Lissabon-Entscheidung freilich nicht ganz klar; dazu näher unten II. 2. d), III. 2. c). 4 Die folgende Interpretation des Art. 20 Abs. 4 GG hatte ich im wesentlichen bereits 1992 im Rahmen eines Gutachtens zur Vereinbarkeit des Vertrages von Maastricht mit dem Grundgesetz entwickelt. Dieser Teil des Gutachtens ist veröffentlicht in: Ingo Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993. Dokumentation des Verfahrens mit Einführung, 1994, S. 80 – 87. – Der folgende Text soll sich nicht darin erschöpfen, diese Interpretation nochmals vorzutragen, sondern soll auch ihre systematische Struktur verdeutlichen und verbessern. 5 Dietrich Murswiek, Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten, Mai 2008, S. 5 ff., www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6472/; ders., Schriftsatz vom 21. 10. 2008, S. 15 ff. – Das Gutachten und der Schriftsatz werden veröffentlicht in der von Karen Kaiser herausgegebenen Dokumentation des Verfahrens zum Vertrag von Lissabon, die in der Reihe „Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht“ im Springer-Verlag erscheinen soll. 6 Vgl. bereits Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen „DemokratieDefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 (539). 2 3
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Punkt als zu weitgehend, den Art. 38 Abs. 1 GG überstrapazierend, kritisiert worden war7. Deshalb scheint es mir sinnvoll, meinen eigenen Begründungsansatz im folgenden noch einmal vorzustellen und weiterzuentwickeln, bevor ich auf die Begründung des Bundesverfassungsgerichts eingehe und ihre Konsequenzen aufzeige. Mit meinem eigenen Ansatz steht nicht nur eine „Reservebegründung“ zur Verfügung, auf die zurückgegriffen werden könnte, wenn die Begründung des Bundesverfassungsgerichts nicht (mehr) als überzeugend angesehen würde. Sie macht vor allem deutlich, daß die Eröffnung der subjektivrechtlichen „Identitätskontrolle“ unausweichlich ist: Hätte das Bundesverfassungsgericht nicht Art. 38 Abs. 1 GG so weit ausgelegt, wie es das getan hat, um die Verfassungsbeschwerde auch zur Kontrolle am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG zu ermöglichen, dann hätte es meinem Vorschlag gemäß diese Kontrolle auf der Basis von Art. 20 Abs. 4 GG eröffnen müssen. I. Das Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns als implizit in Art. 20 Abs. 4 GG mitgarantiertes Recht Art. 20 Abs. 4 GG spricht dem Einzelnen ein subjektives Recht darauf zu, daß alle Träger öffentlicher Gewalt (und alle Dritten) alles unterlassen, was darauf abzielt, die nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien ganz oder teilweise zu beseitigen. Die Existenz dieses Rechts ergibt sich freilich nicht aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 4 GG, der das dort garantierte Recht als „Recht zum Widerstand“ formuliert. Das hier behauptete Recht ist jedoch, wie im folgenden gezeigt wird, durch systematische Interpretation aus Art. 20 Abs. 4 GG abzuleiten. Meine These lautet nicht, daß der Einzelne sich auf das Widerstandsrecht berufen kann, wenn er mit der Verfassungsbeschwerde geltend macht, ein Staatsorgan verstoße gegen eines der Fundamentalprinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG. Sie lautet vielmehr, daß Art. 20 Abs. 4 GG ein Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns voraussetzt und stillschweigend mitnormiert, welches dem Widerstandsrecht vorgelagert ist. Diese These soll im folgenden begründet werden. 1. Das Widerstandsrecht als Ausnahmerecht Ausdrücklich regelt Art. 20 Abs. 4 GG nur das Widerstandsrecht. Dieses Recht ist ein Fremdkörper im Rechtsstaat, ein Ausnahmerecht, das nur in äußersten Notfällen zur Rettung der Verfassungsordnung zur Anwendung kommen kann. Denn 7 Vgl. z. B. Hans-Heinrich Trute, in: von Münch / Kunig, GG Bd. 2, 4. / 5. Aufl. 2001, Art. 38 Rn. 17 m. w. N.
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es durchbricht ein Fundamentalprinzip der Staatlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit: das staatliche Gewaltmonopol und die Friedenspflicht der Bürger. Im Normalfall muß jeder Bürger seine Rechte im Rechtsstaat mit den dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen durchsetzen, gegebenenfalls vor Gericht. Er darf nicht Selbstjustiz üben. Ist er vor Gericht unterlegen, muß er dies akzeptieren. Schon gar nicht darf er gegen objektive Rechtsverstöße, die ihn gar nicht in seinen eigenen Rechten berühren, eigenmächtig vorgehen. Er muß die Rechtsdurchsetzung den dafür in Verfassung und Gesetzen vorgesehen Organen überlassen. Über die Einhaltung objektiven Verfassungsrechts wacht in Deutschland das Bundesverfassungsgericht, das freilich insoweit grundsätzlich nicht auf Antrag jedes Bürgers, sondern nur auf Antrag der hierfür zuständigen Organe – insbesondere im Normenkontrollverfahren – tätig werden kann. Art. 20 Abs. 4 GG hingegen ermächtigt jeden Bürger, etwas zu tun, was er sonst in keinem Fall tun darf: Gewalt anzuwenden gegen die Staatsorgane. Widerstand im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG ist zwar nicht notwendigerweise gewaltsamer Widerstand, aber die Ermächtigung des Art. 20 Abs. 4 GG schließt die Anwendung jedes zur Verteidigung der Verfassung erforderliche Mittel ein, notfalls also auch bewaffnete Gewalt. Der Einsatz eines im Normalfall nicht verfassungsgemäßen Mittels wird legalisiert, wenn es um die Verteidigung der Verfassung geht. Zur Verteidigung der Verfassung wird die Rechtsdurchsetzung in die Hand des Bürgers gelegt.
2. Der Bürger als Hüter der Verfassung Die Besonderheit des Widerstandsrechts besteht nicht nur darin, daß der Bürger zum Widerstand ermächtigt wird und dabei notfalls zur Durchsetzung des Rechts Gewalt anwenden darf. Art. 20 Abs. 4 GG gibt jedem Bürger das subjektive Recht zur Verteidigung der objektiven Verfassungsordnung. Jeder einzelne Bürger hat unter den Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG das subjektive Recht, zur Verteidigung der Verfassung Widerstand zu leisten, auch wenn er durch die Handlungen, welche die Widerstandslage hervorrufen, nicht in eigenen Rechten verletzt wird, sondern allein die objektive Verfassungsordnung auf dem Spiel steht. Dieses subjektive Recht zur Verteidigung der objektiven Verfassungsordnung kann sich inhaltlich nicht auf – gewaltsamen oder gewaltlosen – Widerstand beschränken. Es setzt zwingend voraus, daß der einzelne Bürger zuallererst einen Anspruch gegen die Staatsorgane hat, die Verfassungsordnung zu achten, also nicht zu verletzen. Es wäre widersinnig, wenn er von den Staatsorganen nicht verlangen könnte, wozu er sie mit Gewalt zwingen darf. Die Verfassung wäre widersprüchlich, wenn sie dem Einzelnen nicht den Anspruch gäbe, von den Staatsorganen die Unterlassung von Maßnahmen zu verlangen, die zur Beseitigung der Verfassungsordnung im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG führen würden, und ihm aber dennoch das Recht einräumte, die Staatsorgane mit Gewalt an eben diesen Maßnahmen zu hindern.
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Art. 20 Abs. 4 GG macht also das Individuum zum Hüter der Verfassung. Er subjektiviert den Verfassungsschutz, indem er dem Bürger erstens ein subjektives Recht auf Unterlassung der Beseitigung der Verfassungsordnung gegen die Staatsorgane und gegen alle Dritten (Achtungsanspruch) sowie zweitens die Befugnis zur Durchsetzung dieses Rechts (Widerstandsrecht) einräumt. Da der Wortlaut des Art. 20 Abs. 4 GG nur das Widerstandsrecht nennt, ist in der Literatur bisher übersehen worden, daß diese Vorschrift zwei Ebenen mit zwei von einander zu unterscheidenden Rechten enthält. 3. Voraussetzungen des Widerstandsrechts und des Achtungsanspruchs Art. 20 Abs. 4 GG nennt zwei Voraussetzungen für das Recht zum Widerstand: – Jemand unternimmt es, „diese Ordnung“ zu beseitigen. – Andere Abhilfe ist nicht möglich.
Beide Voraussetzungen konstituieren die Widerstandslage. Es muß also zunächst ein Unternehmen vorliegen, die Verfassungsordnung zu beseitigen, also der konkrete Beseitigungsversuch8. Das Unternehmen kann von „jedem“ ausgehen, also von allen natürlichen und juristischen Personen. Dazu gehören insbesondere deutsche Staatsorgane, die kraft ihrer Möglichkeiten, die Verfassung zu ändern, den Beseitigungsversuch unternehmen. Was aber ist genau mit „dieser Ordnung“ gemeint, und was heißt „Beseitigung“? a) Die Verfassungsordnung als Schutzobjekt des Art. 20 Abs. 4 GG „Diese Ordnung“ in Art. 20 Abs. 4 GG bezieht sich auf die vorangehenden Absätze 1 bis 3. Sprachlich könnte „diese Ordnung“ auch an „die verfassungsmäßige Ordnung“ anknüpfen, an die nach Absatz 3 die Gesetzgebung gebunden ist. Die verfassungsmäßige Ordnung in Absatz 3 ist das Grundgesetz mit allen seinen einzelnen Bestimmungen. Da die Verfassung aber legal geändert werden kann, ist Widerstand grundsätzlich nicht erlaubt gegen verfassungsändernde Gesetzesbeschlüsse. Vielmehr kann es nur darum gehen, diejenigen fundamentalen Verfassungsprinzipien zu verteidigen, die der legalen Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG entzogen sind9. Es geht also um die Verteidigung des unabänderlichen Verfassungskerns. Dieser aber ist bei systematischer Betrachtung im ganzen durch Art. 20 Abs. 4 GG geschützt, nicht nur, soweit er in den Absätzen 1 – 3 des Art. 20 normiert ist, so daß insbesondere auch die Menschenwürdegarantie 8 9
Vgl. z. B. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 171 m. w. N. Vgl. z. B. Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 129 m. w. N.
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(Art. 1 Abs. 1 GG) zum Schutzgegenstand gehört10. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenhang und dem Telos der Norm: Es gibt nach dem Grundgesetz Verfassungsgrundsätze, die so fundamental sind, daß sie mit keiner Mehrheit beseitigt werden dürfen, und der Schutz dieses unabänderlichen Verfassungskerns rechtfertigt das Widerstandsrecht als Ausnahmerecht. b) „Beseitigung“ der verfassungsmäßigen Ordnung Voraussetzung des Widerstandsrechts ist nach Art. 20 Abs. 4 GG, daß jemand es unternimmt, die fundamentalen Verfassungsprinzipien „zu beseitigen“. Einigkeit besteht zunächst darüber, daß das Widerstandsrecht nicht nur dann gegeben ist, wenn sich der Angriff gegen sämtliche Verfassungsfundamentalprinzipien richtet; es reicht aus, wenn eines der unabänderlichen Verfassungsprinzipien bedroht ist11. Ein Verfassungsprinzip, etwa die Demokratie, wird nicht „beseitigt“, wenn es lediglich im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen abgeändert wird. Verfassungsänderungen, die eines der unabänderlichen Verfassungsprinzipien in seiner Ausgestaltung modifizieren, ohne gegen Art. 79 Abs. 3 GG zu verstoßen, lösen nicht die Widerstandslage aus. Ein Verfassungsprinzip ist freilich nicht erst dann „beseitigt“, wenn es vollständig abgeschafft, also die Demokratie beispielsweise durch eine Führerdiktatur ersetzt wird. Vielmehr wird das Tatbestandsmerkmal des Art. 20 Abs. 4 GG schon dann erfüllt, wenn ein notwendiges – zum unabänderlichen Verfassungskern gehörendes – Teilelement eines unabänderlichen Verfassungsprinzips beseitigt wird, beispielsweise die Wahlrechtsgleichheit oder das Prinzip der Chancengleichheit der politischen Parteien. Denn ohne ein solches notwendiges Teilelement wäre auch das Prinzip im ganzen nicht mehr das, was es als unabänderliches Prinzip dem Grundgesetz zufolge sein soll. Eine „Demokratie“, in der etwa rechte (oder linke) Parteien allein wegen ihrer politischen Ausrichtung nicht zur Wahl zugelassen wären, wäre keine Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG mehr. Von der „Beseitigung“ eines der fundamentalen Verfassungsprinzipien sind allerdings einzelne Verstöße gegen diese Prinzipien zu unterscheiden12. Man kann nämlich unterscheiden zwischen Beeinträchtigungen der unabänderlichen Verfassungsprinzipien, die einmalig – zeitlich und sachlich sozusagen punktuell – wirken, und solchen Beeinträchtigungen, die dauerhaft – zeitlich und sachlich sozusagen flächendeckend – wirken. Ein Beispiel für eine einmalige Beeinträchtigung wäre die Entscheidung eines Wahlleiters, eine politische Partei wegen ihres „rechten“ (oder „linken“) Programms nicht zur Wahl zuzulassen. Ein Beispiel für eine Vgl. z. B. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IX (Stand: 1980), Rn. 13, 17. Vgl. z. B. Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 21; Herzog (Fn. 10), Rn. 23. 12 Vgl. etwa Herzog (Fn. 10), Rn. 24. 10 11
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dauerhafte Beeinträchtigung wäre eine Verfassungsänderung, nach der „rechte“ (oder „linke“) Parteien von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen sind. Im ersten Fall ist das Demokratieprinzip nur „verletzt“, aber nicht „beseitigt“, weil es ja im ganzen noch funktioniert und nur im Einzelfall nicht richtig angewendet worden ist, während im zweiten Fall eine Regelung getroffen worden ist, die das demokratische Fundamentalprinzip der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht nur einmalig außer Acht läßt, sondern dauerhaft außer Kraft setzt. Das spricht dafür, daß nur in letzterem Fall eine „Beseitigung“ i.S. von Art. 20 Abs. 4 GG gegeben ist, zumal im ersten Fall die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts möglich bleibt und der Verfassungsverstoß – zumindest für die Zukunft – korrigiert werden kann. Nicht nötig für die Annahme einer „Beseitigung“ ist allerdings die ausdrückliche Änderung der Verfassung. Auch ihre dauerhafte, systematische Nichtanwendung ist „Beseitigung“. Von „Beseitigung“ kann nicht nur im Falle eines gewaltsamen Putsches oder Staatsstreichs die Rede sein. Sinn der Verfassungsschutzbestimmungen des Grundgesetzes ist es gerade auch, eine „legale Revolution“ zu verhindern. Deshalb löst auch der Versuch, ein zum identitätsbestimmenden, unabänderlichen Kern des Grundgesetzes gehörendes Prinzip im Wege eines verfassungsändernden Gesetzes zu beseitigen, die Widerstandslage aus, sofern andere Abhilfe nicht möglich ist. c) Keine „andere Abhilfe“ möglich Ob das Widerstandsrecht gegeben ist oder ob ein Recht auf Widerstand nicht besteht, weil „andere Abhilfe“ möglich ist, hängt auch und vor allem davon ab, ob wegen des (drohenden) Eingriffs in den unantastbaren Verfassungskern das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann. Aus der Sicht des Bürgers, der sich fragt, ob er Widerstand ausüben darf, besteht eine Schwierigkeit darin, daß er vorhat, die Verfassung als solche zu verteidigen. Was er verteidigen will, sind objektive Verfassungsprinzipien. Beim Widerstandsrecht geht es gerade nicht darum, daß der Bürger seine eigenen, subjektiven Rechte verteidigt. Nicht um persönliche Interessen, sondern um die Verfassung zu schützen, ist das Widerstandsrecht gegeben. Die Verfassungsbeschwerde als das prozessuale Instrument des Bürgers, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, setzt aber voraus, daß die Verletzung eines subjektiven Rechts, nämlich eines Grundrechts oder eines grundrechtsgleichen Rechts, geltend gemacht wird. Seit das Bundesverfassungsgericht im Maastrichtund dann im Lissabon-Urteil dem Einzelnen mit seiner extensiven Auslegung von Art. 38 Abs. 1 GG die Möglichkeit eröffnet hat, auch Verletzungen des Demokratieprinzips und anderer objektiver Verfassungsprinzipien zu rügen13, stellt im Falle einer mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbaren Verfassungsänderung die auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde regelmäßig eine Möglichkeit „anderer Abhilfe“ dar und schließt das Widerstandsrecht aus. 13
Dazu ausführlich unten II., III.
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Bevor die Rechtsprechung diese Möglichkeit geschaffen hat, stand nach der herkömmlichen Interpretation des Art. 20 Abs. 4 GG die Verfassungsbeschwerde als Instrument „anderer Abhilfe“ nur zur Verfügung, wenn die Wahrnehmung des Widerstandsrechts auf die Verteidigung der Menschenwürde gerichtet war, nicht jedoch, wenn es um die Verteidigung der Demokratie oder anderer unabänderlicher Verfassungsprinzipien ging. Dieses Problem stellt sich heute noch, wenn und soweit mit der auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht die Verletzung aller unabänderlichen Verfassungsprinzipien gerügt werden kann14. Soweit also die Verletzung der Schutzgüter des Art. 20 Abs. 4 GG vom Einzelnen nicht mit einer auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann, hat es der Einzelne regelmäßig nicht in der Hand, durch Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens „andere Abhilfe“ herbeizuführen. Der zum Widerstand bereite Einzelne kann nach der herkömmlichen Interpretation des Art. 20 Abs. 4 GG das Bundesverfassungsgericht nicht mit einer unmittelbar auf Art. 20 Abs. 4 GG gestützten Verfassungsbeschwerde anrufen und auf diese Weise „andere Abhilfe“ im Sinne dieser Vorschrift schaffen. Zwar gehört auch Art. 20 Abs. 4 GG selbst gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zu den verfassungsbeschwerdefähigen subjektiven Rechten. Aber nach der herkömmlichen Interpretation garantiert Art. 20 Abs. 4 GG nur das Recht auf Widerstand. Was mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnte, wäre, wenn dies zuträfe, nichts anderes als die Verletzung des Widerstandsrechts. Dieses könnte aber nur verletzt sein, wenn zum einen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt wären, also andere Abhilfe – und insbesondere auch der Weg zum Bundesverfassungsgericht – nicht möglich wäre, zum anderen der Betreffende an der Ausübung des Widerstands gehindert würde. Ob andere Abhilfe möglich ist, hängt nach dieser Interpretation in der hier erörterten Problemkonstellation davon ab, ob irgendein zur Einleitung eines anderen Verfahrens – beispielsweise der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle – zuständiges Staatsorgan ein solches Verfahren im konkreten Fall einleitet. Wenn nicht, ist keine andere Abhilfe gegeben; der Bürger muß dann auf eigenes Risiko zunächst gewaltsamen Widerstand ausüben und kann erst dann, wenn er damit keinen Erfolg hat, das Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung seines Widerstandsrechts anrufen. Diese Auslegung des Art. 20 Abs. 4 GG hat für den Bürger die fatale Folge, daß er im Falle seines eigenen Irrtums über die Rechtslage rechtswidrige und strafbare Gewalt anwenden würde. Unterläge er nach erfolglos geleistetem Widerstand vor dem Bundesverfassungsgericht, müßte er mit harten Konsequenzen rechnen, obwohl er die Verfassung verteidigen wollte und rechtlich keine andere Möglichkeit dazu hatte. Für den Staat und die Rechtsordnung wären die Konsequenzen dieser Auslegung noch schlimmer: Die Verfassung würde den Bürgern ein Recht zur 14
Dazu unten II. 2. d), III. 2. c).
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Gewaltanwendung gegen die Staatsorgane verleihen, über dessen Voraussetzungen sie notwendigerweise selbst entscheiden müßten, obwohl mit dem Bundesverfassungsgericht eine Institution zur Verfügung stünde, die diese Entscheidung treffen könnte. Damit würde die Rechtsordnung ohne Not sich selbst zugunsten der Gewaltanwendung zurücknehmen. Es wäre unstaatlich und geradezu antirechtsstaatlich, würde die Verfassung den Bürger zunächst zur Gewaltanwendung zwingen, damit er dann – erst danach – eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (über die Rechtmäßigkeit seines Widerstandes) erreichen kann. Widerstand, und das heißt Gewaltanwendung seitens der Bürger gegen die Staatsgewalt, kann im Rechtsstaat nur die ultima ratio sein, kann also erst dann in Betracht kommen, wenn ein funktionsfähiges Verfassungsgericht, das den Eingriff in den unabänderlichen Verfassungskern feststellen könnte, nicht mehr vorhanden ist (oder wenn, etwa bei einem offenen Staatsstreich, von vornherein keine Aussicht darauf besteht, daß die Machthaber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts respektieren)15. Somit kann die hier erörterte, nur am Wortlaut orientierte Auslegung der Art. 20 Abs. 4, 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht richtig sein. Die Tatbestandsvoraussetzung, daß „andere Abhilfe nicht möglich ist“, bezieht sich nach Sinn und Normlogik allein auf das Recht auf Ausübung von Widerstand, nicht aber auf den – wie oben gezeigt – in Art. 20 Abs. 4 GG unausgesprochen mitnormierten Anspruch auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns. Sie stellt sicher, daß die durch Art. 20 Abs. 4 GG ermöglichte Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols und der bürgerlichen Friedenspflicht auf den Ausnahmefall beschränkt bleibt, in dem rechtsstaatliche Mittel zur Wahrung der Verfassungsordnung nicht mehr zur Verfügung stehen. Das Recht, Widerstand zu üben, ist ein Recht, die Rechtsdurchsetzung in die eigene Hand zu nehmen. Private Rechtsdurchsetzung muß der Ausnahmefall sein, der nur gegeben ist, wenn es keine anderen – rechtsstaatlichen – Mittel der Rechtsdurchsetzung gibt. Bezüglich des Rechts auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns ist diese Einschränkung nicht nötig. Denn wenn der Einzelne kraft seiner ihm durch Art. 20 Abs. 4 GG eingeräumten Hüterstellung von einem Staatsorgan verlangt, von dem Versuch der Beseitigung eines unabänderlichen Verfassungsprinzips Abstand zu nehmen, dann bleibt er damit im Rahmen der rechtsstaatlichen Verfahren und nimmt keine Befugnisse in Anspruch, die der Rechtsstaat im Normalfall nicht gewährt. Das Recht, von den Staatsorganen (und allen Dritten) die Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns zu verlangen, ist kein Rechtsdurchsetzungsrecht, sondern ein subjektives Recht auf Beachtung der objektiv ohnehin bestehenden Pflicht zur Achtung der Verfassungsordnung. Die Einschränkung, daß dieser Anspruch nur unter der Voraussetzung besteht, daß andere Abhilfe nicht möglich sei, wäre sinnwidrig. „Abhilfe“ bezieht sich auf die Mittel zur Rechtsdurchsetzung, kann sich aber schon sprachlich nicht auf das zugrundeliegende Recht beziehen. Da somit die Tatbestandsvoraussetzung, daß keine andere Abhilfe möglich ist, nur für das Widerstandsrecht, nicht aber für den Achtungsanspruch gilt, kann die 15
Vgl. Herzog, in Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IX Rn. 37.
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Verletzung des Achtungsanspruchs mit der auf Art. 20 Abs. 4 GG gestützten Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Dies soll im folgenden – in Auseinandersetzung mit der überkommenen Interpretation – noch näher dargelegt werden. 4. Die Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung des Achtungsanspruchs als „andere Abhilfe“ im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG Es ist ein allgemeiner Grundsatz der Verfassungsinterpretation, daß von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu wählen ist, die Wertungswidersprüche innerhalb des Grundgesetzes vermeidet. Versteht man mit der herkömmlichen Interpretation die Erwähnung von Art. 20 Abs. 4 in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nur als Normierung der Möglichkeit, das Widerstandsrecht als solches – also das Recht auf Ausübung von Gewalt zur Verteidigung der Verfassung – mit der Verfassungsbeschwerde durchzusetzen16, dann steht diese Regelung als gewaltprovozierende Regelung im Widerspruch zur Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Ergebnis und das mit ihr verbundene, oben erörterte Risiko für den Bürger versucht man durch eine restriktive Interpretation des Widerstandsrechts zu vermeiden: Das Recht zum Widerstand soll auf offenkundige Fälle revolutionärer Unternehmen beschränkt sein17. Diese restriktive Interpretation mit ihrer Beschränkung des Widerstandsrechts auf ganz offenkundige, eindeutige Fälle revolutionärer Akte entspricht dem Grundgedanken, daß das Widerstandsrecht ein Ausnahmerecht ist und auf extreme Ausnahmelagen beschränkt sein soll, und wirkt der Gefahr entgegen, daß eine in Wirklichkeit nicht gegebene, bloß behauptete Widerstandslage zum Vorwand für einen gewaltsamen Angriff gegen die Staatsgewalt des demokratischen Rechtsstaat benutzt wird. Wird jedoch zugleich die Verfassungsbeschwerdemöglichkeit des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a i. V. m. Art. 20 Abs. 4 GG darauf reduziert, den erfolglos geleisteten Widerstand einzuklagen, dann führt diese restriktive Interpretation zum einen dazu, das Widerstandsrecht wirkungslos gegenüber der „schleichenden Revolution“ zu machen, die die Verfassungsfundamente Stück für Stück ganz allmählich untergräbt – jedes Stück für sich noch nicht „offenkundig“ revolutionär – und die in unserer Zeit die gefährlichste Herausforderung für den Verfassungsstaat sein dürfte18. Zum anderen wäre dann auch die Verfassungsbeschwerdemöglichkeit praktisch bedeutungslos, denn in den ganz eindeutigen, offenkundigen Fällen eines Staatsstreichs hat entweder der (gewaltsame) 16 Vgl. z. B. auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 758 mit Fn. 14. 17 Vgl. Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 23 f. m. w. N.; Hans Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, 1969, S. 17 f.; Hesse (Fn. 16), Rn. 758; vgl. auch BVerfGE 5, 85 (377). 18 Vgl. etwa BVerfGE 2, 1 (20 f.).
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Widerstand Erfolg oder aber die Kräfte des Staatsstreichs. Bliebe der Widerstand erfolglos, wäre es in solchen Fällen von vornherein illusionär, ihn mit der Verfassungsbeschwerde durchzusetzen, denn würden die den Staatsstreich vollführenden Organe ein das Widerstandsrecht zubilligendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts beachten, dann würde sich nur nachträglich zeigen, daß der Staatsstreich wohl doch nicht offenkundig und eindeutig (und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deshalb falsch) war, denn der Wille der Akteure zur Achtung der Verfassung würde ja durch tätiges Verhalten bestätigt. Dies läßt sich zwar nicht mit logischer Stringenz für alle denkbaren Fälle sagen, würde jedoch die praktische Bedeutung der Verfassungsbeschwerdemöglichkeit fast vollständig zunichte machen. Die genannte Interpretation kann auch aus diesen Gründen nicht richtig sein. Sie beruht auf der verkürzten Sichtweise, daß Art. 20 Abs. 4 GG nur das Widerstandsrecht als Rechtsdurchsetzungsrecht, nicht jedoch den Anspruch auf Achtung des durchzusetzenden Rechts garantiert. Der Umstand, daß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine Verfassungsbeschwerdemöglichkeit zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG eröffnet, bestätigt die hier vertretene Interpretation des Art. 20 Abs. 4 GG. Denn nur bezogen auf den Achtungsanspruch ist diese prozessuale Möglichkeit sinnvoll, während sie bezogen auf das Widerstandsrecht für fast alle Fallkonstellationen unsinnig ist. Widerstand schließt die Möglichkeit gewaltsamer Aktionen gegen Staatsorgane ein, die die Widerstandslage ausgelöst haben. Gewaltanwendung aber soll möglichst unterbleiben, kann nur die ultima ratio sein. Deshalb kann es – wie bereits näher erläutert – nicht richtig sein, vom Beschwerdeführer zu verlangen, daß er zuerst (erfolglos) Widerstandshandlungen vornimmt, um anschließend sein Widerstandsrecht mit der Verfassungsbeschwerde einzufordern. Aus dem Zusammenhang von Art. 20 Abs. 4 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ergibt sich daher, daß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG mit seiner Einbeziehung des Art. 20 Abs. 4 GG den Zweck hat, eine Verfassungsbeschwerde zur Feststellung eines auf die Beseitigung eines unabänderlichen Verfassungsprinzips gerichteten Unternehmens zu ermöglichen. Diese Verfassungsbeschwerde dient nicht etwa der Durchsetzung des Rechts auf Widerstand. Das Recht auf Gewaltanwendung mit der Verfassungsbeschwerde durchzusetzen, wäre ein Widerspruch in sich. Die Verfassungsbeschwerde soll ja eine justizförmige Entscheidung herbeiführen und hat nur Sinn, wenn davon ausgegangen werden kann, daß sie von den betroffenen Staatsorganen auch beachtet wird. Es wäre aber unsinnig, diese dazu zu verurteilen, sich gewaltsamen Widerstand gefallen zu lassen. Das Urteil könnte sinnvollerweise nur dahingehen, die Verletzung der Pflicht zur Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns festzustellen. Damit wäre zwar implizit klargestellt, daß Widerstand erlaubt ist, wenn der gerügte Verfassungsverstoß nicht unterlassen beziehungsweise rückgängig gemacht wird. Die sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erge-
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bende Pflicht der betroffenen Staatsorgane bestünde aber darin, das festgestellte verfassungswidrige (den unabänderlichen Verfassungskern tangierende) Handeln zu unterlassen bzw. einzustellen oder rückgängig zu machen. Wenn dies geschieht, ist Widerstand nicht nötig und rechtlich nicht zulässig, weil „andere Abhilfe“ erfolgt. Entgegen dem Eindruck, der sich aus der bloßen Bezugnahme auf Art. 20 Abs. 4 GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ergibt, dient diese Verfassungsbeschwerdemöglichkeit also nicht – oder jedenfalls nicht nur – dazu, das Widerstandsrecht einzuklagen, sondern sie dient dazu, den Widerstand überflüssig zu machen, indem sie allen Deutschen die Möglichkeit gibt, den unabänderlichen Verfassungskern vor dem Bundesverfassungsgericht zu verteidigen. Die Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung des Achtungsanspruchs ist dann begründet, wenn ein Unternehmen zur Beseitigung eines unabänderlichen Verfassungsprinzips gegeben ist. Und diese Verfassungsbeschwerde stellt eine Möglichkeit „anderer Abhilfe“ dar, die das Widerstandsrecht ausschließt, solange die betreffenden Staatsorgane sich an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts halten. Eine andere Auslegung wäre widersinnig: Wenn Art. 20 Abs. 4 GG allen Deutschen das Recht gibt, die Verfassungsordnung mit gewaltsamem Widerstand zu verteidigen, dann wäre es völlig unverständlich, daß sie nicht das Recht haben sollten, dieses Ziel statt mit Widerstand mit der Verfassungsbeschwerde anzustreben, solange das Bundesverfassungsgericht als funktionierendes Verfassungsorgan zur Verfügung steht. Dies ist der Zusammenhang, in dem Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a mit Art. 20 Abs. 4 GG steht. Nur so gibt diese Verfassungsbeschwerdemöglichkeit Sinn. Zugleich wird bei diesem Verständnis der zitierten Vorschriften das Widerstandsrecht effektiv auf wirkliche Ausnahmesituationen beschränkt und die mit dem Widerstand immer verbundene Bürgerkriegsgefahr auf solche Situationen reduziert, in denen das Bundesverfassungsgericht von Putschisten oder Revolutionären bereits beseitigt worden oder evidenterweise zu unabhängigen, allein an der Verfassung orientierten Entscheidungen nicht mehr in der Lage ist. Auf diese Weise lassen sich die Unsicherheit und die damit für die Widerstand übenden Bürger auf der einen, für den Staat auf der anderen Seite verbundenen Risiken wesentlich reduzieren: Ob der unabänderliche Verfassungskern durch staatliche Akte tangiert ist, muß nicht der Bürger in eigener Verantwortung entscheiden; darüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Verneint es die Frage, ist Widerstand unzulässig. Bejaht es die Frage, ist Widerstand überflüssig und deshalb ebenfalls unzulässig, wenn die Staatsorgane die Entscheidung befolgen und die verfassungswidrigen Akte rückgängig machen. Geschieht dies aber nicht, dann ist das Recht zum Widerstand eindeutig gegeben. Und dann ist die – ihrerseits immer mit Unsicherheiten behaftete – Unterscheidung zwischen „offenkundigen“ und nicht offenkundigen revolutionären Akten nicht nötig. Diese Einschränkung des Wider-
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standsrechts, die ja notwendig zugleich zur Einschränkung der effektiven Verteidigung der Verfassung führt, ist aus den oben erörterten Gründen nur dann geboten, wenn über die Widerstandslage nicht verfassungsgerichtlich entschieden werden kann (weil das Bundesverfassungsgericht funktionsunfähig ist) oder wenn es um die Frage geht, ob entgegen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Widerstand geübt werden darf (weil etwa das Bundesverfassungsgericht selbst sich nach Austausch der Richter in der Hand der Verfassungsfeinde befindet19). Nur in diesen Fällen, in denen der Bürger über die Voraussetzungen des Widerstands selbst entscheiden muß, kommt es auf die Offenkundigkeit der Widerstandslage an. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde genügt es jedoch, daß in den unantastbaren Verfassungskern, um dessen Schutz es dem Art. 20 Abs. 4 GG geht, eingegriffen wurde. Denn die Argumente, die hinsichtlich der Widerstandsausübung für die Reduktion auf offenkundig revolutionäre Akte sprechen, passen insoweit nicht. Im Gegenteil: Das Ziel des Grundgesetzes, den unabänderlichen Verfassungskern effektiv zu schützen, wird nur erreicht, wenn die verfassungsgerichtliche Kontrolle jede Verletzung des Verfassungskerns feststellen kann. Hält der Einzelne die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für unvereinbar mit einem unveränderlichen Verfassungsprinzip, so kann er dagegen keinen Widerstand leisten. Denn das Grundgesetz gibt dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz, auch diejenigen Normen, die den identitätsbestimmenden Kern des Grundgesetzes ausmachen, verbindlich auszulegen. Widerstand zu leisten, obwohl das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den unabänderlichen Verfassungskern verneint, kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn es offenkundig ist, daß das Bundesverfassungsgericht seine Funktion unabhängiger Verfassungsrechtsprechung nicht mehr wahrnehmen kann oder will – wenn etwa nach einem Putsch die Richter ausgetauscht worden sind oder unter Druck gesetzt werden. Somit ergänzen sich das Widerstandsrecht und die auf den Achtungsanspruch gestützte Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a i. V. m. Art. 20 Abs. 4 GG in idealer Weise: Sowohl der Schutz der Verfassung als auch die Begrenzung des Widerstandsrechts werden optimiert. 5. Ergebnis Art. 20 Abs. 4 GG garantiert nicht nur ein Recht auf Widerstand, sondern implizit auch das Recht jedes Bürgers, von den Staatsorganen (und von allen Dritten) die Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns zu verlangen. Anders ausgedrückt: Der einzelne Bürger hat einen grundrechtlichen Anspruch auf Unterlassung von Maßnahmen, die zur Beseitigung eines unabänderlichen Verfassungsprinzips führen. Dieses Recht kann er mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG durchsetzen. Mit dieser Verfassungsbeschwerde steht ihm eine 19
Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IX Rn. 37.
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Möglichkeit „anderer Abhilfe“ zur Verfügung, so daß Widerstand gegen die verfassungswidrige Maßnahme ausgeschlossen ist.
II. Der Anspruch auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Subsidiärer Charakter der Grundrechte aus Art. 20 Abs. 4 GG Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil – wie schon im Maastricht-Urteil – die hier vertretene Konzeption nicht verworfen, sondern die Grundrechte aus Art. 20 Abs. 4 GG als subsidiär gegenüber anderen Grundrechten angesehen. Daß das Recht auf Widerstand gegenüber anderen Grundrechten subsidiär ist, ergibt sich eindeutig aus Art. 20 Abs. 4 GG. Ob auch der sich aus derselben Norm ergebende Achtungsanspruch subsidiär ist, soll hier nicht erneut erörtert werden20. Geht man von der Subsidiarität auch dieses Anspruchs aus, so kann diese freilich nur insoweit gegeben sein, wie im konkreten Fall ein gleichwertiger Schutz durch andere Grundrechte gegeben ist. Da das Gericht einen Achtungsanspruch, wie ich ihn aus Art. 20 Abs. 4 GG abgeleitet habe, aus Art. 38 Abs. 1 GG ableitet, hat es die Verfassungsbeschwerden insoweit als unzulässig zurückgewiesen, als sie auf Art. 20 Abs. 4 GG gestützt waren21. Es hat inkonsequenterweise nicht erwogen, den auf Art. 20 Abs. 4 GG gestützten Achtungsanspruch insoweit zu prüfen, als die Verletzung von unabänderlichen Verfassungsprinzipien geltend gemacht wurde, deren Verletzung nach der Entscheidung des Gerichts auf der Basis von Art. 38 Abs. 1 GG nicht geltend gemacht werden kann. 2. Art. 38 Abs. 1 GG als Grundlage des Anspruchs auf Achtung der unabänderlichen Verfassungsprinzipien Das Bundesverfassungsgericht hat seine Konzeption eines subjektiven Rechts auf Unterlassung der Verletzung objektiver Verfassungsprinzipien nicht vollständig entwickelt und ausgeformt, sondern zunächst im Maastricht-Urteil für eine bestimmte Fallkonstellation einen solchen – auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten – Anspruch entwickelt und ihn dann im Lissabon-Urteil auf weitere Fallkonstellationen erweitert. Diese Erweiterung führt den Zweiten Senat zur Formulierung folgenden allgemeinen Obersatzes22: Dazu Dietrich Murswiek, Rechtsgutachten (Fn. 5), S. 16 ff. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 185 f.; vgl. bereits BVerfGE 89, 155 (180). 20 21
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„Das Wahlrecht begründet einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes.“
Systematischer Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß Art. 38 Abs. 1 GG nicht nur das Wahlrecht garantiert, sondern zugleich auch „den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts“23: Der Einzelne hat ein Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt24. Dieses Recht kann – so das Lissabon-Urteil – auch dadurch verletzt werden, daß die Organisation der Staatsgewalt so verändert wird, daß der Wille des Volkes sich nicht mehr wirksam im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG bilden kann und die Bürger nicht mit Mehrheitswillen herrschen können25. a) Anspruch auf Unterlassung der Aushöhlung der Kompetenzen des Bundestages Daraus hat der Zweite Senat eine Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union abgeleitet: Die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages dürfe nicht dazu führen, daß das Demokratieprinzip verletzt wird26. Diese Argumentation nimmt der Senat im Lissabon-Urteil auf und fügt hinzu: Der Wahlakt verlöre seinen Sinn, wenn das gewählte Staatsorgan nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfügte, in denen die legitimierte Handlungsmacht wirken kann. Das Parlament trage nicht nur eine abstrakte „Gewährleistungsverantwortung“ für das hoheitliche Handeln anderer Herrschaftsverbände, sondern die konkrete Verantwortung für das Handeln des Staatsverbandes27. b) Anspruch auf Unterlassung der Übertragung von Hoheitsrechten an eine nicht hinreichend demokratisch legitimierte Europäische Union Außerdem gibt der Senat jetzt dem Beschwerdeführer das Recht, unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG geltend zu machen, daß die Europäische Union nicht hinreichend demokratisch legitimiert sei28: BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 208. BVerfGE 89, 155 (171) – Maastricht; BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 174 – Lissabon. 24 BVerfGE 89, 155 (171 f.); BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 211. 25 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 210. 26 BVerfGE 89, 155 (172). 27 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 174 f., vgl. auch Abs.-Nr. 210. 22 23
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„Die ursprünglich allein innerstaatlich bedeutsame Wechselbezüglichkeit zwischen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG erfährt durch die fortschreitende europäische Integration schrittweise eine Erweiterung. Infolge der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG werden Entscheidungen, die den Bürger unmittelbar betreffen, auf die europäische Ebene verlagert. Vor dem Hintergrund des über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als subjektives öffentliches Recht rügefähig gemachten Demokratieprinzips kann es aber, wenn Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden, nicht ohne Bedeutung sein, ob die auf europäischer Ebene ausgeübte Hoheitsgewalt auch demokratisch legitimiert ist. Da die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nur an einer Europäischen Union mitwirken darf, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist, muss gerade auch ein legitimatorischer Zusammenhang zwischen den Wahlberechtigten und der europäischen Hoheitsgewalt bestehen, auf den der Bürger nach der ursprünglichen und fortwirkenden verfassungsrechtlichen Konzeption in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG einen Anspruch hat.“
c) Anspruch auf Wahrung der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Auch der Verlust der Staatlichkeit durch Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union kann, wie der Senat ausführt, Art. 38 Abs. 1 GG verletzen29: „Die Wahlberechtigten besitzen nach dem Grundgesetz das Recht, über den Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland, wie er durch Umbildung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates bewirkt werden würde, und die damit einhergehende Ablösung des Grundgesetzes „in freier Entscheidung“ zu befinden. Art. 146 GG schafft – wie Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – ein Teilhaberecht des wahlberechtigten Bürgers: Art. 146 GG bestätigt das vorverfassungsrechtliche Recht, sich eine Verfassung zu geben, aus der die verfasste Gewalt hervorgeht und an die sie gebunden ist. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. Art. 146 GG formuliert neben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration. Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“
d) Anspruch auf Wahrung sonstiger unabänderlicher Verfassungsprinzipien? Eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips kann dem Lissabon-Urteil zufolge insoweit auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 GG gerügt werden, als geltend gemacht wird, die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestages auf dem Gebiet der Sozialpolitik würden derart beschränkt, daß der Bundestag die 28 29
BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 176 f. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179.
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Mindestanforderungen des Sozialstaatsprinzips nicht mehr erfüllen könne30. Das Bundesverfassungsgericht sieht also nicht das – nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderliche – Sozialstaatsprinzip im ganzen als möglichen Gegenstand einer auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde an, sondern nur solche Verletzungen des Sozialstaatsprinzips, die auf einer Verkürzung der Kompetenzen des Bundestages beruhen. Demgegenüber hat der Senat die Verfassungsbeschwerden als unzulässig behandelt, soweit sie geltend machten, durch das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon würden das Rechtsstaatsprinzip und das Gewaltenteilungsprinzip verletzt. Insoweit sei von den Beschwerdeführern ein vergleichbarer Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip nicht aufgezeigt worden31. e) Resümee Das Lissabon-Urteil läßt ein sehr weitreichendes, aber doch nicht vollständiges Recht des Staatsbürgers auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns erkennen. Dieses Recht wird auf einen einheitlichen systematischen Ansatz – das Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt – gestützt. Die systematische Ausformung dieses Rechts ist aber noch nicht konsequent zu Ende geführt, sondern bleibt fallkonstellationsspezifisch fragmentarisch.
III. Der Anspruch auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns – systematische Strukturierung und Fortentwicklung des Ansatzes der Rechtsprechung 1. Der Anspruch auf Achtung des Demokratieprinzips Mit dem Recht des Bürgers auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt wählt das Bundesverfassungsgericht einen überzeugenden Ausgangspunkt für seine Ausweitung der Verfassungsbeschwerdebefugnis auf die Rüge der Verletzung objektiver Verfassungsprinzipien. Die in der Literatur geäußerte Kritik, Art. 38 Abs. 1 GG werde vom Bundesverfassungsgericht ins Uferlose überdehnt32, ist systematisch betrachtet ungerechtfertigt. Sie kann sich zwar darauf berufen, daß Art. 38 Abs. 1 GG der Intention des Verfassunggebers und auch seinem Wortlaut nach das Wahlrecht zum Bundestag und nichts anderes regelt. Aber BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 182. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 183. 32 Vgl. etwa zum Maastricht-Urteil Christian Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 (491); zum Lissabon-Urteil Schönberger (Fn. 6). 30 31
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das in Art. 38 Abs. 1 GG garantierte Wahlrecht stünde nur auf dem Papier und könnte weder seine objektive demokratische Funktion noch den subjektiven Teilhabeanspruch des Einzelnen erfüllen, wenn demokratische Legitimation der Staatsgewalt gar nicht mehr oder nicht mehr in dem vom Grundgesetz geforderten Maße stattfände, weil etwa die Regierung nicht mehr des Vertrauens der Parlamentsmehrheit bedürfte, ohne direkt vom Volk gewählt zu sein, oder wenn aus anderen Gründen die Staatsgewalt nicht mehr im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG vom Volk ausginge. Das subjektive Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG kann nicht losgelöst vom Demokratieprinzip gesehen werden, sondern läßt sich in seiner Tragweite nur in seiner Funktion für die Demokratie begreifen. Der Bürger hat das Wahlrecht, um gleichberechtigt an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt mitzuwirken. Also wird er in diesem Recht verletzt, wenn die vom Grundgesetz unabänderlich vorgeschriebenen Prinzipien demokratischer Legitimation entweder ganz beseitigt oder in einer solchen Weise gestört werden, daß dies mit Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist. Dem Wahlrecht wird insoweit sein Substrat entzogen. Würde beispielsweise die Wahlperiode des Bundestages auf 20 Jahre verlängert, dann wäre nicht nur die Demokratie in eine Wahlaristokratie umgeformt, sondern dann hätte das Wahlrecht zugleich seine demokratisch-legitimatorische Funktion verloren. Eine solche Regelung verletzte daher nicht nur objektiv das Demokratieprinzip, sondern zugleich auch das subjektive Wahlrecht. Der Einzelne muß sich mit der Verfassungsbeschwerde dagegen wehren können. Dies gilt nicht nur für die erste vom Bundesverfassungsgericht insoweit anerkannte Fallkonstellation – die Entleerung der Kompetenzen des Bundestages33 –, sondern für das Demokratieprinzip im ganzen. Systematisch zu Ende gedacht muß der Bürger gemäß Art. 38 Abs. 1 GG das Recht haben, von den Staatsorganen die Unterlassung jeder Verletzung des Demokratieprinzips im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG zu verlangen. Die Konsequenz daraus ist, daß er – gestützt auf Art. 38 Abs. 1 GG – jede Verletzung des Demokratieprinzips mit der Verfassungsbeschwerde rügen kann. Daß der Bürger über die bisher anerkannten Fallgruppen hinaus ein umfassendes Recht auf Unterlassung von Verletzungen des Demokratieprinzips hat, ist nicht nur eine systematische Folgerung aus dem vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Ansatz, sondern wird im Lissabon-Urteil auch ausdrücklich festgestellt. So sagt das Gericht ja, das demokratische Teilhaberecht könne durch Veränderungen der Organisation der Staatsgewalt verletzt werden, die dazu führen, daß der Wille des Volkes sich nicht mehr wirksam im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG bilden kann und die Bürger nicht mehr mit Mehrheitswillen herrschen können34. In bezug auf die 33 Dies ist zugleich – neben der ebenfalls kompetenzrechtlich begründeten Sozialstaatsrüge (oben II.2.d) – die problematischste Konstellation, weil der Zusammenhang zwischen Kompetenzumfang und Legitimation nicht leicht zu begründen ist; darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.
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Europäische Union kann dem Lissabon-Urteil zufolge mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, daß diese nicht in den Anforderungen des Grundgesetzes entsprechenderweise demokratisch legitimiert sei35. Wenn der Einzelne Defizite demokratischer Legitimation der Europäischen Union rügen kann, dann muß dies erst recht für innerstaatliche Demokratiedefizite gelten. Genau hiervon geht das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es seine Position zur Verfassungsbeschwerdebefugnis bezüglich des europäischen Demokratiedefizits „vor dem Hintergrund des über Art. 38 Abs. 1 GG als subjektives öffentliches Recht rügefähig gemachten Demokratieprinzips“ entwickelt36. An anderer Stelle sagt der Senat ebenfalls ausdrücklich, der Bürger könne unter Berufung auf das Wahlrecht „die Verletzung demokratischer Grundsätze“ mit der Verfassungsbeschwerde rügen, und bezieht sich dabei auf die Grundsätze des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG37. Und in dem schon zitierten Obersatz heißt es uneingeschränkt, Art. 38 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots38. Geht man vom Ansatz des Bundesverfassungsgerichts aus, daß Art. 38 Abs. 1 GG diejenigen grundlegenden demokratischen Legitimationsprinzipien mitgarantiert, ohne die das Wahlrecht seine legitimatorische Funktion für die Demokratie einbüßte, dann ist kein Grund ersichtlich, der irgendeine thematische Einschränkung des Anspruchs auf Achtung des Demokratieprinzips rechtfertigen könnte. Deshalb ist der gegen die Rechtsprechung vorgebrachte Einwand, das Bundesverfassungsgericht konstruiere hier speziell für die Kontrolle der europäischen Integration eine im innerstaatlichen Recht unbekannte Verfassungsbeschwerdemöglichkeit39, verfehlt. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht das subjektive „Recht auf Einhaltung des Demokratiegebotes“ anhand der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union entwickelt, konzeptionell jedoch von vornherein nicht auf diesen Anwendungsfall beschränkt. Problematisch könnte allenfalls sein, ob sich der Anspruch auf Einhaltung des Demokratieprinzips auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union erstrecken läßt, wie das Bundesverfassungsgericht dies im Lissabon-Urteil getan hat. Hiergegen ließe sich einwenden, Art. 38 Abs. 1 GG regele das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag, also die Legitimation der deutschen Staatsgewalt, nicht jedoch die Legitimation der Hoheitsgewalt der Europäischen Union. Auch insoweit kann sich das Bundesverfassungsgericht aber auf einen systematischen Zusammenhang mit der durch Art. 38 Abs. 1 GG geschützten Teilhabe an 34 35 36 37 38 39
BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 210. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 176 f. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 177. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 210. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 208. Vgl. z. B. Schönberger (Fn. 6), S. 540.
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der demokratischen Legitimation in Deutschland stützen: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union mindert die demokratischen Teilhabemöglichkeiten des Bürgers in Deutschland. Dafür erhält er Teilhabemöglichkeiten auf der europäischen Ebene. Ein Ausgleich für das, was innerstaatlich an Teilhabemöglichkeiten verlorengeht, kann das aber nur sein, wenn die europäische Hoheitsgewalt ihrerseits den demokratischen Mindestanforderungen des Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 2 GG entspricht. Dies ist gemäß Art. 23 Abs. 1 GG auch objektiv die Voraussetzung für die Übertragung von Hoheitsrechten. Die Schmälerung der innerstaatlichen – subjektivrechtlichen – demokratischen Teilhabemöglichkeiten (also die Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG) ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie objektiv den Anforderungen genügt, die Art. 23 Abs. 1 GG an die demokratische Legitimation der Europäischen Union stellt. Die objektive Pflicht zur Beachtung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wird insoweit über Art. 38 Abs. 1 GG subjektiviert. Daß der Einzelne in dieser Weise ein subjektives Recht auf Beachtung objektiven Verfassungsrechts hat, ist nichts Außergewöhnliches, sondern entspricht der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik, wie sie sich insbesondere bei der Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG entwickelt hat40, aber ebenso für die anderen Freiheitsrechte gilt41: Liegt ein Eingriff in die Freiheit oder in ein anderes grundrechtlich geschütztes Rechtsgut vor, dann läßt sich dieser nur rechtfertigen, wenn er in jeder Hinsicht verfassungsmäßig ist, also auch nicht gegen objektive Verfassungsnormen verstößt. 2. Der Anspruch auf Achtung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien Weniger klar ist die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Frage, ob der einzelne Bürger auch ein Recht auf Achtung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien hat. Insoweit läßt das Lissabon-Urteil zwei unterschiedliche Begründungsansätze erkennen. Der erste – schon im Maastricht-Urteil angelegte – Ansatz stellt auf die Kompetenzen des Bundestages ab (a), der zweite auf die verfassunggebende Gewalt (b). a) Aushöhlung der Bundestagskompetenzen als Beeinträchtigung anderer Verfassungsprinzipien Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Beschwerdeführern die Möglichkeit eröffnet, neben der Verletzung des Demokratieprinzips auch die Vgl. BVerfGE 6, 32 (41); 9, 83 (88); 29, 402 (408); 80, 137 (153), std. Rspr. Vgl. z. B. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 57; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2007, Rn. 221 m. w. N. 40 41
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Verletzung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit sowie des Sozialstaatsprinzips zu rügen. Hinsichtlich beider Prinzipien konnte Art. 38 Abs. 1 GG als Grundlage der Verfassungsbeschwerdebefugnis dienen, weil es jeweils – auch – um die Aushöhlung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundestages ging und diese sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf das demokratische Teilhaberecht des Bürgers negativ auswirkt. Unter diesem Aspekt wurde im Lissabon-Urteil erstmals die Verletzung des objektiven Sozialstaatsprinzips subjektiv rügefähig gemacht – freilich wegen des dargelegten Vermittlungszusammenhangs nicht vollständig, sondern nur insoweit, als die geltend gemachte Verletzung auf der Beschränkung von Kompetenzen des Bundestages beruht. Von diesem Argumentationsansatz aus dürften Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips oder des Bundesstaatsprinzips wohl allenfalls dann rügefähig sein, wenn die Beschwerdebefugnis bereits unmittelbar über das Demokratieprinzip eröffnet ist. Denn es sind kaum Fälle denkbar, in denen diese Prinzipien deshalb verletzt sind, weil dem Bundestag Kompetenzen genommen werden, und nicht zugleich das Demokratieprinzip verletzt ist. Eine Ergänzung der Rügefähigkeit von Verletzungen des Demokratieprinzips bietet dieser Argumentationsansatz also nur bezüglich der begrenzten Rügefähigkeit von Verletzungen des Sozialstaatsprinzips. Was das Prinzip der souveränen Staatlichkeit angeht, so konnte die Verletzung dieses Prinzips durch Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union schon dem Maastricht-Urteil zufolge unter dem Aspekt gerügt werden, daß eine Substanzentleerung der Kompetenzen des Bundestages geltend gemacht wird. Dies lief im Kern auf die Rügefähigkeit von Verletzungen dieses Prinzips hinaus, ohne daß das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil das Prinzip der souveränen Staatlichkeit ausdrücklich nannte. Im Lissabon-Urteil führt das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung fort, entwickelt aber zusätzlich für das Prinzip der souveränen Staatlichkeit einen besonderen Begründungsansatz, der sich auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes stützt. b) Die Verletzung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit als Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volkes Das Prinzip der souveränen Staatlichkeit ist eine Grenze für die europäische Integration. Die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG darf nicht dazu führen, daß die Bundesrepublik Deutschland ihren Status als souveräner Staat verliert. Sie dürfte sich also nicht an der Umformung der Europäischen Union in einen Bundesstaat beteiligen. Das Prinzip der souveränen Staatlichkeit gehört zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG42. Dies bedeutet insbesondere, daß die Kompetenz-Kompetenz bei den Mit-
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gliedstaaten bleiben muß43 und daß das deutsche Staatsvolk (bzw. die Staatsvölker der Mitgliedstaaten der Europäischen Union) als Legitimationssubjekt nicht durch ein anderes Subjekt – ein europäisches Unionsvolk – ersetzt werden darf44. Das Bundesverfassungsgericht weist aber darauf hin, daß diese Grenze durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt überwunden werden könne: Auf der Grundlage von Art. 146 GG45 könne das Volk eine verfassunggebende Entscheidung treffen, mit der es diese Integrationsgrenze öffnet und den Weg in einen europäischen Bundesstaat freimacht46. Wenn nun ohne eine solche verfassunggebende Entscheidung des Volkes die sich aus dem Prinzip der souveränen Staatlichkeit ergebenden Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten überschritten werden, dann liegt – so das Bundesverfassungsgericht – ein Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volkes vor47. Dieser Übergriff verletzt, so argumentiert der Senat folgerichtig, auch das Recht der Wahlberechtigten auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation. Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ist das Volk, zu dem jeder Staatsbürger gehört. Folglich hat jeder wahlberechtigte Bürger auch das Recht auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt48. Da die Grenzen der Verfassungsänderung dem Grundgesetz zufolge auf dem verfassunggebenden Willen des Volkes beruhen (vgl. die Präambel), kann die verfaßte Staatsgewalt diese Grenzen nicht überschreiten, ohne das demokratische Teilhaberecht jedes Bürgers zu verletzen. Zwar vermittelt Art. 146 GG kein subjektives Recht, aber da Art. 38 Abs. 1 GG in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts einen allgemeinen Anspruch auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation begründet, ist es konsequent, daß 42 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 216, 226 ff. – Daß dieses Prinzip vom BVerfG zu Recht als unabänderliches Verfassungsprinzip eingestuft wird, habe ich an anderer Stelle ausführlich begründet: Dietrich Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip, in: Hans-Christof Kraus / Heinrich Amadeus Wolff, Souveränitätsprobleme der Neuzeit, 2010, S. 95 ff. 43 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 233. 44 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179, 228, 229, 232. – Dies ergibt sich m. E. auch unabhängig von der souveränen Staatlichkeit unmittelbar aus dem Demokratieprinzip. – Zu weiteren unverzichtbaren Merkmalen des Prinzips der souveränen Staatlichkeit s. Murswiek (Fn. 42), S. 112 ff., 139 f. 45 Ob Art. 146 GG heute noch die legale Möglichkeit einer verfassunggebenden Entscheidung eröffnet oder ob und unter welchen Voraussetzungen es unabhängig von Art. 146 GG eine legale Möglichkeit gibt, eine verfassunggebende Entscheidung des Volkes herbeizuführen, ist umstritten. Das Lissabon-Urteil enthält hierzu nur eine These. Ablehnend etwa Hillgrube / Gärditz, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 (875 f.). Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Allgemein zu dieser Problematik Murswiek, in: Bonner Kommentar, Präambel (Stand: 2005), Rn. 131 f.; 159 ff.; 175 ff. m. w. N. 46 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179, 228. 47 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179, 218. 48 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179.
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der Senat auf diese Vorschrift auch einen Anspruch darauf stützt, daß die verfaßten Staatsorgane keine Entscheidungen treffen, die der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vorbehalten sind49. Denn solche Entscheidungen stehen nach dem Legitimationssystem des Grundgesetzes nur dem Volk in seiner Funktion als pouvoir constituant zu und nicht den verfaßten Staatsorganen. Sie können daher nicht demokratisch legitimiert sein, wenn sie von den verfaßten Staatsorganen – den pouvoirs constitués – getroffen werden, und Verstöße gegen das grundgesetzliche Demokratieprinzip können über Art. 38 Abs. 1 GG gerügt werden. c) Die Verletzung anderer unabänderlicher Verfassungsprinzipien als Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volkes Diese Argumentation, die das Bundesverfassungsgericht für das Prinzip der souveränen Staatlichkeit entwickelt, läßt sich nicht auf dieses Prinzip beschränken. Sie muß sich konsequenterweise auf alle unabänderlichen Verfassungsprinzipien gleichermaßen erstrecken. Ein Verstoß gegen eines der anderen gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien beeinträchtigt das Recht des Einzelnen auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in exakt der gleichen Weise wie ein Verstoß gegen das Prinzip der souveränen Staatlichkeit. So formuliert das Bundesverfassungsgericht denn auch ohne Einschränkung: „Die Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität ist aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes.“50 Die Annahme, dies gelte nur für eines der identitätsbestimmenden Verfassungsprinzipien, nicht aber für die anderen, wäre unlogisch und widersprüchlich. Folgt man dem Bundesverfassungsgericht in seiner Argumentation, daß Verletzungen des unabänderlichen Verfassungskerns das Recht des Einzelnen auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt beeinträchtigen und daß der Einzelne dies mit der auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde rügen kann, dann hat der Einzelne somit ein umfassendes – nicht auf das Demokratieprinzip und auf das Prinzip der souveränen Staatlichkeit beschränktes – Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns. Daß der Zweite Senat im Lissabon-Urteil dennoch die Verfassungsbeschwerden als unzulässig zurückgewiesen hat, soweit mit ihnen die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips oder des Gewaltenteilungsprinzips geltend gemacht wurden, ist nicht konsistent. Es gibt für diesen Bruch in der Entscheidung keine rationale Erklärung. Es gibt vielleicht beratungshistorische Gründe, über die man nur spekulieren kann. Möglicherweise waren die Beratungen über die Zulässigkeit bereits beendet, als 49 50
Vgl. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 179 f. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 218.
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man bei den Beratungen über die Begründetheit der – schon aus anderen Gründen zulässigen – Rüge der Verletzung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit die Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt erkannte. Dann könnte es unter dem Zeitdruck und bei der Unübersichtlichkeit des Gesamtstoffes unterblieben sein, die erforderlichen Anpassungen in der Entscheidungsbegründung vorzunehmen. Wie dem auch sei – auf der Basis der Ausführungen zur Begründetheit im LissabonUrteil gibt es ein thematisch uneingeschränktes Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns, das jeder Wahlberechtigte mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann. Gäbe es dieses Recht nicht, so wäre nach meinen Ausführungen im Abschnitt I. der Rückgriff auf Art. 20 Abs. 4 GG möglich. 3. Schutz nur vor Verfassungsänderungen? Das Recht des Einzelnen auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns ist immer dann verletzt, wenn die Verfassung unter Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG geändert wird oder wenn unter Verletzung von Art. 23 Abs. 1 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen werden. Kann dieses Recht darüber hinaus auch durch andere Maßnahmen verletzt werden? Durch ein einfaches – nicht verfassungsänderndes – Gesetz kann Art. 79 Abs. 3 GG genau genommen gar nicht verletzt werden. Denn Art. 79 Abs. 3 GG ist eine Schranke für Verfassungsänderungen; er ist an den verfassungsändernden Gesetzgeber, nicht an den einfachen Gesetzgeber adressiert. Ein einfaches Gesetz kann jedoch die Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG, also etwa Demokratie oder Bundesstaatlichkeit, verletzen. Würde beispielsweise durch Änderung des Bundeswahlgesetzes die Legislaturperiode des Bundestages auf zehn Jahre verlängert, dann verstieße dies nicht nur gegen Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern zugleich auch gegen Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und somit gegen ein unabänderliches Verfassungsprinzip. Es wäre inkonsistent, wenn der Einzelne sich mangels Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG gegen ein solches Gesetz nicht mit der Verfassungsbeschwerde wehren könnte, obwohl er ein inhaltsgleiches verfassungsänderndes Gesetz unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde rügen könnte. Da auch das einfache Gesetz die vom Volk ausgehende demokratische Legitimation der Staatsorgane – und damit das Substrat des Wahlrechts – beseitigt, verstößt auch ein solches Gesetz nicht nur gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), sondern zugleich auch gegen Art. 38 Abs. 1 GG, so daß auch hiergegen eine Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet wäre. Das aus Art. 38 Abs. 1 GG folgende Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns ist nicht ein bloßes Recht auf Beachtung von Art. 79 Abs. 3 GG, sondern ein Recht auf Unterlassung von Verletzungen der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG, nämlich der die „Verfassungsidentität“ prägenden Prinzipien. Da es gemäß Art. 79 Abs. 3 GG dem pouvoir constituant vorbehalten ist, diese Prinzipien zu ändern, und sie für die verfaßten Staatsorgane unantastbar sind, überschreitet es die durch Parlamentswahlen vermittelte demokratische Legitimation, wenn verfaßte Staatsorgane diese Prinzi-
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pien verletzen. Insoweit greifen sie immer in den der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vorbehaltenen Bereich ein und verletzen damit zugleich das nach dem Lissabon-Urteil in Art. 38 Abs. 1 GG geschützte Recht des Einzelnen auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt. Konsequenterweise ist die „Identitätskontrolle“, die das Bundesverfassungsgericht gegenüber Maßnahmen der Europäischen Union für sich in Anspruch nimmt, nicht etwa nur darauf gerichtet, Verstöße gegen Art. 79 Abs. 3 GG zu verhindern, sondern sie ist darauf gerichtet, den nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren Verfassungskern – die „Verfassungsidentität“ – zu wahren51. Eine andere Frage ist, ob nicht nur abstrakt-generelle und damit dauerhafte Beeinträchtigungen der demokratischen Legitimation Art. 38 Abs. 1 GG verletzen, sondern auch bereits Verstöße gegen das Demokratieprinzip im Einzelfall. Beispiele für mit dem Demokratieprinzip unvereinbare Einzelmaßnahmen wären ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen politischer Parteien bei der Vergabe staatlicher Leistungen oder Verstöße gegen Wahlrechtsgrundsätze bei einer konkreten Wahl, wenn etwa in einem Wahllokal keine Wahlkabinen aufgestellt wurden. Praktische Bedeutung für unser Thema dürften die meisten Fälle nicht haben, weil es spezielle Rechtsschutzverfahren gibt (für die Parteien den Organstreit, im übrigen das Wahlprüfungsverfahren). Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht durch spezielle Verfahren verdrängt wird, wäre hier zu klären, ob nach der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts auch in bezug auf solche Einzelfälle eine auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde zulässig wäre. Dafür könnte sprechen, daß jeder Verstoß gegen das Demokratieprinzip die demokratische Legitimation stört und somit auch auf das demokratische Teilhaberecht des Einzelnen zurückwirkt. Dagegen ließe sich einwenden, derartige Verstöße in Einzelfällen beeinträchtigten zwar die demokratische Legitimation, beseitigten sie aber weder ganz noch teilweise und entzögen daher dem Wahlrecht nicht sein demokratisches Substrat. Dem soll an dieser Stelle nicht näher nachgegangen werden. Im übrigen sei nur kurz darauf hingewiesen, daß das Bundesverfassungsgericht die „Ultra-vires-Kontrolle“ und die „Identitätskontrolle“ gegenüber dem Handeln von EU-Organen nicht nur in bezug auf abstrakt-generelle Regelungen oder dauerhafte Maßnahmen, sondern für alle „ersichtlichen Grenzüberschreitungen“ (also Überschreitungen der begrenzten Einzelermächtigungen der EU-Verträge) sowie für alle Verletzungen der nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren Verfassungsgrundsätze in Anspruch nimmt52. Daraus folgt zwar nicht ohne weiteres, daß solche Verletzungen in jedem Fall mit einer auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, doch liegt die Annahme nahe, daß der Senat diesen Weg eröffnen wollte. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf den Hinweis, daß Art. 38 Abs. 1 GG ja nicht nur das den Gegenstand der vorliegenden Abhandlung bildende Recht auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns 51 52
Vgl. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 240. Vgl. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a., Abs.-Nr. 240.
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garantiert, sondern in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts ein weit darüber hinausgehendes demokratische Teilhaberecht normiert, das ein subjektives Recht auf demokratische Legitimation der öffentlichen Gewalt impliziert53, und daß dieses Recht auch durch einzelfallbezogene Maßnahmen verletzt sein könnte. IV. Systemfremde „Popularklage“? Die systematische Ableitung eines subjektiven Rechts auf Einhaltung des Demokratieprinzips und auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns im ganzen – sei sie gestützt auf Art. 20 Abs. 4 GG oder auf Art. 38 Abs. 1 GG – wird immer wieder kritisiert mit dem Argument, hier werde eine Popularklagemöglichkeit geschaffen, weil der Einzelne mit der Verfassungsbeschwerde in diesem Zusammenhang nicht seine subjektiven Rechte, sondern die objektive Verfassungsordnung verteidige54. Dieses Argument könnte allenfalls rechtspolitisch beachtlich sein. Ein Argument gegen die rechtliche Zulässigkeit einer solchen Verfassungsbeschwerde wäre es nur dann, wenn das Bundesverfassungsgericht hier eine verfassungsprozeßrechtlich nicht vorgesehene Popularklage eröffnet hätte. Davon kann aber keine Rede sein. Prozeßrechtlich und rechtstechnisch gesehen ist die auf Art. 20 Abs. 4 GG oder auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde zur Verteidigung des unabänderlichen Verfassungskerns ein Rechtsbehelf, mit dem – wie mit allen anderen Verfassungsbeschwerden – die Verletzung eines individuellen Grundrechts geltend gemacht wird. Es trifft zwar zu, daß es hier um die Verteidigung objektiver Verfassungsprinzipien geht. Aber wenn es richtig ist, daß das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 1 GG jedem wahlberechtigten Bürger ein Recht auf Einhaltung des Demokratieprinzips gibt – und oben wurde gezeigt, daß dies richtig ist –, dann gibt das Grundgesetz dem Einzelnen eben ein subjektives Recht auf Beachtung des objektiven Verfassungsrechts. Wer dies – rechtspolitisch – als „systemfremd“ kritisiert, weil Grundrechte üblicherweise individuelle Interessen schützen, verkennt die andere Hälfte des Systemzusammenhangs: Er übersieht, daß das Grundgesetz als „wehrhafte“ oder „streitbare“ Demokratie darauf angelegt ist, die einzelnen Bürger zur Verteidigung der Verfassung zu mobilisieren, so daß es verfassungspolitisch als sinnvoll erscheint, ihnen hierzu auch Rechte zu verleihen. Er übersieht, daß dies in Art. 20 Abs. 4 GG auch ausdrücklich geschehen ist und daß dort mit dem Widerstandsrecht dem Einzelnen sogar ein ganz außerordentliches Recht zur Verteidigung der objektiven Verfassungsordnung eingeräumt wurde. Und er übersieht nicht zuletzt, daß das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG) das objektive demokratische Institutionengefüge notwendig voraussetzt und ohne diese Voraussetzung überhaupt keinen Sinn ergibt, so daß es geradezu zwingend ist anzunehmen, daß die Garantie des Wahlrechts die Garantie seiner objektiv-institutionellen Voraussetzungen mit umfaßt55. 53 54
Vgl. oben im Text vor Fn. 38. Vgl. z. B. Schönberger (Fn. 6), S. 540.
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Verfassungspolitisch ist die Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht im übrigen auch unter dem gleichen Aspekt zu rechtfertigen, der die Stärkung der subjektiven Rechte der EU-Bürger durch den Europäischen Gerichtshof rechtfertigt. Der Europäische Gerichtshof hat die Bürger zur dezentralen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts mittels Individualrechtsschutzes vor den nationalen Gerichten befähigt und auf diese Weise mangelnder Umsetzung des EU-Rechts entgegengewirkt56. Das Bundesverfassungsgericht greift nun dieses Instrument auf, indem es die deutschen Bürger ermächtigt, ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung durchzusetzen. Daß man sich bei der Durchsetzung der unabänderlichen Verfassungsprinzipien nicht immer auf die Parlamentarier und die übrigen Beteiligten verlassen kann, die berechtigt sind, ein abstraktes Normenkontrollverfahren in Gang zu setzen57, hat gerade wieder einmal das Verfahren über den Vertrag von Lissabon gezeigt58. Das Bundesverfassungsgericht macht den Bürger zum legitimatorischen Ausgangspunkt und zum konstruktiven Mittelpunkt der Demokratie. Das entspricht dem freiheitlichen Staatsverständnis des Grundgesetzes. Der Staat ist um des Menschen und seiner Selbstbestimmung willen da, und nicht umgekehrt. Individuelle und demokratische Selbstbestimmung gehören zusammen59. Der Einzelne ist nicht einfach Untertan, sondern Teilhaber an der Legitimation der öffentlichen Gewalt. Dem entspricht es, daß das Grundgesetz ihm eine Mitverantwortung für das Schicksal des Ganzen zuweist. Er muß nicht hilflos zusehen, wenn die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staates zerstört werden, sondern er kann sich rechtlich dagegen wehren. Das subjektive Recht auf Achtung der unabänderlichen objektiven Verfassungsprinzipien ist kein Fremdkörper im System des Grundgesetzes, sondern die Vollendung dieses Systems.
55 Abgesehen hiervon sei darauf hingewiesen, daß der Einzelne auch mit auf andere Grundrechte gestützten Verfassungsbeschwerden die Verletzung objektiven Verfassungsrechts – etwa die mangelnde Verbandskompetenz des Gesetzgebers – rügen kann, sofern er nur durch die angegriffene Maßnahme in seinem Grundrecht beeinträchtigt ist. 56 Dazu grundlegend Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997. 57 In diesem Sinne auch Hillgruber / Gärditz (Fn. 45), S. 872 f. 58 Nach dem Urt. des BVerfG mußte die Begleitgesetzgebung in über 30 Einzelpunkten nachgebessert werden, um die krassen Verstöße des ursprünglichen Begleitgesetzes gegen das Demokratieprinzip zu reparieren und einige Mängel demokratischer Legitimation des Vertrages innerstaatlich zu kompensieren, dazu im einzelnen Dietrich Murswiek, Stellungnahme zu den Entwürfen der neuen Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon, in: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Protokoll der 90. Sitzung am 26. / 27. 8. 2009, A-Drs. Nr. 16(21)910, www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse/a21/anhoerungen/90_sitzung/stellungnahmen/murswiek.pdf, S. 9 ff. 59 Zutreffend Hillgruber / Gärditz (Fn. 45), S. 873.
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V. Fazit Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistet nicht nur das Wahlrecht, sondern zugleich auch die objektiven Voraussetzungen dieses Rechts, nämlich die Beachtung der nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG unerläßlichen Kriterien des Demokratieprinzips. Das subjektive Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt impliziert ein Recht auf Beachtung der objektiven Anforderungen des Demokratieprinzips. Diesen systematisch zutreffenden Ansatz des Maastricht-Urteils hat das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil aufgenommen und unter zwei Aspekten weiterentwickelt: Zum einen erstreckt sich das „Grundrecht auf Einhaltung des Demokratiegebots“ auch auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union. Zum anderen ist das demokratische Teilhaberecht des Bürgers auch immer dann verletzt, wenn durch ein Gesetz eines der nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien verletzt wird. Denn jeder wahlberechtigte Bürger hat ein Recht auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt, und mit der Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG greift der (verfassungsändernde) Gesetzgeber in verfassungswidriger Weise in die verfassunggebende Gewalt ein. Führt man den systematischen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts zu Ende, dann kann daher unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG jede Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden – nicht nur die Verletzung des Demokratieprinzips, sondern auch die Verletzung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien. Im Ergebnis gibt es also ein umfassendes Recht des wahlberechtigten Staatsbürgers auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns. Dieses Recht läßt sich aus Art. 20 Abs. 4 GG ableiten, aber in konsequenter Durchführung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Ansatzes ebenso aus Art. 38 Abs. 1 GG.
Erziehungsauftrag des Staates und religiöse Erziehung, insbesondere außerhalb der Schule Von Wolfgang Rüfner* I. Einleitung Pflege und Erziehung der Kinder sind nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zuvörderst Aufgabe der Eltern. Der Staat ist in der Grundvorschrift des Art. 6 Abs. 2 nur mit seinem Wächteramt genannt. Er darf und soll eingreifen, wenn die Eltern versagen. Die Stellung des Staates bei der Erziehung ist aber in Art. 6 Abs. 2 GG nur grundsätzlich und unvollständig umschrieben. Soweit es nicht um die Erziehung in der Familie, sondern um die Schule geht, reichen die Befugnisse des Staates erheblich weiter. Dies ist verfassungsrechtlich in Art. 7 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebracht. Für die Erziehung in öffentlichen Einrichtungen außerhalb der Schulen fehlen jenseits der Bestimmungen über das Wächteramt im Bund ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorgaben. Die Frage, ob und inwieweit religiöse Erziehung in anderen öffentlichen Einrichtungen, insbesondere in Kindertagesstätten, zulässig oder sogar geboten ist, ist deshalb wenig erörtert worden und weithin ungeklärt geblieben.
II. Religiöse Erziehung in Kindertagesstätten 1. Bildungspläne der Bundesländer Auf Grund eines vereinbarten Gemeinsamen Rahmens1 haben die Länder in den letzten Jahren Bildungspläne für die frühkindliche Bildung erarbeitet, die zum Teil sehr ins Detail gehen und sich alle auch der religiösen Erziehung zuwenden. Diese (im Internet leicht greifbaren2) Pläne haben unterschiedliche und nicht klar erkenn* Prof. em. für Öffentliches Recht an der Universität Köln und von 1998 bis 2010 Leiter des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands. Wilfried Fiedler, dem ich freundschaftlich verbunden bin, war Fakultätskollege in Kiel und Saarbrücken. 1 Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen (Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13. / 14. 05. 2004 / Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03. / 04. 06. 2004), im Internet mit dem genannten Titel zugänglich.
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bare Verbindlichkeit, z. T. sind sie Verwaltungsvorschriften für die öffentlichen Einrichtungen, z. T. sollen sie durch Vereinbarungen verbindlich gemacht werden, z. T. gehen sie über Empfehlungen (noch) nicht hinaus. Alle haben jedoch, da von den zuständigen Ministerien herausgegeben, einen amtlichen Charakter3. Alle scheinen eine religiöse Erziehung im Kindergarten grundsätzlich positiv zu bewerten und als Aufgabe der frühkindlichen Erziehung zu betrachten. In keinem Plan wird religiöse Erziehung ignoriert und oder gar grundsätzlich abgelehnt4.
2 Eingabe: bildungspläne der länder. Übersicht nach dem damaligen Stand (2003) bei Gertrud Hovestadt, Wie setzen die Bundesländer den Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen um? Vom Gesetz zur Praxis Eine Studie im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung November 2003, S. 7 ff. Die aktuellen Bildungspläne sind zumeist erst nach Vereinbarung des Gemeinsamen Rahmens (Fn. 279) veröffentlicht worden. Sie sind nachstehend in der Fassung zitiert, wie sie am 7. 11. 2009 im Internet wiedergegeben waren. 3 Baden-Württemberg: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten, Pilotphase, 2006; zitiert wird die derzeit noch geltende Fassung, eine vorläufige Neufassung nach dem Stand vom 17. 6. 2009 ist jedoch bereits im Internet veröffentlicht; Bayern: Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung, Hrsg. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien und Frauen, 2006; Berlin: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schuleintritt, 2004; Brandenburg: Land Brandenburg, Ministerium für Bildung Jugend und Sport, Grundsätze elementarer Bildung in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung im Land Brandenburg – 01. Juni 2004; Bremen: Freie Hansestadt Bremen, Der Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, Rahmenplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich, Dezember 2004; Hamburg: Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, Hamburger Bildungsempfehlungen für die Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen, 3. Aufl. Oktober 2008; Hessen: Hessisches Sozialministerium, Hessisches Kultusministerium, Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen, Stand: Dezember 2007; Mecklenburg-Vorpommern: Rahmenplan für die zielgerichtete Vorbereitung von Kindern in Kindertageseinrichtungen auf die Schule in der Fassung vom 1. August 2004, herausgegeben vom Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern, 2. Aufl. 2005; Niedersachsen: Niedersächsisches Kultusministerium, Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich niedersächsischer Tageseinrichtungen für Kinder (2005); Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, Bildungsvereinbarung NRW (2003); Rheinland-Pfalz: Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz, Ministerium für Bildung Frauen und Jugend, Referat „Kindertagesstätten“, 2004; Saarland: Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Bildungsprogramm für Saarländische Kindergärten, 2006; dazu Handreichungen für die Praxis zum Bildungsprogramm für Saarländische Kindergärten, 2007; Sachsen: Der Sächsische Bildungsplan – ein Leitfaden für pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten und Horten sowie für Kindertagespflege, Hrsg. Sächsisches Staatsministerium für Soziales (2007); Sachsen-Anhalt: Bildungsprogramm für Kindertageseinrichtungen in Sachsen-Anhalt. Bildung: elementar – Bildung von Anfang an, Hrsg. Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt (2004); Schleswig-Holstein: Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein, Erfolgreich starten – Leitlinien zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Dritte Auflage 2009; Thüringen: Kultusministerium des Freistaates Thüringen, Thüringer Bildungsplan für Kinder bis 10 Jahre, Stand: August 2008.
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Dies entspricht dem Gemeinsamen Rahmen, in dem es heißt: „Zur Werteerziehung gehören die Auseinandersetzung und Identifikation mit Werten und Normen sowie die Thematisierung religiöser Fragen.“5 Die Bildungspläne betonen sämtlich die Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen, die Notwendigkeit, andere Religionen kennen zu lernen, und die Erziehung zur Toleranz6. Zum Teil gehen sie aber darüber erheblich hinaus und betrachten religiöse Erziehung ausdrücklich als Teil der allgemeinen Bildung und damit als Auftrag für jede Kindertagesstätte7, ohne jedoch eine eindeutige religiöse Erziehung im Sinne einer Religionsgemeinschaft zu postulieren. Was wirklich im Kindergarten geschehen soll, kann ein staatlicher Bildungsplan jenseits von Empfehlungen für religionskundliche Unterweisung in Form von Kirchenbesuchen oder Feiern allgemein bedeutsamer religiöser Feste kaum vorschreiben. Das gilt auch für manche Länder, die wie Baden-Württemberg, Bayern, Schleswig-Holstein und Thüringen, in ihren Bildungsplänen der religiösen Erziehung breiten Raum widmen8. Die religiöse Erziehung, wie sie in den Bildungsplänen postuliert wird, kann die letzten Fragen nicht beantworten9. Die Verlegenheit ist deutlich und zeigt sich oft 4 Darauf weist Gabriele Brosda, Kinder brauchen Religion, in: Matthias Hugoth / Monika Benedix (Hrsg.), Religion im Kindergarten, 2008, S 9, hin. 5 Gemeinsamer Rahmen (Fn. 279), Abschnitt 3.2.2. 6 Diese Gesichtspunkte betont auch „Welt entdecken, Glauben leben. Zum Bildungs- und Erziehungsauftrag katholischer Kindertageseinrichtungen“ (Die Deutschen Bischöfe, Heft Nr. 89, 2009), S. 22, 39, auch wenn die religiöse Erziehung im katholischen Kindergarten darüber weit hinausgeht. Ähnlich Religion, Werte und religiöse Bildung im Elementarbereich, 10 Thesen des Rates der EKD, Mai 2007: „Ohne dabei ihr evangelisches Profil aufzugeben, haben sich kirchliche Einrichtungen auch für Kinder geöffnet, die nicht der Kirche angehören, und legen konsequent Wert auf interkulturelles und interreligiöses Lernen“. 7 Rheinland-Pfalz, Bildungsempfehlungen (Fn. 3), S. 28; Saarland, Bildungsprogramm (Fn. 3), S. 15; Schleswig-Holstein, Leitlinien (Fn. 3), S. 43, nennt Religion nicht nur ein Thema konfessioneller, sondern aller Kindertageseinrichtungen. Andere Länder sind trotz ausführlicher Behandlung der Religion nicht ganz so deutlich: Bayern, Bildungsplan (Fn. 3), S. 173, verweist auf die Bayerische Verfassung (Art. 107 Abs. 1 und 2 und 131 Abs. 2), in der ethische und religiöse Erziehung eine Grundlage hätten. Baden-Württemberg, Orientierungsplan (Fn. 3), S. 115, fordert die Träger auf, entsprechend ihrer Trägerautonomie und den Grundsätzen der Erziehungspartnerschaft die Grundsätze für das Bildungs- und Entwicklungsfeld „Sinn, Werte und Religion“ gemäß ihrem weltanschaulichen bzw. religiösen Hintergrund zu präzisieren; Hessen, Bildungsplan (Fn. 3), S. 79, nennt die Frage nach Gott als eine zentrale Lebensfrage, ohne anzudeuten, wie sie zu beantworten ist. 8 Z. B. Schleswig-Holstein, Leitlinien (Fn. 3), S. 41 – 44. Die erste Auflage von 2007 enthielt dazu noch fast nichts. In Thüringen widmet der Bildungsplan (Fn. 3) im Kapitel der „Soziokulturellen, moralischen und religiösen Bildung“ viele Seiten (136 – 155), ohne zu konkreten Aussagen zu kommen. Vorher war unter der Überschrift „Weltanschauung und Religiosität“ (S. 24) auf die Vielzahl der Anschauungen und auf die Trägerautonomie für die konfessionelle Ausrichtung der religiösen Erziehung hingewiesen worden. Sachsen hat in seinen Bildungsplan unter 4. einen mit „Religiöse Grunderfahrungen und Werteentwicklung“ überschriebenen Abschnitt aufgenommen, der aber von kirchlicher Seite gestaltet ist und von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens verantwortet wird.
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in den einschlägigen Formulierungen der Bildungspläne10. Für Eltern, die eine religiöse Erziehung ihrer Kinder wünschen, erscheint das unbefriedigend, obwohl die Aufnahme religiöser Bildungsziele in die Bildungspläne erfreulich ist. 2. Religiöse Erziehung als staatliches Erziehungsziel? a) Staatliche Neutralität, Religionsfreiheit, Elternrecht und religiöse Erziehung aa) Grundsätzliches Staatliche Erziehung muss nach Bundesverfassungsrecht, das dem Landesrecht vorgeht, religionsneutral sein und darf die Kinder nicht indoktrinieren11. Staat und Kommunen als solche bieten keine religiöse Erziehung, sie lehren keine Glaubenswahrheiten und betreiben keine Einübung in religiöse Praxis. bb) Schulerziehung Das Bundesverfassungsgericht hat aber religiöse Bezüge in der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen. In seiner Rechtsprechung zur christlichen Gemeinschaftsschule, die schon auf das Jahr 1975 zurückgeht, sagt es zwar klar, religiöse Erziehung sei nicht staatliche Aufgabe. Die christliche Tradition darf aber als wesentlicher Teil der kulturellen Prägung des Landes besonders berücksichtigt werden. Das Gericht sieht negative und positive Religionsfreiheit in der Schule in einem Spannungsverhältnis12. „Da es in einer pluralistischen Gesellschaft faktisch unmöglich ist, bei der weltanschaulichen Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Elternwünschen voll Rechnung zu tragen, muß davon ausgegangen werden, daß sich der Einzelne nicht uneingeschränkt auf das Freiheitsrecht aus Art. 4 GG berufen kann. In der Ausübung seines Grundrechts wird er insoweit durch die kollidierenden Grundrechte andersdenkender Personen begrenzt.“13 9 Manfred Baldus, Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kirche und des Staates, FS Listl 2004, S. 573, 582, bemerkt mit Recht, die vom Staat in den öffentlichen Schulen vermittelte Bildung und Erziehung sei hinsichtlich des Wertekanons zwingend unvollständig. 10 Z. B. Rahmenplan Mecklenburg-Vorpommern (Fn. 3), S. 25: „. . . die Felder, auf denen Erzieherinnen verantwortlich handeln (sind), erheblich weiter gesteckt als der Katalog der ,Inhaltlichen Empfehlungen‘ suggeriert: Neben weltanschaulichen Sozialisationsansätzen birgt der Umgang mit Kindern soziale Verflechtungen, religiöse Bindungen, geschlechtsspezifische Erziehungseinflüsse und ethnische Prägungen usw. usw., denen die Erzieherinnen angemessen begegnen müssen“. 11 Indoktrinieren darf auch ein zugelassenes Schulbuch nicht, dazu und zur zulässigen didaktisch-pädagogischen Ausrichtung von Schulbüchern BVerwGE 79, 298, 300 ff. und die bestätigende Kammerentscheidung BVerfG vom 9. 2. 1989, NVwZ 1990, 54 f. 12 BVerfGE 41, 29, 49 ff. vom 17. 12. 1975.
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Die Ausgestaltung der Schule ist weithin Sache des Staates. Die staatliche Erziehungsaufgabe in der Schule ist unbestritten. Die staatliche Schule kann sich ebenso wenig wie eine private Schule auf reine Wissensvermittlung beschränken. Das Bundesverfassungsgericht behandelt Elternrecht und staatliches Erziehungsrecht im Bereich der Schule grundsätzlich als gleichrangig14. Die Erziehung von Kindern ist, soweit sie Schulen besuchen, die gemeinsame Aufgabe von Eltern und Schule. Sie ist in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen. Die notwendige Abgrenzung von elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Erziehungsauftrag ist Aufgabe des Gesetzgebers15. Er hat dabei den Vorrang der elterlichen Bestimmung über die Grundrichtung der Erziehung zu beachten. Dies hat das Bundesverfassungsgericht vielfach betont, nicht zuletzt im Rahmen von Entscheidungen über die Wahl des Schul- und Berufswegs der Kinder16. Der Staat muss den elterlichen Gesamtplan für die Erziehung und die Bestimmung der Eltern über die Religion ihrer nicht religionsmündigen Kinder achten. Die Schule muss für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen so weit offen sein, wie es sich mit einem geordneten staatlichen Schulwesen verträgt17. Über die religiös-weltanschaulicher Erziehung bestimmen bis zur Religionsmündigkeit der Kinder ausschließlich die Eltern18. Eine religiöse Erziehung ist jedoch außerhalb von Konfessionsschulen in öffentlichen Schulen nur im Religionsunterricht zulässig. cc) Religiöse Erziehung in der Kindertagesstätte Während es für die schulische Erziehung Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts gibt, ist die vor- und außerschulische Erziehung – abgesehen von den Fragen des Wächteramtes – noch kaum an das Gericht herangetragen worden19. Der Kindergartenbesuch ist bislang noch freiwillig, wenn auch der faktische Druck wächst und eine Kindergartenpflicht wenigstens für das letzte Jahr vor Schuleintritt 13 BVerfGE 41, 29, 50, zu Baden-Württemberg mit Hinweis auf BVerfGE 28, 243, 260 f.; BVerfGE 41, 65 zu Bayern; BVerfGE 41, 88 zu Nordrhein-Westfalen. 14 BVerfGE 34, 165, 183: st. Rspr. BVerfGE 98, 218, 244 f. 15 BVerfGE 98, 218, 244 f. 16 BVerfGE 34, 165, 196 ff.: Eine schlichte Zuweisung zu weiterführenden Schulen ohne Berücksichtigung des Elternwillens ist unzulässig. 17 BVerfGE 34, 165, 183; BVerfGE 98, 218, 245. 18 In den Verfassungen von Bayern (Art. 126 Abs. 1 S. 3) und Bremen (Art. 23 Abs. 2) ist ausdrücklich bestimmt, dass in persönlichen Erziehungsfragen der Wille der Eltern maßgebend ist. 19 Nur BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats) vom 2. 10. 2003 – 1 BvR 15522 / 03, NJW 2003, S. 3468 – 3470, wo zwar die Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs als unzulässig nicht zur Entscheidung angenommen wurde, aber wichtige Hinweise zum Tischgebet gegeben werden.
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diskutiert wird. Sehr viele Kindergärten werden von den Kirchen, kirchlichen Trägern oder anderen freien Trägern betrieben. Die Probleme der religiös-weltanschaulichen Erziehung stellen sich für religiöse Eltern heute drängender denn je: Um der Berufstätigkeit und beruflichen Gleichberechtigung der Frauen willen, werden Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen propagiert. Wenn und soweit sich diese Tendenzen durchsetzen, wird der elterliche Einfluss auf die Erziehung notwendigerweise geringer20. Die religiöse Erziehung außerhalb des Elternhauses wird für religiöse Eltern wichtiger. Dies gilt insbesondere für den Vorschulbereich, in dem das Korrektiv des Religionsunterrichts fehlt. Die Frage der religiösen Erziehung im Kindergarten ist eine Frage der positiven und negativen Religionsfreiheit. Die Absage an eine religiöse Erziehung kann nicht einfach mit der negativen Religionsfreiheit andersgläubiger oder areligiöser Kinder, in die angeblich nicht eingegriffen werden darf21, und auch nicht mit der staatlichen Neutralität gerechtfertigt werden. Die Neutralität ist durch möglichst weitgehende Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen zu wahren22. Zur positiven Religionsfreiheit der Kinder und Eltern und zum elterlichen Erziehungsrecht gehört auch eine religiöse Erziehung, die unter den heutigen Bedingungen einer weitgehenden Betreuung in Kindertagesstätten nicht verweigert werden darf und schon gar nicht um der staatlichen Neutralität willen verweigert werden muss. Ein auf Ausschluss des Religiösen gerichtetes Neutralitätsverständnis, würde auf eine atheistische, nicht auf eine neutrale Praxis hinauslaufen23. Die negative 20 Dazu Clemens Breuer, PISA-2000 und katholische Erziehung. Die staatlich verordnete Ausweitung der Ganztagsschule in der Bundesrepublik Deutschland und der Stellenwert katholischer Schulen, FS Listl, 2004, S. 593 ff., der in der Ganztagsschule keine Garantie für die Verbesserung schulischer Leistungen sieht (S. 600 ff.), aber mit der Deutschen Bischofskonferenz ein Mittel zur besseren Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft (S. 611). 21 Heinrich de Wall, Religiöse Bildung in Kindertagesstätten im Spannungsfeld von Erziehungsrecht und -auftrag, staatlicher Neutralität und Religionsfreiheit, RdJB 2007, S. 458, 460, wendet sich mit Recht gegen eine solche Argumentation, wiewohl er anerkennt (S. 462), dass die Freiwilligkeit des Kindergartenbesuchs Grundrechtseingriffe nicht ausschließt. 22 In diesem Sinne Heinrich de Wall, Juristische Aspekte der interkulturellen und interreligiösen Bildung in Kindertagesstätten, in: Friedrich Schweitzer, Albert Biesinger und Anke Edelbrock (Hrsg.), Mein Gott – Dein Gott. Interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten, 2008, S. 81, 92. 23 Dazu Michael Brenner, Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000). S. 264, 272. Gegen eine Überbewertung der Neutralität Christoph Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr? VVDStRL 68 (2009), S. 47. 56 ff., 85 f., 115, und Ute Sacksofsky, ebenda, S. 7, 33 f.; beide sehen geeignete Lösungen jedenfalls nicht in einer negativen, laizistischen Neutralität, sondern in der Gleichbehandlung; Claus Dieter Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 11, sieht als eigentlichen Maßstab Art. 137 Abs. 1 WRV (Verbot der Staatskirche) an und meint, ein grundsätzliches Verbot staatlicher Aktivitäten im Bereich der Religion bestehe nicht.
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Religionsfreiheit ist kein „Obergrundrecht“ und hat vor der positiven keinen Vorrang24. Zwar gibt es Parallelen zwischen Schule und Kindergarten, so dass eine vorsichtige Übertragung von Grundsätzen aus dem Schulbereich in den Bereich der vorschulischen Erziehung nicht ausgeschlossen ist25. Eine volle Gleichstellung von vorschulischer und schulischer Erziehung ist jedoch nicht möglich, denn nur die Schulen, nicht die Kindertagesstätten stehen kraft Verfassungsrechts unter Staatsaufsicht. Daraus folgen – auch gegenüber privaten Schulen – staatliche Ingerenzrechte, die sich nicht ohne Weiteres auf außerschulische Einrichtungen übertragen lassen26. Zudem sind Elternrecht und staatliches Erziehungsrecht außerhalb der Schule anders gegeneinander zu gewichten. Kindertagesstätten arbeiten weit weniger mit einem festen Programm für alle Kinder als die Schulen, eine differenzierte Zuwendung zu einzelnen Kindern oder Gruppen von Kindern ist viel leichter möglich. Die Kindertagesstätte als solche darf zwar nicht missionarisch tätig werden27 und hat im Prinzip eher die Bildungstraditionen unserer christlich geprägten Kultur als religiöse Inhalte zu vermitteln. Die Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule können aber, da das staatliche Erziehungsrecht zurücktritt und dem Elternrecht größeres Gewicht zukommt, nicht in vollem Umfang für die Kindertagesstätten gelten. Der Kindergarten, zumal als immer noch freiwillige Einrichtung, ist viel mehr als die Schule von einem elterlichen Mandat geprägt28. Für die religiöse Erziehung gilt das besonders29. Elterlichen Wünschen nach Ausrichtung der Erziehung ist in größerem Maße Rechnung zu tragen als in der Schule30. Der Kindergarten hat wie alle Einrichtungen der Jugendhilfe die elterlichen Wünsche zu berücksichtigen (§ 9 Nr. 1 SGB VIII). Die Religionsfreiheit der Kin24 Brenner (Fn. 23), S. 295; BVerfGE 52, 223, 246 ff., zur gebotenen Abwägung zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit. 25 Im Sinne einer Erstreckung von Art. 7 Abs. 1 GG auf den Kindergarten de Wall (Fn. 21), S. 462 f. 26 Es ist zwar richtig, dass auch über die Kindertagesstätten kraft Gesetzes schon eine staatliche Aufsicht besteht – darauf weist de Wall (Fn. 21), S. 463, hin – jedoch würde die Eigenständigkeit privater außerschulischer Einrichtungen erheblich geschwächt, würde Art. 7 Abs. 1 GG für sie gelten. 27 BVerfG, NJW 2003, S. 3468, 3469. 28 de Wall (Fn. 22), S. 85 f. 29 BVerfG, NJW 2003, S. 3468, 3469, betont mit Hinweis auf die gesetzlichen Bestimmungen des § 22 Abs. 3 SGB VIII, dass die Mitarbeiter der Kindertagesstätten mit den Erziehungsberechtigten zusammen arbeiten sollen und dass die Rechte der Personensorgeberechtigten und des Kindes bei der Bestimmung der religiösen Erziehung zu achten sind. 30 Vgl. etwa Art. 4 Abs. 1 BayKBiG: Die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern liegt in der vorrangigen Verantwortung der Eltern; Eltern im Sinn dieses Gesetzes sind die jeweiligen Personensorgeberechtigten. Die Kindertageseinrichtungen und die Tagespflege ergänzen und unterstützen die Eltern hierbei. Das pädagogische Personal hat die erzieherischen Entscheidungen der Eltern zu achten.
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der und Eltern und das elterliche Erziehungsrecht geben einen grundrechtlichen Anspruch auf Achtung des Rechts auf religiöse Erziehung der Kinder. Art. 6 Abs. 2 GG schließt auch das Recht der Eltern ein, ihren Kindern die eigenen religiösen / weltanschaulichen Überzeugungen zu vermitteln. Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK schreibt vor, das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen31. Religiöse Erziehung im Kindergarten ist daher, wird die staatliche Neutralität beachtet, gestützt auf den Elternwillen, in der öffentlichen Kindertagesstätte weiter gehend möglich als in der christlichen Gemeinschaftsschule32. Die Bildungspläne der Länder sehen das anscheinend ähnlich, freilich ohne generell eine religiöse Erziehung in einem bestimmten Sinn vorschreiben oder empfehlen zu können. Das läge außerhalb der staatlichen Kompetenz; denn der Staat als solcher hat keine Religion. Möglich, zulässig und sogar empfohlen ist jedoch die Berücksichtigung der Religion im Alltag des Kindergartens, soweit die Erzieherinnen und Erzieher sich dazu in der Lage sehen und selbst religiös verwurzelt sind. Zu religiösen Übungen und Anleitungen können sie prinzipiell nicht verpflichtet werden. Es bestehen aber keine Bedenken dagegen, dass die Erzieherinnen (Erzieher) auf religiöse Fragen der Kinder eingehen und sie in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Überzeugung und dem Willen der Eltern beantworten33. Dasselbe gilt für Gebete im Kindergarten und die Feier religiöser Feste34.
31 Dazu Wilfried Fiedler, Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000), S. 199, 208, dort S. 201, zur Bedeutung der EMRK für die Auslegung der Grundgesetzes; Christine Langenfeld, in: Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 24 Rn. 20, die allerdings in Rn. 19 darauf hinweist, dass die Eltern nicht verlangen können, dass der Staat sein Schulprogramm nach ihren besonderen Bedürfnissen ausrichtet. 32 de Wall (Fn. 21), S. 465; auch ders., (Fn. 22), S. 90, meint, die Aussage, dass das Christentum als prägender Kultur- und Bildungsfaktor berücksichtigt werden dürfe, sei für die Erziehung von Kleinkindern möglicherweise nicht sonderlich hilfreich. 33 de Wall (Fn. 21), S. 465. Die Bildungspläne befürworten das, wie sich mehrfach belegen lässt: Saarland, Handreichungen (Fn. 3), S. 65, sieht die Erzieherinnen als Lebensbegleiterinnen der Kinder auch in religiösen Fragen. Vgl. auch Bayern, Bildungsplan (Fn. 3), S. 174; Bremen, Rahmenplan (Fn. 3), S. 24; Hamburg, Bildungsempfehlungen (Fn. 3), S. 13; Hessen, Bildungsplan (Fn. 3), S. 80; Mecklenburg-Vorpommern, Rahmenplan (Fn. 3), S. 26; Niedersachsen, Orientierungsplan (Fn. 3), S. 31; Thüringen, Bildungspan (Fn. 3), S. 136. 34 Für außerschulische Betreuung von Schulkindern in öffentlichen Einrichtungen (Horten und Heimen) gilt im Prinzip Ähnliches. Probleme der religiösen Erziehung stellen sich in Horten, wo Kinder nur einen relativ geringen Teil ihrer Zeit verbringen, weniger als in Heimen. Dort kommen allerdings die Regeln der Anstaltsseelsorge zum Zuge.
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b) Pluralität der Anschauungen aa) Grundsätzliches Das geltende Recht gestattet danach eine Betreuung der Kinder in Kindertageseinrichtungen, die ihre religiösen Bedürfnisse berücksichtigt. Die einschlägigen Bemerkungen in den Bildungsplänen verstoßen nicht gegen das geltende Recht und fordern auch nicht dazu auf, dagegen zu verstoßen. Die Kindertageseinrichtung darf in dieser Hinsicht mehr bieten als die nicht konfessionelle öffentliche Schule, in der das Christentum, weil in Deutschland kulturprägend, zwar im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen gewissen Vorrang haben darf die aber keine eindeutig christliche Erziehung vermittelt. Allerdings bereitet die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen Probleme, mit denen in allen öffentlichen Kindertageseinrichtungen zu rechnen ist. Zu beachten ist nicht nur die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen bei den Kindern, sondern auch bei den Erzieherinnen und Erziehern. Voraussetzung für alle Aktivitäten zu religiöser Erziehung ist, dass die Erzieher und Erzieherinnen dazu bereit sind35. Ein Zwang zu einer religiösen Erziehung, die über religionskundliche Unterweisung hinausgeht, ist ihnen gegenüber unzulässig. Auch gegenüber den Kindern ist jeder Zwang zu vermeiden. Die Vielfalt der religiösen und weltanschaulichen Auffassungen erschwert die religiöse Erziehung, macht sie aber andererseits umso notwendiger36. Die einfache Lösung, auf religiöse Anregungen und Erziehung in der pluralen Kindertagesstätten zu verzichten, würde weder dem Anspruch der Eltern auf religiöse Erziehung noch den Vorgaben der Bildungspläne entsprechen. Vielmehr ist, wie immer in vergleichbaren Situationen ein Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen zu suchen37. bb) Zuwendung zu einzelnen Kindern Dieser Ausgleich kann nur in einer Zuwendung bestimmter Erzieher / Erzieherinnen zu bestimmten Kindern bestehen. In der Zuwendung zu diesen Kindern darf der Kindergarten mehr bieten als eine kindgemäße religionskundliche Unterweisung mit Vermittlung von Wertvorstellungen. Ansätze dazu enthalten Vorschriften, welche wie § 22 Abs. 3 S. 2 SGB VIII eine Förderung des einzelnen Kindes nach seiner besonderen Lebenssituation vorsehen. Mehr als die Schule verweisen die Bestimmungen über die außerschulische, insbesondere die vorschulische Erziehung auf das Elternrecht und auf individuelle Förderung. In dieser individuellen Förderung kann und muss auch die religiöse 35 Die zwangsweise Verpflichtung der Erzieher würde gegen deren Religionsfreiheit verstoßen. Die Analogie zu Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG drängt sich auf, dazu de Wall (Fn. 21), S. 460. 36 Friedrich Schweitzer, Wozu brauchen Kinder Religion? in: Hugoth / Benedix (Fn. 4), S. 18, 23. 37 de Wall (Fn. 21), S. 460 ff.
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Erziehung einen Platz haben. Die Bildungspläne greifen solche Vorstellungen auf und legen großen Wert auf individuelle Zuwendung. Die Frage, ob ein Erzieher oder eine Erzieherin dem Kind auf religiöse Fragen antworten darf, ist danach positiv zu beantworten, allerdings mit der Einschränkung, dass die religiöse Grundausrichtung des Kindes zu achten ist. Ob und inwieweit sich der Erzieher / die Erzieherin dazu in der Lage fühlt, hängt von deren persönlicher religiöser Haltung ab38. Im Sinne der Bildungspläne liegt die religiös begründete Antwort jedenfalls. cc) Zuwendung zu getrennten Gruppen Die Zuwendung zu einzelnen Kindern ist für die religiöse Erziehung sinnvoll und notwendig, löst aber nicht alle Probleme. Würde sich die religiöse Erziehung in der gelegentlichen Ansprache einzelner Kinder erschöpfen, könnte das Gesamtprogramm der Kindertagestätte Religion gleichwohl ausschließen oder sich auf religionskundliche Unterweisung beschränken. Das wäre weniger als von vielen Eltern gewünscht und auch weniger als das, was viele Bildungspläne nahe legen. Auch in Kindertagesstätten mit Angehörigen vieler Religionen, insbesondere auch muslimischer Religion, muss und darf nicht auf religiöse Bildung verzichtet werden39. Die Lösung kann freilich nicht darin bestehen, eine öffentliche Einrichtung auf die Mehrheitsreligion oder dergl. auszurichten. Dies würde dem Prinzip der individuellen Förderung und dem Minderheitenschutz zuwiderlaufen40. Im Rahmen der organisatorischen Gegebenheiten, der Wünsche der Eltern und der Bereitschaft des Personals darf und muss aber nach Möglichkeiten gesucht werden, einzelnen Kindern oder Gruppen von Kindern die gewünschte Erziehung zu vermitteln, ohne gegenüber anderen Druck auszuüben oder sie in Konflikte zu treiben41. Der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Religionen ist zu beachten, jedoch darf nach dem Bedarf, insbesondere nach der konfessionellen Zusammensetzung der Kinder unterschieden werden42. Die Bildungspläne, die eine religiöse Erziehung wünschen, können und wollen einer solchen Aufteilung der Kinder nicht entgegenstehen. Vielmehr betonen sie ausdrücklich die Förderung jedes einzelnen Kindes nach seinen eigenen Bedürfnissen. Wenn dem gefolgt wird, ist unter Beachtung der Religionsfreiheit anderer eine religiöse Erziehung in Gruppen nicht nur zugelassen, sie wird sogar nahe gelegt. In diesem Sinne de Wall (Fn. 21), S. 465. Albert Biesinger, Eltern und Kinder in die Mitte nehmen, in: Hugoth / Benedix (Fn. 4), S. 39, 43. 40 Fiedler (Fn. 31), S. 230, mit Hinweis auf die Spruchpraxis zur EMRK. 41 In diesem Sinne Biesinger (Fn. 39), S. 46. 42 de Wall (Fn. 21), S. 466. 38 39
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Aus der Schulgebetsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts43 lassen sich Grundsätze für eine religiöse Unterweisung gewinnen44: Sie erfordert je nach den Umständen die Aufteilung der Kinder in unterschiedliche Gruppen45. Diese Gruppen können nach dem Gegenstand konfessionsübergreifend gebildet werden und verschiedene christliche Konfessionen zusammenfassen. Die Unterschiede im Eucharistieverständnis zwischen Thomas von Aquin, Luther und Calvin sind vielleicht im Kindergarten noch nicht entscheidend. Im Übrigen stellt sich die Frage einer Religionsgemeinschaften übergreifenden Erziehung. Das mag unter christlichen Gemeinschaften angehen. Gemeinsame Grundlagen für Islam, Buddhismus und andere, auch sog. neue Religionen, sind schwerer zu finden. Auch areligiösen Kindern soll der öffentliche Kindergarten gerecht werden. Je mehr in der öffentlichen Einrichtung Pluralismus herrscht, um so schwieriger wird eine einheitliche Erziehung, die nicht nur einige Grundsätze guten Benehmens, sondern fundierte Grundsätze moralischen Lebens beibringen will46. Was dazu im hessischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren steht47, klingt gut, ob es praktikabel ist, ist zu bezweifeln. Zum Teil sind die Ziele ohnehin für Kinder im Vor- und Grundschulalter zu hoch gesteckt, zum Teil erfordern sie eine religiöse oder weltanschauliche Fundierung, die jedenfalls nicht für alle gleichmäßig angeboten werden kann. Deshalb kann die Lösung nur lauten: Religiöse Erziehung, soweit möglich und von den Eltern gewünscht. Manche Gesichtspunkte, die sich für die Schule aus dem Erziehungsrecht des Staates ergeben, sind wie erwähnt, ohnehin nur begrenzt auf die vorschulische Erziehung übertragbar. Dem Elternwillen kommt größeres Gewicht zu, der Kindergarten nimmt ein Mandat der Eltern wahr. Verschiedene Bildungspläne verweisen deshalb mit Recht auf Absprachen zwischen Kindergartenträgern und Eltern48. BVerfGE 52, 223. In diesem Sinne de Wall (Fn. 21), S. 466. 45 Jörg-Detlef Kühne, Ehrfurchtsgebot und säkularer Staat – verfassungswidriges Landesverfassungsrecht? NWVBl. 1991, S. 253 ff., 256, weist darauf hin, dass BVerfGE 41, 65, 87, die Bildung von Bekenntnisklassen bundesverfassungsrechtlich nicht beanstandete. 46 Zur Bedeutung der Religion für die Bildung Schweitzer (Fn. 36), S. 22. 47 Hessen, Bildungsplan (Fn. 3), S. 80: „Religiöse und ethische Bildung bieten dem Kind ein Fundament, auf dem es seine spezifische Sicht der Welt und des Menschen entfalten kann und das ihm dabei hilft, Antworten auf die Fragen nach Sinn und Deutung zu finden. Eine Grundhaltung, die Individualität und Differenzen als wertvoll erachtet, ermöglicht es, anderen sowie sich selbst mit Achtung zu begegnen. Diese Grundeinstellung ist Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Kompetenzen sowie ethischer Urteilsfähigkeit und prägt in entscheidendem Maße das eigene Selbstkonzept. Dies spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer und Kinder miteinander umgehen und wie sie ihre Umwelt und Beziehungen gestalten“. 48 Baden-Württemberg, Orientierungsplan (Fn. 3), S. 115: „In diesem Sinne sind die Träger von Kindertageseinrichtungen aufgefordert, entsprechend ihrer Trägerautonomie sowie 43 44
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Eine ständige Aufteilung der Kinder nach religiöser Ausrichtung ist nicht erforderlich, aber eine Zusammenfassung in Gruppen ad hoc je nach dem Gegenstand. Bleibt es im Einzelfall bei bloßer Religionskunde, können alle Kinder zusammen unterwiesen werden49. Ein Tischgebet, nach den Grundsätzen der Schulgebetsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts50 angeboten, ist im Kindergarten nicht unzulässig51. Für ein solches Gebet können Kinder verschiedener Religionsgruppen zusammengefasst oder auch getrennt werden, z. B. werden i.d.R. kein Bedenken bestehen, allgemein-christliche Gebete zu sprechen. Sollen auch Muslime einbezogen werden, wird es schwieriger, aber nicht unbedingt in allen Fällen unmöglich. Bei der Feier von Festen können in erster Linie die Kinder angesprochen werden, für die das Fest religiöse Bedeutung hat, also bei den christlichen Festen die christlichen Kinder. Andere müssen nicht unbedingt ausgeschlossen werden, sie können bei entsprechender Gestaltung und Absprache mit den Eltern „als Gäste“ teilnehmen. Dies darf nicht als Versuch der Missionierung ausgestaltet werden, sondern als Gelegenheit zum Kennenlernen anderer religiöser Bräuche52, wie es nach den Bildungsplänen der Länder erwünscht ist. Eine religiöse Erziehung im engeren Sinne, d. h. eine Erziehung im Sinne einer bestimmten Religion oder Konfession ist nur entsprechend den Wünschen der Eltern möglich und zulässig. In der öffentlichen Schule ist ihr Ort der Religionsunterricht, im Kindergarten werden auch bei Aufteilung der Kinder in Gruppen Defizite bleiben. der Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften die verbindlich vorgegebenen Grundsätze für das Bildungs- und Entwicklungsfeld ,Sinn, Werte und Religion‘ gemäß ihrem weltanschaulichen bzw. religiösen Hintergrund inhaltlich weiterführend zu präzisieren.“; Bayern, Bildungsplan (Fn. 3), S. 178: Das Angebot religiöser und ethischer Erziehung soll im Team, mit dem Träger und den Eltern als ein „auszuhandelnder Bereich“ besprochen werden.; nach der Bildungsvereinbarung NRW (Fn. 3), S. 9, sollen sich die Tageseinrichtungen mit den Eltern im Sinne einer Erziehungspartnerschaft abstimmen; ähnlich legt das Berliner Bildungsprogramm (Fn. 3), S. 110, größten Wert auf die Kooperation mit den Eltern. Die Hamburger Bildungsempfehlungen (Fn. 3), S. 25, legen auf die Zusammenarbeit mit den Eltern großen Wert; der niedersächsische Orientierungsplan (Fn. 2), S. 42 ff., betont die Erziehungspartnerschaft; ähnlich Bildungs- und Erziehungsempfehlungen RheinlandPfalz (Fn. 3), S. 58 ff.; Handreichungen Saarland (Fn. 3), S. 159 ff.; von Zusammenarbeit spricht der sächsische Bildungsplan (Fn. 3) unter 3.2., S. 9 f.; von Erziehungspartnerschaft das Bildungsprogramm Sachsen-Anhalt (Fn. 3), S. 8, 80; desgl. der Thüringer Bildungsplan (Fn. 3), S. 42. 49 de Wall (Fn. 21), S. 466, hält religiöses Lernen mit Recht für unproblematisch, sofern nur die religionskundliche Perspektive eingenommen wird. 50 BVerfGE 52, 223; auch BVerfGE 93, 1. 24. 51 VGH Kassel vom 30. 6. 2003, NJW 2003, 2846, die Vorinstanz VG Gießen vom 31. 1. 2003, NJW 2003, 1265 bestätigend; BVerfG, NJW 2003, S. 3468, 3469. 52 In diesem Sinne Frieder Harz, Religion in der interkulturellen Erziehung und Bildung in Kindertageseinrichtungen, in: Hugoth / Benedix (Fn. 4), S. 32, 37.
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Was danach möglich, zulässig und geboten ist, wird sich kaum in allgemeinen Vorschriften festlegen lassen. Zu verschieden sind die Konstellationen bei Mitarbeitern, Kindern und Eltern. Die Zielvorstellung einer individuellen und damit auch religiösen Bedürfnissen gerecht werdenden Erziehung sollte aber nicht aus den Augen verloren werden. c) Beteiligung der Kirchen aa) Religionsunterricht im Kindergarten? Eine eindeutig konfessionelle Erziehung kann die öffentliche Einrichtung trotz allem, was für die Zulässigkeit religiöser Erziehung spricht, nicht gewährleisten. In der Schule schafft der Religionsunterricht einen Ausgleich. Ein solcher Religionsunterricht ist für die außerschulischen Einrichtungen nicht verfassungsrechtlich vorgeschrieben, einer Einführung stünde jedoch rechtlich nichts im Wege. Ob ein konfessionell eindeutig gebundener und vom sonstigen Kindergartenbetrieb getrennter Unterricht zweckmäßig wäre, ist allerdings zweifelhaft und eher zu verneinen53. Daher stellt sich die Frage kaum, ob die Kirchen ihn finanzielle und personell leisten können. bb) Anstaltsseelsorge Außer der Religionsfreiheit kann für die religiöse Erziehung in Kindertagesstätten auch die Garantie der Anstaltsseelsorge (Art. 140 GG / 141 WRV) von Bedeutung sein. Freilich muss dergleichen auch nach den organisatorischen Möglichkeiten durchdacht werden. Praktisch dürfte Kindergottesdienste in den Kirchengemeinden den Bedürfnissen besser entsprechen. cc) Beteiligung der Kirchen an der religiösen Erziehung Wenn und soweit religiöse Themen im allgemeinen Rahmen behandelt werden, allerdings mit Trennung der Kinder, soweit das zur Wahrung der religiösen Freiheit erforderlich ist, stellt sich die Frage, ob und inwieweit Kirchen und Religionsgemeinschaften Einfluss gewährt werden soll und muss. Religiöse Inhalte kann und darf der Staat nicht selbst formulieren, vielmehr hat er die Inhalte von den Religionsgemeinschaften zu übernehmen. Danach müssen die religiösen Inhalte der Erziehung von den Religionsgemeinschaften mitgetragen sein, so dass es einer Absprache mit ihnen bedarf54. Die Erzieherinnen und Erziede Wall (Fn. 21), S. 464 ff. de Wall (Fn. 21), S. 467; ders. (Fn. 22), S. 93, der auch auf die Schwierigkeiten hinweist, die es insoweit – wie bei den Fragen des Religionsunterrichts – bei Muslimen gibt. Dazu Religion, Werte (Fn. 6): „Religiöse Bildung ist eine Aufgabe, die der freiheitlichdemokratische 53 54
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her können und sollen sich u. U. bei den Kirchen kundig machen. Eine Formalisierung in besonderen Verfahren kann indes für die Kontakte zwischen Kirchen und Erziehern / Erzieherinnen kaum empfohlen werden. 3. Religiöse Erziehung in privaten, insbes. in kirchlichen Einrichtungen Eine voll befriedigende Lösung aller Probleme wird im öffentlichen Kindergarten ebenso wenig wie im öffentlichen Hort und in der öffentlichen Schule gelingen können. Wer religiöse und weltanschauliche Freiheit will, muss unter den neuen Bedingungen einer weitgehenden Erziehung in Einrichtungen noch mehr als bisher für plurale Modelle votieren, d. h. für eine Ausweitung des privaten und insbesondere auch des kirchlichen Sektors zu Lasten des öffentlichen. Das widerspricht ganz der deutschen Tradition, die zumindest im Schulbereich, weit weniger im Bereich der Kindergärten55, deutlicher auf die öffentliche Einrichtung gesetzt hat als vergleichbare andere europäische Länder. Die staatliche „Lufthoheit über die Kinderbetten“ darf aber nicht das Ziel eines pluralistischen Staates sein. Es wird nicht ausbleiben, dass in nicht öffentlichen Einrichtungen auch Kinder anderer Konfessionen, Religionen oder Weltanschauungen betreut werden müssen; konkreter: im katholischen oder evangelischen Kindergarten wird es auch muslimische Kinder geben. Die einfachste, aber nicht die beste Lösung wäre dann, den christlichen (katholischen oder evangelischen) Kindergarten so neutral zu führen wie einen öffentlichen. Das kann aber vernünftigerweise vom Träger eines kirchlichen Kindergartens nicht verlangt werden56. Schon um der Religionsfreiheit willen muss den Kirchen die Möglichkeit verbleiben, ihre Einrichtungen nach ihren Vorstellungen zu führen und eine ganzheitliche religiöse Erziehung zu vermitteln. Die Bildungspläne der Länder betonen vielfach und mit Recht die Autonomie der freien Träger. Der katholische Kindergarten soll z. B. eine eindeutige Orientierung geben, er bejaht seine missionarische Sendung, arbeitet mit der zuständigen Pfarrei zusammen, führt in die Bibel ein und gibt klare Antworten auf die Frage nach Gott57. Nichtkatholische und nichtchristliche Kinder werden aufgenommen. Der Kindergarten ist offen für alle, aber eine Bevorzugung des eigenen Glaubens wird nicht vermieden und muss nicht vermieden werden. Das zeigt sich etwa in der Anleitung Staat nur in Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften erfüllen kann.“ Die Verfassungen von Bayern (Art. 127) und Rheinland-Pfalz (Art. 26) erkennen die Rolle der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei der Erziehung ausdrücklich an; ähnlich Art. 26 Abs. 2 der saarländischen Verfassung, welche Kirchen und Religionsgemeinschaften als Bildungsträger anerkennt. 55 Allein 24% aller Kindertageseinrichtungen werden von der katholischen Kirche oder deren Organisationen getragen, Welt entdecken (Fn. 6), S. 7. 56 de Wall (Fn. 21), S. 467 f. 57 Dazu Welt entdecken (Fn. 6), 28 ff. (passim).
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zum Gebet, in der Feier christlicher Feste. Anderen weltanschaulichen Richtungen wird mit Toleranz begegnet. Das heißt praktisch: Kinder anderer Ausrichtung werden keinesfalls zu religiösen Handlungen im Sinne der katholischen Erziehung veranlasst oder gar gezwungen. Sie müssen nicht mitbeten. Falls erforderlich werden sie während einer prononciert die eigene Richtung betonenden Veranstaltung gesondert betreut. Vielleicht könnte man cum grano salis sagen, sie würden so behandelt wie Kinder in öffentlichen Einrichtungen.
III. Schlussbemerkung Auch wenn es gelingen sollte, die Entwicklung hin zu einer Ausweitung des privaten Sektors zu treiben, wird das Problem bleiben, was im öffentlichen Sektor hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Erziehung geboten und zulässig ist. Öffentliche Kindergärten werden (ebenso wenig wie öffentliche Schulen) nicht generell durch private ersetzt werden können. Ganz abgesehen davon sollte das auch nicht angestrebt werden. Eine allzu weit reichende Privatisierung ist nicht ohne Probleme. Es wird nicht möglich sein, überall ein ausreichendes Angebot aller weltanschaulichen Richtungen zu schaffen. Was vielleicht in Großstädten möglich ist, wird auf dem Lande nicht praktikabel sein, ganz abgesehen davon, dass angesichts der Verkehrsprobleme in den Großstädten auch dort ein voll plurales Angebot, in dem jeder Einrichtungen seines Glaubens oder seiner Weltanschauung findet, nicht geschaffen werden kann. Die vorstehend in den Vordergrund gestellte Frage, welche Möglichkeiten religiöser Erziehung es in den öffentlichen Einrichtungen gibt, wird deshalb in jedem Fall aktuell bleiben.
Art. 79 Abs. 3 GG und die Neugliederung des Bundesgebietes (unter besonderer Berücksichtigung der Möglichkeit einer Auflösung des Saarlandes) Von Ulrich Stelkens* Im Juni 1990 veröffentlichte Wilfried Fiedler einen Aufsatz zu der Frage, inwieweit der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung zum 1. Januar 1957 auf Grundlage des Art. 23 GG a. F. und das hierzu gewählte Verfahren als Vorbild für die Durchführung der deutschen Wiedervereinigung dienen könne.1 Damit waren die Studierenden der Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes gut beraten, sich mit der Verfassungsgeschichte des Saarlandes vertraut zu machen: Sie wurde vermehrt Gegenstand mündlicher Prüfungen des Ersten Juristischen Staatsexamens im Saarländischen Landesprüfungsamt für Juristen. Entsprechendes galt als 1992 das BVerfG zur Behebung der extremen Haushaltsnotlage (auch) des Saarlandes auf die Möglichkeit hinwies, das Bundesgebiet gemäß Art. 29 GG neu zu gliedern, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.2 Tatsächlich soll sich nun in diesem Zeitraum in einer der mündlichen Prüfungen im Saarländischen Justizprüfungsamt Folgendes zugetragen haben – eine Geschichte, die damals im Fachbereich Rechtswissenschaft der damaligen Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes „herumging“: Auf die Frage des Prüfers, eines Hochschullehrers der Universität des Saarlandes (es könnte Wilfried Fiedler gewesen sein), ob das Saarland aufgelöst werden könne und welche Wege es hierzu gäbe, habe der Kandidat voller Überzeugung geantwortet: Ein Bundesland, dessen Bevölkerung in zwei Volksabstimmungen (1935 und 1955)3 „Ja“ zu (seiner Wiedervereinigung mit) Deutschland gesagt * Univ.-Prof. Dr. Ulrich Stelkens, Speyer. Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Recht der Mehrebenenbeziehungen und Normsetzungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer – und kennt und schätzt Wilfried Fiedler seit seiner (des Verfassers) Studien- und Assistentenzeit an der Universität des Saarlandes. 1 Wilfried Fiedler, Die Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland – Erfahrungen für das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR?, JZ 1990, 668 ff. 2 BVerfG, 2 BvF 1, 2 / 88, 1 / 89 und 1 / 90 vom 27. 5. 1993, BVerfGE 86, 148 (270).
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habe, könne nicht einfach aufgelöst werden – eine Antwort, die (obwohl nicht logisch zwingend doch) zum Nachdenken darüber anregt, ob das Saarland tatsächlich (jedenfalls gegen den Willen seiner Bevölkerung) aufgelöst werden kann. Dieses Problem soll hier behandelt werden, weil eine Auflösung des Saarlandes nicht nur Wilfried Fiedler als „Wahl-Saarländer“ unmittelbar persönlich betreffen würde. Es steht auch – neben dem eingangs zitierten Aufsatz – mit seinem sonstigen wissenschaftlichen Werk in Zusammenhang. Letztlich stellen sich hier nämlich auf verfassungsrechtlicher Ebene die Fragen, denen sich Wilfried Fiedler seit seiner Dissertation in zahlreichen Veröffentlichungen aus völkerrechtlicher Sicht gewidmet hat,4 nämlich Fragen der Staatskontinuität, der Staatensukzession, aber auch Fragen der Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Verhältnisses zwischen „Nation“ und „Staat“.
I. Faktische Bestandsgarantie des Saarlandes unter dem geltenden Art. 29 GG Generell ist bekanntlich die Diskussion über die Notwendigkeit einer Länderneugliederung und das dabei einzuschlagende Verfahren so alt wie die Bundesrepublik.5 Gerade für das Saarland begann diese Diskussion kurz nach seinem Beitritt nach Art. 23 a. F. GG,6 endete als „Einzeldiskussion“ – also jenseits von „Gesamtneugliederungsplänen“ – jedoch auch recht schnell wieder.7 Der Vorschlag, 3 Einzelheiten zur Verfassungsgeschichte des Saarlandes zuletzt bei Rudolph Brosig, in: Rudolf Wendt / Roland Rixecker (Hrsg.), Verfassung des Saarlandes, 2009, S. 8 ff.; ausführlich ders. (in seiner von Wilfried Fiedler betreuten Dissertation), Die Verfassung des Saarlandes, 2001, S. 53 ff. und S. 205 ff. 4 Siehe u. a. Wilfried Fiedler, Staatskontinuität und Verfassungsrechtsprechung, 1970; ders., Staats- und völkerrechtliche Probleme des Staatsuntergangs, ZfP 1973, S. 150 ff.; ders., State Succession, in: Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law – Bd. 10, 1987, S. 446 ff.; ders., Die Nation als Rechtsbegriff – Bemerkungen zu ihrem völkerrechtlichen Stellenwert, in: Eric Jayme / Heinz-Peter Mansel (Hrsg.), Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, 1990, S. 45 ff.; ders., Die Kontinuität des deutschen Staatswesens im Jahre 1990, AVR 31 (1993), S. 333 (346 ff.); ders., Entwicklungslinien im Recht der Staatensukzession, in: Gerhard Hafner u. a. (Hrsg.), Liber Amicorum Ignaz Seidl-Hohenfeldern, 1998, S. 133 ff. 5 Ausführlich Johannes Dietlein, in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 29 Rn. 8 ff. (Bearbeitung 2002); Susanne Greulich, Länderneugliederung und Grundgesetz, 1995, S. 43 ff.; Almuth Hennings, Der unerfüllte Verfassungsauftrag, 1983, S. 65 ff.; Andreas Hinsch, Neugliederung des Bundesgebiets und europäische Regionalisierung, 2002, S. 35 ff.; Rudolf Hrbek, Neugliederung: Ein (fast) folgenloses Dauerthema deutscher Politik, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2009, 2009, S. 173 ff.; Hartmut Klatt, LänderNeugliederung: Eine staatspolitische Notwendigkeit, ZBR 1997, 137 (139 ff.). 6 Siehe Walter Henn, Fragen einer Neugliederung des Saarlandes nach Artikel 29 des Grundgesetzes, DÖV 1959, 127 ff. 7 Siehe Greulich (Fn. 5), S. 75 ff.
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das Saarland an Rheinland-Pfalz anzugliedern, wird jedoch seit dem genannten Beschluss des BVerfG wieder öfters vorgebracht, ohne dass er (bisher) bei der saarländischen Politik auf Gegenliebe stieße. So sagte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller in seiner „Antrittsrede“ als Bundesratspräsident am 7. November 2008: „Lassen Sie mich [ . . . ] eine Anmerkung zu der immer wieder auftauchenden Debatte über die Neugliederung der Bundesländer machen! [ . . . ]. Ich komme aus einem Bundesland, das, wenn diese Region bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bereits zum deutschen Staatsgebiet gehört hätte, möglicherweise nie entstanden wäre. Die Gründung, die Entwicklung des Saarlandes als eigenständiges Bundesland hat mit der spezifischen Geschichte dieses Landes zu tun, damit, dass in dieser Region der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung der Saarländerinnen und Saarländer [ . . . ] die Wiedervereinigung im Kleinen umgesetzt worden ist. Die Menschen in diesem Land haben [ . . . ] Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Das ist ein hoher Wert. [ . . . ]. Man sollte sich sehr genau überlegen, ob dieser Wert allein aus finanziellen Gründen in Frage gestellt werden darf. Die billigste Form des Föderalismus ist seine Abschaffung. Im Übrigen gibt es keine belegbare Untersuchung, die tatsächlich zu dem Ergebnis kommt, dass eine Länderneugliederung in der Lage ist, einen relevanten Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu leisten. Deshalb glaube ich, dass natürlich die Grenzen von Bundesländern auch im Grundgesetz nicht auf ewig festgeschrieben sind. Aber die Frage, ob derartige Grenzen verändert werden oder nicht, muss eine Entscheidung der betroffenen Bevölkerung sein. Länderneugliederungsdebatten am Reißbrett sind sicherlich nicht zielführend [ . . . ]. Ich sage für mein Bundesland: Die Eigenständigkeit des Saarlandes ist ein Ergebnis historischer Prozesse. Die Menschen wollen diese Eigenständigkeit, und deshalb gibt es keinen Grund, sie in Frage zu stellen.“8
Derartige Aussagen sowie Umfragen, die allgemein belegen, dass für die nach Art. 29 Abs. 3, 6 bis 8 GG für Neugliederungsmaßnahmen erforderlichen Mehrheiten für Volksentscheide gerade in den kleinen Ländern kaum oder jedenfalls nur schwer erreicht werden können,9 bestätigen die weitgehend geteilte Annahme, eine Länderneugliederung sei unter Beachtung der von Art. 29 GG in seiner heutigen Fassung10 aufgestellten „Hürden“ politisch nicht durchsetzbar. Der Bestimmung Bundesrat, Plenarprotokoll der 850. Sitzung vom 7. 11. 2008, S. 362 f. Siehe z. B. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Bürger und Föderalismus – Eine Umfrage zur Rolle der Bundesländer, 2008, S. 17 (mit der etwas euphemistischen Überschrift: „Vier von zehn Bundesbürgern wollen den Zusammenschluss mit einem benachbarten Bundesland“). Hiernach stimmen konkret 52% der Saarländer und 56% der Rheinland-Pfälzer der Frage „Für das Bundesland, in dem ich wohne, wäre der Zusammenschluss mit einem Nachbarland eine sinnvolle Sache“ eher zu (http: //www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/ nachrichten_85068.htm). Ob dieselben Personen einer solchen Neugliederung dann auch tatsächlich zustimmen würden (also ob sie sie auch für sich selbst als sinnvolle Sache ansehen), ist damit nicht gefragt worden. Die rheinland-pfälzische Bevölkerung dürfte zudem eher an einen Zusammenschluss mit Hessen gedacht haben. Zu den Ergebnissen dieser Umfrage auch Hrbek (Fn. 5), S. 187. 10 Art. 29 GG fand seine heutige Fassung (erst) durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes von 23. 8. 1976 (BGBl. I, S. 2381); er wurde durch das Gesetz zur Änderung 8 9
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wird dementsprechend eine „stabilisierende Wirkung“ hinsichtlich der heutigen Gliederung der Bundesrepublik zugesprochen,11 die zu einer faktischen Bestandsgarantie der bestehenden Länder führe12 und Art. 29 GG zu einem „Neugliederungsverhinderungsartikel“ mache.13 Umgekehrt formuliert: „Redlicherweise kann weder von den betroffenen Bevölkerungen noch von den betroffenen Landesregierungen Begeisterung über den Verlust eigener landesstaatlicher Qualität erwartet werden“.14 Auch wenn also die Forderungen nach einer Neugliederung des Bundesgebiets oder der Durchführung einzelner Neugliederungsvorhaben (Nordstaat15, Berlin-Brandenburg-Fusion16 und eben auch Rheinland-Pfalz-Saarland-Fusion) immer wieder neu gestellt werden, scheinen solche Vorhaben unter Anwendung des heutigen Art. 29 GG als wenig aussichtsreich.
II. Erneute Reform des Art. 29 GG? Dennoch war der Abbau der von Art. 29 GG aufgestellten Hürden nicht Gegenstand der Agenda der Föderalismusreform I.17 Demgegenüber gehörte die Neugliederungsfrage zwar durchaus zu den von der sog. „Föderalismusreform II-Kommission“ zu behandelnden Themen, aber nur soweit der freiwillige Zusammenschluss von Ländern erleichtert werden sollte.18 In den abschließenden Empfehlungen der des Grundgesetzes (Artikel 3, 20a, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118a und 125a) vom 27. 10. 1994 (BGBl. I, S. 3146) jedoch noch dahingehend geändert, dass in Art. 29 Abs. 7 S. 1 GG die Zahl 10.000 durch die Zahl 50.000 ersetzt und Abs. 8 angefügt wurde. 11 So Philipp Kunig, in: Ingo von Münch / Philipp Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar – Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 29 Rn. 2. 12 So Josef Isensee, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rn. 122; Klatt (Fn. 5), S. 143; Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 402. 13 So Edzard Schmidt-Jortzig, Neugliederung des Bundesgebiets, in: Rainer Pitschas / Arndt Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik – Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 729 (734). 14 Volker Haug, Die Föderalismusreform, DÖV 2004, 190 (196). 15 Hierzu etwa Jörg-Detlef Kühne, Niedersachsen als Neugliederungsgegenstand und -leistung, NdsVBl. 2006, 289 ff.; ferner die Beiträge bei Edzard Schmidt-Jortzig / Hennig Voscherau (Hrsg.), Nordstaat, 2006. 16 Hierzu zuletzt Daniel Tripke, Sind die Länder Berlin und Brandenburg neugliederungsreif nach Art. 118a GG?, 2009. 17 Siehe hierzu Deutscher Bundestag / Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005, S. 988 ff.; zu den Hintergründen: Uwe Leonardy, Föderalismusreform ohne Länderneugliederung?, in: Frank Decker (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide, 2004, S. 75 f.; Edzard Schmidt-Jortzig (Fn. 13), S. 729 f. 18 Siehe Nr. 7 der dem Beschluss zur Einsetzung einer gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen als Anlage beigefügten Themensammlung (BR-Drs. 913 / 06).
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Kommission zur Änderung des Grundgesetzes wird die Neugliederung jedoch gar nicht mehr angesprochen19 (obwohl in der entsprechenden Arbeitsgruppe für einen die Quoren bei den Volksabstimmungen herabsetzenden Vorschlag Einigkeit erzielt worden ist)20 und ist dementsprechend auch nicht Gegenstand der ihr folgenden Grundgesetzänderung21 geworden.22 Einer der Vorsitzenden der Föderalismusreform-II-Kommission, Peter Struck, bezeichnete die Neugliederungsfrage jedoch als Aufgabe einer weiteren Föderalismusreform-Kommission, die es mit Sicherheit geben werde.23 In der Literatur finden sich auch bereits zahlreiche Vorschläge für eine Neugliederungsmaßnahmen erleichternde (erneute) Änderung des Art. 29 GG: Noch zurückhaltend ist der Vorschlag, eine Neugliederung dadurch zu ermöglichen, dass ein negativer Ausgang eines Volksentscheids auf lokaler Ebene durch einen dann durchzuführenden Volksentscheid des Gesamt-(Bundes-)Volks überstimmt werden könne, wie dies Art. 29 Abs. 4 GG in seiner ursprünglichen Fassung bereits vorgesehen hatte (s. u. III 2).24 Vorgeschlagen wird aber auch, eine Neugliederung mittels eines zustimmungspflichtigen Bundesgesetzes zu ermöglichen, für das nur eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, jedoch keinerlei Volksentscheid mehr notwendig sein soll.25 In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag, eine Neugliederung unmittelbar durch Verfassungsänderung durchzuführen.26 Teilweise wird selbst das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrates zu einem Neugliederungsgesetz wegen möglicher „Blockademehrheiten“ für schädlich gehalten.27 Alle diese Vorschläge haben gemeinsam, dass sie dem Bund „im gesamtstaatlichen Interesse“ das letzte Wort bei der Länderneugliederung zusprechen 19 Beschlüsse der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Beschlussdatum: 5. 3. 2009), Kommissionsdrucksache 174. 20 So der Bericht von Günter Krings, Stenografischer Bericht der 17. Sitzung der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen vom 5. 2. 2009 (Kommissionsprotokoll 17), S. 496. 21 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) vom 29. 7. 2009 (BGBl. I, S. 2248). 22 Hierzu Iris Kemmler, Föderalismusreform II: Ergebnisse der Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen im März 2009, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2009, S. 208 (223). 23 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 16 / 215 vom 27. 3. 2009, S. 23365. 24 Zu entsprechenden Plänen des BMI nach der Wiedervereinigung Harmut Klatt, Deutsche Einheit und bundesstaatliche Ordnung, VerwArch 82 (1991), S. 430 (447 f.); ähnlich Arthur Benz, Perspektiven des Föderalismus in Deutschland, DÖV 1991, 586 (596); Thomas Würtenberger, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 12), § 132 Rn. 78. 25 Haug (Fn. 14), S. 196; ähnlich Greulich (Fn. 5), S. 211 ff. („Eliminierung der plebiszitären Elemente“). 26 Felix Ekhardt / Daniel Buscher, Föderalismusreform II, DÖV 2007, 89 (98). 27 Christian Schimansky / Bernhard Losch, Warum die Föderalismusreform keinen Erfolg haben wird, Recht und Politik 2007, S. 18 (22).
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wollen, um so eine „Länderneugliederung von oben“ zu ermöglichen,28 der ein entgegen gesetzter Wille der betroffenen Länder und Landesvölker nicht entgegen gehalten werden kann.
III. Verfassungsrechtliche Vorbilder für „Länderneugliederungen von oben“ Ungeachtet der Frage der politischen Durchsetzbarkeit dieser Vorschläge müssten entsprechende Reformen des Art. 29 GG jedoch natürlich den Anforderungen des Art. 79 GG entsprechen. Daher stellt sich die Frage, inwieweit die Beseitigung der Vetomacht sowohl der betroffenen Länder als auch der betroffenen Landesbevölkerung durch Änderung des Art. 29 GG mit den von Art. 79 Abs. 3 GG „auf ewig“ – also nach dem Urteil des BVerfG zum Lissabon-Vertrag bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung nach Art. 146 GG29– garantierten Grundsätzen vereinbar ist. Zu diesem Zweck muss zunächst genauer untersucht werden, inwieweit sich die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen von früheren und bestehenden verfassungsrechtlichen Regelungen zur Länderneugliederung unterscheiden. Nur dies erlaubt die Klärung der Frage, ob die Existenz einer Vetomacht der von einer Neugliederungsmaßnahme betroffenen Länder und / oder von deren Bevölkerungen einer der Grundsätze ist, die nach Art. 79 Abs. 3 GG einer Verfassungsänderung entzogen sind. 1. Art. 18 WRV Während die Reichsverfassung von 1871 den Bundesstaaten ein Bestandsrecht garantierte,30 begründete Art. 18 der Weimarer Reichsverfassung erstmals eine eindeutige Reichszuständigkeit. Eine Länderneugliederung konnte niemals durch die Länder ohne Mitwirkung des Reichs, wohl aber durch das Reich ohne Mitwirkung der Länder stattfinden.31 Ziel dieser Unitarisierung der Neugliederungskompetenz war neben der Beseitigung der Kleinstaaten vor allem die Beseitigung des territorialen Übergewichts Preußens.32 28 Anders jedoch Leonardy (Fn. 17), S. 91 ff., dessen Vorschläge zur Reform des Art. 29 GG eher den Ablauf von Volksentscheiden und Bundesgesetzen betreffen, ohne die Beteiligung der betroffenen Bevölkerung in Frage zu stellen. 29 BVerfG, 2 BvE 2 / 08, 2 BvE 5 / 08, 2 BvR 1010 / 08, 2 BvR 1022 / 08, 2 BvR 1259 / 08 und 2 BvR 182 / 09 vom 30. 6. 2009 – http: //www.bverfg.de, Rn. 216 ff. 30 Ausführlich Heinz Beckmann, Innerdeutsche Gebietsänderungen nach dem Bonner Grundgesetz, Diss., Kiel 1954, S. 14 ff. 31 Friedrich Giese, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts I, 1930, S. 239. 32 Greulich (Fn. 5), S. 19 f.; Hennings (Fn. 5), S. 32 ff.; Rupert Scholz, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Begr.), Grundgesetz (Loseblatt), Art. 29 Rn. 2 (Bearbeitung 1996);
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Grundsätzlich wäre nach Art. 18 Abs. 1 WRV jedoch eine Neugliederung (einschließlich der Auflösung und „Zusammenlegung“ einzelner Länder) gegen den Willen der betroffenen Länder und ohne dass die betroffene Bevölkerung zu hören gewesen wäre schon durch „verfassungsänderndes Reichsgesetz“ möglich gewesen. Hiermit war ein Reichsgesetz gemeint, das den Anforderungen des Art. 76 WRV entsprach:33 Insoweit war (nur) erforderlich, dass mindestens 2 / 3 der gesetzlichen Mitglieder des Reichstags anwesend waren und davon 2 / 3 der Verfassungsänderung zustimmten. Selbst eine Zustimmung des Reichsrates war (wie bei jeder Verfassungsänderung) nicht erforderlich. Der Reichsrat konnte indes, soweit er mit 2 / 3-Mehrheit Einspruch gegen das verfassungsändernde Gesetz erhoben hatte, vom Reichspräsidenten die Durchführung eines Reichsvolksentscheides verlangen, von dessen Ausgang dann das Inkrafttreten der Verfassungsänderung abhing. Damit entsprechen die heutigen Änderungsvorschläge, die die plebiszitären Elemente des Art. 29 GG abschaffen und eine Neugliederung durch (einfaches oder mit den Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG zu beschließendes) Bundesgesetz ermöglichen wollen, der Regelung des Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV. Tatsächlich ist jedoch auf Grundlage des Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV keine Neugliederung durchgeführt worden. Vielmehr erfolgten alle Neugliederungsmaßnahmen bis 1933 auf Grundlage der Art. 18 Abs. 2 bis 6 WRV.34 Hiernach war eine Neugliederung bereits durch einfaches Reichsgesetz möglich, wenn (1) die betroffenen Länder zustimmten (Art. 18 Abs. 2 WRV) oder (2) die betroffenen Länder zwar nicht zustimmten, aber die Neugliederungsmaßnahme dem durch Abstimmungen festzustellenden Willen der betroffenen Bevölkerung und dem überwiegenden Reichsinteresse entsprach (Art. 18 Abs. 3 bis 6 WRV). Am bedeutsamsten erscheinen insoweit die Bildung des Landes Thüringen und die Vereinigung Coburgs mit Bayern, während den übrigen Neugliederungsmaßnahmen eher untergeordnete Bedeutung zukam und sie teilweise sogar noch zu einer Vergrößerung des Landes Preußen führten.35
ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Art. 18 WRV Hugo Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung, 1922. 33 Nach Gerhard Anschütz (Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 18 Anm. 6) handelte es sich bei derartigen Gesetzen jedoch nicht um verfassungsändernde Gesetze im eigentlichen Sinne, da die durch ein solches Gesetz geschaffene Gebietsveränderung keine Verfassungsgesetzeskraft besaß, sondern im Falle des Art. 18 Abs. 2 bis 6 WRV ihrerseits durch einfaches Gesetz geändert werden konnte; ebenso Preuß (Fn. 32), S. 31. 34 So Anschütz (Fn. 33), Art. 18 Anm. 8; Greulich (Fn. 5), S. 22; anders wohl Giese (Fn. 31), S. 240 mit Fußn. 77. 35 Siehe die umfassende Zusammenstellung der Neugliederungsmaßnahmen von 1918 bis 1945 bei Dietlein (Fn. 5), Art. 29 Rn. 94; Werner Münchheimer, Die Versuche zur Neugestaltung der deutschen Länder von 1919 bis 1945, in: Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten (Hrsg.), Die Bundesländer, 1950, S. 119 (148 ff.).
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2. Ursprungstext des Art. 29 GG Im Gegensatz zu Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV sah Art. 29 GG weder in seiner ursprünglichen36 noch in einer seiner späteren Fassungen eine Neugliederung unmittelbar durch Grundgesetzänderung vor. Dies schließt jedoch nicht aus, eine solche Neugliederung (formal) im Verfahren nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG (ggf. auch ohne Zustimmung der betroffenen Länder und Landesvölker) durchzuführen37 – soweit ein solches Vorgehen mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wäre. Aber auch ohne eine Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV entsprechende Regelung ging Art. 29 GG in seiner ursprünglichen Fassung von einer alleinigen Bundeszuständigkeit in Neugliederungsfragen aus. Die Bestimmung sah daher auch keine Beteiligung der Länder bei der Neugliederung des Bundesgebietes vor. Es war nur ein (einfaches) Bundesgesetz notwendig, das auch nicht der Bestätigung durch Volksentscheid des Gesamtvolkes der betreffenden Länder bedurfte, sondern nur der Bestätigung durch Entscheid der Bevölkerung der Landesgebiete, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden sollte. Im Falle einer Länderfusion bedeutete dies allerdings im Ergebnis dann doch, dass die Bevölkerung aller betroffenen Bundesländer (unabhängig voneinander)38 abstimmen mussten, da sich nach einer Länderfusion die Gebietszugehörigkeit aller Gebiete der betroffenen Länder geändert hätte, soweit sich eine solche Fusion wirklich als Neugründung eines neuen Landes und nicht nur als „Anschluss“ bestimmter Gebiete an ein bereits bestehendes Bundesland dargestellt hätte. Für den Fall des Scheiterns des „lokalen“ Volksentscheids, sah Art. 29 Abs. 4 GG schließlich vor, dass das Neugliederungsgesetz erneut im Bundestag einzubringen und dem Volk im gesamten Bundesgebiet zur Abstimmung zu unterbreiten war. Damit ermöglichte Art. 29 GG i. d. F. von 1949 die Auflösung 36 Die Bestimmung lautete in den hier interessierenden Teilen: (1) Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. (2) [ . . . ]. (3) Nach Annahme des Gesetzes ist in jedem Gebiete, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, der Teil des Gesetzes, der dieses Gebiet betrifft, zum Volksentscheid zu bringen. [ . . . ]. (4) Soweit dabei das Gesetz mindestens in einem Gebietsteil abgelehnt wird, ist es erneut beim Bundestag einzubringen. Nach erneuter Verabschiedung bedarf es insoweit der Annahme durch Volksentscheid im gesamten Bundesgebiete. (5) Bei einem Volksentscheide entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. (6) Das Verfahren regelt ein Bundesgesetz. [ . . . ]. (7) Das Verfahren über jede sonstige Änderung des Gebietsbestandes der Länder regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf. 37 So deutlich Greulich (Fn. 10), S. 214 f.; ebenso Ekhardt / Buscher (Fn. 26), S. 98; vgl. hierzu auch die Überlegungen von Oskar Altenberg (Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, AöR 40 [1921], S. 173 [181 f.]) zur Frage, ob das Reich auch ohne Art. 18 Abs. 1 S. 2 WRV zur Neugliederung mittels verfassungsändernden Gesetzes berechtigt gewesen wäre. 38 Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz – Band III, 2. Aufl. 1974, Art. 29 Anm. 3 b.
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eines Bundeslandes sowohl gegen den Willen der (nicht zu beteiligenden) betroffenen Landtage und Landesregierungen, als auch gegen den Willen der betroffenen Landesvölker, der eben durch einen Bundesvolksentscheid überstimmt werden konnte.39 Diese Regelungen wären ohne das Vorbild des Art. 18 WRV wohl nicht erlassen worden,40 auch wenn sie im Parlamentarischen Rat nicht ohne erhebliche Diskussionen beschlossen wurden.41 Das BVerfG hat unter Verweis auf Art. 29 GG (i. d. F. von 1949) auch angenommen, die Neugliederung des Bundesgebietes sei allein Angelegenheit des Bundes; sie erfolge grundsätzlich durch Bundesgesetz „von Bundes wegen“. Die Neugliederung sei nicht im Interesse der bestehenden Länder vorgesehen, sondern nur im Interesse des Ganzen, so dass die Länder bloße Objekte der von Bundes wegen durchzuführenden Neugliederung seien.42 Gerade mit Blick auf Art. 29 Abs. 4 S. 2 GG i. d. F. von 1949 wies das BVerfG zudem darauf hin, dass es dem Grundgesetz – und damit auch Art. 79 Abs. 3 GG – nicht widerspreche, wenn ein Land gegen den Willen seiner Bevölkerung seine Existenz verliere.43 3. Art. 118 GG Eine „unitarische“ Regelung der Neugliederungsfrage enthält auch der mittlerweile „verbrauchte“ Art. 118 S. 2 GG, der für einen Neugliederungsfall ein vereinfachtes Verfahren vorsah: Sollte eine Vereinbarung zwischen den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern hinsichtlich einer Neugliederung im Südwestraum nicht zu Stande kommen (Art. 118 S. 1 GG), so war diese Neugliederung durch Bundesgesetz zu regeln, das nur eine Volksbefragung vorsehen musste. Insoweit hat das BVerfG zwar noch betont, es entspreche dem demokratischen Prinzip, dass die Staatsbildung ihre Grundlage im Volkswillen finde, und dass es mit diesem Gedanken unvereinbar wäre, wenn der im Ergebnis der Volksbefragung zum Ausdruck gekommene Wille des Volkes für den Bundesgesetzgeber nur unverbindliche Richtschnur sei, von der er auch abweichen könne.44 Es hat aber für zulässig gehalten, dass in dem Gesetz nach Art. 118 S. 2 GG die Bevölkerung eines der betroffenen Länder von der Bevölkerung der anderen betroffenen Länder überstimmt wird.45 Dies war allerdings mit der besonderen Situation des Südwestraums bei In-Kraft-Treten des Grundgesetzes begründet worZur Zweckmäßigkeit dieses Bundesvolksentscheids vgl. Beckmann (Fn. 30), S. 93 f. Hierzu ausführlich Oeter (Fn. 12), S. 120 f.; dem folgend Hinsch (Fn. 5), S. 38. 41 Siehe hierzu vor allem die detaillierte Darstellung von Beckmann (Fn. 30), S. 30 ff. 42 BVerfG, 2 BvG 2 / 58 vom 11. 7. 1961, BVerfGE 13, 54 (73 ff.); dem folgend: BVerfG, 2 BvH 1 / 76 vom 1. 8. 1978, BVerfGE 49, 10 (13). 43 BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (48). 44 BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (41). 45 BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (49). 39 40
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den: Der Verfassungsgeber habe bei Erlass des Grundgesetzes diese Situation als besonders unbefriedigend und zur Neuordnung reif betrachtet, so dass man dementsprechend eine rasche und einfache Neugliederung dieser Länder wollte, die am Widerspruch der betroffenen Länder (bzw. ihrer Bevölkerung) nicht scheitern dürfe.46 Ob Art. 118 GG als allgemeines verfassungsrechtliches Vorbild für die Möglichkeit einer Länderneugliederung auch gegen den Willen der betroffenen Länder und ihrer Bevölkerung herhalten kann, ist daher zweifelhaft: Immerhin haben die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern in zweierlei Hinsicht an der Schaffung des Art. 118 GG, der sich erkennbar mit der Neugliederung im Südwestraum befasste, mitgewirkt: Zum einen waren sie über ihre (von den Landtagen gewählten) Vertreter im Parlamentarischen Rat an der Schaffung des Art. 118 GG beteiligt, zum anderen haben die Landtage dieser Länder nach Art. 144 Abs. 1 GG dem Grundgesetz und damit auch dessen Art. 118 ausdrücklich zugestimmt. Hierin lässt sich durchaus auch eine antizipierte Beteiligung der betroffenen Länder an der durch Art. 118 GG ermöglichten Neugliederung sehen, so dass es nicht unbedingt als Systembruch anzusehen ist, wenn Art. 118 S. 2 GG eine Neugliederung dieser Länder auch ohne ihre Beteiligung bzw. gegen den Willen ihrer Bevölkerung zuließ.47 4. Art. 29 GG in seiner heutigen Fassung Seine heutige Gestalt hat Art. 29 GG im Wesentlichen 1976 erhalten.48 Sie unterscheidet sich von der ursprünglichen Fassung – soweit es hier interessiert – maßgeblich dadurch, dass (1.) die betroffenen Länder (zwingend) zu hören sind, (2.) der das Bundesneugliederungsgesetz bestätigende Volksentscheid (zwingend) dem Gesamtlandesvolk der betroffenen Gebiete (und nicht nur der Bevölkerung dieser Gebiete) zu unterbreiten ist und (3.) die Möglichkeit der Durchsetzung der Neugliederung gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung mittels Bundesvolksentscheides abgeschafft worden ist. Die Eingangs beschriebenen hohen Hürden einer Neugliederung wurden also erst 1976 eingeführt. Aufschlussreich sind die für diese Neuregelung gegebenen Begründungen: Die Abschaffung der Möglichkeit, die Neugliederung gegen den Willen der betroffenen Landesvölker durch Bundesvolksentscheid durchzusetzen, wird damit begründet, eine Überwindung widerstrebender Mehrheiten in den Abstimmungsgebieten durch einen Gesamtvolksentscheid sei in einem „demokratischen Staatswesen nicht unproblematisch“. Auch sei im Interesse einer politischen Befriedung in den Siehe hierzu auch Tripke (Fn. 16), S. 46. Vgl. hierzu auch die Nachweise bei BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (21 ff.). 48 Siehe Fn. 10. 46 47
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neu zu gliedernden Gebieten dem Willen der betroffenen Bevölkerung Vorrang einzuräumen.49 Die Notwendigkeit, das Neugliederungsgesetz dem gesamten Landesvolk der betroffenen Länder zur Abstimmung zu unterbreiten, wird damit begründet, dass sich seit dem Krieg mittlerweile (also bereits bis 1976) ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt habe, dass es ausschließe, den Teilen der Landesbevölkerung, die nicht von der Maßnahme betroffen seien, kein Mitspracherecht einzuräumen.50 Das Anhörungsrecht wurde damit begründet, „in einem Bundesstaat“ sei den Ländern das Recht zu garantieren, in Fragen, die ihre Existenz berühren, ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen.51 Der verfassungsändernde Gesetzgeber begründet also seine Verfassungsänderung im Wesentlichen damit, dass der geänderte Verfassungstext den von Art. 20 i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GG garantierten Prinzipien näher komme als der ursprüngliche Verfassungstext.52 Dennoch ist in Art. 29 Abs. 7 GG ein Fall bestehen geblieben, in dem der Bund allein abschließend (ohne Notwendigkeit eines Volksentscheides) durch einfaches Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates über eine Neugliederung entscheiden zu können scheint, nämlich der Fall „regionaler“ Neugliederung bezogen auf Gebiete, die nicht mehr als 50.000 (bis 1994: 10.000 Einwohner53) haben.54 Diese Möglichkeit besteht aber nur alternativ zu einer Regelung der betroffenen Länder durch Staatsvertrag (ohne Mitwirkung des Bundes). Warum an dieser Kompetenz des Bundes 1976 festgehalten wurde, ist nicht ganz ersichtlich. Trotz des „offenen Wortlauts“ des Art. 29 Abs. 7 GG wird man aus dem Gesamtanliegen der Verfassungsänderung von 1976 jedoch zu schließen haben, dass diese Bundeskompetenz allenfalls subsidiär greift und jedenfalls dann nicht ausgeübt werden kann, wenn die betroffenen Länder sich bereits hinsichtlich des „Ob“ einer Grenzberichtigung nicht einigen können.55
Begründung der Bundesregierung, BT-Drs. 7 / 4958, S. 7. Begründung der Bundesregierung, BT-Drs. 7 / 4958, S. 8. 51 Rechtsausschuss des Bundestages, BT-Drs. 7 / 5491, S. 4. 52 Ähnlich auch die Bewertung von Ingolf Pernice, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz – Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 29 Rn. 15. 53 Siehe Fn. 10. 54 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift Scholz (Fn. 32), Art. 29 Rn. 107 ff. 55 In diese Richtung auch Scholz (Fn. 32), Art. 29 Rn. 109 f.; a. A. (beide Alternativen stehen gleichberechtigt nebeneinander, allenfalls verfassungspolitische Subsidiarität): Dietlein (Fn. 5), Art. 29 Rn. 80; Wilfried Erbguth, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 29 Rn. 64; Kunig (Fn. 11), Art. 29 Rn. 52; Klaus-Georg Meyer-Teschendorf, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Begr. und Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz – Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 29 Rn. 61; Pernice (Fn. 52) Art. 29 Rn. 48. 49 50
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IV. Bedeutung des Ursprungstextes des Grundgesetzes für die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG Eine Abschaffung der Vetopositionen der betroffenen Länder und Landesvölker durch (erneute) Änderung des Art. 29 GG würde damit eine Rückkehr zu den „unitarischen“ Neugliederungsgrundsätzen des Art. 29 GG in seiner ursprünglichen Fassung bedeuten. Da Art. 79 Abs. 3 GG jedoch von vornherein nur für Grundgesetzänderungsgesetze relevant ist, nicht aber für die Bestimmungen, die bereits im Ursprungstext des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 enthalten waren,56 ist für die Frage, ob eine solche Rückkehr mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist, als Vorfrage zu klären, ob und welche Bedeutung dem Ursprungstext des Grundgesetzes bei der Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG zukommt. Kann Art. 79 Abs. 3 GG einer Verfassungsänderung entgegenstehen, die einen Zustand herstellt, der inhaltlich im Wesentlichen solchen Regelungen des Grundgesetzes entspricht, die in seiner ursprünglichen Fassung enthalten gewesen waren, zwischenzeitlich jedoch geändert worden sind? Hierzu findet sich in der Literatur zu Art. 79 Abs. 3 GG recht wenig.57 Plausibel erscheinen jedoch die Überlegungen von Karl-Eberhard Hain:58 Hiernach ist zu vermuten, dass der Verfassungsgeber die Einzelnormen des Grundgesetzes in einen konsistenten Zusammenhang stellen wollte. Daher seien grundsätzlich alle Einzelnormen des Ursprungstextes des Grundgesetzes als zulässige Konkretisierungen der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze anzusehen – ohne dass dies ausschließt, dass diese Detailnormen „im Lichte“ dieser Grundsätze (ggf. restriktiv) auszulegen sein können.59 Daher könnten bei der Frage, ob eine Verfassungsänderung mit den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar sei, die im ursprünglichen Verfassungstext enthaltenen Detailnormen insoweit als Vergleichsmaßstäbe herangezogen werden, als für sie die Vermutung besteht, dass sie zumindest eine diesen Grundsätzen entsprechende Regelung bestimmter Einzelfragen darstellen.60 56 Ausführlich Karl-Eberhard Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 73 ff.; ferner z. B. Horst Dreier, in: ders. (Fn. 52), Art. 79 III Rn. 14 m. w. N. 57 Die Frage andeutungsweise verneinend: Hans-Ulrich Evers, in: Dolzer / Vogel (Fn. 5), Art. 79 Abs. 3 Rn. 90 (Bearbeitung 1982); offen gelassen bei Michael Sachs, in: ders. (Fn. 55), Art. 79 Rn. 28. 58 Hain (Fn. 56), S. 172 ff.; ders., in: von Mangoldt / Klein / Starck (Fn. 55), Art. 79 Rn. 57 ff. 59 So gerade in Zusammenhang mit Neugliederungsmaßnahmen nach Art. 118 GG: BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (32). 60 Diese historische Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG erlaubt aber ausschließlich eine Argumentation dahingehend, dass bestimmte Regelungen jedenfalls zulässig sind. Fehlerhaft ist demgegenüber, wenn aus dem Umstand, dass bestimmte Normen, auf die Art. 79 Abs. 3 GG nicht Bezug nimmt, von Anfang an im Grundgesetz enthalten waren, geschlossen wird, dass diese die einzig denkbare Konkretisierung der Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG darstellen.
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Allerdings unterliegt dieser „Auslegungsgrundsatz“ einer wichtigen Einschränkung:61 Er gilt nur und solange sich der tatsächliche Hintergrund, der Anlass für die ursprüngliche Regelung war, nicht maßgeblich von der Situation unterscheidet, die zum Zeitpunkt der Verfassungsänderung besteht. Daher ist es möglich, dass eine im Ursprungstext des Grundgesetzes vorgenommene Konkretisierung der Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG unter geänderten tatsächlichen Bedingungen (ggf. auch als Folge anderer Verfassungsänderungen) nicht (mehr) mit diesen Grundsätzen in Einklang zu bringen ist, weil die durch die Verfassungsänderung geschaffene Norm heute in einem ganz anderen Kontext steht als die vergleichbare Norm des Ursprungstextes des Grundgesetzes.
V. Vereinbarkeit einer „Länderneugliederung von oben“ mit Art. 79 Abs. 3 GG? Vor diesem Hintergrund lässt sich klären, ob die vorgeschlagenen Änderungen des Art. 29 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar wären. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, ob die Beseitigung der plebiszitären Elemente des Art. 29 GG nicht bereits i. S. des Art. 79 Abs. 3 Alt. 4 i. V. mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 GG das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität berührt (1 und 2). Daneben stellt sich vor allem die Frage der Vereinbarkeit derartiger Reformpläne mit dem Bundesstaatsprinzip, dessen „Unberührtheit“ sowohl von Art. 79 Abs. 3 Alt. 1 GG (Gliederung des Bundes in Länder) als auch von Art. 79 Abs. 3 Alt. 2 GG (Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung) und von Art. 79 Abs. 3 Alt. 4 i. V. mit Art. 20 Abs. 1 GG garantiert wird, wobei hier die Frage offen gelassen werden soll, ob die Mehrfachverbürgungen der Bundesstaatlichkeit in Art. 79 Abs. 3 GG „pleonastisch“ sind62 oder ob sie sich auf voneinander trennbare Aspekte beziehen:63 Denn es herrscht jedenfalls im Ergebnis Einigkeit, dass Art. 79 Abs. 3 GG neben einer „formalen“ Gliederung des Bundes in Länder (3) auch die hier vor allem bedeutsame „Eigenstaatlichkeit“ dieser Länder für „unberührbar“ erklärt (4).64 1. Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 Alt. 4 GG i. V. mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG? Dass eine Abschaffung der direktdemokratischen Elemente des Art. 29 GG mit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar wäre und damit diesen Hain (Fn. 56), S. 172 ff.; ders., (Fn. 58), Art. 79 Rn. 57 ff. So Josef Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248 (250); dem folgend etwa Hain (Fn. 58), Art. 79 Rn. 119. 63 So wohl Dreier (Fn. 56), Art. 79 III Rn. 47. 64 Vgl. Sachs (Fn. 57), Art. 79 Rn. 62. 61 62
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Grundsatz nicht i. S. des Art. 79 Abs. 3 GG „berühren“ würde, ist letztlich unproblematisch:65 Etwas anderes ließe sich angesichts der deutlichen Entscheidung des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie nur unter der Prämisse annehmen, unveränderlicher Ausdruck des Demokratieprinzips i. S. des Grundgesetzes sei eben auch, dass bei Neugliederungsmaßnahmen die betreffenden Landesvölker unmittelbar zu beteiligen wären. Zutreffend wäre insoweit zwar, dass derartige Volksentscheide jedenfalls in Zusammenhang mit Neugliederungsmaßnahmen trotz der grundsätzlichen Entscheidung des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie eine zulässige Konkretisierung des Demokratieprinzips darstellen (s. o. IV). Ebenso wie es aber als kaum vertretbar erscheint, aus der grundsätzlichen Entscheidung des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie zu schließen, die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene auch jenseits der Neugliederungsfälle sei durch Art. 79 Abs. 3 GG ausgeschlossen,66 lässt sich aus der grundgesetzlichen Entscheidung für direktdemokratische Elemente bei Neugliederungsmaßnahmen schließen, dies sei die einzige Form der Demokratieausgestaltung bei Neugliederungsmaßnahmen, die vor Art. 79 Abs. 3 GG Bestand hat.67 Ob und inwieweit der Wille der betroffenen Landesvölker bei Neugliederungsmaßnahmen zu beachten ist, ist aus der Sicht des Grundgesetzes allein eine Frage des Bundesstaatsprinzips (s. u. V 4), nicht des Demokratieprinzips. 2. Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 Alt. 4 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG? Angesichts dessen scheint die Überlegung, ob die Beseitigung der plebiszitären Elemente des Art. 29 GG nicht die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 Alt. 4 i. V. mit Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG berührt, vielleicht als abwegig. Eine solche Verfassungsänderung würde jedoch dazu führen, dass im Text des Grundgesetzes kein Fall mehr angesprochen würde, in dem die Staatsgewalt vom Volke durch Abstimmung ausgeübt würde, obwohl nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG die Staatsgewalt vom Volke eben auch durch Abstimmungen ausgeübt wird,68 und Art. 79 Abs. 3 GG damit eben auch solche Abstimmungen garantiert.69 Art. 79 Abs. 3 i. V. mit Art. 20 Greulich (Fn. 5), S. 214. Vgl. hierzu nur Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz, JuS 2009, 777 (781 ff. m. w. N.). 67 Scholz (Fn. 32), Art. 29 Rn. 21 mit Fn. 3. 68 Diese Überlegung greift allerdings nur soweit der ganz herrschenden Auffassung gefolgt wird, nach der Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene nur durch eine Grundgesetzänderung eingeführt werden können, was hier als zutreffend unterstellt werden soll; s. hierzu nur Kühling (Fn. 66), S. 778 m. w. N. 69 Das genannte Problem entschärft sich kaum, wenn angenommen wird, die in Art. 29 (und Art. 118, 118a GG) geregelten Plebiszite würden gar keinen Anwendungsfall für Abstimmungen i. S. des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG darstellen, weil dort keine Entscheidung des gesamten Bundesvolks (als Träger der Volkssouveränität), sondern nur eine Abstimmung 65 66
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Abs. 2 S. 2 GG die Garantie zu entnehmen, dass zumindest irgendwo im Grundgesetz eine „Abstimmung“ über „irgendetwas“ vorgesehen sein müsse, ist aber letztlich sinnlos. Daher geht die wohl herrschende Meinung davon aus, dass die Garantie von „Abstimmungen“ i. S. des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG dem verfassungsändernden Gesetzgeber zwar nicht verbietet, direkte Demokratie auf Bundesebene vollständig auszuschließen, dass er aber eine rein repräsentative Demokratie nicht auch den Ländern (z. B. durch Änderung des Art. 28 Abs. 1 GG) vorschreiben darf.70 Die plebiszitären Elemente des Art. 29 GG werden damit auch durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nicht garantiert.71 3. Verstoß gegen die „formale“ Gliederung des Bundes in Länder? Relativ unproblematisch ist auch noch die Feststellung, dass eine Erleichterung des Neugliederungsverfahrens nach Art. 29 GG die durch Art. 79 Abs. 3 Alt. 3 GG garantierte grundsätzliche Gliederung des Bundes in Länder nicht berühren würde, da hierdurch der Bundesstaat jedenfalls nicht insgesamt aufgehoben würde. Art. 79 Abs. 3 GG garantiert jedoch nur die Existenz einer föderalen Gliederung schlechthin, nicht aber die Existenz der derzeit bestehenden Länder, was das BVerfG (letztlich unter Anwendung der bei IV geschilderten Grundsätze) unter Rückgriff auf Art. 29 GG begründet hat.72 Es handelt sich damit bei Art. 79 Abs. 3 Alt. 1 GG letztlich (nur) um eine institutionelle Garantie, dass es mehrere Bundesländer mit Staatscharakter geben muss, jedoch nicht um eine Bestandsgarantie der jeweiligen Bundesländer.73 Dementsprechend können auch Verfassungsänderungen, die eine Neugliederung erleichtern, diese institutionelle Garantie noch nicht berühren. Eine Garantie der bestehenden Bundesländer lässt sich auch nicht mittels eines Rückgriffs auf die Aufzählung der bestehenden Bundesländer in Satz 2 der Präambel begründen. Hiermit soll (entsprechend Art. 23 S. 1 GG i. d. F. von 1949) nur bestimmter Bevölkerungsteile vorgesehen sei (so Dreier [Fn. 56], Art. 20 [Demokratie] Rn. 104; Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Fn. 55], Art. 20 Rn. 161]). Insoweit wäre zu fragen, ob nicht bereits die Abschaffung des Bundesvolksentscheids des früheren Art. 29 Abs. 4 GG (s. o. III 2) durch die Verfassungsänderung von 1976 (s. o. III 4) verfassungswidrig gewesen sei, weil diese dann eben zur Abschaffung der einzigen „Abstimmung“ auf Bundesebene i. S. des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (Dreier [Fn. 56], Fn. 310 zu Art. 20 [Demokratie] Rn. 104) geführt habe. 70 So wohl Dreier (Fn. 56), Art. 79 III Rn. 40; Herdegen, in: Maunz / Dürig (Fn. 32), Art. 79 Rn. 127 (Bearbeitung 2008); Sachs (Fn. 57), Art. 79 Rn. 68. 71 Anders wohl Karl H. Neumayer, Die Neugliederung des Bundesgebiets und das Land Baden, 1955, S. 7 mit Fn. 3; hiergegen Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz II, 2. Aufl. 1964, Art. 29 Anm. IV 3 f. 72 So bereits BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (47); BVerfG, 2 BvP 1 / 56 vom 20. 5. 1956, BVerfGE 5, 34 (38); ferner z. B. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland I, 2. Aufl. 1984, S. 19; Würtenberger (Fn. 12), § 132 Rn. 26. 73 Würtenberger (Fn. 12), § 132 Rn. 26.
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der Geltungsbereich des Grundgesetzes, das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, umschrieben, nicht aber die Existenz der dort genannten Bundesländer – über Art. 79 Abs. 3 und Art. 29 GG hinaus – garantiert werden.74 Diese Aufzählung in der Präambel könnte damit allenfalls für die Frage von Bedeutung sein, ob eine Länderneugliederung auf Grundlage eines einfachen Gesetzes erst vollzogen werden kann, wenn aufgrund eines verfassungsändernden Gesetzes auch die Präambel geändert wurde. Sie kann aber nicht einer Länderneugliederung entgegenstehen, die ihre Grundlage im Grundgesetz – eben in Art. 29 GG – selbst findet, sofern dieses Grundgesetz für die Länderneugliederung ein einfaches (Bundes-)Gesetz ausreichen lässt.75 4. Verstoß gegen das Gebot der „Eigenstaatlichkeit“ der Länder? Wie bereits erwähnt herrscht Einigkeit darüber, dass Art. 79 Abs. 3 GG als Ausdruck des Bundesstaatsprinzips auch die sog. „Eigenstaatlichkeit“ der Länder schützt, wenn auch verschiedene Wege zur Herleitung dieses Schutzes beschritten werden.76 Eigenstaatlichkeit der Länder bedeutet, dass die Länder nicht zu bloßen Körperschaften „am Rande der Staatlichkeit“ oder zu „höchstpotenzierten Gebietskörperschaften“ in einem dezentralisierten Einheitsstaat herabsinken dürfen,77 sondern mit eigener – wenn auch aufgrund der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gegenständlich beschränkter – nicht vom Bund abgeleiteter staatlicher Hoheitsmacht ausgestattet sein müssen.78 Eine verfassungsrechtliche Regelung, die eine Neugliederung der Bundesländer vorsieht, ohne dies in irgendeiner Form von einer Zustimmung der betroffenen Länder und / oder des betroffenen Landesvolks abhängig zu machen, gerät hiermit in Konflikt: Sie würde dem Bund ermöglichen, das Staatsgebiet der betroffenen Länder zu ändern bzw. bestimmte Länder aufzulösen, ohne deren Staatsvolk (durch einen Volksentscheid) oder deren Staatsgewalt (durch eine Zustimmung der betroffenen Landtage / Landesregierungen) hieran zu beteiligen. 79 Insbesondere die von einer Länderfusion betroffenen Länder würden damit letztlich kraft Hoheitsmacht des Bundes aufgelöst und das neu gegründete Land würde seine Existenz ausschließ74 Scholz, in: Maunz / Dürig (Fn. 32), Art. 23 a. F. Rn. 71 (Bearbeitung 1996); ausführlich zur Problematik der Verschiebung der Länderaufzählung von Art. 23 S. 1 a. F. GG in die Präambel durch Art. 4 des Einigungsvertrages: Hans Meyer, Das ramponierte Grundgesetz, KritV 1993, S. 399 (418 ff.). 75 Kunig (Fn. 11), Art. 29 Rn. 26. 76 Siehe oben bei Fn. 62. 77 Siehe nur BVerfG, 2 BvF 1 / 71 vom 26. 7. 1973, BVerfGE 34, 9 (19). 78 BVerfG, 2 BvG 1 / 51 vom 23. 10. 1951, BVerfGE 1, 14 (34). 79 Zur Geltung der Drei-Elemente-Lehre auch für die Staatlichkeit der Bundesländer: Matthias Herdegen, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 12), § 129 Rn. 11; zum Staatsvolk in den Ländern Michael Sachs, Das Staatsvolk in den Ländern, AöR 108 (1983), S. 68 (69 ff.); Stern (Fn. 72), S. 669.
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lich der Hoheitsmacht des Bundes verdanken. Daher erscheint es – entgegen der wohl einhelligen Meinung – kaum als selbstverständlich, dass die Möglichkeit einer einseitig vom Bund angeordneten Auflösung eines Landes (ggf. auch gegen den Willen seiner Staatsorgane und / oder seines Staatsvolks) dessen Eigenstaatlichkeit nicht berühren können soll.80 Eine solche Berührung wird jedenfalls nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die Frage der Länderneugliederung in der Verfassung selbst geregelt ist und nicht (wie bei nicht-staatlichen Gebietskörperschaften) dem Belieben des einfachen Gesetzgebers überantwortet wird. Wird eine Regelung der Länderneugliederung in der Bundesverfassung für notwendig erachtet, mag man hierin zwar eine gewisse Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der Länder sehen81 – dies ändert aber nichts daran, dass ein formell verfassungsrechtlich vorgesehenes Neugliederungsverfahren materiell in einer Weise ausgestaltet sein kann, die der Eigenstaatlichkeit der betroffenen Länder widerspricht. Dies ließe sich dann auch nicht mit dem Argument wegdiskutieren, eine Möglichkeit des Bundes, Länder auch gegen ihren Willen und den Willen ihrer Bevölkerung aufzulösen, sei von Anfang an im Grundgesetz enthalten gewesen (s. o. III 2), entspreche auch der deutschen Verfassungstradition seit der Weimarer Reichsverfassung (s. o. III 1) und erscheine deshalb als zulässige Konkretisierung der in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätze (s. o. IV). Auch die Verfassungstradition macht eine alleinige Neugliederungskompetenz des Bundes nicht selbst zu einem Ausdruck des Bundesstaatsprinzips,82 sondern schränkt es ein.83 Sollen Ausnahmen von den Garantien des Art. 79 Abs. 3 GG (wieder) eingeführt werden, bedarf dies daher einer besonderen Rechtfertigung. Die geschützten Grundsätze dürfen unter ihrer Beachtung im Allgemeinen allenfalls für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden;84 andernfalls kann kaum von einem „Unberührt-Bleiben“ i. S. des Art. 79 Abs. 3 GG gesprochen werden. Insoweit zeigt sich indes, dass sich die heutige Situation von der Situation, wie sie 1918 oder 1949 bestanden hat (und die damals eine „Zentralisierung“ der Neugliederungskompetenz gerechtfertigt haben mag), grundsätzlich unterscheidet: 1918 war eine „Unitarisierung“ der Neugliederungskompetenz evident notwendig, um die völlig unausgewogene Struktur der Bundesstaaten (einschließlich zahl80 Wie hier aber auch Scholz (Fn. 32), Art. 29 Rn. 15; ähnlich ebenfalls Hans Nawiasky, Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 73. 81 So Beckmann (Fn. 30), S. 135 f.; ebenso bereits für Art. 18 WRV Altenberg (Fn. 37), S. 181 f. 82 So offenbar Greulich (Fn. 5), S. 210 ff. 83 Deutlich insoweit Pernice (Fn. 52), Art. 29 Rn. 13. 84 BVerfG, 2 BvF 1 / 69, 2 BvR 629 / 68 und 308 / 69 vom 15. 12. 1970, BVerfGE 30, 1 (24); ähnlich BVerfG, 1 BvR 1170, 1174, 1175 / 90 vom 23. 4. 1991, BVerfGE 84, 90 (121); BVerfG, 2 BvR 2134, 2159 / 92 vom 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155 (208 f.); wohl auch Dreier (Fn. 56), Art. 79 III Rn. 19; Sachs (Fn. 55), Art. 79 Rn. 36.
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reicher En- und Exklaven) des früheren Kaiserreichs zu beseitigen, die sich vor allem in dem extremen Übergewicht Preußens niederschlug (s. o. III 1) und letztlich ein Erbe der Monarchie mit ihren rein über die Dynastie vermittelten Territorialstrukturen war. Von einer derartig heterogenen Struktur ist die Länderstruktur der heutigen Bundesrepublik weit entfernt, die Unterschiede der heutigen Bundesländer in Größe und Wirtschaftskraft unterscheidet sich jedenfalls nicht maßgeblich von den „Größenunterschieden“ in anderen Föderalstaaten.85 Auch die tatsächlichen Rahmenbedingungen von 1949 waren völlig andere als die heutigen: 1949 mochte es (wenigstens in Teilen) angemessen gewesen sein, die damaligen aus den Besatzungszonen hervorgegangenen „deutschen Länder“ weitgehend als historische Zufallsprodukte anzusehen, deren Grenzziehungen eher unter militärstrategischen, denn historischen oder sozioökonomischen Grundsätzen erfolgte.86 Dementsprechend mochte es ebenfalls gerechtfertigt gewesen sein, etwaige Widerstände in den Ländern gegen eine Neugliederung nach den Kriterien des Art. 29 Abs. 1 GG eher als Ursupation einer historisch „zufällig“ erlangten Machtposition denn als legitimen Ausdruck von Landesstaatsgewalt anzusehen.87 Nachdem die nur „provisorische“ Gliederung des alten Bundesgebiets jedoch mehrere Generationen überdauert hat und selbst die erst 1990 (wieder-)gegründeten neuen Länder eine immerhin 20jährige Tradition88 (und zudem auf eine Vor-DDRTradition89) verweisen können, wird aber erkennbar, dass die Bundesländer das Phänomen ihrer zunächst „zufälligen Gründung“ letztlich mit der Zufälligkeit jeder Staatsbildung teilen.90 Daher lässt sich der Wunsch nach einem Festhalten an den vorhandenen Ländern (so er denn besteht) kaum nur als „emotionaler“ Aspekt auffassen, dem die „rationalen“ übrigen Neugliederungskriterien letztlich als „maßgeblicher“ gegenübergestellt werden können.91 Dieser Wunsch wäre letztlich Ausdruck gelungener Integrationsleistung der betroffenen Länder, die sich so ins Bewusstsein der Bevölkerung verankert und damit selbst eine demokratische Identität geschaffen haben92 – und darum kein Grund, ihn für unbeachtlich zu erklären. Heute wird daher als rechtfertigender Grund, dem Bund durch Verfassungsänderung das Letztentscheidungsrecht bei Neugliederungsfragen zuzuweisen, jedoch 85 S. nur Ferdinand Kirchhof, Den zweiten Schritt wagen! – Die Novellierung der Finanzverfassung als notwendige zweite Stufe der Föderalismusreform, ZG 2006, S. 288 (298); Pernice (Fn. 55), Art. 29 Rn. 10. 86 Ausführlich Dietlein (Fn. 5), Art. 29 Rn. 6; Hennings (Fn. 5), S. 43 ff.; zweifelnd insoweit Hinsch (Fn. 5), S. 38. 87 Vgl. hierzu auch Oeter (Fn. 12), S. 575. 88 Siehe zur Identitätsfindung der neuen Bundesländer Michael Kilian, Gefährdete Konsolidierung, DVBl. 2009, 1137 ff. 89 Zu den Hintergründen der Länderneubildung in der früheren DDR: Greulich (Fn. 5), S. 140 ff.; zur Bildung der Länder in der SBZ Dietlein (Fn. 5), Art. 29 Rn. 7. 90 Isensee (Fn. 62), S. 274 ff. 91 So aber Greulich (Fn. 5), S. 186. 92 Hinsch (Fn. 5), S. 63.
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vor allem vorgebracht, anders sei eine für die Modernisierung des Bundesstaates erforderliche Neugliederung entsprechend den Neugliederungszielen des Art. 29 Abs. 1 GG (von denen vor allem die sozio-ökonomischen und raumordnerischen Kriterien [„Größe und Leistungsfähigkeit“] hervorgehoben werden) politisch nicht durchsetzbar.93 Damit wird letztlich der politische Wille, eine bestimmte Staatsreformidee – ein „Patentrezept für einen funktionsfähigen Föderalismus“94 – durchzusetzen, als ausreichender Grund für eine Einschränkung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Länderstaatlichkeit angesehen. Die Durchsetzung einer Neugliederung entsprechend den (in einer bestimmten Weise verstandenen) Zielen des Art. 29 Abs. 1 GG wird damit als Wert angesehen, der den Werten der Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG gleichkommt. Dem widerspricht allerdings bereits, dass die Durchsetzbarkeit einer Neugliederung der Bundesländer (und damit auch die Auflösung einzelner Länder) nach den Kriterien des Art. 29 Abs. 1 GG vielleicht verfassungspolitisch wünschenswert wäre, jedoch sicher nicht zu den Bestandteilen des Grundgesetzes gehört, die nach Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfest sind. Der verfassungsändernde Gesetzgeber könnte also die Neugliederungsfrage auch vollständig den Ländern überlassen und Art. 29 GG ersatzlos streichen oder in eine Vorschrift verwandeln, die die Möglichkeit der Neugliederung durch Staatsverträge der betroffenen Länder (deklaratorisch) feststellt.95 Vor allem ist aber umstritten, ob die Neugliederung des Bundesgebiets entsprechend den Vorstellungen der Neugliederungsbefürworter tatsächlich notwendige Voraussetzung für einen „funktionsfähigen Föderalismus“ ist.96 Diese Diskussion, die weniger rechtlicher als (verfassungs-)politischer Natur ist, soll und kann hier nicht geführt werden, zumal auch keine Einigkeit darüber bestehen dürfte, unter welchen Voraussetzungen der Föderalismus der Bundesrepublik als „funktionsfähig“ angesehen werden kann und ob zur Herstellung gerade dieser „Funktionsfähigkeit“ eine Neugliederung erforderlich ist. Die bloße Existenz dieser Diskussionen zeigt jedoch, dass es weder „Patentrezepte“ für eine Bundesstaatsreform im Allgemeinen noch für eine optimale Gliederung des Bundesgebiets im Besonderen zu geben scheint. Daher kann eine bestimmte Vorstellung von einer solchen optimalen Gliederung auch kaum als so selbstverständlich im gesamtstaatlichen Interesse liegend angesehen werden, dass zu ihrer Durchsetzung selbst eine Einschränkung der Eigenstaatlichkeit der Länder gerechtfertigt werden kann. So durchgehend dementsprechend auch die in Fn. 25 bis 27 Genannten. So Greulich (Fn. 5), S. 181 ff. 95 Hinsch (Fn. 5), S. 84 f. 96 Kritisch gegenüber Neugliederungsforderungen aus rechtswissenschaftlicher Sicht etwa Hans Peter Bull, Föderalismusreform auf falscher Fährte, Recht und Politik 2007, 67 (70 f.); Hinsch (Fn. 5), S. 128 ff.; F. Kirchhof (Fn. 85), S. 297 f.; Oeter (Fn. 12), S. 574 ff.; Joachim Wieland, Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, KritV 2008, S. 117 (119). 93 94
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Damit wird nicht geleugnet, dass die Neugliederungsfrage auch eine Bundesangelegenheit sein muss, weil sie neben Fragen der territorialen Gliederung des Bundes auch unmittelbare Auswirkungen auf die interne Verteilung von Staatsgewalt und Staatsfinanzen hat. Nicht die grundsätzliche Mitwirkung des Bundes bei Neugliederungsfragen kann daher in Konflikt mit dem Bundesstaatsprinzip treten, wohl aber eine Regelung, nach der sich der Bund als Träger der „gesamtstaatlichen Belange“ gegenüber den betroffenen Ländern vorrangig durchsetzen kann.97 Zu Recht bewertet Edzard Schmidt-Jortzig daher die Aufgabe der Neugliederung als Kondominium, zu dem sowohl Bund und Länder zusammenfinden müssen.98 Die Vorstellung eines solchen Kondominiums schließt aber die einseitige Durchsetzung bestimmter Neugliederungsvorstellungen seitens des Bundes gegen den Willen der betroffenen Länder und Landesbevölkerungen aus.
VI. Fazit Im Ergebnis würde daher die Wiedereinführung der Kompetenz des Bundes, eine „Neugliederung von oben“ nach den Vorbildern des Art. 18 WRV oder des Art. 29 i. d. F. des Ursprungstextes des Grundgesetzes durchzusetzen, den von Art. 79 Abs. 3 GG garantierten Grundsatz der Eigenstaatlichkeit der Länder unzulässig „berühren“. Eine Neugliederung des Bundesgebiets auch unter Auflösung der derzeit bestehenden Länder ist daher zwar (nach wie vor) mit den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar. Den derzeit vorgegebenen Weg zu diesem Ziel durch Änderung des Art. 29 GG in der Weise abzukürzen, dass die zur Zeit bestehende Vetomacht der betroffenen Länder und Landesbevölkerungen durch Schaffung einer Letztentscheidungskompetenz des Bundes überbrückt wird, ist dem verfassungsändernden Gesetzgeber jedoch nach Art. 79 Abs. 3 GG verwehrt. Die sich aus dem heutigen Art. 29 GG ergebende faktische Bestandsgarantie der bestehenden Bundesländer – und damit auch des Saarlandes – lässt sich daher in verfassungskonformer Weise kaum beseitigen. Wer eine Neugliederung für sinnvoll hält, wird daher andere Wege finden müssen, die Neugliederungsgegner zu überzeugen. Vorgeschlagen werden etwa eine Stärkung der Verschuldungsverantwortung und der Steuerautonomie der Länder sowie die Nichtberücksichtigung besonderer Lasten der Kleinheit im Finanzausgleich, um so eine Kostentransparenz zu erhöhen und damit auch die Überwindung überkommener Strukturen nahe zu legen.99 Allerdings erscheint die politische Wirksamkeit solcher Maßnahmen, die eine erneute (nunmehr grundlegende) Änderung der Finanzverfassung voraussetzen würden, als schwer vorhersehbar: Sie können auch eine die Neugliederungsidee ablehnende 97 Hinsch ([Fn. 5], S. 85 f.) spricht von einer „systemwidrigen Besonderheit des Grundgesetzes“. 98 Edzard Schmidt-Jortzig, in: Schmidt-Jortzig / Voscherau (Fn. 15), S. 119 (121 ff.). 99 S. z. B. das Szenario von Johanna Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), S. 277 (317 f.) m. w. N.
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„Jetzt-erst-recht-Haltung“ bei der betroffenen Bevölkerung auslösen. Ob dies auch im Saarland der Fall sein würde, soll hier dahingestellt bleiben.100
100 Vgl. etwa die (nur auf Eigenerfahrung begründete, nicht empirisch belegte) Charakterisierung des saarländischen Selbstverständnisses von Isensee (Fn. 62), S. 275: „Das oktroyierte politische Eigenleben, die zweimal passiv erlebte und zweimal für Deutschland aktiv betätigte Geschichte, der time-lag gegenüber der politisch-sozialen Entwicklung in der übrigen Bundesrepublik: alle diese Umstände haben die Bevölkerung zu einem eigenen saarländischen Landesbewußtsein integriert, dem freilich ein gewisser Underdog-Komplex und das Ressentiment des Zu-spät-und-zu-kurz-Gekommenseins beigemischt sind.“
Kulturgüterschutz
Neuer Schutz archäologischer Kulturgüter Von Michael Anton* I. Einleitung Als der Jubilar Prof. Wilfried Fiedler im Dezember 2008 meine Dissertation zum „Guten Glauben im internationalen Kunsthandel“ zur Begutachtung entgegennahm, machte es mich sehr stolz, dass meine Arbeit von einer weit über die Grenzen Deutschlands anerkannten Koryphäe des Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts zur Prüfung angenommen wurde. An dieser Stelle sei ihm für die Begutachtung in Rekordzeit und für die Teilnahme an meiner Disputation im Januar 2009 nochmals herzlichst gedankt! Dass die Lektüre meiner Arbeit einem Kenner der Materie wie Herrn Prof. Wilfried Fiedler „Freude bereitete“, war für mich ein großes Lob! Die vom Jubilar 1986 an der Universität des Saarlandes gegründete „Forschungsstelle Internationaler Kulturgüterschutz“ widmet sich der Bewahrung und Erschließung des „kulturellen Erbes“ der Völker in der internationalen Zusammenarbeit und sucht dabei unter anderem nach Kriterien, die Kulturgüter (Kunstgegenstände, archäologische Funde und Archive) einem bestimmten Volk, Staat oder Territorium zuordnen. Es mag daher adäquat sein, dem Jubilar zum 70. Geburtstag eine Arbeit mit dem ureigenen Gegenstand der „Forschungsstelle“ zu widmen. Der illegale Handel mit gestohlenen und unrechtmäßig aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführten archäologischen Objekten aus Raubgrabungen macht heute einen großen Teil des kulturellen Schwarzmarktes aus und zeitigt desaströse Auswirkungen: Bedeutsame Kunst- und Kulturgüter verkörpern aus ethnologischer Sicht die kulturellen Leistungen menschlichen Daseins und erwachsen so zu wichtigen Symbolen des nationalen Bewusstseins der Menschheit insgesamt, einer Nation, teilweise auch nur eines Volkes, einer Gruppe, einer religiösen Vereinigung oder auch nur eines einzelnen Individuums. Gleichzeitig können Kunst- und Kulturgüter aber auch die Identität eines Staates, eines Territoriums, einer Region bzw. auch nur eines bestimmten Landstriches symbolisieren. Kulturgüter, und dabei in besonderem Maße auch archäologische Objekte, erfüllen so wichtige gesellschaftliche Funktionen, indem sie aufgrund ihrer Einzigartigkeit „unwiederbringliche * Dr., LLM (Johannesburg), Dipl. Jur. (Universität des Saarlandes), Wissenschaftlicher Assistent und Habilitand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes.
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Zeugnisse geistiger und kultureller Vergangenheit“1 darstellen, durch ihren ästhetischen Wert das menschliche Dasein bereichern und damit die schöpferisch-kreative Leistung einer Bevölkerung widerspiegeln.2 Als Testimonium fremder Zivilisationen und vergangener Epochen fungieren Altertumsfunde so als Medium der wissenschaftlichen Forschung sowie der Bildung der Allgemeinheit und dienen gleichzeitig als Vorbild der Kunstschaffenden. Der Besitz eines für das Selbstverständnis, die Lebensweise und Gesellschaftsform des kulturellen Zuordnungssubjektes repräsentativen Bestandes an Kulturgütern wird deshalb heute als fester Teil der kulturellen Selbstbestimmung betrachtet, auf die alle genannten kulturellen Zuordnungssubjekte Ansprüche erheben dürfen und sogar jeder Mensch ein Recht besitzt, kraft dessen „in Freiheit die . . . kulturelle Entwicklung“3 selbst gestaltet werden darf. Ein plakatives Exempel für eine solche ,innere‘ Konnexität zwischen Kulturgut und kulturellem Zuordnungssubjekt verkörpert nicht nur ein in religiösem Dienst stehendes Kultobjekt zur betroffenen Religionsgruppe, sondern insbesondere auch der Fundort bei archäologischen Kulturgütern. Diese stellen in vielen Aspekten einzigartige Gegenstände mit speziellen Qualitätsmerkmalen mit besonderen Bezügen zu dem entsprechenden Territorium dar, die sich auch rechtlich widerspiegeln müssen. Der wissenschaftliche Erkenntniswert, der dem Fundort zukommt, steht so ausdrücklich im Zentrum des Interesses der sog. Kontextarchäologie4 und wird von Archäologen zuweilen höher als das Objekt selbst gewertet. Die wichtigste Aufgabe des internationalen Kulturgüterschutzrechts besteht somit – neben dem Substanzschutz der Objekte selbst – in der Erhaltung der durch den illegalen Kunsthandel im Allgemeinen und den Schmuggel archäologischer Raubgrabungen im Besonderen gefährdeten Bindungen der Objekte zu ihren kulturellen Zuordnungssubjekten. Auch die Museen haben diese Trendwende heute erkannt und betonen ausdrücklich, dass die Freude am schönen Objekt, das die Sammlung um eine weitere Facette bereichert, in keinem Verhältnis zum angerichteten Scha1 Odendahl, Kulturgüterschutz – Entwicklung, Struktur und Dogmatik eines ebenenübergreifenden Normensystems, 2005, S. 7. 2 Schoen, Kulturgutverluste – Ausgewählte Einzelfälle in bezug auf die aufgrund des Zweiten Weltkrieges nach Rußland verbrachten deutschen Kulturgüter, in Gornig / Horn / Murswiek, Kulturgüterschutz – internationale und nationale Aspekte, 2007, S. 157 – 166, S. 158; Knott, Der Anspruch auf Herausgabe gestohlenen und illegal exportierten Kulturguts, 1990, S. 21. 3 Vgl. Art. 1 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II 1534; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 23. 3. 1976, Bekanntmachung vom 14. 6. 1976, BGBl. 1976 II 1068) und den gleichlautenden Art. l Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 11 1570; für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 3. 1. 1976, Bekanntmachung vom 9. 3. 1976, BGBl. 1976 11 428): „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts . . . gestalten sie in Freiheit ihre . . . kulturelle Entwicklung“. 4 Vgl. Jayme, Kulturgüterschutz in ausgewählten europäischen Ländern, ZVglRWiss 95 (1996), S. 158 – 169, S. 169.
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den des illegalen Kulturgüterverkehrs steht: „Stück für Stück werden die Grundlagen archäologischer Forschungsarbeit zerstört.“5 In selbstauferlegten Codes of Ethics versuchen deshalb die professionell im internationalen Kulturgüterverkehr Beteiligten (insbesondere die privaten und staatlichen Museen, aber auch Kunsthändler, Galeristen und Auktionshäuser) ihr Verhalten an speziellen Standards beim Erwerb bedeutsamer Kulturgüter und archäologischer Objekte und bei der Führung des (archäologischen) Sammlungsbestandes neuauszurichten.
II. Damokles Schwert: Umfeldfaktoren neuer Soft Law-Standards im Antikenhandel Ebenso wie im Bereich der Wiedergutmachung und Restitution nationalsozialistisch bedingt entzogener Kunstwerke6 fällt auf, dass der Nährboden für die Entwicklung neuer Soft Law-Standards auch innerhalb des kulturellen Diebstahls und illegalen Exports national wertvoller Kulturgüter besonders gut bereitet ist: Zum einen sehen sich die einzelnen Stakeholder im Kunstmarkt bei einer Inkorporation gestohlener bzw. unrechtmäßig exportierter Kulturgüter und illegaler Raubgrabungen in die eigenen Sammlungsbestände schnell im Fadenkreuz der Öffentlichkeit und die Brandmarkung als ,schwarzes Schaf‘ (und ein damit einhergehender Reputationsverlust) droht wie das berühmte Schwert über Damokles Kopf. Damokles, der der Legende nach den Tyrannen Dionysios von Syrakus in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. um dessen Macht und Wohlhabenheit beneidete, erkannte die Vergänglichkeit irdischen Reichtums erst, nachdem ihn Dionysios an die Königstafel zum Festmahl lud, nicht ohne zuvor über dessen Platz ein großes Schwert aufhängen zu lassen, das lediglich von einem Rosshaar gehalten wurde. Das Bild kann heute auf den Antikenhandel übertragen werden: Bei unsorgfältigem Verhalten der Erwerber kultureller Wertgegenstände drohen den im Kunsthandel beteiligten Stakeholdern zahlreiche Risiken7, unter anderem auch die Gefahr der kompensationslosen Restitutionspflicht an die ursprünglichen Berechtigten bzw. die kulturellen Ursprungsstaaten und damit der vollständige Verlust des Objektes ohne finanziellen Ausgleich. Überdies schützt ein an ethischen Mindestgrundsätzen ausgerichtetes Verhalten beim Erwerb kultureller Wertgegenstände auch vor der Inanspruchnahme mit Schadensersatzansprüchen bei Weiterveräußerung an einen Dritterwerber aufgrund eines Rechtsmangels. Schließlich drohen gravierende strafrechtliche Sanktionen bei Erwerb und Veräußerung illegal trans5 Graepler, Der Milliardendeal mit geraubter Kunst, in: Flashar, Bewahren als Problem – Schutz archäologischer Kulturgüter, 2000, S. 23 – 28, S. 24. 6 Vgl. ausführlich hierzu den Beitrag von Michael Martinek, Wiedergutmachung NSbedingter Kulturgutverluste als Soft-Law-Problem, im vorliegenden Band. 7 Vgl. ausführlich zu den Risiken unsorgfältigen Verhaltens im internationalen Kunstmarkt Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 7. Teil.
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ferierter Kulturgüter und Raubgrabungen. Ebenso wenig wie es Damokles – nachdem er das Schwert über seinem Kopf bemerkte – unmöglich war, den dargebotenen Luxus genießen zu können, weshalb er schließlich darum bat, auf die Annehmlichkeiten (und gleichzeitig auch auf die damit verbundene Bedrohung) verzichten zu dürfen, fürchten die einzelnen Stakeholder des internationalen Kunstmarktes heute die Risiken des Erwerbs und der Veräußerung makelbehafteter Objekte wie Damokles die Gefahr durch das Schwert. Vor diesem Hintergrund zeigen die neuesten Soft Law-Entwicklungen sich an ethischen Grundüberzeugungen anlehnende Verhaltensmuster zum Umgang mit archäologischen Kulturgütern auf, unter die sich die einzelnen Stakeholder (zumindest theoretisch) gerne unterwerfen. Zum anderen ist – ebenso wie beim Umgang mit NS-Raubkunst – auch im Bereich gestohlener und illegal exportierter Kulturgüter ein gewisses Rechtsvakuum deutlich für alle im Kunstmarkt Beteiligten zu spüren. Außerhalb der – zahlreichen Behörden, öffentlichen wie privaten Museen, Kunsthändlern, Galeristen, Auktionshäusern und Sammlern im Detail und Anwendungsbereich oftmals unbekannten – Rechtsvorgaben spezieller zwischenstaatlicher Übereinkünfte und Abkommen8 sind ausländische Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetze aufgrund ihrer Qualifikation als öffentlich-rechtliche Vorschriften nämlich grundsätzlich außerhalb des kulturellen Ursprungsstaates (und damit im kulturellen Importstaat) nicht mehr zu berücksichtigen.9 In vielen Fallkonstellationen können gleichzeitig aber auch die internationalen oder europäischen Rechtsvorschriften nicht die notwendige Regulation des Kulturgüterverkehrs übernehmen, sodass sich zahlreiche Transfergeschäfte in einem unreglementierten ,Graubereich‘ befinden: Da bspw. im kulturellen Ursprungsstaat eine Veräußerung oder Ausfuhr national wertvoller Kulturgüter rechtswidrig, im Importstaat dagegen nach dem Prinzip der Nichtanwendbarkeit ausländischen öffentlichen Rechts mit den Mitteln des Hard Law nicht zu sanktionieren ist, suchen die einzelnen Stakeholder nach verbindlichen Leitlinien und den ,richtigen‘ Verhaltensweisen. Dies gilt in besonderem Maße auch für den Handel mit Altertumsfunden und die drohende Gefahr des Erwerbs archäologischer Objekte aus illegalen Raubgrabungen. Hier geben die aktuellen Soft Law-Grundsätze den betroffenen Stakeholdern wertvolle Hinweise auf die neuesten Rechtsüberzeugungen, die zukünftigen Minimalverhaltensweisen aller professionell im Kunstmarkt Beteiligten und für die in 8 Wie bspw. der UNESCO-Convention vom 14. November 1970, der UNIDROIT-Convention vom 24. Juni 1995 oder der EG-Richtlinie 93 / 7 / EWG vom 15. März 1993. 9 Rechtspolitisch wird dies regelmäßig damit begründet, dass die nationalen Gerichte unter Berufung auf den öffentlich-rechtlichen Charakter kultureller Exportgesetze ausländischen Staaten bei dem Ziel des Kulturgüterschutzes keine Rechtshilfe leisten, da die Anwendung öffentlichen Rechts auf das Gebiet des rechtssetzenden Staates beschränkt ist. Vgl. BGH, Entscheidung des 2. Zivilsenats vom 18. Februar 1957, Az: II ZR 287 / 54, BGHZ 23, 333, S. 337. Vgl. ausführlich hierzu Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 3. Teil (Kulturgüter- und denkmalschutzgesetzwidriger Kulturgüterverkehr).
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Zukunft absehbaren, formal-legal notwendigen Verhaltensnormen. Man kann inzwischen feststellen, dass sich in zahlreichen staatlichen, institutionellen aber auch individuellen Soft Law-Richtlinien und selbstauferlegten Codes of Conduct ein neues Verhaltensprogramm öffentlicher wie privater Museen, Kunsthändler, Galeristen, Auktionshäuser und Sammler zur Bekämpfung des kulturellen Schwarzmarktes mit gestohlenen und illegal exportierten Kulturgütern im Allgemeinen und archäologischen Objekten im Besonderen entwickelt hat.
III. Überblick über bisherige Soft Law-Standards zur Behandlung gestohlener und illegal exportierter Kulturgüter Als Startpunkt spezieller Soft Law-Standards kann der Erlass des Projet de convention internationale sur le rapatriement des objets d’intérêt artistique, histoire ou scientifique, perdus ou volés, ou ayant donné lieu a une aliénation ou exportation illicite des Office international des Musées im Jahre 193310 gesehen werden, in dem die Veräußerung und Ausfuhr national unter Kulturgüter- und Denkmalschutz stehender Objekte als unrechtmäßig qualifiziert werden und grundsätzlich eine Rückführungspflicht gegen Entschädigung gutgläubiger Erwerber bestimmt wird. Seitdem entwickelte sich im Kulturgüterschutz in Friedenszeiten eine heute nur schwer überschaubare Zahl unverbindlicher und selbstauferlegter Verhaltensgrundsätze, die systematisch am besten nach dem Normgeber unterschieden werden können. Insbesondere sind hier die UNESCO11 und der Europarat12 zu erwähnen. Außerdem ist zwischen staatlichen Richtlinien zum Verhalten kultureller Institutionen13, zwischen Verhaltensstandards und Erwerbsregeln von Museumsverbänden und einzelnen Museen wie etwa ICOM14 und ICOMOS15, professionellen Kunsthändlern, Galeristen und deren Interessenverbänden wie etwa CINOA16 sowie zwischen den Veräußerungsbedingungen der verschiedenen Auktionshäu10 Abgedruckt in Art et archéologie: receuil de legislation comparé et de droit internatinal 1 (1993), S. 51 ff. 11 Vgl. zu den Instrumenten der UNESCO unter http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL _ID=13649&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=-471.html. 12 Vgl. bspw. die European Convention on the Protection of the Archaeological Heritage (London, 1969(und die Convention for the Protection of the Archaeological Heritage of Europe (revised) (Valletta, 1992) unter http: // www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/heritage/ Archeologie/default_en.asp. 13 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 319 ff. 14 Vgl. zu den ICOM Code of Ethics for Museums (2006) unter http://icom.museum/ ethics.html. 15 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 330 ff. 16 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 367 ff.
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ser17 zu unterscheiden. Die divergierenden Positionen und Interessen innerhalb des (inter-)nationalen Kunsthandels haben dementsprechend auch zu divergierenden inhaltlichen Ausgestaltungen der selbstauferlegten Verhaltensstandards beim Erwerb und der Veräußerung bzw. Versteigerung kultureller Wertgegenstände geführt. Für das internationale Museumswesen ist heute insbesondere auf die von dem International Council of Museums (ICOM) entwickelten und inzwischen weltweit anerkannten Ethischen Richtlinien für Museen (Code of Ethics for Museums) zu verweisen, die für 24.000 Mitglieder in 150 Ländern (und 3.800 Mitgliedern in Deutschland) die Grundlage der professionellen Arbeit von Museen und Museumsfachleuten bilden.18 Allgemein wird darin bezüglich der Ankaufspolitik von Museen bestimmt, dass diese unrechtmäßig transferierte Kulturgüter weder auf dem illegalen Kunstmarkt erwerben noch in ihre Sammlungen aufnehmen dürfen (vgl. Nr. 2.1 – 2.4). Objekte dürfen hiernach nur dann erworben, geliehen oder als Geschenk angenommen werden, wenn der Träger und die verantwortliche Person davon überzeugt sind, dass ein gültiger Rechtstitel erlangt werden kann. Zudem müssen Museen alle notwendigen Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass eine mögliche Neuerwerbung nicht im kulturellen Ursprungsland oder irgendeinem anderen Land, in dem sie sich zuvor legal befunden hat, auf illegale Weise erworben oder exportiert wurde. Um eine möglichst weitgehende Verringerung des Erwerbs unrechtmäßig entzogener und im Kunsthandel illegal transferierter Kulturgüter zu erreichen, soll vor einem Erwerb alles daran gesetzt werden, die vollständige Provenienz des betreffenden Objekts zu ermitteln. Zum Schutz archäologischer Stätten dürfen Museen schließlich keine Stücke akzeptieren, bei denen berechtigter Grund zur Annahme besteht, dass ihre Entdeckung mit einer ungenehmigten unwissenschaftlichen oder absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung historischer Denkmäler einherging. Erwähnenswert sind schließlich noch die Erwerbsregeln der professionell im Kunsthandel tätigen Kunsthändler und Galeristen.19 In diesen Verhaltenskodizes gilt es in besonderem Maße, einen Ausgleich zwischen dem Handlungsfeld von Kunsthändlern und Galeristen und einer effektiven Regulierung des Kunstmarktes aus Kulturgüterschutzgesichtspunkten (und einer potenziellen Einschränkung wirtschaftlicher Verdienstmöglichkeiten) zu suchen. Ein Beispiel hierfür stellt der Ethical Code of Conduct20 der Confédération Internationale des Négociants en Œuvres 17 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 379 ff. 18 Quelle: www.icom-deutschland.de. 19 Vgl. ausführlich hierzu O’Keefe, Feasibility of an international code of ethics for dealers in cultural property for the purpose of more effective control of illicit traffic in cultural property (a report for UNESCO), 1994; Ede, Der Kampf gegen den illegalen Kunstmarkt – aus Sicht des Handels, in Heilmeyer / Eule, Illegale Archäologie – Internationale Konferenz über zukünftige Probleme bei unerlaubtem Antikentransfer, 23. – 25. 5. 2003 in Berlin, aus Anlass des 15. Jahrestages der Berliner Erklärung, 2004, S. 131 – 135.
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D’Art (CINOA) als internationaler Dachverband des Kunst- und Antiquitätenhandels dar, der heute für mehr als 30 Verbände von Künstlern und Galeristen aus 21 Staaten gilt und so insgesamt mehr als 5.000 Kunsthändler und Galeristen erfasst. Schon in den Eingangsgedanken wird deutlich, dass eine Regulierung des Kunsthandels eher negativ eingeschätzt wird und der Handel mit und das Sammeln von Kunst weiterhin Ausdruck von Individualismus bleiben soll, der nicht durch Überregulierung und exzessive Verbote bedroht werden dürfe. Stattdessen müsse sich jeder Kunsthändler der Ziele der einschlägigen Gesetze bewusst sein und diese durch einen fairen und ehrenhaften kaufmännischen Handel unterstützen. Die Richtlinien mahnen so vornehmlich zur Einhaltung der bestehenden Gesetze innerhalb des Importstaates, ohne jedoch über dieses obligatorische Pflichtenprogramm hinaus weitere Sorgfaltsanstrengungen selbst zu übernehmen.21 Wesentlich strengere – und dementsprechend selten rezipierte – Verhaltensrichtlinien gegen den Handel mit gestohlenen und abhandengekommenen Kunstwerken, heimlich in Raubgrabungen geplünderten archäologischen Objekten sowie entgegen den nationalen Kulturgüterschutzgesetzen illegal exportierter Kulturgüter werden für den Kunsthandel aber bspw. innerhalb des sog. International Code of Ethics for Dealers in Cultural Property der UNESCO aus dem Jahre 199922 formuliert. Die Kunsthändler werden darin aufgefordert, jeglichen Handel mit solchen Objekten zu unterlassen und bei Aufforderung kultureller Ursprungsstaaten hinsichtlich der Rückführung zu kooperieren.23 Bislang fand bei den professionell im Kunstmarkt Tätigen jedoch nur eine verhaltene Rezeption des UNESCO-Code statt.
IV. Neuer Sorgfaltsmaßstab beim Kulturguterwerb mit Erlass der UNESCO-Convention 1970 Institutions-, normadressaten- und staatenübergreifende Gemeinsamkeit sowohl der rechtlich unverbindlichen Richtlinien des britischen Department for Culture, Media and Sport (DCMS) aus dem Jahre 2005 (hierzu zunächst unter Punkt 1.), 20 Resolved at the General Meeting in Florence in 1987, amended in Stockholm on 26 June 1998 and in New York on 11 May 2005. Quelle: http://www.cinoa.org. 21 Eine Rückführung illegal transferierter Kulturgüter wird bei finanzieller Kompensationszahlung an gutgläubige Händler bestimmt. Nähere Ausführungen über das konkrete Händlerverhalten werden nicht gegeben, insbesondere wird keine Beschreibung der notwendigen Sorgfaltsanforderungen vorgenommen. 22 Adopted by the UNESCO Intergovernmental Committee for Promoting the Return of Cultural Property to its Countries of Origin or its Restitution in Case of Illicit Appropriation at its Tenth Session, January 1999 and endorsed by the 30th General Conference of UNESCO, November 1999, vgl. http://www.unesco.org/culture/legalprotection/committee/html_eng/ ethics1.shtml. 23 Damit legte die UNESCO eine hohe Messlatte für Kunsthändler und Galeristen sowie deren Verbände, deren Verhaltensanforderungen jedoch nur schwierig individuelle oder durch einen Verband gestaltete Umsetzung finden werden.
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der neu entwickelten AAM-Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008 (hierzu unter Punkt 2.) als auch des neu überarbeiteten Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art vom 4. Juni 2008 (hierzu unter Punkt 3.) ist die Neuorientierung der Stakeholder an der zeitlichen Grenze des Jahres 1970 als Mark- und Meilenstein bei der Beurteilung kultureller Erwerbsgeschäfte. In diesen neu entwickelten Soft Law-Regelwerken wird der Erlass der UNESCO-Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property (Paris) vom 14. November 1970 einheitlich als der maßgebliche Zeitpunkt weltweit gesteigerter Sorgfaltsanforderungen beim Erwerb gestohlener und illegal exportierter Kulturgüter anerkannt.24 Abschließend ist für den deutschen Rechtsraum auf die sog. Berliner Erklärungen aus den Jahren 1988 und 2003 hinzuweisen (hierzu unter Punkt 4.). 1. DCMS-Guidelines 2005 Seit einiger Zeit sind im Soft Law-Bereich auch staatliche Richtlinien zum Erwerb kultureller Wertgegenstände ohne rechtliche Bindungskraft anerkannt. So stellen bspw. die Richtlinien des britischen Department for Culture, Media and Sport (DCMS) – Combating Illicit Trade: Due diligence guidelines for museums, libraries and archives on collecting and borrowing cultural material vom Oktober 2005 heute einen praktischen Leitfaden für den Erwerb und die Leihe kultureller Wertgegenstände für professionell am Kunsthandel beteiligte Museen, Bibliotheken und Archive dar. Das genannte Regelwerk gibt damit die gemeinsame Überzeugung wieder, dass dem Problem des kulturellen Schwarzmarktes nur mit höchsten ethischen Standards begegnet werden kann und allein Objekte mit gesicherter Provenienz erworben werden dürfen (vgl. 1. Introduction). Die DCMS-Gui24 Vgl. allgemein zu musealen Soft Law-Grundsätzen: Amory, Policies – An Outline of Problems of Concern to Acquisition Committees, in: DuBoff, Art Law – Domestic and International, 1975, S. 371 – 382; Cuno, Museums, Antiquities, Cultural Property, and the US Legal Framework for Making Acquisitions, in: Gibbon, Who Owns the Past? – Cultural Policy, Cultural Property, and the Law, 2005, S. 143 – 157; Elsen, Museum Acquisition Policies, in: DuBoff, Art Law – Domestic and International, 1975, S. 415 – 419; Griffin, Museum Acquisitions Policies, in: DuBoff, Art Law – Domestic and International, 1975, S. 395 – 409; Hamilton, Museum Acquisitions: The Case for Self-Regulation, in: DuBoff, Art Law – Domestic and International, 1975, S. 347 – 362; Lewis, Selbstregulierung der Museen: Der ICOM-Kodex und das Verhältnis zur Forschung, in Heilmeyer / Eule, Illegale Archäologie – Internationale Konferenz über zukünftige Probleme bei unerlaubtem Antikentransfer, 23. – 25. 5. 2003 in Berlin, aus Anlass des 15. Jahrestages der Berliner Erklärung, 2004, S. 50 – 60; Prott / O’Keefe, Law and the Cultural Heritage – Volume 3: Movement, 1989, insb. S. 119 ff.; Renfrew, Ankäufe durch Museen: Verantwortung für den illegalen Handel mit Antiken, in Heilmeyer / Eule, Illegale Archäologie – Internationale Konferenz über zukünftige Probleme bei unerlaubtem Antikentransfer, 23. – 25. 5. 2003 in Berlin, aus Anlass des 15. Jahrestages der Berliner Erklärung, 2004, S. 61 – 75; Streinz, Handbuch des Museumsrechts 4: Internationaler Schutz von Museumsgut, 1998, S. 152 – 155.
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delines 2005 sollen kulturellen Institutionen sowohl beim rechtsgeschäftlichen Erwerb als auch beim Erwerb nach Schenkung oder Vermögensnachfolge ebenso wie bei der Leihe kultureller Wertgegenstände als Informationsquelle dazu verhelfen, sich ethischen Minimalprinzipien entsprechend am (inter-)nationalen Kunstmarkt zu verhalten und illegal transferierte Kulturgüter nicht in ihre Sammlungsbestände aufzunehmen (vgl. 2. Scope of guidelines). Das Schutzprogramm fokussiert in erster Linie auf den Erwerb gestohlener und unrechtmäßig, d. h. entgegen den nationalen Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetzen kultureller Ursprungsstaaten ausgeführter Kulturgüter. Kern der britischen Leitlinien zur Bekämpfung des illegalen Kunsthandels stellt dabei die Forderung dar, dass Museen „should acquire and borrow items only if they are legally and ethically sound. They should reject an item if there is any suspicion about it, or about the circumstances surrounding it, after undertaking due diligence. Documentary evidence, or if that is unavailable an affidavit, is necessary to prove the ethical status of a major item. Museums should acquire or borrow items only if they are certain they have not been illegally excavated or illegally exported since 1970“ (vgl. 3. Basic Principles). Die DCMS-Guidelines 2005 rezipieren so mit der zeitlichen Grenze des Jahres 1970 eine inzwischen weltweit verstandene und global geäußerte Schranke, die zugleich einen deutlichen und pragmatischen Wendepunkt in der Bekämpfung des illegalen Kunstmarktes und der Neuausrichtung eigenen Verhaltens beim Erwerb kultureller Güter darstellt. a) Zeitgrenze des Jahres 1970 Zwar weisen die Richtlinien darauf hin, dass nationale oder internationale Gesetzeswerke einen Kulturgütertransfer und ausgeführte Kulturgüter auch vor dem Datum des Jahres 1970 einem Rechtswidrigkeitsverdikt unterwerfen und diese Regeln dann vorrangig anwendbar sein können. Nichtsdestotrotz dürfen nach den DCMS-Guidelines 2005 die Stakeholder Kulturgüter nur dann erwerben, wenn keine Zweifel bestehen, dass diese nach Beginn des Jahres 1970 nicht unrechtmäßig ausgegraben oder illegal aus dem kulturellen Ursprungsstaat exportiert wurden. Funktionaler Hintergrund der Zeitgrenze ist die Annahme, dass erst seit diesem Zeitpunkt international eine Sensibilisierung der Weltgemeinschaft für den Schutz des nationalen Kulturerbes innerhalb des Territoriums des kulturellen Ursprungsstaates erfolgte. Das Jahr 1970 stellt das Schlüsseljahr für eine ethische Annäherung an das Problem des illegalen Kunsthandels und des Erwerbs unrechtmäßig exportierter Kulturgüter für Museen dar.25 25 Die zeitliche Grenze findet Unterstützung durch den Erlass der UNESCO-Convention vom 14. November 1970, die eine weltweite Transformation der ethischen Verhaltenslandschaft von Museen initiierte, durch den Erlass des Code of Ethics aus dem Jahr 2002 der britischen Museum Association, sowie durch die Veröffentlichung des 1998 seitens des British Museum erarbeiteten Statement on the Acquisition of Antiquities und durch die entsprechende Resolution des Council of the British Academy, die ebenfalls einen Bezug auf die Zeitgrenze
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b) Erwerb nichtbritischer Kulturgüter Die DCMS-Guidelines 2005 verlangen bei jeder Akquisition oder Leihe kultureller Wertgegenstände eine sorgfältige Provenienzrecherche seitens der einzelnen Stakeholder. Hierfür müssen die Museen nicht nur den Herkunftsort und Ursprungsstaat, sondern auch den Zeitpunkt und die Art der Ausfuhr aus dem kulturellen Ursprungsstaat sowie jeden kulturellen Transitstaat bestimmen. Schon in diesem Stadium soll der Veräußerer bzw. Leihgeber seitens des Museums darüber informiert werden, dass keine Akquisition bzw. Leihe ohne hinreichend sorgfältige Erkundigungen erfolgen wird. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Verhaltensanforderungen und der konkrete Sorgfaltsmaßstab beim Erwerb und der Leihe nach der Herkunft der Objekte: Für nichtbritische Kulturgüter muss eine von drei Möglichkeiten vorliegen, damit ein Erwerb nicht dem Makel der Rechtswidrigkeit unterfällt: Ein Erwerb bzw. eine Leihe darf nach Punkt 4. (What to do when considering the acquisition or loan of an item) nur dann erfolgen, wenn nachweislich feststeht, dass (erstens) der Gegenstand bereits vor dem Jahr 1970 innerhalb des Territoriums Großbritanniens belegen war und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass zuvor eine illegale Ausfuhr aus dem kulturellen Ursprungsstaat erfolgt war oder (zweitens) das Kulturgut nachweislich schon vor der Zeitgrenze des Jahres 1970 aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführt worden war (aber nicht nach Großbritannien eingeführt worden war) und der Beweis dafür erbracht werden kann, dass der nachfolgende Export in das Territorium Großbritanniens im Einklang mit den Rechtsvorschriften des Exportstaates erfolgte oder (drittens) das Kulturgut sich zwar nach 1970 innerhalb des Territoriums des kulturellen Ursprungsstaates befand, jedoch feststeht, dass der Gegenstand den Voraussetzungen des Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetzes des kulturellen Ursprungsstaates entsprechend ausgeführt worden war.
c) Konkreter Sorgfaltsmaßstab beim Erwerb Diesem Verhaltensprogramm werden die Stakeholder nur dann gerecht, wenn der Veräußerer bzw. Leihgeber nachweisen kann, dass sich die Objekte schon vor Beginn des Jahres 1970 auf dem Territorium Großbritanniens befanden oder danach rechtmäßig aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführt worden waren (vgl. 6. Due diligence – What it should involve). Als Nachweise hierfür dienen insbesondere Exportgenehmigungen der kulturellen Ursprungsstaaten bzw. wissenschaftliche Veröffentlichungen über das einzelne Objekt, gleichzeitig aber auch Testamentsurkunden, Inventarverzeichnisse, Fotografien, einschlägige Briefwechdes Jahres 1970 nehmen und den Erwerb von Antiquitäten ohne gesicherte Provenienz seit diesem Zeitpunkt ablehnen.
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sel oder sonstige Dokumente und bei archäologischen Objekten auch Grabungsberichte. Museen müssen bei einem möglichen Auktionserwerb ohne nähere Provenienzangaben im Katalog selbstständig weitere Nachweise verlangen. Diesbezügliche Bestätigungen (in schriftlichen Dokumenten oder eidesstattlichen Versicherungen der Veräußerer) nehmen im Due Diligence-Verfahren eine entscheidende Bedeutung ein und müssen seitens der Museen stets hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit untersucht werden. Dabei soll auch die Stellung und professionelle Reputation des Eigentümers und die Mitgliedschaft in einer entsprechenden Vereinigung mit eigenständigem Verhaltenskodex eine Rolle spielen. Außer Betrachtung müssen in der Provenienzrecherche jedoch Angaben bleiben wie bspw. „Property of a gentleman“ oder „from a European private collection“. Kann der Veräußerer keine hinreichenden Provenienzangaben bezüglich des zu erwerbenden Kulturguts treffen, dann hat das potenziell erwerbungsfreudige Museum selbstständig die notwendigen Recherchen vorzunehmen, bevor eine Akquisition in Frage kommt (vgl. 5. What to do if there are problems establishing the provenance). In der Praxis bedeutet dies für die Museen häufig ein mühsames Rekonstruktionsverfahren der Provenienz eines jeden Kulturguts (vgl. 6. Due diligence – What it should involve), an dessen Anfang eine Untersuchung des Objektes selbst und die Suche nach tatsächlichen Anhaltspunkten steht (wie etwa Vermerke und Anmerkungen an dem Objekt, Staubablagerungen, eine spezielle Rahmung oder Fassung des Objektes, an archäologischen Objekten frische Erdreste). Werden keine physischen Auffälligkeiten ersichtlich, ist die konkrete Objektqualität näher zu untersuchen und ein möglicher kultureller Ursprungsstaat zu bestimmen, wobei innerhalb des Erwerbs archäologischer Objekte besonderes Augenmerk auf sog. ,hot‘ areas wie bspw. Afghanistan, Irak und Asien und auf Objekte der sog. ICOM ,red list‘26 zu richten ist.27 Bestimmte Kategorien archäologischer Objekte und teilweise auch sakrale Gegenstände hohen kulturellen wie materiellen Wertes sind mit großer Wahrscheinlichkeit illegal transferiert und es ist anzunehmen, dass diese Objekte nicht legal am Markt erworben werden können. Werden in diesem Findungsprozess die Grenzen der eigenen Kenntnis und Erfahrung erreicht, müssen die Museen Rat bei externen Experten, Forschungsinstituten, einzelnen Kulturattachés ausländischer Botschaften oder der UNESCO einholen. Dieses Verhaltensprogramm hat zur Folge, dass sich Museen vollständig der Rechtslage innerhalb potenzieller kultureller Ursprungsstaaten bewusst sein müssen, sowohl vor der zeitlichen Grenze des Jahres 1970 als auch danach. Es wird somit seitens der Museen erwartet, dass diese selbst die Prüfung vornehmen, dass ein Kulturgut nicht unrechtmäßig aus dem Territorium ausgeführt wurde. Hierfür kann Rechtsrat auch Vgl. ausführlich hierzu http://icom.museum/redlist/. Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 257 ff. (Kriterien zur Bestimmung der Bösgläubigkeit beim Erwerb gestohlener Kulturgüter) und Rdnr. 308 ff. (Spezielle Sorgfaltsanforderungen und Verdachtsmomente beim Erwerb illegal exportierter Kulturgüter). 26 27
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beim kulturellen Ursprungsstaat des Objektes bzw. der jeweiligen Botschaft eingefordert werden. d) Entscheidungsfindung des Museums Konnte der Veräußerer bzw. Leihgeber in dem Due Diligence-Verfahren eine makellose Provenienz des Objektes ohne Zweifel nachweisen, steht dem Museum der Erwerb oder die Leihe offen. Bestehen am Ende dieser Untersuchungen dagegen Zweifel über den ethischen Status, verlangen die DCMS-Guidelines die Abstandnahme von der Akquisition (vgl. 7. The result of due diligence). Ist dabei der Verdacht erwachsen, dass der Tatbestand einer Straftat erfüllt sein könnte, hat das Museum außerdem unverzüglich die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten. Hat sich bei den Nachforschungen gezeigt, dass das Kulturgut schon vor 1970 nach Großbritannien eingeführt oder danach rechtmäßig aus dem Territorium des Ursprungs- und jedes weiteren Transitstaates ausgeführt worden war, konnte dies jedoch nicht per Urkundenbeweis nachgewiesen werden, sollte das Museum von dem Veräußerer eine die Provenienzangaben bestätigende eidesstattliche Versicherung verlangen. Konnte eine makellose Provenienz nicht per Urkundenbeweis nachgewiesen werden und verweigert der Veräußerer eine eidesstattliche Versicherung, bestehen bei kulturell wie materiell bedeutsamen Objekten (sog. major items) erhebliche Zweifel an der Legalität des Erwerbs und es sollte grundsätzlich davon Abstand genommen werden. Bei kulturell wie materiell eher unbedeutsamen Objekten (sog. minor items) genügt anstatt einer eidesstattlichen Versicherung des Veräußerers die Aufzeichnung eines unterschriebenen Provenienzberichts. Ist auch diese bei sog. minor items nicht zu erlangen und handelt es sich nicht um Objekte sog. ,hot‘ areas und aus der sog. ICOM ,red list‘, darf das Museum selbst über den Ankauf entscheiden. Für alle Erwerbungen und Transaktionen kultureller Güter, deren Akquisition in speziellen Regierungsrichtlinien, Gesetzen oder Konventionen des kulturellen Ursprungsstaates von einer Einwilligung bzw. Genehmigung abhängig gemacht wird, gilt generell, dass sich das erwerbende Museum eine solche Erlaubnis in Schriftform ausstellen lassen muss (vgl. 8. Specific permission from the country of origin, courts, etc.). Besondere Verhaltensrichtlinien wurden schließlich für den Erwerb ganzer Sammlungen vorgesehen. Von dem Grundsatz der individuellen Prüfung jedes einzelnen zu erwerbenden Objekts kann abgewichen werden, „[i]f a discrete collection is accompanied by documentation or acceptable evidence verifying its provenance, then acquisition of the collection is not a problem.“28 Besteht jedoch keine Dokumentation für die gesamte Kollektion oder es wird nur auf einzelne Objekte Bezug genommen, dann erwarten die Richtlinien ebenso hinreichende Sorgfaltsanforderungen beim Erwerb ganzer Kollektionen wie bei der Akquisition einzelner Gegenstände. 28
Vgl. 9. Due diligence when acquiring collections.
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e) Rezeption der DCMS-Guidelines 2005 Insgesamt stellen die DCMS-Guidelines 2005 ein modernes Rechtsinstrument dar, das hohe Anforderungen an die Museen, Bibliotheken und Archive stellt und diese ausdrücklich in die Pflicht zur Bekämpfung des illegalen Kunsthandels nimmt. Damit befinden sich die einzelnen Anforderungen einen deutlichen Schritt vor der Rechtslage de lege lata. Besonders durch die Implikation spezieller Sorgfaltsanforderungen seitens der Erwerber kultureller Wertgegenstände und die Etablierung der zeitlichen Grenze des Jahres 1970 als Wendepunkt in der Bekämpfung des illegalen Kunstmarktes und die Neuausrichtung eigenen Verhaltens beim Erwerb kultureller Güter liegen die DCMS-Guidelines 2005 im Trend der Zeit und verdeutlichen so die notwendigen Bedürfnisse eines fairen und lauteren Kulturgüterverkehrs.29 Rezeption fanden die Grundsätze der DCMS-Guidelines 2005 bspw. in dem 2008 neu formulierten Code of Ethics for Museums der britischen Museums Association, der ca. 6.000 Mitglieder insgesamt angehören, davon rund 600 kulturelle Institutionen und in etwa 250 kommerzielle Unternehmen.30 Deren Stakeholder müssen vor jedem Erwerb sowie jeder Leihe oder Schenkung kultureller Güter in speziellen Sorgfaltsanstrengungen die Eigentumsposition eines jeden Objektes verifizieren (vgl. 5.7) und bei etwaigen Zweifeln über den Charakter als Rauboder Beutekunst bzw. als gestohlen oder illegal transferiert von dem Transfer absehen (vgl. 5.8 bis 5.11). Insbesondere dürfen keine Kulturgüter erworben werden, bei denen ein Verdacht besteht, dass diese nach 1970 gestohlen, illegal ausgegraben oder ohne rechtmäßige Ausfuhrerlaubnis aus dem berechtigten Ursprungsstaat oder einem weiteren Transitstaat ausgeführt worden waren (vgl. 5.10). Ausführlich wurde dieses Verhaltensmuster schon zuvor in dem 2004 veröffentlichten Acquisition-Guidance on the ethics and practicalities of acquisition der Museums Association seitens des Ethics Committee bestimmt und den Mitgliedern so ein konkreter Sorgfaltsmaßstab beim Erwerb kultureller Güter an die Hand gegeben.31 Auch die sog. Policy on Acquisitions des British Museum vom 24. April 200732 orientiert sich in Punkt 2. ausdrücklich an den Vorgaben der DCMS-Richtlinien vom Oktober 2005 und dient so als Beispiel für ein modernes Rechtsinstrument zur Selbstregulierung einer einzelnen kulturellen Institution.33 Zur Bekämpfung des illegalen Kunsthandels mit archäologischen Objekten und zur Anreizreduzierung illegaler Ausgrabungen verlangt die Policy on Acquisitions gesteigerte Sorgfaltsan29 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 237 ff. 30 Vgl. http://www.museumsassociation.org/ma/10934. 31 Vgl. http://www.museumsassociation.org/asset_arena/text/ns/ethicalguidelines_acquisitions. pdf. 32 Vgl. http://www.britishmuseum.org/pdf/Acquisitions.pdf. 33 Quelle: http://www.britishmuseum.org/pdf/Acquisitions.pdf.
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forderungen beim Erwerb, die Beachtung der geltenden Gesetze, insbesondere, dass die Objekte rechtmäßig auf britisches Territorium ein- und aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführt wurden, und erkennt dabei die zeitliche Schwelle des Jahres 1970 mit Unterzeichnung der UNESCO-Convention vom 14. November 1970 als Datum erhöhter Sorgfaltsanforderungen und effektiver Provenienzerforschung. Ähnlich wie in den DCMS-Richtlinien nimmt die Policy on Acquisitions eine Unterscheidung zwischen kulturell bedeutsamen und eher unbedeutsamen Objekten vor und eröffnet beim Erwerb sog. minor items eine eigene Entscheidungsfindung der Museumskuratoren, da für solche Objekte häufig nur eingeschränkte Provenienzinformationen verfügbar sind. 2. AAM-Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008 Auch innerhalb der Museumslandschaft der Vereinigten Staaten von Amerika bestimmen aktuelle Soft Law-Ansätze deutlich über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehende Verhaltensmuster für die kulturellen Institutionen und prägen so ein neues Leitbild für alle professionell im Kunstmarkt agierende Stakeholder. So bettet die American Association of Museums bspw. das Verhalten ihrer Mitglieder in dem 1991 verfassten und 2000 letztmalig aktualisierten Code of Ethics for Museums zwar mit guten Gründen in den vorgegebenen rechtlichen Rahmen, verlangt jedoch – über das gesetzliche Minimalverhaltensprogramm hinausgehend – die Einhaltung weitreichender ethischer Mindestverhaltensstandards: „The law provides the basic framework for museum operations. As nonprofit institutions, museums comply with applicable local, state, and federal laws and international conventions, as well as with the specific legal standards governing trust responsibilities. . . . But legal standards are a minimum. Museums and those responsible for them must do more than avoid legal liability, they must take affirmative steps to maintain their integrity so as to warrant public confidence. They must act not only legally but also ethically.“ Die aktuellste Entwicklungslinie neuer Soft Law-Standards beschäftigt sich im amerikanischen Kulturraum in besonderem Maße mit der ,richtigen‘ Eingliederung und dem Erwerb archäologischer Kulturgüter und anderer Altertumsfunde in die bestehenden Museumsbestände. Auf diese Weise beabsichtigen die zusammengeschlossenen Museen (entgegen den regelmäßig kritischen Berichten über das häufig auch strafrechtlich relevante Verhalten34 der Museen der westlichen Welt innerhalb der aktuellen Tagespresse35), das öffentliche Vertrauen der Gesellschaft 34 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 7. Teil Rdnr. 33 ff. 35 Vgl. Ulrich, Kunstschmuggel – Eine für alle, SZ vom 17. 11. 2005, Quelle: http:// www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/450/64386; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Artikel vom 27. 01. 2008, S. 23.
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und ihre Glaubwürdigkeit beim Antikenerwerb zurückzugewinnen und so Verantwortung für einen legalen Kunstmarkt zu übernehmen. Aus diesem Grund hat die AAM in Form der sog. Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008 besondere Vorgaben erlassen, „to guide the operations of museums that own or acquire archaeological material and ancient art originating outside the United States.“36 Die AAM-Standards vom 11. August 2008 bestimmen neue ethische Erwerbsanforderungen für die angeschlossenen amerikanischen Museen, um die Akquisition archäologischer Artefakte aus illegalen Ausgrabungen, die Anzahl von Interessenten für solche unrechtmäßig transferierten Kulturgüter und damit die Anreize für die weitere Plünderung archäologischer Grabungsorte weitestgehend zu reduzieren. Beim Neuerwerb von Altertumsfunden müssen Museen vor dem Erwerb eine detaillierte Provenienzerforschung durchführen, die Geschichte jedes einzelnen Objekts unter Einbeziehung sämtlicher Ein- und Ausfuhrdokumente bestmöglich schriftlich dokumentieren und alle zugänglichen Informationen und Dokumentationen über die jeweiligen Objekte seitens der Veräußerer einfordern.
Über die einschlägigen amerikanischen Rechtsregeln, völkerrechtlichen Vereinbarungen und internationalen Konventionen sowie die bundesstaatlichen Zivilrechtsvorschriften über den Eigentumserwerb, Verjährung und Verwirkung kultureller Restitutionsansprüche und die Importrestriktionen kultureller Güter hinaus sollten Museen aus Gründen ethischen Mindestverhaltens generell Abstand von einem Erwerb nehmen, wenn ein Objekt zuvor unrechtmäßig aus dem kulturellen Ursprungsstaat oder dem letzten rechtmäßigen Aufenthaltsstaat ausgeführt worden war. Ebenso wie die DCMS-Guidelines 2005 sehen auch die AAM-Standards vom 11. August 2008 das Datum des 17. November 1970, der Moment der Unterzeichnung der UNESCO-Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export, and Transfer of Ownership of Cultural Property, als besondere zeitliche Grenze an, von der an Museen speziellen Verhaltensanforderungen beim Erwerb archäologischer Objekte unterfallen. Beim Erwerb müssen Museen stets den Nachweis verlangen, dass die Gegenstände aus dem wahrscheinlichen kulturellen Ursprungsstaat schon vor dem 17. November 1970, der Unterzeichnung der UNESCO-Convention, ausgeführt waren. Für den Erwerb archäologischer Gegenstände, die nach diesem Zeitpunkt aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführt wurden, empfehlen die AAM-Standards einen Erwerb erst nach Nachweis, dass die archäologischen Artefakte rechtmäßig aus dem kulturellen Ursprungsstaat ausgeführt wurden oder noch werden und gleichzeitig legal in das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika eingeführt werden.
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Quelle: http://www.aam-us.org/museumresources/ethics/standards_ancientart.cfm.
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3. Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art (revised 2008) Ebenso wie die Association of Art Museum Directors repräsentative Soft LawGrundsätze zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste etablierte, spiegelt der Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art aus dem Jahr 2008 die gemeinsame Überzeugung von inzwischen 184 Direktoren der bedeutendsten Museen der Vereinigten Staaten, Kanadas und Mexikos hinsichtlich der ,richtigen‘ Behandlung archäologischer Objekte wieder (als „highest standards of professional practice“) und besitzt so Aussagekraft für die weltweite Museumslandschaft als Inbegriff eines „unified set of expectations for museums, sellers, and donors“.37 Da der Erwerb archäologischer Objekte zunehmend zu einer schwierigen Aufgabe („increasingly complex task“) wurde und eine Vielzahl teilweise gegensätzlicher Ziele und Interessen zu berücksichtigen hat, soll der AAMD-Report als Hilfe und Anleitung für die einzelnen Museen beim Erwerb von Altertumsfunden dienen, gleichzeitig ein Verständnis für die Probleme beim Erwerb oder der Annahme einer Schenkung schaffen und dabei die Rahmenbedingungen einer verantwortlichen Erwerbsentscheidung für alle Stakeholder offenlegen. Zwar wird das museale Ausstellen archäologischer Objekte, die Begegnung der Öffentlichkeit mit den Errungenschaften vergangener Zivilisationen auch im Kontext verschiedener Kulturen zu Bildungs-, Erziehungs- und Inspirationszwecken als wichtige Aufgabe der Museen betrachtet, jedoch dürfen der illegale Kunsthandel und der Schmuggel mit gestohlenen und unrechtmäßig ausgeführten Altertumsfunden, die wissenschaftlichen Erkenntnissen widerstrebenden Raubgrabungen archäologischer Gegenstände und die Zerstörung wie Entstellung archäologischer Stätten nicht der hierfür zu entrichtende Preis sein. Unabhängig von der konkreten Erwerbsart als Rechtsgeschäft, Schenkung, Erbschaft oder Tausch formuliert der AAMD-Report vom 4. Juni 2008 deshalb die gemeinsame Überzeugung „that acquisitions be made according to the highest standards of ethical and professional practice and in accordance with applicable law and in such a way that they do not provide a direct and material incentive to looting“ (Statement of Principles C.). Ihr Erwerbsverhalten muss sich somit daran messen lassen, dass illegale Raubgrabungen und der illegale Markt mit archäologischen Artefakten weitestgehend verringert werden und seitens der Museumswelt keine Anreize hierfür geschaffen werden. Aus diesem Grund verpflichten sich die einzelnen Stakeholder dazu, innerhalb des Erwerbsprozesses höchsten Sorgfaltsmaßstäben zu genügen und einer öffentlichen Ankaufspolitik entsprechend neue Akquisitionen unverzüglich der Öffentlichkeit bekannt zu machen (vgl. Statement of Principles D.). Am Anfang eines jeden Erwerbsprozesses ist eine sorgfältige Provenienzerforschung und Bestimmung des Pedigrees hinsichtlich der Eigentumsposition des zu 37
Quelle: http://www.aamd.org/newsroom/documents/2008ReportAndRelease.pdf.
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erwerbenden Objektes vorzunehmen und hierfür schriftlicher Nachweis zu erbringen sowie etwaige Einfuhr- und Ausfuhrdokumente zu sichern (vgl. Guidelines A.). Hierfür sind alle dem Veräußerer bekannten Informationen und Dokumente über die Eigentümerstellung des angebotenen Objektes sowie diesbezügliche Garantien und Zusicherungen zu erfragen (vgl. Guidelines C.). Wird das archäologische Kulturgut nach dem Erwerb auf das Territorium der Vereinigten Staaten eingeführt, hat der erwerbende Stakeholder sowohl die amerikanische Einfuhrerlaubnis einzuholen als auch die Exportvorschriften des jeweiligen Ausfuhrstaates einzuhalten (vgl. Guidelines B.). Neben diesen zollrechtlichen Vorgaben haben die betroffenen Museen insbesondere auch die sonstigen rechtlichen Vorgaben zu beachten, insbesondere die allgemeinen Regeln über den Eigentumserwerb an Kulturgütern (vgl. Guidelines D.). Ebenso wie innerhalb der DCMS-Guidelines 2005 und der AAM-Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008 haben die Mitglieder der AAMD von dem Erwerb eines archäologischen Objekts grundsätzlich Abstand zu nehmen, wenn nach angemessenen Sorgfaltsanstrengungen zur Bestimmung der Provenienz des Gegenstandes nicht mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass sich das Objekt schon vor dem Jahr 1970 außerhalb des Territoriums des kulturellen Entdeckungsortes befand oder der Gegenstand nach dem genannten Datum entsprechend den nationalen Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetzen des kulturellen Ursprungsstaates rechtmäßig ausgeführt wurde (vgl. Guidelines E.). In der Unterzeichnung der UNESCO-Convention vom 14. November 1970 sehen somit auch die Direktoren amerikanischer, kanadischer und mexikanischer Museen den Zeitpunkt eines neuen Dialoges über den Schutz archäologischer Objekte vor Raubgrabungen, Zerstörung der Fundstellen und dem Verlust des Kontextes bei illegalen Veräußerungen von Altertumsfunden (vgl. Statement of Principles D.). Aus diesen Gründen stellt das Jahr 1970 auch für die AAMD die zeitlich relevante Schwelle dar „for the application of more rigorous standards to the acquisition of archaeological materials and ancient art . . . .“38 Nach jedem Erwerb archäologischer Objekte haben die Museen die Akquisition unverzüglich mit einer repräsentativen Abbildung und der Provenienz des Gegenstandes in schriftlicher oder elektronischer Form der interessierten Öffentlichkeit kundzutun (vgl. Guidelines E.). 4. Berliner Erklärungen 1988 und 2003 Im Gegensatz zu zahlreichen ausländischen kulturellen Institutionen unterwerfen sich deutsche Museen – soweit ersichtlich – keiner eigenständigen, öffentlich publizierten Selbstregulation, sondern übernehmen die Verhaltensstandards des Deutschen Museumsbundes und ICOM Deutschlands. Der Deutsche Museumsbund39 hat in Form der sog. Standards für Museen vom Februar 200640 zwar eine 38 39
Quelle: http://www.aamd.org/newsroom/documents/2008ReportAndRelease.pdf. Vgl. http://www.museumsbund.de/index.php.
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Orientierung für eine qualifizierte Museumsarbeit in Deutschland vorgelegt, normiert jedoch selbst keinen Verhaltenskodex, sondern verweist auf die Fassung der ICOM – Ethische Richtlinien für Museen vom 6. Juli 2001.41 Danach soll ein Museum ein Objekt oder Exemplar nur dann kaufen, leihen oder als Geschenk bzw. Legat annehmen, „wenn der Träger und die verantwortliche Person im Museum überzeugt sind, dass ein gültiger Rechtstitel erlangt werden kann. Es müssen alle notwendigen Anstrengungen unternommen werden, um sicherzustellen, dass eine mögliche Neuerwerbung nicht etwa im Ursprungsland oder irgendeinem anderen Land (einschließlich des eigenen), in dem es sich legal befunden haben mag, auf illegale Weise erworben oder exportiert wurde. Bevor ein Erwerb in Erwägung gezogen wird, sollte alles daran gesetzt werden, die vollständige Provenienz des betreffenden Objekts zu ermitteln – von seiner Entdeckung oder Entstehung an“ (vgl. Punkt 3.2.). Inoffiziell schenken aber bspw. die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die ihr angeschlossenen Museen über die Beachtung der in Deutschland verfügbaren Fassung der ICOM – Ethische Richtlinien für Museen vom 6. Juli 2001 auch den sog. Berliner Resolutionen aus den Jahren 1988 und 200342 beim Erwerb archäologischer Objekte besondere Aufmerksamkeit.43 In der Berliner Erklärung zu Leihgaben und Neuerwerbungen von archäologischen Objekten durch Museen aus dem Jahr 1988 wird insbesondere der geschichtliche Zeugniswert von Altertumsfunden (d. h. die Dokumentation ihrer Auffindung (Ausgrabung) und ihrer späteren Aufbewahrung) betont (vgl. Punkt 6.) und jegliche Vernichtung oder Verschleierung der Angaben über Auffindung und Aufbewahrung archäologischer Gegenstände missbilligt (vgl. Punkt 7.). Ein konkretes Verhaltensprogramm wird in Punkt 8. normiert: „Um dem Verlust dieser Angaben sowie der möglichen Zerstörung archäologischer Stätten durch unerlaubte Ausgrabung keinen Vorschub zu leisten, müssen neu auftauchende Antiken auf die Geschichte ihrer Entdeckung und der darauf folgenden Aufbewahrung überprüft werden. Die Museen müssen sich vergewissern, keine Gegenstände durch Neuerwerb, Geschenk oder als Leihgaben aus einem Handel zu erhalten, der die Gesetze der Herkunftsländer verletzt und deswegen die Herkunftsangaben unterlassen hat. Alle Archäologen sollten vermeiden, einen solchen Handel durch Gutachten oder andere Auskünfte gegenüber Händlern oder Privatsammlern zu unterstützen. Die dafür Verantwortlichen sind aufgefordert, die Übertretung der Gesetze durch unerlaubte Ausgrabungen mit ausreichenden Strafen zu ahnden.“ Die sog. Berliner Resolution vom 25. Mai 200344 geht darüber hinaus und fordert über die Einhaltung der einschlägigen internationalen Konventionen45 zu40 Vgl. www.museumsbund.de/cms/fileadmin/geschaefts/dokumente/varia/Standards_fuer _Museen_2006.pdf. 41 Vgl. hierzu http://www.icom-deutschland.de/client/media/6/dicom.pdf. 42 Wiedergegeben bei Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 363 und 365. 43 So die Information von Frau Karthmann, Justitiarin bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
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nächst, dass „alle Objekte, die auf dem Markt angeboten werden, ein „Pedigree“ tragen, das Informationen über ihre Herkunft (Ort und Datum der Ausgrabung / Entdeckung, Erlaubnis des Exports aus dem Herkunftsland), und die Besitzverhältnisse (frühere / r und gegenwärtige / r Besitzer) bietet und von Wissenschaftlern, Kunsthändlern, Sammlern und Museumspersonal verwendet und geprüft wird“, um den legalen Austausch von und den legalen Handel mit archäologischen Objekten zu unterstützen. Vergleichbar zu den voranstehenden internationalen Soft LawStandards greift aber auch die Berliner Resolution 2003 das Datum der Unterzeichnung der UNESCO-Convention vom 14. November 1970 als Ausgangspunkt eines neuen Dialoges über den Schutz archäologischer Objekte vor Raubgrabungen, der Zerstörung der Fundstellen und dem Verlust des Kontextes bei illegalen Veräußerungen von Altertumsfunden auf und bestimmt unter Punkt 6 c), dass „das betreffende Museum nur solche Objekte erwirbt, für die dokumentiert ist, dass sie vor 1970 ausgegraben und bekannt geworden sind bzw. zu einem früheren Datum, das durch die Gesetzgebung ihres Herkunftslandes festgelegt wird“. V. Neue Verhaltensrichtlinien bei der Führung des archäologischen Sammlungsbestandes Über die beschriebenen Sorgfaltsanstrengungen beim Neuerwerb hinaus wird in den aktuellen Soft Law-Standards auch eine völlig neue Politik hinsichtlich der Führung bestehender Sammlungsbestände und der Reaktion auf potenzielle Restitutionsansprüche einzelner archäologischer Objekte mit makelhafter Provenienz promulgiert. Schon im ICOM–Code of Ethics for Museums vom 8. Oktober 200446 wurden unter Nr. 6.2 – 6.4 spezielle Richtlinien für die Repatriierung rechtmäßig ausgeführter Kulturgüter und für die Restitution illegal exportierter und kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter formuliert. Bereits in der in Deutschland verfügbaren Fassung der ICOM – Ethische Richtlinien für Museen vom 6. Juli 2001 wurde hierfür in Nr. 4.4 explizit auf die UNESCO-Convention vom 14. November 1970 und die UNIDROIT-Convention vom 24. Juni 1995 Bezug genommen: „Wenn ein Herkunftsland oder -volk die Rückgabe eines Objekts oder Exemplars erbittet und sich belegen lässt, dass der Gegenstand unter Verletzung der Prinzipien dieser Konventionen exportiert oder auf anderem Wege übereignet wurde und eigentlich zum 44 Vgl. ausführlich hierzu Heilmeyer / Eule, Illegale Archäologie – Internationale Konferenz über zukünftige Probleme bei unerlaubtem Antikentransfer, 23. – 25. 5. 2003 in Berlin, aus Anlass des 15. Jahrestages der Berliner Erklärung, 2004. 45 Vgl. Punkt 1: „Alle Staaten sollten die Konvention von Den Haag über den Schutz von Kulturgut im Fall von bewaffneten Auseinandersetzungen (1954) und ihre zwei Protokolle (1954, 1999), die Konvention der UNESCO über die Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut (1970) und die UNIDROIT-Konvention über gestohlene oder illegal exportierte Kulturgüter (1995) bestätigen und umsetzen“. 46 Vgl. http://www.icom-deutschland.de/client/media/7/code2006_eng.pdf.
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kulturellen oder natürlichen Erbe dieses Landes oder Volkes gehört, sollte das betreffende Museum umgehend geeignete Schritte einleiten und bei der Rückgabe helfen, sofern es rechtlich dazu befugt ist. Bei der Beantwortung von Anfragen bezüglich der Rückgabe von Kulturgütern an ihre Herkunftsländer oder -völker sollten Museen bereit sein, auf der Basis wissenschaftlicher und professioneller Prinzipien in einen unvoreingenommenen Dialog zu treten.“ Weitergehende Anforderungen formulieren heute die AAM-Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008: Um weitere kunsthistorische Forschungen bzgl. der einzelnen Objekte anzuregen und so von Anfang an möglichen Verdächtigungen der Inkorporation von Raubgrabungen in die eigenen Sammlungsbestände entgegenzuwirken, wurde den Museen in Punkt 3. die Pflicht selbstauferlegt, umfassend die Provenienz und die Voreigentümer sämtlicher archäologischer Objekte in ihren Sammlungen offenzulegen und unvollständige Pedigree sowie unklare Eigentumsverhältnisse weiterhin zu erschließen (ohne jedoch die Anonymität einzelner Spender preisgeben zu müssen). Außerdem sollen die Museen gegen sie gerichtete Ansprüche auf Restitution illegaler Raubgrabungen mit Respekt und Würde begegnen und dabei nicht nur ,harte‘ Rechtsvorschriften, sondern insbesondere auch ethische Gesichtspunkte berücksichtigen. Es wird empfohlen, Rückführungsverfahren möglichst unmittelbar im Diskurs mit den Anspruchstellern zu lösen, um eine gerichtliche Streitentscheidung zu vermeiden. Auch der Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art vom 4. Juni 2008 selbstauferlegt den angeschlossenen Museen in Guidelines G. entsprechende Verhaltensmuster: Erkennt ein Stakeholder als Folge der Provenienzerforschung innerhalb des eigenen Museumsbestandes archäologischer Objekte eine fremde Eigentumsposition, ist unverzüglich die betroffene Partei hierüber zu informieren und ggf. die Rückgabe des Gegenstandes zu initiieren. Macht eine dritte Partei ein Museum darauf aufmerksam, dass sich in seinen Beständen eventuell archäologische Objekte in fremder Eigentumsposition befinden, hat das betroffene Museum unverzüglich hierauf in angemessener Form zu reagieren, etwaige notwendige Schritte zu unternehmen und ggf. die Rückgabe an die berechtigten Eigentümer zu initiieren. Diese neuen Verhaltensrichtlinien sind insoweit von großer Bedeutung, als nationale Straf- und Zivilgerichte heute mehr und mehr dazu übergehen, unrechtmäßig ausgegrabene archäologische Gegenstände und illegal ausgeführte Altertumsfunde dem Diebstahl von Kunstwerken gleichzustellen, wenn dies die konkrete Ausgestaltung der nationalen Kulturgüter- und Denkmalschutzvorschriften der kulturellen Ursprungsstaaten erlaubt und so die Museen keine Eigentumsposition an den abhandengekommenen Objekten erwerben konnten. Hierzu instrumentalisieren öffentlich-rechtliche Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetze das Privatrecht und suchen die Aufrechterhaltung der inneren Konnexität zwischen einem kulturellen Zuordnungsobjekt und seinem Kulturgutträger über die zivilrechtliche Eigentumsposition. Mittels sog. umbrella statutes47 erfolgt bspw. eine ex lege-Designation
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hauptsächlich archäologischer Artefakte und Altertumsfunde zu Staatseigentum, in der Regel sogar unabhängig davon, ob diese bereits tatsächlich entdeckt wurden oder sich im Besitz oder zumindest in Kenntnis des Staates befinden. Ähnliche Rechtsfolgen ergeben sich auch bei Applikation sog. automatic forfeiture clauses bzw. sog. rhetorical ownership statutes48, die eine ex lege-Designation geschützter Kulturgüter zu Staatseigentum beim Versuch und im Moment der unrechtmäßigen Ausfuhr noch auf dem Territorium des kulturellen Ursprungsstaates vornehmen. Konnte der kulturelle Ursprungsstaat ohne weitere behördliche Handlung oder Inbesitznahme auf diese Weise Eigentum begründen und tatsächlich beweisen, dass der die Restitution beanspruchende Staat auch der berechtigte Staat ist (d. h., dass die archäologischen Objekte auch tatsächlich auf seinem Territorium illegal ausgegraben wurden), stehen einer Anerkennung und Durchsetzung der zivilrechtlichen Prägung des Staatseigentums an archäologischen Objekten auch im Ausland grds. keine rechtsdogmatischen Erwägungen entgegen, obwohl bspw. zu keinem Zeitpunkt Besitz bei dem Staat vorhanden war. Das wiederum hat auch für die selbstverpflichteten Museen zur Folge (die selbstverständlich an die Grundsätze von Recht und Ordnung gebunden sind), dass diese ggf. beim Erwerb nur die Besitz-, nicht aber die Eigentumsposition an den illegal ausgegrabenen Altertumsfunden erlangen konnten und somit der kulturelle Ursprungsstaat als wahrer Berechtigter anzusehen ist und einen Anspruch auf Restitution gegenüber dem Museum geltend machen kann.49
VI. ,Safe Havens‘ und ,Museums of Last Resort‘ In den voranstehenden Untersuchungen wurde das neue internationale Verständnis offenkundig, dass sich dem Problem des illegalen Kunsthandels allein mit Hilfe de lege lata noch überobligationsmäßig strengen Erwerbs-, Sorgfalts- und Verhaltensrichtlinien der einzelnen Stakeholder genähert und nur so die kulturelle Bindung bspw. archäologischer Objekte zu ihren Ursprungsstaaten effektiv gewahrt werden kann. Neben dem Schutzgedanken national wertvoller Objekte für ,ihren‘ Herkunftsstaat stehen jedoch die gleichermaßen schützenswerten Prinzipien der Substanzerhaltung kultureller Wertgegenstände und der Publizität, d. h. der Zugang der Öffentlichkeit zu Kulturgütern. Die beiden letztgenannten Grundsätze sollten dann zu einer Einschränkung des kulturellen Nationalitätsprinzips, zu 47 Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 3. Teil Rdnr. 102 ff. 48 Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 3. Teil Rdnr. 76 ff. 49 Solange nicht die Voraussetzungen des gutgläubigen rechtsgeschäftlichen Erwerbs oder der Ersitzung hier einschlägig sind und der Eigentumsherausgabeanspruch des kulturellen Ursprungsstaaten nicht verjährt oder verwirkt ist. Diese Fragen sind Gegenstand in Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010.
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neuen Verhaltensmaßstäben im Theoretischen und schließlich einer Lockerung der Erwerbs-, Provenienzerforschungs- und Sorgfaltsanforderungen im Praktischen führen, wenn es sich um sog. bedrohte bzw. sog. nachrichtenlose Kulturgüter handelt. In den Pressemeldungen wird uns fast täglich die Bedrohung der bedeutsamsten Kulturgüter unserer Menschheit durch Naturkatastrophen, Unfälle, Kriegsereignisse und andere Umstände vor Augen geführt. Kriegerische Auseinandersetzungen wie bspw. im Irak oder in Afghanistan führen in der Regel zu großen kulturellen Verlusten, durch physische Zerstörung ebenso wie durch Plünderung und Diebstahl. Auch während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien fielen zahlreiche bedeutsame Kulturgüter den Wirren dieser Zeit zum Opfer. Naturkatastrophen wie bspw. die großen Überschwemmungen in Florenz im Jahre 1966, in Dresden im August 2002 und New Orleans im August 2005 führten uns ebenso beispielhaft die Gefährdung des kulturellen Erbes der Menschheit vor Augen wie etwa Vulkanausbrüche in Italien und Indonesien, Erdbeben in Pakistan und im Iran und die Waldbrände in Kalifornien und Griechenland sowie der Brand der Anna-AmaliaBibliothek in Weimar.50 Auch der Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009 hatte über das menschliche Leid hinaus großen kulturellen Schaden zur Folge – zahlreiche Schätze der zweitausendjährigen Kölner Stadtgeschichte gingen hierbei unwiederbringbar verloren. Besonderen Gefahren sehen sich daneben aber auch nachrichtenlose Kulturgüter ausgesetzt. Zu dieser Gruppe zählen die unterschiedlichsten Objekte, die zur Zeit (noch) oder auch in der Zukunft keiner gesicherten Provenienz zugeschrieben werden können und deren berechtigter Eigentümer bis dato nicht zu ermitteln war. Hierunter fallen bspw. zahlreiche während des Zweiten Weltkriegs unrechtmäßig entzogene Kunstwerke, deren ursprüngliche (oftmals jüdische) Eigentümer nicht mehr zu ermitteln sind, insbesondere aber auch archäologische Altertumsfunde aus Raubgrabungen, deren genauer Fundort bislang unbestimmt geblieben ist und der kulturelle Herkunftsstaat bislang nicht festgestellt werden kann. Zur Lösung des letztgenannten Problems wird bspw. in der Berliner Resolution vom 25. Mai 2003 anerkannt, „dass ein Zufluchts-Museum für jede Region oder Nation bestimmt werden kann, das als legaler Aufnahmeort für illegal ausgegrabene Antiken dienen soll, die innerhalb des Gebiets der jeweiligen Region oder Nation, und zwar nur dort, aufgefunden worden sind.“51 Für alle im Kulturbereich tätigen Stakeholder bestehen im Umgang sowohl mit bedrohten als auch nachrichtenlosen Objekten aufgrund der beschriebenen Gefahrensituationen besondere Anforderungen, die eine Modifikation des gewöhnlichen Verhaltensprogramms gegenüber sonstigen Kulturgütern erfordern. 50 Vgl. hierzu auch die einführenden Ggedanken des Draft Report der Members of the Cultural Heritage Law Committee der International Law Association unter http://www. ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/13. 51 Wiedergegeben bei Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 365.
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Unabhängig von den konkreten Gefährdungsursachen kann so bspw. auf Veranlassung eines Staates, einer individuellen Privatperson, einem Museum oder einem anderen Rechtsträger ein Bedürfnis für eine temporäre Inobhutnahme und Unterschutzstellung bedrohter Kulturgüter bestehen, was zu einer sicheren Verwahrung, angemessenen Erhaltung und Ausstellung für die Öffentlichkeit führt, bis die Objekte wieder an ihren angestammten Ort bzw. in ihren kulturellen Ursprungsstaat zurückkehren bzw. die wahren Berechtigten ermittelt werden können. Ein Beispiel für eine solche Konstellation kann in der Verlagerung und temporären Inobhutnahme afghanischer Kulturgüter in das seitens des privaten Afghanistaninstituts geführten Afghanistanmuseum in Bubendorf in der Schweiz von 1999 – 2006 erkannt werden, um die Objekte aus dem Nationalmuseum der afghanischen Hauptstadt Kabul vor einer Zerstörung durch militärische Auseinandersetzungen zu schützen. Die Sicherung der kulturellen Objekte fand Zustimmung aller am afghanischen Bürgerkrieg beteiligten Konfliktparteien, insbesondere der Nordallianz und der Taliban, nachdem das Nationalmuseum in Kabul während des Bürgerkrieges mehrfach geplündert worden war. Nachdem die afghanischen Behörden 2004 um die Rückführung der Kulturgüter gebeten hatten und die UNESCO dies nach einer Überprüfung der Sicherheitslage befürwortete, erfolgte im März 2007 der Rücktransport. Es liegt jedoch nahe, dass bei Durchführung solcher Verfahren, bei der im Einzelfall notwendigen Präservation der Objekte und den Voraussetzungen der Rückgabe an die ursprünglich Berechtigten und kulturellen Ursprungsstaaten oftmals zahlreiche Unklarheiten im Verhalten der involvierten Parteien zueinander bestehen. Dies wurde bspw. in der amerikanischen Fallkonstellation Dole v. Carter aus dem Jahre 197752 ersichtlich, die die Rückgabe der ungarischen Stephanskrone und weiterer Kronjuwelen an Ungarn betraf, welche seit Ende des Zweiten Weltkrieges in den USA zur temporären Sicherung für das ungarische Volk aufbewahrt wurden. Nach langwierigen Verhandlungen wurde die Krone nach einem Entscheid des Präsidenten der Vereinigten Staaten Carter im Jahre 1978 an Ungarn zurückgegeben. Der amerikanische Senator Dole versuchte jedoch, die Rückgabe an das kommunistische Ungarn mit dem Argument zu verhindern, die Rückführung hätte eine internationale Bestätigung des sowjetisch dominierten Regierungssystems Ungarns zur Folge, was im Ergebnis zu einer internationalen Legitimierung in der Öffentlichkeit geführt hätte. Das Gericht stellte schließlich fest, dass es sich bei der Stephanskrone um ein Symbol der ungarischen Identität handele und diese deshalb zurückgeführt werden müsse. Die ungarische Nation war hier wichtiger als der aktuelle Staat.53
52 Dole v. Carter, 444 F.Supp. 1065 (D.C.Kan.1977), affirmed per curiam 569 F.2d 1109 (10th Cir. 1977). Vgl. dazu Kenety, Cornell Inf i L.J., S. I ff., 6 f. 53 Jayme, Die Nationalität des Kunstwerks als Rechtsfrage, in: Reichelt, Internationaler Kulturgüterschutz – Wiener Symposium 18. / 19. Oktober 1990, Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien, 1992, S. 7 – 30, S. 12.
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1. Guidelines for the Establishment and Conduct of Safe Havens for Cultural Material der ILA vom August 2008 Aufgrund der skizzierten Unklarheiten im Umgang mit bedrohten bzw. nachrichtenlosen Kulturgütern und des allgemeinen Bedürfnisses nach effektiven Richtlinien im Zusammenhang mit der Ingewahrsamnahme, Erhaltung und Rückführung innerhalb des kulturellen Quellenstaates oder nach Ausfuhr in einen Drittstaat zurück in den kulturellen Ursprungsstaat, hat die International Law Association auf ihrer 73. Konferenz in Rio de Janeiro vom 17. – 21 August 2008 in der Resolution No 2 / 2008 die von dem Cultural Heritage Law Committee erarbeiteten Guidelines for the Establishment and Conduct of Safe Havens for Cultural Material angenommen.54 Diese Prinzipien sollen einmal in die Codes of Conducts von Museen, Archäologen, Ethnologen und anderen staatlichen wie privaten Professionellen und Institutionen implementiert werden. Andererseits sollen sie gleichzeitig als Leitlinie eigenen Verhaltens in der Praxis, bei der Entwicklung neuer Standards und bei der Auslegung richtigen Verhaltens einzelner Institutionen und Organisationen dienen.55 Allgemein verstehen die Richtlinien unter einem „sicheren Hafen“ solche Einrichtungen, denen Kulturgüter56 zur Obhut anvertraut werden, die aufgrund bewaffneter Konflikte, Naturkatastrophen, illegaler Ausgrabung oder anderer Unsicherheiten in Gefahr gebracht und deshalb zur sicheren Aufbewahrung und Erhaltung vom Territorium des kulturellen Quellenstaates (d. h. von dem Staat, in dem Kulturgüter schutzbedürftig sind)57 auf das Gebiet eines anderen Staates oder zu einem sicheren Platz innerhalb des kulturellen Quellenstaates verbracht wurden.58 Die genannten Aufgaben werden in erster Linie staatliche oder private Museen und andere kulturelle Institutionen als nationale Organisationen innerhalb der Bahnen des innerstaatlichen Rechts und unter Aufsicht des aufnehmenden Staates übernehmen,59 wobei gleichzeitig aber auch den Gesetzen und Traditionen des kulturellen Quellenstaates Beachtung geschenkt werden soll.60 Die Guidelines etablieren dabei innerhalb der geltenden internationalen Konventionen (vgl. Nr. 7) und nationalen Rechtsvorgaben61 ein gegenseitiges PflichtenproAbrufbar unter http://www.ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/13. Vgl. Nr. 9. 56 Hierunter verstehen die Guidelines in Nr. 1 a) alle Kulturgüter i. S. d. Art. 1 der UNESCO-Convention on the Means of Prohibiting and Preventing the Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property (Paris) vom 14. November 1970. Es wird also auf eine eigene Definition verzichtet und auf die inzwischen weitläufig anerkannte UNESCO-Definition zurückgegriffen. 57 Vgl. Nr. 1 b). 58 Vgl. Nr. 2. 59 Vgl. Nr. 3. 60 Vgl. Nr. 4 b). 61 Vgl. Nr. 4 j), wonach Safe Havens generell an nationale Gerichtsentscheidungen insbesondere des Aufnahmestaates gebunden sind (vgl. Comment 4.10). 54 55
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gramm für die einzelnen Stakeholder, das selbstverständlich der Privatautonomie beider beteiligten Parteien unterliegt und von diesen durch bestenfalls schriftliche Vereinbarungen derogiert, präzisiert oder modifiziert werden kann (vgl. Nr. 6). Hauptpflichten eines Safe Haven sind die sichere Verwahrung und Erhaltung der anvertrauten Kulturgüter, auch wenn ausnahmsweise kein kultureller Quellenstaat bekannt ist. Dabei sind höchste Sorgfaltsanstrengungen an den Tag zu legen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Wertminderung oder Gefährdung zu verhindern.62 Eine Inobhutnahme kultureller Wertgegenstände, die unter Verletzung fremder Exportvorschriften aus dem Territorium eines anderen Staates ausgeführt wurden, soll zur Bekämpfung des kulturellen Schwarzmarktes und aus Respekt vor den Kulturgüter- und Denkmalschutzvorschriften fremder Herkunftsstaaten nach Nr. 4 h) grds. ausgeschlossen sein: „A safe haven shall not engage in any activity the result of which would be to stimulate illegal trafficking in cultural material or other threats to it.“ Ausnahmsweise soll dies dennoch möglich sein, wenn festgestellt werden kann, dass die Objekte den Ursprungsstaat unter Bedingungen verlassen haben, die die Ausstellung einer entsprechenden Ausfuhrgenehmigung zuvor verunmöglicht hatten. Die betroffenen Gegenstände sind in einer Inventarliste zu verzeichnen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nach entsprechender Kennzeichnung dürfen die Kulturgüter öffentlich ausgestellt und nach Zustimmung des kulturellen Quellenstaates auch verliehen werden, solange keine Gesetze oder Traditionen des letztgenannten anderes verlangen. Dabei erzielte Erlöse sind allein zur sicheren Verwahrung und Erhaltung kultureller Güter in Safe Haven zu verwenden, sodass keine Gewinnerzielung beabsichtigt sein darf. Da Safe Havens naturgemäß nur eine temporäre ,Zufluchtsstätte‘ für bedrohte Kulturgüter darstellen, ist die zweite Hauptpflicht aufnehmender Institutionen in der Rückgabe der Objekte zu sehen, sobald der ursprüngliche Eigentümer oder Berechtigte dies verlangt und gleichzeitig die sichere Verwahrung und Erhaltung der Gegenstände im kulturellen Quellenstaat gewährleistet ist.63 Für kulturelle Quellenstaaten besteht dagegen die Pflicht, den Safe Haven mit allen zur Ausfüllung seiner Funktion notwendigen Informationen über die betreffenden Objekte (wie bspw. spezielle Verwahrungsbedingungen ebenso wie rechtliche Informationen über den Eigentümer) auszustatten und – vorbehaltlich spezieller Vereinbarungen der Parteien – die angemessenen Kosten für die sichere Verwahrung, Erhaltung und Rückführung der Kulturgüter zu übernehmen, sobald sich diese wieder im kulturellen Quellenstaat befinden. Außerdem ist sicherzustellen, dass die Objekte nach Rückführung im kulturellen Quellenstaat sicher verwahrt und erhalten werden können.64 Bestehen für einen Safe Haven hinreichende Gründe zu der Annahme, dass nach einer Rückgabe keine sichere Verwahrung 62 Vgl. Nr. 4 a). Erhaltende Maßnahmen sind auch dann auszuführen, wenn keine Aussicht auf Kostenerstattung besteht. Grundsätzlich sind alle konservatorischen Maßnahmen mit dem kulturellen Quellenstaat abzustimmen. Vgl. Comment 4.1. 63 Vgl. zu dem Voranstehenden Nr. 4 c) – i). 64 Vgl. Nr. 5 a) – c).
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bzw. Erhaltung der Kulturgüter erfolgen wird, überwiegt das Prinzip der Substanzerhaltung gegenüber dem kulturellen Nationalitätsprinzip und der Safe Haven darf die Rückgabe solange verweigern, bis er zu der Überzeugung gelangt, dass der kulturelle Quellenstaat zum Schutz fähig ist.65 Für die Einrichtung, den Ablauf und die Durchführung eines Safe Haven-Programms stehen die UNESCO, der International Council of Museums (ICOM) und der International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) mit einem weitverzweigten internationalen Netzwerk als erfahrene Kompetenzträger und Ansprechpartner zur Verfügung und können so seitens der betroffenen Parteien kontaktiert werden.66 Als Annex findet sich am Ende der ILA-Guidelines ein Safe Haven Model Contract.67 2. Museums of last resort in aktuellen Codes of Conduct Einen ähnlichen Ansatz zu der Safe Haven-Konstruktion der ILA-Guidelines verfolgt das in den aktuellen Soft Law-Standards normierte Prinzip von Museums of last resort zum Schutz meist archäologischer Objekte ohne präzise Provenienzangaben. Bspw. fand die Idee von Museen als sog. Repositories of Last Resort in dem ICOM code of ethics for museums aus dem Jahr 200468 Rezeption.69 Danach dürfen Museen nicht daran gehindert werden, kulturelle Güter ohne Provenienz trotz der Sicherheit eines zuvor erfolgten unrechtmäßigen Entziehungsaktes und des illegalen Handels innerhalb des internationalen Kunstmarktes zu erwerben, wenn diese Objekte von ausstehender kultureller oder wissenschaftlicher Bedeutung sind.70 Vergleichbar sollen bspw. nach den britischen DCMS-Guidelines 2005 insbesondere Museen nicht daran gehindert werden, auch kulturelle Güter ohne endgültig gesicherte Provenienzangaben und trotz der Möglichkeit eines zuvor erfolgten unrechtmäßigen Entziehungsaktes zu erwerben. Dadurch sollen kulturell außergewöhnliche Gegenstände für die Öffentlichkeit bewahrt und vor dem endgültigen Verlust im kulturellen Schwarzmarkt bzw. in nichtöffentlichen Privatsammlungen geschützt werden. Diese Begründung wurde auch in den AAM-Standards Regarding Archaeological Material and Ancient Art vom 11. August 2008 als Argument für eine Einschränkung des strengen Sorgfaltsmaßstabs beim Erwerb archäologischer Kulturgüter genannt: „AAM recognizes that there are cases in which it may be in the public’s interest for a museum to acquire an object, thus bringing it into the public domain, when there is substantial but not full documentation that the provenance meets the conditions outlined above.“71 Anfänglich Vgl. Comment 5.3. Vgl. Nr. 8 und 9. 67 Vgl. http://www.ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/13. 68 Vgl. http://www.icom-deutschland.de/client/media/7/code2006_eng.pdf. 69 Vgl. in der deutschen Fassung aus dem Jahre 2001 (Übersetzung 2002) unter Punkt 3.2 am Ende. 70 Vgl. Nr. 2.11 und 3.4. 65 66
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wurde diese Tendenz nicht unkritisch rezipiert, da Museen so letztendlich mittelbar auch dem illegalen Kunsthandel Vorschub leisten. Im Ergebnis wurde aber die Bedeutung solcher Gegenstände für die Öffentlichkeit als Rechtfertigung anerkannt. Es geht also – so lehrt uns der Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art aus dem Jahr 2008 – um eine Balance zwischen „the possible financial and reputational harm of taking such a step against the benefit of collecting, presenting, and preserving the work in trust for the educational benefit of present and future generations.“72 Für einen Erwerb solcher Kulturgüter bestehen jedoch besondere Bedingungen: Voraussetzungen innerhalb der britischen DCMS-Guidelines 2005 sind bspw., dass die Objekte von ausstehender kultureller oder wissenschaftlicher Bedeutung sind, dass britische Museen grundsätzlich nur für britische Kulturgüter einen sicheren Hafen bilden sollen und dass die Kaufpreiszahlung illegalen Raubgrabungen keinen Vorschub leisten darf. Beim Erwerb nichtbritischer Kulturgüter sollten Museen die Objekte nur nach externer Expertenbefragung in einem öffentlichen Verfahren erwerben, die Erwerbsvorgänge schriftlich dokumentieren und danach die Öffentlichkeit hierüber in Kenntnis setzen.73 Besteht der Verdacht des Diebstahls bzw. des illegalen Exports, sind die Objekte den Strafverfolgungsbehörden zu melden.74 Auch die Policy on Acquisitions des British Museum vom 24. April 200775 erlaubt den Ankauf kultureller Wertgegenstände außerhalb des im Übrigen geltenden strengen Sorgfaltsmaßstabs für Neuerwerbungen unter besonderen Bedingungen: So darf das British Museum für Antiquitäten ausnahmsweise und nach Diskussion des Board of Trustees als repository of last resort agieren, insbesondere wenn die Objekte darauf schließen lassen, dass sie aus dem Territorium Großbritanniens stammen und die Kaufpreiszahlung illegalen Raubgrabungen keinen Vorschub leistet. Einen vergleichbaren Ansatz zeigt auch der Report of the AAMD Task Force on the Acquisition of Archaeological Materials and Ancient Art aus dem Jahr 2008. Ebenso wie die DCMS-Richtlinien vom Oktober 2005 werden in dem amerikanischen Soft Law-Instrument spezielle Situationen beim Erwerb archäologischer Gegenstände für möglich betrachtet, in denen letztlich keine abschließende Be71 Vgl. Nr. 2. Akzeptiert ein Museum in solchen Fällen den Erwerb auch ohne vollständige Provenienzangaben, sollten die Gründe hierfür erkennbar werden und im Einklang mit der Sammlungspolitik und den selbstauferlegten Verhaltensstandards des Museums stehen. 72 Vgl. Guidelines F. 73 Vgl. Nr. 11. Museums o last resorts for items originating in the UK. 74 „It is not possible to foresee any circumstances under which museums should purchase items known to have been stolen or illegally removed. If museums do acquire such items, they would normally come via law enforcement agencies. It is also crucial to ensure that any such acquisitions are lawful under, for example, the Dealing in Cultural Objects (Offences) Act 2003 and other legislation.“ Nr. 11. Museums o last resorts for items originating in the UK. 75 Vgl. http://www.britishmuseum.org/pdf/Acquisitions.pdf.
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stimmung des ursprünglichen Fundortes und der vollständigen Provenienz möglich ist.76 Bei der Akquisition solcher Gegenstände ist eine Abwägung zwischen der Möglichkeit des Erwerbs von Altertumsfunden aus Raubgrabungen oder illegalen Ausfuhren und der Sicherung der kulturell bedeutsamen Objekte vor Zerstörung und für die Öffentlichkeit vorzunehmen. Entscheidet sich das Museum für einen Erwerb, muss unverzüglich eine Mitteilung und detaillierte Dokumentation hierüber auf der Webseite des Museums erfolgen.
VII. Ergebnis Bei einer Gesamtschau der neuen Soft Law-Standards zum Schutz von Kulturgütern und archäologischen Altertumsfunden in Friedenszeiten lassen sich zahlreiche gemeinsame Grundprinzipien und Leitgedanken entwickeln, die essenziell für das moderne Verständnis selbstauferlegter und rechtlich unverbindlicher Verhaltensrichtlinien sind. Die Implementierung neuer Soft Law-Standards in das Gefüge des internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts lässt sich in den folgenden Ergebnissen zusammenzufassen: 1. Unter der Terminologie ,Soft Law’ können im weitesten Sinne alle Regeln, Übereinkünfte, Absichtserklärungen, Prinzipien, Richtlinien und Leitlinien (unterschiedlichster staatlicher wie nichtstaatlicher Normgeber) verstanden werden, die zwar nicht den verfahrenstechnischen und institutionellen Voraussetzungen formeller Gesetze, Rechtsvorschriften, Dekrete und zwischenstaatlicher Abkommen entsprechen (und somit nicht als Rechtsnormen im eigentlichen technischen Sinne zu qualifizieren sind), jedoch in besonderem Maße rechtsprägend auf das Verhalten der einzelnen Stakeholder als Normadressaten unmittelbar und damit der betroffenen Öffentlichkeit insgesamt mittelbar einwirken, dadurch zu einer eingeschränkten Marktgängigkeit illegal transferierter Objekte und einer Reduktion des illegalen Kunstmarktes führen, seitens der Judikative als „Gepflogenheiten“ oder „Gebräuche des Handels“ sowohl mittelbare als auch direkte Rezeption erfahren und als Auslegungshilfe wertausfüllungsbedürftiger und unbestimmter Rechtsbegriffe zu einer ,Verrechtlichung‘ ethischen Mindestverhaltens im Kunstmarkt beitragen und dabei gleichzeitig auf rechtsnormgebende Institutionen und die Organe der Rechtsfortbildung einwirken und bei der Basis aufgrund des selbstverpflichtenden Charakters, des Ausdrucks eines harmonisierten Verständnisses und der Normgebung „aus eigener Feder“ besondere Akzeptanz erfahren.
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Vgl. Statement of principles F.
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2. Die aktuellen Soft Law-Entwicklungen selbstauferlegen den einzelnen Stakeholdern regelmäßig höhere Standards als dies seitens der Rechtslage de lege lata gefordert wird und gehen so häufig über das gesetzliche Pflichtenprogramm hinaus. Der überobligationsmäßige Charakter wird bspw. einmal durch den freiwilligen Rekurs auf die zeitliche Grenze des Jahres 1970 und den Erlass der UNESCO-Convention vom 14. November 1970 ersichtlich, zum anderen verleihen die Stakeholder innerhalb der aktuellen Soft Law-Grundsätze ausländischen Kulturgüter- und Denkmalschutzgesetzen außerhalb des Anwendungsbereichs internationaler Konventionen auch dann Anwendung und sehen sich hieran gebunden (und verlangen demnach eine Ausfuhrgenehmigung des kulturellen Ursprungsstaates für den Erwerb eines Kulturguts), wenn diese nach dem Grundsatz der Nichtanwendbarkeit fremden öffentlichen Rechts von Rechts wegen keine extraterritoriale Berücksichtigung erfahren. 3. Dass es sich bei diesen Entwicklungen nicht nur um gut gemeinte Lippenbekenntnisse, sondern um aktive Verhaltensstandards in der täglichen musealen Praxis mit einschneidenden Auswirkungen für die betroffenen kulturellen Institutionen und Personen handelt, wird für den Antikenhandel bspw. aus der erst kürzlich getroffenen Vereinbarung des Cleveland Museum of Art mit dem italienischen Kultusministerium vom 19. November 2008 über die Rückführung von 14 illegal erworbenen Antiken aus dem Museumsbestand deutlich. Nach mehrjährigen Debatten um den Verbleib der Objekte vereinbarten die Parteien deren Rückführung, wobei sich Italien zu einer engen kulturellen Zusammenarbeit mit dem Museum und der Leihgabe verschiedener Objekte verpflichtete. Ausdrücklich erklärte Timothy Rub, der Direktor des Cleveland Museum of Art, die moderne Sammelpolitik im Bereich der Antiken: „This transfer demonstrates our commitment to build and maintain a collection of art from around the world and across time that is acquired in good faith using the highest ethical standards and after rigorous provenance research“77. Als Beispiel eines musealen Umdenkens kann auch die Restitution von 22 im Besitz des Budapester Museums der Bildenden Künste (Szépmuvészeti Múzeum) befindlichen antiken griechischen Gegenständen an Griechenland im September 2008 gesehen werden, die von dem Museum 1992 von einer Privatperson gekauft wurden, die behauptete, dass sie aus dem Besitz seiner Familie seien. Untersuchungen ergaben jedoch, dass einige der Gegenstände aus Ausgrabungsstätten in Griechenland gestohlen worden waren.78 4. Die Debatte über die neuen Soft Law-Ansätze im Bereich des internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts entzündet sich in erster Linie am Grad ihrer Verbindlichkeit. Teile der Literatur betonen insbesondere die Elemente der Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung. Ihnen ist zuzugeben, dass die Standards des Soft Law allein außerrechtliche Sanktionen besitzen, vom Staat nicht durchgesetzt werden können und Verletzungen auf Seiten der erfassten Stakeholder 77 78
Pressemitteilung vom 19. November 2008, Quelle: www.clemusart.com. Budapester Zeitung, Artikel vom 21. 9. 2008, http: //www.budapester.hu.
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keine rechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen. Ebenso wenig bewirken selbstauferlegte Richtlinien eine Derogation bzw. Modifikation der in innerstaatlichen und internationalen Rechtsvorgaben auferlegten Rechte und Pflichten der im Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht Beteiligten. Dementsprechend tragen auch die Soft Law-Standards des Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts die Gefahr in sich, nur theoretische Wunschvorstellungen festzuschreiben und von den Stakeholdern als Alibi missbraucht zu werden, um negativen Reaktionen der Öffentlichkeit vorzubeugen. Diese Vermutung ist zumindest insoweit nicht von der Hand zu weisen, als man die intensive inhaltliche Weiterentwicklung der voranstehenden musealen Verhaltensstandards im Bereich des Antikenerwerbs mit den Richtlinien von Kunsthändlern und Galeristen vergleicht: Die Anforderungen bspw. des Ethical Code of Conduct der Confédération Internationale des Négociants en Œúvres D’Art (CINOA), des Verhaltenskodex des Bundesverbandes Deutscher Kunst- und Antiquitätenhändler (BDKA) oder der Verhaltensrichtlinien des Deutschen Kunsthandelsverbandes e.V. vom 14. September 200179 gehen praktisch nicht über eine Repetition des gesetzlichen Verhaltensprogramms hinaus und lassen den Innovationsgehalt der neuen Soft Law-Standards missen. Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass sich nur die bedeutendsten und in besonderem Maße im Lichte der Öffentlichkeit stehenden Stakeholder den neuen Soft LawStandards verpflichtet fühlen, während viele im Kunstmarkt Beteiligte nur eine vergleichbar unbedeutende Kontrolle durch die Öffentlichkeit erfahren. 5. Andere Teile des Schrifttums sehen in den Soft Law-Standards jedoch vielmehr eine Ebene subsidiärer Regeln und komplementärer Richtlinien, die eine Vorstufe zukünftiger gesetzlicher Normen darstellen. Prägende Kennzeichen sind danach insbesondere die ,richtige‘ Auslegung kulturgüterunspezifischer Rechtsinstrumente i. S. d. Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts bei der Anwendung bestehender Gesetze und deren Weiterentwicklung. Schließlich betonen Dritte eher die praktischen Auswirkungen neuer Soft Law-Standards: Die einzelnen Stakeholder treten aus Eigeninitiative in einen Diskurs über das eigene Selbstverständnis, erkennen die Notwendigkeit moralischer Implikationen in ihrem Tätigkeitsfeld, reflektieren ,richtige‘ Verhaltensweisen im internationalen Kunstmarkt und zeigen so Verständigungs- und Kompromissbereitschaft gegenüber den Interessen Dritter. 6. Im Ergebnis wird allen drei Ansichten in vollem Umfange zuzustimmen und nur in dieser Querschnittsmaterie unterschiedlichster Funktionen die dauerhafte Position der speziellen Soft Law-Standards im Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht zu sehen sein. Rechtstechnisch und formal-legal steht außer Frage, dass die Selbstregulation der im Kulturbereich agierenden Partizipanten nur eine flankierende Aufgabe im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht übernehmen darf. Der Ausgleich der widerstreitenden Interessen ist ureigenste 79 Allesamt wiedergegeben unter Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rdnr. 367 ff.
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Aufgabe des Gesetzgebers und der internationalen Staatengemeinschaft: Codes of Ethics und selbstauferlegte Verhaltensrichtlinien im Ermessen der Museen, Kunsthändler, Galeristen und Auktionshäuser können weder den illegalen Kunsthandel im Alleingang verringern, noch die widerstreitenden Interessen und kulturellen, politischen und moralischen Implikationen in Kunstrestitutionsforderungen zum Ausgleich bringen. Private Regelungsvereinbarungen können und sollen somit nicht nationales, europäisches und internationales Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht ersetzen. Aus diesen Gründen ruht die Entscheidung über das angemessene Maß an Regeln für den Kunstmarkt und über die Art und Intensität der damit verbundenen Sanktionen in der ureigensten Verantwortung der nationalen Behörden eines jeden Staates – Kulturgüterschutz ist und bleibt insoweit primär eine Staatsaufgabe. Die neuen Soft Law-Standards nehmen heute jedoch eine wichtige ergänzende Funktion im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht ein. De facto ist heute weder an eine Reform des unzulänglichen Schutzes von für Deutschland wertvollen Kulturgütern nach dem Gesetz zum Schutz deutscher Kulturgüter vor Abwanderung aus dem Jahre 1955 noch an eine so weitreichende Modifikation der Vorschriften des Kulturgüterrückgabegesetzes vom 18. 5. 2007 zu denken, dass ausländische Kulturgüter einem effektiven Schutzprogramm unterfallen und fremde Kulturgüter- und Denkmalschutzvorschriften in Deutschland unmittelbare Anwendung finden. 7. Die neuen Soft Law-Standards verlagern deshalb in immer stärkerem Ausmaß bisher genuin staatliche und kulturpolitisch ausgestaltete Aufgaben – das Setzen von rechtlich verbindlichen Rahmenbedingungen zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste und zum Schutz national wertvoller Kulturgüter des eigenen Staates und ausländischer Nationen – in den Bereich freiwilliger, rechtlich unverbindlicher und selbstauferlegter Regelungsvereinbarungen. Dies ist nicht selbstverständlich, denn es geht hier um die Teilung von politischer Macht. Bildlich gesprochen kann man sich bei der Entwicklung neuer Verhaltensstandards (in Fachkomitees internationaler Organisationen und vergleichbaren Expertentreffen, auf internationalen Konferenzen, in musealen Verbänden und Händler- und Galeristenvereinigungen, in den Gremien einzelner Museen und anderen Zusammenschlüssen ebenso wie an Runden Tischen, in Koordinierungsgesprächen und Vereinbarungen, deren Ergebnisse von den Beteiligten als verpflichtend verstanden und aus eigenem Antrieb befolgt werden, ohne jedoch gleichzeitig formelle Entscheidungen darzustellen) an den berühmten Gestaltungsleitsatz des ersten großen amerikanischen Hochhausarchitekten und Hauptvertreters der Chicago School, Louis Sullivan, halten: „form follows function“. Selbstauferlegte Verhaltensstandards werden auf diese Weise auch in der Zukunft in rechtlichen Graubereichen des internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts in verstärktem Umfang das Verhalten der professionell im Kunsthandel beteiligten Museen günstig bestimmen, zukünftige Rechtsentwicklungen vorwegnehmen und so enorme Bedeutung zeitigen, auch wenn als Sicherheit der Regeleinhaltung nicht die rechtliche Einklagbarkeit, sondern das stabile Eigeninteresse aller Beteiligten
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an Verhaltens- und Erwartungssicherheit und die Kontrolle der Öffentlichkeit dienen.80 8. Damit zeigen die neuen Verhaltensrichtlinien die zukünftigen Entwicklungen im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht auf und antizipieren so einen internen Systemwechsel. Mehr und mehr verstehen sich die Museen und Institutionen in staatlicher als auch privater Trägerschaft als kulturelle Einrichtungen der Öffentlichkeit – auch wenn sie wie bspw. innerhalb der Vereinigten Staaten ganz überwiegend in privatrechtlichen Formen betrieben werden. Die neuen Soft Law-Grundsätze verdeutlichen, dass sich Museen weltweit verstärkt ihrer gesellschaftlichen und kulturpolitischen Aufgabe bewusst werden und hierfür bereit sind, sich einem völlig neuen Verhaltensprogramm zu unterwerfen, das nicht auf formal-legalen und rechtstechnischen Grundsätzen beruht, sondern sich neuen moralischen und ethischen Wertvorstellungen verpflichtet fühlt. 9. Dies wird in besonderem Maße beim Schutz national bedeutsamer Kulturgüter und archäologischer Objekte deutlich. Außerrechtliche Wertmaßstäbe fordern ein spezielles Verhaltensprogramm, das auf der besonderen Sachqualität und der Sonderstellung kultureller Güter als res sui generis basiert. Die neuen Soft Law-Standards erkennen im Kunstmarkt somit völlig zu Recht einen Handelszweig, der keine gewöhnlichen Umsatzgeschäfte zum Inhalt hat und aufgrund der kulturellen Unikatfunktion der Gegenstände und der besonderen kulturpolitischen Bedeutung von Kunstwerken für die Gesellschaft sich nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich vom Handel mit Gebrauchtwaren und sonstigen Konsumgütern unterscheidet, die nach Quantität und Masse ,umgeschlagen‘ werden und theoretisch beliebiger Reproduktion offenstehen. Die kulturellen Stakeholder sammeln, erwerben, verkaufen, leihen oder tauschen individualisierte und spezifizierte Gegenstände, die einer charakteristischen Vergangenheit in Form eines Pedigrees als Stammbaum des Kulturguts fähig sind. Da Kulturgüter anders als Konsumgüter einerseits nicht zum Verbrauch geschaffen wurden und andererseits aufgrund ihrer Einzigartigkeit auch nach Ablauf einer langen Zeitspanne seitens der ursprünglich Berechtigten wiedererkannt werden können, sind Kulturgüter als ,ewige‘ Objekte mit einer speziellen Sachqualität zu qualifizieren und eigenen Regeln zu unterwerfen. Das bislang im Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht vorherrschende formal-legale und rechtstechnische Verständnis muss überwunden werden: Dieses Bedürfnis findet in besonderem Maße in der Renaissancebewegung neuer Soft Law-Standards Ausdruck, die der speziellen Behandlung kultureller Güter als res sui generis aufgrund ihrer außergewöhnlichen, kulturpolitischen Bedeutung aus geschichtlichen, wissenschaftlichen, erzieherischen, ästhetischen oder sonstigen kulturellen Gründen in zahlreichen Ausgestaltungsvarianten und Facetten gerecht werden. Auf diese Weise werden alte Debatten innerhalb der kulturellen Gemein80 Vgl. zum Voranstehenden: Schlussbericht der Enquete-Kommission: Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten, Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drs. 14 / 92000 vom 12. 6. 2002 unter Punkt 10.3.4.
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schaft überwunden und es beginnt ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit im Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht, das sich an ethischen und moralischen Grundsätzen orientiert.
Der Schutz der Kulturgüter der australischen Ureinwohner Von Jürgen Bröhmer / Jennifer Greaney I. Persönliche Worte Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass der Kulturgüterschutz ein zentraler Pfeiler der akademischen Arbeit von Wilfried Fiedler war und ist. Es ist daher eine besondere Freude, zu seiner Festschrift einen Beitrag beisteuern zu dürfen, der sich mit dem jedenfalls außerhalb Australiens eher wenig beachteten Thema des Kultur(güter)schutzes der australischen Ureinwohner, der Aborigines, befasst. Meine Verbindung zu dem Jubilar geht auf meine Anfangszeit in Saarbrücken zurück. Im Rahmen des Aufbaustudiengang am Europainstitut habe ich damals bei Wilfried Fiedler die Vorlesung Völkerrecht belegt und mich zum zweiten Mal intensiv mit diesem Fach auseinandergesetzt, nachdem ich schon während des Studiums in Mannheim von Helmut Steinberger in die Materie eingeführt worden war. Ein staatsrechtliches Seminar folgte, in dem ich – vor derselben – eine Arbeit zum Wiedervereinigungsgebot vorlegte. Das ist mir vor allem deshalb noch gut in Erinnerung, weil ich gegen Ende der Arbeit noch eine erstaunlich dünne Dissertation zu diesem Thema fand. Über meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Georg Ress bestand auch weiterhin Gelegenheit, Wilfried Fiedler zu treffen, denn sein Lehrstuhl gebot über die völkerrechtliche Spezialbibliothek, das völkerrechtliche Seminar, und meine Arbeit am Lehrstuhl Ress und die Arbeit an meiner Dissertation zu Fragen der Staatenimmunität führten mich oft in Wilfried Fiedlers Seminar. Wilfried Fiedler übernahm auch, man möchte sagen folgerichtig, das Zweitgutachten zu meiner Dissertation „State Immunity and the Violation of Human Rights“. Es folgten die Habilitations- und Assistentenjahre in Saarbrücken, die immer auch die Gelegenheit zum Austausch mit Wilfried Fiedler boten. Nach der Emeritierung von Wilfried Fiedler und direkt nach meiner Habilitation durfte ich dann sogar Wilfried Fiedlers Lehrstuhl vertreten. Mit Wilfried Fiedlers Emeritierung ging die stolze völkerrechtliche Geschichte des Lehrstuhls, die Namen Seidl-Hohenveldern und Geck werden viele aus dem Fach noch kennen, zu Ende und mit dem Nachfolger zogen das Haushalts- und Medienrecht in die vormals dem Völkerrecht gewidmeten Räume ein.
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II. Hintergrund Wilfried Fiedlers Auseinandersetzung mit dem Kulturgüterschutz ist eng verbunden mit dem Thema Krieg und Kriegsfolgen und mit der Rückführung von Kulturgütern, die als Kriegsbeute oder durch die Kriegswirren aus ihrem eigentlichen Umfeld entfernt wurden.1 Daneben hat der Kulturgüterschutz und die Rückführung von Kulturgütern in ihren angestammten Kulturraum besondere Bedeutung für solche Güter erlangt, die insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert von den historischen archäologischen Stätten in die Museen vor allem Europas gelangt sind.2 In beiden Fällen geht es vor allem um Gegenstände aller Art bis hin zu ganzen Bauwerken. Die Australischen Ureinwohner haben in ihrer 40.000-jährigen Geschichte jedoch keine großen Bauwerke errichtet. Ihr Beitrag zur Kulturgeschichte des Landes liegt vor allem im Bereich des nicht-greifbaren: Sprache, Tradition, Wissen, Verbundenheit zu Land und Natur, eine gänzlich andere kulturelle Sicht auf die Dinge und, damit verbunden, eine gänzlich andere Wertordnung, in der das Materielle nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Geschichte der australischen Ureinwohner geht zurück in die graue Vorzeit.3 Seit wenigstens 40.000 Jahren leben die „First Australians“ in diesem Land. Ihre Zahl wurde im 18. Jahrhundert auf über 300.000 geschätzt. Auch wenn man mit anderen Schätzungen davon ausgeht, dass es mehr als doppelt so viele waren4, so wird doch deutlich, wie leer das Land Australien war, als die ersten Europäer zunächst als Entdecker und später als Siedler mit der „First Fleet“ in Australien eintrafen. Sie trafen auf eine stark dezentrale Urbevölkerung, mit mehreren hundert Sprachen und noch viel mehr Dialekten, die vorwiegend in kleineren Gruppen 1 S. z. B. folgende Beiträge des Jubilars: Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland über die Rückführung der während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter. in: 56 Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 2008, S. 217; Historische und rechtshistorische Argumente in den Verhandlungen über die Restitution von Kulturgütern zwischen Deutschland und Rußland. in: Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 229; Der Schutz von Kulturgütern während der Besetzung, in: Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 71; Zwischen Kriegsbeute und internationaler Verantwortung – Kulturgüter im Internationalen Recht der Gegenwart, 44 Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie (1997), S. 583 oder der 1995 als Monographie erschienene Aufsatz Kulturgüter als Kriegsbeute?. 2 Swanson, Stephanie, Repatriating Cultural Property – The Dispute between Yale and Peru over the Treasures of Machu Picchu, 10 San Diego International Law Journal (2009), S. 469; Morrow, Jessica Eve: The national stolen property act and the return of stolen cultural property to its rightful foreign owners, in: 30 Boston College International and Comparative Law Review (2007), S. 249 aus amerikanischer Sicht; Sheng, Gao, International Protection of Cultural Property, in: 12 Singapore Yearbook of International Law (2008), S. 57 (nicht nur) aus chinesischer Sicht. Zum Thema Rückführung s. a. Dolzer in Graf Vitzthum (Hrsg.) Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 157 ff. mwN. 3 D. R. Horton, Unity and Diversity: The History and Culture of Aboriginal Australia, in: I. Castles, Year Book Australia 1994, 397 ff. (im Volltext verfügbar über Google Books). 4 Die Schätzungen reichen bis über 1 Million, Year Book Australia 1994 (Fn. 3), S. 409 ff.
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als Nomaden über das Land verstreut lebten. Heute leben in Australien etwas mehr als 500.000 Menschen indigener Herkunft.5 Insbesondere der (zahlenmäßig kleinere) Teil der indigenen Bevölkerung, der in abgelegenen kleinen Gemeinschaften wohnt, oft ohne Zugang zu Versorgungseinrichtungen oder Schulen, ist von extremen sozialen Problemen bedroht (was nicht bedeutet, dass alle davon betroffen sind). Armut, Alkohol und Drogen, die Verfügbarkeit von pornografischem Material haben zu erschütternden Konsequenzen geführt. Ein 2007 veröffentlichter Bericht über die Zustände in abgelegenen Teilen des Northern Territory6 veranlasste die Bundesregierung zu einer Intervention mit Militär- und Polizeikräften und zu teilweise drastischen Maßnahmen sozial- und polizeirechtlicher Art.7
III. Indigener Kultur(güter)schutz 1. Der Begriff der indigenen Kulturgüter Der Begriff „Indigenous Heritage“ wird gemeinhin als Sammelbegriff für ganz verschiedene identitätsstiftende kulturelle Güter und geistiges Eigentum verstanden: „[t]he intangible and tangible aspects of the whole body of cultural practices, resources and knowledge systems that have been developed, nurtured and refined [ . . . ] by Indigenous people as part of expressing their cultural identity [ . . . ].8
Dazu gehören Gesänge, Tänze, Zeremonien, Symbole, Sprachen, traditionelles Wissen (Land, Fauna und Flora, Landwirtschaft, Natur, ökologisches Wissen, Nachhaltigkeit, Naturarzneimittel), spirituelles Wissen, Bestattungsartifakte, heilige Riten, humangenetisches Material, Sprachen und die Dokumentation indigener Traditionen und des Brauchtums.9 Die Begriffe Kulturgüter und Kulturgüterschutz („cultural heritage“) werden im folgenden in diesem Sinne gebraucht. Alle diese Güter bilden ein einheitliches Ganzes („integrated whole“10), verbunden durch die Beziehung zu Land und Boden. Die gesamte Kultur der australischen http: //www.abs.gov.au/AUSSTATS/[email protected]/mf/4714.0/. Report of the Northern Territory Board of Inquiry into the Protection of Aboriginal Children from Sexual Abuse, Ampe Akelyernemane Meke Mekarle „Little Children are Sacred“, 2007, http: //www.inquirysaac.nt.gov.au/. 7 Die sog. Intervention, offiziell Northern Territory National Emergency Response beruhend auf dem gleichnamigen Gesetz (Act) aus 2007, http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/ consol_act/ntnera2007531/. 8 Terri Janke, Our Culture: Our Future – Report on Australian Indigenous Cultural and Intellectual Property Rights (1999), S. 11. 9 Terri Janke, Our Culture: Our Future – Report on Australian Indigenous Cultural and Intellectual Property Rights (1999), S. 11 f. 10 Terri Janke, Our Culture: Our Future – Report on Australian Indigenous Cultural and Intellectual Property Rights (1999), S. 2. 5 6
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Ureinwohner ist bestimmt durch ein spezielles Verhältnis zu Land und Boden. Das australische Rechtssystem hingegen betrachtet diese Kulturgüter nicht ganzheitlich, sondern zerreißt das ganzheitliche Gefüge und ordnet systematisch ein. Das indigene Recht kennt z. B. keine Unterscheidung zwischen materiellen („tangible“) und immateriellen („intangible“) Rechtsgütern. Tanz, Liedgut, Landschaften und sogar Tiere sind gleichermaßen Ausdruck dieser bodenbezogenen Kultur. Als Konzept indigenen Rechts wäre Kulturgüterschutz zwangsläufig ganzheitlich. Da aber der Kulturgüterschutz systematisch aus dem australischen Recht fließt, ist eine Fragmentation eingetreten, um die jeweiligen Aspekte, insbesondere sachen- und eigentumsrechtlich, erfassen zu können. Schon das Verständnis von Eigentum und Besitz („property“) ist in beiden Kulturen höchst unterschiedlich. Die Beziehung der Aborigines zu Grund und Boden besteht nicht im Sinne von Eigentum und Besitz im westlichen Sinne. Die indigene Sicht ist geprägt vom Gedanken der pflegerischen Fürsorge („custodianship“). In diesem Sinne kann man sagen, dass nicht den Leuten das Land gehört, sondern dem Land die Leute.11 Gruppeneigentum ist ein Konzept, das westlichen Vorstellungen jedenfalls außerhalb gesellschaftsrechtlicher Vorstellungen zunächst widerspricht. Während Gruppeneigentum in manchen Bereichen, insbesondere bei den Eigentumsrechten, wie z. B. Bodenrechten und „native title“12, durchaus berücksichtigt werden kann, ist dies weniger der Fall im Bereich des geistigen Eigentums für traditionelles – im Unterschied zu originellem – Wissen. Hier gibt es Lücken in der australischen Rechtsordnung. Ein wesentlicher – erschwerender – Faktor für den Schutz indigener Kulturgüter war vor allem in der Vergangenheit zweifelsohne auch eine mehr oder weniger offen rassistische Politik auf der Grundlage der Überlegenheit der weißen Rasse. 2. Terra Nullius Terra Nullius ist ein völkerrechtliches Konzept im Zusammenhang mit der Aneignung von Land im Wege der Okkupation. Die Okkupation war ursprünglich eine Möglichkeit des originären Landerwerbs. Voraussetzung für den Erwerb von Land durch Okkupation war, dass das Land niemandem gehört, dass es also „terra nullius“ war.13 Bewohnte bzw. besiedelte Gebiete konnten nicht terrae nullius sein, 11 Williams, Nancy M., The Yolngu and their Land – A System of Land Tenure and the Fight for its Recognition, 1986, p. 102. Der Gedanke wurde auch von Justice Blackburn in der Milirrpum-Entscheidung aufgegriffen, s. u. Fn. 20. 12 Zu Begriff und Bedeutung Brennan, Sean, Native Title and the ,Acquisition of Property‘ under the Australian Constitution, 28 Melbourne University Law Review (2004), S. 28; French, Robert, The Role of the High Court in the Recognition of Native Title, 30 Law Review (2002), S. 129; Strelein, Lisa: From Mabo to Yorta Yorta, in: Washington University Journal of Law and Policy (2005), S. 225.
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wenn die Einwohner über eine gewisse soziale und politische Struktur verfügten. Dabei genügt es, wenn z. B. eine Stammesgemeinschaft ein Oberhaupt hat, welches in der Lage ist, für die Gemeinschaft zu sprechen.14 Daran gemessen, konnte Australien nicht als terra nullius angesehen werden. Das dies doch der Fall war, hatte wohl, neben – jedenfalls aus heutiger Sicht – rassistischen Grundhaltungen15, auch mit der Größe des Landes im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ureinwohner zu tun, die das Land als leer erscheinen lassen musste. Es hatte aber auch zu tun mit dem Sachenrecht des Common Law.16 Die Feststellung einer Eigentümerposition erfolgt im Common Law grundsätzlich durch Rückverfolgung der eigentumsrechtlichen Position bis hin zu einem originärem Rechtserwerb17 und den konnte die Okkupation einer terra nullius bieten. 1833 beschrieb der Supreme Court of New South Wales die indigene Bevölkerung als: „[ . . . ] wandering tribes [ . . . ] living without certain habitation and without laws [who] were never in the situation of a conquered people.“18
Man ging von der Besiedlung leeren Landes aus, bei der die indigene Bevölkerung nicht ins Gewicht fiel. Lord Watson brachte das 1889 wie folgt zum Ausdruck: „There is a great difference between the case of a Colony acquired by conquest or cession, in which there is an established system of law, and that of a Colony which consisted of a tract of territory practically unoccupied, without settled inhabitants or settled law, at the time when it was peacefully annexed to the British dominions. The Colony of New South Wales belongs to the latter class.“19
Die Meinung, dass das vorkoloniale Australien „terra nullius“ war und seine Ureinwohner Nomaden, die weder eine Regierung besaßen, ja noch nicht einmal eine Gesellschaft bildeten oder Grundeigentum kannten, herrschte bis weit ins 13 Vgl. Legal Status of Eastern Greenland, PCIJ, Series A / B, No. 53, 44 f., 63 f.; ICJ, Western Sahara, Gutachten v. 16. 10. 1975, ICJ Reports 1975, 12, para. 79. 14 ICJ, Western Sahara, Gutachten v. 16. 10. 1975, ICJ Reports 1975, 12, para. 81. 15 Man darf jedoch nicht vergessen, dass es immer schwierig ist, Vorgänge und Ansichten der Geschichte aus heutiger Sicht zu bewerten. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sogar 1919 die Satzung des Völkerbundes von der Existenz von „peoples not yet able to stand by themselves under the strenuous conditions of the modern world“ ausging (Artikel 22.1 Satzung des Völkerbundes, http: //avalon.law.yale.edu/20th_century/leagcov.asp) und auch an anderen Stellen Formulierungen enthält, die man sich heute nur schwer vorstellen kann. 16 Ganz umfassend zu der Bedeutung des Common Law und den Beziehungen zu indigenen Gesellschaften McHugh, P. G., Aboriginal Societies and the Common Law – A History of Sovereignty, Status, and Self-Determination, 2004. 17 Erst mit der Einführung des sog. Torrens Title Systems wurde ein dem deutschen Grundbuch ähnlichen Registersystem geschaffen, bei dem die Eigentümerposition aus der Eintragung in einem Register folgt und nicht auf der Vorlage und Rückverfolgung von entsprechenden Dokumenten. Dazu Raff, Murray: Torrens, Hübbe, Stewardship and the Globalisation of Property Law Systems, 30 Adelaide Law Review (2009), S. 245 ff. 18 MacDonald v Levy (1833), 1 Legge 39 (45). 19 Cooper v Stuart (1889), 14 App Cas 286 (291).
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20. Jahrhundert vor. Erstmals 1971 wurde in dem Fall Milirrpum20 anerkannt, dass dies so nicht richtig ist und die Aborigines ein komplexes Rechtssystem besaßen. Justice Blackburn stellte in deutlichem Kontrast zu den obigen Zitaten fest: „I am very clearly of the opinion, upon the evidence, that the social rules and customs of the plaintiffs cannot possibly be dismissed as lying on the other side of an unbridgeable gulf. The evidence shows a subtle and elaborate system highly adapted to the country in which the people led their lives, which provided a stable order of society and was remarkably free from the vagaries of personal whim or influence. If ever a system could be called „a government of laws, and not of men“, it is that shown in the evidence before me.“21
Allerdings stellte auch 1971 das Gericht noch fest, dass die Ureinwohner keine eigentumsrechtliche Beziehung zum Boden hatten und daher auch keine ursprünglichen Eigentumsrechte entstanden sein konnten.22 Diese Entscheidung führte zur Woodward Royal Commission und deren Feststellungen führten zum Erlass des Aboriginal Land Rights (NT) Act 1976.23 Erst 1992 mit der legendären Mabo-Entscheidung des High Court of Australia24 wurde die terra nullius Doktrin verworfen und die Möglichkeit vorkolonialer ursprünglicher Eigentumsrechte festgestellt. Es kann von daher nicht überraschen, dass der Gedanke des Schutzes der Kulturgüter der indigenen Bevölkerung erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Fahrt gewann. Im Vordergrund standen zunächst die materiellen Rechtsgüter; die immateriellen Aspekte traten erst später in den Blickpunkt. Im folgenden soll ein kritischer Überblick über die Entwicklung der Gesetzgebung in dem Bereich des Kulturgüterschutzes gegeben werden.
IV. Der gesetzgeberische Rahmen Wie schon erwähnt, ist der gesetzliche Schutz der Kulturgüter der indigenen Australier ein relativ neues Phänomen, da man für lange Zeit davon ausging, dass es keine erhaltenswerten indigenen Kulturgüter gab. Die Entwicklung des gesetzlichen Schutzes indigener Kulturgüter entwickelte sich ad hoc im Lichte der sich ändernden Bewertung der indigenen Kultur und der damit einhergehenden Anerkennung der – rechtlichen und tatsächlichen – Schutzwürdigkeit dieser Kulturgüter Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 141. Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 266 f. 22 Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 273. 23 R S French, native Title – A Constitutional Shift?, in: Lee / Gerangelos (eds.), Constitutional Advancement in a Frozen Continent: Essays in Honour of George Winterton, S. 126 (131). 24 Mabo v Queensland (No 2) („Mabo case“) [1992] HCA 23; (1992) 175 CLR 1 (3 June 1992), http: //www.austlii.org/au/cases/cth/high_ct/175clr1.html. Brennan J. geht ausführlich auf die geschichtlichen und rechtsgeschichtlichen Hintergründe ein. 20 21
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und im Gefolge eines Politikwandels weg von einer Assimilationspolitik hin zu einer mehr an Selbstbestimmung orientierten Politik. Der Wandel der Politik in diesem Bereich und die daraus folgende Gesetzgebung in den einzelnen Bundesstaaten, Territorien und auf Bundesebene25 erfolgte im wesentlichen in drei Phasen. In der ersten Phase ging es nur um den Schutz historischer Gegenstände („relics“).26 Die indigene Kultur wurde als etwas Vergehendes (Assimilation) und Vergangenes betrachtet und der Schutz von Gegenständen aus dieser Vergangenheit wurde nicht nach dem Wert bestimmt, den diese Gegenstände für die indigene Bevölkerung hatten und haben, sondern nach ihrem aus nicht-indigener Sicht historischen, archäologischen Wert. In der zweiten Phase fand die Tatsache Anerkennung, dass die indigene Kultur die Kolonisation überlebt hat und weiterlebt, dass es also um ein gegenwärtiges Phänomen geht (living-heritage) und dass insbesondere die besondere Verbundenheit zum Land und bestimmter Dinge darauf weiterbesteht. Resultat war die Anerkennung der Schutzwürdigkeit bestimmter Orte (Aboriginal sites) und die verstärkte Einbeziehung der Aborigines in den Schutz der eigenen Kultur.27 In der dritten Phase trat vor allem das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in den Vordergrund.28 Dies führte z. B. zur Einführung von Obliegenheitspflichten für Grundeigentümer und -besitzer, indigene Orte von Bedeutung nicht zu beschädigen, und einer größeren Einbeziehung der indigenen Bevölkerung auf der verfahrensrechtlichen Seite. 25 Der Bundesstaat Australien (The Commonwealth of Australia) besteht aus sechs Bundesstaaten (New South Wales, Queensland, Victoria, South Australia, Western Australia und Tasmanien) und aus zwei Territorien, dem Northern Territory und dem Australian Capital Territory mit der Bundeshauptstadt Canberra. Hinzu kommen noch einige kleinere Territorien außerhalb Australiens (unter direkter Kontrolle des Commonwealth: Ashmore and Cartier Islands, Christmas Island, Cocos (Keeling) Islands), Coral Sea islands, Jervis Bay Territory, Territory of Heard Island and McDonald Islands; völkerrechtlich prüfungsbedürftig erscheint die Nennung des Australian Antarctic Territories in diesem Zusammenhang) und Norfolk Island, mit eigener Administration, s. Norfolk Island Act 1979, http: //www.austlii.edu.au/au/ legis/cth/consol_act/nia1979158/. 26 Z. B. Aboriginal Relics Act 1975 (Tasmania), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/tas/ consol_act/ara1975159/; Archaeological and Aboriginal Relics Act 1972 (Victoria), http: // www.austlii.edu.au/au/legis/vic/hist_act/aaarpa1972421/; ein frühes Beispiel ist die Native and Historical Objects and Areas Preservation Ordinance 1955 (Northern Territory). 27 Z. B. Aboriginal Heritage Act 1972 (Western Australia), http: //www.austlii.edu.au/au/ legis/wa/consol_act/aha1972164/; Aboriginal and Torres Strait Islander Heritage Protection Act 1984 (Commonwealth), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984 549/; Aboriginal Land Rights (Northern Territory) Act 1976 (Commonwealth), http: //www. austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/alrta1976444/. 28 Von zentraler Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Bericht von Evatt, Elizabeth, Review of the Aboriginal and Torres Strait Islander Heritage Protection Act 1984, [1997] AUIndigLawRpr 38, http: //www.austlii.edu.au/au/journals/AILR/1997/38.html; für ein neueres Beispiel s. Department of Environment and Resource Management, Indigenous Cultural Heritage Acts Review – Key Issues and Draft recommendations, November 2009, http: //www.derm.qld.gov.au/cultural_heritage/pdf/ichar_key_issues_draft_rec.pdf.
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Durch die verschiedenen Phasen hindurch ist ein wachsender Respekt und stärker werdender Schutz indigenen Kulturgutes sichtbar und das Maß der Einbeziehung und Beteiligung der indigenen Bevölkerung hat sich deutlich erhöht. Dennoch verbleiben gravierende Schutzlücken. Immer noch handelt es sich mehr um einen Flickenteppich von Schutzgesetzen als um ein systematisches Ganzes und die föderale Struktur Australiens trägt zu dieser Zersplitterung bei. Die zentrale Forderung des Evatt-Berichts 199729 nach einer nationalen Politik in diesem Bereich ist immer noch unerfüllt. Andere Probleme betreffen das Ausmaß der Kontrolle in der Hand der indigenen Bevölkerung und der Konflikt des Kulturgüterschutzes mit anderen, insbesondere wirtschaftlichen Rechtsgütern und Interessen. 1. Die erste Phase Die frühen Gesetzgebungsakte zeigen deutlich die fehlende Anerkennung und den fehlenden Respekt für indigenes Recht und Kultur und gewährten keinerlei Einfluss- und Kontrollrechte der indigenen Bevölkerung in die Verwaltung dieser Rechte. Sharon Sullivan beschrieb die Einstellung folgendermaßen: „[T]he Acts of this period [ . . . ] refer to the items which they seek to protect as ,relics‘ [ . . . ]. None provides for any effective Aboriginal input, consultation or control. Ownership of sites and relics either resides with the present landowner or purchaser, or is claimed by the Crown. All designate a government department, usually a museum or nature conservation service, to administer the Act.“30
Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass es um Vergangenheit geht, dass die indigene Kultur eine Sache der Vergangenheit ist. Daraus folgte die fehlende Anerkennung der Tatsache, dass die Relikte und Orte aus der Vergangenheit eine große Bedeutung für die gegenwärtige Bevölkerung haben und dass diese Gegenstände und Orte nicht der indigenen Bevölkerung gehören und diese daher auch nicht in besonderer Weise in ihren Schutz einbezogen werden müssen. Der „Archaeological and Aboriginal Relics Preservation Act 1972 (Vic)“31 war ein typisches Beispiel für eine solche Gesetzgebung. Schon der Name des Gestzes macht deutlich, dass es um den archäologischen Wert der Relikte ging und nicht um den Wert dieser Relikte für die Aborigines in Victoria. In Section 3 des Acts wurde der Direktor des National Museum of Victoria zum „Protector of the ,relics‘“ bestellt. Section 2 des Acts definiert Relikte als „pertaining to the past occupation 29 Evatt, Elizabeth, Review of the Aboriginal and Torres Strait Islander Heritage Protection Act 1984, [1997] AUIndigLawRpr 38, http: //www.austlii.edu.au/au/journals / AILR/ 1997/38.html. 30 Sharon Sullivan, ,The Custodianship of Aboriginal Sites in South-Eastern Australia‘ In Isabel McBryde (ed.) – Who Owns the Past? (Oxford University Press, 1985), S. 141. 31 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/vic/hist_act/aaarpa1972421/. This Act has been repealed by the Aboriginal Heritage Act 2006, Section 195, http: //www.austlii.edu.au/au/legis/ vic/consol_act/aha2006164/s195.html.
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of Aboriginal people“ und geht daher offensichtlich davon aus, dass die indigene Bevölkerung die traditionelle Lebensweise aufgegeben hat und es keine Verbindung mehr zu diesen Relikten gibt. Daher erstaunt es auch nicht, dass das Gesetz keine Bestimmungen zum Schutz des Landes enthält32, auf dem sich diese Verbindung manifestiert, oder gar Bestimmungen über die Einbeziehung von indigenen Stakeholdern in die Implementierung des Gesetzes. In ähnlicher Weise wurde im Aboriginal Relics Act 1975 (Tas)33 verfahren. 2. Die zweite Phase In den 60ern und 70er Jahren begann sich die Einstellung zu indigener Bevölkerungen weltweit zunehmend zu ändern und das hatte auch Auswirkungen auf den Kulturgüterschutz. Die internationale Gemeinschaft begann sich mit den Rechten unterdrückter Völker zu beschäftigen, die australischen Ureinwohner erhielten das Wahlrecht34 und begannen sich selbst politisch zu betätigen und für ihre Rechte einzusetzen und das Referendum von 196735 war ein weiterer Meilenstein in dieser Entwicklung. In der ersten Phase war es zwar möglich geworden, Land und seine Nutzung für die indigene Bevölkerung zu kulturellen Zwecken zu schützen, aber das Land blieb weiterhin im Staatseigentum. Indigene Besitz- und Eigentumsrechte gab es nicht. Das führte in den 60er Jahren zu Protesten der Ureinwohner und zu Forderungen nach Besitz- und Eigentumsrechten. Die ersten „Land Rights“ Gesetze wurden verabschiedet.36 Die Bundesregierung, die verfassungsrechtlich in der Lage ist für die Territorien zu handeln, reagierte mit dem Erlass des Aboriginal Land Right (Northern Territory) Act 1976 (Cth).37 Diese und ähnliche Gesetze in anderen 32 Mit Ausnahme von Section 15 wonach die Relikte auf dem Land zu schützen waren und wonach Land zu einem archäologischen Gebiet erklärt werden kann. 33 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/tas/consol_act/ara1975159/. 34 Die Aborigines in Australien bekamen erst 1962 mit der Änderung des Commonwealth Electoral Act das volle Wahlrecht auf Bundesebene zugesprochen. Im Unterschied zu den eingewanderten Australiern bestand jedoch keine Wahlpflicht. Weitere Information zur Entwicklung des Wahlrechts für Aborigines im Überblick unter http: //www.aec.gov.au/pdf/ education/resources/history_indigenous_vote.pdf. S.a. Norberry, Jennifer: The Evolution of the Commonwealth Franchise – Tales of Inclusion and Exclusion, in: Orr / Mercurio / Williams (eds.), Realizing Democracy – Electoral Law in Australia, 2003, S. 80 ff. 35 In einem verfassungsändernden Referendum stimmten 1967 über 90 % der Australier für die Änderung von Verfassungsbestimmungen diskriminierender Art, u. a. mit der Folge, dass nunmehr die indigene Bevölkerung der Bundesgesetzgebung unterstand. Weitere Informationen unter http: //indigenousrights.net.au/section.asp?sID=5. Im Gefolge kam es zur Einrichtung eines Office of Aboriginal Affairs und des ersten Ministers für Aboriginal Affairs. S.a. Bennett, Scott: The 1967 Aborigines Referendum, in: Yearbook Australia 2004, S. 41 ff., download erhältich unter http: //www.abs.gov.au/AUSSTATS/[email protected]/DetailsPage/1301. 02004?OpenDocument. 36 Aboriginal Land Trusts Act 1966 (South Australia), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/ sa/consol_act/alta1966237/.
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Jurisdiktionen beinhalteten ein genuines Eigentumsrecht (freehold title) für traditionelle Eigentümer oder für die indigenen Menschen in dem Gebiet, wenn es sich um Land ohne besondere Zuordnung oder um „indigenous land“ handelte.38 Das Eigentumsrecht beruhte auf der Beziehung zu dem Land durch kulturelle Traditionen und altem Gewohnheitsrecht. In den abgelegenen Gebieten Australiens kam es aufgrund dieser Gesetzgebung zur Übertragung von ganzen Regionen an die Ureinwohner.39 Diese Übertragungen verfolgten verschiedene Zwecke. Sie sollten Ersatz für frühere Vertreibungen sein, der Anerkennung der Rechtsordnung der Aborigines dienen, die spirituelle Bedeutung des Landes anerkennen und die damit einhergehende besondere Verbindung dieses Teils der Bevölkerung zu diesem Land, sie sollten der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung dienen und der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts.40 Justice Wilson brachte den Wandel in der Entscheidung Gerhardy v Brown zum Pitjantjatjara Land Rights Act 1981 (South Australia) aus dem Jahre 1985 folgendermaßen auf den Punkt: „10. In my opinion, the State Act bears upon its face the clear stamp of a special measure such as is contemplated by the Convention. The emphasis upon traditional ownership and the functions of Anangu Pitjantjatjaraku set out in s. 6(1) are plainly directed to enabling the Pitjantjatjaras to protect and preserve their culture, a culture which, as the Premier observed in the House of Assembly in the course of the second reading speech (see Hansard, House of Assembly, 23 October 1980, p. 1387) „is still largely intact“. In his speech, the Premier refers to the extensive discussions and negotiations with the Aboriginal leaders of the relevant tribes that preceded the preparation of the Bill. The result is a measure directed to securing for the Pitjantjatjaras such advancement as will enhance their capacity to experience the full and equal enjoyment of human rights and fundamental freedoms. This conclusion is open notwithstanding the uncertain content of the phrase „human rights and fundamental freedoms“. There is no reason to doubt that the detailed provisions regarding access to the lands which are contained in s. 19 were seen by the legislature as reasonable and necessary measures to enable Anungu Pitjantjatjaraku to discharge its functions in a manner most conducive to the advancement and protection of its members.“41
Es liegt auf der Hand, dass die Übertragung genuiner und exklusiver Eigentumsrechte, einschließlich des Rechts, andere von der Nutzung des Landes auszuschließen42, Voraussetzung dafür war, dass die Ureinwohner den Schutz der eigenen Kul37 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/alrta1976444/. Im Gefolge auch der Ergebnisse der Woodward Royal Commission und der Entscheidung in Milirrpum v Nabalco Pty Ltd (1971) 17 FLR 141. Dazu auch oben Fußnoten 20 ff. 38 Vgl. Section 16 des Aboriginal Lands Trust Act 1966 (South Australia), http: //www. austlii.edu.au/au/legis/sa/consol_act/alta1966237/s16.html. 39 Etwa 1,2 Millionen km2 bis 2006, McCrae u. a., Indigenous Legal Issues: Commentary and Materials, 4. Auflage 2009, S. 208. 40 Australian Human Rights Commission, Native Title Report 2005, chapters 1, 7, http: // www.hreoc.gov.au/social_justice/nt_report/ntreport05/index.html. 41 Gerhardy v Brown [1985] HCA 11, para 10. http: //www.austlii.edu.au/au/cases/cth/ HCA/1985/11.html. 42 Diese Gesetze enthielten Bestimmungen, wonach es strafbar wurde, wenn eine nichtindigene Person Land von Aborigines ohne Berechtigung betrat, s. z. B. Section 4 des Abori-
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turgüter in die eigene Hand nehmen konnten. Die Gesetzgebung unterstrich und anerkannte zudem auch die besondere kulturelle Verbindung dieses Teils der Bevölkerung zu dem Land und auch dies sollte die spätere Rechtsentwicklung beeinflussen. Das erste Gesetz, das mit einer dezidiert anderen Einstellung die Probleme anging, war der Aboriginal Heritage Act 1972 (Western Australia). Der vollständige Titel des Gesetzes gibt Auskunft über seinen Zweck und seine Grundhaltung: „An Act to make provision for the preservation on behalf of the community of places and objects customarily used by or traditional to the original inhabitants of Australia or their descendants, or associated therewith, and for other purposes incidental thereto.“43
Es ist dies das erste Gesetz, welches die besondere Beziehung der indigenen Bevölkerung zu ihrem Land würdigte. Nach Section 17 des Gesetzes macht sich strafbar wer unbefugt „(a) excavates, destroys, damages, conceals or in any way alters any Aboriginal site; or (b) in any way alters, damages, removes, destroys, conceals, or who deals with in a manner not sanctioned by relevant custom, or assumes the possession, custody or control of, any object on or under an Aboriginal site [ . . . ].“44
Gemäß Section 5 Buchst. (a) ist das Gesetz anwendbar „[t]o any place of importance and significance where persons of Aboriginal descent have, or appear to have, left any object, natural or artificial, used for, or made or adapted for use for, any purpose connected with the traditional cultural life of the Aboriginal people, past or present;“45
Damit wurde zum ersten Mal anerkannt, dass Kulturgüterschutz nicht (nur) mit der Vergangenheit und Vergangenem zu tun hat, sondern, dass es um eine lebende Kultur geht. Das Gesetz schützt in Section 7 durch eine Auslegungsklausel auch den traditionellen Gebrauch des Landes unter dem indigenen Gewohnheitsrecht: (1) Subject to subsection (2), in relation to a person of Aboriginal descent who usually lives subject to Aboriginal customary law, or in relation to any group of such persons, this Act shall not be construed (a) so as to take away or restrict any right or interest held or enjoyed in respect to any place or object to which this Act applies, in so far as that right or interest is exercised in a manner that has been approved by the Aboriginal possessor or custodian of that place or object ginal Land Act 1978 (Northern Territory), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/nt/consol_act/ ala126/. 43 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/wa/consol_act/aha1972164/index.html#s1 44 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/wa/consol_act/aha1972164/s17.html. 45 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/wa/consol_act/aha1972164/s5.html(Hervorhebungen durch die Autoren).
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and is not contrary to the usage sanctioned by the Aboriginal tradition relevant to that place or object; or (b) so as to require any such person to disclose information or otherwise to act contrary to any prohibition of the relevant Aboriginal customary law or tradition.“46
Diese Bestimmungen verdeutlichen den enormen Wandel hin zu mehr Respekt für indigene Kultur und indigenes Recht im Vergleich zu dem Reliktschutz der ersten Generation. Trotz dieser positiven Entwicklung war man noch nicht so weit, den Ureinwohnern direkte Kontrolle einzuräumen. Es spricht viel dafür, dass auch dies noch ein Reflex aus der Zeit war, wo die Ureinwohner als minderwertige Kultur erachtet wurden, die daher des Schutzes der Regierung bedurften und deren Existenz im Assimilierungsprozess nur eine Frage der Zeit sein sollte. Der westaustralische Aboriginal Heritage Act 1972 sah im V. Teil (Section 28 ff.) die Schaffung eines „Aboriginal Cultural Materials Committee“ vor, für dessen Mitgliedschaft es ausdrücklich nicht auf Zugehörigkeit zur Ureinwohnerschaft ankam: „Subject to subsection (3), the appointed members shall be selected from amongst persons, whether or not of Aboriginal descent, having special knowledge, experience or responsibility which in the opinion of the Minister will assist the Committee in relation to the recognition and evaluation of the cultural significance of matters coming before the Committee, and shall be appointed by the Minister from a panel of names submitted for the purposes of this Act by the Registrar.“47
Der Akt übertrug den Aborigines auch nicht die Kontrolle über den Zugang zu den geschützten Orten von kultureller Bedeutung. Es ging, wie der oben schon erwähnte volle Name des Gesetzes ausdrückt, um die Gesellschaft als Ganzes und nicht um die Ureinwohner. In dem Fall State of Western Australia & Ors v Bropho & Anor entschied der Federal Court, dass ein Ureinwohner nicht befugt ist, das Gesetz anzugreifen, weil das Gesetz nicht die Ureinwohner West-Australiens begünstigen will, sondern die Gesellschaft insgesamt.48 Ein weiteres wichtiges Gesetz in diesem Zusammenhang ist der National Parks and Wildlife Act 1974 (NSW).49 Trotz des missverständlichen Namens geht es in diesem Gesetz auch um den Schutz indigener Kulturgüter. In seiner ursprünglichen Form war dieses Gesetz stark reliktsbezogen. Jedoch haben Gesetzesänderungen diesen Grundcharakter grundlegend verändert, zunächst in Richtung des westaustralischen Gesetzes und danach in Richtung der Empfehlungen des EvattReports.50 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/wa/consol_act/aha1972164/s7.html. Section 28 (4), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/wa/consol_act/aha1972164/s28.html. 48 The State of Western Australia & Ors v Bropho & Anor (1991) 5 WAR 75 [27] (Anderson J). 49 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/nsw/consol_act/npawa1974247/. 50 S.o. Fußnote 29. 46 47
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Anfang der 80er Jahre war ein Stadium erreicht, wo der indigene Kulturgüterschutz eine Mischung aus Reliktsschutz und Anerkennung des Konzepts der „living heritage“ darstellte, landbezogener Schutz gewährt, also Gegenstände und bestimmte kulturell relevante Orte geschützt wurden und zu einem gewissen Grad auch das indigene Gewohnheitsrecht anerkannt wurde. Trotz dieser Anstrengungen verblieben signifikante Schutzlücken. Ein Beobachter schrieb: „[ . . . ] [A]ll current Aboriginal heritage legislation is defective in serious ways – when measured against the rights of aboriginal people to be the owners and managers of their own cultural heritage.“51
1984 erließ der Bund den Aboriginal and Torres Strait Islander Heritage Protection Act 1984.52 Der ATSIHPA war ursprünglich nur als Übergangsmaßnahme gedacht bis zum Inkrafttreten umfassender Landrechtsgesetzgebung der Bundesstaaten, Territorien und des Bundes. Das geschah aber nicht und so wurde der ATSIHPA zu einer Dauerlösung. Obwohl der Akt als Bundesgesetz grundsätzlich die einzelstaatliche Gesetzgebung verdrängt, wurde in Section 7 ausdrücklich bestimmt, dass „(1) [T]his Act is not intended to exclude or limit the operation of a law of a State or Territory that is capable of operating concurrently with this Act.“53
Section 4 definiert den Gesetzgebungszweck wie folgt: „The purposes of this Act are the preservation and protection from injury or desecration of areas and objects in Australia and in Australian waters, being areas and objects that are of particular significance to Aboriginals in accordance with Aboriginal tradition.“54
Die Ziele des Gesetzes werden implementiert durch ministerielle Schutzerklärungen betreffend kulturell wichtige Orte und Objekte. Eine solche Schutzerklärung darf aber gemäß Section 13 erst nach Konsultation mit dem jeweils zuständigen Minister des betreffenden Bundesstaates oder Territoriums ergehen. Das zeigt, dass das Bundesgesetz nicht den Bundesstaaten und Territorien vorgreifen will, sondern nur dann eingreifen soll, wenn auf der unteren Ebene kein adäquater Schutz besteht.55 Diese Auffangfunktion wurde durch Justice French in Tickner v Bropho bestätigt. Grundlage des ATSIHPA sei: [ . . . ] the idea that it would be used as a protective mechanism of last resort where State or Territory legislation was ineffective or inadequate to protect heritage areas or objects.56
51 H Fourmile, Aboriginal Heritage Legislation and Self-Determination, 7 Australian-Candaian Studies 45 (1989), s. a. Boer / Wiffen, Heritage Law in Australia, 2005, 265 ff. 52 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984549/. 53 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984549/s7.html. 54 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984549/s4.html. 55 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984549/s13.html. 56 114 ALR 409, 47.
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Die Schutzerklärung des zuständigen Bundesministers zugunsten eines kulturell wichtigen Objektes oder eines Gebietes erfolgt auf Antrag eines Mitgliedes der indigenen Gemeinschaft, wenn eine Gefahr für diese Rechtsgüter besteht.57 Dabei muss der Minister auch die wirtschaftlichen oder Eigentumsinteressen betroffener Personen berücksichtigen.58 Die Zahl ministerieller Schutzerklärungen ist bisher gering geblieben, trotz vieler Anträge. Der Grund dürfte einerseits darin liegen, dass der Bund nur ungern den Bundesstaaten vorgreifen will. Zum anderen spielen aber auch die oft involvierten starken wirtschaftlichen Interessen eine Rolle und das Entwicklungsinteresse hat oft ein stärkeres Gewicht als das Kulturgüterschutzinteresse. Der ATSIHPA wurde zunehmend kritisiert und wurde 1996 einer Bestandsaufnahme unterzogen. In dem von Elizabeth Evatt verfassten Bericht wird festgestellt: „Aboriginal people consider that the Act has not protected their heritage. Few declarations have been made and only one is now in force. They say that the administration of the Act has given too much deference to ineffective State and Territory processes which do not recognise their role in the identification, management and protection of heritage. In some situations negotiations by the Commonwealth with the State / Territory government have resulted in arrangements being made without adequate consultation with Aboriginal people. In addition, the Act does not recognise that there are Aboriginal restrictions on information which play an important role in the protection and maintenance of their cultural heritage. The Act does not protect confidential information or respect Aboriginal spirituality and beliefs which require that confidentiality to be maintained. Its failure to deal with all aspects of heritage, including intellectual property was another subject of concern, though the Review has been unable to deal with this issue in detail (see Chapter 3). Nor does the Act adequately recognise or provide for the involvement of Aboriginal people in negotiation and decision-making about their cultural heritage. Aboriginal people want the Act to be maintained and strengthened.“59
Eine der zentralen Empfehlungen des Berichts war die Entwicklung einer kohärenten nationalen Politik auf deren Grundlage sowohl der Bund als auch die Bundesstaaten und Territorien gesetzgeberisch tätig werden können: „The Commonwealth should develop a national policy for all aspects of indigenous heritage protection. Such policy should form the basis of standards for cultural heritage protection, and for programmes at all levels of government which affect Aboriginal heritage. An Aboriginal-controlled body such as an Aboriginal Cultural Heritage Advisory Council should have responsibility to oversee the implementation of this proposal, and should also have a role in monitoring Aboriginal heritage protection nationally and in co-ordinating laws and programmes that have an impact on Aboriginal heritage.“60 57 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/consol_act/aatsihpa1984549/, cf. Sections 9, 10, and 12. 58 ATSIHPA s10(1)(c) as it relates to ss 10(4)(e) and s 12(1)(c). 59 Evatt, Elizabeth, Review of the Aboriginal and Torres Strait Islander Heritage Protection Act 1984, [1997] AUIndigLawRpr 38, http: //www.austlii.edu.au/au/journals/AILR/ 1997/38.html. 60 Ibid.
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3. Die dritte Phase Der Evatt Review führte zu einer Reihe von Gesetzesänderungen zur Umsetzung der dort enthaltenen Empfehlungen.61 Insbesondere wurden der indigenen Bevölkerung und ihren Repräsentanten viel mehr Kontrollrechte eingeräumt oder, anders ausgedrückt, die Aborigines wurden zu handelnden Subjekten und waren nicht mehr nur zu schützende Objekte staatlichen Handelns.62 Neuere Gesetze in Queensland, Victoria und dem Australian Capital Territory und ein im Moment im Landesparlament von New South Wales anhängiger Gesetzentwurf63 führen diese Entwicklung fort. Der Aboriginal Heritage Act 2006 (Victoria) enthält eine ganze Reihe von Vorschriften betreffend die direkte Ermächtigung der indigenen Bevölkerung in diesem Bereich. Das reicht von der Registrierung als „Aboriginal Party“ mit Beratungsfunktion über die ganze Bandbreite wichtiger Fragen zum Kulturgüterschutz bis hin zur Schaffung eines „Aboriginal Cultural Heritage Councils“ der nur aus Aborigines selbst besteht und über erhebliche Befugnisse verfügt.64 Ähnliche Vorschriften finden sich auch in anderen Bundesstaaten.65 Auch der rechtliche Schutz indigener Kulturgüter wurde erheblich verschärft. So enthält z. B. der Queensland Act strafbewehrte weitreichende Sorgfaltspflichten: „(1) A person who carries out an activity must take all reasonable and practicable measures to ensure the activity does not harm Aboriginal cultural heritage (the cultural heritage duty of care).“66
Der Act Victorias stellt die vorsätzliche und fahrlässige Verletzung indigener Kulturgüter unter Strafe wobei Fahrlässigkeit mit Blick auf die Kulturgütereigenschaft ausreicht.67 Die indigenen Interessen wurden auch im Hinblick auf die Abwä61 Z.B Aboriginal Heritage Act 2006 (Victoria), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/vic/ consol_act/aha2006164/; Aboriginal Cultural Heritage Act 2003 (Queensland), http: //www. austlii.edu.au/au/legis/qld/consol_act/acha2003264/; Heritage Act 2004 (Australian Capital Territory), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/act/consol_act/ha200486/. 62 Der Northern Territory Aboriginal Sacred Sites Act 1989, http: //www.austlii.edu.au/au/ legis/nt/consol_act/ntassa453/, hatte insoweit schon vor dem Evatt-Report eine Führungsrolle übernommen und ein Entscheidungorgan aus 10 Aboriginals mit weitreichenden Vollmachten zur Durchführung des Gesetzes eingerichtet. 63 National Parks and Wildlife Amendment (Aboriginal Cultural Heritage) Bill 1998, http: //www.parliament.nsw.gov.au/prod/parlment/nswbills.nsf/1d4800a7a88cc2abca256e9800 121f01/0ad4ab88dcef58b84a25669f00111e3d/$FILE/x98 – 055.pdf. 64 Aboriginal Heritage Act 2006 (Victoria), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/vic/consol_ act/aha2006164/. 65 S. z. B. Division 4, part 4 of Aboriginal Cultural Heritage Act 2003 (Queensland), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/qld/consol_act/acha2003264/; Part 3 des Heritage Act 2004 (Australian Capital Territory), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/act/consol_act/ha200 486/. 66 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/qld/consol_act/acha2003264/s23.html.
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gung konfligierender Interessen z. B. wirtschaftlicher Art ausgeweitet, z. B. durch erheblichen Einfluss auf Planungsentscheidungen. Der Schutz hat sich erheblich verbessert, wenn auch wegen der föderalen Struktur Australiens der Schutz nicht überall gleich ausgestaltet ist.68
V. Immaterielle Kulturgüter Der Schutz der indigenen Kulturgüter ist auch heute noch ganz überwiegend auf Land und Boden und die Dinge darauf beschränkt. Immaterielle Güter wie traditionelles Wissen, Gesang, Tanz, Kunst, Sprachen und Symbole sind rechtlich – aus indigener Sicht völlig willkürlich – getrennt. Kulturgüter sind daher nur insoweit geschützt wie die klassischen Instrumente, etwa das Copyright, reichen. Dabei geht es jedoch zuvörderst um den Schutz wirtschaftlicher Interessen und nicht um den Kulturgüterschutz. Der Schutz des geistigen Eigentums ist darüber hinaus inhärent individualbezogen und es entstehen Schwierigkeiten wenn es um Gemeinschaftswissen und Tradition geht. Schließlich ist der Schutz geistigen Eigentums zeitlich beschränkt und damit unpassend im Rahmen des Schutzes von immateriellen Kulturgütern.69 Die reduzierte Schutzintensität in diesem Bereich wurde durch die Gerichte teilweise erweitert. So wurde entschieden, dass auch traditionelle Kunst „original“ und daher schutzwürdig sein kann.70 Instruktiv ist die Entscheidung im Fall Bulun Bulun v R&T Textiles Pty Ltd, weil sie die Probleme in der Anwendung von Copyright-Bestimmungen veranschaulicht. Gegenstand des Streits war das Bild „Magpie Geese and Water Lilies at the Waterhole“ von John Bulun Bulun. Dieses Bild entstand mit Genehmigung des Ganalbingu-Volkes und enthielt die Darstellung heiliger Symbole. Mit dieser Genehmigung wurde es Teil eines Kunstbandes. Es tauchten jedoch auch Drucke von Teilen des Bildes auf Stoffen auf, die im Ausland verkauft und nach Australien importiert wurden. Das Gericht stellte fest, dass grundsätzlich nur der Künstler selbst prozessual in der Lage ist, das geistige Eigentum zu verteidigen. Da dies im vorliegenden Fall geschehen war, kam das eigentliche Problem nicht zum Tragen, dass nämlich die Volksgemeinschaft selbst schutzbedürftig war. Das Gericht stellte jedoch auch für den Fall, dass der Rechteinhaber sein geistiges Eigentum nicht ver67 http: //www.austlii.edu.au/au/legis/vic/consol_act/aha2006164/s27.html. Ähnlich auch Part 13 des Heritage Act 2004 (Australian Capital Territory), http: //www.austlii.edu.au/au/ legis/act/consol_act/ha200486/. 68 Vgl. Shearing, Susan: One Step Forward? Recent Developments in Australian State and Territory Indigenous Cultural Heritage Laws, 3 Macquarie Journal of International and Comparative Environmental Law 2006, S. 40 f., http: //www.law.mq.edu.au/html/MqJICEL/vol3/ vol3 – 1_shearing.pdf. 69 Section 33 of the Copyright Act 1968 (Cth), http: //www.austlii.edu.au/au/legis/cth/ consol_act/ca1968133/s33.html. 70 Milpurrurru & Ors v Indofurn & Ors [1994] FCA 1544.
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teidigen will oder kann, fest, dass ein billigkeitsrechtlicher Schutz der Volksgemeinschaft aus einem Treueverhältnis („fiduciary relationship“ zwischen Künstler und Volksgemeinschaft) hergeleitet werden kann.71 Anschaulich in diesem Zusammenhang ist auch der sog. Teppich-Fall72, bei dem es um aus Vietnam importierte Teppiche ging, auf denen Bilder bekannter Aborigine Künstler ohne Genehmigung abgebildet waren. Das Problem lag weniger in dem Ersatz des den Künstlern entstandenen Schadens. Der Rechtsbruch des indigenen Gewohnheitsrechts wog für die betroffenen Künstler viel schwerer. So berichtete eine der Künstlerinnen: „Even though I know that I am not responsible for the reproduction I am still concerned about the ramifications for me and my work within Yolngu society, and I greatly fear a loss of reputation arising from Yolngu associating me with the reproduction. I fear that my -family and others may accuse me of giving permission for the reproduction behind their backs without consulting and seeking permission in the manner required by our law and culture. I fear that this could result in my family and others deciding that I cannot be trusted to use important images such as this one any more. This would not only threaten my artistic and economic livelihood but also my ability to participate fully in Yolngu society and cultural practice.“73
Nach der wegweisenden Mabo-Entscheidung des High Court und der Anerkennung ursprünglicher Eigentumsrechte der indigenen Bevölkerung unter bestimmten Voraussetzungen gab es Bestrebungen, diesen Ansatz über das Grundeigentum hinaus auf andere eigentumsähnliche Rechte auszubauen. Diesen Bestrebungen hat der High Court jedoch eine Absage erteilt und im Fall Western Australia v Ward entschieden: „2. Cultural knowledge and spiritual connection 57. The determination made by the Full Court omitted any provision such as that in par 3(j) of the determination made at trial. The majority of the Full Court took that course saying[48]: „Although the relationship of Aboriginal people to their land has a religious or spiritual dimension, we do not think that a right to maintain, protect and prevent the misuse of cultural knowledge is a right in relation to land of the kind that can be the subject of a determination of native title.“ 58. In this Court, it was submitted that the Full Court erred in this respect and that this Court should restore par 3(j) of the first determination. The first difficulty in the path of that submission is the imprecision of the term „cultural knowledge“ and the apparent lack 71 Bulun Bulun v R&T Textiles Pty Ltd (1998) 41 IPR 513, http: //www.austlii.edu.au/au/ journals/AILR/1998/39.html. 72 Milpurrurru And Others v. Indofurn Pty Ltd And Others – Case Summary“ [1996] AUIndigLawRpr 20, http: //www.austlii.edu.au/au/journals/AILR/1996/20.html. 73 Zitiert aus Janke, Terri: Minding Culture: Case Studies on Intellectual Property and Traditional Cultural Expressions, Report prepared for the World Intellectual Property Organization, Geneva, Switzerland, 2003, S. 14, http: //www.wipo.int/tk/en/studies/cultural/ minding-culture/studies/finalstudy.pdf.
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of any specific content given it by factual findings made at trial. In submissions, reference was made to such matters as the inappropriate viewing, hearing or reproduction of secret ceremonies, artworks, song cycles and sacred narratives. 59. To some degree, for example respecting access to sites where artworks on rock are located, or ceremonies are performed, the traditional laws and customs which are manifested at these sites answer the requirement of connection with the land found in par (b) of the definition in s 223(1) of the NTA. However, it is apparent that what is asserted goes beyond that to something approaching an incorporeal right akin to a new species of intellectual property to be recognised by the common law under par (c) of s 223(1). The „recognition“ of this right would extend beyond denial or control of access to land held under native title. It would, so it appears, involve, for example, the restraint of visual or auditory reproductions of what was to be found there or took place there, or elsewhere. It is here that the second and fatal difficulty appears. In Bulun Bulun v R & T Textiles Pty Ltd[49], von Doussa J observed that a fundamental principle of the Australian legal system was that the ownership of land and ownership of artistic works are separate statutory and common law institutions. That is the case, but the essential point for present purposes is the requirement of „connection“ in par (b) of the definition in s 223(1) of native title and native title rights and interests. The scope of the right for which recognition by the common law is sought here goes beyond the content of the definition in s 223(1). That is not to say that in other respects the general law and statute do not afford protection in various respects to matters of cultural knowledge of Aboriginal peoples or Torres Strait Islanders. Decided cases apply in this field the law respecting confidential information, copyright, and fiduciary duties[50]. Provision respecting moral rights is now made by Pt IX (ss 189 – 195AZO) of the Copyright Act 1968 (Cth).“74
Das Zitat macht deutlich, dass man nicht ohne weiteres auf der Grundlage von Grundeigentum alle denkbaren anderen eigentumsähnliche Rechte ableiten kann, zumal wenn das zugrundeliegende Gesetz dafür keine hinreichende Grundlage bietet.
VI. Ergebnis Der Schutz der Kulturgüter indigener Völker ist ein rechtlich faszinierendes Gebiet, weil viele Rechtsgebiete zusammentreffen und weiterentwickelt werden müssen. Zugleich wird sogleich deutlich, welche Probleme entstehen, wenn man aus der behaglichen und vermeintlich universellen Rechtswelt europäischer und angel-sächsischer Prägung herausgerissen wird und sich mit gänzlich anderen Vorstellungen konfrontiert sieht. Wie schwer der Umgang mit Kulturen ist, die nicht so recht in das allgemeine Mehrheitsgefüge passen, kann man zur Zeit auch in Europa am Beispiel der Roma und ihrer Behandlung in einer Reihe von europäi74 Western Australia v Ward [2002] HCA 28, http: //www.austlii.edu.au/au/cases/cth/HCA/ 2002/28.html.
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schen Ländern sehen. Hier wie dort reicht die Bandbreite von rassistisch untermauerter Gegnerschaft zu jedweden Reformbestrebungen bis hin zu paternalistisch angetriebenen Schutzreflexen. Kulturgüterschutz ist dabei nur ein Beispiel, wenn auch eines mit zentraler Bedeutung, weil die Kulturgüter Kernbestandteil der Identität indigener Völker sind und ihr Überleben als Kulturvölker davon abhängt. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von Recht stehen diese Kulturvölker unter erheblichem Druck. Ganze Sprachen verschwinden für immer und viele Gemeinschaften sind zu klein, um sich dem faktischen Zugriff der Mehrheitskultur wenigstens soweit entziehen zu können, dass die eigene Kultur nicht völlig verloren geht.
Kulturgüterschutz und Denkmalschutz – Unterschiede und Gemeinsamkeiten – ein Rechtsgebietsvergleich Von Frank Fechner* I. Wilfried Fiedler und der Kulturgüterschutz Wilfried Fiedler soll mit diesem Beitrag als Kulturgüterrechtler gewürdigt werden. Sein umfangreiches Œuvre umfasst unter anderem etwa zwei Dutzend Beiträge zum Recht des Kulturgüterschutzes. Neben Veröffentlichungen in in- und ausländischen Fachzeitschriften finden sich Stellungnahmen in überregionalen Tageszeitungen und vor allem die grundlegende monografische Stellungnahme „Kulturgüter als Kriegsbeute? – Rechtliche Probleme der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Russland“ aus dem Jahr 1995. Die Bedeutung dieser Beiträge liegt nicht zuletzt darin, dass über die Anwendung des geltenden Völkerrechts hinaus humanitäre Aspekte und die Frage nach dem regionalen Bezug von Kulturgütern einbezogen werden, ein moderner Ansatz, der in der zukünftigen Diskussion um den Kulturgüterschutz noch stärker als bisher zu berücksichtigen sein wird. Wilfried Fiedlers Verdienste für den Kulturgüterschutz erschöpfen sich nicht in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Bereits 1986 hat er die Forschungsstelle „Schutz und Rückführung von Kulturgütern im geltenden Völkerrecht“ in Saarbrücken gegründet. Den Kulturgüterschutz hat er weiterhin durch eine Bibliographie zum Recht des internationalen Kulturgüterschutzes und durch eine von ihm herausgegebene Schriftenreihe zum „Internationalen Kulturgüterschutz“ bereichert. Für die Kulturgüter selbst und deren Rückführung hat er sich nicht nur in Gutachten, sondern auch persönlich in Rückführungsverhandlungen eingesetzt. Wilfried Fiedler habe ich auf verschiedenen Tagungen zum Kulturgüterrecht kennen- und schätzen gelernt. Besonders dankbar bin ich ihm, dass er in dem von meinem akademischen Lehrer, Thomas Oppermann, Frau Lyndel V. Prott von der UNESCO und mir zusammen herausgegebenen Sammelband „Prinzipien des Kulturgüterschutzes“ innerhalb kurzer Zeit einen grundlegenden Beitrag zu dem * Prof. Dr. Frank Fechner, Professor für Öffentliches Recht, insbesondere öffentlich-rechtliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der TU Ilmenau. Der Verf. ist mit Wilfried Fiedler seit vielen Jahren verbunden durch das gemeinsame Bemühen um den Erhalt von Kulturgütern und die Fortentwicklung des Kulturgüterrechts.
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Thema „Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz. Zur Entwicklung des Kulturgüterschutzes nach kriegerischen Konflikten“ verfasst hat.1 Die klaren Äußerungen seines Beitrags, wie auch einige andere Stellungnahmen, haben die Herausgeber kurz vor Drucklegung des Manuskript dazu veranlasst, das zunächst mit einem Fragezeichen versehene Thema „Prinzipien des Kulturgüterschutzes“ in Aussageform zu formulieren. Es liegt daher nahe, aus Anlass des Geburtstags von Wilfried Fiedler ein möglichst grundlegendes Thema zum Gebiet des Kulturgüterrechts zu behandeln.
II. Bisherige Ansätze eines Rechtsgebietsvergleichs Betrachtet man unterschiedliche Abhandlungen zum Kulturgüterrecht,2 so fällt auf, dass es über Umfang und Zielsetzung dieses Rechtsgebiets voneinander abweichende Auffassungen gibt. Während von einigen Autoren lediglich die völkerrechtlichen Aspekte angesprochen werden, finden sich, vor allem in den letzten Jahren, verschiedene Ansätze, die den Kulturgüterschutz als Querschnittsmaterie durch die unterschiedlichsten Rechtsgebiete hindurch und auf verschiedene Ebenen verteilt betrachten. Ausführlich wurde dieser Ansatz von Kerstin Odendahl in ihrer Habilitationsschrift „Kulturgüterschutz“ entfaltet.3 Mit diesem Ansatz, der die Rechtsgrundlagen aus der Zielsetzung des Kulturgüterschutzes folgert und sich nicht damit begnügt, das Vorhandene darzustellen, sondern die Frage nach den Schutzlücken aufwirft, die es im Interesse eines umfassenden Schutzes der Kulturgüter auf den verschiedensten legislatorischen Ebenen zu füllen gilt, stellt sich stärker als früher die Frage nach der Abgrenzung gegenüber bzw. der Vermischung mit anderen Rechtsgebieten. Eine an sich naheliegende Fragestellung ist die nach dem Zusammenhang zwischen Denkmalschutz und Kulturgüterschutz. Handelt es sich tatsächlich um ganz unterschiedliche Rechtsgebiete, die nichts miteinander gemeinsam haben oder stellen sich beide Rechtsgebiete nicht vielmehr als sich einander überschneidende Kreise dar? Ist gar der Denkmalschutz lediglich ein Teilaspekt des Kulturgüterschutzes oder umgekehrt? Ganz offensichtlich haben doch beide Rechtsbereiche ähnliche oder vergleichbare Schutzgegenstände: „Denkmale“ bzw. „Kulturgüter“, wobei die Begrifflichkeit offenbar den Blick auf die Gemeinsamkeiten eher verstellt als schärft. 1 Wilfried Fiedler: Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz. Zur Entwicklung des Kulturgüterschutzes nach kriegerischen Konflikten, in: Frank Fechner / Thomas Oppermann / Lyndel V. Prott (Hrsg.): Prinzipien des Kulturgüterschutzes. Ansätze im deutschen, europäischen und internationalen Recht, 1996, S. 159 ff. 2 Eine Übersicht zum Kulturgüterrecht findet sich bei Frank Fechner, in: Dieter Martin / Michael Krautzberger (Hrsg.): Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege, 3. Aufl. 2010. 3 Kerstin Odendahl, Kulturgüterschutz. Entwicklung, Struktur und Dogmatik eines ebenenübergreifenden Normensystems, 2005.
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Umso erstaunlicher ist die Feststellung, dass ein Blick in die Abhandlungen des Kulturgüterschutzes zu dieser Frage meist ebensowenig ergiebig ist wie in die Arbeiten zum Denkmalrecht. Regelmäßig wird der jeweils andere Begriff nicht einmal im Sachverzeichnis vermerkt. Soweit das Verhältnis beider Rechtsgebiete zueinander überhaupt untersucht wird, sind die Ansätze wie die Antworten inhomogen. Dies liegt zunächst an der unterschiedlichen Vorstellung, die mit dem Begriff des Kulturgüterschutzes verbunden wird. Wer vom nationalen Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung ausgeht, hat eine vollkommen andere Betrachtungsweise und kommt zu anderen Ergebnissen als derjenige, für den der Kulturgüterschutz primär völkerrechtlich geprägt ist. Ein Vergleich des Denkmalschutzes mit dem Abwanderungsschutz4 deckt zunächst Unterschiede auf. Die Denkmalschutzgesetze haben zumindest nicht primär einen Schutz von Kulturgütern gegen Abwanderung im Auge. Zudem lassen sich Unterschiede an die Beweglichkeit bzw. Unbeweglichkeit von Kulturgütern anknüpfen. Erfasst der Abwanderungsschutz naturgemäß bewegliche Kulturgüter, wird die Aufgabe des Denkmalschutzes vor allem in der physischen Erhaltung von unbeweglichem Kulturgut gesehen.5 Doch zeigen sich auch Gemeinsamkeiten. Dies etwa beim Vergleich der Eintragungsregelungen in den Denkmalschutzgesetzen und im Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung (KultGüSchG) von 1955. Beide Eintragungsverfahren gehen mit Einschränkungen für die Eigentümer daher und beide können auf der anderen Seite steuerrechtlich von Vorteil sein.6 Andere Autoren betonen ebenfalls im Sinne der Ähnlichkeit beider Rechtsgebiete, dass die Erhaltung von Denkmälern sich nicht in der Substanzerhaltung erschöpft, vielmehr darüber hinaus die Erhaltung an einem bestimmten Ort bezweckt.7 So sehen Denkmalschutzgesetze grundsätzlich vor, dass derjenige einer Erlaubnis bedarf, der ein Kulturdenkmal „an einen anderen Ort verbringen“ will.8 Da die Verbringung von Kulturdenkmalen auch nach Denkmalrecht genehmigungspflichtig ist, kann sich für eine Ortsverlagerung damit eine doppelte Genehmigungspflicht ergeben: aus dem Kulturgüterschutzgesetz und aus dem anwendbaren Landesdenkmalschutzgesetz. Allerdings darf ein denkmalrechtliches Entfernungsverbot nur aus Gründen des Denkmal- nicht des Abwanderungsschutzes verfügt werden.9 Umgekehrt verweisen die Landesdenkmalschutzgesetze z. T. auf die Qualifikation als „national wertvolles Kulturgut“.10 Als Quintessenz wird der Denkmalschutz damit zu einem 4 Joachim Berndt, Internationaler Kulturgüterschutz. Abwanderungsschutz, Regelungen im innerstaatlichen Recht, im Europa- und Völkerrecht, 1998, S. 93. 5 Anette Hipp, Schutz von Kulturgütern in Deutschland, 2000, S. 13. 6 Vergl. Sophie-Charlotte Lenski, Subjektive Recht und objektive Pflichten im nationalen Kulturgüterschutz, BayVBl. 2008, S. 12, 15. 7 Berndt (Anm. 4), S. 100. 8 So z. B. § 13 Abs. 1 Nr. 1 a thürDschG. 9 Hipp (Anm. 5), S. 14. 10 § 12 Abs. 2 Nr. 3 bwDSchG; Hipp (Anm. 5), S. 14.
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effektiveren Kulturgüterschutz im Sinne eines Abwanderungsschutzes. Da die Denkmalschutzgesetze einen weiteren Kreis von Schutzgütern erfassen und auch Kulturgüter im öffentlichen und im kirchlichen Eigentum, ist der Abwanderungsschutz durch die Landesdenkmalschutzgesetze effektiver als durch das Kulturgutschutzgesetz.11 Den Kulturgüterschutz lediglich auf das deutsche Gesetz zum Schutz von Kulturgütern gegen Abwanderung zu reduzieren, hieße, die umfassende und übernationale Bedeutung des Kulturgüterschutzes auszuklammern. Reduziert man den Kulturgüterschutz daher nicht auf den Abwanderungsschutz, zeigen sich wiederum andere Ergebnisse. Ein Ansatz versucht die Zuordnung in nationales bzw. internationales Recht vorzunehmen. Der Denkmalschutz mag sich dann als nationale Variante des Kulturgüterschutzes darstellen.12 Bei Bettina Thorn erscheint – in primär historischer Betrachtung – der Denkmalschutz als eine Wurzel des Kulturgüterschutzes.13 Für Felix Hammer bildet das Denkmalrecht „im eigentlichen Sinne“ nur einen „Teilbereich des allgemeinen Kulturgüterschutzrechts“ und wird als erheblich jünger als dieses eingeordnet.14 Im Folgenden soll versucht werden, die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten von Denkmalschutzrecht und Kulturgüterschutzrecht auf der Basis eines weit verstandenen Kulturgüterbegriffs herauszuarbeiten. Auf der Grundlage dieses Rechtsgebietsvergleichs sollen Konsequenzen für die Fortentwicklung insbesondere des Kulturgüterrechts abgeleitet werden.
III. Nationales und internationales Recht Als wichtigster Unterschied zwischen Denkmal- und Kulturgüterrecht drängt sich die Vermutung auf, es könne der Denkmalschutz ganz im nationalen Recht zu verorten sein und das Kulturgüterrecht im völkerrechtlichen, zumindest im internationalen Bereich. Eine genauere Betrachtung der Materie lässt Zweifel an dieser Einordung aufkommen. Zwar ist das Denkmalrecht in Deutschland in den Landesdenkmalschutzgesetzen, mithin im nationalen Recht, verankert. Allerdings weisen diese Normen insoweit internationale Bezüge auf, als sie sich auch mit Ortsverlagerungen von Kulturdenkmälern und daher zumindest indirekt mit der Abwanderung von Kulturgut ins Ausland befassen. Der Begriff des Kulturgüterrechts wird auch in nationaBerndt (Anm. 4), S. 100 vgl. § 19 KultGüSchG. So offenbar Friederike Pabst, Kulturgüterschutz in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, 2008, S. 67. 13 Bettina Thorn: Internationaler Kulturgüterschutz nach der UNIDROIT-Konvention, 2005, S. 38 ff., 42. 14 Felix Hammer: Zur Geschichte des rechtlichen Kulturgüter- und Denkmalschutzes, in: Fechner / Oppermann / Prott (Anm. 1), S. 47 (48). 11 12
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len Rechtsquellen verwendet, wie das „Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung“ beweist, das auch als „Kulturgutschutzgesetz“ bezeichnet wird, vor allem aber das „Kulturgüterrückgabegesetz“,15 wohingegen Bezeichnungen wie „Internationaler Kulturgüterschutz“16 nahelegen, dass die nationalen Regelungen zum Kulturgüterschutz nur einen Ausschnitt eines weiterreichenden Begriffes darstellen.
IV. Historische Entwicklung Der Kulturgüterschutz ist – soweit es nicht lediglich um faktische Schutzmaßnahmen, sondern um Rechtsregeln geht – ebenso wie das Denkmalschutzrecht eine relativ junge Errungenschaft. Zwar lassen sich für beide Bereiche vereinzelt frühe Kodifikationen feststellen, etwa der Renaissance in Italien, wobei diese sowohl als Belege eines frühen Denkmalschutzes als auch eines frühen Kulturgüterschutzes angeführt werden können. Andere Bestimmungen haben hingegen im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel durchlaufen und sich zu Kulturgut schützenden Normen entwickelt. Deutlich ist das beim Schatzregal, das sich schon im Sachsenspiegel findet, später indessen vor allem der Bestückung fürstlicher Kunstkammern diente und erst in jüngerer Zeit den Charakter einer Norm zum Schutz von Funden und Fundkontexten angenommen hat. Denkmalschutzgesetze im eigentlichen Sinne entstanden in den Jahren nach 1900.17 Erstmals erhob die Weimarer Reichsverfassung den Schutz und die Pflege der Kunst-, Geschichtsund Naturdenkmale zum Staatsziel.18 Die Motive für den Denkmalschutz lagen dabei nicht unbedingt in der Erhaltung von Substanz um ihrer selbst willen. Oftmals ging es mehr um die Bewahrung des kulturellen Standards von Institutionen wie einer Kirche oder einer Stadt, die nicht durch Zerstörungen gemindert werden sollten, es ging mithin um die Kontinuität von Symbolen.19 Demgegenüber ist heutzutage anerkanntermaßen das oberste Ziel des Denkmalschutzes die Erhaltung der Denkmale, weshalb die Erhaltungspflicht des Eigentümers und die grundsätzliche Pflicht zur Beibehaltung des bisherigen Zustands die zentralen Gebote der Denkmalschutzgesetze sind.20
15 Gesetz zur Ausführung des UNESCO-Übereinkommens vom 14. November 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut und zur Umsetzung der Richtlinie 93 / 7 / EWG des Rates über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern (Kulturgüterrückgabegesetz – KultGüRückG) vom 18. 5. 2007. 16 So der Titel der Dissertationsschrift von Sabine von Schorlemer: „Internationaler Kulturgüterschutz. Ansätze zur Prävention im Frieden sowie im bewaffneten Konflikt“, 1992. 17 1907 im Großherzogtum Hessen; Thorn (Anm. 13), S. 40. 18 Thorn (Anm. 13), S. 40. 19 Vergl. Thorn (Anm. 13), S. 39. Aus diesem Grund konnten vorhandene Kulturgüter durch neue ersetzt werden, wenn der geforderte Standard erhalten blieb.
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Im Kulturgüterschutz steht – was die nationale Betrachtungsweise anbetrifft – vor allem die Bewahrung nationaler Symbole im Vordergrund, wie bereits die Bezeichnung des Gesetzes zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung belegt. Der internationale Kulturgüterschutz hat schon längst andere Ziele im Auge, und zwar die Erhaltung von Kulturgütern, weshalb sich auch im nationalen Kulturgüterrecht ein Wandel anbahnt, bzw. sich im Kulturgüterrückgabegesetz bereits im nationalen Recht manifestiert hat. Unterschiede sind in der Entwicklung in jüngerer Zeit festzustellen. Die Ausgestaltung des Denkmalrechts scheint seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts weithin zum Abschluss gekommen zu sein, wohingegen das Kulturgüterrecht noch in voller dogmatischer wie völkerrechtlich-normativer Entfaltung begriffen ist. Zunehmend kommt im Kulturgüterrecht der Schutzaspekt einer Substanzbewahrung für künftige Generationen zum Tragen, der ja auch dem modernen Denkmalschutz zugrunde liegt.
V. Begriffe 1. Notwendigkeit präziser Begriffsbestimmungen Der Anwendungsbereich der Denkmalschutzgesetze muss eindeutig und fest umrissen sein, da es sich um eine verwaltungsrechtliche, voll justiziable Materie handelt. Der Begriff „Kulturdenkmal“ ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, kann jedoch nicht nach Belieben der Verwaltung interpretiert werden, da er der Behörde keinen Beurteilungsspielraum einräumt. Präzisierungen des Begriffs ergeben sich aus den Landesdenkmalschutzgesetzen direkt und letztlich aus den Entscheidungen der Rechtsprechung, die sich immer wieder und in unzähligen Fällen mit der Einordnung von Denkmalen durch die Verwaltung zu befassen hat, um zu klären, welche belastenden oder auch begünstigenden Rechtsfolgen sich aus der Zuordnung zu diesem Begriff ergeben. Eindeutig ist jedenfalls, dass die herkömmliche Begriffsvorstellung von „Denkmal“ als eines Monuments, das rückschauend zur Erinnerung an eine bestimmte Person oder ein Ereignis geschaffen wurde, dem heutigen Denkmalrecht keinesfalls entspricht. Vielmehr wird der Begriff „Denkmal“ – was für die vorliegende Thematik aufschlussreich ist – mit dem Begriff „Kulturdenkmal“ synonym verwendet und daher lediglich von den Natur- und Landschaftsdenkmalen abgesetzt.21 Beispielsweise definiert das Denkmalgesetz von Baden-Württemberg die nach § 1 zu schützenden Kulturdenkmale als „Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von 20 Z. B. Dieter Martin, in: Fechner / Martin / Paulus / Winghart (Hrsg.): Thüringer Gesetz zur Pflege und zum Schutz der Kulturdenkmale (Thüringer Denkmalschutzgesetz – thürDSchG –). Kommentar, 2005, § 1, 3. 21 Z. B. Martin (Anm. 20), § 2, 2.2.
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Sachen, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht“ (§ 2 Abs. 1 bwDSchG). 2. Begriffsbestandteil „Kultur“ Die Begriffe „Kulturdenkmal“ und „Kulturgut“ weisen den gemeinsamen Begriffsbestandteil „Kultur“ auf. Über den Begriff der „Kultur“ ist viel geschrieben worden, ohne dass sich daraus ein Konsens ergeben hätte.22 Beschränkt die eine Ansicht den Begriffsinhalt lediglich auf die „Hochkultur“, kennen andere Autoren keinerlei qualitative Anforderungen und verlangen nicht einmal, dass es sich um menschliche Hervorbringungen handelt, wenn diese sich nur auf den Menschen beziehen. Im Zweifel wird man den Begriff nicht vorschnell zu eng fassen, um nicht schutzwürdige Aspekte auszugrenzen. In den Denkmalschutzgesetzen werden daher verschiedentlich, um dieser Gefahr vorzubeugen, ausdrücklich bestimmte Erscheinungsformen aufgeführt, die auch dem Kreis der Kulturdenkmale zugerechnet werden sollen, wie bauliche Gesamtanlagen, kennzeichnende Straßen-, Platz- und Ortsbilder, kennzeichnende Ortsgrundrisse, historische Park- und Gartenanlagen, historische Produktionsstätten und Bodendenkmale.23 Eine allzu ausufernde Begriffsbestimmung bringt indessen die Gefahr einer Verwässerung des Schutzes für besonders schutzwürdige Objekte mit sich. Aufgrund der Schwierigkeit einer positiven Umschreibung der Kultur, gewinnt die Abgrenzung gegenüber Naturerscheinungen an Bedeutung. Im Denkmalrecht ist der Begriffsbestandteil „Kultur“ wohl nur zu dem Zweck eingefügt worden, um die Denkmäler von den außerhalb der Denkmalschutzgesetze normierten Naturdenkmalen abzugrenzen. Doch ist anzuerkennen, dass auch die Umgebung von Kulturdenkmalen denkmalwürdig sein kann und dass der Schutz von Bodendenkmalen sich auch auf botanische und zoologische Überreste zu beziehen hat, die Schlüsse auf eine vergangene Lebensweise zulassen. Lediglich die Argumentation, Fossillagerstätten seien Kulturdenkmale, da ihre Erforschung Gegenstand kultureller Betätigung sei,24 vermag nicht zu überzeugen, zumal diese zumeist anderer Schutzvorkehrungen bedürfen als menschliche Hinterlassenschaften. Der Begriff des Kulturguts ist noch schwerer zu fassen als der des Kulturdenkmals, da hier Auffassungen aufeinandertreffen, die von unterschiedlichen Kulturen geprägt sind. Als „kleinster gemeinsamer Nenner“ ist auch insoweit anerkannt, dass es jedenfalls nicht die Aufgabe des Kulturgüterrechts ist, Naturdenkmale zu schützen. Dies zeigt sich deutlich an der Begrifflichkeit des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des „Kultur- und Naturerbes der Welt“ von 1972.25 Siehe insbes. von Schorlemer (Anm. 16), S. 46 ff.; Odendahl (Anm. 3), S. 356 ff. Die Beispiele sind § 2 Abs. 2 thürDSchG entnommen. 24 Siehe z. B. Heinz Strobl / Ulrich Majocco / Helmut Birn: Denkmalschutzgesetz für Baden-Württemberg. Komm. 1989, § 2 Rdnr. 16. 22 23
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Über diese Abgrenzung hinaus ist der völkerrechtliche Kulturgüterbegriff weithin offen für unterschiedliche Begriffsinhalte. In den völkerrechtlichen Konventionen ist es oftmals den Vertragsstaaten überlassen, selbst den Kreis ihrer Kulturgüter zu bestimmen. So schützt das UNESCO-Übereinkommen von 197026 gem. Art. 1 das „von jedem Staat aus religiösen oder weltlichen Gründen als für Archäologie, Vorgeschichte, Geschichte, Literatur, Kunst oder Wissenschaft besonders bedeutungsvoll bezeichnete Gut“, sofern es einer bestimmten in der Konvention festgelegten Kategorie unterfällt. Demgegenüber gibt es Konventionen, die Kulturgüter unabhängig von ihrer Belegenheit schützen, wenn sie für das kulturelle Erbe aller Völker von Bedeutung sind.27 Differenzierungen erscheinen insoweit angebracht, kann doch ein Kulturgut für eine Nation von Bedeutung sein, auch wenn es für die Menschheit keine unmittelbare Relevanz aufweist oder für eine Ethnie, auch wenn es für den Gesamtstaat weniger von Interesse ist. Insoweit kann sich der Denkmalschutz als wichtige lokale, regionale oder nationale Ergänzung eines global verstandenen Kulturgüterschutzes darstellen. Soweit es in der Literatur positive Begriffsumschreibungen auf der Grundlage eines prinzipiengeleiteten Kulturgüterschutzes gibt,28 sind daraus jedenfalls keine wesentlichen Unterschiede zum Kulturdenkmalbegriff der Denkmalschutzgesetze zu sehen. 3. Objektcharakter Beide Begriffe, sowohl der des „Kulturdenkmals“ als auch der des „Kulturguts“, weisen einen zweiten Begriffsbestandteil auf, der sie auf den Schutz von Objekten beschränkt. Dies ist beim Denkmalschutz unstrittig, der sich auf – bewegliche oder unbewegliche – Sachen bezieht (einschließlich Sachgesamtheiten und Teile von Sachen). Ein Schutz von Handwerkstechniken zur Herstellung solcher Objekte oder des Schutzes folkloristischen Umgangs mit diesen Objekten ist aus guten Gründen nicht vorgesehen, da deren Pflege – wie beim Natur- und Landschaftsschutz – andere gesetzgeberische Methoden erfordert, die dem Denkmalrecht fremd sind. Im Kulturgüterschutz ist die Beschränkung auf Objekte nicht eindeutig. Vielmehr gibt es Ansätze, die traditionelle Handwerkstechniken, Tanzformen und weitere Elemente der Folklore in den Schutz kulturgüterrechtlicher Normen einbeziehen wollen.29 Mag ein solch umfassender „Kulturenschutz“ auch von der Sache 25 Das Übereinkommen ist am 17. 12. 1975 in Kraft getreten, für die Bundesrepublik am 23. 11. 1976 gem. Bekanntmachung vom 2. 2. 1977, BGBl. 1977 II S. 213. 26 Einzelheiten unten VI 4. 27 So die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954 und das Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt aus dem Jahr 1972. 28 So z. B. Odendahl (Anm. 3), S. 387; Pabst (Anm. 12), S. 52. 29 Zu diesem Ansatz siehe Lyndel V. Prott, The International Legal Protection of the Cultural Heritage, in: Fechner / Oppermann / Prott (Anm. 1), S. 295 (301 ff.).
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her gerechtfertigt sein, fragt sich doch, ob nicht differenzierte Regeln für so unterschiedliche Schutzaspekte erforderlich sind, da häufig gegenläufige Interessen aufeinandertreffen – Erhaltung auf der einen, Nutzung auf der anderen Seite. Jedenfalls verwenden die bestehenden Konventionen den Begriff des Kulturgüterschutzes im traditionellen Sinn mit Ausnahme der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes von 2003 und das Übereinkommen über den Schutz und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005. 4. Begriffliches Fazit Festzuhalten ist, dass Kulturdenkmal und Kulturgut mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide enthalten den Begriffsbestandteil „Kultur“, was ihre Definition in nahezu identischer Weise erschwert. Letztlich bedürfen beide einer klaren Umschreibung, da der Begriff des Kulturdenkmals als verwaltungsrechtlicher Rechtsbegriff voll justiziabel ist und der Begriff des Kulturguts im Rahmen bestehender europarechtlicher Normen und völkerrechtlicher Abkommen Rechte und Pflichten für die Vertrags- bzw. Mitgliedstaten entfaltet. Beide Begriffe werden auf den Menschen bezogen und gegenüber dem Schutz reiner Naturerscheinungen abgegrenzt. Allerdings macht die Breite völkerrechtlicher Regelungen des Kulturgüterschutzes flexible Begriffsumschreibungen insbesondere hinsichtlich nationaler Ausgestaltungen unabdingbar, wohingegen der Kulturdenkmalbegriff aufgrund seiner verwaltungsrechtlichen Relevanz klarere Konturen aufweisen muss.
VI. Umfang des Schutzes 1. Weite Anwendungsbereiche Die vom Denkmalschutz erfassten Kulturdenkmale sind sehr unterschiedlicher Natur. Neben Baudenkmalen können auch archäologische Fundplätze als Ausgrabungsschutzgebiete unter Schutz gestellt werden, selbst wenn sie obertägig nicht sichtbar sind und der Denkmalschutz kann sich auch auf ganze Stadtteile beziehen, wie der „Ensembleschutz“ belegt. Doch auch bewegliche Kulturdenkmale sind selbstverständlich vom Begriff des Kulturdenkmals umfasst, wenn an ihrer Erhaltung ein öffentliches Interesse besteht. Darüber hinaus ist auch das Zubehör eines Kulturdenkmals, wenn es mit der Hauptsache eine Einheit von Denkmalwert bildet, vom Schutz umfasst, ebenso wie die Umgebung eines Kulturdenkmals, soweit sie für dessen Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist.30 Der Anwendungsbereich des Kulturgüterschutzes ist im Zweifel noch weiter gezogen. Soweit es sich um internationale Abkommen handelt, haben diese vor allem 30
So § 2 Abs. 2, 3 Nr. 1 bwDSchG.
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grenzüberschreitende Vorgänge, mithin bewegliche Sachen, im Auge. Dass indessen auch Baudenkmale vom Kulturgüterschutz umfasst sind, belegt etwa die Haager Konvention, die Gebäude in kriegerischen Auseinandersetzungen zu schützen sucht. Archäologische Fundplätze sind nicht nur von den allgemeinen Abkommen erfasst, sondern auch durch bereichsspezifische Abkommen. In bestimmten Fällen hat gar der Gedanke des Schutzes von Fundplätzen und damit unbeweglichen Objekten indirekt, durch eine Restriktion des Handels mit bestimmten beweglichen Objekten, in das Kulturgüterrecht Einzug gehalten. Dieser Ansatz findet sich insbesondere im UNESCO-Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut von 1970. 2. Alter Die nationalen Denkmalschutzgesetze setzen für die Wirkung ihres Schutzes kein Mindestalter voraus. Dies ist in einigen Staaten zum Teil anders geregelt, soweit sie ein Mindestalter von 100 Jahren voraussetzen. Im Kulturgüterrecht hat dieser Ansatz ebenfalls ab und an eine Ausnormierung erfahren, beispielsweise in der EU-Ausfuhrverordnung, die in ihrem Anhang unterschiedliche, indessen starre Altersvorgaben kennt. Mögen die Ergebnisse in der Mehrzahl der Fälle konsensfähig sein, sind immer auch Sachverhaltskonstellationen denkbar, in denen eine starre Altersgrenze willkürlich und nicht sachgerecht erscheint. 3. Beweglichkeit / Unbeweglichkeit Wie bereits aufgezeigt, sind die Kriterien der Beweglichkeit bzw. Unbeweglichkeit eines Objekts kein Unterscheidungsmerkmal, das den Denkmalschutz vom Kulturgüterschutz trennen könnte. Die Vorstellung, der „lokalbezogene“ Denkmalschutz beziehe sich nur auf unbewegliche Kulturgüter, ist ebenso falsch wie die Vorstellung, der „internationale Kulturgüterschutz“ könne sich nur auf bewegliche Objekte beziehen. Die Denkmalschutzgesetze schützen auch bewegliche Einzelobjekte,31 wohingegen der Kulturgüterschutz beispielsweise auch Gebäude in seinen Anwendungsbereich einbezieht, wie das oben bereits genannte Beispiel der vor Kriegseinwirkung zu schützenden Kulturgüter beweist und die UNESCO-Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes von 1972, die auch Welterbekonvention genannt wird.
31 Siehe z. B. Martin (Anm. 20), § 2, 2.4 zum beweglichen Kulturdenkmal bezüglich des thüringischen Denkmalschutzrechts.
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4. Ensembles / Archive Ensembles und Archive sind im Denkmalrecht ebenso geschützt wie im Kulturgüterrecht. Dabei werden Archive in den Landesdenkmalschutzgesetzen meist nicht im Zusammenhang mit dem Kulturgutbegriff aufgeführt, wohl aber bei den Verfahrensvorschriften als eintragungsfähig aufgelistet.32 Demgegenüber finden sich Archive in völkerrechtlichen Kulturgüterrechtsabkommen, beispielsweise in Art. 1j UNESCO-Konvention von 1970. Die Unterschutzstellung ganzer Innenstädte ist schon seit längerer Zeit Anliegen des Kulturgüterschutzes, wofür das Beispiel der Altstadt von Graz angeführt werden kann, die als solche zum Weltkulturerbe zählt. 5. Archäologische Funde und Befunde Die Denkmalschutzgesetze nehmen sich heute alle auch dem Schutz von archäologischen Fundstellen an. Dieser Schutzaspekt hat sich allerdings erst in den vergangenen Jahren allmählich entwickelt und wird nicht immer zufriedenstellend von Verwaltungsbehörden und Gerichten umgesetzt. Zunächst war es vor allem der Fund selbst, der vor einer Wegnahme und Aneignung durch Unbefugte geschützt werden sollte. Die meisten Normen der Bodendenkmalpflege resultieren aus dieser Zielsetzung. Weithin einheitlich geregelt ist die Genehmigungspflichtigkeit archäologischer Grabungen und die Anzeigepflicht bei Zufallsfunden. Darüber hinaus gibt es häufig den Schutz gegen Metallsondengänger. Noch unterschiedlich geregelt ist in den Bundesländern das sog. Schatzregal, das bestimmte Funde ipso jure mit dem Fund in Landeseigentum übergehen lässt. Die Besonderheit archäologischer Kulturgüter wird erst allmählich auch von Politik, Rechtssetzern und Rechtsanwendern berücksichtigt. Sie liegt darin, Fundkontexte im Interesse wissenschaftlicher Erkenntnis gegen Raubgrabungen, aber auch gegen Umwelteinflüsse zu schützen. Im Gegensatz zu anderen kontextgebundenen Kulturgütern besteht bei archäologischen Fundstücken im Regelfall die Besonderheit, dass ihre Existenz vor der Ausgrabung nicht nachgewiesen ist, mithin die Herkunft eines im Kunsthandel befindlichen Stückes normalerweise nicht mehr nachgewiesen werden kann. Aus diesem Grund erscheint zunehmend die Unterschutzstellung archäologischer Fundplätze als solche als Aufgabe des Denkmalschutzes. Dies zeigt sich beispielsweise an der in einigen Landesdenkmalschutzgesetzen vorgesehenen Möglichkeit, Grabungsschutzgebiete auszuweisen. Althergebrachte Rechtsinstitute wie das Schatzregal können diese Wirkung wohl ebenfalls entfalten, auch wenn sie nicht zum Zweck der Kontexterhaltung geschaffen wurden.33 Z. B. § 12 Abs. 2 Nr. 4 bwDSchG. Die Wirkung des Schatzregals ist umstritten, dazu siehe z. B. Ralf Fischer zu Cramburg: Das Schatzregal. Der obrigkeitliche Anspruch auf das Eigentum an Schatzfunden in den deutschen Rechten, 2001. 32 33
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Das Kulturgüterrecht befasst sich in ähnlicher Weise mit dem Schutz archäologischer Objekte. Mag auch kritisiert werden, dass dieser Schutz nicht ausreichend ist, so ist doch unverkennbar, dass es im modernen Kulturgüterrecht Ansätze für einen Schutz von Fundstellen gegen Raubgrabungen gibt, indem insbesondere der illegale Handel mit unzulässig ergrabenen Objekten unterbunden werden soll. Die Konvention von Malta,34 wie auch Ansätze für einen Schutz von Fundplätzen auf dem Gebiet der Hohen See in einer UNESCO-Konvention,35 mögen dies belegen.
VII. Zielsetzungen Der Schutz von Kulturdenkmalen durch die Denkmalschutzgesetze beruht nicht auf einem einzelnen Motiv, vielmehr gibt es unterschiedliche Gründe für die Unterschutzstellung von Kulturdenkmalen. In den Denkmalschutzgesetzen werden diese ausdrücklich angeführt, so die historische oder die geschichtliche Bedeutung eines Objekts, wie auch künstlerische, wissenschaftliche oder volkskundliche Gründe für dessen Erhaltung. Um eine Ausuferung des Begriffs zu verhindern und um Abwägungen mit Gegeninteressen möglich zu machen, sehen die Landesdenkmalschutzgesetze das Korrektiv des „Interesses der Öffentlichkeit“ vor. Die Bestimmung dieses Interesses ist sicherlich in vielen Fällen nicht einfach, indessen lässt es erkennen, dass die Erhaltung von Objekten, die für die Allgemeinheit von Bedeutung sind, nicht dem Belieben des jeweiligen Eigentümers überlassen sein kann. Die Entwicklung von Leitlinien des Kulturgüterschutzes steht erst am Anfang, wenn auch bereits verschiedene Ansätze zu beobachten sind.36 Als zentrales Ziel wird – dem Denkmalrecht parallel – in erster Linie die Substanzerhaltung genannt, da Kulturgüter nur dann wirken und analysiert werden können, wenn sie in ihrer Substanz erhalten sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Kontexterhaltung, sofern ein Kulturgut in seiner gewachsenen Umgebung einen höheren ästhetischen, wissenschaftlichen oder bedeutungsmäßigen Wert entfaltet. Zusätzliche Kriterien können die Zugänglichkeit der Objekte für die Allgemeinheit, die Zugänglichkeit für die Forschung oder ihre Nutzung im kultischen Gebrauch oder zu identitätsstiftenden Zwecken sein. Decken sich die „Interessen der Allgemeinheit“ weitgehend, 34 Europäisches Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes vom 16. 1. 1992, auch „Konvention von Valetta“. 35 Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage vom 6. 11. 2001. 36 Frank Fechner: Prinzipien des Kulturgüterschutzes, in Fechner / Oppermann / Prott (Anm. 1), S. 11, 26 ff.; ders.: The Fundamental Aims of Cultural Property Law, in: International Journal of Cultural Property (IJCP) 1998, Heft 2, S. 376 ff.; ders.: Wohin gehören Kulturgüter? Rechtliche Ansätze eines Ausgleichsmodells, in: Klaus Grupp / Ulrich Hufeld (Hrsg.): Recht – Kultur – Finanzen. Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 485 ff.; Odendahl (Anm. 3), S. 405 ff.
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so tritt an die Stelle des vielfach lokalen Bezugs des Denkmalrechts beim Kulturgüterschutz häufig ein globales Interesse „der Menschheit“. VIII. Annäherung der Rechtsgebiete In jüngster Zeit ist eine Annäherung der beiden scheinbar so unterschiedlichen Rechtsgebiete Denkmalschutz und Kulturgüterschutz eingetreten. Durch das UNESCO-Abkommen von 1970 wird gerade der Schutz von Kultur- und Naturerbestätten ins Blickfeld genommen. Damit werden nicht zuletzt unbewegliche Kulturgüter, die „Weltnatur-“ oder die „Weltkulturstätten“ völkerrechtlicher Protektion unterstellt. Sind die Wirkungen auch z. T. von begrenzter Effektivität, so lässt sich doch eine Auswirkung auf den Schutz vor Ort nicht leugnen. Jeder Vertragsstaat der „Welterbe-Konvention“ erkennt an, dass es in erster Linie seine eigene Aufgabe ist, das auf seinem Hoheitsgebiet befindliche Kultur- und Naturerbe zu erhalten und hat die hierfür erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen (Art. 4, 5). Wohl noch stärker als die völkerrechtliche Bindung wirkt die Scheu vor einem internationalen Ansehensverlust. Anschaulich wurden diese Vorgänge im Zusammenhang mit der Dresdener Elbtalbrücke. Die Schutzaspekte, die von der Welterbe-Konvention aufgeführt werden, wären gemeinhin dem Denkmalschutz zuzuordnen. Dies ist – wenn man so will – die Annäherung des Kulturgüterschutzes an den Denkmalschutz. Umgekehrt werden nationale Normen mittlerweile verstärkt im Sinne eines übernationalen Kulturgüterschutzes eingesetzt. Handelt es sich auch nicht um Normen des Denkmalschutzes im engeren Sinne, so war der Schutz fremder Kulturgüter dem nationalen Recht doch bisher insgesamt fremd. Um die physische Erhaltung von fremdem Kulturgut geht es im Kulturgüterrückgabegesetz.37 Ausdrücklich werden bei den Aufgaben der Zentralstellen der Länder die Durchführung und erforderlichenfalls die Anordnung der notwendigen Maßnahmen für die physische Erhaltung des Kulturguts genannt (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 KultGüRückG). Wenn es auch lediglich um die Substanzerhaltung zum Zweck der Rückgabe des Kulturguts an einen ersuchenden Staat geht, so ist das Bemühen um Substanzerhaltung in jedem Fall begrüßenswert und es hat ein grundlegender Rechtsgedanke des Kulturgüterschutzes durch das Kulturgüterrückgabegesetz im nationalen Recht erstmals Berücksichtigung gefunden. Einen vollumfänglichen Schutz, wie ihn der Grundgedanke eines prinzipiengeleiteten Kulturgüterschutzes nahelegen würde, der Kulturgüter nicht ihrer Herkunft wegen, sondern um ihrer selbst willen für künftige Generationen schützt, würde auch Kulturgüter von Nicht-Vertragsstaaten und Kulturgüter vom Meeresboden aus dem Gebiet der Hohen See in seinen Anwendungsbereich mit einbeziehen. Dennoch handelt es sich um einen sinnvollen Ansatz, der – unter Berücksichtigung der Interessen von Eigentümern, Museen und Kunsthändlern – ausbaufähig ist. 37
Vergl. Anm. 15.
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IX. Wissenschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten Die Gegenüberstellung des Denkmalrechts und des Kulturgüterschutzrechts zeigt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Dies vor allem dann, wenn man den Kulturgüterschutz nicht lediglich als Summe der bestehenden Rechtsvorschriften auffasst, sondern ihm Grundstrukturen zugrunde legt, die sich aus bestimmten Leitprinzipien ergeben. Denkmalschutz und Kulturgüterschutz sind keine gegensätzlichen Begriffe, vielmehr dienen sie letztlich ein und derselben Zielsetzung. Bei der Ausgestaltung des Kulturgüterrechts – die weithin noch zu erfolgen hat – kann das Denkmalrecht daher wichtige Anhaltspunkte liefern. Dies gilt insbesondere, soweit der Kulturgüterschutz nationaler Ausformung bedürftig ist. In besonderem Maße trifft das für Importregelungen zu, die in einer Übergangszeit bis zur Schaffung wirksamer völkerrechtlicher Abkommen hilfreich sein können. Doch auch über diesen engen Anwendungsbereich hinaus ist es sinnvoll, sich die Frage nach Grundlagen für ein Kulturgüterschutzrecht zu stellen, wofür der Rechtsgebietsvergleich mit dem Denkmalrecht nur eine unter verschiedenen Methoden ist. Als weiteres wichtiges Hilfsmittel ist die Rechtsvergleichung zu nennen.
X. Möglichkeiten gesetzgeberischer Zusammenführung Der Schutz von Kulturdenkmalen steht erst am Anfang. Ist das nationale Denkmalrecht auch seit Jahren ausgeformt und anerkannt, zeigen sich bei genauerer Betrachtung doch Ungereimtheiten, die dem Schutz von Kulturgut sicherlich nicht dienlich sind. Die Verschleierung der Fundprovenienz illegaler Ausgrabungen aus Schatzregal-Ländern und ihre Veräußerung als Funde aus einem Bundesland, das keinen automatischen Eigentumserwerb des Landes kennt, ist nur ein Beispiel. Die Umsetzung internationaler Konventionen – insbes. nach langem Zögern die UNESCO-Konvention von 1970 – verbessert den Schutz einiger Kulturgüter aus bestimmten Staaten nachdrücklich, lässt indessen Lücken hinsichtlich anderer Kulturgüter und anderer Staaten und insbesondere von Kontexten. Eine Verzahnung des Denkmalrechts und des (nationalen) Kulturgüterrechts – i.S. der Umsetzung von Völkerrecht in nationales Recht – ist bisher nicht erfolgt und soweit ersichtlich, nirgendwo angedacht. Die Frage, wie eine solche einheitliche Regelung aussehen könnte, die vor allem die Effektivität des Schutzes steigern würde, bedürfte genauerer Untersuchung. Probleme ergeben sich nicht zuletzt aus dem Föderalismus mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Mischverwaltung, der derzeit weder ein umfassendes Bundesgesetz noch einen Staatsvertrag ermöglichen würde. Insofern liegt der Ausgangspunkt einer einheitlichen Regelung in einer Änderung der Kompetenzzuweisungen im Grundgesetz. Spricht der Wunsch nach Einheitlichkeit der zu schaffenden Regelung für eine Bundeskompetenz, so zählt das Denkmalrecht zu den althergebrachten Kompetenzen der Länder. Beiden Aspekten würde durch eine
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staatsvertragliche Regelung der Bundesländer Rechnung getragen, möglichst mit einer länderübergreifenden Einrichtung, die für widerspruchsfreie Ergebnisse sorgen würde. Zu prüfen wäre etwa, ob diese Aufgaben bei der Kultusministerkonferenz angesiedelt werden könnten. Folgt man dieser Auffassung, würde es ausreichen, die derzeitige Bundeskompetenz in Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG zu streichen, die ohnehin erst 2006 ins Grundgesetz aufgenommen worden ist. Allerdings müsste im Vorfeld sichergestellt sein, dass bundesweit einheitliche Entscheidungen garantiert sind.
XI. Resümee Geht man von einem sachgerechten, weiten Kulturgutbegriff aus, so ist das Denkmalrecht Teil des Kulturgüterschutzes. Die Besonderheit dieses Begriffspaares ist es, dass das Denkmalschutzrecht bereits in die Einzelheiten hinein ausgestaltet ist – wenn auch immer Anpassungen und insbesondere Vereinheitlichungen zwischen den Bundesländern wünschenswert erscheinen – wohingegen das Kulturgüterrecht erst am Anfang einer systematischen Entwicklung steht. Die – bewährten – Leitgedanken des Denkmalrechts lassen sich zu einem großen Teil auf den Kulturgüterschutz übertragen. Lediglich einige Fragen kommen beim Kulturgüterschutz zusätzlich hinzu – so die Ausdifferenzierung nach der regionalen oder globalen Bedeutung – und bedürfen eigenständiger Regelung. Wichtigstes Ergebnis eines Vergleichs des Denkmalrechts und des Kulturgüterrechts dürfte daher die Erkenntnis sein, dass weithin ähnliche Prinzipien für beide Rechtsgebiete bestimmend sind. In jedem Fall ist ein Rechtsgebietsvergleich ertragreich für die weitere Ausgestaltung sowohl des Denkmal- als auch des Kulturgüterrechts. Es bleibt zu wünschen, dass der Jubilar diese Entwicklung mit noch vielen Beiträgen bereichern wird.
Schutz der Kulturgüter vor Umwelteinflüssen und natürlichen Gefahren im nationalen und internationalen Recht Von Gilbert Gornig* I. Formen der Bedrohung Der Jubilar hat sich wie kein anderer verdienstvoll der Rückgabe deutscher Kulturgüter, die in Folge des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland fortgeschafft wurden, gewidmet.1 Die heutigen Formen der Bedrohung von Kulturgut2 sind in der Regel anderer Natur. Sie reichen von bewaffneten Konflikten über Feuer, Wasser, Diebstahl, Naturkatastrophen, Vandalismus bis hin zum Schädlingsbefall.3 Dies verdeutlicht, dass nicht nur der Schutz vor Plünderung und Zerstörung im Krieg, sondern auch der Schutz in Friedenszeiten ins Auge gefasst werden muss.4 * Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert Gornig, Professor am Institut für öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg, Geschäftsführender Vorstand des Instituts seit 1995, Dekan des Fachbereichs seit 2006. Der Autor ist mit Wilfried Fiedler seit drei Jahrzehnten Mitglied in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. 1 Vgl. beispielsweise Fiedler, Wilfried, Kulturgüter als Kriegsbeute? – Rechtliche Probleme der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Rußland (mit den Verhandlungsprotokollen), Heidelberger Forum 95, 1995; ders., Rückführung und Schutz von Kulturgütern, Politik und Kultur 14 (1987), S. 19 ff.; ders., Unterwegs zu einem europäischen Beutemuseum? Zum Vorschlag der Errichtung einer deutsch-russischen Kulturstiftung (DA 6 / 1997), Deutschland Archiv 2 (1998), S. 258 ff.; ders., Kulturgüter als Kriegsbeute: Völkerrechtliche Probleme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Frehner, Matthias (Hrsg.), Das Geschäft mit der Raubkunst. Fakten, Thesen, Hintergründe, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 1998, S. 87 ff.; ders., Warum wird um die Kriegsbeute noch immer gestritten?, in: Meissner, Boris / Eisfeld, Alfred (Hrsg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis, Studien zur Deutschlandfrage 14, 1999, S. 263 ff.; ders., „Kriegsbeute“ im internationalen Recht, in: Strocka, Volker Michael (Hrsg.), Kunstraub – ein Siegerrecht? Historische Fälle und juristische Einwände, 1999, S. 47 ff. 2 Zur Definition vgl. ausführlich Gornig, Gilbert, Der internationale Kulturgüterschutz, in: Gornig, Gilbert / Horn, Hans-Detlef / Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Kulturgüterschutz – internationale und nationale Aspekte. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 24, 2007, S. 17 ff. 3 Vgl. Schorlemer, Sabine von, Internationaler Kulturgüterschutz: Ansätze zur Prävention im Frieden sowie im bewaffneten Konflikt, 1992, S. 25. 4 Stumpf, Eva, Kulturgüterschutz im internationalen Recht unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-russischen Beziehungen, 2003, S. 71.
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Die Heterogenität der Bedrohungspotentiale5 spricht für eine Aufschlüsselung der Gefahren je nach dem, ob es sich um Kriegszeiten oder Friedenszeiten handelt. 1. Krieg und Konfliktfall Der Aspekt der Gefährdung von Kulturgütern im Krieg ist offensichtlich. Massenvernichtungswaffen können in der Regel nicht zielgenau eingesetzt werden und zerstören ganze Städte ohne Rücksicht auf die dort lebende Bevölkerung, aber auch ohne Rücksicht auf kulturelle Werte, die unwiderruflich vernichtet werden. Häufig werden absichtlich Kulturwerte zerstört, man denke etwa an die sinnlose Vernichtung Dresdens und vieler anderer deutscher Städte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch an die Zerstörung von Dubrovnik. 2. Friedenszeiten Die Gefahren für Kulturgüter in Friedenszeiten sind unterschiedlicher. a) Physische Einflüsse Die Kunstgegenstände und Kulturgüter werden heute insbesondere durch Umweltbeeinträchtigungen in Mitleidenschaft gezogen worden.6 Erdbeben, Flutwellen, Vulkanausbrüche, Gewitter, Stürme, Lawinen, Erdrutsche, Feuer und Explosionen bedrohen Kulturgüter jeder Art. Man denke an die Grundwasserabsenkung und die Verschmutzung der Lagune von Venedig. Bei einem Feuer im Museum für moderne Kunst in Rio de Janeiro im Jahre 1978 wurden mehr als tausend Kunstwerke der Moderne, darunter Werke von Salvador Dali, Pablo Picasso und bedeutender lateinamerikanischer Maler vernichtet. Ein schweres Erdbeben in Italien am 23. November 1980 vernichtete Kulturgüter im Werte von fast einer Milliarde Euro. Im September 1997 erschütterte ein starkes Erdbeben die italienischen Provinzen Umbrien und Marken. Ganze Dörfer stürzten ein, viele wertvolle Bau- und Kunstdenkmäler kamen zu Schaden. In der Basilika San Francesco Assisi wurden vier Menschen erschlagen, als innere Gewölbeteile mitsamt den darauf angebrachten wertvollen Fresken von Giotto und Cimabue zu Boden stürzten.7 Mehrere von Schorlemer (Anm. 3), S. 591. Vgl. Brickwedde, Fritz / Weinmann, Arno, Nachhaltiger Schutz des kulturellen Erbes. – Umwelt und Kulturgüter, Neunte Internationale Sommerakademie St. Marienthal, 2004. – Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt fördert Vorhaben zum Schutz der Umwelt, sie widmet sich auch dem Schutz und der Bewahrung umweltgeschädigter Kulturgüter. 7 Die Kirche San Franceso in Assisi beherbergt die Gebeine des Heiligen Franziskus – eines der wichtigsten und populärsten Heiligen der katholischen Kirche. Als am 17. 07. 1128, zwei Jahre nach dessen Tod, seine Heiligsprechung erfolgte, legte Papst Gregor IX. am selben Tag den Grundstein zum Bau der Grabeskirche zu Ehren des Heiligen. 5 6
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Kirchen wurden durch das Erdbeben im April 2009 in Aquila beschädigt, darunter die Kathedrale der Stadt. Die Kuppel der Kirche Anime Sante in der Altstadt war eingestürzt. Umweltbeeinträchtigungen vernichten Skulpturen an den gotischen Kathedralen. Das Parthenon, der Tempel für die Stadtgöttin Pallas Athena Parthenos auf der Athener Akropolis, und andere antike Bauten in Athen leiden unter der Luftverschmutzung der Stadt. Indien hat eines der schönsten Bauwerke der Menschheit, das Taj Mahal in Agra, das durch Immissionen eines nahe gelegenen Chemiewerks bedroht ist, nicht weiter geschützt, da sich die Regierung für die Erhaltung von tausend Arbeitsplätzen des Chemiewerks entschieden hat und nicht für die Rettung des Taj Mahal. Bei der Martinikirche in Halberstadt sind umweltschädigende Einflüsse eine große Bedrohung der Sandsteinmauern. Durch die hohe Belastung des Meißener Raumes durch Luftschadstoffe (Schwefeldioxid) und deren Wirkung durch die häufigen Elbtalnebel war die Sandsteinhaut des Domes starken Zersetzungen ausgesetzt. Die Bedrohungen durch Umweltgefahren haben meist irreversible Auswirkungen. Bauschädliche Salze spielen bei der Zerstörung von Kulturgut eine große Rolle. Die Salze wandern mit Feuchte durch die Materialien und verursachen immense Schäden an der einzigartigen Substanz. Ein zukünftiges Problem ist die Überflutung von am Meer gelegenen Kulturgütern durch den Anstieg der Meere infolge Erderwärmung.8 b) Zivilisatorischer Fortschritt Auch der Fortschritt der Zivilisation birgt Gefahren für Kulturgüter in sich. So weist Absatz 1 der Präambel des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 16. November 19729 darauf hin, dass das Kulturerbe und das Naturerbe zunehmend von Zerstörung bedroht sind, nicht nur durch die herkömmlichen Verfallsursachen, sondern auch durch den Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Kulturgüter sollen heute einem möglichst weiten Kreis von Personen zugänglich gemacht werden. Seit der Entwicklung des Massentourismus ist man sich der Widersprüchlichkeit des Kulturgüterschutzes auf der einen Seite und der Zugänglichkeit für Touristen auf der anderen Seite bewusst. Nachdem es in den 60er Jahren primär darum ging, Kulturgüter für den touristischen Andrang zu erschließen, verstärken sich heute die Bemühungen, Sehenswürdigkeiten vor schädigenden Auswirkungen des Massentourismus zu schützen.10 8 Vgl. http: //www.unesco.org/en/underwater-cultural-heritage/the-heritage/protection/in-situprotection/; http: //www.unesco.org/en/underwater-cultural-heritage/the-heritage/underwaterruins. Vgl. Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage 2001, Paris, 02. 11. 2001. Text: http: //portal.unesco.org/en/ev.php. 9 Convention for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage (Welterbekonvention), Text: BGBl. II 1977 II, S. 213 ff.; ILM 1972, S. 1358 ff.; deutscher Text auch: http: //www.unesco.de/welterbekonvention.html.
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Schädigungen entstehen vor allem durch die hohe Konzentration von Besuchern an ein und demselben Ort. Man denke an die Gräber im Tal der Könige11, die dem Massenandrang schwitzender Touristen ausgesetzt werden.12 Über Schädigungspotential verfügen jedoch nicht nur die Masse der Touristen an sich, sondern auch die von ihnen benutzten Fortbewegungsmittel, die in Gebiete vordringen, die bis vor kurzem von der Zivilisation gänzlich unerschlossen waren.13 Daneben wirft der von Touristen begangene Vandalismus erhebliche Probleme auf. Als Beispiel kann die Kulturstadt Florenz genannt werden, in der etliche Denkmäler Opfer des „piece-souveniring“14 wurden. Als Reaktion auf die Akte des Vandalismus wurden daher Originale durch meist aus Kunststoff gefertigte Duplikate ersetzt. Als weitere, besonders bedrohliche Entwicklung ist die Tendenz zu werten, dass mittlerweile Restaurierungs- und Revitalisierungspraktiken den Bedürfnissen des Tourismus angepasst und nur oberflächlich und nach „modischen“ Gesichtspunkten vorgenommen werden. In einigen Städten, die einem ständigen Tourismusstrom ausgesetzt sind, ist dies besonders deutlich zu sehen. So werden zum Beispiel in der Kulturstadt Wien Revitalisierungspraktiken vorgenommen, die sich bewusst Forderungen und Vorstellungen der Fremdenverkehrswirtschaft beugen; Bogner spricht daher von einer „Verdisneylandisierung“ Wiens.15 Andererseits diente der rasant anwachsende Fremdenstrom bereits unzählige Male mit Erfolg als schwerwiegendes Argument für die Rettung bedeutender Bauwerke. Die Zusammenarbeit der Staaten, um internationale Kulturgüter zu schützen, zeigte sich in ganz besonderer Art und Weise bei der Rettung des Ramses-Tempels in Abu Simbel, der Isis Tempel auf der Insel Philae und anderer Tempelanlagen, die vor den Folgen des wirtschaftlich für unerlässlich gehaltenen Assuan-Stau10 Als Beispiel für ein Umdenken kann der Fall S.P.P. (Middle East) and the Egyptian General Company for Tourism and Hotels genannt werden, in dem sich die ägyptische Regierung für den Bau eines touristischen Komplexes aussprach, der über eine Fläche von 40.470.000 qm und nur vier Kilometer von der Sphinx entfernt gebaut werden sollte. Nachdem die Bauarbeiten bereits begonnen hatten, wurde der Bau jedoch schließlich aufgrund massiven Volkswiderstandes eingestellt, in: von Schorlemer (Anm. 3), S. 112. 11 So setzt die feuchte Atemluft der rund 800.000 Besucher der ägyptischen Königsgräber im Tal der Könige auf dem Westufer des Nils den Reliefs so zu, dass eine Schließung unumgänglich erscheint, in: DER SPIEGEL 34 / 1989, S. 144. 12 Die Höhlen von Lascaux und Altamera wurde deswegen längst für den Publikumsverkehr geschlossen. Venedig möchte kein Museum sein, sondern eine lebendige Kultur- und Industriestadt. Ägypten braucht die Einnahmen aus dem Tourismus und kann deswegen den Touristen nicht die Besichtigung der Pyramiden verweigern. 13 So ließen die Busabgase den Säuregehalt des Regens auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan so stark ansteigen, dass die noch erhaltenen Denkmäler der Maya-Kultur in ihrem Fortbestehen stark gefährdet sind, in: DER SPIEGEL 33 / 1989, S. 117. 14 „Piece by piece. Souvenir-plundered wall in danger of collapsing on throngs of tourists. West Berlin Tourists have chiseled so many souvenirs out of the Berlin wall that some sections are in danger of collapsing“. Milwaukee Sentinel, 08. 01. 1990, S. 2. 15 Bogner, Dieter, Tourismus und Denkmalpflege, in: Reichelt, Gerte (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz, Wiener Symposium 18 / 19. 10. 1990, Wien 1992, S. 119.
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damms gerettet wurden. Internationale, auch von der UNESCO initiierte Zusammenarbeit hat es beispielsweise auch bei der Restaurierung des Buddha-Tempels in Borobodur und der Tempelanlagen von Angkor Wat in Kambodscha gegeben. c) Kunsthandel Der wachsende internationale Kunsthandel lässt sich von wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten. Hieraus ergibt sich eine weltweite Zerstreuung wertvoller Kulturgüter.16 Vor allem dem illegalen Kunsthandel17 kommt großes Gewicht zu. So ist infolge der enormen Nachfrage nach Kunst die Zahl der Kunstdiebstähle gestiegen.18 In modernen Industriegesellschaften, in denen existenzielle Probleme in den Hintergrund rücken, bekommen kulturelle Fragen wieder einen höheren Stellenwert.19 Dies erhöht automatisch die private Nachfrage nach Kulturgütern. d) Desintegration Für viele Kulturgüter in Form von Gebäuden und Bauten stellt die Desintegration, also die fehlende Rücksichtnahme auf das Kulturgut durch die umliegende Bebauung, ein großes Problem dar.20 Viele Staaten haben dieses Problem bereits erkannt und verfügen über nationale Gesetze, die kulturelle Aspekte in ihre Bauplanungsvorschriften einbeziehen (u. a. Ägypten, Deutschland, Griechenland, Österreich, Schweiz sowie Spanien).21 Hierbei ist wichtig, dass das Schutzinteresse 16 Engstler, Ludwig, Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, 1964, S. 26; so auch: Schmeinck, Sabine, Internationalprivatrechtliche Aspekte des Kulturgüterschutzes, 1994, S. 62. 17 Vgl. Knott, Hermann, Der Anspruch auf Herausgabe gestohlenen und illegal exportierten Kulturguts, 1990, S. 24 f. 18 Schmeinck (Anm. 16), S. 26; vgl. Knott (Anm. 17), S. 25. 19 Pieroth, Bodo / Kampmann, Bernd, Außenhandelsbeschränkungen für Kunstgegenstände, in: NJW 1990, S. 1385; Jaeger, Andrea, Internationaler Kulturgüterschutz, 1993, S. 1. 20 So ist beispielsweise der Kölner Dom im Juli 2004 auf die Rote Liste des Welterbes genommen worden, nachdem die Stadt Köln entschieden hatte, ihre Hochhauspolitik, die den Blick auf den Dom einschränkt, fortzusetzen. – Zu erinnern ist auch an die Aberkennung des Dresdner Elbtals als UNESCO-Weltkulturerbe wegen des Baus der Waldschlösschenbrücke. Die umstrittene Brücke im UNESCO-Welterbe-Gebiet darf gebaut werden, wie das Sächsische Oberverwaltungsgericht Bautzen entschieden hat. Der Beschluss des Gerichts ist unanfechtbar. „Mit Hilfe der Gerichte hat der Fortschrittswahn, die brutale Mehrheit der Bauwütigen, Autofanatiker, Magistralenplaner obsiegt“, so Finger, Evelyn, Zum Teufel mit dem Elbtal. Dresden blamiert Deutschland, weil die Autobrücke über die Elbe nun doch gebaut werden soll. Ein Kommentar, in: Die Zeit vom 15. 03. 2007. 21 Beispielsweise hat Ägypten in Artikel 16 des Gesetzes Nr. 117 vom 06. 08. 1983 den Kulturminister bevollmächtigt, Bauvorhaben in der Nähe von historischen Stätten zu untersagen (Text: „Collection of Legislative Texts Concerning the Protection of Movable Cultural Property“, Egypt, UNESCO 1985, CLT-85 / WS 27). Gebäude dürfen gemäß Art. 13 Ziff. 4
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nicht nur einzelnen Objekten gilt, sondern Gebäude-Ensembles in den geschützten Kulturraum einbezogen werden. Wyss spricht von der „psychohygienischen Funktion der Denkmalpflege“22 als Ansatzpunkt für ein Entgegenwirken gegen die Bedrohung von Kulturgütern. Allerdings besteht ein Interessenkonflikt: Wie sind veränderte Nutzungsbedürfnisse der Eigentümer und denkmalpflegerische Interessen in Einklang zu bringen?23 Manchmal, besonders bei neuerer Architektur, ist es auch schlechthin eine Geschmacksfrage, inwieweit Schutz nötig ist.
II. Schutz der Kulturgüter vor Umwelteinflüssen 1. Die Gefahrenquellen Kulturgüter sind heute mehr denn je umweltbedingten Schädigungen ausgesetzt. Als ursächlich für die ständige Zunahme umweltbedingter Schäden werden die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung genannt. Besonders Besorgnis erregend ist dabei die Luftverschmutzung durch Qualm, Ruß und aggressive Emissionen aus Kohle- und Ölheizungen sowie Autoabgase. Bedrohungen ergeben sich dadurch für eine Vielzahl von im Freien befindlichen Kulturgütern.24 Hinzu kommt, dass natürliche Faktoren, die wie das Sich-Abregnen an sich kaum über Schädigungspotential verfügen, mit zivilisationsbedingt verursachten Umweltschänur mit Bewilligung der Egypt Antiquities Organization, der in Art. 5 die umfassende Kontrolle über alle Fragen der Kulturgütererhaltung übertragen wurde und die sich gemäß Art. 27 Abs. 3 um die Entwicklung einer „archaeological awarness by all means“ bemühen soll, baulich verändert oder renoviert werden. Ähnliche Vorschriften finden sich in der griechischen „Antiquities Act“ vom 09. 08. 1932 in Verbindung mit Act 14469 / 1950 „Concerning Protection of a Special Category of Edifices and Works of Art Subsequent to 1830“, dessen Artikel 52 Abs. 1 die Veränderung von vor 1830 entstandenen Bauten und historischen Stätten von einer Bewilligung des Erziehungsministeriums abhängig macht (Text: UNESCO-Collection, Greece, CC-87 / WS 5). Das spanische Gesetz 16 / 1985 über das spanische historische Erbe vom 25. 06. 1985 betrifft den Schutz großräumiger Denkmalkomplexe (Text: UNESCO-Collection, Spain, CC-88 / WS 6.): Artikel 15 unterscheidet Denkmäler, historische Gärten, historische Komplexe und Stätten sowie archäologische Gebiete, die durch Gesetz oder königliches Dekret zu Objekten von nationalem kulturellem Interesse erklärt werden können. Auf diese Weise registrierte Objekte umfassen gemäß Art. 18 auch ihre Umgebung, die ihrerseits nicht ohne entsprechende Bewilligung verändert werden darf. Das Kriterium der Sichtbarkeit eines gesamten Komplexes schützt die „Cultural Heritage Act“ Ecuadors vom 02. 07. 1979 mit der Begründung, dass die Umgebung einen integrativen Bestandteil des eigentlichen Kulturgutes darstellt (Art. 7 des Gesetzes Nr. 865; Text: UNESCOCollection, Ecuador, CLT-85 / WS 23). 22 Wyss, Martin Philipp, Kultur als eine Dimension der Völkerrechtsordnung. Vom Kulturgüterschutz zur internationalen Kooperation, 1992, S. 107. 23 Wyss (Anm. 22), S. 109. 24 So verursachen Schadgase wie Schwefeldioxid (SO ) und Nitrogenoxid (Nox), wenn sie 2 auf die Oberfläche von Naturgesteinen gelangen, mikrobiologisch nachweisbare salpetersäurebildende Bakterien im Gestein.
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den zusammenwirken und so das Schadensausmaß verstärken.25 Eine weitere Gefahr besteht in der durch Depositionen von sauren Luftschadstoffen geförderten Bodenversauerung, die archäologische Bodenfunde aller Art gefährden26. 2. Schutzkonzepte allgemein Wirksamen Schutz gegen Umwelteinflüsse bilden präventive Maßnahmen. Darunter versteht man Maßnahmen, die darauf angelegt sind, vorsorgend, also vor Schadenseintritt, zu handeln, statt nachsorgend zu reagieren.27 Wirksamen Schutz gewährleisten aber auch kurative Maßnahmen, die auf Schadensbekämpfung am Objekt angelegt sind. Kurative Maßnahmen zu ergreifen, also Schäden am Objekt zu beheben, ändern allerdings nichts daran, dass Kulturgüter weiterhin den schädigenden Einflüssen ausgesetzt sind, da dadurch nicht die Schadensursachen bekämpft werden. Gerade im Hinblick auf das steigende Ausmaß umweltbedingter Schädigungen ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass rein kurativer Schutz nicht mehr ausreicht, um Kulturgüter vor dem Verfall zu bewahren28. Bei der Entwicklung wirksamer Schutzkonzepte, insbesondere im Hinblick auf präventive Maßnahmen, ist es wichtig, herauszufinden, an welchem Ort die schädigenden Ereignisse entstehen. Zum einen kann die Schädigung lokaler Art sein, das heißt, die Entstehung der Schadensursache erfolgt in unmittelbarer Nähe.29 Zum anderen können zwischen dem Ort des den Schaden begründenden Ereignisses und dem Ort des Schadenseintritts größere Entfernungen liegen. Man spricht diesbezüglich von Beeinträchtigungen weiträumiger Art.30 Das ist zum Beispiel der Fall bei grenzüberschreitender Luftverschmutzung. Darunter versteht man jede Umweltbeeinträchtigung, die sich auf das Hoheitsgebiet eines anderen Staates auswirkt. Es ist offensichtlich, dass sich diese sogenannten Distanzschäden schwerer bekämpfen lassen. Das hängt damit zusammen, dass zumeist mehrere schadensZum Problem des saueren Regens vgl. von Schorlemer (Anm. 3), S. 234. Vgl. die Untersuchung „Gefährdung archäologischer Bodenfunde durch immissionsbedingte Bodenversauerung“, die in Zusammenarbeit mit dem Verband der Landesarchäologen in Deutschland vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg durchgeführt wurde, Umweltbundesamt (Hrsg.), Jahresbericht 1993, S. 106. 27 Vgl. von Schorlemer (Anm. 3), S. 235. 28 Siehe BT-Drucksache 10 / 2612, 13. 12. 1984, S. 2; nach einer Schätzung des Umweltbundesamtes fallen in der Bundesrepublik Deutschland ca. 300 Mio. Euro Erhaltungskosten an. 29 Als Beispiel eines Industriekonzerns in unmittelbarer Nähe, der mit schädigenden Emissionen ein Kulturdenkmal bedroht, ist der dem Taj Mahal angrenzende Chemiekonzern zu erwähnen, siehe Rudolf, Walter, Über den internationalen Schutz von Kulturgütern, in: Hailbronner, Kay / Ress, Georg / Stein, Torsten (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 853 ff. (870). 30 Vgl. Aufruf der KSZE, den Umweltgefahren für das kulturelle Erbe vermehrt Beachtung zu schenken, Ziffer 35 des Schlussdokuments des Krakauer Symposium über das kulturelle Erbe der KSZE-Teilnehmerstaaten von 1991. 25 26
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begründende Ereignisse kumulativ zusammenwirken und damit ursächlich für die Zerstörung eines Kulturguts sind. Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund der Distanz der Nachweis des den Schaden begründenden Ereignisses fast unmöglich ist.31 3. Durchführung präventiver Maßnahmen zum Schutz der Kulturgüter Das Problem der Finanzknappheit und die Tatsache, dass kurative Maßnahmen der Zerstörung der Kulturgüter nie ganz Einhalt gebieten können, legen den Schluss nahe, dass Kulturgüterschutz insbesondere präventive Maßnahmen umfassen muss. Unter Vorsorgemaßnahmen gegen Umwelteinflüsse wird überwiegend die Verminderung der Umweltrisiken im Vorfeld verstanden. Will man Umweltgefahren bekämpfen, bevor sie schädigende Auswirkungen auf Kulturgüter haben, muss festgestellt werden, an welchem Ort das schadensbegründende Ereignis stattfindet.32 a) Präventive Maßnahmen gegen lokale Schädigung aa) Ensembleschutz Schädigenden Einwirkungen aus dem Umfeld wird durch den Ensembleschutz33, der die Ausweitung des Kulturgüterschutzes auf das Umfeld des zu schützenden Objekts zur Folge hat, Rechnung getragen.34 Umweltschutzmaßnahmen kommen dem Ensembleschutz zugute, wenn sie aufgrund der Ausdehnung des Schutzbereiches schädigende Einflüsse im Umfeld des Kulturgutes zu verhindern wissen. Als Beispiel kann auf die schädigenden Einflüsse von in unmittelbarer Nähe befindlichen Industrieanlagen verwiesen werden, die aufgrund ihrer schädigenden Emissionen eine direkte Gefährdung für das betreffende Kulturgut darstellen.
von Schorlemer (Anm. 3), S. 227. von Schorlemer (Anm. 3), S. 236 33 Ensembles sind nach Art. 1 der UNESCO-Konvention von 1972 Gruppen einzelner oder miteinander verbundener Gebäude, die wegen ihrer Architektur, ihrer Geschlossenheit oder ihrer Stellung in der Landschaft aus geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind. 34 Dem Ensembleschutz tragen auf internationaler Ebene vor allem das UNESCO-Übereinkommen von 1972, Artikel 1, das Europarat-Übereinkommen von 1985, Artikel 1 Abs. 2 und verschiedene nationale Gesetze wie das österreichische Denkmalschutzgesetz Rechnung, siehe Wyss (Anm. 22), S. 99 ff. Im deutschen Recht sprach sich eine VGH-Entscheidung ebenfalls für einen Ensembleschutz aus, vgl. VGH Mannheim, in: NVwZ-RR 1990, S. 296. 31 32
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bb) Einbeziehung des Kulturgüterschutzes in Bauleitpläne Schutz gegen lokale Schädigung kann ferner erreicht werden, wenn die Interessen des Kulturgüterschutzes bei Baumaßnahmen berücksichtigt werden35. Zweck ist es, ähnlich wie beim Ensembleschutz, schädigende Maßnahmen in der Nähe von Kulturgütern zu vermeiden. So können insbesondere Bauvorhaben verhindert werden, die in großer räumlicher Nähe zu der geschützten Stätte vorgenommen werden und dem alten Gestein Schäden aufgrund konstruktionsbedingter Vibrationen und im Boden versickernder Abwässer zufügen. Zwar wird eine Interessenkollision einer Abwägung im Einzelfall überlassen, jedoch kommt der Denkmalschutz gegenüber andern Belangen oft zu kurz.36 Zentrales Anliegen der UNESCO ist es daher, Kulturgüter in jeder Phase der Planung und Projektierung von Baumaßnahmen zu berücksichtigen. Artikel 5 lit. a UNESCO-Übereinkommen vom 16. November 1972 (Welterbekonvention – Convention for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage)37 berücksichtigt diesen Gedanken. Auch der Europarat sieht in seinem Übereinkommen vom 3. Oktober 1985 zum Schutz des architektonischen Erbes in Europa38 in Art. 10 Abs. 1 die Berücksichtigung der Kulturgüter bei den Genehmigungsverfahren für Bauarbeiten als wesentliches Ziel eines präventiven Schutzkonzeptes an. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Kulturgüterschutz und Umwelt- und Planungsrecht zeigen sich nicht nur auf völkerrechtlicher Ebene. Auch im deutschen Recht wird der zwingende Zusammenhang beider Rechtsmaterien vor allen Dingen aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben in immer mehr Gesetzen offenbar. Beispiele finden sich im Bauplanungsrecht, im Bundesimmissionsschutzgesetz, das bereits in der Definition des zentralen Begriffs der Immission den Bezug zum Kulturgüterschutz deutlich herstellt, und im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung. Weitere Berührungspunkte finden sich darüber hinaus im Bereich der durch Landesgesetz geschützten Garten- und Bodendenkmäler auf der einen, und den nach dem Bundesnaturschutzgesetz vorgesehen Naturdenkmälern auf der anderen Seite. Durch die Festsetzung anderer Baugrenzen, durch Zulassung größerer Gebäudehöhen (Beispiel Hochhäuser), anderer Dachformen oder größerer Bau35 Vgl. etwa Recommendation Concerning the Preservation of Cultural Property Endangered by Public or Private Works, UNESCO Doc. 15 / C vom 19. 12. 1968, Abs. 13. 36 So auch Eberl, Wolfgang, Fragen des Denkmalschutzes. Denkmalschutz in der Gesetzeslandschaft, in: Gebeßler, August / Eberl, Wolfgang (Hrsg.), Schutz und Pflege von Baudenkmälern in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 213; als jüngstes Beispiel kann die im Südosten der Türkei gelegene Siedlung Navali Cori aus der Jungsteinzeit genannt werden. Diese über 9000 Jahre alte Tempelanlage stellt das älteste Zeugnis menschlicher Götterverehrung dar und wird vermutlich in nächster Zeit vom Stausee des Atatürk-Dammes überflutet werden, vgl. dazu schon: DER SPIEGEL 33 / 1991, S. 160 f. 37 Text: BGBl. 1977 II, S. 213 ff.; ILM 1972, S. 1358 ff.; http: //www.unesco.de/welterbekonvention.html. 38 Text: BGBl. 1994 II, S. 1286 ff.; http: //conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/ 121.htm.
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massen sind die Bebauungspläne für Baudenkmäler von besonderer Relevanz.39 Nach deutschem Recht können Bebauungspläne nichtig sein, wenn die Denkmaleigenschaft eines von der Bauleitplanung in seinem Bestand betroffenen Gebäudes nicht erkannt oder nicht mit in die Abwägung einbezogen wird40. Bebauungspläne, die Denkmäler nicht unmittelbar in ihrem Bestand gefährden, sind jedoch nicht nichtig; vielmehr wird eine Interessenabwägung vorgenommen, bei der der Kulturgüterschutz noch nicht den ihm gebührenden Stellenwert einnimmt41. cc) Beurteilung der vorgestellten Umweltschutzmaßnahmen Theoretisch gesehen sind sowohl der Ensembleschutz als auch die Einbeziehung des Kulturgüterschutzes in Bauleitpläne geeignete Instrumentarien, um vorbeugenden Umweltschutz zu betreiben. Problematisch ist jedoch ihre Durchsetzung. Sobald andere Interessen, vor allem wirtschaftliche, betroffen sind, wird die Verwirklichung kulturgüterrechtlicher Belange schwierig42 und bleibt zumeist hinter den wirtschaftlichen Ansprüchen zurück, es sei denn sie dienen dem Tourismus. Berühmtestes Beispiel ist die Verlagerung des ägyptischen Abu Simbel Tempelkomplexes, der durch den Assuan-Stausee überflutet worden wäre. Bei Beurteilungen über die Eintragung in die „World Heritage List“ ist das UNESCO-Komitee dazu übergegangen, die Natur- und Kulturstätten umfassend auf ihre möglichen Bedrohungen zu prüfen und den Mitgliedsstaaten entweder Maßnahmen vorzuschlagen oder den Eintrag bzw. Subventionsvergaben von Schutzmaßnahmen abhängig zu machen.43 b) Präventive Maßnahmen gegen weiträumige Schädigungen aa) Völkerrechtliche Verträge mit direkter Schutzwirkung Präventive Maßnahmen verlangen nicht nur wirksame Schutzkonzepte gegen lokale Schädigungen, sondern vor allem solche gegen Distanzschäden. Grenzüberschreitender Luftverschmutzung kann in erster Linie auf internationaler Ebene, also durch völkerrechtliche Abkommen, Rechnung getragen werden. Das UNESCOÜbereinkommen vom 16. November 1972 (Welterbekonvention) berücksichtigt den Aspekt der weiträumigen Schädigung in Art. 6 Abs. 3. Diese Vorschrift enthält Vgl. auch Eberl (Anm. 36), in: Gebeßler / Eberl, S. 216. Vgl. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1990, S. 342; die Denkmaleigenschaft einer denkmalgeschützten Villa wurde nicht erkannt, so dass die Villa aufgestockt bzw. mit Tiefgarage untermauert werden sollte. 41 So Eberl (Anm. 36), in: Gebeßler / Eberl, S. 213. 42 Als Beispiel kann wiederum das Taj Mahal in Agra genannt werden. 43 Als Beispiel hat 1988 das Komitee zwar den Tower von London in die Liste aufgenommen, gleichzeitig aber sein Bedauern über das geplante Tower Hotel ausgedrückt, SC 88 / Conf. 001 / 13 S. 18. – Man denke auch an den Bau der Elbbrücke bei Dresden. 39 40
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eine Pflicht der Staaten, vorsätzliche Maßnahmen zu unterlassen, die das in ausländischen Staaten befindliche Kulturerbe mittelbar oder unmittelbar schädigen könnten. Aufgrund des Vorsatzerfordernisses wird allerdings die Bedeutung der Norm stark eingeschränkt. Die Distanz zwischen Schadensentstehung und Schadenseintritt gestaltet eine Rückverfolgung als sehr schwierig. Das UNESCO-Übereinkommen von 1972 enthält eine Regelung für dringlich zu besorgende Arbeiten in Katastrophenfällen. Das „Komitee für das Erbe der Welt“ (Art. 8) führt eine „Liste des gefährdeten Erbes der Welt“ (Art. 11 Abs. 4 Satz 1), in die nach Bedarf diejenigen Kulturgüter eingetragen werden, zu deren Erhaltung umfangreiche Maßnahmen erforderlich sind und für die aufgrund des Übereinkommens Unterstützung angefordert wird. In diese Liste dürfen nur solche Objekte aufgenommen werden, die durch „ernste und spezifische Gefahren“ (Art. 11 Abs. 4 Satz 3) bedroht sind. Zu diesen Gefahren zählen Erdbeben, Erdrutsche, Vulkanausbrüche, aber auch Überschwemmungen, Sturmfluten und Feuer.44 Gemäß Art. 21 Abs. 2 sollen Anträge aufgrund von Natur- und sonstigen Katastrophen vom Komitee wegen der gegebenenfalls erforderlichen dringlichen Arbeiten „sofort und vorrangig“ erörtert werden. Auch ein „Reservefonds“ für derartige Notfälle ist vorgesehen. Art. 11 Abs. 4 S. 3 ermöglicht die Aufnahme von durch städtebauliche oder touristische Entwicklungsvorhaben ernsthaft bedrohte Kulturgüter in die „World Heritage List“. Das Europäische Übereinkommen über das archäologische Erbe vom 6. Mai 196945 nimmt sich dem Schutz archäologischer Kulturgüter an und will sie auch vor Beeinträchtigung durch die Umwelt schützen.46 Es wurde am 16. Januar 199247 überarbeitet. In Art. 3 des Übereinkommens zum Schutz des architektonischen Erbes Europas vom 3. Oktober 198548 verpflichtet sich jede Partei, gesetzliche Maßnahmen zum Schutz des architektonischen Erbes zu treffen und im Rahmen dieser Maßnahmen auf eine für jeden Staat oder jede Region spezifische Art und Weise Vorsorge für den Schutz der Denkmäler, Ensembles und Stätten zu treffen. Konkretisierungen der Verpflichtungen erfolgen in den Art. 4 bis 13. In Art. 7 verpflichtet sich jede Vertragspartei, in der Umgebung von Denkmälern, innerhalb von Ensembles und innerhalb von Stätten Maßnahmen zur allgemeinen Verbesserung der Umwelt einzuführen. Zur Begrenzung der Gefahren des physischen Vgl. Art. 11 Abs. 4 Satz 3 UNESCO-Übereinkommen von 1972. European Convention on the Protection of the Archaeological Heritage, Text: European Treaty Series – No. 66; BGBl. 1974 II, S. 1285 ff. Sie trat für Deutschland am 22. 04. 1975 in Kraft. 46 Article 1: For the purposes of this Convention, all remains and objects, or any other traces of human existence, which bear witness to epochs and civilisations for which excavations or discoveries are the main source or one of the main sources of scientific information, shall be considered as archaeological objects. 47 Text: http: //conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/143.htm; BGBl. 2002 II, S. 2709 ff., für Deutschland am 23. 07. 2003 in Kraft getreten. 48 Text: BGBl. 1987 II, S. 623 ff.; http: //conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/ 121.htm. 44 45
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Verfalls des architektonischen Erbes verpflichtet sich jede Vertragspartei in Art. 8, wissenschaftliche Forschungen zu unterstützen, welche die schädlichen Auswirkungen der Umweltverschmutzung ermitteln und analysieren und Mittel und Wege zur Verringerung oder Beseitigung dieser Auswirkungen aufzeigen und bei Maßnahmen gegen die Umweltverschmutzung die besonderen Probleme der Erhaltung des architektonischen Erbes berücksichtigen. Ohne den Wert des Zugangs der Allgemeinheit zu geschützten Gütern zu verkennen, hat jede Vertragspartei in Art. 12 die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Folgen der Zugänglichmachung, insbesondere bauliche Maßnahmen, den architektonischen und geschichtlichen Charakter dieser Güter und ihrer Umgebung nicht beeinträchtigen. Die Convention on Civil Liability for Damage Resulting from Activities Dangerous to the Environment vom 21. Juni 199349 sichert einen adäquaten Ersatz für Schäden, die durch umweltschädigendes Verhalten entstanden sind. Die Konvention stellt Mittel zur Verfügung, dies zu verhindern und den Schaden zu beseitigen. bb) Völkerrechtliche Verträge mit indirekter Schutzwirkung Es existieren neben den kulturgüterrechtlichen Verträgen auch solche, die nicht unmittelbar auf den Erhalt der Kulturgüter abzielen, deren Umsetzung diesen jedoch zugute kommt. Wird die grenzüberschreitende Luftverunreinigung bekämpft, so bedeutet dies automatisch eine Verminderung des Schädigungspotentials für Kulturgüter. Zu nennen ist hier das Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung vom 13. November 197950, das in Artikel 2 jedoch keine echte Verpflichtung auferlegt, sondern nur Zielbestimmungen festlegt.51 Erst das Helsinki Protokoll vom 8. Juli 198552 verpflichtete die Parteien, die nationalen jährlichen Schwefelemissionen oder ihren grenzüberschreitenden Fluss bis spätestens 1993 um mindestens 30% zu verringern.53 Inzwischen sind
49 Text: http: //conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/150.htm. Für Deutschland ist die Konvention nicht in Kraft getreten. 50 Text: BGBl. 1982 II, S. 373 ff.; http: //www.vilp.de/Depdf/d217.pdf. Es wird auch Genfer Luftreinhalteabkommen, LRTAP (Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution), genannt. 51 Zielbestimmungen, die besagen, dass Menschen und Umgebung gegen Luftverschmutzung zu schützen sind und dass die Luftverunreinigung, einschließlich der grenzüberschreitenden, einzudämmen ist, siehe von Schorlemer (Anm. 3), S. 239. 52 Protokoll zum Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung, betreffend die Verringerung von Schwefelemissionen oder ihres grenzüberschreitenden Flusses um mindestens 30 Prozent, abgeschlossen in Helsinki am 08. 07. 1985 (ECE, Protocol to the 1979 Convention on Long-Range Transboundary Air Pollution on the Reduction of Sulphur Emissions or their Transboundary Fluxes by at least 30 per cent), BGBl. 1986 II, S. 1117 ff. 53 Vgl. Artikel 2, siehe auch Artikel 3 zu „weiteren Verringerungen“.
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Protokolle für weitere, weiträumig transportierte Luftverunreinigungen in Vorbereitung.54 cc) Völkerrechtliche Erklärungen mit indirekter Schutzwirkung Ein weiteres wichtiges Dokument ist die Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung vom 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro55. In ihrem Grundsatz 19 bestimmt sie, dass Staaten andere potentiell gefährdete Staaten über Tätigkeiten, die schwerwiegende nachteilige grenzüberschreitende Auswirkungen auf die Umwelt haben können, im voraus und rechtzeitig unterrichten, ihnen sachdienliche Informationen zur Verfügung stellen und sie frühzeitig und in redlicher Absicht konsultieren. Grundsatz 13 besagt, dass die Staaten nationale Gesetze zur gerichtlichen Verfolgung der Verursacher und zur Entschädigung der Opfer von Umweltverschmutzung oder anderer Umweltschäden erlassen. Des Weiteren sollen internationale Normen beschlossen werden, die die Haftung und Entschädigung für negative Folgen der Umweltverschmutzung regeln. Die UNESCO-Generalkonferenz im Herbst 198056 äußerte die Überzeugung, dass das kulturelle Erbe jedes Mitgliedstaates bereits im Vorfeld akuter Bedrohung, also präventiv, gegen Katastrophen geschützt werden könne, vorausgesetzt, dass die Staaten bereit seien, einzeln und gemeinsam im Rahmen internationaler Zusammenarbeit geeignete Maßnahmen zu unternehmen. Es sollen präventive Maßnahmen zum Schutz des kulturellen Erbes erfolgen, die darauf gerichtet sind, diese Unglücksfälle zu verhindern oder abzumildern. Im Jahr 1980 erging ferner eine Aufforderung an den UNESCO-Generaldirektor, eine Studie über die technischen und rechtlichen Aspekte der Erhaltung des kulturellen Erbes gegen „disasters and other calamities“ vorzubereiten.57 Es wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, ein neues internationales Rechtsinstrument zum Schutz des Kulturerbes gegen Natur- und sonstige Katastrophen auszuarbeiten. Sein Vorschlag wurde dem Executive Board vorgelegt und fand Eingang in die 1985 von der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedete Resolution on the Desirability of Adopting an International Instrument on the Protection of the Cultural Heritage Against Natural Disasters and Their Consequences.58 Darin stellte die UNESCO-Generalkonferenz grund54 Zum Beispiel das Zweite Protokoll über Schwefelemissionen vom 13. / 14. 06. 1994, Oslo; es sieht eine erneute Verringerung um ca. 30 % bis zum Jahre 2010 vor. 55 Text: http: //www.un.org/Depts/german/conf/agenda21/rio.pdf. Abgedruckt in: Zeitmagazin, Ein Gipfel für die Erde, Nr. 1, 1992, S. 94 – 95. 56 21 C / Resolution 4 / 08 Protection of the Cultural Heritage Against Disasters, twentyfirst session, Belgrad, 23. 09. – 28. 10. 1980. 57 21 C / Resolution 4 / 08 Protection of the Cultural Heritage Against Disasters, twentyfirst session, Belgrad, 23. 09. – 28. 10. 1980. 58 23 C / Resolution / 11.2, Desirability of Adopting an International Instrument on the Protection of the Cultural Heritage Against Natural Disasters and Their Consequences, Records of the General Conference, twenty-third session, Sofia, 08.10.-09. 11. 1985.
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sätzlich fest, dass der Schutz des Kulturerbes gegen Naturkatastrophen nicht in vollem Umfang durch bestehende internationale Rechtsinstrumentarien abgedeckt wird. Es sei daher nützlich, so schnell wie möglich Bestimmungen zu verabschieden und sich dieses Themas anzunehmen. Aus haushaltsrechtlichen Mitteln sah man sich jedoch dazu nicht in der Lage und widmete sich der Umsetzung der drei bereits existierenden UNESCO-Konventionen, nämlich der Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten aus dem Jahr 1954, der Konvention gegen die unerlaubte Ein- und Ausfuhr von Kulturgut aus dem Jahr 1970 und der Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt aus dem Jahre 1972. Naturkatastrophen waren auch ein Thema im Rahmen des Europarats, wie die Recommendation on Protecting of the Cultural Heritage Against Disasters aus dem Jahre 1986 zeigt.59 Auch hier besteht die Zuversicht, dass im Vorfeld von Naturkatastrophen wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kulturgütern ergriffen werden können. Im Jahre 1986 wurden zwei Berichte zum Thema des Schutzes von Kulturgütern gegen Naturkatastrophen erstellt. Der erste Bericht, der Information Report on Disasters and the Cultural Heritage60 bezog sich auf Erdbeben, Feuer und Überschwemmungen und betonte den präventiven Ansatz. Es wurde empfohlen, konkrete Notpläne aufzustellen, die nähere Ausführungen hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen enthalten, und den Bestand an Kunst- und Kulturgütern zu inventarisieren und eine bei der Rettung zu beachtende Rangfolge anzugeben und schließlich Kulturgüter in Erdbebengebieten speziell zu schützen. Der zweite Report on Protecting the Cultural Heritage Against Disasters61 forderte den Aufbau eines Gremiums mit entsprechendem Expertenwissen auch hinsichtlich der neueren wissenschaftlichen Entwicklungen. Beim Aufstellen von Katastrophenplänen und ihrer Implementierung sei es unerlässlich, auf das auf diese Weise gebündelte Fachwissen der Experten zurückzugreifen. Eine Empfehlung aus dem Jahre 1993 zum Schutz des baulichen Erbes gegen Naturkatastrophen62 gibt vor, dass eine komplette Liste von gefährdeten Gebäuden und Objekten zu erstellen ist63 und spricht sich dafür aus, dass die für das bauliche Erbe zuständigen Behörden in 59 Recommendation 1042 (1986) on Protecting the Cultural Heritage Against Disasters vom 27. 05. 1988, Council of Europe, Parliamentary Assembly, thirty-eighth ordinary session; vgl. dazu die Draft Recommendation presented by the Committee on Culture and Education, abgedruckt in: Council of Europe, Parliamentary Assembly, Report on Protecting the Cultural Heritage against Disasters (Rapporteur Ross) (Doc. 5624), 11. 09. 1986. 60 Council of Europe, Parliamentary Assembly, Information Report on Disasters and the Cultural Heritage, presented by the Committee on Culture and Education, (Doc. 5579) (Rapporteur Ross), 22. 05. 1986. 61 Council of Europe, Parliamentary Assembly, Information Report on Disasters and the Cultural Heritage, presented by the Committee on Culture and Education, (Doc. 5579) (Rapporteur Ross), 22. 05. 1986. 62 Recommendation on the protection of the architectural heritage against natural disasters (93 / 9) vom 23. 11. 1993. 63 Im Anhang der Empfehlung II. 1.
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ihrem Bereich auch für den Katastrophenschutz und die Minderung der Auswirkungen von Katastrophen zuständig sein sollen64. Darüber hinaus wird die Einrichtung eines Notfallfonds auf nationaler und kommunaler Ebene angeregt.65 Um mögliche Verluste und Schäden im Falle einer Katastrophe und deren Nachwirkungen zu verhindern, seien vor allem Strategien zur Verhütung und Milderung der Folgen notwendig, die die Vorbereitung und Planung sowie die Durchführung technischer und physischer Maßnahmen erfordern. Der Erfolg solcher Maßnahmen hänge jedoch im Wesentlichen von der wirksamen Zusammenarbeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene ab.66 Ein Bericht im Rahmen des Europarates Ende der siebziger Jahre kritisierte, dass hinsichtlich des Schädigungspotentials „Massentourismus“ zu wenig Forschungsmaterial vorliege und dass deshalb noch keine konkreten Angaben über die negativen kulturellen und ökologischen Auswirkungen des Massentourismus getroffen werden könnten67. Danach folgte unter anderem eine Empfehlung, die forderte, dass Aspekte des internationalen Kulturgüterschutzes in jedem Fall anderen Erwägungen vorgehen müssten68. In einem späteren Dokument wurde der Beitritt der Mitgliedsstaaten zur „World Tourism Organization“ empfohlen.69 Neben den Empfehlungen des Europarats existieren die von den „Non Governmental Organizations“ verabschiedeten Deklarationen, die insbesondere den Bereich des Tourismus betreffen. Zu nennen ist hierbei zum einen die Haager Deklaration über Tourismus70, die auf der „Inter-Parliamentary Conference on Tourism“ Im Anhang der Empfehlung II. 9. Im Anhang der Empfehlung III. a. 66 Vgl. auch Entschließung des Europäischen Parlaments zum Schutz des natürlichen, architektonischen und kulturellen Erbes Europas in ländlichen Gebieten und Inselregionen (2006 / 2050[INI]) – unter Hinweis auf seine Entschließungen vom 13. 05. 1974 zum Schutz des kulturellen Erbes Europas, vom 14. 09. 1982 zur Erhaltung des architektonischen und archäologischen Erbes Europas, vom 28. 10. 1988 zur Erhaltung des architektonischen und archäologischen Erbes der Gemeinschaft, vom 12. 02. 1993 zur Erhaltung des architektonischen Erbes und zum Schutz der Kulturgüter und vom 16. 01. 2001 zur Umsetzung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt in den Staaten der Europäischen Union. Vgl. zu weiteren Beschlüssen und Empfehlungen des Ausschusses der Minister: http: //www.international.icomos.org/centre_documentation/coe_eng.htm#top2. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975 enthält ebenfalls ein detailliertes Kapitel über den Schutz der Umwelt, über die Bekämpfung der Luft- und Wasserverschmutzung, über den Schutz der Meeresumwelt und die Nutzung des Bodens und den Naturschutz. Text: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, KSZE-Dokumentation, 3. Aufl. 1976. 67 Council of Europe, Parliamentary Assembly, Report on European Co-operation in the Field of Tourism (Rapporteur Portheine), Part III, Explanatory Memorandum, S. 11, Abs. 22, (Doc. 3992), 6. Juni 1977. 68 Council of Europe, Parliamentary Assembly, twenty-ninths ordinary session, Resolution 658 (1977) on European Co-operation in the Field of Tourism, Abs. 3. 69 Recommendation 810 (1977) on European Co-operation in the Field of Tourism, Abs. 3. 70 Text: http: //www.univeur.org/CMS/UserFiles/68.%20The%20Hague.PDF. 64 65
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vom 10. bis 14. April 1989 in Den Haag verabschiedet wurde und an der maßgeblich die „World Tourist Organization“ und die Interparlamentarische Union mitgewirkt haben. In Prinzip II Absatz 2 a sollen nationale und internationale Touristen aufgefordert werden, die natürliche, kulturelle und humane Umwelt zu respektieren („respect the natural, cultural and human environment in places they visit“). Empfohlen wird gegebenenfalls sogar gemäß Principle III Abs. 2 c die Schließung bestimmter Stätten, falls sich deren Kapazität als ungenügend erweist. Die UNESCO und der Europarat zweifeln jedoch, ob die „World Tourist Organization“ tatsächlich positive Auswirkungen auf die Entwicklungen der Gaststaaten habe, da sie dem Tourismus zu aufgeschlossen gegenüber stehe71. Neben der Haager Deklaration gilt die ICOMOS-Charter of Cultural Tourism vom November 197672 als das am weitesten reichende Dokument zum Schutz der Kulturgüter vor den Gefahren des Massentourismus73. Das Übereinkommen fordert in Nr. 4 Abs. 2 radikal, dass der Kulturgüterschutz allen anderen Erwägungen sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Art vorgehen müsse. Gefordert wird diesbezüglich von den Mitgliedstaaten unter „Basis for Action“ die Durchführung der UNESCO-Konventionen.74 dd) Völkergewohnheitsrecht mit indirekter Schutzwirkung Neben den vertraglichen Normierungen existieren gewohnheitsrechtliche Regelungen zum Schutze der Umwelt, die einen mittelbaren Schutz auf Kulturgüter ausüben können. Das Verbot erheblicher Schädigung der Umwelt jenseits des eigenen Hoheitsgebiets ist Ausdruck zweier widerstreitender Ansprüche, nämlich des Anspruchs der Staaten auf absolute Respektierung ihrer territorialen Souveränität einerseits und ihrer territorialen Integrität andererseits. Nach dem Prinzip der absoluten territorialen Souveränität beansprucht jeder Staat das Recht, das eigene Territorium nach freiem Belieben für seine Zwecke zu nutzen, ohne Rücksicht auf die Interes71 Vgl. die von der UNESCO 1975 vorgelegte Studie „The Effects of Tourism on Sociocultural Value“, SHC / OPS / TST / 100. 72 Text: http: //www.icomos.org/tourism/tourism_charter.html. Vgl. auch die International Cultural Tourism Charter der 12. Generalversammlung in Mexiko, Oktober 1999, Text: http: //www.international.icomos.org/charters/tourism_e.htm. Principle 2 lautet: The relationship between Heritage Places and Tourism is dynamic and may involve conflicting values. It should be managed in a sustainable way for present and future generations. Vgl. Prinzipien 2.1 bis 2.7. 73 ICOM (International Council of Museums) wurde 1946 gegründet und ist eine nichtstaatliche internationale Organisation für Museen und deren Mitarbeiter. Mit über 21.000 Mitgliedern in 140 Ländern verfügt ICOM über ein internationales Netzwerk von Fachleuten. Rein, Anette, Museen als Orte des Kulturgüterschutzes? AKMB-news 2 / 2006, S. 42. 74 Vgl. etwa IMPACT: The Effects of Tourism on Culture and the Environment in Asia and the Pacific: Sustainable Tourism and the Preservation of the World Heritage Site of the Ifugao Rice Terraces, Philippines Bangkok: UNESCO Bangkok, 2008.
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sen anderer Staaten oder auf völkerrechtliche Beschränkungen, selbst wenn eine derartige Nutzung Umweltschäden jenseits der Staatsgrenze verursachen sollte. Seine deutlichste Ausprägung findet dieses Prinzip in der sog. Harmon-Doktrin, benannt nach dem damaligen Justizminister der USA, der im Zusammenhang mit einer Streitigkeit zwischen Mexiko und den USA über die Ableitung von Wasser aus dem Rio Grande durch US-amerikanische Farmer im Jahre 1895 die vorgenannte Auffassung vertreten hatte. Demgegenüber sieht das Prinzip der absoluten territorialen Integrität jegliche Einwirkung auf fremdes Staatsgebiet als völkerrechtswidrig an, so dass es jedem Staat untersagt ist, auf seinem Territorium Aktivitäten zu entfalten oder zu dulden, die nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt eines Nachbarstaates haben können. Beide Prinzipien stellen einen Widerspruch dar und können jeweils für sich genommen das Problem der grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen nicht lösen. Es ist daher ein Interessenausgleich zwischen Verursacher- und Wirkungsstaat erforderlich. Diese Überlegung wird allgemein als das Prinzip der beschränkten territorialen Souveränität und Integrität bezeichnet,75 das von Gerichten – in erster Linie vom Schiedsgericht im sog. Trail Smelter vom 11. März 194176 – entscheidend geprägt worden ist. Es wird aufgrund allgemeiner Anerkennung sowie des Fehlens einer widersprechenden Staatenpraxis als Norm des Völkergewohnheitsrechts angesehen.77 Das Prinzip hat Eingang in Art. 21 Schlusserklärung der Stockholmer UN-Konferenz von 197278 und in zahlreiche weitere Abkommen und Deklarationen79 gefunden. Der Grundsatz wird im 75 Dieses Prinzip ist durch eine Reihe von Entscheidungen nationaler (vgl. etwa den sog. Donauversinkungs-Fall vom 17. / 18. 06. 1927, RGZ 1929, S. 116) und internationaler (vgl. neben dem Trail-Smelter-Fall insbesondere den Lac Lanoux-Fall vom 16. 11. 1957 [RIAA Bd. XII, S. 281 ff.]) Gerichte sowie den Korfu-Kanal-Fall vom 09. 04. 1949 (ICJ Reports 1949, S. 4 ff.), daneben auch den Oderkommission-Fall vom 10. 09. 1929 (PCIJ Series A, No. 23) oder den Maas-Fall vom 28. 06. 1937 (PCIJ Series A / B, No. 70) bestätigt worden. 76 RIAA, Bd. III, S. 1905 ff. 77 Wolfrum, Rüdiger, Die grenzüberschreitende Luftverschmutzung im Schnittpunkt von nationalem Recht und Völkerrecht, in: DVBl. 1984, S. 493, 495; Rauschning, Dietrich, Allgemeine Völkerrechtsregeln zum Schutz gegen grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, in: Münch, Ingo von (Hrsg.) Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht. Festschrift für Schlochauer, 1981, S. 557, 562 ff. In der Resolution 2996 (XXVII) der Generalversammlung vom 15. 12. 1972 wird diese Auffassung ausdrücklich bekräftigt. 78 Text: ILM 1972, S. 1416 ff. – Im Jahr 1972 tagte in Stockholm die UNO-Weltkonferenz über die menschliche Umwelt mit Vertretern aus 112 Staaten. Der 5. Juni, der Tag, an dem die Veranstaltung eröffnet wurde, ist bis heute der „Internationale Tag der Umwelt“. Erstmals bekannte sich die Weltgemeinschaft zu einer Zusammenarbeit im Umweltschutz. In der Folge gründete die UN-Vollversammlung das UN-Umweltprogramm (UNEP – U.N. Environment Programme). Ferner wurde das globale Erdbeobachtungssystem „Earthwatch“ ins Leben gerufen. 79 Vgl. Art. 30 der UN-Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten (GA Res. 3281 [XXIX] vom 12. 12. 1974; deutsche Übersetzung: Vereinte Nationen 1975, S. 117 ff.); Prinzip 3 der Grundsätze der Erhaltung und harmonischen Nutzung gemeinsamer Naturgüter mehrerer Staaten vom 19. 05. 1978 (Text: ILM 1978, S. 1091 ff.); Art. 21 der Weltcharta für die Natur (GA Res. 37 / 7 vom 28. 10. 1982), deutsche Übersetzung: Vereinte
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Einzelnen in voneinander abweichenden Formulierungen dahingehend umschrieben, dass ein Staat bei der Vornahme oder Duldung umweltrelevanter Handlungen auf seinem Territorium die Interessen anderer Staaten mit zu berücksichtigen habe und die Beeinträchtigungen der Umwelt dieser Staaten ab einer gewissen Intensität untersagt seien. Das Maß des noch Hinnehmbaren ist nach allgemeiner Auffassung dann als überschritten zu bewerten, wenn die Auswirkungen erhebliche Schädigungen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates verursachen. Neben den beiden bisher genannten Prinzipien werden noch weitere Sätze als Normen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts mit umweltschützender Wirkung und damit auch kulturgüterschützender Wirkung angesehen. So wird das Prinzip der guten Nachbarschaft, das in Art. 74 UN-Charta vorausgesetzt wird, genannt. Danach soll jeder Staat verpflichtet sein, auf die Interessen seiner Nachbarstaaten gebührend Rücksicht zu nehmen. Dieses Prinzip ist jedoch schon in dem bereits genannten Verbot erheblicher Schädigung der Umwelt jenseits des eigenen Hoheitsgebietes enthalten und auch wegen seines generellen und unpräzisen Charakters nicht geeignet, konkrete Rechte und Pflichten im Bereich des Umweltschutzes und des Kulturgüterschutzes zu erzeugen.80 4. Durchführung kurativer Maßnahmen zum Schutz der Kulturgüter Aus kurativer Sicht kommen vor allem direkte Erhaltungsmaßnahmen am Objekt in Betracht, wie zum Beispiel Restaurierungen und Sanierungen. a) Durchführung kurativer Maßnahmen auf nationaler Ebene Rechtliche Instrumentarien zur Durchsetzung kurativer Maßnahmen enthalten auf nationaler Ebene vor allem die Denkmalschutzgesetze der Länder. Als HandNationen 1983, S. 29 ff.); Art. 3 Abs. 1 der Montreal-Regeln der International Law Association von 1982 sowie Grundsatz 2 der auf der Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 verabschiedeten sog. „Erklärung von Rio“. 80 Die Pflicht der Staaten, ihre Rechte derart auszuüben, dass sie andere Staaten nicht schädigen („sic utere tuo ut alienum non laedas“) als Norm des umweltschützenden Völkergewohnheitsrechts zu akzeptieren, ist umstritten. Der materielle Gehalt dieses Satzes, der etwa auch als Bestandteil des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots oder des Prinzips der guten Nachbarschaft angesehen werden kann, konnte bisher noch nicht befriedigend konkretisiert werden, so dass er für die Lösung grenzüberschreitender Umweltprobleme nicht von Nutzen ist. Das Prinzip der Verantwortung zwischen den Generationen (sog. inter generational equity), das auf der Treuhandidee beruht, also auf dem Konzept, nach welchem der bestehenden Generation die Natur nur zum Gebrauch anvertraut ist, verbunden mit einem Verschlechterungsverbot bis zur Weitergabe an die nächste Generation, ist ebenfalls nicht als Völkergewohnheitsrecht zu betrachten, fehlt es dieser Idee doch noch an einer normativen Verfestigung.
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lungsoptionen für die Denkmalschutzbehörden bieten sich in erster Linie „Erste Hilfe“-Maßnahmen für geschädigte Substanzen und mittelfristige Handlungen an, die auf die Abschwächung künftiger Schadensverläufe zielen81. Die Denkmalschutzgesetze legen dem Eigentümer82 Erhaltungspflichten auf. Kommt er diesen Pflichten nicht nach, so kann er zu ihrer Durchsetzung gezwungen83, zur Duldung von Sofortmaßnahmen durch die zuständige Behörde veranlasst84 oder als härteste Maßnahme enteignet werden85. Neben der Überwachung der Erhaltungspflichten kommt den Behörden vor allem die Aufgabe zu, ausreichende Finanzmittel zur Restaurierung und Sanierung aufzubringen, um damit den Eigentümer durch Zuschüsse zu entlasten86. Auf Bundesebene wird letzterem durch Steuererleichterungen Rechnung getragen87. Somit wird deutlich, dass wirksamer Kulturgüterschutz maßgeblich von der Finanzkraft der Länder abhängig ist. Eine Nachfrage bei den Denkmalschutzbehörden zeigt, dass aufgrund allgemeiner Sparmaßnahmen die finanziellen Mittel der Behörden stark reduziert wurden. Der Finanzknappheit der einzelnen Nationen kann zwar durch die Hilfe internationaler Organisationen Abhilfe geleistet werden, jedoch sind diese zurzeit vor die gleichen finanziellen Probleme gestellt. Die wirksame Ausübung der Denkmalschutzgesetze wird neben dem Problem der Finanzknappheit durch einen weiteren Faktor beeinträchtigt. Die Rede ist von der Interessenkollision mit anderen gesetzlichen Regelungen. Kollisionen können sich vor allem mit der Raumordnung und Stadtplanung, dem Baurecht oder dem Umweltrecht ergeben. Charakteristisch für alle diese Regelungen ist, dass sie kaum ein Machtwort für oder gegen die Erhaltung von Denkmälern sprechen, sondern alles der Interessenabwägung im Einzelfall überlassen.88 b) Durchführung kurativer Maßnahmen auf völkerrechtlicher Ebene aa) Völkerrechtliche Verträge (1) UNESCO-Übereinkommen von 1972 Zum Auftrag der UNESCO gehört es, neuen globalen Bedrohungen für das natürliche und kulturelle Erbe Aufmerksamkeit zu schenken und das natürliche von Schorlemer (Anm. 3), S. 226. Vgl. z. B. § 11 I Hess.DSchG; § 7 Abs. 1 und 2 Saarl.DSchG. 83 Vgl. § 12 I Hess.DSchG. 84 Vgl. § 12 II Hess.DSchG. 85 Vgl. 25 I Hess.DSchG; § 16 Saarl.DSchG. 86 Abele, Klaus, Ist das Verhältnis von Kulturgüterschutz und Eigentum ein Finanzierungsproblem?, in: Fechner, Frank / Oppermann, Thomas / Prott, Lyndel V. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 67 ff. (70). 87 von Schorlemer (Anm. 3), S. 226. 88 Eberl (Anm. 36), in: Gebeßler / Eberl, S. 213. 81 82
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Erbe und die Kulturgüter zu erhalten.89 Hilfeleistungen des Staates gegenüber dem Eigentümer sind auch zwischen den Staaten denkbar und zwar sowohl durch finanzielle Leistungen als auch durch Entsendung von Experten zur Denkmalrestaurierung. Die UNESCO-Konvention von 1972 begründet ein solches System zwischenstaatlicher Hilfe. Objekte von außergewöhnlichem universellem Wert können gemäß Artikel 11 in die „World Heritage List“ eingetragen werden. Nach dem Eintrag kann das Objekt Gegenstand internationaler Rettungsaktionen werden90 oder Anlass zu Studienprojekten bieten91. Darüber hinaus werden die Mittel des in Art. 15 ff. begründeten „World Heritage Fund“ für spezielle technische Hilfsgesuche verwendet92. Artikel 14 Abs. 2 der Konvention sieht vor, dass das Komitee eng mit den „non governmental organizations“ zusammenarbeiten soll. Dazu gehört insbesondere die Internationale Studienzentrale für die Erhaltung und Restaurierung von Kulturgut (ICCROM)93 und auch der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS)94. (2) Europarat-Übereinkommen 1985 Damit die einzelnen Nationen ihren Denkmalschutzpflichten nachkommen, wird auf internationaler Ebene Druck auf sie ausgeübt. So verpflichtet sich jede Vertragspartei in dem Europarat-Übereinkommen zum Schutz des architektonischen Erbes in Europa vom 3. Oktober 198595 gemäß Art. 3 Nr. 1 und Art. 4 Nr. 2 f. gesetzliche Maßnahmen wie Erhaltungs- und Duldungspflichten gegenüber dem Eigentümer einzuführen oder im extremen Fall sogar gemäß Artikel 4 Nr. 2 g Möglichkeiten der Enteignung gesetzlich zu normieren96. Gemäß Artikel 17 der Europaratssatzung in Verbindung mit Artikel 20 des Übereinkommens wird ein Expertenkomitee zur Überwachung der Anwendung der Konvention eingesetzt97.
Vgl. http: //portal.unesco.org/culture/en/ev.php. Als Beispiel dient die 1972 begonnene Rettungskampagne des Tempels Borubudur in Zentraljava, 22C / Resolution 11. Fünfte International Campaign for the Safeguarding of Borubudur (Indonesia), Abs. 1. Nach erfolgreicher Restaurierung in Höhe von 24 Mio. US$ wurde der Tempel 1985 durch Bombenexplosion beschädigt. 91 Wyss (Anm. 22), S. 88. 92 Budget etwa 4 Millionen US$ im Jahr. 93 International Centre for the Study of the Preservation and Restauration of Cultural Property. 94 International Council of Monuments and Sites. 95 Text: BGBl. 1987 II, S. 623 ff.; http: //conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/ 121.htm. 96 Artikel 4 Nr. 2 d; siehe aber die Möglichkeit des Vorbehalts gemäß Art. 25 I wegen innerstaatlicher verfassungsrechtlicher Probleme. 97 Wyss (Anm. 22), S. 104. 89 90
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bb) Nichtstaatliche Organisationen (1) Aufgaben von ICCROM Ziel des in Rom ansässigen Studienzentrums ICCROM (International Centre for the Study of the Preservation and Restoration of Cultural Property)98 ist die Förderung neuer Restaurationstechniken, der Austausch von Know-how und die Ausbildung von Fachkräften99. Die Einrichtung dieses Studienzentrums erschien notwendig, da einerseits einige Länder nicht über die erforderlichen Sachkenntnisse und technische Infrastruktur für die Kulturgütererhaltung verfügen und andererseits veraltete Techniken in der Vergangenheit zu unbefriedigenden Resultaten geführt haben.100 Die UNESCO-ICCROM Partnership for the Preventive Conservation of Endangered Museum Collections in Developing Countries (2007 – 2009), abgeschlossen in Benin im September 2007, beeinhaltet eine dreijährige Zusammenarbeit mit ICCROM, um Museen in Entwicklungsländern zu helfen, ihre Fähigkeiten bei der vorbeugenden Erhaltung von Kulturgütern zu verbessern.101 (2) Gemeinsame Aufgaben von ICCROM und ICOMOS Interessant sind auch die Bemühungen von ICCROM und ICOMOS auf dem Gebiet der modernen Telekommunikation. So wurde am 9. September 1987 das „Conservation Information Network“, ein ,joint venture‘-Netzwerk, eingerichtet, das Konservatoren und Institutionen in über 65 Ländern ,on line‘-Zugang zu umfänglichen, die Konservierung und Restaurierung von Kulturgütern betreffenden Informationen erlaubt.102 Die Finanzknappheit der Länder stellt auch ein Problem auf internationaler Ebene dar. Zwar gewähren die internationalen Organisationen den einzelnen Staaten Zuschüsse bzw. benutzen ihre Fonds, um Rettungsaktionen durchzuführen, aber die dafür bereitstehenden Mittel sind bei weitem nicht ausreichend.
Vgl. http: //www.iccrom.org/. Report of the 19th General Assembly, 29.11.- 01. 12. 1995. 100 Wyss (Anm. 22), S. 96 f. 101 Vgl. http: //portal.unesco.org/culture/. 102 Zu den anderen Einrichtungen gehören der Internationale Museumsrat (ICOM), das Canadian Conservation Institute (CCI), das Canadian Information Network (CIN) und das Conservation Analytical Laboratory (CAL) des Smithsonian, das Getty Conservation Institute. Vgl. ICOM News 40, Heft 3 / 4 (1987), S. 16. 98 99
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5. Rechtsfortbildende Ansätze a) Kulturgüter als Teil der Umwelt Ein in der Literatur vertretener Ansatz betrachtet den Kulturgüterschutz als einen Randbereich des Umweltschutzes103. Begründet wird dies zum einen damit, dass sowohl Kulturgüter als auch die natürliche Umwelt den gleichen Bedrohungsfaktoren ausgesetzt sind und es damit zweckmäßig erscheint, eine gemeinsame Präventionsstrategie zu wählen. Zum anderen sei eine Tendenz hin zu einem erweiterten, den Schutz des baulichen Erbes umfassenden Begriffsverständnisses von „Umwelt“ zu erkennen.104 Sieht man den Kulturgüterschutz als Bestandteil des Umweltrechts, so hat dies zur Folge, dass Normen aus dem Umweltrecht unmittelbare Schutzwirkung auch auf Kulturgüter entfalten können. Gegen eine solche Erweiterung des Begriffs Umwelt könnte man jedoch einführen, dass die Schutzobjekte völlig unterschiedliche Bedeutungen für das gemeinsame Zusammenleben der Menschheit haben. Ohne Kulturgüter ist ein Überleben der Menschheit durchaus vorstellbar, ohne die natürliche Umwelt dagegen unmöglich. Gleichwohl ist der Ansatz – vor allem in Zeiten finanziellen Wohlstands – richtig. b) Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit Eine weitere Möglichkeit besteht darin, aus dem Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit konkrete Rechtspflichten herzuleiten. Das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit ist bislang für staatenfreie Räume wie Antarktis, Hohe See und Weltraum entwickelt worden. Es diente dazu, die Rechte der Völkerrechtsgemeinschaft als Ganzer an diesen Räumen zu behaupten.105 Der gegen Ende der 60er Jahre geprägte Begriff hatte auch Eingang in das UNESCO-Übereinkommen von 1972 gefunden. Darin wurde der Versuch unternommen, den Schutz bestimmter, als besonders wertvoll angesehener Güter zu einem Anliegen der gesamten Menschheit zu machen, wenngleich der Kern des allgemeinen Konzepts des gemeinsamen Erbes der Menschheit, nämlich der Entzug der geschützten Güter aus dem Bereich der nationalen Souveränität, gerade nicht verwirklicht wurde.
103 Zum Beispiel Lagoni, Rainer, Umweltvölkerrecht, Anmerkungen zur Entwicklung eines Rechtsgebiets, in: Thieme, Werner (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, 1988, S. 233 ff. (236). 104 Eine allgemeinverbindliche Definition des Begriffs „Umwelt“ gibt es bislang nicht, die verschiedenen Definitionen der bi- und multilateralen Verträge ergaben jedoch, dass unter Umwelt allgemein die Gesamtheit der (physischen) Lebensgrundlagen des Menschen verstanden wurde; die „Gebaute Umwelt“ schien nach bisherigem Begriffsverständnis nicht eingeschlossen, siehe von Schorlemer (Anm. 3), S. 230. 105 Fiedler, Wilfried, Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 22.
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Es lassen sich zwar bisher keine konkreten Rechtspflichten aus dem Prinzip ableiten. Wege, um das Prinzip operabel zu machen, sind bis jetzt von der Staatengemeinschaft auch noch nicht beschritten worden. Dennoch wäre es denkbar, die Verpflichtungen, welche der an sich nichtrechtsfähigen Menschheit zukommen sollen, in unilaterale Staatenverpflichtungen umzuwandeln.106 c) Kodifikationsvorschläge der International Law Commission Ein von der International Law Commission (ILC)107 vorgeschlagenes Kodifikationsprojekt könnte auch für den Kulturgüterschutz hinsichtlich der grenzüberschreitenden Luftverschmutzung Geltung entfalten. Gemeint ist das Kodifikationsprojekt über völkerrechtliche Schäden aufgrund nicht-völkerrechtswidriger Handlungen.108 Das Projekt zielt sowohl auf Schadensvorbeugung als auch auf Schadensausgleich. Der Schadensausgleich soll eine generalpräventive Wirkung auf die Allgemeinheit ausüben. Demnach sollen Haftungs- und Wiedergutmachungspflichten, die die schadensverursachenden Staaten treffen, als finanzielles Druckmittel benutzt werden, um einen „Anreiz“ zu geben, Geldmittel sinnvollerweise bereits in schadensvermeidende Maßnahmen zu investieren. III. Verantwortlichkeit Ein Staat kann einen anderen Staat grundsätzlich dafür verantwortlich machen, wenn er in dessen Hoheitsbereich Umweltbeeinträchtigungen verursacht, die grenzüberschreitend wirken und für ihn nicht mehr zu akzeptierende nachteilige Folgen haben. Die Verantwortlichkeit eines Staates tritt ein, wenn er sich rechtswidrig verhält.109 Ein rechtswidriges Verhalten eines Staates ist gegeben, wenn dieses Verhalten die Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht des Staates darstellt.110 106 Fitschen, Thomas, Gemeinsames Erbe der Menschheit, in: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen, 1991, S. 218. 107 Die International Law Commission ist ein subsidiäres Organ der Generalversammlung, deren Aufgabe es ist, bereits bestehende, in der Staatenpraxis geltende und bisweilen schon von der internationalen Judikatur bestätigte Regeln, die häufig auch schon in der Völkerrechtslehre behandelt wurden, auszuformulieren und zu systematisieren. Man spricht daher von der Kodifikation des internationalen Rechts („codification of international law“). 108 International Liability for Injurious Consequences Arising out of Acts not Prohibited by International Law. Vgl. http: //untreaty.un.org/ilc/summaries/9.htm. 109 Nach Art. 1 des Entwurfs der International Law Commission heißt es „every internationally wrongful act of a state intales the international responsibility of that state.“ 110 Das ergibt sich aus Art. 3 des Entwurfs, der lautet, „there is an internationally wrongful act of a State when: (a) conduct consisting of an action or omission is attributable to the State under international law; and (b) that conduct constitutes a breach of an international obligation of the State.“
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Auf das Verschulden im Sinne eines subjektiven Elements wird verzichtet. 111 Die Feststellung der Verantwortlichkeit eines Staates für die Verletzung von völkerrechtlichen Pflichten aus Umweltschutzverträgen oder Umweltschutzgewohnheitsrecht setzt voraus, dass die Kausalität für die Schäden festgestellt werden kann. Liegen die Voraussetzungen vor, tritt die Haftung des Gesamtstaates für völkerrechtswidrigen Erfolg ein. Im allgemeinen Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands gefordert werden kann (restitutio in integrum); falls das nicht möglich ist, kann Schadensersatz verlangt werden, der den Wertausgleich zwischen dem ursprünglichen Zustand und demjenigen nach der Schädigung wiederherstellt. Der Staat haftet auch für privates Handeln. Wenn der Staat internationale Umweltschutzverpflichtungen eingeht, übernimmt er die Verpflichtung, die Nutzung der Umwelt in seinem Jurisdiktionsbereich so auszurichten, dass keine grenzüberschreitenden Umweltbelastungen mit schädigender Wirkung eintreten, ganz gleich, ob Belastungen durch staatliche Organe oder Privatpersonen verursacht werden. Bei Umweltschädigungen wird allerdings die Kausalität nur schwer nachweisbar sein, da in der Regel nicht ein Staat, sondern alle Staaten gemeinsam für die Umweltverschmutzung und die daraus entstehenden Schäden an Kulturgütern verantwortlich sind. Eine Haftung wird daher nur in den seltensten Fällen eintreten. Wichtiger als die Haftung ist allerdings der Erhalt des Kulturgutes. Dem trägt die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 14. Mai 1954112 Rechnung. Ihm liegt nämlich der Gedanke eines kulturellen Internationalismus zugrunde. Darunter versteht man die Verpflichtung eines Staates, jedes Kulturgut zu schützen, gleichgültig, ob es einen ursprünglichen Nationalbezug zu dem Gebiet hat, in dem es sich gerade befindet, oder nicht. Die Haager Konvention vom 14. Mai 1954 beruht also auf der Konzeption, dass jeder Staat Treuhänder gegenüber der ganzen Menschheit für das in seinem Herrschaftsbereich befindliche Kulturerbe ist. Damit hat der Staat nicht nur in kritischen Auseinandersetzungen das Kulturerbe zu schützen, sondern auch vor Umweltkatastrophen und Umwelteinwirkungen zu bewahren.113 Auch das Europäische Kulturabkommen (European Cultural Convention) vom 19. Dezember 1954114 bringt diesen Gedanken zum Ausdruck. Dort heißt es in Art. 5: „Jede Vertragspartei betrach111 Diese Erfolgshaftung des Verletzerstaates deckt sich weitgehend mit den Grundsätzen der Gefährdungshaftung, da dort – auch rechtmäßiges – Verhalten zur Haftung führen kann, wenn schädigende Nebenwirkungen erzeugt wurden, deren Hinnahme anderen Vertragspartnern nicht zugemutet werden kann. Vgl. Gündling, Lothar, Verantwortlichkeit der Staaten für grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, in: ZaöRV, Bd. 45 (1986), S. 265 ff. (278). 112 Text: BGBl. 1967 II, S. 1235 ff.; http: //www.unesco.at/kultur/basisdokumente/haager_ abkommen.pdf. 113 Vgl. auch Rudolf, Walter, Über den internationalen Schutz von Kulturgütern, in: Hailbronner, Kay / Ress, Georg / Stein, Torsten (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 853 ff. (861). 114 Text: BGBl. 1955 II, S. 1128 ff.; http: //conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/ 018.htm.
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tet die europäischen Kulturgüter, die sich unter ihrer Kontrolle befinden, als Bestandteil des gemeinsamen europäischen kulturellen Erbes, trifft die erforderlichen Maßnahmen zu ihrem Schutz und erleichtert den Zugang zu ihnen.“ Nach Art. 4 der UNESCO-Konvention von 1972 ist es in erster Linie Aufgabe des Staates, das in seinem Hoheitsgebiet befindliche Kultur- und Naturerbe zu erfassen, zu schützen und zu erhalten sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicherzustellen. Er muss hierfür alles in seinen Kräften Stehende tun und das unter vollem Einsatz seiner eigenen Hilfsmittel und gegebenenfalls unter Nutzung jeder ihm erreichbaren internationalen Unterstützung und Zusammenarbeit, insbesondere auf finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem und technischem Gebiet. Unabhängig von der Frage, wer für den Schaden an einem Kulturgut verantwortlich ist und wem das Kulturgut zugewiesen wird, hat also der Staat alles für den Erhalt der in seinem Besitz befindlichen Kulturgüter zu tun. Es gibt keine internationale Gemeinschaft, die Kulturgüterschutz wirksamer durchsetzen könnte als der Staat.
Die Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste als Soft Law-Problem Von Michael Martinek* I. Einleitung Unseren Jubilar Wilfried Fiedler zeichnen auf dem Gebiet des Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts nicht nur herausragende Interessen, sondern auch höchst bemerkenswerte Verdienste aus. Hiervon zeugen seine ebenso zahlreichen wie eindrucksvollen einschlägigen Schriften, die in dem dieser Festschrift beigefügten Verzeichnis seiner wissenschaftlichen Publikationen aufgelistet sind. Hiervon zeugt aber auch oder vielleicht vor allem sein führendes Engagement in den Verhandlungen über die Rückführung deutscher Kulturgüter aus Russland, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg in die damalige Sowjetunion „verbracht“ worden sind. Diese Verhandlungen fanden übrigens in den 1990er Jahren nicht nur in Bonn, Berlin oder Moskau, sondern auch in Saarbrücken statt, und zwar, was Wilfried Fiedler gern rückblickend erzählt, im – künstlerisch übrigens wenig ambitionierten – Großen Sitzungssaal der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes, die mit Recht sehr stolz auf ihren berühmten Kollegen ist. In diesem Licht kann ein Festschrift-Beitrag zum Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht auf Wilfried Fiedlers wohlwollende Aufmerksamkeit hoffen. Es soll hierbei um einen besonders heiklen Bereich gehen: die Restitution nationalsozialistisch bedingter Kulturgutverluste vor allem jüdischer Eigentümer. Nur wenige Rechtsgebiete sind derzeit so stark im Fluss wie das internationale Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht. Dennoch ist der internationale Kunstmarkt noch immer „the world’s largest unregulated international business, as it has always been . . . .“1 Gewiss kennen wir inzwischen zahlreiche internationale * Der Autor ist Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht an der Universität des Saarlandes und gehört seit 25 Jahren derselben Fakultät an wie der Jubilar, mit dem er in Lehre und Forschung viel Freud und Leid geteilt und mit dem er sich oft und gern darüber ausgetauscht hat, denn geteilte Freud ist doppelte Freud und geteiltes Leid ist halbes Leid. 1 So Nicholas, The Washington Principles: Ten Years Later, Holocaust Era Assets Conference, June 26 – 30, Prague, Quelle: http: //www.holocausteraassets.eu/en/working-groups/ looted-art/.
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wie nationale Rechtsinstrumente zur Regulierung des lange Zeit unreglementiert gebliebenen Kunstmarkts. Auch ist zu diesem neuen Rechtsgebiet schnell eine kaum noch überschaubare Fülle von Spezialliteratur angewachsen. An festen und verläßlichen Rechtsregeln aber mangelt es nach wie vor. Dies gilt insbesondere für den Teilbereich der Restitution nationalsozialistisch bedingter Kulturgutverluste zugunsten der ursprünglich Berechtigten und deren Rechtsnachfolger. Dieses Thema mit seinen vielfältigen moralischen Implikationen findet heute sogar in den internationalen Medien eine erstaunliche Resonanz. Nahezu täglich wird über Kunstrestitutionsforderungen gegenüber öffentlichen wie privaten Museen, individuellen Sammlern, Kunsthändlern, Galeristen und Auktionshäusern berichtet. Zum Status quo ist zunächst festzustellen, dass es der internationalen Staatengemeinschaft ebenso wenig wie den meisten nationalen Gesetzgebern bislang gelungen ist, effektive Spezialregelungen (sogenanntes ,Hard Law‘ – im Kontrast zum Soft Law) auf nationaler, internationaler bzw. supranationaler Ebene zu verabschieden. Über die Restitution NS-bedingter Kulturgutverluste und über den Interessenausgleich zwischen den jetzigen Besitzern (und häufig inzwischen auch Eigentümern) einerseits und den ursprünglich Berechtigten und deren Rechtsnachfolgern andererseits wird heute in Deutschland weniger denn je mittels eines einschlägigen Normenprogramms des positiven Rechts entschieden: Frühere Spezialgesetze zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste, wie beispielsweise das alliierte (zonale) Rückerstattungsrecht aus der Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs2, das Bundesrückerstattungsgesetz vom 19. Juli 1957 und das Vermögensgesetz vom 3. Oktober 1990 (für die bis zur Wiedervereinigung unterlassene Wiedergutmachung von NS-Unrecht auf dem Territorium der neuen Bundesländer), sind heute temporal präkludiert.3 Soweit Restitutionsansprüche auf unser deutsches BGB mit seinen vermögensrechtlichen, freilich kulturgüterrechtsunspezifischen Regelungen gestützt werden, scheitern sie heute häufig am Einwand des gutgläubigen rechtsgeschäftlichen Erwerbs oder Ersitzungserwerbs bzw. – spätestens nach 30 Jahren – an der Verjährung des Herausgabe- oder Rückerstattungsanspruchs. Dies wird vielfach als unangemessen und unbefriedigend empfunden. Unübersehbar besteht in dieser schwierigen Spezialmaterie für die an Kunstrestitutionsstreitigkeiten Beteiligten ein dringendes Bedürfnis nach kulturgüterschutzspezifischen Regeln. Das schließt auch die möglichen Anspruchsgegner ein: 2 US-Militärregierungsgesetz Nr. 59 über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände am 10. November 1947 für die amerikanische Besatzungszone, Verordnung Nr. 120 des Commandant en Chef Français en Allemagne über die Rückerstattung geraubter Vermögensobjekte für die französische Besatzungszone, Rückerstattungsgesetz Nr. 59 für die britische Zone vom 26. Juli 1949 und für das Gebiet von Groß-Berlin, die Verordnung der Alliierten Kommandatur für Berlin (Anordnung BKO (49) 180) über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer nationalsozialistischer Unterdrückungsmaßnahmen vom 26. Juli 1949. 3 Außerhalb des seltenen Geltungsbereichs spezieller Globalanmeldungen der Conference on Jewish Material Claims against Germany Inc., vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 316 ff.
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Unter dem wachsenden Druck der öffentlichen Meinung finden sich potenzielle Restitutionsschuldner schnell unter einem kriminalisierenden Generalverdacht, und der Makel der Illegalität kann schwer auf der im Kunstmarkt so wichtigen Reputation eines Hauses lasten. Nachdem sich erst in den 1990er Jahren die wahre Quantität und Qualität der Kulturgutverlagerungen gezeigt hatten und in kunsthistorischen Forschungsberichten neue Erkenntnisse über den Fortbestand der während der NS-Unrechtsherrschaft entzogenen und seitdem verschollen geglaubten Sammlungsbestände bekannt geworden waren, wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends die Kluft zwischen der als „ineffektiv“ eingeschätzten Rechtslage und dem dringenden praktischen Bedürfnis vor allem potenzieller Restitutionsschuldner nach konkreten Marktverhaltensrichtlinien offensichtlich. Dies hat international zu einem Aufblühen des Soft Law im Kunstrestitutionsrecht geführt. Zahlreiche neue internationale Codes of Conduct versuchen, einen „effektiven“ Regulationsmechanismus im unreglementierten Graubereich zu etablieren, das Verhalten der betroffenen Marktteilnehmer zu steuern und einen gewissen „Ethikstandard“ im Umgang mit NSRaubkunst auszuformen. Im deutschen Rechtsraum und unter den im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht involvierten Stakeholdern ist eine eigenständige rechtsdogmatische Aufarbeitung solcher neuen Verhaltensrichtlinien bislang nur schemenhaft gelungen, und die praktische Rezeption internationaler Standards kann hierzulande nur schwer Schritt halten. Die Kenntnis und das Wissen um die internationalen Tendenzen zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste, die gerade im Bereich des Soft Law ihren Ausdruck finden, sind jedoch für alle im internationalen Kunstmarkt Beteiligten von großer Bedeutung, haben sie doch ihr Verhalten gerade an diesen Standards auszurichten und müssen sich auch deutsche Institutionen und Marktteilnehmer hieran international messen lassen. Kurzum, es bedarf für den deutschen Rechtskreis eines Updates neuer Soft Law-Standards im internationalen Kunstrestitutionsrecht. In Verfolgung eines solchen Bemühens soll zunächst der Funktion, Motivation und Intention der Regulierungsform des Soft Law sowie der Bedeutung selbstauferlegter Verhaltensstandards im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht nachgegangen werden (sub II), bevor sodann eine Bestandsaufnahme neuer Soft Law-Standards zur Restitution NS-bedingter Kulturgutverluste vorgenommen wird (sub III). Sodann werden die vor allem Soft Law-basierten Errungenschaften im Wiedergutmachungsprozess NS-bedingter Kulturgutverluste zusammengefasst (sub IV). II. Soft Law und Codes of Coduct im Rechtssystem Der Ausdruck ,Soft Law‘, bezogen auf das Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht, umfasst im weitesten Sinne alle Regeln, Übereinkünfte, Absichtserklärungen, Prinzipien, Richtlinien und Leitlinien unterschiedlichster Herkunft, die
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zwar nicht den verfahrenstechnischen und institutionellen Voraussetzungen formeller Gesetze, Rechtsvorschriften, Verträge, Verordnungen, Satzungen, Dekrete oder zwischenstaatlicher Abkommen entsprechen und deshalb nicht als Rechtsnormen im Sinne der klassischen Rechtsquellenlehre zu qualifizieren sind, jedoch in spürbarer Weise steuernd und prägend, mithin „normativ“ sowohl auf das Verhalten der Adressaten im Kunstmarkt und der betroffenen Öffentlichkeit insgesamt, aber auch auf rechtsnormgebende Institutionen und rechtsprechende Organe einwirken. Zugegeben: Diese Deskription lässt Abgrenzungsfragen etwa zum (Völker-)Gewohnheitsrecht oder zu Verkehrsusancen unbeantwortet, soll und darf in unserem Zusammenhang aber als Verständnishilfe genügen; jeder Versuch einer Definition im Sinn einer wissenschaftlichen Begriffsbestimmung bliebe höchst angreifbar und umstritten. Es versteht sich, dass Soft Law in diesem Sinn eine nicht zu unterschätzende Rolle und Bedeutung für die rechtsdogmatische Fortentwicklung und internationale Harmonisierung des Kulturgüterschutzrechts sowie für die richterliche Auslegung konkreter Rechtssätze in Kunstrestitutionsstreitigkeiten einnehmen kann. 1. Normgeber und betroffene Stakeholder von Soft Law Die Selbstverpflichtung der einzelnen Stakeholder-Kreise und deren Mitglieder, sich freiwillig einem rechtlich unverbindlichen Verhaltensprogramm, speziellen Richtlinien und Standards ohne unmittelbare Kontrolle einer staatlichen Instanz i.S. des klassischen Über- und Unterordnungsverhältnisses der Staat-BürgerBeziehung zu unterwerfen, stellt das rechtsprägende Charakteristikum des Soft Law-Bereichs dar. Besondere Bedeutung haben solche Regeln zunächst im internationalen Recht erlangt. Zu den Normgebern solcher nicht-formaler und paralegaler Rechtsinstrumente – etwa von non-binding international agreements oder Resolutionen – zählen im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht zahlreiche und unterschiedliche, staatliche wie nicht-staatliche internationale Organisationen und Institutionen. Zu nennen sind etwa der Europarat, die UNESCO4, UNIDROIT5 und die International Law Association (ILA)6 ebenso wie internationale Vereinigungen (wie etwa das Institut de droit international7), in gleichem 4 Vgl. zu den zahlreichen Instrumenten der UNESCO im Kulturgüterschutz unter http: //portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=13649&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION =-471.html. 5 Vgl. zu den Dokumenten um die UNIDROIT Convention on Stolen or Illegally Exported Cultural Objects (Rome, 1995) unter http: //www.unidroit.org/english/conventions/1995cul turalproperty/main.htm. 6 Vgl. zu den Instrumenten des Cultural Heritage Law Committee unter http: //www.ila-hq. org/en/committees/index.cfm/cid/13. 7 Vgl. zu der Resolution The International Sale of Works of Art from the Angle of the Protection of the Cultural Heritage (Basel, 1991) unter http: //www.idi-iil.org/idiE/resolutionsE/ 1991_bal_04_en.PDF.
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Maße aber auch internationale Konferenzen und Fachtagungen mit ihren Resolutionen. Die Letztgenannten fungieren dabei in erster Linie als Medium einer möglichst umfassenden Information der Öffentlichkeit, einer Promulgation neuer Entwicklungslinien und einer Verständigung über gemeinsame Anliegen im Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht. Trotz der auch hier fehlenden formalen Verpflichtungswirkung rechtlich unverbindlicher Resolutionen, Erklärungen internationaler Konferenzen oder Beschlüsse anderer Organisationen werden die gemeinsam formulierten Leitsätze als gleichartige Willensbekundungen sich selbst bindender Normgeber und zugleich Normadressaten verstanden. Sie können gegebenenfalls zur Ausformung von Völkergewohnheitsrecht beitragen, insbesondere der inhaltlichen Umschreibung und Auslegung zwingenden Völkerrechts dienen, lassen sich mithin als „im Entstehen befindliches Recht“ verstehen.8 Im Einzugsbereich des Soft Law-Verständnisses des Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht liegen darüber hinaus aber auch Standards innerstaatlicher nationaler, regionaler oder kommunaler Organe ebenso wie Codes of Ethics einzelner Interessenvereinigungen von Museen, Händlern, Galeristen oder Sammlern bis hin zu rechtlich unverbindlichen Verhaltensrichtlinien individueller Rechtssubjekte (wie etwa einzelner Museen oder anderer Non-Governmental Organizations), die sich ein spezielles Prinzipienprogramm für ihren eigenen Wirkungskreis und Geschäftsbereich auferlegen. Diese sogenannten Codes of Conduct – oder auch Codes of Ethics, Private Governance, Self-Regulation, im deutschen Sprachgebrauch auch oft „selbstauferlegte Verhaltensstandards“ genannt – binden zahlreiche Marktteilnehmer, erlangen beachtliche praktische Bedeutung in der inhaltlichen Ausgestaltung gemeinsamer Handelsbräuche wie Marktgewohnheiten und entfalten nicht selten rechtliche Reflexwirkungen in der judikativen Rezeption vor nationalen Zivilforen. Solche Verhaltensregeln können als „Klauselrecht“ 9 unter Umständen vor nationalen Gerichten infolge ausdrücklicher oder stillschweigender Vereinbarung der Vertragsparteien zur Anwendung gelangen. Vor allem aber wird in vielen nationalen Zivil- und Handelsgesetzbüchern ausdrücklich auf die „Gepflogenheiten“ oder „Gebräuche des Handels“ verwiesen, sodass auf diese Weise eine mittelbare rechtliche Bindungskraft entstehen kann. So ist beispielsweise in § 346 HGB unter Kaufleuten „auf die im Handelsverkehre geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“. Vergleichbares gilt nach Art. 9 Abs. 1 UN-Kaufrecht, wonach die Parteien „an die Gebräuche, mit denen sie sich einverstanden erklärt haben, und an die Gepflogenheiten gebunden“ sind, „die zwischen ihnen entstanden sind“.10 Auf diese Weise wirken die selbstbindenden VerhaltensVgl. Ziegler, Einführung in das Völkerrecht, 2006, S. 69. So Kropholler, Internationales Privatrecht – einschließlich der Grundbegriffe des Internationalen Zivilverfahrensrechts, 4. Aufl. 2001, S. 95. 10 Müller-Katzenburg, Anhörung des Kulturausschusses zur UNESCO-Konvention von 1970, Fragenkatalog Ausschuss für Kultur und Medien, 16. Wahlperiode, Ausschussdrucksache Nr. 16(22) 053 vom 1. September 2006, weist dabei auf einen Fall vor dem Landgericht Berlin hin, in dem die Verfahrensbeteiligten die Einhaltung bestimmter Verpflichtungen ein8 9
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richtlinien auch des privaten Sektors regulativ auf den Kunstmarkt und den internationalen Transfer kultureller Güter ein, und es können nicht-staatliche Akteure in die rechtspolitische Um- und Durchsetzung kultureller Mindeststandards einbezogen werden. Dahinter steht nicht zuletzt die Idee, die Teilnehmer des internationalen Kunstmarktes mit einem Katalog von Verhaltensempfehlungen auszustatten und so zu einem verantwortlichen Handeln nach ethischen Minimalprinzipien zu verpflichten. 2. Eingeschränkte rechtliche Bedeutung von Soft Law Bei einer näheren Untersuchung der rechtlichen Bedeutung solcher Soft LawStandards im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht stößt man vor allem auf zwei Fragen: die der Justiziabilität vor staatlichen Foren sowie die der Effektivität verbandsinterner Sanktionen. a) Eingeschränkte Justiziabilität vor staatlichen Foren Den Soft Law-Selbstverpflichtungen öffentlicher und privater Museen, einzelner Sammler, Händler, Galeristen und Auktionshäuser kommt nach herrschender Meinung nur eine eingeschränkte rechtliche Bedeutung im internationalen Kulturgüterschutz und in der Kunstrestitution zu: Sie werden nur als gut gemeinte Absichtserklärungen, Goodwill-Deklarationen oder Bemühenszusagen angesehen, die für den zwischenstaatlichen Kulturgüterschutz kaum eine rechtliche Relevanz besitzen.11 Formal ist diese Einschätzung zutreffend und rechtstechnisch beanstandungsfrei. Soft Law-Standards können allenfalls auf außerrechtliche Sanktionen bauen, aber nicht vom Staat mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden; Verstöße der Stakeholder gegen ihre Verhaltensstandards ziehen keine rechtliche Verantwortlichkeit nach sich. Die in der Öffentlichkeit kundgemachten Verhaltensrichtlinien bleiben damit im Ernst- und Streitfall ohne Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten und sind vor nationalen Gerichten per se nicht justiziabel.12 Dies wurde erst kürzlich durch zwei Gerichtsentscheidungen der amerikanischen Rechtsordnungen (jurisdictions) Ohio und Michigan bestätigt: Im ersten Verfahren hatte der United States District Court N.D. Ohio, Western Division, am 28. 12. 2006 in der Rechtssache Toledo Museum of Art vs. Claude George Ullin et al. über die Restitution des Paul Gauguin-Gemäldes „Straßenszene in Tahiti“ zugunsten klagten, die sie durch die Zugehörigkeit zu der International League of Antiquarian Booksellers und deren Verhaltenskodex eingegangen waren (LG Berlin, Az. 18 O 303 / 04). 11 Vgl. Siehr, Stellungnahme zum Fragenkatalog des BT-Ausschusses für Kultur und Medien zum Gesetz zur Ausführung des UNESCO Übereinkommens, Ausschuss für Kultur und Medien, 16. Wahlperiode, Ausschussdrucksache Nr. 16 (22) 050 vom 24. 8. 2006. 12 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, § 22, These 4.
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der Rechtsnachfolger der ursprünglichen jüdischen Eigentümerin Martha Nathan zu entscheiden.13 Nachdem Martha Nathan die Sammlung Hugo Nathans im Jahre 1922 geerbt hatte, verließ sie im Februar 1937 verfolgungsbedingt Deutschland erst in Richtung Paris, um sodann in die Schweiz überzusiedeln. Im Dezember 1938 verkaufte sie einige ihrer Kunstwerke einschließlich der „Straßenszene“ für 30.000 Schweizer Franken an drei bekannte Kunsthändler. Zwei von ihnen, Justin Thannhauser und Alexander Ball, waren ebenfalls Deutsche jüdischen Glaubens, deren Galerie „arisiert“ worden war und die Martha Nathan seit vielen Jahren kannte. Der dritte Erwerber, George Wildenstein, war ebenfalls jüdischen Glaubens. Alle drei mussten fliehen.14 Einige Monate später kaufte das Toledo Museum of Art die „Straßenszene“ für 25.000 US-Dollar von Wildenstein & Co.15 – Im zweiten Verfahren hatte der United District Court, Eastern District of Michigan, Southern Division am 31. März 2007 über den Restitutionsanspruch der Erbengemeinschaft um Martha Nathan gegen das Detroit Institute of Art hinsichtlich des Vincent van Gogh-Gemäldes „Die Grabenden“ mit einem Schätzwert von 15 Millionen US-Dollar zu entscheiden.16 Auch dieses Gemälde hatte Martha Nathan 1938 in Basel an die seit langem befreundeten jüdischen Kunsthändler Justin Tannhauser, Alexander Ball und George Wildenstein veräußert. Das Detroit Institute of Art erwarb das Werk im Jahr 1969 als Vermächtnis aus dem Nachlass des Kunstsammlers Robert H. Tannahill. – In beiden Verfahren lehnten die zuständigen Richter nicht nur einen verfolgungsbedingten Vermögensverlust ab, sondern erkannten zudem auf eine Verjährung etwaiger Ansprüche der Rechtsnachfolger Martha Nathans.17 Die Rechtsnachfolger Martha Nathans hatten vor Gericht geltend gemacht, dass sich die Museen nicht auf eine Anspruchsverjährung berufen dürften, da sie sich innerhalb ihrer selbstauferlegten ethischen Verhaltensrichtlinien, der Guidelines Concerning the Unlawful Appropriation of Objects During the Nazi Era November 1999, modifiziert April 2001, der American Association of Museums18 und des Code of Conduct der Association of Art Museum Directors19, 13 Vgl. ausführlich hierzu und zum Folgenden die Ausführungen bei Weller, US-Urteil: Keine Restitution von Gauguins „Straßenszene in Tahiti“, Beitrag vom 24. January 2007, Rubrik Urteile, www.ifkur.de. 14 Weller, US-Urteil: Keine Restitution von Gauguins „Straßenszene in Tahiti“, Beitrag vom 24. January 2007, Rubrik Urteile, www.ifkur.de. 15 Weller, US-Urteil: Keine Restitution von Gauguins „Straßenszene in Tahiti“, Beitrag vom 24. January 2007, Rubrik Urteile, www.ifkur.de. 16 Vgl. ausführlich hierzu Huttenlauch, Gerichte in den USA gegen Restitution – Tahitische Strassenszene, Artikel vom 16. Juli 2007, Quelle: http: //www.artnet.de/magazine/features/ huttenlauch/huttenlauch07 – 16 – 07.asp; Weller, US-Urteil: Verjährung von Holocaust-Ansprüchen (Detroit Institute of Art), Beitrag vom 10. Mai 2007, Rubrik Urteile, www.ifkur.de. 17 Vgl. ausführlich zu diesen beiden Fällen Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 5. Teil Rn. 367 ff. 18 Vgl. ausführlich hierzu unten, III 1 c). 19 Vgl. ausführlich hierzu unten, III 1 d).
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zu einer aktiven Provenienzrecherche und zu einer offenen verantwortungsvollen Aufarbeitung von Eigentumsansprüchen bekannt hätten. Die Gerichte lehnten jedoch beide Male einen rechtlichen Einfluss dieser Verhaltenskodizes ab und erteilten insbesondere der Annahme eine Absage, dass darin ein Verzicht auf die Verjährungseinrede gesehen werden müsse; ein rechtsverbindlicher Verzicht auf die Geltendmachung der Verjährung lasse sich aus den Verhaltenskodizes nicht ableiten. Die selbstauferlegten Verhaltensstandards eröffneten den Museen nur die Möglichkeit, keinesfalls jedoch die rechtsverbindliche Pflicht, auf ihre Rechtsposition zu verzichten („in order to achieve an equitable and appropriate resolution of claims, museums may elect to waive certain available defenses“).20 b) Eingeschränkte Effektivität verbandsinterner Sanktionen Von einer nur eingeschränkten rechtlichen Bedeutung selbstauferlegter Verhaltenskodizes und Soft Law-Grundsätze wird man auch deshalb sprechen müssen, weil es ihnen regelmäßig an einem internen Kontroll- und Sanktionssystem mangelt. Es lässt sich in den betroffenen Verkehrskreisen keine allgemeine Praxis ausmachen, wonach die versprochenen Verhaltensweisen tatsächlich überprüft und ihre Nichteinhaltung geahndet würden.21 Beispielsweise enthalten die Verhaltenskodizes der nationalen Museumsverbände und des Internationalen Museumsrates (ICOM) keinerlei konkrete Sanktionenprogramme bei regelwidrigem Verhalten ihrer Mitglieder. Nur in Ausnahmefällen sehen die Soft Law-Richtlinien selbst Sanktionen für Zuwiderhandlungen vor, indem sie mehr oder weniger konkret bestimmen, welche Auswirkungen ein Pflichtverstoß im Einzelnen nach sich zieht; meist bleibt es bei wagen Androhungen. Hier sind etwa die Regelungen der Confédération Internationale des Négociants en Œuvres d’Art zu nennen, die Verstöße gegen die CINOA-Codes of Ethics ,rigoros‘ zu verfolgen drohen.22 Vergleichbar zu den Vorgaben des englischen Code of Practice of UK Fine Art and Antiques Trade Members23 schreibt immerhin der Verhaltenskodex des Bundesverbandes des Deutschen Kunst- und Antiquitätenhandels24 unter Punkt 8 vor, dass „Verstöße 20 Vgl. ausführlich hierzu Huttenlauch, Gerichte in den USA gegen Restitution – Tahitische Strassenszene, Artikel vom 16. Juli 2007, Quelle: http: //www.artnet.de/magazine/featu res/huttenlauch/huttenlauch07 – 16 – 07.asp; Weller, US-Urteil: Verjährung von HolocaustAnsprüchen (Detroit Institute of Art), Beitrag vom 10. Mai 2007, Rubrik Urteile, www. ifkur.de. 21 Vgl. Siehr, Stellungnahme zum Fragenkatalog des BT-Ausschusses für Kultur und Medien zum Gesetz zur Ausführung des UNESCO Übereinkommens, Ausschuss für Kultur und Medien, 16. Wahlperiode, Ausschussdrucksache Nr. 16(22) 050 vom 24. 8. 2006. 22 Vgl. Müller-Katzenburg, Internationale Standards im Kulturgüterverkehr, 1996, S. 207 – 208. 23 Der Code of Pradice of UK Fine Art and Antiques Trade Members ist abgedruckt in Lalive, International Sales of Works of Art, Volume I, Annexes 677. 24 Quelle: http: //www.kunst-antiquitaeten-hessen.de/de/nodes/info.
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gegen diesen Verhaltenskodex . . . von den unterzeichneten Verbänden mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ohne Ansehen der Person, verfolgt“ werden. Es ist nicht bekannt worden, dass jemals von verbandsrechtlichen Sanktionen Gebrauch gemacht wurde.25 3. Positive Effekte im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht Ungeachtet der offenbar nur eingeschränkten formal-legalen und rechtstechnischen Bedeutung selbstauferlegter Verhaltensstandards aus der Sicht des Staates oder Drittbetroffener wirkt sich die Ausrichtung des Verhaltens an den Soft LawStandards aber doch positiv aus, und zwar sowohl aus unternehmerischer Sicht im langfristigen Eigeninteresse als auch aus gesellschaftlicher, staatlicher sowie internationaler Sicht.26 a) Gesteigerte Akzeptanz neuer Standards im Kulturgüterverkehr Nähert man sich der Frage aus rechtspsychologischem Blickwinkel, liegt auf der Hand, dass die Verabschiedung neuer Regelwerke, die Ausrichtung des eigenen Verhaltens an einem speziellen Sollensprogramm und die Umsetzung der darin inkorporierten kulturpolitischen Ziele insbesondere dann günstige Wirkungen entfalten können, wenn sich die einzelnen Stakeholder damit in eine Gruppe gleichgesinnter Interessenverfolger mit einem „Wir-Bewusstsein“ und mit einem sich gegenüber der Außenwelt abgrenzenden Qualitätsanspruch einbinden lassen. Die Soft Law-Standards können in den Verkehrskreisen zum wichtigen „Gütesiegel“ werden. Die einzelnen Adressaten können die Ausrichtung ihres Geschäftsverhaltens an ethischen Wertmaßstäben im internationalen Kulturgüterverkehr nach außen kundtun und sich so gegenüber Konkurrenten am Markt profilieren und differenzieren – eine nicht zu vernachlässigende Komponente insbesondere im personalisierten und informalen Kunstmarkt, dessen Beteiligte noch stärker auf die ,gute‘ Reputation angewiesen sind als dies in vielen anderen Geschäftsbereichen der Fall ist. Auf diesem Weg können die Aussichten effektiver Umsetzung neuer Standards durchaus vielversprechend sein. Es besteht die Chance der Verfestigung von Mindeststandards zu ,harten‘ Rechtsregeln der Zukunft. Soft Law-Grundsätze können mithin im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht in besonderem Maße rechtsbewusstseinsbildend wirken. Es verwundert deshalb nicht, Nach Auskunft von Herrn Dr. Specht des BDKA. Vgl. ausführlich hierzu Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil, Rn. 387 ff. 25 26
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wenn Selbstverpflichtungserklärungen begrüßt werden, weil sie das ethische Handeln des Kunstmarktes fördern.27 Zu Recht wird auch betont, dass spezielle Verhaltensstandards und insbesondere qualifizierte Erwerbspraktiken der professionell im Kunstmarkt Beteiligten dazu geeignet sind, dem illegalen Handel mit Kulturgütern schon im Vorfeld präventiv entgegenzuwirken.28 Man scheint sich einig zu sein, dass einheitliche Mindestverhaltensstandards dazu dienen, öffentlichen wie privaten Museen, Kunsthändlern, Galeristen und Auktionshäusern ebenso wie Privatsammlern gleichsam einen Spiegel vorzuhalten, der ständig das ethisch „richtige“ und gebotene Verhalten anmahnt und dadurch einen positiven Einfluss auf das Geschäftsverhalten jedes Einzelnen im Kunstmarkt ausübt. Durch die speziellen Verhaltensanforderungen setzen die außerrechtlichen Verhaltensstandards selbstverpflichtende Maßstäbe und wirken innerhalb der einzelnen Stakeholder bewusstseinsbildend zugleich.29 b) Reduktion des kulturellen Schwarzmarkts Auf dieser Grundlage leuchtet es auch ein, dass ethische Mindestverhaltensstandards dazu anhalten können, möglicherweise unrechtmäßig entzogene Kulturgüter – entgegen der Sammelleidenschaft und dem Drang zur Inkorporation kulturell wie materiell bedeutsamer Objekte – für die eigene Sammlung bzw. Ausstellung nicht zu erwerben, sie bei zweifel- oder makelhafter Provenienz nicht in den eigenen Geschäftsräumen zum Verkauf anzubieten oder nicht in die Versteigerung aufzunehmen. Die interne Verhaltensbindung der für die Veräußerung oder den Erwerb von Kulturgütern zuständigen Personen30 kann mithin dafür sorgen, dass diese nicht der Versuchung der Veräußerung oder des Erwerbs illegal transferierter Kulturgüter erliegen und sich keiner internen Pflichtverletzung gegenüber dem Museum, der Kunsthandlung, der Galerie oder dem Auktionshaus schuldig machen.31 Namentlich durch den Erwerbsverzicht wird der Markt für unrechtmäßig entzogene Kulturgüter spürbar eingeengt.32 Die eingeschränkte Marktgängigkeit illegal 27 Vgl. Carducci, Ausschuss für Kultur und Medien, 16. Wahlperiode, Ausschussdrucksache Nr. 16 (22) 049, Antworten zum Fragenkatalog zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 27. September 2006. 28 Vgl. Schauerte, Stellvertretender Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin – SPK, Schriftlicher Beitrag zum Fragenkatalog betreffend den Gesetzesentwurf zum UNESCO-Übereinkommen vom 14. November 1970 (im Folgenden UNESCO-Konvention), Ausschuss für Kultur und Medien, 16. Wahlperiode, Ausschussdrucksache Nr. 16 (22) 051. 29 Vgl. Müller-Katzenburg, Internationale Standards im Kulturgüterverkehr, 1996, S. 211. 30 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil, Rn. 388. 31 O’Keefe, Museum Acquisition Policies and the 1970 UNESCO Convention, Museum International (UNESCO), No. 197 (Vol. 50 No. 1 1998), S. 20 – 24, S. 22 – 23. 32 Vgl. Müller-Katzenburg, Internationale Standards im Kulturgüterverkehr, 1996, S. 212.
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transferierter Objekte führt dazu, dass deren Marktwert sinkt oder sogar ganz verloren geht. Die Minimierung des kulturellen Absatzmarktes der professionell am Kunstmarkt beteiligten Museen, Kunsthändler, Galeristen und Auktionshäuser hat wiederum zur Folge, dass der Anreiz für einen Diebstahl, für eine illegale Ausgrabung archäologischer Artefakte und für eine anschließende unrechtmäßige Ausfuhr kultureller Wertgegenstände oder auch für eine Veräußerung von Beute- oder Raubkunst verringert wird.33 Eine Attraktivitätsminderung des Erwerbs illegal transferierter Kulturgüter ohne adäquate Provenienz und rechtmäßige Ausfuhrlizenzen wird dadurch mittelbar auch für individuelle Privatsammler und Investoren erreicht. Denn mit dem Makel der Illegalität behaftete Kunstwerke werden weder von Museen unentgeltlich aus steuerrechtlichen Aspekten noch von Kunsthändlern und Versteigerungshäusern entgeltlich zur Weiterveräußerung entgegengenommen. Scheiden jedoch beispielsweise mit dem Makel der Illegalität behaftete kulturelle Sachspenden aufgrund der Annahmeverweigerung seitens der Museen aus, wird die Hemmschwelle zum Erwerb illegal transferierter Kulturgüter heraufgesetzt.34 c) Rezeption einzelner Soft Law-Standards in der Judikative Positive Effekte für das internationale Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht entfalten Soft Law-Standards auch aufgrund ihrer Rezeption in einzelnen Gerichtsurteilen.35 Erstmals wurde in der Rechtssache Jeanneret vs. Vichy im Jahr 198236 die Unveräußerlichkeit illegal exportierter Kulturgüter und die Schadensersatzpflicht nach amerikanischem Sachmängelgewährleistungsrecht (breach of implied warranty of title) mit den selbstauferlegten Verhaltens- und Erwerbspraktiken der professionell im Kunsthandel Beteiligten begründet.37 Kurze Zeit später setzte sich die britische Chancery Division in der Sache Kingdom of Spain vs. Christie, Manson & Woods Ltd.38 trotz dessen Unanwendbarkeit in der konkreten Fallsituation intensiv („by way of background“39) mit dem Inhalt des englischen Dealers Code of Practice auseinander, zitierte die Verpflichtung Christie’s, sich nicht wissentlich am Handel mit illegal exportiertem Kulturgut zu beteiligen, und 33 Vgl. O’Keefe, Museum Acquisition Policies and the 1970 UNESCO Convention, Museum International (UNESCO), No. 197 (Vol. 50 No. 1 1998), S. 20 – 24, S. 22 – 23. 34 Vgl. O’Keefe, Museum Acquisition Policies and the 1970 UNESCO Convention, Museum International (UNESCO), No. 197 (Vol. 50 No. 1 1998), S. 20 – 24, S. 22 – 23. 35 Ausführlich hierzu Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil Rn. 389 ff. 36 Jeanneret v. Vichy, 541 F.Supp. 80 (S.D.N.Y. 1982), 693 F.2d 259 (2d Cir. 1982). 37 Jeanneret v. Vichy, 541 F.Supp. 80 (S.D.N.Y. 1982), 693 F.2d 259 (2d Cir. 1982). 38 Kingdom of Spain v. Christie, Manson & Woods Ltd., (1986) 1 W.L.R. 1120 (Ch.D.). 39 Kingdom of Spain v. Christie, Manson & Woods Ltd., (1986) 1 W.L.R. 1120 (Ch.D.).
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benannte die internationalen Standards und allgemein herrschenden Grundüberzeugungen im internationalen Kulturgüterverkehr als rechtlichen Orientierungsmaßstab ,richtigen‘ Verhaltens, auch wenn Spanien „not a party to the code“ war und sich dementsprechend auch nicht ausdrücklich hierauf berufen durfte.40 Im Ergebnis erreichte Spanien die Feststellung der unrechtmäßigen Ausfuhr, und Christie’s nahm in der Folge das Gemälde aus der Versteigerung heraus. Durch Zahlung einer Entschädigungssumme gelangte das Gemälde schließlich zurück nach Spanien. In dem Fall der gestohlenen Engel in der Rechtssache Autocephalous Greek Orthodox Church of Cyprus vs. Goldberg & Feldman Fine Arts Inc.41 führten Soft Law-Grundsätze mittelbar zur Restitution von Mosaiken, die aus dem von der Türkei besetzten Norden Zyperns gestohlen und illegal ausgeführt worden waren. In dieser Konstellation gewann die Antiquities Acquisition Policy des J. Paul Getty Museum besondere praktische Bedeutung: Danach hatte das Museum bei Andienung bedeutsamer archäologischer Objekte generell den Ursprungsstaat zu kontaktieren, über einen möglichen Ankauf zu informieren und nachzuforschen, ob etwaige Ansprüche auf die entsprechenden Gegenstände bestehen. Auf diese Weise wurde der Diebstahl offensichtlich gemacht. In einer spektakulären Entscheidung wurde die Restitution der Mosaiken an Nordzypern angeordnet. Hätte das Museum dennoch die Objekte erworben oder wäre später der makelbehaftete Erwerb offensichtlich geworden, hätte nach der Antiquities Acquisition Policy zumindest eine interne Verpflichtung zur Restitution der Mosaiken an Zypern bestanden.42 d) Fortentwicklung des Kulturgüterschutzund Kunstrestitutionsrechts Soft Law-Standards nehmen schließlich auch deutlichen rechtsnormativen Einfluss auf die Ausgestaltung der Gesetzeslage.43 Die selbstauferlegten Verhaltensstandards, die sich in einem bestimmten sozialen oder beruflichen Umfeld gebildet und zu einer stabilen Praxis verdichtet haben, strahlen als selbstverständliche Richtlinien und Grundwerte auf die Fortentwicklung des internationalen Kulturgüterschutzrechts aus und sollten nicht nur von den Gerichten, sondern auch 40 Vgl. auch Müller-Katzenburg, Internationale Standards im Kulturgüterverkehr, 1996, 215 – 219. 41 Autocephalous Greek Orthodox Church of Cyprus v. Goldberg & Feldman Fine Arts Inc., 717 F. Supp. 1374, auf S. 1393 ff.; 917 F. 2d 278 (7th Cir. 1990) auf S. 286 ff. 42 Vgl. Siehr, International Art Trade and the Law, Académie de Droit International de la Haye / Hague Academy of International Law – Recueil des Cours, Collected Courses, Volume 243 (1993-VI), S. 182. 43 Vgl. ausführlich hierzu Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil, Rn. 397.
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von den nationalen Rechtssetzungsorganen zu Minimalstandards positiven Rechts weiterentwickelt werden. Bei jeder formal-legalen Neukonzeption oder Modifikation des Kulturgüterverkehrs dürfen die Organe der Rechtssetzung nicht hinter den in der Praxis geltenden ethischen Mindestverhaltensstandards zurückbleiben und weniger strenge Erwerbsrichtlinien einführen. Zahlreiche Stimmen in der Literatur nennen Beispiele dafür, dass ethische Mindestverhaltensstandards regelmäßig zunächst von den betroffenen Berufsgruppen entwickelt und dann, wenn sich hieraus eine gefestigte Praxis gebildet hat, in Gesetze inkorporiert werden.44 Damit lässt sich gerade für das Kulturgüterschutzund Kunstrestitutionsrecht die Hoffnung verbinden, dass die internationalen Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Kulturgüterschutzrechts und zur Harmonisierung der Restitutionsgrundsätze unrechtmäßig entzogener Kulturgüter in Zukunft von den Soft Law-Grundsätzen der verschiedenen Stakeholder profitieren können, da sie auf internationaler Abstimmung beruhen und in Bezug auf gestohlene und illegal exportierte Kulturgüter weitgehend ebenso gleichlautende Regelungen enthalten wie im Bereich der Beute- und Raubkunst. Da nationale und internationale Rechtsnormen vielfach Ausdruck gesellschaftspolitischer und kulturell-rechtsethischer Maßstäbe sind, lassen sich künftige und wahrscheinliche formal-legale Ausgestaltungsalternativen des internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrechts schon heute vorhersehen und absehen, wenn man sich die Tendenzen und die Inhalte des Soft Law vergegenwärtigt. Die Ausbildung von ethischen Verhaltensstandards und speziellen Erwerbsanforderungen in der Praxis wirkt auf diese Weise auf die Weiterentwicklung des nationalen und internationalen Rechts ein. Soft Law-Standards spiegeln die aktuellen wie die künftigen Entwicklungen im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht wider, beeinflussen und durchdringen sie, gestalten sie mit und arbeiten an ihrer eigenen künftigen Entbehrlichkeit, indem sie auf ihre Transformation zu Hard Law hinwirken.
III. Neue Soft Law-Standards zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste Die völker- und zivilrechtswidrigen Kulturgutentziehungen und -verlagerungen durch die nationalsozialistischen Behörden und Organe vor dem Zweiten Weltkrieg und währenddessen sind aus tatsächlicher 45 wie aus rechtlicher46 Sicht in der 44 Prott / O’Keefe, Law and the Cultural Heritage – Volume 3: Movement, 1989, Rn. 267 m. w. N. 45 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 4. Teil, Rn. 23 ff. m. w. N. 46 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 4. Teil, Rn. 113 ff. m. w. N.
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kunsthistorischen und rechtswissenschaftlichen Forschung inzwischen gut aufgearbeitet. Dasselbe gilt für die verschiedenen Ansätze zur Wiedergutmachung des begangenen Unrechts und für die Restitution unrechtmäßig verbrachter Kulturgüter in den einzelnen betroffenen Staaten unmittelbar nach Ende der kriegerischen Handlungen und in der Nachkriegszeit.47 Es fehlt jedoch an einer Bestandsaufnahme und systematischen Darstellung der neuesten Entwicklungslinien im Umgang mit NS-bedingten Kulturgutverlusten. Die Entziehungen der sogenannten Beutekunst48 in den angeschlossenen, annektierten und besetzten Territorien zur Zeit des Zweiten Weltkrieges beruhten auf den ideologischen Grundlagen der nationalsozialistischen Staaten- und Weltordnung. Weltweit werden vor diesem Hintergrund bis heute – trotz der erfolgreich ausgeführten, millionenfachen Restitutionsverfahren insbesondere auch innerhalb Deutschlands im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg49 – über 100.000 von den nationalsozialistischen Behörden und Organen entzogene Kunstwerke mit einem Wert von mehreren Milliarden Euro vermisst.50 Sachlich werden unter die Gattung der NS-bedingten Kulturgutverluste auch die Entziehungstatbestände der sogenannten Raubkunst gezählt. Unter diesen Oberbegriff fallen die nationalsozialistisch motivierten Entziehungen kultureller Güter aus Besitz und Eigentum verfolgter, zumeist jüdischer deutscher Staatsbürger innerhalb des Deutschen Reiches vor dem Zweiten Weltkrieg und währenddessen. Hierzu gehören die Entziehungstatbestände kulturellen Fluchtguts (erste Raubkunstphase), d. h. die nur formal ,freiwilligen‘ Veräußerungen von Kunstgegenständen unter Drohung, Zwang und Gewalt zur Sicherung der Existenz und Lebensgrundlage verfolgter, zumeist jüdischer Personengruppen sowie zur Vorbereitung und Ermöglichung einer Emigration aus Angst vor Deportation und Ermordung.51 Je nach Quellenangabe gingen zwischen einer halben Million52 bis zu einer Gesamtzahl von bis zu drei Millionen53 Kunstgegenstände aus dem Besitz und Eigentum verfolgter, meist jüdischer 47 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil: Sondergesetze zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste. 48 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 4. Teil. 49 Vgl. zu den deutschen Restitutionsverfahren Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil Rn. 184 ff. 50 Vgl. die Schätzung bei Sapper, Manfred / von Selle, Claudia / Weichsel, Volker in: Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Osteuropa – Kunst im Konflikt: Kriegsfolgen und Kooperationsfelder in Europa, 56. Jahrgang / Heft 1 – 2, Januar – Februar 2006 – Konflikte um die Kunst, S. 5. 51 Vgl. ausführlich hierzu aus rechtlicher wie tatsächlicher Sicht Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 5. Teil. 52 So Wieser, Gutgläubiger Fahrniserwerb und Besitzesrechtsklage – Unter besonderer Berücksichtigung der Rückforderung „entarteter“ Kunstgegenstände, 2004, S. 214 – 221. 53 So Glaus / Studer, Kunstrecht – Ein Ratgeber für Künstler, Sammler, Galeristen, Kuratoren, Architekten, Designer, Medienschaffende und Juristen, 2003, S. 171.
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Personengruppen innerhalb des Deutschen Reiches auf diesem Weg verlustig. Des Weiteren zählen hierzu die Entziehungstatbestände der zweiten Raubkunstphase, wozu die systematischen Zwangsverstaatlichungen kultureller Güter aus dem Besitz und Eigentum verfolgter, zumeist jüdischer Personen durch die nationalsozialistischen Behörden und Organe seit Beginn des Jahres 1938 zu rechnen sind.54 Wie viele der bis dahin in Deutschland verbliebenen jüdischen Kunstsammlungen in dieser Phase von den deutschen Behörden und Parteidienststellen systematisch und staatlich erzwungen ,sichergestellt‘, zu Staatseigentum designiert und anschließend im eigenen finanziellen Interesse verwertet wurden, ist heute kaum noch zu beziffern. Da die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs angelaufene und in der Nachkriegszeit beschleunigte Restitution NS-bedingter Kulturgutverluste an die ursprünglichen Berechtigten in den 1960er Jahren in nahezu allen betroffenen Staaten wohl dringlicheren Aufgaben zu weichen hatte, geriet das Bedürfnis nach Rückführung der unrechtmäßig verlagerten Kulturgüter mehr und mehr in Vergessenheit und aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit. Erst Ende des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach Öffnung der Ostgrenzen und der Neu- bzw. Wiederentdeckung zahlreicher Archivbestände, entfachte sich durch den Wissenszuwachs das Interesse von Neuem; inzwischen ist es kaum noch in Grenzen zu halten und in seiner Reichweite beinahe unberechenbar. Die ursprünglich Berechtigten und deren Rechtsnachfolger kämpfen – regelmäßig nicht ohne Hilfe finanzstarker amerikanischer Law Firms und anderer Gönner, die in Vorlage treten – um die Rückführung „ihrer“ Objekte gegenüber öffentlichen und privaten Museen und anderen kulturellen Institutionen, Kunsthändlern, Galeristen und Auktionshäusern ebenso wie gegenüber privaten Sammlern und Stiftungen. Sie stellen nach teilweise mehr als 70 Jahren nach den ersten Entziehungsakten die aktuellen Besitzer nicht selten vor unüberwindbare Schwierigkeiten. In diesem juristischen Spannungsfeld bestehen heute kaum spezialgesetzliche (harte) Rechtsregeln, um den Konflikt zwischen dem Rückführungsinteresse seitens der ursprünglich Berechtigten und dem Interesse an der Wahrung des status quo seitens der aktuellen Besitzer formal-legal zu regulieren.55 Andererseits ist ein 54 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 5. Teil Rdnr. 17 – 38 und 7. Teil, Rn. 65 ff. 55 Ausnahmen: Der amerikanische Bundesstaat Kalifornien erließ mit dem California Holocaust Art Recovery Statute ein spezielles Gesetz zur Rückführung kultureller Wertgegenstände, die zur Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft unrechtmäßig entzogen wurden. Ausführlich zu der inzwischen als verfassungswidrig deklarierten Norm Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 5. Teil, Rn. 277 ff. Neuerdings besteht auch in Großbritannien eine spezialgesetzliche Regelung i.F.d. Holocaust (Return of Cultural Objects) Bill vom 12. November 2009. Das Gesetz eröffnet den Trägern nationaler Kulturinstitutionen die bisher aus Rechtsgründen verschlossene Möglichkeit der Restitution von Raubkunst. In dem Statut wird bestimmt, dass eine Rückführung nur nach Empfehlung des sog. Spoliation Advisory Panel und Akzeptanz der Restitutionsempfehlung seitens des Secretary of State erfolgen darf.
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praktisches Bedürfnis nach dem „richtigen“ Verhalten auf Seiten der unterschiedlich betroffenen Stakeholder unübersehbar. Damit stellt sich heute mit besonderer Dringlichkeit die Frage nach einem Code of Conduct und ethischen Standards des Soft Law. 1. Washingtoner Conference Principles 1998 und deren nationale Umsetzung Bewegung kam in das Problem erst nach Verabschiedung der weltweit vielbeachteten Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art vom 3. Dezember 199856 als einer für die 44 Unterzeichnerstaaten rechtlich nicht bindenden Übereinkunft, um die während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmten Kunstwerke zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden. Die Erklärung ist bis heute weltweit die einzige anerkannte Basis für Restitutionsentscheidungen im Zusammenhang mit NS-bedingten Kulturgutverlusten. Erst seit diesem Zeitpunkt können Verfolgte und deren Erben auch nach Fristablauf der Sondertatbestände zur Wiedergutmachung der Nachkriegszeit die Rückführung ihrer Kulturgutverluste verlangen.57 Die 44 teilnehmenden Staaten – darunter auch die Bundesrepublik Deutschland – haben die Identifikation kriegsbedingter Kulturgutverluste in das Zentrum des Interesses gerückt und sich auf die verstärkte Durchführung einer Provenienzrecherche innerhalb der Museen verständigt: Es sollen alle Anstrengungen unternommen werden, Kunstwerke, die als durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet identifiziert wurden, zu veröffentlichen, um so die Vorkriegseigentümer oder ihre Erben ausfindig zu machen (vgl. Punkt V der Principles). Ziel ist dabei die Errichtung eines zentralen Registers (vgl. Punkt VI). Bei dem Nachweis, dass ein Kunstwerk durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurde, soll berücksichtigt werden, dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind (vgl. Punkt IV). Wenn die Vorkriegseigentümer von Kunstwerken, die durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückgegeben wurden, oder ihre Erben ausfindig gemacht werden können, sollen rasch die nötigen Schritte unternommen werden, um eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden, wobei diese je nach den Gegebenheiten und Umständen des spezifischen Falls unterschiedlich ausfallen kann (vgl. Punkt VIII).
56 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 336 ff. 57 So auch Parzinger, Wege zu mehr Verantwortung: Vom Umgang mit NS-Raubkunst 10 Jahre nach Washington, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 49 – 100, S. 55.
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a) Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände 1999 Die Washington Conference Principles haben inzwischen auch in Deutschland eine erhebliche Resonanz gefunden58, weshalb hier auf die nationale (innerdeutsche) und institutionelle Bedeutung dieses Soft Law-Komplexes eingegangen werden muss: Spezialgesetzliche Rückerstattungsansprüche unrechtmäßig entzogener Kulturgüter sind in Deutschland heute grundsätzlich ausgeschlossen. Ausnahmen bestehen jedoch bei Restitutionsforderungen gegen öffentlich-rechtliche Träger kultureller Wertgegenstände. Die Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz, vom Dezember 1999 zielt auf eine Provenienzerforschung, Identifizierung und Restitution NS-bedingter Kulturgutverluste, vor allem solcher im ehemaligen Besitz jüdischer Eigentümer, ohne jedoch eine rechtliche Verpflichtung hierzu zu schaffen.59 Die im Jahre 2001 erlassene und im November 2007 überarbeitete, ebenfalls rechtlich unverbindliche Handreichung zur Gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1999 stellt Richtlinien und Verhaltensmuster bei der Identifizierung, Provenienzerforschung und Restitution NS-bedingter Kulturgutverluste auf. Bemerkenswert ist, dass sowohl die auf der Washingtoner Erklärung aus dem Jahre 1998 beruhende Gemeinsame Erklärung als auch die Handreichung die Leitlinien des alliierten zonalen Rückerstattungsrechts und der Restitutionspraxis der Nachkriegszeit60 als „Orientierungshilfe“ und „Anregung“ zur Lösung aktueller Kunstrestitutionsverfahren empfehlen, sodass die alliierten Rückerstattungsgesetze – bei58 Vgl. hierzu unter anderem das folgende Schrifttum: Bindenagel, Washington Conference on Holocaust-Era Assets. November 30 – December 3 1998: Proceedings; US Government Printing Office, Department of State Publications 10603, 1999; Crezelius, Die Umsetzung der sogenannten Washingtoner Prinzipien, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 133 – 155; Jayme, Die Washingtoner Erklärung über Nazi-Enteignungen von Kunstwerken der Holocaust-Opfer: Narrative Normen im Kunstrecht, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Museen im Zwielicht (Ankaufspolitik 1933 – 1945, Kolloquium vom 11. und 12. Dezember 2001 in Köln) / die eigene Geschichte (Provenienzforschung an deutschen Kunstmuseen im internationalen Vergleich / Tagung vom 20. bis 22. Februar 2002 in Hamburg), 2002, S. 247 – 261; Heuberger, Was sind faire und gerechte Lösungen im Umgang mit Raubkunst, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 413 – 436; von Selle / Zschunke, Ein Weg, wo kein Wille ist? Soft law-Vereinbarungen als nichtstaatliche Konfliktlösung in Restitutionsfällen, in: Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, Osteuropa – Kunst im Konflikt: Kriegsfolgen und Kooperationsfelder in Europa, 56. Jahrgang / Heft 1 – 2, Januar-Februar 2006, S. 383 – 392. 59 Vgl. ausführlich Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 340 ff. 60 Vgl. ausführlich Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 184 ff.
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spielsweise hinsichtlich des Ausschlusses des gutgläubigen Erwerbs und der diffizilen Beweislastverteilung und Vermutungsregelungen – heute über diesen Verweis besondere Bedeutung behalten. Ausdrückliche Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die institutionelle Ergänzung der rechtlich unverbindlichen Soft Law-Grundsätze bei Differenzen über die Rückführung NS-bedingter Kulturgutverluste durch die auf freiwilliger Basis beider Parteien zu betrauende Soft Law-Institution, die sogenannte Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz61 als Mediator zwischen den Trägern der Sammlungen und den ehemaligen Eigentümern der Kulturgüter bzw. deren Erben ohne rechtsverbindliche Entscheidungsgewalt. Hierdurch erfolgt eine institutionelle Ergänzung der Gemeinsamen Erklärung mir ihrem Soft Law-Charakter durch ein letztlich ebenso „weich“ ausgestaltetes Organ ohne Entscheidungsgewalt und allein mit Empfehlungscharakter nach beiderseitiger Betrauung: Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass die Limbach-Kommission ihre Empfehlung über die „richtige“ Sachzuordnung der NS-Raubkunst weniger auf rechtliche als vielmehr auf moralische Überlegungen stützt. b) ICOM Recommendations Concerning the Return of Works of Art Belonging to Jewish Owners vom 14. Januar 1999 Die Grundzüge der Washington Principles 1998 haben auch in den wichtigsten Museumsverbänden eine Rezeption gefunden, wenn auch unerklärlicherweise nicht in den Standards für Museen 2006 oder anderen öffentlich zugänglichen Leitlinien des Deutschen Museumsbundes. Der International Council of Museums (ICOM) wurde 1946 gegründet und stellt die größte internationale Organisation von Museen und Museumsangestellten mit inzwischen mehr als 15.000 Mitgliedern weltweit dar. Die ICOM Recommendations Concerning the Return of Works of Art Belonging to Jewish Owners vom 14. Januar 1999 folgen im Prinzip den Grundzügen der Washington Principles 1998 und betonen die Bedeutung der Provenienzforschung für alle Erwerbungen während des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar danach und der möglichst umfänglichen Veröffentlichung sämtlicher Informationsquellen für kulturelle Restitutionsstreitigkeiten. Abschließend werden die ICOM-Mitglieder dazu aufgefordert, „to actively address the return of all objects of art that formerly belonged to Jewish owners . . . and that are now in the possession of museums, to their rightful owners . . . .“ Eine solche Restitution soll hiernach jedoch allein aus Rechtsgründen und nicht nach moralischen Überlegungen erfolgen, d. h. nur innerhalb der Bahnen des geltenden internationalen wie in61 Vgl. hierzu die Angaben und Ausführungen unter www.lostart.de. An dieser Stelle sind auch die Presseinformationen zu den bislang insgesamt vier Empfehlungen der Kommission nachzulesen.
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nerstaatlichen Rechts und bei fortbestehender Eigentumsposition der Anspruchsteller.62 c) AAM Guideline Concerning the Unlawful Appropriation of Objects During the Nazi Era vom November 1999, modifiziert April 2001 Auch die American Association of Museums63 hat ihre Stakeholder mittels der Guidelines Concerning the Unlawful Appropriation of Objects During the Nazi Era aus dem Jahre 1999 (heute in der Fassung vom April 2001)64 mit konkreten Verhaltensrichtlinien im Umgang mit NS-Raub- und Beutekunst ausgestattet.65 Für Kunstrestitutionsstreitigkeiten sind insbesondere die Acquisition-Guidelines (Nr. 1) und Claims of Ownership-Guidelines (Nr. 4) von besonderem Interesse. In den Erstgenannten verlangt die AAM von ihren Mitgliedern, dass – unabhängig von der jeweils zutreffenden Erwerbsart kultureller Güter in Rechtsgeschäft, Schenkung, Erbschaft oder Tausch – generell eine Provenienzerforschung durchzuführen und diese hinreichend zu dokumentieren ist. Dabei sind Informationen über den Verbleib der Objekte während der NS-Unrechtsherrschaft 1933 bis 1945 zu sammeln. Wird dabei ein unrechtmäßiger Entziehungsvorgang ersichtlich, hat ein Erwerb grundsätzlich zu unterbleiben, außer in solchen Fallkonstellationen, in denen bei unklarer Sachverhaltslage in der Zukunft weitere Informationen gesammelt und die Öffentlichkeit und Betroffene so über die Provenienz des Objekts präziser informiert werden können. Fordern potenzielle Restitutionsgläubiger die Rückführung von NS-Raubkunst aus dem Bestand eines Museums der American Association, beschreibt Nr. 4 unter dem Titel Claims of Ownership ein spezielles Verhaltensprogramm des Museums, das solchen Ansprüchen „openly, seriously, responsively, and with respect for the dignity of all parties involved“ begegnen muss. Die eigene, museumsinterne Provenienzrecherche über das betroffene Kulturgut soll das Museum zunächst durch einen Nachweis der Eigentümerstellung seitens der Gläubigerseite ergänzen lassen. Bestätigt sich in diesem Verfahren die Behauptung der unrechtmäßigen Kulturgutentziehung während der NS-Zeit aus dem Vermögen der Anspruchsteller, ohne 62 Vgl. zur fortbestehenden Eigentumsposition der ursprünglich Berechtigten bzw. deren Erben Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 5. Teil Rn. 39 ff. (nach Entziehung des sog. kulturellen Fluchtguts) und 7. Teil, Rn. 202 ff. (nach Entziehungen der sog. zweiten Raubkunstphase). 63 AAM repräsentiert mehr als 15.000 Museumsprofessionelle, 3.000 Institutionen und 300 Corporate Members. 64 Vgl. ausführlich hierzu Wechsler / Coate-Saal / Lukavic, Museum Policy and Procedures für Nazi-Era Issues, 2001. 65 „AAM recognizes that the atrocities of the Nazi era demand that it specifically address this topic in an effort to guide American museums as they strive to achieve excellence in ethical museum practice“.
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dass später eine Rückerstattung des Objektes erfolgte, soll das Museum die Angelegenheit „in an equitable, appropriate, and mutually agreeable manner“ behandeln; hierunter werden wohl vergleichbare Lösungen zu verstehen sein wie unter der Ausdrucksweise „just and fair solutions“ der Washington Principles 1998.66 Dabei sollen nicht nur gerichtliche, sondern auch alternative Methoden der Streitbeilegung (wie etwa einer Mediation) zur Lösung der Kunstrestitutionsforderung in Erwägung gezogen werden. In diesem Entscheidungsfindungsprozess fordert die American Association of Museums ihre Stakeholder schließlich dazu auf, zur Erreichung einer „equitable and appropriate resolution of claims“ unter bestimmten Umständen auf von Rechts wegen bestehende Einwände zur Verteidigung gegen die Restitutionsforderung zu verzichten und so eine beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden. d) Codes of Conduct der Association of Art Museums Directors Besondere internationale Beachtung haben in diesem Bereich auch die ethischen Mindestverhaltensstandards der Association of Art Museum Directors (AAMD)67 gefunden, die heute mehr als 190 Direktoren von Museen in den USA, Kanada und Mexiko als Stakeholder selbstverpflichten. Zum Erwerb NS-bedingt entzogener Kulturgüter hat die AAMD neben dem Report of the AAMD Task Force on the Spoliation of Art During the Nazi / World War II Era (1933 – 1945) vom 4. Juni 1998 zusammen mit dem Addendum to the Report of the AAMD Task Force on the Spoliation of Art During the Nazi / World War II Era (1933 – 1945) vom 30. April 2001 neuerdings auch das „Position paper“ Art Museums and the Identification and Restitution of Work Stolen by the Nazis vom Mai 2007 veröffentlicht. Der Report on the Spoliation of Art During the Nazi / World War II Era (1933 – 1945) vom 4. Juni 199868 ist schon im Vorfeld der Washington Conference Principles 1998 erarbeitet worden. Er hält in ähnlicher Reichweite und Intensität die im Dezember von 41 Staaten in Washington unterzeichneten gemeinsamen Überzeugungen fest, um den einzelnen Mitgliedern Hilfestellungen zu geben „in resolving claims, reconciling the interests of individuals who were dispossessed of works of art or their heirs together with the fiduciary and legal obligations and responsibilities of art museums and their trustees to the public for whom they hold works of art in trust.“ Um mögliche NS-Raubkunstobjekte zu identifizieren, wird den Museen hinsichtlich der eigenen Sammlungsbestände zunächst eine Pflicht zur 66 Befand sich das betreffende Objekt jedoch nur als Leihgabe im Museumsbestand, soll das Museum unverzüglich den Leihgeber über die Restitutionsforderung in Kenntnis setzen und selbst entsprechend ihren rechtlichen Verpflichtungen aus dem Verwahrungsverhältnis mit dem Leihgeber handeln und Rechtsrat bei einem Spezialisten suchen. 67 Vgl. www.aamd.org. 68 Quelle: http: //www.aamd.org/papers/guideln.php.
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Provenienzerforschung in eigenen wie auch fremden Archiven, Datenbanken und anderen Informationsquellen auferlegt.69 Zu diesem Zweck soll Interessierten auch Zugang zu den Aufzeichnungen und Unterlagen der Museen selbst gewährt werden.70 In einem Addendum to the Report of the AAMD Task Force on the Spoliation of Art During the Nazi / World War II Era (1933 – 1945) vom 30. April 2001 ist diese Selbstverpflichtung der amerikanischen Museumsgemeinde dahingehend präzisiert worden, dass vor 1946 geschaffene und zwischen 1932 und 1946 transferierte Kunstwerke, die sich während dieser Zeitspanne auf dem Territorium Kontinentaleuropas befanden oder möglicherweise dort befunden haben, als solche identifiziert und ebenso wie alle weiteren hierzu verfügbaren Informationen hinsichtlich der Provenienz des Gemäldes im Besitz des Museums (trotz möglicher Provenienzlücken) öffentlich kenntlich gemacht und weiter erforscht werden müssen. Finden sich Objekte mit einer makelhaften Vergangenheit in den Museumsbeständen, sollen diese Erkenntnisse umgehend der Öffentlichkeit bekannt gemacht und die betroffenen Objekte mit entsprechenden Hinweisschildern und Informationen versehen werden.71 Zukünftige Erwerbungen durch Rechtsgeschäft, Schenkung, Erbschaft oder Tausch dürfen erst nach einer umfassenden Provenienzerforschung der betreffenden Objekte erfolgen. Von einem Erwerb oder einer Leihe ist dabei dann Abstand zu nehmen, wenn eine unrechtmäßige Entziehungshandlung positiv festgestellt werden kann (das bedeutet übrigens wohl andererseits, dass bei Zweifeln an der Provenienz eines Objektes dieses gerade nicht als unrechtmäßig während der NS-Zeit entzogen gilt).72 Fordert ein Berechtigter die Rückführung, gilt ein vergleichbares Verhaltensprogramm wie das in den AAM Guidelines skizzierte, d. h. der Restitutionsforderung ist in einem gleichberechtigten, angemessenen und gegenseitig verträglichen Verhältnis zu begegnen, und es sind von dem betroffenen Museum auch alternative Methoden der Streitbeilegung (wie etwa eine Mediation) in Erwägung zu ziehen.73 2. Resolution 1205 des Europarats 1999 Das internationale Soft Law-Programm zur Behandlung NS-bedingter Kulturgutverluste wird seitens des Europarats durch die Resolution 1205 ergänzt, die einstimmig von 41 Mitgliedstaaten am 5. November 1999 beschlossen wurde und die Rückführung unrechtmäßig entzogener jüdischer Kulturgüter fordert. Einleitend ruft die Resolution die Zerstörung des beweglichen und unbeweglichen jüdischen Kulturerbes im privaten und öffentlichen Besitz und Eigentum der jüdischen 69 70 71 72 73
Vgl. Punkt A. Vgl. Punkt C. Vgl. Punkt D. Vgl. Punkt B und F. Vgl. Punkt D und E.
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Bevölkerung mittels der beschriebenen menschenrechtsverachtenden Methoden der NS-Plünderungsbehörden sowie die inzwischen bekannte Tatsache ins Gedächtnis, dass trotz der verschiedenen Methoden und Verfahren der Rückerstattung NS-bedingter Kulturgutverluste „a very considerable amount has not been recovered and has remained in private and public hands.“74 Um der jüdischen Kultur in Europa wieder ihren Platz einzurichten, wird von der Resolution die Restitution solcher Objekte an ihre ursprünglich Berechtigten, deren Rechtsnachfolger bzw. Ursprungsstaaten gefordert und werden die nationalen Parlamente zur Unterstützung ermuntert.75 Ebenso wie in den Washington Principles 1998 und der Gemeinsamen Erklärung 1999 Deutschlands wird die Notwendigkeit der Abschaffung aller Beschränkungen des Informationszugangs zur Identifizierung unrechtmäßig entzogener Objekte betont und hierzu insbesondere auch Russland aufgefordert.76 Von zentraler Bedeutung ist die in Nr. 12 normierte Forderung nach Rückführung unrechtmäßig entzogener Kulturgüter der jüdischen Bevölkerung an die Berechtigten aus dem Besitz und dem Bestand von Institutionen mit öffentlicher Finanzierung. Zur Erreichung dieses Zieles tritt die Parlamentarische Versammlung des Europarats gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften der Mitgliedstaaten unter Einschränkung und Modifizierung der bis dato bestehenden Eigentumsrechte möglicher Restitutionsschuldner für ein vereinfachtes Restitutionsverfahren ein, insbesondere mittels „a) extending or removing statutory limitation periods; b) removing restrictions on alienability; c) providing immunity from actions for breach of duty on the part of those responsible for collections; d) waiving export controls.“77 Dem genannten Anliegen soll durch den Schutz der Rückgabeschuldner vor nachfolgenden Klagen nach Restitution, durch eine Einschränkung der Reichweite und Wirkung der Zusage freien Geleits entliehener Kulturgüter sowie durch die Annullierung nach Entziehung erworbener Eigentumspositionen gedient werden78, etwa durch die Implikation spezieller Sorgfaltsanforderungen beim gutgläubigen Erwerb79 von NS-bedingt entzogenen Kulturgütern entsprechend den Anforderungen beim Erwerb gestohlener oder illegal exportierter Kulturgüter i. S. d. UNIDROIT Convention on Stolen or Illegally Exported Cultural Objects (Rome) vom 24. Juni 1995.80 Nr. 1 bis 4 der Resolution. Nr. 5 bis 10 der Resolution. 76 Vgl. Nr. 11 der Resolution. 77 Vgl. Nr. 12 bis 14 der Resolution. 78 Vgl. Nr. 15 der Resolution. 79 Vgl. ausführlich zum notwendigen Sorgfaltsmaßstab beim Erwerb unrechtmäßig entzogener Kulturgüter Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 2: Zivilrecht – Guter Glaube im internationalen Kunsthandel, 2010, 3. Teil (zur Unidroit-Konvention insb. Rn. 21 ff.). 80 Vgl. Nr. 17 der Resolution. 74 75
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Da der Kunsthandel häufig eine Schleusenfunktion (gate keeper role) einnimmt und der Charakter als Raub- bzw. Beutekunst insbesondere beim Versuch der Weiterveräußerung offenkundig wird, schlägt die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine diesbezügliche Meldepflicht der Kunsthändler, Galeristen und Auktionshäuser vor und möchte diese zur Sicherung der Objekte sowie zur Ermittlung der wahren Berechtigten verpflichten.81 Schließlich wird die Lösung der Raub- und Beutekunststreitigkeiten vom Europarat nicht nur in gerichtlichen, sondern insbesondere auch in außergerichtlichen Verfahren und Kooperationen gesehen.82 3. Vilnius Forum Declaration 2000 Dem Wunsch der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in der Resolution 1205 nach einer Verfestigung dieser Soft Law-Richtlinien in weiteren Konferenzen und der Aussicht auf eine formal-legale Statuierung dieser gemeinsamen Grundsätze in der Zukunft83 hat schon im Jahr 2000 die Vilnius Forum Declaration vom 5. Oktober entsprochen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Washington Principles 1998 und die Resolution 1205 des Council of Europe und auf die Forderung nach deren innerstaatlicher Umsetzung84 werden die in den genannten Instrumenten eingeführten Prinzipien der möglichst umfassenden Zugänglichkeit zu allen verfügbaren Informationsquellen über die Entziehung von Kulturgütern zur Zeit des NS-Unrechtsregimes, der Restitution unrechtmäßig entzogener Raubund Beutekunst an die ursprünglichen Berechtigten bzw. deren Rechtsnachfolger und der Erzielung von „just and fair solution to the issue of Nazi-looted art and cultural property“ erneut fixiert.85 Ebenso findet sich die Forderung nach regelmäßigen Expertentreffen zum Erfahrungsaustausch und zur Weiterentwicklung der bestehenden Soft Law-Grundsätze innerhalb der Bahnen des geltenden internationalen und innerstaatlichen Rechts.86 Darüber hinausgehend hat das Vilnius Forum die einzelnen Regierungen aber auch zur Einrichtung und Führung einer zentralen Kompetenzstelle zur Informationsvermittlung aufgefordert.87 Der Aufforderung ist Deutschland durch die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg88 bzw. Österreich durch die Anlaufstelle Raubkunst89 gefolgt. Ausdrücklich rückt das Forum auch die Behand81 82 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. Nr. 18 der Resolution. Vgl. Nr. 16 der Resolution. Vgl. Nr. 19 der Resolution. Vgl. Nr. 1 der Declaration. Vgl. Nr. 2 und 4 der Declaration. Vgl. Nr. 5 der Declaration. Vgl. Nr. 3 der Declaration. Ausführliche Informationen hierzu unter www.lostart.de. Ausführliche Informationen hierzu unter www.restitution.or.at.
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lung solcher Kunstobjekte ins Zentrum des Interesses, deren Charakter als Raubkunst gesichert ist, deren ursprünglich Berechtigte bzw. deren Rechtsnachfolger jedoch unbekannt bleiben. Auch hierfür sei eine „just and fair solution“ notwendig, und es müsse anerkannt werden, dass „there is no universal model for this issue“.90 4. Terezin Declaration on Holocaust Era Assets 2009 Am 30. Juni 2009 haben 46 Staaten am Ende ihrer Prague Holocaust Era Assets Conference ein neues Instrument zur Behandlung NS-bedingter Kulturgutverluste in Form der sog. Terezin Declaration on Holocaust Era Assets unterzeichnet. Die Soft Law-Rechtsnatur wird bereits dadurch deutlich, dass den Grundsätzen ausdrücklich „the legally non-binding nature of this Declaration and moral responsibilities thereof“ vorangestellt wird, „without prejudice to applicable international law and obligations“. Im Rekurs auf die früheren einschlägigen Prinzipien, Resolutionen und Erklärungen wird klargestellt, dass bislang lediglich ein Teil der NSbedingt konfiszierten Vermögenswerte rückgeführt oder kompensiert wurde. Die in den Washington Principles 1998 aufgestellten Grundsätze der Provenienzerforschung, der umfassenden Informationszugänglichkeit und der Erreichung von „just and fair solutions“ im Streit um NS-Raubkunst werden nachdrücklich bestätigt. Die Unterzeichner fordern eine formal-legale Perpetuierung eines freien und öffentlichen Zugangs zu den Archiven und anderen Informationsquellen in allen Staaten: „the Participating States call for a coherent and more effective approach by States and the international community“.91 Unter dem Titel „Nazi-Confiscated and Looted Art“ stellt die Terezin Declaration vom 30. Juni 2009 spezielle Richtlinien zum Umgang mit Raubkunst auf. Dem eigentlichen Prinzipienprogramm ist das Anerkenntnis vorangestellt, dass Kulturgutverluste zur Zeit des NS-Regimes nicht nur durch direkte Konfiskation, Enteignung und Beschlagnahme (Entziehungen der zweiten Raubkunstphase), sondern insbesondere mittelbar und nur formal ,freiwillig‘ nach Veräußerung unter Drohung, Zwang und Gewalt erfolgten (kulturelles Fluchtgut). Dabei wird erneut die in den Washington Principles 1998 begründete Selbstverpflichtung der nationalen Regierungen betont, aus moralischen Gründen NS-bedingt entzogene Kunstund Kulturgüter im Bestand von Institutionen mit öffentlicher Trägerschaft an die Holocaust Opfer in den Bahnen nationalen und internationalen Rechts zurückzuführen, „in order to achieve just and fair solutions“. Auch formuliert Nr. 1 die auf Konferenzen, Fachtagungen und Diskussionsgruppen immer stärker vordringende moralische Forderung, dass nicht nur die Träger öffentlicher Institutionen (wie z. B. staatliche Museen), sondern auch private Institutionen ebenso wie individuelle Privatsammler in der ganzen Welt sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Ver90 91
Vgl. Nr. 4 der Declaration. Vgl. Nr. 4 der Declaration.
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pflichtung stellen und die Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art anwenden sollen. In Nr. 2 werden alle Stakeholder zur Fortführung und Intensivierung der in zahlreichen Staaten inzwischen begonnenen Provenienzrecherche in öffentlichen wie auch privaten Archiven und zur Veröffentlichung und stetigen Aktualisierung dieser Ergebnisse, bestenfalls im Internet, aufgefordert. Ebenso wie innerhalb der Vilnius Forum Declaration vom 5. Oktober 2000 wird die Errichtung spezieller Kompetenzzentren zur Unterstützung potenzieller Restitutionsansprüche seitens der ursprünglichen Berechtigten und deren Rechtsnachfolger gefordert. Schließlich werden die Stakeholder dazu angehalten sicherzustellen, dass die nationalen Rechtssysteme und alternativen Resolutionsverfahren trotz ihrer unterschiedlichen Rechtstraditionen die Erzielung von „just and fair solutions with regard to Nazi-confiscated and looted art“ erreichen und dass „claims to recover such art are resolved expeditiously and based on the facts and merits of the claims and all the relevant documents submitted by all parties.“92 Um in kulturellen Restitutionsstreitigkeiten um NS-Raubkunst schließlich „gerechte und faire Lösungen“ zu erzielen, sollen die einzelstaatlichen Regierungen alle möglichen Streitpunkte bei Anwendung der unterschiedlichen Rechtsvorschriften, die einer Restitution von Kunst und Kulturgütern entgegenstehen können, in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen und dabei auch alle, von Rechts wegen möglichen alternativen Resolutionsverfahren in die Abwägung einstellen.
IV. Ergebnis: Errungenschaften des Soft Law bei der Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste Gewiss fällt es wegen der moralischen und gesellschaftspolitischen Bedeutung schon eines einzelnen Restitutionsfalls schwer, die Effektivität der aktuellen Soft Law-Standards im Bereich der NS-Raubkunst in Zahlen zu erfassen. Weltweit sucht man vergebens nach gesicherten Angaben und Aufzeichnungen über die Rechtswirkungen moderner Soft Law-Standards zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste. Indes kann hier doch abschließend der Versuch einer vorsichtigen Evaluation und einer quantitativen Annäherung gewagt werden. Dabei ist freilich von vornherein stets Folgendes zu beachten: Bei der „richtigen“ Sachzuordnung NS-bedingt entzogener Raubkunst muss sich „jede schematische Lösung“ verbieten93, und die Einzelheiten jedes individuellen Sachverhalts besitzen immer höchste Entscheidungsrelevanz. 1. Als erste große Errungenschaft der einzelnen Soft Law-Standards zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste und als erster Schritt im Wiedergutmachungsprozess sind die weltweite Initiierung der Provenienzerforschung von Nr. 3 der Declaration. So mit Recht auch Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, Vorwort. 92 93
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Museumsbeständen und der möglichst umfassenden Publikation solcher Objekte anzusehen, die einen makelhaften Pedigree aufweisen und die zwischen 1933 und 1945 unrechtmäßig entzogen worden sein könnten. Damit einher gehen eine gesellschaftliche Sensibilisierung für die bis dahin ungelösten unrechtmäßigen Kulturgutverlagerungen zwischen 1933 und 1945 und eine zunehmende Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit diesem Problem. Dennoch wissen wir in Deutschland noch immer (d. h. mehr als zehn Jahre nach Beginn der Provenienzerforschung) viel zu wenig über die Einzelschicksale NS-bedingter Kulturgutverluste und über die Provenienz zahlreicher Museumsbestände. Da die einzelnen Museen meist weder personelle noch finanzielle Ressourcen für die notwendige wissenschaftliche Aufarbeitung ihrer Bestände hinsichtlich eines möglichen NS-Raubkunstcharakters besitzen, wurde mit der Errichtung der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche / -forschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz und den jährlichen Fördermitteln i.H.v. 1 Million Euro durch den Kulturstaatsminister ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan. Das Bewusstsein der einzelnen Institutionen im Hinblick auf die Suche nach NS-Raubkunst und die Bemühungen zur Rückgabe verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter wurden gestärkt. So wurde in einer Pressemitteilung der Bundesregierung vom 6. November 2009 die Förderung von 16 Projekten zur Provenienzerforschung verschiedener kultureller Einrichtungen genehmigt. Der fortwährende Erkenntniszuwachs sowie die Lokalisierung unrechtmäßig entzogener Kulturgüter und Identifizierung von deren Besitzern sollte weiterhin als dringlichste Aufgabe im Wiedergutmachungsprozess angesehen werden. In der Datenbank www.lostart.de der deutschen Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste mit Sitz in Magdeburg sind heute insgesamt etwa 110.000 Kulturgüter von 1.000 öffentlichen Stellen und Privatpersonen in Folge des Erlasses der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände 1999 zur Umsetzung der Washington Conference Principles 1999 in Deutschland gemeldet. Dazu zählt jedoch nicht nur die Problematik der NS-Raubkunst, sondern es fallen alle Kulturgüter hierunter, die in Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs verbracht, verlagert bzw. verfolgungsbedingt entzogen wurden. Hinzu kommen mehrere Millionen nicht einzeln klassifizierter und nur summarisch erfasster Sammelobjekte.94 Insgesamt fallen in etwa 13.000 Suchmeldungen unter die Kategorie der NS-Raubkunst. Dazu zählen nicht nur wertvolle Gemälde, sondern auch Geschirr, Schmuck oder Bücher mit für die Betroffenen manchmal höherem ideellen als materiellen Wert. Hinzu kommen unzählige Suchmeldungen nach Fotosammlungen, Buchbeständen, Kunstmappen oder auch Inventar.95 Andererseits ergingen im Zuge der eigenen, musealen Provenienzrecherche aber auch zahlreiche Positivmeldungen. 94 Vgl. Main Echo, Zerstreut, verloren, umstritten: Raubkunst einst und heute, Artikel vom 16. / 17. 5. 2009. 95 Vgl. Focus, Magdeburg betreibt Schatzsuche via Internet, Artikel vom 5. 1. 2009.
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Ende des Jahres 2008 hatte die Koordinierungsstelle von insgesamt 619 öffentlichen Einrichtungen – Museen und Bibliotheken – in Deutschland freiwillig Rückmeldungen bekommen. Während 549 Träger in ihren Beständen keine Hinweise gefunden haben, haben 70 Einrichtungen 6.300 Objekte benannt, bei denen der NS-Raubkunst-Charakter nicht ausgeschlossen werden kann.96 2. Die zweite große Errungenschaft der neuen Soft Law-Standards zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste besteht in der aktuellen Neuausrichtung der verschiedenen Stakeholder beim Erwerb kultureller Güter durch Rechtsgeschäft, Schenkung, Rechtsnachfolge, Tausch und Leihe. Wird vor Erwerb im Rahmen der Provenienzerforschung ersichtlich, dass sich die Objekte zwischen 1933 und 1945 in Deutschland oder einem von Deutschland besetzten Territorium befanden und hat während dieser Zeitspanne ein Eigentumswechsel stattgefunden, so sollte eine Akquisition regelmäßig nur noch dann erfolgen, wenn ein unrechtmäßiger Entziehungsakt mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Auf diese Weise nehmen heute öffentliche Museen und kulturelle Institutionen grundsätzlich ebenso wie Kunsthändler und Galeristen vom Erwerb und Auktionshäuser von der Versteigerung makelhafter Objekte Abstand, sodass sich gleichzeitig der Markt für NS-Raubkunst deutlich einengt. 3. Dritter Vorteil der rechtlich unverbindlichen Verhaltensstandards ist die Institutionalisierung des Wiedergutmachungsprozesses NS-bedingter Kulturgutverluste durch zahlreiche neu eingerichtete Organe, Einrichtungen und Organisationen als Mediatoren und Kompetenzzentren. 97 Die Limbach-Kommission kann beispielsweise in Deutschland bei Differenzen über die Rückgabe von Raubkunst angerufen werden, die sich heute in Museen, Bibliotheken, Archiven oder anderen öffentlichen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland befindet, und soll hier eine Mediatorrolle zwischen den Trägern der Sammlungen und den ehemaligen Eigentümern der Kulturgüter bzw. deren Erben übernehmen und Empfehlungen aussprechen, wenn dies von beiden Seiten gewünscht wird. Die Commission pour l’indemnisation des victimes de spoliations intervenues du fait des législations antisémites en vigueur pendant l’Occupation (CIVS)98 wurde im September 1999 durch den Premierminister der Republik Frankreich eingesetzt und hat Ansprüche von Personen zu prüfen, welche unter der Vichy-Regierung und während der deutschen Okkupation Frankreichs wegen der Diskriminierung und Verfolgung der Juden Unrecht erlitten hatten. Beispielhaft kann schließlich noch auf das britische Spoliation Advisory Panel99 verwiesen werden, das seit 2001 bislang neun Recommendations 96 Vgl. zu den Zahlen die Angaben von Franz, Leiter der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, in einem Interview mit der Badischen Zeitung, Die Fakten sind schwer zu rekonstruieren, Artikel vom 10. 10. 2008. 97 Vgl. zu einer Linkliste staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen die Verweise unter www.lostart.de. 98 Vgl. http: //www.civs.gouv.fr/. 99 Vgl. http: //www.culture.gov.uk/what_we_do/cultural_property/3296.aspx.
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zur Lösung von Restitutionsklagen von Personen bzw. deren Erben aussprach, die aufgrund des NS-Unrechtsregimes Kunstwerke verloren, welche sich in der Folge in nationalen britischen Sammlungen befanden. Das Panel berät dabei sowohl die Anspruchsteller als auch die Institutionen und stellt so – ebenso wie die LimbachKommission – eine Alternative zu einem gerichtlichen Verfahren dar, um eine faire und gerechte Lösung für die Beteiligten zu erreichen. Im Gegensatz zur deutschen Regelung ist für eine Empfehlung des Spoliation Advisory Panel jedoch lediglich ein Antrag des Alteigentümers erforderlich, sodass die nationalen Museen und Sammlungen daher verpflichtet sind, sich an einem entsprechenden Verfahren zu beteiligen. Besonderheit ist, dass auf Antrag beider Parteien Restitutionsforderungen nicht nur gegen öffentliche Träger, sondern auch gegen Privatpersonen beurteilt werden. Durch die Institutionalisierung spezieller Gremien und Kompetenzzentren wird nicht nur eine Verstetigung des Wiedergutmachungsprozesses bei NSbedingten Kulturgutverlusten erreicht, sondern insbesondere auch eine förmliche Komponente in die unverbindlichen Soft Law-Standards inkorporiert, die im außergerichtlichen Verfahren als Mediator eine Empfehlung oder Recommendation aussprechen und so aktiv zur kulturpolitischen Meinungsbildung der Gesellschaft beitragen können. Das Fehlen eines solchen Spezialgremiums wird beispielsweise in der Literatur für den amerikanischen Rechtskreis bemängelt, in dem die oben genannten Guidelines allein den einzelnen Museen die Umsetzung der Washington Conference Principles übertragen haben.100 4. Als weitere Errungenschaft der neuen Soft Law-Standards zur Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste kann ein höheres Maß an Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des Entscheidungsfindungsprozesses durch die selbstverpflichtende Festschreibung materieller Restitutionsvoraussetzungen genannt werden, wie sie für den deutschen Rechtsraum etwa durch die Handreichung zur Gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1999 (i.d.F. 2007) erfolgt ist. Dies ist von besonderem Wert, um einen einheitlichen, an vergleichbaren Wertentscheidungen ausgerichteten Entscheidungsfindungsprozess für tatsächliche Fallkonstellationen zu gewährleisten, die sich eigentlich jeder Vergleichbarkeit entziehen und für die keine „harten“ Rechtsregeln das „richtige“ Verhalten vorgeben. Für Deutschland wird dies über den Verweis auf die Anwendung des alliierten Rückerstattungsrechts erreicht.101 Eine „faire und gerechte Lösung“ ist danach mit den Anspruchstellern dann zu suchen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: – In einem ersten Prüfungsschritt ist ein unrechtmäßiger Kulturgutverlust festzustellen. Das fällt bei direkten Zwangsmaßnahmen (d. h. Beschlagnahme, Sicherstellung und Konfiskation) zumeist nicht schwer. Bei formal ,freiwilligen‘, 100 Vgl. Rowland, Have U.S. Museums Lived up to the Promise of the Washington Conference?, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NSRaubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 157 ff., insb. S. 175 ff. 101 Vgl. ausführlich hierzu Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 192 ff.
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tatsächlich jedoch unter Drohung, Zwang und Gewalt erfolgten Entziehungstatbeständen spricht eine gesetzliche Vermutung für die Unrechtmäßigkeit, wenn der Veräußerer zu den verfolgten Personengruppen gehörte. Es genügt der Nachweis, dass die Veräußerung des Kulturguts in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 geschah und der Veräußerer Teil der NS-verfolgten jüdischen Bevölkerungsgruppe war. – In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die Vermutung eines unrechtmäßigen Entziehungsaktes durch den Beweis widerlegt werden kann, dass dem Veräußerer ein „angemessener Kaufpreis“ bezahlt worden ist und dieser „frei darüber verfügen“ konnte. – Für Kulturgutverluste nach dem 14. September 1935 und damit seit Annahme der sog. Nürnberger Rassengesetze am 15. September 1935 ist für eine Widerlegung der Entziehungsvermutung zusätzlich der Beweis zu erbringen, dass das Rechtsgeschäft in seinem wesentlichen Inhalt auch ohne die NS-Unrechtsherrschaft erfolgt wäre oder dass der Erwerber die Vermögensinteressen des Verfolgten oder seines Rechtsvorgängers in außergewöhnlicher Art und Weise und mit wesentlichem Erfolg, insbesondere durch Mitwirkung bei einer Vermögensübertragung ins Ausland, wahrgenommen hat.
5. Liegt ein unrechtmäßiger Vermögensverlust i. S. d. obengenannten Prüfungsschemas vor, ist eine „faire und gerechte Lösung“ zwischen den Beteiligten zu suchen. Rechtsdogmatisch können hier in Zukunft insbesondere Fragen der Selbstbindung der Verwaltung bei Restitutionsentscheidungen und die Auswirkungen des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG bedeutsam werden.102 Es bestehen gute Gründe für die Annahme, dass die Washingtoner Erklärung und die deutsche Gemeinsame Erklärung die Ausübung des Ermessens durch die Träger öffentlicher Einrichtungen beim Umgang mit NS-Raubkunst regeln, sodass in einem Restitutionssachverhalt (d. h. einem NS-bedingten Kulturgutverlust zwischen 1933 und 1945) die Träger der öffentlichen Verwaltung zur Rechtfertigung einer Abweichung vom Restitutionsgrundsatz Gründe anführen müssten, wenn sie sich nicht dem Vorwurf einer Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots aussetzen wollten.103 6. Anders als „harte“ Rechtsvorschriften erlauben die Soft Law-Standards Lösungen sehr verschiedener Art zwischen den beiden Parteien im Umgang mit 102 Vgl. Anton, Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht, Band 1: Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010, 6. Teil, Rn. 345. 103 Von Trott zu Solz / Gieren, ZOV 2006, S. 256 ff., S. 256. Dagegen Crezelius, Die Umsetzung der sogenannten Washingtoner Prinzipien, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 133 – 155, mit der Forderung nach einem ,Restitutionsgesetz‘. Dagegen auch Kiechle, Gut gemeint genügt nicht – Die Rückgabe von Kirchners Straßenszene war rechtswidrig, FAZ, Artikel vom 7. 2. 2007, S. 35.
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NS-Raubkunstfragen und können so zu einer flexiblen Streitbeilegung beitragen. Nach der deutschen Handreichung zur Gemeinsamen Erklärung vom Dezember 1999 (i.d.F. 2007) sind in den Abwägungsvorgang einzustellen – der Umstand, dass ein Objekt mit aufwendigen musealen Leistungen über einen längeren Zeitraum erhalten und öffentlich zugänglich gemacht wurde, – die Notwendigkeit, eine gewisse Zeitspanne für die Finanzierung vorzusehen, wenn bei Verhandlungen mit den Erben seitens der Einrichtung der Wunsch nach dem Erwerb des Objekts besteht, und – die Schwierigkeiten der Beteiligten bei der Erbringung von Nachweisen.104
Modelle für die Abwicklung von Rückgabeverfahren können in der Regel Rückgabe oder Rückkauf von Kunstwerken aus ehemals jüdischem Eigentum sein. Während in den meisten Konstellationen die Anspruchsteller insbesondere die Rückführung in specie fordern, wurde in dem Restitutionsgesuch der Block-Erben hinsichtlich des Werkes „Stillleben mit Porzellankanne“ von Willem Kalf von 1653 gegenüber den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen aus dem Jahr 2003 ersichtlich, dass die Veräußerung des Gemäldes zu einem „fairen Preis“ an den Freundeskreis des Museums, der es nun dem Haus als Dauerleihgabe zur Verfügung stellt, eine alle Seiten zufrieden stellende Lösung bieten kann.105 Darüber hinaus ist aber auch denkbar, den ursprünglichen Berechtigten bzw. deren Erben das Angebot einer Tauschvereinbarung oder den Abschluss eines (Dauer-)Leihvertrages zu unterbreiten. Eine bereits geleistete Wiedergutmachungszahlung könnte etwa auch dazu führen, dass der Verbleib des Kunstwerks bei der öffentlichen Institution einer „gerechten und fairen Lösung“ dient, wenn der damals Berechtigte dies im Rahmen der Wiedergutmachung zum Ausdruck gebracht hat. Schließlich ist bei dem Wunsch nach weiterer öffentlicher Ausstellung daran zu denken, den Raubkunstcharakter eines Kunstwerks mit Hinweisen auf seine Provenienz und das Schicksal seiner ehemaligen Eigentümer kenntlich zu machen und so zu einer „gerechten und fairen Lösung“ zu gelangen.106 7. Schließlich sind jeder einzelne Restitutionstatbestand, jede „gerechte und faire Lösung“ nach einer Rückführungsforderung und jede Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste als Erfolg der neuen Soft Law-Standards zu würdigen. In wie vielen Fällen NS-Raubkunstwerke jedoch tatsächlich restituiert wurden, ist nur schwer zu beziffern, da keine diesbezügliche Meldepflicht seitens der 104 Vgl. Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 vom Februar 2001, überarbeitet im November 2007, S. 30 – 32. 105 Vgl. ausführlich hierzu FAZ, Artikel vom 24. Juni 2008, S. 39. 106 Vgl. Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 vom Februar 2001, überarbeitet im November 2007, S. 30 – 32.
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Museen besteht und zahlreiche Fallkonstellationen schon von Anfang an vertraulich behandelt und der Öffentlichkeit nicht kenntlich werden. Die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste besitzt für den deutschen Rechtsraum bislang Kenntnis von etwa 50 – 60 Fällen, wobei eine nicht näher zu quantifizierende Dunkelziffer besteht, da häufig beide involvierten Parteien vertraulich bleiben.107 Ebenso wie innerhalb Deutschlands lässt sich auch für die amerikanische Museenlandschaft kontrovers diskutieren, ob mittels der beschriebenen selbstverpflichtenden Codes of Conduct trotz deren rechtlich unverbindlichen Charakters ein Erfolg in der Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste erreicht werden konnte.108 Nach einer Analyse von etwa 18 Millionen Kunstwerken im Bestand amerikanischer Museen steht fest, dass ca. 25.000 Objekte einem möglichen Rechtswidrigkeitsverdikt unterfallen und gegebenenfalls als Raubkunst zu qualifizieren sind, sodass weitere Nachforschungen anzustellen sind. In zahlreichen Fällen wurden diese Ergebnisse auch auf den Internetseiten der Museen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Insgesamt wurden zwischen 1998 und 2006 jedoch (nur?) 22 Kulturgüter als NS-bedingt entzogene Raubkunst an die Erben bzw. deren Rechtsnachfolger restituiert bzw. einvernehmliche Vereinbarungen über den dauerhaften Verbleib der Objekte in den Museen getroffen. . Dementsprechend lässt sich die Kritik zu weiten Teilen nachvollziehen, dass „it is more the exception rather than the rule that U.S. museums seek out heirs and reach fair and just solutions with them.“109 Anspruchsteller werden so seitens der Museen eher als Gegner in einem streitigen Verfahren denn als mit großem Unrecht versehene Opfer des NS-Unrechtsregimes betrachtet, die zwar nicht zwingend rechtliche, jedoch gute moralische Gründe für eine Rückführung ,ihrer‘ Objekte ins Feld führen können. Diese Tendenz drückt sich neuerdings auch in verschiedenen amerikanischen Gerichtsverfahren aus, in denen Museen – als potenzielle Rückgabeschuldner – selbst als klagende Institutionen gegen mögliche Restitutionsgläubiger auf Feststellung ihrer eigenen Eigentumsposition an den umstrittenen Kunstwerken vorgehen.110 Es erscheint jedoch fraglich, ob auch in So die Auskunft von Dr. Michael Franz vom 10. 11. 2009 (Koordinierungsstelle). Dies bejaht (aus verständlichen Gründen) die Association of Art Museum Directors in dem Position paper Art Museums and the Identification and Restitution of Work Stolen by the Nazis vom Mai 2007. Dagegen: Rowland, Have U.S. Museums Lived up to the Promise of the Washington Conference?, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NS-Raubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 157 ff. 109 Rowland, Have U.S. Museums Lived up to the Promise of the Washington Conference?, in: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Verantwortung wahrnehmen. NSRaubkunst – Eine Herausforderung an Museen, Bibliothek und Archive (Symposium am 11. und 12. Dezember 2008), 2009, S. 157 ff., S. 159. 110 So hatte bspw. der United States District Court N. D. Ohio, Western Division, am 28. 12. 2006 in der Rechtssache Toledo Museum of Art v. Claude George Ullin et al. über die ,richtige‘ Sachzuordnung des Paul Gauguin-Gemäldes ,Straßenszene in Tahiti‘ an die Rechtsnachfolger der ursprünglichen, jüdischen Eigentümerin Martha Nathan zu entscheiden. 107 108
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Deutschland der Öffentlichkeit frei zugängliche und einer Gesellschaft der „Dichter und Denker“ insgesamt verpflichtete Kulturhäuser – unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung in öffentlicher oder privater Trägerschaft – auf Dauer gut damit beraten sein werden, entsprechend der neuesten amerikanischen Rechtsentwicklung „harte“ Rechtseinwände nicht nur als Schild, sondern vielmehr als Schwert gegen die auf moralischen Gründen ruhende Suche nach „fairen und gerechten Lösungen“ im Umgang mit NS-bedingten Kulturgutverlusten zu instrumentalisieren. Hier müssen die Träger einer jeden kulturellen Institution letztendlich selbst darüber entscheiden, ob eine stillschweigende Inkorporation auch belasteter Objekte in die eigenen Sammlungsbestände nicht dem kulturellen Auftrag öffentlicher Institutionen, dem eigenen Anspruch in der Wahrung der kulturellen Identität der Menschheit, der Ethik und dem Geist des musealen Sammlungsauftrages widerspricht. 9. Der Weg zur fortwährenden Wiedergutmachung NS-bedingter Kulturgutverluste durch öffentliche Kulturinstitutionen ist heute in Deutschland vorgezeichnet: Es bestehen in Zukunft zwar dringend steigerungsfähige, inzwischen jedoch erste dauerhafte Ansätze einer institutionellen Provenienzrecherche und der öffentlichen Inkenntnissetzung über deren Ergebnisse. Die Limbach-Kommission kann (zugegeben: unter engen Umständen) kultur- und gesellschaftspolitisch prägsame Empfehlungen aussprechen. Es hat sich ein einheitliches System und faires Verfahren wechselseitiger Beweis- und Vermutungsregelungen bei der Bestimmung eines verfolgungsbedingten Vermögensverlustes herausgebildet, um schließlich „faire und gerechte Lösungen“ weniger auf rechtlicher als vielmehr auf moralischer Grundlage zu erzielen. Diese Anstrengungen hat die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (die sog. Claims Conference) gewürdigt und Deutschland zusammen mit Österreich, der Tschechischen Republik und den Niederlanden anlässlich der Holocaust Era Assets Conference in Prag im Juni 2009 als Länder qualifiziert, „that have made major progress towards implementing the Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“. Dieser moralischen Verantwortung sollten die Träger deutscher Museen weiterhin gerecht werden, keine eigenen Eigentumsinteressen an eindeutig als NS-Raubkunst qualifizierten Objekten artikulieren und so dem humanistischen Anspruch unserer Gesellschaft auf Wiedergutmachung nationalsozialistischen Regimeunrechts gerecht werden – auch wenn der Wiedergutmachungsprozess im Einzelfall zu einem dauerhaften Verlust einzelner Objekte für die Öffentlichkeit führen kann.
Die UN-Konvention über den Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser und das Internationale Sachenrecht Von Kurt Siehr* I. Einleitung Die Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage (Übereinkommen über den Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser) vom 2. 11. 2001 ist am 2. 1. 2009 zwischen den ersten Vertragsstaaten in Kraft getreten.1 Dieses Übereinkommen hat seinen Ursprung in einer Resolution des „Cultural Property Committee“ der International Law Association (ILA), deren Mitglied auch Wilfried Fiedler war.2 In unseren Seminaren über „Kunst und Recht“, die wir seit dem Wintersemester 1995 auf der Rigi / Schweiz gemeinsam veranstaltet haben, ist von diesem Übereinkommen noch nicht die Rede gewesen. Es ist erst später ausgearbeitet und dann diskutiert worden. So mag mein Beitrag zur Festschrift für Wilfried Fiedler eine nachträgliche Ergänzung unseres Gesprächs über Kulturgüterschutz bilden * Professor em. der Universität Zürich; freier Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. – „Artikel“ ohne weitere Bezeichnung beziehen sich auf Artikel des in Fn. 1 genannten Übereinkommens; „Rules“ ohne weitere Bezeichnung beziehen sich auf die „Rules Concerning Activities Directed at Underwater Cultural Heritage“ im Anhang zu dem in Fn. 1 genannten Übereinkommen. 1 International Journal of Cultural Property 11 (2002) 107; International Legal Materials 41 (2002) 40. Zum Inkrafttreten des Übereinkommens vgl. Kurt Siehr, Chronicles 2009: International Journal of Cultural Property 17 (2010) Heft 4. Heute (1. 2. 2010) haben 31 Staaten (darunter acht EU-Mitgliedstaaten: Bulgarien, Italien, Litauen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Spanien) das Übereinkommen ratifiziert, aber in den wenigsten Fällen umgesetzt. Vgl. http: //portal.unesco.org/la/convention.asp?KO=13520&language=E&order= alpha vom 5. 2. 2010 Zu den offenen, aber z. B. in Spanien noch nicht geregelten Fragen vgl. Mariano J. Aznar-Gómes, Spain, bei: Sarah Dromgoole (Hrsg.), The Protection of the Underwater Cultural Heritage. National Perspectives in Light of the UNESCO Convention 2001, 2. Aufl. Leiden / Boston 2006, 271 – 295 (288 ff.). 2 International Law Association (Hrsg.), Report of the Sixty-Sixth Conference held at Buenos Aires, Argentina 14 to 20 August 1994, Buenos Aires 1994, 432 – 447; ebenfalls in Roberta Garabello / Tullio Scovazzi (Hrsg.), The Protection of the Underwater Cultural Heritage, Leiden / Boston 2003, 230 ff. Zum ILA Draft vgl. Patrick J. O’Keefe, Shipwrecked Heritage. A Commentary on the UNESCO Convention on Underwater Cultural Heritage, Leicester 2002, 21 – 23; 192 – 197 (Draft).
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und meinem Freund und Kollegen Wilfried Fiedler in großer Dankbarkeit und aufrichtiger Verehrung gewidmet sein.
II. Geschichte Der Schutz von Kulturgütern unter Wasser ist jünger als die Bewahrung der auf dem Land gefundenen oder sich befindenden Kunstwerke. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass die Unterwasserarchäologie verhältnismässig jungen Ursprungs ist und bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts praktisch unbekannt war.3 Das änderte sich erst mit dem Aufkommen von Schnorcheln und anderen Methoden, die dem Menschen Zugang zu Funden unter Wasser erlaubten.4 Die ersten nationalen Gesetze über Schiffswracks stammen aus dem Vereinigten Königreich5 und aus Australien6. Die Vereinigten Staaten reagierten erst im Jahr 1987.7 In der Zwischenzeit verhandelte man seit 1973 über das Seerechtsübereinkommen (SRÜ), das am 10. 12. 1982 mit der Unterzeichnung der United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) seinen Abschluss fand.8 Diese Übereinkommen sieht in seinem Art. 149 über „Archäologische und historische Gegenstände“ folgendes vor: „Alle im Gebiet [Meeresboden und Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse] gefundenen Gegenstände archäologischer oder historischer Art werden zum Nutzen der gesamten Menschheit [mankind as a whole] bewahrt und verwendet, wobei die Vorzugsrechte des Ursprungsstaats oder -lands, des Staates des kulturellen Ursprungs oder des Staates des historischen oder archäologischen Ursprungs besonders zu berücksichtigen sind.“
In der allgemeinen Bestimmung des Art. 303 SRÜ über „Im Meer gefundene archäologische und historische Gegenstände“ wird vorgeschrieben: „(1) Die Staaten haben die Pflicht, im Meer gefundene Gegenstände archäologischer oder historischer Art zu schützen, und arbeiten zu diesem Zweck zusammen. (2) Um den Verkehr mit diesen Gegenständen zu kontrollieren, kann jeder Küstenstaat in Anwendung des Artikels 33 [Kontrolle der Küstenstaaten in Anschlusszone] davon ausgehen, dass ihre ohne seine Einwilligung erfolgende Entfernung vom Meeresboden inner3 Vgl. Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Veränderungen europäischer Lebenskultur durch Fluß- und Seehandel. Beiträge zum Internationalen Kongreß für Unterwasserarchäologie (IKUWA ’99) 18. – 21. Februar 1999 in Sassnitz auf Rügen, Lübstorf 2000, 595 ff.: Diskussion A: Gesetzgebung und Schutz des Kulturerbes. 4 Zu den Anfängen der Unterwasserarchäologie in den 1960er Jahren vgl. O’Keefe, oben Fn. 2, 5 – 13. 5 Protection of Wrecks Act 1973, 1973 chapter 33. 6 Historic Shipwrecks Act 1976, Act no. 190 of 1976. 7 Abandoned Shipwreck Act 1987, 43 U.S.C.A. §§ 2101 – 2106 (2007 und 2009 Cumulative Annual Pocket Part). 8 1833 U.N.T.S. 397; BGBl. 1994 II S. 1798; Abl. EG 1998 Nr. L 179 / 3.
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halb der in jenem Artikel bezeichneten Zone zu einem Verstoß gegen die in jenem Artikel genannten Gesetze und sonstigen Vorschriften [Zoll- und Finanzgesetze und sonstige Gesetze, die im Hoheitsgebiet oder seinem Küstenmeer verletzt werden] in seinem Hoheitsgebiet oder in seinem Küstenmeer führen würde. (3) Dieser Artikel berührt nicht die Rechte feststellbarer Eigentümer, das Bergungsrecht oder sonstige seerechtliche Vorschriften sowie Gesetze und Verhaltensweisen, auf dem Gebiet des Kulturaustausches. (4) Dieser Artikel berührt nicht andere internationale Übereinkünfte und Regeln des Völkerrechts über den Schutz von Gegenständen archäologischer oder historischer Art.“
Bald nach Inkrafttreten des Seerechtsübereinkommens am 16. 11. 1994 nahm das „Cultural Property Committee“ der International Law Association seine Arbeit auf und unterbreitete der UNESCO seinen Vorschlag, der schliesslich am 2. 11. 2001 zu dem UN Übereinkommen über den Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser führte.
III. Übereinkommen Wieso, so fragt man sich, ist ein UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser überhaupt notwendig? Es gibt doch auch keinen universellen Staatsvertrag über den Schutz von Kulturgut, das auf dem Lande gefunden wird.9 Der Unterschied beruht auf drei Besonderheiten des Seerechts. (1) Auf hoher See gibt es keine exklusive Hoheitsgewalt, die das Eigentum an Funden dem Grundeigentümer, dem Finder oder beiden oder dem Staat zusprechen könnte. (2) Viele Funde unter Wasser haben häufig noch einen Eigentümer, der allerdings aus Kostengründen oder aus Gründen mangelnder Hilfsmittel sein Wrack nicht bergen wollte oder konnte. (3) Im Seerecht gibt es bereits Regeln über Bergung (law of salvage and law of finds10), die allerdings auf die Besonderheiten von Kulturgüterschutz keine Rücksicht nehmen.11 Dies sind Fragen, deren sich das Übereinkommen annehmen muss. Das Übereinkommen regelt – ausser den üblichen Definitionen und Übergangsregelungen (1) – noch drei weitere Fragen: (2) Wer ist für den Schutz von Kulturerbe unter Wasser zuständig? (3) Welches sind die übrigen Rechte und Pflichten der Beteiligten?; und (4) welche Sanktionen können bei Zuwiderhandlungen ge9 Vgl des regionale europäische Übereinkommen vom 16. 1. 1992 zum Schutz des archäologischen Erbes, European Treaty Series No. 143. 10 „Bergung“ bezieht sich auf Schiffe, deren Eigentümer feststeht, während das Fundrecht (law of finds) sich auf Gegenstände bezieht, die – wie Fische – niemandem gehören oder die vom Eigentümer aufgegeben (abandoned) wurden: vgl Sunken Treasure v. Unidentified Wrecked Vessel, 857 F.Supp. 1129, 1132 (D.C.V.I.1994). 11 Vgl. z. B. International Convention of 28 April 1989 on Salvage, Transportrecht 1989, 341, und bei: Dieter Rabe, Seehandelsrecht, 4. Aufl. München 2000, § 753 Anhang II. Zum ganzen vgl. Hans-Jürgen Puttfarken, Seehandelsrecht, Heidelberg1997, 309 ff.
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troffen werden? Das Übereinkommen selbst regelt nicht die Frage des Eigentums, sondern lediglich die Frage, wie Kulturgut am besten zu schützen ist. 1. Definitionen und Schutzprinzipien a) Definitionen Als Kulturgut unter Wasser gelten alle Spuren menschlicher Existenz kulturellen, historischen oder archäologischen Charakters, die mindestens seit 100 Jahren ganz oder teilweise unter Wasser waren (Art. 1 Abs. 1 lit.a). Da diese Zeit von 100 Jahren vom Datum der Konvention (2. 11. 2001) zurückgerechnet werden dürfte, fällt die R.M.S. Titanic, untergegangen am 14. / 15. 4. 1912, nicht unter das Unterwasserkulturgut im Sinne des Übereinkommens von 2001. Weitere Definitionen enthält Art. 1 Abs. 2 – 9. b) Schutzprinzipien Von den Schutzprinzipien, die Art. 2 aufzählt, seien nur vier erwähnt. (1) Kulturgut darf nicht kommerziell ausgebeutet (shall not be commercially exploited), sondern sollte – ohne Rücksicht auf eventuell noch bestehendes Eigentum – zugunsten der gesamten Menschheit fachmännisch geborgen werden. (2) Vorrang geniesst der Schutz in situ, bevor eine Bergung möglich ist und nach den Rules begonnen werden kann. (3) Menschliche Überreste (human remains) sind würdig and angemessen zu behandeln. (4) Die Konvention garantiert keine Immunität für Kriegsschiffe, sondern überlässt diese Frage dem Völkerrecht. 2. Zuständigkeiten und Kooperation Kulturgut unter Wasser soll geschützt, bewahrt und nach fachgerechten Methoden gehoben und behandelt werden. Dies legt der bereits genannte Art. 2 fest, und er ist damit die zentrale Vorschrift des Übereinkommens. Wer diesen Schutz ausübt und koordiniert, hängt davon ab, wo sich das Kulturgut befindet. a) Innere Gewässer, Gewässer von Archipelstaaten und Küstenmeer Kulturgut, das in inneren Gewässern (internal waters), Gewässern von Archipelstaaten (archipelagic waters) oder im Küstenmeer (territorial sea) gefunden wird, unterliegt der Hoheitsgewalt des Küstenstaates (Art. 7). Er hat den Schutz zu gewährleisten und die Bergung solcher Gegenstände zu regeln. Wie das zu geschehen hat, sagen die „Rules Concerning Activities Directed at Underwater Cultural Heri-
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tage“12, die als Anhang zum Übereinkommen als Teil des Übereinkommens gelten (Art. 33). Was jedoch, wenn im Küstenmeer das Wrack eines Staatsschiffes gefunden wird, das die Flagge eines anderen als des Küstenstaates führte, und das Wrack nie aufgegeben wurde? Art. 7 Abs. 3 verpflichtet in diesem Fall den Küstenstaat, den Flaggenvertragsstaat und andere Staaten, zu denen eine kulturelle, historische oder archäologische Beziehung besteht, über den Fund zu informieren und eine Zusammenarbeit mit diesen Staaten zu erreichen. Ein Beispiel aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens bildet eine amerikanisch-französische Vereinbarung über die CSS [Confederate States Steamer] Alabama, die am 19. 6. 1866 (sie wäre also Kulturgut i.S. des Art. 1 Abs. 1 lit. a, weil über 100 Jahre unter Wasser) im amerikanischen Bürgerkrieg als Schiff des Konföderierten ungefähr sieben Seemeilen vor der französischen Küste bei Cherbourg gesunken war und im Jahr 1984 von einem französischen Minensuchboot gefunden wurde. Als die amerikanische Regierung davon erfuhr, machte sie ihre Rechte als Flaggenstaat geltend und schloss schließlich am 3. 10. 1989 eine Vereinbarung über die Bergung mit Frankreich ab.13 Ähnliche Konflikte gibt es auch bei Wracks, die ausserhalb des Küstenmeers gefunden werden. In der Bundesrepublik Deutschland wären für den Schutz von Kulturgut in Küstengewässer die Länder zuständig, also Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.14 Diese Länder schützen bereits Kulturgut unter Wasser, und zwar entweder – wie in Mecklenburg-Vorpommern15 und Schleswig-Holstein16 – ausdrücklich oder – wie in Hamburg (Elbemündung um Neuwerk und Scharhörn)17 und Niedersachsen18 – stillschweigend und durch spezielle Vorschriften, aus denen hervorgeht, dass auch Bodenfunde im Wasser geschützt sind.
Abgedruckt bei Garabello / Scovazzi, oben Fn. 2, 225. Arrangement entre le Gouvernement de la République française et le Gouvernement des États-Unis d’Amérique au sujet de l’épave du CSS Alabama du 3 octobre 1989: Rev.gén.droit int.public 93 (1989) 975. Hierzu vgl. J. Ashley Roach, France Concedes United States has Title to CSS Alabama: Am. J. Int. L.85 (1991) 381 – 383 (383). 14 Bremen hat offenbar nur Küstengewässer in der Weser, vgl. § 11 Bremisches Fischereigesetz vom 17. 9. 1991, Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen 1991, 309, 311. 15 § 2 Abs. 5 Denkmalschutzgesetz, abgedruckt in der geltenden Fassung von 2006 bei: Rudolf Stich / Wolfgang E. Burhenne / Ernst-Rainer Hönes / Ursula Kunz, Denkmalrecht der Länder und des Bundes, Bd. 1, Berlin 2009, unter Nr. 250 S. 11. 16 § 1 Abs. 2 Gesetz zum Schutze der Kulturdenkmale (Denkmalschutzgesetz), abgedruckt in der geltenden Fassung vom 2005 bei: Stich / Burhenne / Hönes / Kunz, vorige Fn., unter Nr. 285 S. 11. 17 § 2 Nr. 4 Denkmalschutzgesetz, bei: Stich / Burhenne / Hönes / Kunz, oben Fn. 15, unter 240. S. 11. 18 § 14 des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetz, abgedruckt in der geltenden Fassung von 2004 bei: Stich / Burhenne / Hönes / Kunz, oben Fn. 15, unter Nr. 255 S. 11. 12 13
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b) Anschlusszone Kulturgut, das in der Anschlusszone (contiguous zone) gefunden wird, also 24 Seemeilen von der Basislinie entfernt (Art. 33 Abs. 2 SRÜ), kann vom Küstenstaat – unter Wahrung der Art. 9 und 10 und in Übereinstimmung mit Art. 303 Abs. 2 SRÜ – geschützt werden. Im Übrigen gelten auch für diese Zone die Art. 9 und 10. c) Ausschliessliche Wirtschaftszone und Festlandsockel Für die ausschließliche Wirtschaftszone (exclusive economic zone, 200 nautical miles from the baselines) und den Festlandsockel (continental shelf) gelten die Art. 9 und 10. Auf beide Zonen, obgleich meistens identisch,19 wird in diesen Regeln eine gewisse Hoheitsgewalt für den Kulturgüterschutz auf die Küstenstaaten übertragen. Sie nehmen für diese Gebiete als „küstenstaatliche Funktionshoheitsräume“ gewisse Aufgaben wahr. Art. 9 verpflichtet zu Information und Unterrichtung. Wer ein Kulturgut lokalisiert hat, muss den Vertragsstaat, in dessen Wirtschaftszone oder Festlandsockel die Sache liegt, informieren, und dieser Küstenstaat ist hat den Generaldirektor von UNESCO zu unterrichten. Eine Ausnahme gilt für Kriegsschiffe nach Art. 13. Der Generaldirektor seinerseits informiert dann alle Vertragsstaaten von dem Fund, und jeder dieser Staaten, der ein kulturelles, historisches oder archäologisches Interesse an dem Fund hat, kann dem Küstenstaat sein Interesse mitteilen und um Konsultation über den Schutz des gefundenen Kulturgutes bitten. In Art. 10 wird geregelt, wie Kulturgut, das in der ausschliesslichen Wirtschaftszone und auf dem Festlandsockel gefunden wird, geschützt werden soll. d) Gebiet (area) Wird Kulturgut auf dem Meeresboden oder dem Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationales Hoheitsbefugnisse (area) gefunden, gelten die besonderen Regeln der Art. 11 – 13. In diesen Fällen gibt es keine ausschließlichen Hoheitsrechte eines Staates, vielmehr nur Rechte und Pflichten aller Vertragsstaaten, die nach Art. 149 SRÜ Kulturgüter unter Wasser zu schützen haben. Deshalb sieht Art. 11 vor, dass jeder Vertragsstaat seine Marine und Kapitäne verpflichtet, jeden Fund ihm zu melden, damit der Vertragsstaat seinerseits den Generaldirektor der UNESCO und den Generalsekretär des Internationalen Meeresbodenbehörde (Art. 156 SRÜ: International Seabed Authority in Kingston, Jamaika) informieren kann. Der Generaldirektor des UNESCO benachrichtigt dann alle Vertragsstaaten, 19 Ronald Herzog, Kulturgut unter Wasser. Schatzsucher, das Seevölkerrecht und der Schutz des kulturellen Erbes, Aachen 2002, 165.
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die ihrerseits wegen ihrer anerkannten kulturellen, historischen oder archäologischen Verbindung zu dem Fund ihr Interesse an dem Fund und seiner Bergung anmelden können (Art. 11 Abs. 4). Im Fall der R.M.S. Titanic zum Beispiel, die am 14. / 15. 4. 1912 mit ca. 1500 Personen unterging und am 1. 9. 1985 in ca. 3800 Meter Tiefe ungefähr 400 Seemeilen östlich der Küste von Neufundland von einem amerikanischen Forschungsschiff gefunden wurde,20 wäre – wenn die USA Vertragsstaat wären, das Schiff unter das Übereinkommen fiele (was nicht der Fall ist, weil noch nicht 100 Jahre unter Wasser) und das Übereinkommen umgesetzt hätten – der Kapitän des amerikanischen Schiffes verpflichtet gewesen, den Fund zu melden, damit die USA den Generalsekretär des UNESCO verständigen können und dieser das Vereinigte Königreich, vorausgesetzt es wäre Vertragsstaat, benachrichtigen und dieses sein Interesse anmelden kann. Ohne staatsvertragliche Bindung haben sich die Vereinigten Staaten bereits für zuständig erklärt, dem amerikanischen Forschungsschiff das exklusive Bergungsrecht als „Finder“ des Wracks zuzuerkennen, aber anderen Unternehmen zu gestatten, die R.M.S Titanic zu filmen und Aufnahmen zu machen.21 e) Zwischenergebnis Vor Inkrafttreten des SRÜ von 1982 konnte jeder Staat auf Hoher See mehr oder weniger machen, was er wollte. Wenn internationale Abmachungen fehlen, konnte er nach eigenen Vorschriften in diesem Gebiet tätig werden. Dies hat sich seit Inkrafttreten des SRÜ am 16.11. 1994 und des UNESCO-Übereinkommens von 2001 am 2. 1. 2009 (noch nicht jedoch für die Bundesrepublik) geändert. Für das Küstenmeer, also die staatlichen Hoheitsgewässer hat der Küstenstaat die ausschließliche Zuständigkeit mit gewissen Verpflichtungen gegenüber anderen Vertragsstaaten des UNESCO-Übereinkommens. Die Anschlusszone, die ausschließliche Wirtschaftszone und der Festlandssockel sind dagegen sog. „küstenstaatliche Funktionshoheitsräume“ mit bestimmen Rechten und Pflichten. Die Hohe See dagegen ist ein „globaler Staatengemeinschaftsraum“, dessen Ressourcen „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (common heritage of mankind) darstellen (Art. 136 SRÜ). Auch für Funde in diesem Gebiet gibt es Verpflichtungen aller Parteien in Bezug auf dort lagernde Kulturgüter. Diese Normen sind in nationales Recht umzusetzen. Die Vertragsstaaten müssen also z. B. Behörden benennen, welche die Aufgaben von Küstenstaaten wahrneh20 Vgl. Robert D. Ballard / Rick Archbold, Das Geheimnis der Titanic 3800 Meter unter Wasser, 3. Aufl. Berlin 1988. 21 R.M.S. Titanic v. Haver, 1999 American Maritime Cases 1330 (4th Cir. 1999), R.M.S. Titanic v. Wrecked and Abandoned Vessel, 1996 American Maritime Cases 2481 (E.D.Va. 1996); R.M.S. Titanic v. Wrecked and Abandoned Vessel, 9 F. Supp. 2d 624 (E.D.Va. 1998).
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men, und müssen Kapitäne verpflichten, Funde auf dem Meeresboden der Hohen See zu melden. 3. Kulturgüterschutz Sind alle interessierten Staaten benachrichtigt worden und ist eine Einigung über den Schutz des Fundes zustande gekommen, kann die Arbeit beginnen. Das Übereinkommen selbst enthält nur wenige Vorschriften über die Bergung selbst. Die „Rules Concerning Activities Directed at Underwater Cultural Heritage“, die nach Art. 33 integraler Teil des Übereinkommen sind, regeln diese Fragen. a) Vorbereitung des Schutzes Bevor mit einer Bergung begonnen wird, ist von kompetenter Seite ein Plan über die Bergung der zuständigen Behörde zur Genehmigung vorzulegen (Rule 9). Was dieser Plan alles enthalten soll, schreibt Rule 10 in sechzehn Punkten detailliert vor. Dort soll z. B. angegeben werden, welche Erfahrung und Qualifikation die Mitarbeiter haben, wie lange voraussichtlich die Rettung dauert, wie sie finanziert wird und welche Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden sollen. Bei unerwarteten Funden ist dieser Plan, abgesehen von Eilfällen (Rule 13), anzupassen und zu ergänzen (Rule 12). Ein solcher Plan dürfte Archäologen aus ihrer Ausgrabungstätigkeit bekannt sein. Auch sie müssen eine Ausgrabung sorgfältig vorbereiten. b) Bergung des Kulturgutes Die Bergung von Kulturgut unter Wasser ist von Fachleuten mit archäologischer Vorbildung durchzuführen (Rules 22 und 23). Sie haben dafür zu sorgen, dass der Bergungsplan eingehalten bzw. fachgerecht ergänzt wird, dass der Zeitplan eingehalten wird und dass die Finanzierung der Bergung sichergestellt ist. c) Abschluss der Arbeiten Zum Abschluss der Arbeiten ist ein Bericht zu schreiben mit einer Beschreibung des Projektes, der dabei angewandten Methoden, den erzielten Ergebnissen mit Photos und Zeichnungen sowie Anregungen für zukünftige Arbeiten. Dieser Bericht ist in einem Archiv zu hinterlegen und muss für jedermann zugänglich sein (Rules 31– 34).
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4. Sanktionen Die Art. 17 ff. des Übereinkommens sehen Sanktionen vor, welche die Vertragsstaaten verhängen sollen. a) Beschlagnahme Wenn Kulturgüter nicht in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen geborgen worden sind, sollen die Vertragstaaten vorsehen, dass sie beschlagnahmt werden können, falls sie in ihrem Territorium gefunden wurden. Dann hat der Staat für eine ordnungsgemäße Restaurierung und Aufbewahrung zu sorgen (Art. 18 Abs. 4). b) Strafrecht Ob auch Kriminalstrafen verhängt werden sollen, bleibt jedem Staat überlassen. Manchmal gibt es bereits Straftatbestände für Fundunterschlagung, ein anderes Mal wären eventuell neue Straftatbestände zu schaffen. 5. Evaluierung Das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des kulturellen Erbes unter Wasser ist eine wichtige Konvention, welche die heute zugänglichen Schätze auf dem Meeresgrund vor Raub und Plünderung bewahren soll. Es muss von den Vertragsstaaten umgesetzt werden, damit es nicht das Schicksal erleidet, welches das UNESCO-Übereinkommen vom 14. 11. 1970 über die Verhinderung der unrechtmäßigen Einfuhr, Ausfuhr und Übertragung von Eigentum an Kulturgütern22 lange Zeit über gewärtigen musste, nämlich Unanwendbarkeit in der Gerichtspraxis.23
IV. Internationales Sachenrecht Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten zur Ausführung der übernommenen Verpflichtungen, die sich nicht unmittelbar an die Beteiligten richten, sondern nur an die Vertragsstaaten. Italien, das am 8. 1. 2010 seine Ratifikationsurkunde hinterlegt hat, sieht bereits in seinem Gesetz von 2004 über den Schutz von Kulturgütern den Artikel 94 für die Umsetzung des Übereinkommens vor.24 823 UNTS 231; BGBl. 2007 II 627 ff. Cass. fr. 209.2006, Recueil Dalloz 2006, Jur., 2418 (République fédérale du Nigeria c. Montbrison). 22 23
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Zu regeln sind insbesondere Behördenzuständigkeiten und die Fixierung der Rechte und Pflichten aus dem Übereinkommen. Bevor dies alles jedoch geregelt wird, muss geprüft werden, ob das Übereinkommen bestehende vertragliche Verpflichtzungen ändert und geltendes Recht, insbesondere das Internationale Sachenrecht, variiert. 1. Grundlagen Das Internationale Sachenrecht ist immer noch nationales Recht. Die Europäische Union hat noch keine Anstrengungen unternommen, diesen Teil des Internationalen Privat- und Zivilverfahrenrechts zu vereinheitlichen. Das ist auch vielleicht nicht so dringend wie bei manchen anderen Materien des IPR; denn – von gewissen Sonderregeln abgesehen – beherrscht europaweit, wenn nicht sogar weltweit die lex rei sitae das Feld: Sachen werden nach dem Recht des Staates beurteilt, in dem sie sich befinden.25 So die Kodifikationen und die Rechtsprechung in Europa,26 in Afrika,27 Amerika28 und Asien.29 Ob man mit dieser Anknüpfung bei Kulturgütern unter Wasser viel anfangen kann, bleibt zu prüfen.
24 Decreto legge 22. 1. 2004, n. 42: Codice dei beni culturali e del paesaggio, bei: Maria Agostina Cabiddu / Barbara Boschetti (Hrsg.), Codice dei Beni Culturali. Norme, Provvedimenti, Documenti, Mailand 2005, S. 99, 127. 25 Kurt Siehr, Internationales Sachenrecht. Rechtsvergleichendes zu seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: ZVglRWiss 104 (2005) 145 – 162 (149). 26 Vg. z. B. Art. 87 Abs. 1 belgischer Code de droit international privé; Art. 64 Abs. 1 bulgarisches IPR-Gesetz; Art: 43 Abs. 1 EGBGB; Art. 18 Abs. 1 estnisches IPR-Gesetz; Art. 27 griechisches BGB; Art. 51 Abs. 1 italienisches IPR-Gesetz; § 31 Abs. 1 österreichisches IPRGesetz; Art. 24 § 1 polnisches IPR-Gesetz; Art. 46 Abs. 1 portugiesischer Código civil; Art. 49 rumänisches IPR-Gesetz; Art. 99 Abs. 1 schweizerisches IPRG; Art. 10 Abs. 1 spanischer Código civil; Art. 21 Abs. 1 türkisches IPR-Gesetz; § 21 Abs. 1 ungarische IPR-Verordnung. Zum Vereinigten Königreich vgl. Winkworth v. Christie’s; [1980] 2 W.L.R. 937 (Ch.D.). 27 Vgl. z. B. Art. 18 ägyptisches ZGB; Art. 45 Abs. 1 ZGB von Moçambique; Art. 12 des ZGB von Ruanda; Art. 58 IPR-Gesetz von Tunesien. 28 Vgl. z. B. Art, 10 und 11 argentinisches ZGB; Art. 27 GVG von Guatemala; Art. 3097 Abs. 1 Code civil von Québec; Art. 16 ZGB von Paraguay; Ar. 2088 ZGB von Peru; Art. 2398 ZGB von Uruguay; Art. 27 IPR-Gesetz von Venezuela. 29 Vgl. z. B. Art. 13 Abs. 1 japanisches IPR-Gesetz; Art. 19 jordanisches ZGB; Art. 562 / 3 ZGB von Kasachstan; Art. 432 Nr. 1 ZGB der Mongolei; Art. 16 ZGB der Philippinen; Art. 19 Code civil von Syrien; § 10 des IPR-Gesetzes von Taiwan; § 16 Abs. 1 IPR-Gesetz von Thailand; Art. 1184 f. BGB von Usbekistan.
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2. Kulturgüter in nationalen Hoheitsgewässern a) Einfache Kulturgüter Soweit Kulturgüter in nationalen Hoheitsgewässern gefunden werden, kann der Staat, der die Hoheit ausübt, die Kulturgüter, die nicht in Schiffen bestehen, für sich in Anspruch nehmen. Er kann also sagen, dass alle Kulturgüter unter Wasser in Hoheitsgewässer dem Staat gehören. Das tut der Hoheitsstaat auch, nämlich z. B. in Griechenland,30 Italien31 und deutschen Bundesländern.32 So hat z. B. Italien die Heroen von Riace, die in Jahr 1972 vor der Küste Kalabriens gefunden wurden, als Staatseigentum in Anspruch genommen und nach einer gründlichen Restaurierung im Museo Nazionale della Magna Grecia in Reggio di Calabria der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. b) Kriegsschiffe Doch nicht immer ist die Situation so einfach. Bereits oben wurde über die Bergung der CSS Alabama berichtet, die 1984 vor der französischen Atlantikküste gefunden wurde.33 Die CSS Alabama war ein Kriegsschiff und unterliegt eventuell auch als Wrack besonderen Regeln. Internationale Konventionen regeln das Eigentum an Schiffswracks nicht. Art. 303 Abs. 3 SRÜ, der oben unter II zitiert wurde, sagt ausdrücklich, dass er die Rechte feststellbarer Eigentümer nicht berührt. Auch das UNESCO Übereinkommen über das Kulturerbe unter Wasser sagt nicht ausdrücklich zu dieser Frage. Ebenfalls haben sich Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze zum Eigentum an Kriegsschiffwracks noch nicht herausgebildet.34 Deswegen muss staatliches Recht dieses Problem regeln. Da es kein internationales Einheitsrecht gibt und auch noch keine Vereinheitlichung des IPR stattgefunden hat, muss nationales IPR die Frage lösen. Massgebend ist das heute im jeweiligen Gerichtsstaat geltende IPR. Gefragt wird nach den Eigentumsverhältnissen an einem in nationalen Hoheitsgewässern liegenden Kriegsschiffwrack. Es hat einmal einem Staat gehört, ist vielleicht als Prise von einem anderen Staat genommen und später als Wrack aufgegeben worden. All 30 Art. 7 und 21 des Gesetzes Nr. 3028 / 2002 über den Schutz von Antiken und des kulturellen Erbes im Allgemeinen: Koinodikion 2002, S. 368. 31 Art. 91 Abs. 1 des Decreto legislativo vom 22. 1. 2004, n. 42: Codice dei beni culturali e del paesaggio, in: Cabiddu / Boschetti, oben Fn. 24, 99, 126. 32 Vgl. die Aufzählung bei Johannes von Staudinger (- Karl-Dieter Albrecht), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Art. 1, 2, 50 – 218 EGBGB, Neubearbeitung 2005, Art. 73 EGBGB, RdNr. 29; Ralf Fischer zu Cramburg, Das Schatzregal. Höhr-Grenzhausen 2001, 115 ff. 33 Oben vor Fn. 13. 34 Jan Asmus Bischoff, Kriegsschiffwracks. Welches Recht gilt für Fragen des Eigentums, der Beseitigung und der Haftung?: ZaöRV 66 (2006) 455 – 490 (463 – 473).
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diese Fragen sind jeweils in dem Zeitpunkt zu entscheiden, in dem sie stattgefunden haben. Knüpft man an den locus rei sitae an und nicht an die Flagge, die das Schiff einmal geführt hat,35 so ist zu untersuchen, wer einmal (vielleicht vor mehr als hundert Jahren36) Eigentümer war. Dies wird nach dem Recht im Zeitpunkt des Eigentumserwerbs entschieden. Das ist meistens unstreitig. Streitig dagegen kann sein, ob und wann ein Staat sein Eigentum aufgegeben hat. Auch hier ist der Zeitpunkt der Aufgabe massgebend und umstritten lediglich, ob es sich um eine ausdrückliche Aufgabe handeln muss oder ob sie auch stillschweigend erfolgen kann. Schliesslich, und hier ist die Anknüpfung an den locus rei sitae erheblich, könnte der Küstenstaat bestimmen, dass Wracks nach einer gewissen Zeit Staatseigentum werden37 oder unabhängig vom Zeitablauf nationales Kulturgut darstellen.38 Im Fall der CSS Alabama einigten sich Frankreich und die Vereinigten Staaten,39 und im Fall Sea Hunt wurde anerkannt, dass Spanien seine Schiffe nie aufgegeben hatte und deswegen nicht „abandoned“ sind.40 c) Handelsschiffe Auch Handelschiffe können vor der Küste Schiffbruch erleiden und untergehen. In neuester Zeit waren das aber keine Fälle des kulturellen Erbes unter Wasser, sondern der zivilisatorischen Verschmutzung des Wassers und der Küste.41 Für diese Schiffe gelten dieselben kollisionsrechtlichen Regeln wie für Kriegsschiffe. Das holländische Handelsschiff „Vrouw Maria“, das im Jahr 1771 vor der Küste Finnland sank, wird also ebenso behandelt.
35 So zu Recht für das deutsche IPR der Art. 43 Abs. 1, 45 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB Bischoff, vorige Fn., 473 – 475. 36 Im Fall Sea Hunt v. Unidentified Shipwrecked Vessel, 231 F.3d 634 (4th Cir.2000) war zu bestimmen, ob die spanischen Schiffe „La Galga“ und „Juno“, untergegangen im Jahre 1750 bzw. 1802 vor der Küste von Virginia, noch Spanien gehören oder von Spanien „abandoned“ sind nach dem US-amerikanischen Abandoned Shipwreck Act, s. oben Fn. 7. 37 Dies wurde für die USA abgelehnt: Sea Hunt v. Unidentified Shipwrecked Vessel, vorige Fn., 641. 38 Ist der Eigentümer von Kulturgut bekannt, berührt die Qualität als Nationales Kulturgut nicht direkt das Eigentum, sondern schränkt seine Handhabung nur ein. 39 Oben Fn. 13. 40 S. oben Fn. 36. 41 Zu nennen sind lediglich die Namen „Amoco Cadiz“, Torrey Canyon“ and „Exxon Valdez“. Vgl. Kurt Siehr, The Rome II – Regulation and Specific Maritime Torts – Products Liability, Environmental Damage, Industrial Action: RabelsZ 74 (2010) 139 – 153 (145 ff.).
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3. Kulturgüter ausserhalb nationaler Hoheitsgewässer a) Schiffe Ausserhalb nationaler Hoheitsgewässer werden meistens Schiffe mit ihrer Ladung gefunden. Die RMS Titanic, untergegangen auf Hoher See im Jahr 1912 und dort gefunden im Jahr 1985, ist ein gutes Bespiel für eine solche Tragödie. Hier kommt man mit der lex rei sitae nicht weit; denn auf hoher See gibt es kein Staatsgebiet und frühere leges rei sitae sind nicht einfach festzustellen. Hier bietet sich die Anknüpfung an die Flagge an, die das Schiff einstmals führte.42 Massgebend wäre also im Fall der RMS Titanic britisches Recht und dieses hätte zu bestimmen, ob die Reederei British White Star Lines jemals das Eigentum an dem Schiff aufgegeben hat oder nicht. b) Andere Kulturgüter Doch nicht nur Schiffe bedecken den Meeresgrund. So wäre es denkbar, dass bei dem Wrack der RMS Titanic auch Privateigentum gefunden wird und zu bestimmen ist, wer Eigentümer ist. Da die Passagierliste der RMS Titanic und auch die Liste der Ertrunkenen bekannt sind, ließe sich vielleicht feststellen, wem ein Einzelstück gehört hatte. Auch hier kann man mangels einer gegenwärtigen lex rei sitae die lex originis in Form des Personalstatuts derjenigen Person berufen, die einmal das Eigentum an der Sache für sich in Anspruch nahm. Also bekämen die Erben des ehemaligen Eigentümers die Sachen, es sei denn, sie hätten diese Sachen aufgegeben. 4. Zwischenergebnis Für Kulturgut unter Wasser gibt es – mangels völkerrechtlicher Normen – wie für alle Sachen Vorschriften des Internationalen Sachenrechts. Dass diese Vorschriften häufiger als bei Kulturgut, das auf dem Land gefunden wird, den ehemaligen und vielleicht noch gegenwärtigen Eigentümer bestimmen können, liegt an den Kulturgütern unter Wasser. Denn sie bestehen häufig aus Schiffen mit ihrer Ladung, die einmal meine Flagge geführt haben und über deren Untergang es schon seit langem Aufzeichnungen gibt. V. Zusammenfassung Das UNESCO-Übereinkommen über den Schutz des Kulturerbes unter Wasser ist um die fachgerechte Bergung von Kulturschätzen besorgt. Das kann es tun, 42
Ebenso Bischoff, oben Fn. 34, 473 – 476.
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ohne das Eigentum an den Sachen zu berühren. Deswegen bestimmt auch Art. 303 Abs. 3 SRÜ, dass der Kulturgüterschutz die Rechte feststellbarer Eigentümer nicht berührt. Dasselbe tut das Übereinkommen zum Schutz des Kulturerbes unter Wasser. Es regelt dessen Schutz, belastet insofern die Berechtigten, tangiert jedoch nicht deren Rechte, die nach dem Privatrecht der anwendbaren Rechtsordnung bestehen.
Völkerrecht und Europarecht
Zu den Grenzen der Überformung mitgliedstaatlichen Eigentums durch den Unionsgesetzgeber – Überlegungen im Lichte von Art. 345 AEUV Von Christian Calliess* I. Einführung Wenn nach Art. 345 AEUV (ex-Art. 295 EGV) die „Verträge die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“ lassen sollen, dann manifestiert sich in dieser Vorgabe ein nicht unproblematisches Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Harmonisierung des EU-Binnenmarktes (vgl. insbesondere Art. 114 AEUV, ex-Art. 95 EGV) einerseits sowie der fortbestehenden Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Eigentumsordnungen andererseits.1 Gerade dieser Interessenkonflikt macht die Konkretisierung des Begriffs der „Eigentumsordnung“ so schwierig. Hinzu kommt, dass das Tatbestandsmerkmal „unberührt“ eine gewisse Erwartungshaltung der Mitgliedstaaten dahingehend rechtfertigen mag, dass mit Hilfe des Art. 345 AEUV jegliche unionsrechtliche Einmischung in Teilbereiche des Wirtschaftslebens verhindert werden kann, sofern nur in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumspositionen in Frage gestellt werden. II. Der Streit um Inhalt und Reichweite des Art. 345 AEUV 1. Historische Interpretation des Art. 345 AEUV Der Wortlaut der Norm ist – im Gegensatz zu vielen anderen zentralen Vorschriften des EGV – bisher von sämtlichen Vertragsrevisionen unberührt geblieben und bis heute in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 1957 erhalten geblieben (vgl. den damaligen Art. 222 EWGV). Angesichts dessen ist für das Verständnis des Art. 345 AEUV eine nähere Betrachtung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes aufschlussreich und bedeutsam zugleich. * Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der FU Berlin, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht, Inhaber einer Jean Monnet Professur für Europäische Integration. 1 Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 6.
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Entstehungsgeschichtlicher Ausgangspunkt des Art. 345 AEUV war vornehmlich die in der Frühphase der Integration bestehende Furcht vor einer allzu starken wirtschaftspolitischen Intervention seitens der EU.2 Im Rahmen der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattfindenden nationalen Maßnahmen zur Sanierung der Volkswirtschaften offenbarte und vertiefte sich eine zwischen den Mitgliedstaaten bestehende Divergenz der Ansichten über das Ausmaß der staatlichen Unternehmensbeteiligung. Verstaatlichungen waren nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in Frankreich und Italien in zentralen Industriebereichen (Schwerindustrie, Erdöl und Strom, aber auch in der Bankenbranche) im Zuge wirtschaftlicher Sanierung durchgeführt worden.3 Angesichts dessen fürchteten einige Länder – namentlich die junge Bundesrepublik4 – tiefgreifende Änderungen der Wirtschaftsordnung durch Sozialisierungsmaßnahmen. Anderen Ländern bereitete dagegen ein möglicher Privatisierungskurs seitens der Gemeinschaft Unbehagen. Dementsprechend einigte man sich auf die Formulierung des Art. 222 EWGV (nunmehr Art. 345 AEUV) und die dahinter stehende Regelung, dass die Gemeinschaft in Bezug auf die Grundausrichtung der Eigentumsverhältnisse in den nationalen Volkswirtschaften zur Neutralität verpflichtet werden soll. Diese Deutung der Genese des Art. 345 AEUV als Neutralitätsverpflichtung in Bezug auf die Grundausrichtung der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten wird gestützt durch die im Vorfeld der Römischen Verträge erfolgten Integrationsansätze. Bereits der (inzwischen außer Kraft getretene) Art. 83 EGKSV von 1951 lautete: „Die Einrichtung der Gemeinschaft berührt in keiner Weise die Ordnung des Eigentums an den Unternehmen, für welche die Bestimmungen dieses Vertrages gelten“. Die Einfügung des Art. 83 EGKSV ist wiederum auf die „historische Konfliktlage“ zurückzuführen, dass sich die Regierungsvertreter bei Abschluss der EMRK im Jahre 1950 nicht auf ein Eigentumsgrundrecht und eine dazugehörige Enteignungsbefugnis einigen konnten. Sprachlich wurde Art. 345 AEUV stark an die Vorschrift des Art. 83 EGKSV angelehnt, wenngleich der dort formulierte Vorbehalt noch auf die „Ordnung des Eigentums an den Unternehmen“ begrenzt war.5 Auch die Entwürfe der Spaak-Redaktionsgruppe6 zum späteren Art. 222 EWGV – 2 Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 2; Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 1. 3 Ausführlicher Überblick zu den Sozialisierungen / Privatisierungen in dieser Zeit bei Huth, Die Sonderstellung der öffentlichen Hand in den Europäischen Gemeinschaften, 1965, S. 35 ff.; Everling, Eigentumsordnung und Wirtschaftsordnung in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Raiser, 1974, S. 379 (384 ff.). 4 Vgl. die Regierungsbegründung zum Zustimmungsgesetz BT-Drs. 2 / 3440, 154. 5 von Milczewski, Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 23 f.; Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 4. 6 Abgedruckt bei Neri / Sperl, Traité instituant la Communauté économique européenne. Travaux préparatoires, 1960, S. 410. Ein historischer Abriss zum Gang der Vorarbeiten findet sich bei Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 26 ff.
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dem heutigen Art. 345 AEUV – enthielten zunächst einen vergleichbaren Regelungsvorschlag bezogen auf die „Eigentumsordnung an den Produktionsmitteln“. Auf diese Bezugnahme wurde allerdings in der endgültigen Fassung des Art. 222 EWGV verzichtet. Welche Gründe für die Aufgabe der ersten Fassung ausschlaggebend waren, ist nicht veröffentlicht. Festhalten lässt sich aufgrund des entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes von Art. 345 AEUV dennoch sein wesentliches Regelungsziel: Die Vorschrift dient der Sicherung nationaler Gestaltungsspielräume im Bereich der Güterordnung.7 Die Zuständigkeit für die Frage von Privatisierungen bzw. Sozialisierungen soll bei den Mitgliedstaaten verbleiben.8 Ein entsprechendes mitgliedstaatliches Interesse lässt sich auch der amtlichen Erläuterung der Bundesrepublik Deutschland zum EWG-Vertrag entnehmen. Bezüglich Art. 222 EWGV heißt es darin: „Durch den Vertrag soll nicht in die rechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten eingegriffen werden, durch die das Eigentum geregelt wird. Das gilt besonders für das Eigentum an den Unternehmen. Keine Bestimmung des Vertrages darf daher so ausgelegt werden und keine Maßnahme der Gemeinschaft darf zum Ziel haben, ein Unternehmen in eine Gemeinwirtschaft zu überführen oder umgekehrt ein in Gemeineigentum stehendes Unternehmen zu privatisieren.“9 Die historische Auslegung des Art. 345 AEUV gelangt somit zu dem Ergebnis, dass durch diese Norm eine Neutralität der Union in Grundfragen der nationalen Wirtschaftsordnungen statuiert wird. Mit anderen Worten: Art. 345 AEUV formuliert die eigentumspolitische Neutralität des EU-Vertrages.10 In der Folge darf die Union nicht aus rein wirtschaftspolitischen Erwägungen solche Maßnahmen ergreifen, die sich in einer Gesamtschau als Privatisierungs- bzw. Verstaatlichungstendenz einer Volkswirtschaft oder einzelner Wirtschaftszweige darstellt. Daraus kann man jedoch nicht ohne weiteres ableiten, dass Art. 345 AEUV den unionsrechtlich veranlassten Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum kategorisch und ausnahmslos verbieten soll.11 Eine derart weitreichende Deutung dieser Norm lässt deren Entstehungsgeschichte gerade nicht zu. Unklar bleibt im Kontext dieser – mit Blick auf das gemeinschaftliche Primärrecht ohnehin nicht ausschlaggebenden12 – historischen Interpretation, ob Art. 345 Hatje, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 683 (735). Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 29; Drasch, Die Rechtsgrundlagen des europäischen Einheitsrechts im Bereich des gewerblichen Eigentums, ZEuP 1998, S. 118 (127); Everling, Eigentumsordnung und Wirtschaftsordnung in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Raiser, 1974, S. 379 (383); Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 1, 3; Herzog, in: Smith / ders., The Law of the European Economic Community, 1993, Art. 222, Ziff. 222.03 m. w. N. 9 Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, BT-Drucksache 3440, Anlage C, S. 154. 10 Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 70. 11 So Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (475). 7 8
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AEUV nur Eingriffe in die Eigentumsstruktur, d. h. in die Zuordnung von öffentlicher oder privater Trägerschaft der Unternehmen verhindern soll, oder ob die Norm angesichts des Verzichts auf eine derartige Einschränkung im Wortlaut doch einen darüber hinaus gehenden Anwendungsbereich hat. 2. Art. 345 AEUV in der Praxis a) Die Rechtsprechung des EuGH Die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 345 AEUV ist eher spärlich und thematisiert vorwiegend das Verhältnis zu anderen Vertragsvorschriften. In den bislang ergangenen Entscheidungen findet sich dabei vor allem wiederholt die Aussage, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung des Eigentumsrechts an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden seien13, im Umkehrschluss also nicht (umfassend) durch Art. 345 AEUV geschützt sind. So ging der Gerichtshof bereits im Verfahren Costa / E.N.E.L. davon aus, dass der Mitgliedstaat Italien bei der Verstaatlichung seiner Elektrizitätsindustrie das Diskriminierungsverbot des EGV beachten müsse.14 Eine griechische Regelung, die es Ausländern verwehrte, in bestimmten Grenzregionen Immobilien zu erwerben, zog eine Verurteilung Griechenlands im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV, ex-Art. 226 EGV) nach sich.15 Im Urteil Fearon / Irish Land Commission stellte der EuGH fest, dass selbst mitgliedstaatliche Enteignungsverfahren dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung, der dem Kapitel über die Niederlassungsfreiheit zugrunde liegt, genügen müssen.16 Auch das Tatbestandsmerkmal der „Beihilfe“ i. S. v. Art. 107 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 87 Abs. 1 EGV) erfahre keine Modifikation durch Art. 345 AEUV, auch hier bleibe es bei einer Bindung an die Grundfreiheiten.17 Entsprechendes gilt für den Betrieb öffentlicher Fernmeldeanlagen18, die Ausübung mitgliedstaatlicher Befugnisse beim Erwerb von Eigen12 Vgl. nur Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 220, Rn. 13. 13 von Milczewski, Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 26; Ruffert, Zur Bedeutung des Art. 295 EGV, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, S. 10 (19). 14 EuGH, Rs. 6 / 64, Slg. 1964, S. 1251, 1273 ff. – Costa / E.N.E.L. 15 EuGH, Rs. 305 / 87, Slg. 1989, S. 1461, 1477 – Kommission / Griechenland. 16 EuGH, Rs. 182 / 83, Slg. 1984, S. 3677, 3685 – Fearon / Irish Land Commission; vgl. auch EuGH, Rs. C-491 / 01, Slg. 2002, I-11453, Rn. 147 f. – British American Tobacco; GA Geelhoed, Schlussantrag zu Rs. C-452 / 01, Slg. 2003, I-9743, Rn. 82 – Ospelt. 17 EuG, verb. Rs. T-116 / 01 und T-118 / 01, Slg. 2003, II-2957, Rn. 145 ff. – PQ European Ferries (Vizcaya) und Diputación Foral de Vizcaya / Kommission; verb. Rs. T-228 / 99 und T-233 / 99, Slg. 2003, II-435, Rn. 94 – Westdeutsche Landesbank Girozentrale und Land Nordrhein Westfalen / Kommission. 18 EuGH, Rs. 41 / 83, Slg. 1985, 873, Rn. 21 f. – Italien / Kommisson.
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tum19, für nicht marktgerechte Vergütungen öffentlicher Postunternehmen mit Monopolstellung zugunsten privatrechtlicher Tochtergesellschaften20, für Rabattsysteme und bei Flughafengebühren21. Wenngleich diese Aspekte in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen, sind sie also nicht von den materiellen Vorgaben des Primärrechts im Übrigen entbunden. Umgekehrt sollen Privatisierungen nicht völlig in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit fallen, wenn sie etwa mit Beihilfen unterstützt werden, deren Gemeinschaftsrechtskonformität ja unter dem Vorbehalt des Beihilfenverbots steht.22 Insbesondere seien diskriminierende Regelungen nicht der Rechtfertigung über Art. 345 AEUV zugänglich.23 Zur Frage, was inhaltlich unter dem Begriff der „Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten“ zu verstehen ist, findet sich in der bisherigen Spruchpraxis von EuGH und EuG nichts. Sofern der Gerichtshof Art. 345 AEUV überhaupt inhaltlich thematisiert, nimmt er zumeist einzelfallbezogene Negativabgrenzungen vor, indem er bereits den Anwendungsbereich beschränkt. In diesem Sinne wurde die Einbeziehung bestimmter Aspekte des Eigentums in die nach Art. 345 AEUV „unberührte“ Eigentumsordnung vom EuGH abgewehrt. So wurden beispielsweise eigentumsrelevante Maßnahmen im Bereich der gemeinschaftsrechtlich regulierten Agrarmärkte als gemeinschaftsrechtlich zulässig erachtet.24 In seiner Rechtsprechung zum gewerblichen und kommerziellen Eigentum25 stellte der Gerichtshof zudem fest, dass über den Bestand dieser Rechte zwar „allein die innerstaatliche Gesetzgebung entscheidet“, die Rechtsausübung aber den Regeln des Gemeinschaftsrechts unterliege.26 Des Weiteren soll die Gemeinschaft trotz des Vorbehalts in Art. 345 AEUV selbst Regelungen im Bereich des Eigentumsrechts treffen können. Für Immaterialgüterrechte stellte der EuGH dies in einem Urteil aus dem Jahr 1995 klar27, wonach über die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 19 EuGH, Rs. 302 / 97, Slg. 1999, I-3099, Rn. 38 – Konle; bekräftigt in Rs. C-300 / 01, Slg. 2003, I-4899, Rn. 39 – Salzmann; Rs. C-491 / 01, Slg. 2002, I-11453, Tz. 147 – British American Tobacco und Imperial Tobacco. 20 EuG, Rs. T-613 / 97, Slg. 2000, II-4055, Rn. 77 – Ufex u. a. / Kommission. 21 EuGH, Rs. C-163 / 99, Slg. 2001, I-2613, Rn. 58 f. – Portugal / Kommission. 22 GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-334 / 99, Slg. 2002, I-1139, Tz. 69 – Deutschland / Kommission. 23 EuGH, Rs. C-163 / 99, Slg. 2001, I-2613, Rn. 58 f. – Portugal / Kommission; EuG, Rs. T-613 / 97, Slg. 2000, II-4055, Tz. 77 – Ufex u. a. / Kommission; vgl. auch EuGH, Rs. 41 / 83, Slg. 1985, S. 873, Rn. 21 f. – Italien / Kommission. 24 EuGH, Rs. C-309 / 96, Slg. 1997, I-7493, Tz. 23 – Annibaldi. 25 Grundlegend EuGH, verb. Rs. 56 / 64 und 58 / 64, Slg. 1966, S. 321 (394) – Grundig und Consten / Kommission, rezipiert in der deutschen Rspr.: BGH NJW 1977, 1987 (1589 li. Sp.) sowie EuGH, Rs. 24 / 67, Slg. 1968, S. 85 – Parke, Davis and Co. 26 EuGH, Rs. 24 / 67, Slg. 1968, S. 85 (86, 113) – Parke, Davis and Co.; vgl. auch verb. Rs. C-92 / 92 und C-326 / 92, Slg. 1993, I-5145, Rn. 22 f. – Phil Collins; Rs. C-235 / 89, Slg. 1992, I-777, Tz. 14 – Kommission / Italien; Rs. 30 / 90, Slg. 1992, I-892, Tz. 18 – Kommission / Vereinigtes Königreich; Rs. 350 / 92, Slg. 1995, I-1985, Tz. 18 ff. – Spanien / Rat. 27 Vgl. EuGH, Rs. C-350 / 92, Slg. 1995, I-1985, Rn. 22 f. – Spanien / Rat; ähnlich bereits: EuGH, Gutachten 1 / 94, Slg. 1994, I-5267, Rn. 54 – WTO / GATS / TRIPS.
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AEUV selbst zum Kernbereich der Immaterialgüterrechte Regelungen getroffen werden können. In drei gleichlautenden Urteilen aus dem Jahr 2002 zu sogenannten „Goldenen Aktien“ hatte sich der EuGH mit Vorzugsrechten der öffentlichen Hand in Bezug auf die Aktien privatisierter Unternehmen auseinanderzusetzen. Das Gericht stellte diesbezüglich fest, dass die in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrages – konkret der Kapitalverkehrsfreiheit – nicht entzogen sei.28 Die Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH zeigen, dass Art. 345 AEUV von EuGH und EuG nicht isoliert, sondern vielmehr eingebettet in den Gesamtkontext des EU-Vertrags verstanden wird. Die Vorschrift ist damit unter einen allgemeinen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere dem Nichtdiskriminierungsgebot und den Grundfreiheiten, gestellt. Wenngleich die Kasuistik zu Art. 345 AEUV damit wenig zur Konkretisierung des Bedeutungsgehalts von Art. 345 AEUV beiträgt, so legt sie doch ein enges Begriffsverständnis der „Eigentumsordnung“ und damit die Annahme einer generellen Zulässigkeit der Einwirkung von Gemeinschaftsrecht auf mitgliedstaatlich begründete Rechte nahe.29 Diesem Verständnis des Art. 345 AEUV entspricht – das kann mit Blick auf ihre Rolle als „Motor“ der europäischen Integration nicht überraschen – auch die Praxis der Kommission.30 b) Schlussantrag von Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer vom 3. Juli 2001 Weitergehende und vor allem vertiefende Überlegungen zu Art. 345 AEUV – auch zu dessen inhaltlicher Tragweite – finden sich in den Schlussanträgen von Generalanwalt Dámaso Ruíz-Jarabo Colomer vom 3. Juli 2001 zu dem bereits oben erwähnten Verfahren der Kommission gegen Portugal („Goldene Aktien“). Nach seiner Auffassung bezieht sich die Kompetenzsperre in Art. 345 AEUV nicht nur auf die zivilrechtlichen Vorschriften über vermögensrechtliche Beziehungen, sondern auch auf die ideelle Gesamtheit aller Rechtsvorschriften, die geeignet sind, die wirtschaftliche Verfügungsmacht über ein Unternehmen zu gewähren.31 Eine allein auf die Eigentumsfrage im engeren Sinne ausgerichtete Interpretation sei sinnlos, da der Vertrag diese ohnehin nicht regeln wolle.32 Die von Art. 345 AEUV 28 EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Rn. 47 f. – Kommission / Portugal; Rs. C-483 / 99, Slg. 2002, I-4781, Rn. 43 f. – Kommission / Frankreich; Rs. C-503 / 99, Slg. 2002, I-4809, Rn. 43 f. – Kommission / Belgien. 29 In diesem Sinne: Müller-Graff, FS-Ulmer, 2003, S. 929 (942). 30 Vgl. nur Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 11 m. w. N. 31 GA Ruíz-Jarabo Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Tz. 40 ff. – Kommission / Portugal. 32 GA Ruíz-Jarabo Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Tz. 63 – Kommission / Portugal.
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geforderte Achtung der Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten habe sich daher auf alle Maßnahmen zu erstrecken, die es dem Staat erlauben, durch hoheitlichen Eingriff zur Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens beizutragen.33 Art. 345 AEUV sei daher nicht etwa nur rein zivilrechtlich auszulegen, sondern garantiere darüber hinaus die staatliche Befugnis zur rechtlichen Einflussnahme auf Unternehmen.34 Im Ergebnis leitet der Generalanwalt aus Art. 345 AEUV eine alleinige Befugnis der Mitgliedstaaten zur Einflussnahme auf privatisierte Aktiengesellschaften ab. Ein gemeinschaftsrechtlicher Zugriff sei in diesem Bereich ausgeschlossen.35 Überträgt man die Ansicht des Generalanwalts auf die Frage der Zulässigkeit eines unionsrechtlich veranlassten Ownership Unbundlings, so würde ein solches an der Kompetenzsperre des Art. 345 AEUV scheitern. Eine entsprechende Befugnis zur rechtlichen Einflussnahme auf privatisierte Unternehmen bestünde eben nur staatlicherseits, der Union wäre ein solches Vorgehen verwehrt. Der Gerichtshof ist diesem Ansatz – wie bereits vorstehend ausgeführt – nicht gefolgt. Er ist in seinem Urteil auch nicht näher auf die Erwägungen des Generalanwalts eingegangen. Den Mitgliedstaaten sei es jedenfalls verwehrt, sich auf ihre Eigentumsordnungen zu berufen, um Beeinträchtigungen der im Vertrag vorgesehenen Freiheiten zu rechtfertigen (s. o.). In zwei jüngeren Urteilen zu den „Goldenen Aktien“ hat der EuGH zudem bekräftigt, dass er an seiner bisherigen Linie festhält.36 c) Zwischenergebnis Die Auswertung der Rechtsprechung lässt damit erkennen, dass der EuGH Art. 345 AEUV nicht in dem Sinne versteht, dass primär- oder sekundärrechtliche Auswirkungen auf Eigentumspositionen Einzelner absolut untersagt sind. Die Vorschrift wird vom EuGH nicht isoliert, sondern eingebettet in den Kontext der jeweils einschlägigen Vertragsbestimmungen verstanden. Sie ist damit unter einen allgemeinen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Unionsrecht im Übrigen, insbesondere den Grundfreiheiten und dem Nichtdiskriminierungsverbot, gestellt. Gegenüber den Schlussanträgen von Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer hat sich die vom EuGH favorisierte enge Auslegung des Art. 345 AEUV in der Praxis bislang behauptet. Wie schon im Beihilfenrecht am Beispiel des öffentlichen Rundfunks und der Landesbanken37 zu beobachten ist, kann die fortschreitende wirtschaftli33 GA Ruíz-Jarabo Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Tz. 56 – Kommission / Portugal. 34 GA Ruíz-Jarabo Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Tz. 62 f. – Kommission / Portugal. 35 GA Ruíz-Jarabo Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-367 / 98, Slg. 2002, I-4731, Tz. 66, 91 – Kommission / Portugal. 36 EuGH, Rs. C-463 / 00, Rn. 67 – Kommission / Spanien. Im Parallel-Urteil vom gleichen Tag betreffend das Vereinigte Königreich wird Art. 295 EGV nicht erörtert.
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che Verflechtung im Binnenmarkt jedenfalls zur Reduktion staatlicher Handlungsspielräume führen. 3. Die Diskussion im Schrifttum a) Einführung Im Schrifttum werden freilich auch andere Auffassungen zu Funktion und Inhalt von Art. 345 AEUV vertreten. Aus der Stellung des Art. 345 AEUV im sechsten Teil des Vertrags („Allgemeine und Schlussbestimmungen“) wird zwar einhellig auf eine umfassende Geltung der Vorschrift für alle Sektoren des Vertrags geschlossen.38 Einigkeit besteht überdies dahingehend, dass es sich bei der Norm in dogmatischer Hinsicht um eine negative Kompetenzbestimmung in Form eines Kompetenzausübungsvorbehalts bzw. einer Kompetenzausübungsschranke handelt.39 Mit Blick auf die Errichtung des europäischen Binnenmarktes formuliert Art. 345 AEUV so gesehen also einen weitgehenden Integrationsverzicht zugunsten der Mitgliedstaaten. Die Norm weist insoweit einen einzigartigen Charakter auf, da an keiner anderen Stelle des Vertrags ein Sektor von vornherein explizit aus der Zuständigkeit der Gemeinschaft ausgeklammert wird.40 Die Frage, welcher Inhalt dem Begriff der „Eigentumsordnung“ in Art. 345 AEUV beizumessen ist, ist hingegen umstritten: Das Spektrum der vertretenen An37 Kruse, Kommunale Sparkassen im Blickfeld des europäischen Beihilfenrechts, NVwZ 2000, S. 721 ff. 38 So bereits Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWGVertrag, 1969, S. 23 und Ferrari-Bravo, Les articles 90 et 37 dans leurs relations avec un régime de concurrence non falsifiée. Les incidences des règles de concurrence et de l’article 222 sur les possibilités de nouvelles nationalisations ou socialisations de secteurs économiques, in: Semaine de Bruges 1968 – L’entreprise publique et la concurrence, 1969, S. 409 (416), später Riegel, Die Einwirkung des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten, RIW / AWD 1979, S. 744 (745); Röttinger, in: Lenz (Hrsg.), EGV, Art. 295, Rn. 1; Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 1. 39 Ruffert, Zur Bedeutung des Art. 295 EGV, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, S. 10 (18); Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 3; Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 5; Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 1; Klein, in: Hailbronner / Klein / Magiera / MüllerGraff (Hrsg.), HK-EGV / EUV, Art. 222 EGV, Rn. 6; Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung, EuR 2006, S. 463 (474); Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 46 f.; von Danwitz, Eigentumsschutz in Europa und im Wirtschaftsvölkerrecht, in: Ders. / Depenheuer / Engel (Hrsg.), Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (271). 40 Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 1.
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sichten lässt sich nach der tendenziellen Weite bzw. Enge der Auslegung dieses Kompetenzausübungsvorbehalts systematisieren.41 b) Weite Auslegung des Art. 345 AEUV Eine von einem Teil des Schrifttums vertretene weite Interpretation des Art. 345 AEUV subsumiert unter den Begriff der Eigentumsordnung alle das Privateigentum betreffenden verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten, womit nicht nur die Vorschriften bezüglich der Rechte des Eigentümers beim Entzug des Eigentums gemeint sind, sondern ebenfalls auch jene betreffend die Ausübung und Nutzung des Eigentums.42 Konkret wird die Eigentumsordnung als „die Gesamtheit der Vorschriften ( . . . ), die in jedem Mitgliedstaat die mit dem Eigentum verbundenen Rechte und Pflichten, die Möglichkeit zur Beschränkung oder Einziehung von Eigentumsrechten sowie insbesondere auch die Rechte und Pflichten bei der Überführung von privatem Eigentum in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinschaft regeln“ definiert.43 In Teilen der Literatur wird zur Begründung ein systematischer Vergleich mit Art. 4 Abs. 2 EUV (ex-Art. 6 Abs. 3 EUV) angeführt, wonach die Union die „nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“ achtet.44 Auch dieser Begriff werde im EU-Vertrag nicht definiert, müsse aber unter Einbeziehung der essentiellen verfassungsrechtlichen Elementarstrukturen der Vertragsstaaten in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht umfassend ausgelegt werden. Neben verfassungsrechtlichnormativen sei daher auch auf historische, wirtschaftliche, rechtliche, religiöse, und soziokulturelle Eigenarten der Vertragsstaaten Rücksicht zu nehmen.45 Dies mag für Art. 4 Abs. 2 EUV zwar gelten. Mit Blick auf Art. 345 AEUV passt dieser Vergleich jedoch nicht. Wollte man Art. 345 AEUV ein entsprechend weitgefasstes Verständnis zugrunde legen, insbesondere auch „die mit dem Eigentum verbundenen Rechte und Pflichten“ einbeziehen, so liefe dies auf eine Gleich41 So auch Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 9; Storr, EuZW 2007, 232 (234 f.). 42 Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 7; Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EU-Vertrag, 2004, S. 265; Stumpf, EuR 2007, 291 (295 ff.). 43 Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 7; ähnlich Schweitzer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), EU-Vertrag, Art. 222, Rn. 5; Stumpf, EuR 2007, 291 (295 ff.); Mégret, Le Droit de la Communauté économique européenne, Band 15 (1987), Art. 222, Ziff. 2 (S. 423); Riegel, Die Einwirkung des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten, RIW / AWD 1979, S. 744 (745). 44 Zeiss, Privatfinanzierung staatlicher Infrastruktur: Modelle, Strukturen, nationales Haushaltsverfassungsrecht und Wettbewerbsorientierung des Gemeinschaftsrechts, Diss. Univ. Bonn 2000, S. 139 f. 45 Puttler, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 EUV, Rn. 44; Klein, in: Hailbronner / Klein / Magiera / Müller-Graff (Hrsg.), HK-EGV / EUV, Art. F, Rn. 6.
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setzung der Begriffe „Eigentumsordnung“ und „Sachenrecht“ hinaus. Im Ergebnis wären dann aber bereits die wenigen aufgezeigten Entscheidungen des EuGH mit der Unberührtheitsanordnung des Art. 345 AEUV unvereinbar, darüber hinaus jede eigentumsberührende Maßnahme der Union problembehaftet und letztlich jede Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm (z. B. Art. 34 AEUV, ex-Art. 28 EGV) zu Lasten von Eigentumspositionen inkompatibel mit Art. 345 AEUV.46 c) Enge Auslegung des Art. 345 AEUV In der älteren Literatur wurde Art. 345 AEUV zunächst als „integrationshemmend“47, ja sogar als „integrationsfeindlich“ 48 und als „offene Flanke des Gemeinsamen Marktes“49 betrachtet, wenn nicht bestimmte Kautelen bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts beachtet würden. Unter Bezugnahme auf den Wortlaut wollte Riegel daher die Regelungswirkung des damaligen Art. 222 EWGV mit dem Beitrittszeitpunkt als erschöpft ansehen.50 Die Vorschrift sei lediglich als „Eintrittskarte“ in das Vertragssystem gedacht, die verhindern solle, dass der Beitritt in einzelnen Fällen nicht an den unterschiedlichen Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten scheitern bzw. deren vorherige Änderung voraussetzen würde. Für die Zukunft entfalte Art. 222 EWGV hingegen keinerlei Vorbehaltswirkung zugunsten der Mitgliedstaaten. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlicher Eigentumsordnung solle fortan allein durch die Einzelregelungen des EU-Vertrages bestimmt werden. Dieses Wortlautargument übersieht freilich, dass der Gebrauch des Präsens keine Eigentümlichkeit des Art. 345 AEUV, sondern das normale, im Vertragstext verwendete Tempus ist.51 Auch die systematische Stellung der Norm innerhalb der „Allgemeinen Bestimmungen“ des sechsten Teils des EU-Vertrages spricht gegen eine solche Auslegung, da diese nicht als Übergangsregelungen konzipiert wurden, sondern nach wie vor vollumfänglich gelten.
46 Müller-Graff, Einflussregulierung zwischen Binnenmarkt und Eigentumsordnung, in: FS-Ulmer, 2003, S. 929 (943). 47 Huth, Die Sonderstellung der öffentlichen Hand in den Europäischen Gemeinschaften, 1965, S. 358. 48 Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 107. 49 Zuleeg, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V. (Hrsg.), Band 1: Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, 1978, S. 73 (92). 50 Riegel, Die Einwirkung des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten RIW / ADW 1979, S. 744 (746 f.) in Anlehnung an Stendardi, Il diritto communitario e degli scambi internationali, 1963, S. 275 ff. 51 Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 69, Fn. 7.
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Einen anderen Aspekt, der für eine enge Auslegung des Art. 345 AEUV spricht, hebt daher zu Recht die heute herrschende Meinung hervor, indem sie mit Blick auf den Wortlaut der Norm zwischen Eigentumsrecht und Eigentumsordnung unterscheidet: Art. 345 AEUV betreffe explizit allein die Eigentumsordnung. In Anbetracht des (bereits vorstehend geschilderten) entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes sei der Begriff der Eigentumsordnung als Eigentumszuordnung zu verstehen. Hiermit sei die Entscheidung über Privatisierungen und Sozialisierungen einerseits und Verstaatlichungen andererseits gemeint.52 Der Normzweck von Art. 345 AEUV wird insoweit darin gesehen, dass Privatisierungs- oder Sozialisierungsmaßnahmen den Mitgliedstaaten vorbehalten sind, sie allein entscheiden gemäß ihren jeweiligen wirtschaftspolitischen Vorstellungen über eine wettbewerbskonforme Zuordnung des Eigentums. Exemplarisch für das diesbezüglich weite Gestaltungsermessen der Mitgliedstaaten sei hier auf die Verstaatlichungswelle in Frankreich nach dem Wahlsieg der sozialistischen Partei Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts verwiesen.53 d) Differenzierung nach der Herkunft der Eigentumsposition und ihrer Beschränkungsintensität Eine der weiten Auslegung verwandte, aber im einzelnen differenzierende Auffassung hebt hervor, dass jede Eigentumsordnung zunächst den Bestand von Eigentum voraussetze.54 Art. 345 AEUV verbiete daher jeden „gemeinschaftsrechtlich veranlassten Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum“. Unberührt bleiben soll allein die Befugnis der Gemeinschaft zum Erlass nutzungsbeschränkender Maßnahmen.55 Dem stehe auch nicht entgegen, dass Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GRCh eine Entschädigungsregel für den Fall des Eigentumsentzugs vorsehe, da diese Regelungen nur die Entziehung gemeinschaftsrechtlicher Vermögensrechtspositionen betreffe.56 Damit würde Art. 345 AEUV die Funktion einer „elementaren Kompetenzausübungsschranke“ gegenüber Enteignungen zuerkannt. An diese Auslegung anknüpfend will eine weitere Meinung auf Grundlage des Art. 345 AEUV nicht nur die formale Eigentumsentziehung, sondern jeden gleichgewichtigen Eingriff in den Kern des mitgliedstaatlich konstituierten Eigentumsgrundrechts untersagen.57 Eine enge Auslegung des Art. 345 AEUV (mit ihrer forKingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 11. Hierzu H. Weis, Verstaatlichungen aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, NJW 1982, S. 1910. 54 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung, EuR 2006, S. 463 (475). 55 So Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (475); im Ergebnis wohl ebenso dieser Ansicht zuneigend, jedoch weniger überzeugt und mit geringerer Vehemenz Linsmeier / Hamann, et 2007, 93 (96). 56 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung, EuR 2006, S. 463 (475). 52 53
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malen Unterscheidung von „Eigentumsgrundrecht“ und „Eigentumsordnung“) wird in diesem Kontext mit der Begründung abgelehnt, dass das mitgliedstaatliche Eigentumsgrundrecht als Institutsgarantie das dogmatische Fundament der Eigentumsordnung des Art. 345 AEUV darstelle.
III. Schlussfolgerungen Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen ist zunächst die weite, den Anwendungsbereich des Art. 345 AEUV extensiv ausdehnende Auslegung nicht überzeugend. Diese würde, wie vorstehend bereits dargelegt wurde, das gem. Art. 26 Abs. 2 und 114 AEUV (ex-Art. 14 und 95 EGV) auf die Errichtung des Binnenmarktes gerichtete, seit jeher akzeptierte „Vertragsprogramm ins Leere laufen“ lassen.58 Diese Argumentation lässt überdies, ebenso wie die differenzierenden Ansichten, in rechtspraktischer Hinsicht außer Acht, dass Unionsregelungen mit nach mitgliedstaatlichem (deutschem) Verständnis „enteignender Wirkung“ sowohl vom EuGH als auch von Teilen der Literatur gebilligt werden. Dabei handelt es sich namentlich um solche Rechtsakte, bei denen die Union zwar nicht förmlich zur Enteignung schreitet, aber im Ergebnis gleiches bewirkt.59 Im Bereich des nach Art. 36 AEUV (ex-Art. 30 EGV) so benannten „gewerblichen und kommerziellen Eigentums“60, aber auch im Bereich der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV)61, hat der Gerichtshof zudem massive Einwirkungen durch das Gemeinschaftsrecht, die nach mitgliedstaatlichem (deutschem) Verständnis einer „enteignenden“ Wirkung gleichkommen, auf mitgliedstaatlich begründete Rechtspositionen explizit für zulässig erklärt (s. o.). Diese Rechtsprechung wird im übrigen auch durch Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GRCh, der explizit eine Entschädigungsregelung für den Fall des Eigentumsentzugs vorsieht, bestätigt. Ein Anhaltspunkt dafür, dass diese Norm nur die Entziehung unionsrechtlicher Vermögensrechtspositionen betreffen soll, ist nicht ersichtlich. Ein systematischer Rückschluss aus Art. 345 AEUV wäre insoweit ein Zirkelschluss. Geht man noch viel grundsätzlicher von einem Verständnis der EU als Staatenund Verfassungsverbund62 aus, so stellt sich – entgegen der weiten und der diffeStorr, EuZW 2007, 232 (235). Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992, S. 35. 59 von Danwitz, Eigentumsschutz in Europa und im Wirtschaftsvölkerrecht, in: Ders. / Depenheuer / Engel (Hrsg.), Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (271); Penski / Elsner, Eigentumsgewährleistung und Berufsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrechte, DÖV 2001, S. 265 (269) bezugnehmend auf EuGH, Rs. T-113 / 96, Slg. 1998, II-125, Rn. 57 – E´douard Dubois et Fils / Rat und Kommission, wo von „enteignenden Maßnahmen“ und „Maßnahmen, durch welche die Freiheit, vom Eigentum Gebrauch zu machen, eingeschränkt wird“, die Rede ist. 60 Vgl. EuGH, Rs. C-92 / 92, Slg. 1993, I-5145, Rn. 22 – Phil Collins. 61 Dazu der Überblick bei Schwarze, EuZW 2002, 75 ff. 57 58
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renzierenden Auslegung des Art. 345 AEUV – die Frage danach, wer eine Eigentumsposition geschaffen hat, schon dem Grunde nach gar nicht. Denn was zum Schutzbereich des Eigentums zählt, wird innerhalb des europäischen Verbundsystems durch die mitliedstaatlichen Rechtsordnungen und die Normen des Unionsrechts gemeinsam bestimmt. Infolgedessen kann es bei einer wechselseitigen Durchdringung und Verflechtung von mitgliedstaatlichen und europäischen Verfassungs- und damit auch Eigentumsordnungen für die Frage der Zulässigkeit einer im Sinne der Wettbewerbsverfassung gebotenen Enteignung nicht darauf ankommen, welche der Ebenen das konkret betroffene Eigentumsrecht geschaffen hat. Dem entsprechend besteht insbesondere im europäischen Energiebinnenmarkt schon heute ein Koordinatensystem horizontaler und vertikaler Verflechtung von nationalen und europäischen Netzregulierungsinstanzen63, die eine solche Differenzierung praktisch nur schwer durchführbar erscheinen lassen. Inhaltlich und methodisch überzeugend sowie vor allem der EuGH-Rechtsprechung korrespondierend erscheint nach alledem allein der auch vom überwiegenden Schrifttum geteilte Ansatz, den Begriff der Eigentumsordnung im Rahmen von Art. 345 AEUV in dem Sinne eng auszulegen, als er nicht die gesamte mitgliedstaatliche Eigentumsrechtsordnung oder den Entzug mitgliedstaatlich konstituierten Eigentums samt einem Kernbereich vor unionalen Zugriffen schützt, sondern sich in seinem Kern speziell auf die Frage der Eigentumszuordnung von Unternehmen in öffentlicher oder privater Trägerschaft konzentriert.64 Bei Art. 345 AEUV handelt es sich demnach nicht um die „elementare Kompetenzausübungsschranke“, als die die oft missverstandene Norm zuweilen interpretiert wird. Ob die Union enteignend tätig werden darf, richtet sich nach der dar-
62 Vgl. BVerfGE 89, 155 (181 ff.); vgl. aus dem Schrifttum nur Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff.; Huber, VVDStRL 60 (2001), S. 194 ff.; Calliess, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 1 EUV, Rn. 25 ff. m. w. N. 63 J. Herrmann, Europäische Vorgaben zur Regulierung der Energienetze, 2005, S. 307, spricht diesbezüglich von einem „Europäischen Regulierungsverbund“. 64 Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWG-Vertrag, 1969, S. 70; Ferrari-Bravo, Les articles 90 et 37 dans leurs relations avec un régime de concurrence non falsifiée. Les incidences des règles de concurrence et de l’article 222 sur les possibilités de nouvelles nationalisations ou socialisations de secteurs économiques, in: Semaine de Bruges 1968 – L’entreprise publique et la concurrence, 1969, S. 409 (416 ff.); Everling, FS-Raiser, S. 379 (383); Frowein, Eigentumsschutz im Europarecht, in: FS-Kutscher, 1981, S. 189 (189); von Milczewski, Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 23 ff.; Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 295 EGV, Rn. 10; Koenig / Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 12; Säcker / Neumann, Rechtliche Grenzen für die Ausgestaltung von Erzeugungsquotensystemen nach Art. 58 EGKS-Vertrag, RIW / AWD 1985, S. 946 (950 f.); Thiel, Europa 1992, Grundrechtlicher Eigentumsschutz im EU-Recht, JuS 1991, S. 274 (276); Ruffert, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2003, S. 10 (14 ff., 22 ff.); im Ergebnis auch (und insoweit widersprüchlich, s. o.) Bär-Bouyssière, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 295 EGV, Rn. 10.
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gestellten Regelungsintention des Art. 345 AEUV. Dieser untersagt, wenn man die vorstehend herausgearbeiteten Kriterien der engen Auslegung zusammenfassend heranzieht, solche Eigentumsentziehungen, die die Zuordnung in Privat- und Staatseigentum betreffen, sich dabei als Teilstücke eines Privatisierungs- bzw. Verstaatlichungskurses gesamter Branchen oder gar einer gesamten Volkswirtschaft darstellen und somit maßgeblich auf wirtschaftspolitischen Erwägungen gründen. Bestätigt wird die enge Auslegung durch die im Wortlaut des Art. 345 AEUV angelegte Trennung von Eigentumsgrundrecht und Eigentumsordnung. Auch systematische und teleologische Argumente, die allesamt nur schwer (siehe oben) zu widerlegen sind, sprechen für eine enge Auslegung: Denn könnten sich die Mitgliedstaaten gegenüber Unionsakten allgemein auf ihre verfassungsrechtliche Regelungsbefugnis in Eigentumsfragen berufen, wäre die Einheit der Unionsschaftsrechtsordnung in höchstem Maße gefährdet. Die Normen des Vertrages stünden dann unter dem Vorbehalt einer anderen Regelung in Eigentumsfragen, womit die Anwendung des Vertrages auf diese Weise in vielen Bereichen zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt würde.65 Allein die enge Auslegung lässt sich auch mit der oben zitierten, auf die Verwirklichung des Binnenmarktes gerichteten Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten (Art. 26 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 14 Abs. 2 EGV) in Einklang bringen, die vielfältige Beeinträchtigungen von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum notwendig mit sich bringt (vgl. insoweit nur Art. 36 AEUV, ex-Art. 30 EGV). Wenn also Art. 345 AEUV nicht zu einer die Substanz des Binnenmarktes aushöhlenden „Schutzklausel für mitgliedstaatliche Politiken“ missbraucht werden soll66 dann kann die Norm lediglich die eigentumspolitische Neutralität des Vertrages festlegen67, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ein solches Verständnis des Art. 345 AEUV wird nicht zuletzt auch durch den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund der Norm gestützt. Dieser historischen Interpretation ist insbesondere bei einer Norm, die jahrzehntelang kaum Beachtung fand und im Wortlaut seit 1957 unverändert geblieben ist, besondere Bedeutung beizumessen.68
65 von Milczewski, Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 27. 66 Müller-Graff, Einflussregulierungen zwischen Binnenmarktrecht und Eigentumsordnung, in: FS-Ulmer, 2003, S. 929 (944); ders., Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, S. 335 f. 67 So bereits Burghardt, Die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten und der EWGVertrag, 1969, S. 70. 68 Dieses gewichtige Argument wird von vielen Autoren nicht hinreichend beachtet und findet häufig, wie etwa bei Heselhaus, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 32, Rn. 15, nur beiläufig und untergeordnet im Rahmen der Darstellung des Meinungsstreits Erwähnung.
Le retour de la France dans l’OTAN Par Jean Charpentier* En 19661, la décision du général de Gaulle de quitter les structures militaires de l’Alliance atlantique avait eu un énorme retentissement. Quarante ans plus tard, la décision du président Sarkozy de réintégrer ces mêmes structures proclamée au sommet de l’OTAN de Strasbourg du 4 avril 2009, devait en être l’événement majeur. En fait, la déclaration du Sommet a consacré un paragraphe sur 62, soit 2 lignes sur 5002. On serait donc tenté de reconnaître, avec le Premier ministre3, que ce retour est un simple «ajustement» et que les effets qu’il est susceptible de produire, tant en ce qui concerne la place de la France dans l’OTAN que la conciliation entre la défense européenne et la défense atlantique, sont essentiellement «symboliques»4. I. La France dans l’OTAN «La France est fidèle à l’Alliance atlantique, elle remet en cause l’organisation militaire intégrée qui lui avait été superposée». Tel est l’axiome justifiant, en mai 1966, le retrait français de l’OTAN5. Axiome aujourd’hui obsolète dès lors que la France a manifesté sa volonté de reprendre une pleine participation aux structures de l’OTAN. * Professeur émérite, Université de Nancy. 1 Cet espace de temps de 43 ans est aussi celui qui sépare l’époque où je décelais chez Wilfried Fiedler, mon étudiant à Grenoble, l’aptitude à une brillante carrière universitaire et celle où sa notoriété a été reconnue à Sarrebruck par ses pairs qui lui ont conféré l’éméritat et offert ce liber amicorum auquel je suis heureux de contribuer. 2 «Nous saluons chaleureusement la décision qu’a prise la France de participer pleinement aux structures de l’OTAN, qui contribuera davantage au renforcement de l’Alliance» (§ 5). Au niveau interne, le retour de la France dans l’OTAN a fait l’objet d’un débat à l’Assemblée nationale le 17 mars, qui s’est conclu par une vote favorable de 329 voix contre 238, mais l’opposition a fait grief au gouvernement d’avoir choisi la procédure de la question de confiance sur la politique étrangère et non pas un débat sur la réintégration de l’OTAN. Il est intéressant de constater que la même procédure – et la même critique – avait eu lieu en 1966, lors de la décision de retrait les 15 et 21 avril. 3 JO – AN. 18 mars 2009, p. 2658. 4 J.F. Coppé. JO. AN. 18 mars 2009, p. 2663. 5 Cf. mon article à l’AFDI. 1966, p. 409 – 432: «Le retrait français de l’OTAN».
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Au premier abord, cet aller-retour ne peut manquer de paraître paradoxal à tout honnête citoyen qui cherche à comprendre l’adaptation de l’OTAN à l’évolution stratégique du monde: en 1966, en pleine guerre froide, alors que la menace soviétique rendait nécessaire un renforcement de la «capacité collective de résistance à une attaque armée» (art. 3 du Pacte), la France s’en dégage. En 2009, la France réintègre les structures de défense intégrées, alors qu’aucune menace ne pèse plus sur l’Europe. Mais, au-delà du paradoxe, il faut examiner concrètement, pour en apprécier la portée, les conséquences du retour au regard de celles du retrait. En 1966, dans le souci affiché par la France de «recouvrer sur son territoire l’entier exercice de sa souveraineté», son retrait de l’OTAN se traduisait par des effets physiquement tangibles: départ des bases militaires alliées, essentiellement américaines, installées en territoire français, fin de l’affectation des forces françaises en Allemagne au Commandement allié en Europe, corrélativement transfert du siège de l’OTAN en Belgique, et, bien sûr, le retrait des officiers français des Etats-majors de l’OTAN et celui des représentants du gouvernement des organes de décisions militaires, le Comité militaire en particulier. La licéité de ce retrait unilatéral, et spécialement la décision de mettre fin à l’affectation des forces françaises en Allemagne au Commandement allié, pouvait être mise en doute, eu égard à la résolution du Conseil atlantique du 22 octobre 1954 qui l’avait établie pour tous les Etats membres6. La contester eut été cependant inopportun et inefficace. D’autant que la France pouvait invoquer un argument politique plus sérieux. Durant les premières années de la guerre froide, les Etats-Unis disposaient du monopole de l’arme nucléaire, ce qui justifiait la stratégie de l’OTAN de la riposte massive: les pays européens se sentaient parfaitement protégés, la moindre intervention armée de l’Union soviétique entrainant une riposte nucléaire. Mais depuis, l’URSS avait acquis l’égalité tant en matière d’ogives que de vecteurs, et l’OTAN avait dû tenir compte de cet équilibre de la terreur en adoptant la stratégie de la riposte graduée: désormais les pays européens risquaient de lourdes destructions conventionnelles avant que les Etats-Unis ne brandissent la riposte nucléaire. La France cherchait d’autant plus à échapper à cette situation qu’elle venait d’acquérir une force de frappe sans doute modeste, mais suffisante pour écarter une menace d’agression conventionnelle. La situation résultant du retour de la France dans l’OTAN en 2009 est loin d’être symétrique, tant par sa portée que par sa motivation. La défense de la France reste indépendante. Soucieuse d’apparaître fidèle au cœur même de la pensée gaulliste, le Président de la République a beaucoup insisté sur son souci de garantir notre indépendance nationale; à cet égard, et tout d’abord, «aucun processus de décision à l’OTAN ne peut nous contraindre contre notre volonté»7; cela n’a pas besoin Ibid. p. 418. Sur tous ces points, consulter le discours prononcé par Nicolas Sarkozy le 11 mars devant la Fondation pour la recherche stratégique, publié dans Le Monde du 13 mars 2009. 6 7
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d’être démontré, puisque, comme il le reconnaît lui-même, les décisions du Conseil européen sont prises à l’unanimité. Ensuite, «naturellement, nous allons conserver notre dissuasion nucléaire indépendante», le contraire étant politiquement et techniquement difficilement concevable. Enfin, aucun contingent de forces françaises ne sera placé «en permanence sous commandement allié en temps de paix»; cela vise les forces françaises en Allemagne et rompt sur ce point avec la décision de 1966, quoique sans grande portée pratique, mais ne vise pas, par exemple, la situation du contingent français de l’ISAF sous commandement de l’OTAN en Afghanistan. Alors – et si l’on ajoute qu’aucune implantation de bases américaines en France n’est d’actualité, pas plus que la réinstallation du siège de l’OTAN – que reste-t-il de la portée de ce retour? La participation de la France aux organes de décisions militaires? Le principal est le Comité militaire, mais la France l’a réintégré dès 1996, par la volonté de Jacques Chirac, alors président, de réintégrer, déjà à cette époque, l’OTAN. Cette tentative avait fait long feu, la France n’obtenant pas l’un des trois grands commandements opérationnels qu’elle convoitait, celui de l’Europe du sud, basé à Naples; les EtatsUnis, qui exercent ce commandement conjointement avec celui de la flotte américaine en méditerranée, s’y étent fermement opposés. Nicolas Sarkozy a-til obtenu ce qui avait été refusé à Jacques Chirac? Pas exactement. Il est entendu que la France va assumer le commandement stratégique dit de la transformation, le SACT, basé à Norfolk (USA) ainsi que le commandement régional de Lisbonne; mais le premier est un organe de réflexion sur l’avenir de l’OTAN, dont le fait d’en assurer le commandement ne donne à son titulaire qu’une satisfaction de prestige; et le second est chargé de s’occuper de la situation dans la zone atlantique et en Afrique, où chacun reconnaît que l’OTAN a une très faible importance. Bien entendu, à ces attributions de prestige s’ajoute outre la participation déjà effective au Comité militaire, celle au Comité des plans de défense, centre de décision névralgique de la planification de la défense à long terme (mais pas celle au Groupe des plans nucléaires, puisque la France reste maîtresse de l’emploi de sa force de frappe nucléaire). Et ces manifestations entraineront une augmentation du nombre des officiers français affectés à l’OTAN (on parle de 800 en 3 ans) et, corrélativement, un accroissement de la participation de la France au budget de l’OTAN, qui pourrait passer de 145 millions d’euros à 225. En définitive, ces modifications apparaissent assez secondaires; le premier ministre, on l’a dit, n’hésite pas à parler d’un «simple ajustement». L’essentiel est de renforcer l’influence de la France dans l’OTAN, et plus largement dans le monde. Il s’agit «d’assurer la sécurité et l’influence de la France», «d’influer plus largement sur la définition des stratégies et la conduite des opérations»8. Aussi bien 8
JO. AN. Loc. cit., p. 2662.
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n’invoque-t-on pas un changement fondamental de circonstances inversement symétrique à celui qui pouvait justifier le retrait de 1966, mais tout au plus un ensemble de circonstances qui pourraient expliquer le choix du moment où le retour a été proclamé. Elles sont à tout le moins aléatoires: le dynamisme de la présidence française de 2008 ne garantit pas une audience accrue au renforcement attendu de la PESD; la proclamation par le Traité de Lisbonne – dans l’espoir de son entrée en vigueur – de la conformité de la politique de défense européenne avec celle de l’OTAN n’ajoute pas grand chose à celle déjà exprimée par le Traité d’Amsterdam; reste enfin l’attente – mais ce n’est qu’un espoir – d’une amélioration des relations transatlantiques avec l’investiture de Barak Obama. On le voit: la décision de la France de réintégrer l’OTAN est donc fondamentalement politique et c’est à ce niveau qu’elle suscite la controverse: pour les uns, en étant présente dans les structures de l’OTAN, la France pourra plus efficacement convaincre ses alliés, et spécialement les Etats-Unis de la justesse de ses positions dans les affaires du monde, notamment dans les relations avec la Russie ou avec les pays du Sud; pour les autres, elle va au contraire perdre l’influence que lui donnait son intransigeance et céder à tous les coups aux pressions américaines. Ce n’est pas à nous de trancher le débat; disons toutefois que le Président de la République a su éviter de donner de l’eau au moulin de ses adversaires en déclinant à Strasbourg la demande américaine d’augmenter notre contingent militaire en Afghanistan et en réaffirmant qu’il appartenait à l’Europe seule et non aux Etats-Unis de trancher la question de l’adhésion de la Turquie à l’Union européenne. Et c’est plus encore à propos des rapports entre l’Union européenne et l’OTAN que le retour de la France dans l’OTAN a une portée essentiellement politique.
II. La France entre l’Union européenne et l’OTAN Comme l’expose exactement le Président de la République9 «L’ambition française pour la défense européenne a longtemps suscité la méfiance en Europe et en Amérique. Aux yeux de beaucoup, la France en poussant la défense européenne, cherchait à affaiblir le lien transatlantique et l’Alliance». Dès lors, en rentrant dans l’OTAN, la compatibilité de la défense européenne avec la défense atlantique est manifestée, la méfiance tombe, la défense européenne peut progresser. C’était déjà l’argument invoqué par Jacques Chirac en 1995 pour justifier sa tentative de rentrer dans l’OTAN. Il faut reconnaître que cette méfiance était profondément enracinée dans l’esprit des dirigeants des pays de l’Est candidats à l’adhésion; en février 2003, encore, ils avaient clairement laissé entendre, en soutenant officiellement l’invasion de l’Irak par les Etats-Unis, qu’ils comptaient beaucoup plus sur l’OTAN que sur l’Europe pour garantir leur sécurité 9
Discours précité du 11 mars.
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contre le retour – si improbable qu’il fût – de l’agression qu’ils avaient subie de la part de leur voisin de l’Est. On ne saurait les en blâmer, s’agissant de la défense. Mais est-ce bien de défense qu’il s’agit? C’est là le cœur du problème. Tout repose sur une ambiguïté terminologique, inconsciente ou volontaire, incompréhensible et dramatique en tout cas. Si l’on se réfère au dictionnaire Petit Robert, la défense est «l’ensemble des moyens militaires utilisés pour défendre un peuple». Le dictionnaire Flammarion est encore plus net: c’est «l’action de repousser une agression». Dans le cadre européen c’est l’engagement pris par chacune des Parties au Pacte Atlantique, dans son article 5, «d’assister toute Partie victime d’une attaque armée par toute action jugée nécessaire, y compris l’emploi de la force armée», et cela conformément à l’article 51 de la charte de l’ONU qui reconnaît le droit naturel de légitime défense, individuelle ou collective. Mais il est bien évident que le Traité de Maastricht, même s’il envisage – par paresse terminologique ou fanfaronnade? – une «définition à terme d’une politique de défense commune», dont il délègue la préparation à l’UEO, très liée à l’OTAN, n’inclut dans la Politique étrangère et de sécurité (PESC) qu’il lance (article J 4) que «l’ensemble des questions relatives à la sécurité de l’Union européenne»; et l’article 17 du Traité d’Amsterdam, qui développe cet article, énumère dans les questions visées «les missions humanitaires et d’évacuation, les missions de maintien de la paix et les missions de forces de combat pour la gestion des crises, y compris les missions de rétablissement de la paix». «Gestion des crises», voilà le maître mot qui va définir la nouvelle politique de l’Union européenne – la PESD, même si elle n’est pas encore délivrée de la gangue terminologique de la «défense». La fameuse déclaration franco-britannique de Saint Malo du 4 décembre 1998, que l’on considère justement comme étant à l’origine de la PESD, même si elle se réfère à l’objectif, fixé à l’article J4 du Traité de Maastricht, du «développement progressif d’une politique de défense» en fixe le nouvel objectif: «avoir une capacité autonome d’action, appuyée sur des forces militaires crédibles, . . . » et la déclaration du Conseil européen de Cologne du 3 juin 1999, après avoir repris presque textuellement les termes de la déclaration franco britannique, conclut: «notre intention est de mettre en place un véritable dispositif de gestion des crises conduit par l’Union européenne». Gestion des crises, défense, deux notions bien différentes, même si elles ont des éléments d’interférence, et dont une analyse objective aurait permis d’éviter bien des confusions et des méfiances. Car, enfin, sécuriser la frontière entre la Macédoine et le Kosovo, rétablir la paix en Bosnie-Herzegovine en application des accords de Dayton, améliorer le sort des réfugiés du Darfour au Tchad, conseiller et encadrer la police palestinienne, conforter le fonctionnement de l’Etat de droit au Kosovo – ce sont là quelques unes des missions de la PESD –, ce ne sont pas des opérations militaires de défense
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contre une agression, ce sont des actions de gestion des crises, appuyées par des forces armées, mais éventuellement civiles, dans le but de «renforcer la PESC». D’ailleurs, le Traité d’Amsterdam, dans le même article 17 déjà cité, prend soin du proclamer la compatibilité de cette PESD avec les obligations des signataires du Pacte Atlantique «qui considèrent que leur défense commune est réalisée dans le cadre de l’OTAN». Cela ne veut pas dire que l’Union européenne et l’OTAN agissent dans des domaines totalement séparés, l’une la gestion des crises et l’autre la défense, car le rôle de l’OTAN, depuis la fin de la guerre froide, s’est profondément modifié: restant chargée «d’assurer une solide défense des populations des territoires et des forces de nos pays», elle revendique son «aptitude à faire face aux menaces, existantes ou nouvelles, qui pèsent sur la sécurité au XXIè siècle»10, menaces telles que le terrorisme, la prolifération des armes de destruction massives et de leurs vecteurs, ainsi que les cyber attaques auxquelles s’ajoutent «d’autres défis, tels que la sécurité énergétique, la changement climatique et l’instabilité émanant des Etats fragiles et des Etats faibles [qui] peuvent également avoir une incidence sur la sécurité des alliés et sur la sécurité internationale». Dès lors, les efforts menés par l’OTAN et par l’UE – avec la PESD – pour écarter ces menaces, loin de se concurrencer, se renforcent et se complètent. Les déclarations du Sommet de Strasbourg insistent sur cette harmonisation: «l’OTAN reconnaît l’importance d’une défense européenne [hommage à l’inusable terminologie traditionnelle] plus forte et plus performante et se félicite des efforts que déploie l’UE pour renforcer ses capacités et son aptitude à relever les défis de sécurité commune auxquels l’OTAN et l’UE sont confrontées aujourd’hui. Ces développements ont des incidences significatives et présentent un grand intérêt pour l’Alliance dans son ensemble, raison pour laquelle l’OTAN, compte tenu des préoccupations actuelles des Alliés, se tient prête à soutenir l’UE et à travailler avec elle dans ces efforts se renforçant mutuellement» 11. Et ailleurs, «nous sommes déterminés à faire en sorte que la relation OTAN-UE soit un partenariat stratégique et effectif, selon les décisions prises par l’OTAN et par l’UE. Nos efforts doivent se renforcer mutuellement et se compléter»12. Saluons cette heureuse harmonie. Espérons qu’elle mettra fin au climat de méfiance qui s’est trop longtemps perpétué. Faut-il la mettre au crédit du retour de la France dans l’OTAN? Pour l’instant on notera que l’accès de l’UE aux moyens et capacités de l’OTAN (dit «Berlin / plus» dans le jargon de l’OTAN) qui est l’expression concrète essentielle de cette harmonie, fonctionne de façon satisfaisante depuis plus de cinq ans, mais qu’en revanche la création d’un quartier général permanant pour les opérations de l’UE continue à se heurter aux réticences de 10 Déclaration du sommet de Strasbourg § 3 ainsi que la déclaration jointe sur la sécurité de l’Alliance. 11 Déclaration précitée § 20. 12 Déclaration sur la sécurité de l’Alliance précitée.
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l’OTAN. Espérons malgré tout que le retour de la France dans l’OTAN, au-delà d’une orientation atlantique de la politique européenne de défense, devra renforcer le poids de l’Europe dans l’OTAN.
Das nordkoreanische Atomprogramm – eine Bedrohung des Weltfriedens? Von Udo Fink* I. Der Koreakonflikt 1950 – 1953 Korea gehörte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts völkerrechtlich zu China.1 Im Jahr 1895 erkannte China im Vertrag von Shimonoseki2 an, dass Korea vollständig unabhängig und autonom sein sollte. Dieser Vertrag, der zwischen China und Japan geschlossen wurde, markierte jedoch zugleich den Beginn einer zunehmenden Abhängigkeit Koreas von Japan. Im Vertrag von Seoul vom 22. August 1910 trat Korea schließlich sämtliche aus seiner Souveränität fließenden Rechte an Japan ab.3 Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg marschierten die Truppen der Sowjetunion am 12. August 1945 in Korea ein. Japan kapitulierte am 14. August 1945 und erklärt sich im Waffenstillstandsabkommen vom 1. September 1945 damit einverstanden, den Beschlüssen von Potsdam Folge zu leisten und damit auch auf alle Souveränitätsrechte über Korea zu verzichten.4 Die Truppen der Vereinigten Staaten besetzen dann ab dem den 8. September 1945 das Gebiet südlich des 38. Breitengrades. Nach dem Ausbruch des Ost-West-Konflikts konnten sich die beiden Besatzungsmächte nicht mehr auf eine Vereinigung der beiden Teilgebiete zu einem einheitlichen Korea einigen. Am 17. September 1947 brachten die Vereinigten Staaten das Problem der Unabhängigkeit Koreas vor die Generalversammlung der Verein* Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und internationales Wirtschaftsrecht, Universität Mainz. 1 Zur Vorgeschichte vgl. Goodrich, Leland M., Korea – A Study of U.S. Policy in the United Nations, 1956, S. 7 ff.; Bindschedler-Robert, Encyclopedia of Public International Law, Vol. 12, 1999, S. 202 ff. 2 In Artikel I des Vertrages heißt es: „China recognizes definitely the full and complete independence and autonomy of Korea“, Martens, Nouveau Recueil de Traités, 2ème Série, Tome 21, S. 643. 3 In Artikel I heißt es: „His Majesty the Emperor of Korea makes complete and permanent cession to His Majesty the Emperor of Japan of all rights of sovereignty over the whole of Korea“, Martens, Nouveau Recueil Général de Traités, 3ème Séries, Tome 4, S. 24 f. 4 „Proclamation by the Heads of Governments, United States, China and the United Kingdom“ vom 26. Juli 1945 in, Foreign Relations of the United States, The Conference of Berlin 1945, Vol. II, No.1382.
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ten Nationen. Die Generalversammlung erließ am 14. November 1947 eine Resolution5, in welcher sie die „United Nations Temporary Commission on Korea (UNTCOK)“ einsetzte, welche die Durchführung allgemeiner Wahlen in ganz Korea vorbereiten und kontrollieren sollte. Auf der Grundlage dieser Wahlen konstituierte sich im Süden Koreas am 31. Mai 1948 eine koreanische Nationalversammlung, die Dr. Syngman Rhee zum Staatspräsidenten der Republik Korea wählte. Bereits am 16. Februar 1948 wurde im Norden die Demokratische Volksrepublik Korea ausgerufen.6 Am 25. August fanden dort unter sowjetischer Kontrolle Wahlen statt7, erster Staatspräsident Nordkoreas wurde Kim Il Sung. Am 11. Oktober 1948 nahm die Sowjetunion diplomatische Beziehungen zu Nordkorea auf.8 Am Morgen des 25. Juni 1950 überschritten bewaffnete Streitkräfte Nordkoreas ohne Vorwarnung den 38. Breitengrad in breiter Front. Der UN-Sicherheitsrat stellte in der Resolution 82 (1950) einen Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit fest und forderte die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Nordkorea seine Truppen hinter den 38. Breitengrad zurückzieht.9 Daraufhin begannen die Vereinigten Staaten mit einer breit angelegten Militäraktion, die zunächst zum Rückzug der nordkoreanischen Truppen führte. Nach dem Eintritt der Volksrepublik China in den Konflikt gerieten die amerikanischen Truppen zunächst stark unter Druck konnten jedoch schließlich dafür sorgen, dass 1953 im Waffenstillstandsabkommen von Panmunjom10 eine militärische Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea festgelegt wurde, die bis heute überwiegend etwas nördlich des 38. Breitengrades verläuft und an die sich jeweils eine entmilitarisierte Zone von zwei Kilometer Tiefe anschließt.
II. Nordkoreas Atomprogramm und der Atomwaffensperrvertrag Als Verbündeter der Volksrepublik China und der Sowjetunion war Nordkorea seit den sechziger Jahren zunehmend daran interessiert, als Gegengewicht zu der Unterstützung Südkoreas durch die USA, die auch den Einsatz atomarer Waffen vorsah, seinerseits solche Waffen zu besitzen. Die Sowjetunion erklärte sich dann im Jahr 1965 bereit, einen kleinen Forschungsreaktor und ein Forschungslabor zu liefern, die in der Stadt Nyongbyon installiert wurden.11 Mitte der achtziger Jahre begann der Bau eines zweiten Reaktors, der groß genug sein sollte, um waffenfähiGA / Res 112 (II), GAOR / Second Session / Resolutions / p. 16. Vgl. Keesing’s Archiv der Gegenwart 1948 / 49, S. 1385. 7 Vgl. Keesing’s Archiv der Gegenwart 1948 / 49, S. 1611. 8 Vgl. Keesing’s Archiv der Gegenwart 1948 / 49, S. 1663. 9 SCOR / Resolutions and Decisions 1950 / p. 5. 10 AJIL, Suppl. Vol. 47, 1953, S. 186 ff. 11 Mazarr, Michael J., North Korea and the Bomb, 2. Ed., 1997, p. 23. 5 6
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ges Plutonium zu produzieren. Die Sowjetunion bot daraufhin auf Drängen der USA Nordkorea an, im Gegenzug zur Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages einen Leichtwasserreaktor zu liefern. Daraufhin trat Nordkorea 1985 dem Atomwaffensperrvertrag bei. Im September 1991 wurden Nord- und Südkorea als Mitglieder in die UNO aufgenommen. Nach dem Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Südkorea stimmte Nordkorea 1992 dem Abschluss eines Abkommens mit der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu (Safeguard Agreement), in welchem das Recht zur Inspektion der nordkoreanischen Atomanlagen vereinbart wurde.12 Ein Jahr später verweigerte Nordkorea jedoch Inspektoren der IAEA den Zutritt zur Kerntechnischen Anlage Nyongbyon und drohte mit dem Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag.13 Die IAEA stellte eine Verletzung des Safeguard Agreements fest und gab die Angelegenheit an den UN-Sicherheitsrat ab.14 Der UN-Sicherheitsrat forderte in der Resolution 825 (1993)15 Nordkorea zur korrekten Vertragserfüllung auf, ohne sich dabei jedoch auf Kapitel VII UN-Charta zu stützen. Nach zähen Verhandlungen konnte eine Eskalation der Krise durch die Unterzeichnung des Genfer Rahmenabkommens zwischen den USA und Nordkorea am 21. Oktober 199416 vorläufig abgewendet werden. Nordkorea verpflichtete sich darin zur Aufgabe seines Atomwaffenprogramms sowie zum Verbleib im Atomwaffensperrvertrag und zur Fortführung der Kontrollen durch die IAEA. Im Gegenzug sollten die in Nordkorea vorhandenen graphit-moderierten Reaktoren mit amerikanischer Hilfe zu Leichtwasserreaktoren, die zur Herstellung von atomwaffenfähigem Plutonium nicht geeignet sind, umgerüstet werden.17 Zudem sollte Nordkorea bis zu deren Fertigstellung jährlich Öllieferungen zur Bewältigung seiner Energieprobleme erhalten. Die Lieferung der Leichtwasserreaktoren kam jedoch nicht zustande. Stattdessen setzte der US-amerikanische Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 2002 Nordkorea auf eine Liste sog. „Schurkenstaaten“, die an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen arbeiteten.18 Der amerikanische
12 Int’l Atomic Energy Agency [IAEA], Agreement of 30 January 1992 between the Government of the Democratic People’s Republic of Korea and the International Atomic Energy Agency for the Application of Safeguards in Connection with the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, art. 1, IAEA Doc. INFCIRC / 403. 13 Lee, Eunice, Operation „Denucleunification“: A Proposal for the Reunification and Denuclearization of the Korean Peninsula, 33 Hastings Int’l & Comp. L., 2010, p. 245 (252). 14 Carlson, Geoffrey S., An Offer They Can’t Refuse? The Security Council Tells North Korea to Re-Sign the Nuclear Non-Proliferation Treaty, 46, Colum. J. Transnat’l L., 2008, p. 420 (435). 15 http: //daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N93/280/49/IMG/N9328049.pdf. 16 Globalsecurity.org, Nuclear Weapons Program – North Korea: 1994 Agreed Framework, http: //www.globalsecurity.org/wmd/world/dprk/nuke-agreedframework. 17 Lee (Fn. 13) p. 256 f.
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Geheimdienst glaubte Informationen zu haben, wonach Nordkorea Uran in waffenfähigen Mengen herstelle, wodurch das Rahmenabkommen aus dem Jahr 1994 seinen Sinn verloren habe. Die USA stellten dann auch die Öllieferungen ein.19 Daraufhin erklärte Nordkorea am 10. Januar 2003 seinen Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag und begründete diesen Schritt mit dem Recht zur Selbstverteidigung. Durch die Einordnung als Schurkenstaat hätten sich die USA das Recht zum atomaren Erstschlag vorbehalten, was eine weitere Mitgliedschaft im Atomwaffensperrvertrag unmöglich mache.20 Auch die Vereinbarung über die Inspektionen der internationalen Atomenergiebehörde wurde aufgekündigt.21 Als Reaktion darauf begannen Sechs-Parteien-Gespräche, an denen neben Nordund Südkorea die USA, Japan, die Russische Föderation und die Volksrepublik China beteiligt waren. Darin einigte man sich Mitte 2005 darauf, dass Nordkorea berechtigt sei, an einem Programm zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu arbeiten.22
III. Atomwaffentests Nordkoreas und die Reaktion des UN-Sicherheitsrates Die Gespräche kamen jedoch in der Folge ins Stocken und die Krise verschärfte sich. Im Juli 2006 feuerte Nordkorea erstmals ballistische Raketen ab, wodurch das Land seine Fähigkeit zu einem Raketenangriff mit atomaren Waffen demonstrieren wollte.23 Der Sicherheitsrat reagierte darauf mit der Resolution 1965 (2006).24 Darin bestätigt er seine bereits zuvor geäußerte Auffassung25, dass die Verbreitung von atomaren, chemischen und biologischen Waffen eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit darstelle.26
18 George W. Bush, President of the United States, State of the Union Address (Jan. 29, 2002) (transcript available at http: //archives.cnn.com/2002/ALLPOLITICS/01/29/bush. speech.txt/). 19 Lee (Fn. 13) p. 258. 20 http: //www.handelsblatt.com/archiv/atomwaffensperrvertrag-nordkorea-steigt-aus; 595403. 21 Vgl. Lee (Fn. 13) p. 258. 22 Lee (Fn. 13) p. 259. 23 Die Rakete vom Typ Taepodong-2 stürzte jedoch nach 40 Sekunden ins Meer; http: // www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,425350,00.html. 24 http: //daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N06/431/64/PDF. 25 In der Resolution 1540 (2004) heisst es erstmals: The Security Council . . . Affirming that proliferation of nuclear, chemical and biological weapons, as well as their means of delivery, constitutes a threat to international peace and security. . . 26 The Security Council . . . Reaffirming that proliferation of nuclear, chemical and biological weapons, as well as their means of delivery, constitutes a threat to international peace and security. . . .
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Am 9. Oktober 2006 schließlich führte Nordkorea einen unterirdischen Atomwaffentest durch.27 Der UN-Sicherheitsrat erließ daraufhin die Resolution 1718 (2006).28 Darin heißt es: The Security Council, Reaffirming that proliferation of nuclear, chemical and biological weapons, as well as their means of delivery, constitutes a threat to international peace and security. . . Expressing profound concern that the test claimed by the DPRK has generated increased tension in the region and beyond, and determining therefore that there is a clear threat to international peace and security. . . Acting under Chapter VII of the Charter of the United Nations, and taking measures under its Article 41, 1. Condemns the nuclear test proclaimed by the DPRK on 9 October 2006 in flagrant disregard of its relevant resolutions, in particular resolution 1695 (2006), as well as of the statement of its President of 6 October 2006 (S / PRST / 2006 / 41), including that such a test would bring universal condemnation of the international community and would represent a clear threat to international peace and security; 2. Demands that the DPRK not conduct any further nuclear test or launch of a ballistic missile; 3. Demands that the DPRK immediately retract its announcement of withdrawal from the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons; 4. Demands further that the DPRK return to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons and International Atomic Energy Agency (IAEA) safeguards, and underlines the need for all States Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons to continue to comply with their Treaty obligations . . .
Außerdem wurde auf der Grundlage von Art. 42 UN-Charta in dieser Resolution ein umfangreiches Waffen- und Handelsembargo gegen Nordkorea verhängt.29 Nach einer Phase scheinbarer Entspannung, in der Nordkorea und die USA im Jahr 2008 ein Abkommen schlossen, das den Stopp weiterer Atomtests vorsah30, führte Nordkorea am 25. Mai 2009 erneut einen Kernwaffentest sowie den Abschuss mehrerer Raketen durch.31 Der Sicherheitsrat verurteilte auch diese Aktionen als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit.32 Seitdem ist die Lage nahezu unverändert.
Zeit Online v. 10. 10. 2006, http: //www.zeit.de/online/2006/41/Atomtest-Nordkorea. http: //daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N06/572/07/PDF. 29 Vgl. dazu Carlson (Fn. 14) p. 440 ff. 30 Lee (Fn. 13) p. 260. 31 http: //www.sueddeutsche.de/politik/kim-jong-il-und-die-bombe-nordkoreas-atomtestbeunruhigt-usa-1.444515. 32 S / RES / 1874 (2009). 27 28
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IV. Die nordkoreanischen Atomwaffentests als Bedrohung des Weltfriedens? 1. Der Begriff des Friedens in Art. 39 UN-Charta Zunächst muss festgestellt werden, was unter „Frieden“ im Sinne des Artikels 39 UNC zu verstehen ist. Das VII. Kapitel der UN-Charta steht unter der Überschrift: Aactions with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace and, Acts of Aggression“. Gemäß Art. 39 UN-Charta stellt der Sicherheitsrat fest, ob eine Bedrohung des Friedens oder ein Bruch des Friedens oder eine Aggression vorliegt, er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. Art. 39 UN-Charta bezeichnet also mit der Feststellung einer Bedrohung des Friedens („threat to the peace“), eines Bruchs des Friedens („breach of the peace“) oder einer Aggression („act of aggression“) durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die tatbestandlichen Voraussetzungen dafür, dass Zwangsmaßnahmen nach dem VII. Kapitel getroffen werden können.33 Der Begriff Frieden spielt dabei die entscheidende Rolle. Er ist für das Eingreifen der beiden ersten Alternativen schlechthin konstituierend und auch der Begriff der Aggression steht in engem Zusammenhang zu diesem, da eine Aggression immer zugleich einen Bruch des Friedens beinhaltet.34 Die daraufhin getroffenen Zwangsmaßnahmen werden deshalb auch nach einer neueren Terminologie insgesamt als „peacemaking sanctions“ bezeichnet.35 Der Frieden ist aber nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein ethisch werthaftes und ein politisch soziologisches Phänomen, dessen verschiedene Facetten eine einheitliche und normativ hinreichend sichere Deutung außerordentlich schwierig machen. Die Diskussion um den Inhalt des Friedensbegriffs bewegt sich in den Kategorien des engen, negativen Friedensbegriffs auf der einen Seite und des weiten, positiven Friedensbegriffs auf der anderen Seite. Der negative Frieden wird meist durch die Abwesenheit militärischer Gewalt zwischen Staaten oder staatsähnlichen Gebilden gekennzeichnet. Insoweit besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Gewaltverbot gemäß Art. 2 (4) UN-Charta und dem Friedensbegriff des VI. und VII. Kapitels der UN-Charta.36 Dabei ist das Gewaltverbot, wie etwa der Koreakrieg zeigt, auch auf de facto-Regime ohne allgemeine völkerrechtliche Anerkennung anwendbar. Vgl. Fink, Udo, Kollektive Friedenssicherung, 1999, S. 864 ff. m. w. Nw. Vgl. Frowein, Jochen Abr. in, Simma, The Charter of the United Nations, 2nd ed., 2002, Art. 39, Rdnr. 12; die im Annex zur Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung vom 14. Dezember 1974 verabschiedete „Definition of Aggression“, Yearbook of the United Nations 1974, p. 847 ff., macht diesen Zusammenhang gleichfalls deutlich, indem sie formuliert: „acts of aggression or other breaches of peace“. 35 Vgl. Faust, Dominik A., Effektive Sicherheit: Analyse des Systems kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen und Entwurf eines alternativen Sicherheitssystems, 2002, S. 110. 36 Vgl. dazu Fink (Fn. 33) S. 882 ff. m. w. Nw. 33 34
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Diese enge Deutung des Friedensbegriffs der UN-Charta wird jedoch zunehmend aufgeweicht. Das Völkerrecht wandelt sich von einer rein koordinationsrechtlichen Ordnung, die ohne ethisch moralische Bewertung innerstaatlicher Vorgänge die Sicherung der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten zum Dogma erhebt, hin zu einer zwischen den Staaten aber auch in den Rechtsordnungen der Staaten materielle Gerechtigkeit verfolgenden Werteordnung. Die klassische Diskussion um die Geltung des negativen oder des positiven Friedensbegriffs verändert damit ihre Grundlagen. Je mehr sich das Völkerrecht hin zu einer materiellen Friedensordnung entwickelt, werden Anliegen der Verfechter eines positiven Friedensbegriffs von der ethisch moralischen Ebene in das geltende Recht transformiert. Damit hat sich die Diskussion um den Friedensbegriff jedoch noch nicht erledigt. Auch das moderne Völkerrecht verzichtet zur Umschreibung des Friedens nicht auf das Kriterium der Abwesenheit von Gewalt. Nur der Kreis der vor der Gewalt geschützten Güter wird erweitert. Dies gilt namentlich für die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es in dem gleichlautenden Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte als Rechtsprinzip verankert ist.37 Die Menschenrechte sind heute auf der Grundlage der vielfältigen vertraglichen Regelungen eine Angelegenheit, die nicht mehr wesensmäßig der Jurisdiktion der Staaten unterliegt. Dieser Schluss gilt für den sogenannten menschenrechtlichen Mindeststandard, womit nach einer weit verbreiteten Auffassung zumindest die Gewährleistung des individuellen Rechts auf Leben, das Verbot des Völkermordes, das Verbot der Sklaverei, das Folterverbot und das Verbot der menschenunwürdigen Behandlung gehören, auch gewohnheitsrechtlich. Dieser menschenrechtliche Mindeststandard soll zudem erga omnes wirken, das heißt jeder Staat soll unabhängig davon, ob er oder seine Bürger in einem konkreten Konflikt betroffen sind, die Befugnis haben, sich für die Gewährleistung des menschenrechtlichen Mindeststandards überall auf der Welt einzusetzen. Dritte Staaten sind deshalb auch nicht mehr durch das Interventionsverbot daran gehindert, die Menschenrechte einzufordern. Für die UN-Charta haben die Organe der Vereinten Nationen auf dieser Grundlage mittlerweile in einer Vielzahl von Resolutionen die Folgerung gezogen, dass die Beachtung der Menschenrechte gemäß Art. 56 i.V. m. Art. 55 c UN-Charta eine echte Rechtspflicht darstellt, und dass die Verletzung dieser Pflicht genauso wie die Verletzung des Gewaltverbots den Frieden im Sinne der UN-Charta in Frage stellt.38 Der Sicherheitsrat hat in einigen Fällen sogar festgestellt, dass die massenhafte Verletzung fundamentaler Menschenrechte eine Bedrohung des Friedens im Sinne von Art. 39 UN-Charta darstellt und er hat sich gestützt auf diese Fink (Fn. 33) S. 894 ff. m. w. Nw. Jennings / Watts, Oppenheims International Law, Ninth Edition, 1992, S. 998 ff.; Karl, Wolfram, Besonderheiten der internationalen Kontrollverfahren zum Schutz der Menschenrechte, in: BDGV Bd. 33, 1994, S. 83 ff. 37 38
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Feststellung für befugt gehalten, Zwangsmaßnahmen unter Einschluss militärischer Gewalt gegen Mitglieder der Vereinten Nationen zu verhängen. Als beispielgebende Praxis sind insbesondere die wirtschaftlichen und militärischen Zwangsmaßnahmen in Somalia von 1992 bis 199539 und die wirtschaftlichen und militärischen Zwangsmaßnahmen in Ruanda von 1993 bis 1994 zu nennen.40 Diese Praxis ist auch rasch auf eine breite Zustimmung in der Wissenschaft gestoßen.41 Damit ist die Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards seit dieser Zeit Teil des Friedensbegriffs der UN-Charta geworden. Im Falle des koreanischen Atomprogramms geht der UN-Sicherheitsrat ersichtlich von einer Bedrohung des internationalen Friedens im Sinne des negativen Friedensbegriffs aus. Wie sich eindeutig aus dem Wortlaut der Resolution 1718 (2006) ergibt, geht der Sicherheitsrat davon aus, dass der Test der Atomwaffen zu Spannungen in der Region und deshalb zu einer Bedrohung des internationalen Friedens führt. Mit Spannungen in der Region ist ersichtlich das Verhältnis Nordkoreas zu Südkorea und dessen Verbündeten, vor allem den USA, also ein zwischenstaatlicher Konflikt mit der Gefahr der Anwendung von Gewalt im Sinne des Art. 2 (4) UN-Charta gemeint.42 Dabei ist zu festzustellen, dass der UN-Sicherheitsrat bezüglich der Frage, ob solche in den Resolutionen nicht näher identifizierten „Spannungen“ bereits die Qualität einer Bedrohung des Friedens angenommen haben, frei ist. Wie sich bereits aus der Entstehungsgeschichte der UN-Charta ergibt43, sollte die Einschätzung des Bedrohungspotentials internationaler Konflikte ausschließlich in der Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates liegen. Letztlich handelt es sich dabei um eine Frage, die der rechtlichen Überprüfung weitgehend entzogen ist, wenngleich der Internationale Gerichtshof etwa im Lockerbie Fall44 zumindest inzident die Rechtmäßigkeit von Sicherheitsratsresolutionen überprüft.45 Er hat dabei aber noch nie die politisch geprägte Einschätzung des Sicherheitsrates bezüglich der Notwendigkeit der Konfliktverhütung auf den Prüfstand gestellt.
Vgl. Fink (Fn. 36) S. 701 ff. Vgl. Fink (Fn. 33) S. 753 ff. 41 Vgl. Hutchinson, Restoring Hope: UN Security Council Resolutions for Somalia and an expanded doctrin of humanitarian interventinon, in: Harvard International Law Journal, Vol. 34, 1993, S. 624 ff.; Greenwood, Gibt es ein Recht auf humanitäre Intervention?, in: Europa-Archiv 1993 / 1, S. 93 ff.; Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, in: Der Staat 1996, S. 31 ff. 42 So auch Carlson (Fn. 14) p. 451 f. 43 Vgl. dazu Higgins, Rosalyn, The Development of International Law through the Political Organs of the United Nations, 1963, p. 66. 44 Questions of Interpretation and Application of 1971 Montreal Convention Arising from Aerial Incident at Lockerbie (Libya v. U.K.; Libya v. U.S.), ICJ-Report 1992, p. 114. 45 Vgl. dazu Franck, Thomas M., The Powers of Appreciation: Who is the Ultimate Guardian of UN Legality?, 86 Am. J. Int’l L., 1992, p. 519. 39 40
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2. Das Atomwaffenprogramm als innere Angelegenheit Nordkoreas Eine Bedrohung des internationalen Friedens könnte jedoch dann zu verneinen sein, wenn es sich bei dem Atomprogramm Nordkoreas um eine wesensmäßig innere Angelegenheit Nordkoreas handeln würde. Wie sich aus Art. 2 (7) UN-Charta ergibt, dürfen die Organe der Vereinten Nationen, und damit auch der UN-Sicherheitsrat nicht in Angelegenheiten eingreifen, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Zwar ist davon die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII ausgenommen. Diese Ausnahme gilt jedoch nur für die nach Feststellung des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 39 UN-Charta getroffenen Zwangsmaßnahmen. Das vom UN-Sicherheitsrat gegen Nordkorea auf der Grundlage von Art. 41 UN-Charta verhängte Embargo fällt also nicht unter Art. 2 (7) UN-Charta. Dagegen ist der Tatbestand des Art. 39 UN-Charta im Lichte von Art. 2 (7) zu lesen. Der internationale Friede ist nur dann durch einen Vorgang betroffenen, wenn dieser nicht zu den inneren Angelegenheiten eines Staates gehört. Mit anderen Worten ist die Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates auf Sachverhalte mit internationalem Charakter beschränkt. Dies entspricht sowohl der Entstehungsgeschichte der UN-Charta46 wie auch der ständigen Praxis aller Organe einschließlich des UN-Sicherheitsrates.47 Folgt man der Argumentation Nordkoreas, dann dient das Atomprogramm der Landesverteidigung. Man kann nun ganz grundsätzlich einwenden, dass die Herstellung und der geplante Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig und damit keine innere Angelegenheit der Staaten sei. Dies könnte sich daraus ergeben, dass jede Form der geplanten oder ausgeübten Selbstverteidigung den Regeln des Kriegsrechts entsprechen muss. Dies hat der IGH48 bezüglich des Einsatzes atomarer Waffen grundsätzlich in Zweifel gezogen. Der IGH hat daraus jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass jeder Einsatz atomarer Waffen unzulässig sei. In Fällen „einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiel stünde“, sei es zumindest nicht ausgeschlossen, dass der Einsatz atomarer Waffen rechtmäßig sei. Wenn aber eine solche Möglichkeit besteht, dann 46 Vgl. dazu Goodrich / Hambro, Charter of the United Nations, Second Edition, 1949, p. 112 f. 47 Vgl. Fink (Fn. 36) S. 874 m.w.Nw. 48 Der IGH sagt wörtlich: „Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden. Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Aus den oben (unter A. bis D.) erwähnten Anforderungen ergibt sich, daß die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell / grundsätzlich gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts“; ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICJ-Reports 1996, p. 66 (242).
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kann die Herstellung solcher Waffen für sich genommen nicht gegen das Kriegsrecht verstoßen. Der internationale Bezug des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms muss sich also aus anderen Rechtsquellen ergeben. Dies könnte zum einen die ursprüngliche Mitgliedschaft Nordkoreas im Atomwaffensperrvertrag sein. Der „Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons“49 wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der Sowjetunion und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet und trat am 5. März 1970 in Kraft. Der Atomwaffensperrvertrag war zunächst für 25 Jahre abgeschlossen worden. Bei der in Art. X Abs. 2 vorgesehenen Überprüfungskonferenz 1995 in Genf wurde er auf unbestimmte Zeit verlängert. Ihm gehören heute 189 Staaten an. Von diesen sind die USA, die Russische Föderation, die Volksrepublik China, Frankreich und das Vereinigte Königreich berechtigt, Atomwaffen herzustellen und zu besitzen, da sie bereits vor Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrages solche Waffen entwickelt hatten.50 Der Kreis der vertraglich sanktionieren Atommächte ist damit identisch mit dem Kreis der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Erklärte Nichtmitglieder des Atomwaffensperrvertrages sind zurzeit Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Entsprechend seiner Genese unterscheidet der Atomwaffensperrvertrag zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten. Während die Kernwaffenstaaten sich in Art. I51 verpflichten, Kernwaffen nicht weiterzugeben, dürfen die Nichtkernwaffenstaaten gemäß Art. II52 weder Kernwaffen erwerben noch solche selbst herstellen. Art. III53 verpflichtet die Nichtkernwaffenstaaten zudem dazu, mit der Internationalen Atomenergiebehörde Abkommen über SicherungsmaßnahUNTS, Vol. 729, p. 161. Art. IX.3: . . . For the purposes of this Treaty, a nuclear-weapon State is one which has manufactured and exploded a nuclear weapon or other nuclear explosive device prior to 1 January 1967. 51 Article I: Each nuclear-weapon State Party to the Treaty undertakes not to transfer to any recipient whatsoever nuclear weapons or other nuclear explosive devices or control over such weapons or explosive devices directly, or indirectly; and not in any way to assist, encourage, or induce any non-nuclear-weapon State to manufacture or otherwise acquire nuclear weapons or other nuclear explosive devices, or control over such weapons or explosive devices. 52 Article II: Each non-nuclear-weapon State Party to the Treaty undertakes not to receive the transfer from any transferor whatsoever of nuclear weapons or other nuclear explosive devices or of control over such weapons or explosive devices directly, or indirectly; not to manufacture or otherwise acquire nuclear weapons or other nuclear explosive devices; and not to seek or receive any assistance in the manufacture of nuclear weapons or other nuclear explosive devices. 53 Article III: 1. Each non-nuclear-weapon State Party to the Treaty undertakes to accept safeguards, as set forth in an agreement to be negotiated and concluded with the International Atomic Energy Agency in accordance with the Statute of the International Atomic Energy Agency and the Agency’s safeguards system, for the exclusive purpose of verification of the fulfilment of its obligations assumed under this Treaty with a view to preventing diversion of nuclear energy from peaceful uses to nuclear weapons or other nuclear explosive devices . . . 49 50
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men auszuhandeln und entsprechende Übereinkommen abzuschließen. Gemäß Art. X.1 des Atomwaffensperrvertrages steht allen Mitgliedstaaten ein Kündigungsrecht zu, auf das sich Nordkorea auch explizit berufen hat.54 Allerdings muss drei Monate vor der geplanten Ausübung des Kündigungsrechts der Sicherheitsrat hierüber benachrichtigt werden. Daraus wird ersichtlich, dass der Atomwaffensperrvertrag unmittelbar mit der Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates zur Wahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit verknüpft ist.55 Die Kündigung des Atomwaffensperrvertrages ist mit anderen Worten eine Angelegenheit, welche die in Art. 24 UN-Charta verankerte Hauptverantwortung des UN-Sicherheitsrates zur Friedenssicherung auslöst. Eine durch Art. 2 (7) UNCharta abgeschirmte innere Angelegenheit Nordkoreas liegt also nicht vor. 3. Die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Verhinderung der Kündigung des Atomwaffensperrvertrages Daraus kann jedoch nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, dass dem Sicherheitsrat ein Recht zur Verhinderung einer wirksamen Kündigung zusteht.56 Art. X Atomwaffensperrvertrag gibt dies zumindest nicht her. Vielmehr spricht der Wortlaut des Kündigungsrechts in Art. X.1 Atomwaffensperrvertrag eindeutig dafür, dass die Mitgliedstaaten kraft eigener Einschätzung darüber bestimmen, ob ein wichtiger Grund zur Kündigung vorliegt. Man würde auch die in Art. X.2 Atomwaffensperrvertrag genannte Pflicht zur Benachrichtigung des Sicherheitsrates im Fall einer beabsichtigten Kündigung zu sehr überdehnen, wenn man daraus ein Recht zur Verhinderung der Kündigung ableiten würde. Eine solch einschneidende Beschränkung der Vertragsfreiheit der Mitgliedstaaten hätte auf jeden Falle einer ausdrücklichen Regelung bedurft.57 4. Der Besitz von Atomwaffen als Friedensbedrohung Die Kündigung des Atomwaffensperrvertrages kann nur dann die Zuständigkeit des Sicherheitsrates auslösen, wenn der konkrete Sachverhalt, der zur Kündigung 54 „Article X.1: Each Party shall in exercising its national sovereignty have the right to withdraw from the Treaty if it decides that extraordinary events, related to the subject matter of this Treaty, have jeopardized the supreme interests of its country. It shall give notice of such withdrawal to all other Parties to the Treaty and to the United Nations Security Council three months in advance. Such notice shall include a statement of the extraordinary events it regards as having jeopardized its supreme interests“. 55 Kanvar, Vik, Two Crises of Confidence: Securing Non-Proliferation and the Rule of Law Through Security Council Resolutions, 35 Ohio N.U.L. Rev., 2009, p. 171 (195 f.). 56 So aber Kanvar a. a. O. (Fn. 55). 57 So im Ergebnis auch, Iannou, Krateros, Non-Proliferation Treaty in, Encyclopedia of Public International Law, Vol. 3, 1997, p. 625.
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geführt hat, eine Bedrohung des Friedens darstellt und deshalb den Sicherheitsrat zu einem Kündigungsverbot berechtigt.58 Insoweit ist die seit der Resolution 1540 (2004) vertretene Auffassung des Sicherheitsrates maßgeblich, dass jede Verbreitung von Kernwaffen den Tatbestand von Art. 39 UN-Charta erfülle. Dabei bezieht sich das Verbot der Verbreitung, wie sich aus Art. II Atomwaffensperrvertrag ergibt, nicht nur auf die Weitergabe an Dritte sondern umfasst auch die eigenständige Herstellung von Kernwaffen.59 Für den Sicherheitsrat steht also nicht die Kündigung des Atomwaffensperrvertrages im Vordergrund. Dies ist vielmehr für ihn nur ein Indiz dafür, dass ein Staat beabsichtigt, Atomwaffen herzustellen oder sie sich zu beschaffen. In der Allgemeinheit, wie der UN-Sicherheitsrat den Zusammenhang zwischen dem Besitz von Atomwaffen und der Bedrohung des Friedens in der Resolution 1540 (2004) feststellt, löst er die Aktivierung seiner Kompetenzen auf der Grundlage von Kapitel VII UN-Charta jedoch vom Vorliegen eines konkreten Bedrohungsszenarios ab. Dies scheint auf den ersten Blick eine bedenklich weite Ausdehnung des Begriffs Friedensbedrohung darzustellen, fehlt doch jeder Zusammenhang zu einer konkreten Gefahr für die Verletzung fundamentaler Rechtsgüter der UN-Charta.60 Hinzu kommt, dass diese Formel eine scheinbare Diskriminierung der Nichtatomwaffenstaaten gegenüber den offiziellen Atommächten darstellt.61 Das Vernichtungspotential der offiziellen Atommächte des Atomwaffensperrvertrages soll keine Bedrohung des Weltfriedens darstellen, dies soll nur für die Weiterverbreitung an Drittstaaten gelten. Misst man diese Differenzierung an den bisherigen historischen Erfahrungen, leuchtet sie nicht ein. Der einzige Staat, der bisher Atomwaffen gezielt gegen einen anderen Staat eingesetzt hat, waren die Vereinigten Staaten von Amerika im Zweiten Weltkrieg.62 Gerade deren Besitz von Atomwaffen soll aber für den Fortbestand des Weltfriedens unbedenklich sein.
58 So auch Frowein / Krisch in, Simma, Charter oft he United Nations, 2nd ed., 2002, Art. 39, Rdnr. 24. 59 „Article II: Each non-nuclear-weapon State Party to the Treaty undertakes not to receive the transfer from any transferor whatsoever of nuclear weapons or other nuclear explosive devices or of control over such weapons or explosive devices directly, or indirectly; not to manufacture or otherwise acquire nuclear weapons or other nuclear explosive devices; and not to seek or receive any assistance in the manufacture of nuclear weapons or other nuclear explosive devices“. 60 Auch der Internationale Gerichtshof hat im Nicaragua Fall darauf hingewiesen, dass der UN-Sicherheitsrat nicht die Kompetenz hat, die militärische Rüstung von Staaten generell als Gefahr für den Frieden einzustufen, ICJ-Reports 1982, p. 1 (135). 61 Vgl. dazu Graham, Thomas, International Law and the Proliferation of Nuclear Weapons, 33 Geo. Wash. Int’l L. Rev., 2000, p. 49 (55). 62 Am 6. und 9. August 1945 wurden je eine Atombombe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Dabei kamen ca. 250.000 Menschen entweder direkt oder durch die Spätfolgen der atomaren Verstrahlung ums Leben.
Das nordkoreanische Atomprogramm
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5. Das Atomwaffenmonopol der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates Man kann diese Konzeption nur vor dem Hintergrund des kollektiven Friedenssicherungssystems der UNO insgesamt verstehen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die offiziellen Atommächte identisch mit den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates sind. Dem Sicherheitsrat, und wie sich aus Art. 27 Abs. 3 sowie Art. 106 UN-Charta ergibt, vor allem dessen ständige Mitglieder tragen die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens.63 Dies gilt insbesondere für das Sanktionensystem des VII. Kapitels, das in letzter Konsequenz in Art. 42 UNCharta den Einsatz militärischer Gewalt vorsieht. Die Glaubwürdigkeit dieses Sanktionensystems hängt dabei ganz maßgeblich von der wirtschaftlichen und militärischen Stärke seiner wichtigsten Protagonisten ab. Nur wenn die für den Weltfrieden Hauptverantwortlichen als fähig angesehen werden, das von ihnen getragene Friedenssicherungssystem auch im Konfliktfall durchsetzen zu können, werden die übrigen Mitgliedstaaten sich dem Gewaltmonopol des Sicherheitsrates unterwerfen. Die militärische Durchsetzungsfähigkeit der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wäre jedoch entscheidend geschwächt, wenn andere Staaten über Massenvernichtungswaffen verfügen würden. Jede Drohung eines Aggressors mit dem Einsatz atomarer Waffen würde den Konflikt unbeherrschbar machen. Der Sicherheitsrat hätte dann kein glaubwürdiges Gewaltpotential mehr zur Verfügung, mit dem er den Aggressor unter Druck setzen könnte. Zudem bestünde dann die Gefahr der Eskalation auf einer atomaren Stufe und damit ein Schaden von immensen Ausmaßen. Deshalb ist es aus prinzipiellen und systemischen Gründen gerechtfertigt, wenn der Sicherheitsrat bezüglich der Weiterverbreitung von atomaren Waffen vom Erfordernis einer konkreten Bedrohung absieht und auf die generelle, abstrakte Gefährlichkeit solcher Entwicklungen abhebt. Dem steht auch nicht entgegen, dass es mit Indien, Pakistan und Israel drei Staaten gibt, die bewusst dem Atomwaffensperrvertrag ferngeblieben sind. Der Sicherheitsrat könnte entsprechend der hier vertretenen Auffassung auch diesen Staaten gegenüber das atomare Gewaltmonopol seiner ständigen Mitglieder durchsetzen.64 Wenn er dies zurzeit nicht tut, so entspricht das seiner politischen Einschätzung des Bedrohungspotentials, das von diesen Staaten ausgeht.65 Mit der hier vertretenen Auffassung erspart man sich aber, im Falle des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms irgendwelche Spekulationen über die mög63 Vgl. dazu Ziff. 8 der San Francisco Erklärung der vier ständigen Mitglieder USA, Sowjetunion, China und Vereinigtes Königreich vom 7. Juni 1945, abgedruckt in Simma, Charter of the United Nations, Art. 27, Rdnr. 154. 64 Dies forder auch Graham (Fn. 61) p. 68. 65 Kanwar (Fn. 55) p. 199 f.
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lichen aggressiven Absichten des nordkoreanischen Regimes anzustellen. Es bedarf keiner Auseinandersetzung mit der in der US-amerikanischen Literatur vertretenen These, dass ein Regime, dass bereits 1950 seinen südlichen Nachbarn angegriffen hat, dies auch heute bereit wäre zu tun.66 Angesichts der lange Zeitspanne und den sich vollständig verändert habenden Ausgangsbedingungen im Verhältnis der beiden Koreas erscheint diese These doch arg konstruiert zu sein.
Fazit Die Behandlung des nordkoreanischen Atomprogramms durch den UN-Sicherheitsrat ist erst auf den zweiten Blick verständlich. Es geht dem Rat nicht vorrangig darum, einem angeblich hoch aggressiven Regime gefährliche Waffen aus der Hand zu schlagen. Wie der Kontext der zu diesem Konflikt ergangenen Resolutionen mit der Behandlung des „non-proliferation“ Problems allgemein zeigt, geht es um die Erhaltung des atomaren Gewaltmonopols der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates als maßgeblichen Trägern des UN-Friedenssicherungssystems.
66 Carlson (Fn. 14) p. 451, der zudem darauf abhebt, dass es sich um ein ultra-kommunistisches Regime handele, ein Argument, das schwerlich im Rahmen von Art. 39 UN-Charta verwendet werden kann.
„Strengthening the rule of law at the national and international levels“ – Konzeptionelle Erwägungen zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in den internationalen Beziehungen Von Thomas Fitschen*
Rechtsstaatsförderung hat seit einigen Jahren so etwas wie eine „Konjunktur“. Thomas Carrothers hat schon 1996 von einem „Rule of Law Revival“ gesprochen und sich gewundert, wo das neue Interesse an einem in der Entwicklungspolitik schon lange – und mit einer bestenfalls gemischten Erfolgsbilanz – ausprobierten Konzept herkomme.1 Tatsächlich gewann die Rechtsstaatsförderung erst seit Beginn der 90er Jahre in einer „new wave of legal reform“2 in den bilateralen Beziehungen vieler Staaten als auch in internationalen Organisationen immer größere Bedeutung. Staaten und Gesellschaften wie auch internationale Organisationen waren nach dem Ende des Kalten Kriegs auf der Suche nach Hilfe bei der Gestaltung der Globalisierung, bei der Ermöglichung und Sicherung innerstaatlicher Transformationsprozesse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, bei der Demokratisierungsbewegung in Südamerika und Afrika, bei der internationalen Konfliktprävention und in den multilateralen Bemühungen zur Schaffung stabiler und gerechter Nachkonflikt-Ordnungen. Zuvor in Zeiten der Systemkonkurrenz und des Ost-West-Gegensatzes konnte man über die Blockgrenzen hinweg über die gute rechtsstaatliche Ordnung der Gesellschaft kaum sinnvoll diskutieren. * Der Auror ist derzeit Leiter des Referats für VN-politische Grundsatzfragen und politische Fragen der Generalversammlung sowie stellv. Leiter des Arbeitsstabs Rechtsstaatsförderung im Auswärtigen Amt. Als Student war er Teilnehmer zahlreicher Seminare, die Wilfried Fiedler am Institut für Internationales Recht in Kiel abhielt, später sein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht in Saarbrücken und Doktorand, was sich rückblickend als glückliche Vorbereitung auf die aktuelle und verschiedene frühere Verwendungen, u. a. als Rechtsberater der deutschen VN-Vertretung in New York, im Völkerrechtsreferat des AA und als Vertreter im Ausschuss für soziale und Menschenrechtsfragen der Generalversammlung, erweist. 1 T. Carrothers, The Rule-of-Law Revival, in: T. Carrothers (Hrsg.), Promoting the Rule of Law Abroad, Washington 2006, S. 13; ausführlich zur Entwicklung der Rechtsstaatsförderung auch B. Tamanaha, On the Rule of Law: History, Politics, Theory, Oxford 2004. 2 V. Taylor, Frequently Asked Questions about Rule of Law Assistance (and why Better Answers Matter), Hague Journal on the Rule of Law (HJRL) 1 (2009), S. 45 (45 – 46).
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Es ist von daher kein Zufall, dass der Begriff „rule of law“ – nach einer kursorischen Erwähnung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 abgesehen, erst 1993 in einem höchstrangigen VN-Dokument, nämlich der Schlusserklärung der Wiener Welt-Menschenrechtskonferenz, wieder prominent erscheint. Für die Vereinten Nationen war 2004 der Wendepunkt, als nämlich Generalsekretär Kofi Annan in seinem mittlerweile berühmten Bericht an den Sicherheitsrat es unternahm, für die VN „a common language of justice“, zu prägen, für die der Begriff der „rule of law“ eine entscheidende Bedeutung hatte.3 Der Bedarf dafür war aus der Praxis des Peacekeeping entstanden, das sich seit seiner Erfindung unter Dag Hammarskjöld immer weiter weg von den herkömmlichen „Blauhelmen“, die einen Waffenstillstand überwachten, hin zu hoch komplexen Operationen entwickelt hat, die selbst aktiv die Stabilisierung und den Wiederaufbau kriegszerrütteter Gesellschaften betreiben und dabei weit mehr als nur klassische Militäreinsätze unternehmen. Polizeiaufbau, Sicherheit und Ordnung, Justizfunktionen – all das war bis dahin aus den praktischen Anforderungen des Tages betrieben worden.4 Es gab also viel praktische Erfahrung, aber letztlich kein kohärentes Konzept für diese „zivile“ Seite der Friedenswahrung. Das hatte bereits das Panel of Experts on United Nations Peace Operations in seinem Bericht aus dem Jahr 2000, dem nach seinem Vorsitzenden benannten Brahimi-Report, kritisiert und einen „doctrinal shift in the use of civilian police, other rule of law elements and human rights experts in complex peace operations to inflect an increased focus on strengthening rule of law institutions and improving respect for human rights in post conflict environments“ gefordert.5 Der Sicherheitsrat hatte 2003 in seiner allerersten Debatte über die spezifische Rolle der VN bei der Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit6 dazu um einen orientierenden Bericht gebeten, und Kofi Annans Bericht mit dem Titel „The rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict societies“7 war die Antwort. Darin umschreibt der Generalsekretär den Begriff der „rule of law“ wie folgt: „The rule of law is a concept at the very heart of the Organization’s mission. It refers to a principle of governance in which all persons, institutions and entities, public and private, including the State itself, are accoun3 Zum Hintergrund vgl. T. Fitschen, Inventing the Rule of Law at the United Nations, MPUNYb 12 (2008), 347 – 380. 4 Dazu ausführlich C. Bull, No Entry without Strategy. Building the Rule of Law under UN Transitional Administration, Tokyo / New York 2008, S. 16 – 71; vgl. auch A. Hurwitz / R. Huang (Hrsg.), Civil War and the Rule of Law: Security, Development, Human Rights, London 2008, 71 – 113. 5 VN-Dok. A / 55 / 305-S / 2000 / 809 vom 21. 8. 2000, Ziff. 39 – 41 und 47. 6 Zur Rolle des Sicherheitsrats siehe K. Bühler, The Austrian Rule of Law Initiative 2004 – 2008, MPUNYb 12 (2008), 409 (423 – 436); S. Chesterman, I’ll take Manhattan: The international rule of law and the Security Council, HJRL 1 (2009), 67 – 73. 7 VN-Dok. S / 2004 / 616 vom 03. 08. 2004, Ziff. 6.
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table to laws that are publicly promulgated, equally enforced and independently adjudicated, and which are consistent with international human rights norms and standards. It requires, as well, measures to ensure adherence to the principles of supremacy of law, equality before the law, accountability to the law, fairness in the application of the law, separation of powers, participation in decision-making, legal certainty, avoidance of arbitrariness and procedural and legal transparency.“8 Der Generalsekretär hat diese Beschreibung übrigens nie zur Diskussion unter den Mitgliedstaaten gestellt oder den Versuch unternommen, dies als allseits gültige „Definition“ darzustellen. Er gibt sich größte Mühe, sie nur als „Konzept“ oder „Sprachregelung“ für den Binnengebrauch darzustellen, weil er ahnt, dass die Staaten sich niemals auf eine „verbindliche“ Definition würden einigen können – oder dass sie, wenn sie sich denn einigen würden, einen Rechtsstaats-Begriff in die Welt setzen würden, der mit zahlreichen Kautelen und entweder zu vielen Weichmachern oder zu scharfen Grenzen versehen wäre und der den VN im operativen Geschäft zu starke Fesseln anlegen würde. Stattdessen verweist der Bericht lapidar auf die normative Begründung für den Auftrag der Vereinten Nationen, die „rule of law“ zu stärken und zu fördern, die sich bereits aus der VN-Charta selbst ergebe, „together with the four pillars of the modern international legal system: international human rights law; international humanitarian law, international criminal law; and international refugee law. This includes the wealth of United Nations human rights and criminal justcie standards developed in the last half-century.“ In seinem Bericht zur Vorbereitung des World Summit 2005 „In Larger Freedom“ hat Kofi Annan dann noch einmal die Rolle und Bedeutung für die „rule of law“ im Gesamtkontext der Arbeit der Vereinten Nationen herausgestellt, diesmal allerdings – der Gesamtdiktion des Berichts entsprechend – mehr aus der menschenrechtlichen Perspektive unter der Überschrift „Freedom to live in dignity“.9 I. Annäherung an eine Definition von „Rechtsstaatlichkeit“ Eine einheitliche Definition von „Rechtsstaat“ (frz. „état de droit“, im angelsächsischen Sprachgebrauch weniger staatsbetont „rule of law“) – das hatte auch schon der Generalsekretär erkannt10 – existiert nicht. Die historischen Erfahrun8 Eine etwas weniger apodiktisch-normative Beschreibung einer rechtsstaatlich wohlgeordneten Gesellschaft findet sich in dem fast zeitgleich erschienenen Bericht Strengthening the Rule of Law, Report of the Secretary-General, VN-Dok. A / 57 / 275 vom 5. 8. 2002, para. 4 – 11. 9 In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All, VN-Dok. A / 59 / 2005, Chapter IV. 10 „Concepts such as justice, the rule of law, transitional justice are essential to understanding the international community’s efforts to enhance human rights, protect persons from fear
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gen, die zur Ausbildung dieses Grundsatzes geführt haben, sind in verschiedenen Ländern und Regionen durchaus unterschiedlich, wenn man denn in bestimmten Staaten überhaupt – noch oder schon – davon sprechen kann. Gerade in Europa reichen diese weit in die Ideen- und Institutionengeschichte zurück, und jede Zeit hat – in der schönen Formulierung von Eberhard Schmidt-Aßmann – „entsprechend ihren Erfahrungen und Erfordernissen die Akzente unterschiedlich gesetzt und neue Bedeutungsschichten hinzugefügt“, um Sicherheit, Schutz vor staatlicher Willkür und Übermaß, Frieden und gerechten innergesellschaftlichen Ausgleich durch rechtlich geordnete und garantierte Verfahren herbeizuführen.11 Der Rechtsstaat als Typus einer gesellschaftlichen Ordnung „repräsentier(t) ein Gesamtbild, das nicht definiert, sondern nur beschrieben werden kann. ( . . . ) Seine Merkmale lassen sich nicht abschließend aufzählen oder aneinanderreihen.“12 Ob es daher in der internationalen Rechtsstaatsförderung nützlich und sinnvoll ist, eine Definition von „Rechtsstaatlichkeit“ anzustreben, und wie diese gegebenenfalls aussehen sollte, ist heftig umstritten.13 Während die einen überwiegend aus pragmatischen Gründen dazu raten, einen formalisierten, „leichten“ (im internationalen Jargon auch als „a thinner concept of the rule of law“ bezeichnet) Begriff zu verwenden, bestehen andere auf einem substanzielleren, materiell aufgeladenen oder „gehaltvolleren“ („thicker“ in der internationalen Diktion) Begriff von Rechtsstaatlichkeit. In der Praxis ist es sowohl für Geber- wie Empfängerstaaten vermutlich nützlicher, jedenfalls keine ab- und damit ausschließende, feste Definition zu benutzen und die Verhältnisse nicht an einem abstrakten Maßstab („der Rechtsstaat“) zu messen. Wer vorab auf einer Einigung über den der Kooperation zu Grunde liegenden Begriff des Rechtsstaats besteht, läuft Gefahr, sich bestimmte Tätigkeitsfelder in der internationalen Zusammenarbeit von vornherein zu verschließen. Dennoch ergeben sich etwa in Deutschland für staatliche Akteure durchaus rechtlich bindende Vorgaben für einen „gehaltvollen“ Begriff des Rechtsstaats aus der Verfassung (Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG), die für sie verbindlich sind, und die sie bei der Arbeit zugunsten der Förderung des Rechtsstaats nicht den poliand want, address property disputes, encourage economic development, promote accountablegovernmenmt and peacefully resolve conflict“. 11 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Band II: Verfassungsstaat (3. Aufl. Heidelberg 2003), § 26, Rz. 10. 12 J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einigung, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX: Die Einheit Deutschlands (Heidelberg 1997), § 202, Rz. 10. Eine solchen Versuch einer wertenden Beschreibung unternimmt der VN-Generalsekretär in seinem Bericht Strengthening the Rule of Law, a. a. O. Fn. 8. 13 Vgl. dazu ausführlich R. Kleinfeld, Competing Definitions of the Rule of Law, in: T. Carrothers, Fn. 1, S. 31 – 73; R. Grote, Rule of Law, Rechtsstaat and Etat de Droit, in: C. Starck (Hrsg.) Constitutionalism, Universalism and Democracy – a Comparative Analysis, Baden-Baden 1999, 269 – 306. Zum Begriff auf der internationalen Ebene auch S. Chesterman, An International Rule of Law?, Am. Journal for Comparative Law 56 (2008), 331.
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tisch-pragmatischen Anforderungen des Tages opfern oder über die sie im Kontakt mit anderen Regierungen hinwegsehen könnten. Es kann an dieser Stelle freilich nicht die gesamte komplexe Begrifflichkeit im deutschen Staats- und Verfassungsrecht aufgeblättert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung herausgestellt, dass „das Rechtsstaatsprinzip, das in der Verfassung nur zum Teil näher ausgeformt ist, ( . . . ) keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote (enthält); es bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten; dabei müssen allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaates und der Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben.“14 Oder in den Worten von Josef Isensee: „Als Typusbegriff besitzt der Rechtsstaat im Kontext des Grundgesetzes eine feste Mitte und offene Grenzen.“15 Für die Zwecke dieses Beitrags mag daher die Beschreibung ausreichen, die die Bundesregierung in einem Beitrag zum Bericht des Generalsekretärs zum Thema „rule of law at the national and international levels“ aus dem Jahr 2007 gegeben hat:16 „(At the national level), Rechtsstaat refers to a principle of governance whereby all persons, institutions and entities – including the State and its organs themselves – are bound by the law and accountable to laws that are publicly promulgated, equally enforced and adjudicated by an independent judiciary. It includes guarantees of equality before the law of all those who are subject to the jurisdiction of the State; of effective protection of the rights of the individual; of adherence to the supremacy of the law, fairness, equality and the prohibition of arbitrariness in the application of laws; of the separation of powers, including the independence of the judiciary; of legal certainty and the prohibition of retroactive application of laws; of transparency of proceedings.“17
II. Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene Die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit als Grundsatz staatlichen Handelns geht über die Landesgrenzen hinaus und gilt auch auf internationaler Ebene im bilateralen und multilateralen Verkehr der Staaten untereinander und mit Internationalen Organisationen sowie in ihrem Verhalten als Mitglieder von internationalen Organisationen, also sozusagen in der Binnenstruktur von Internationalen Organisationen. Dort gilt der Grundsatz, dass das „geltende (Völker-)Recht“ die Grundprinzipien des Verhältnisses der Beteiligten zueinander vorgibt und ordnet und dass ihr BVerfGE 65, 283 (290); 7, 89 (92). J. Isensee, a. a. O. Fn. 12. 16 The rule of law at the national and international levels: comments and information received from Governments, Report of the Secretary-General, VN-Dok. A / 62 / 121 vom 11. 7. 2007, S. 17. 17 Ähnlich die Stellungnahme der Schweiz, VN-Dok. A / 61 / 121 / Add.1; andere – auch westliche – Staaten haben dagegen auf eine abstrakte Umschreibung des Begriffs verzichtet. 14 15
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Umgang miteinander „rechtsgeleitet“ ist, d. h. nur auf der Basis und unter Beachtung der geltenden völkerrechtlichen Verpflichtungen stattfindet.18 Im schon erwähnten deutschen Beitrag für den Bericht des VN-Generalsekretärs zum Thema „rule of law at the national and international levels“19 hat die Bundesregierung den Begriff für die internationale Ebene wie folgt umschrieben: „In our view, the notion of rule of law in international relations implies, inter alia, respect for the sovereign equality of all States and for self-determination of peoples, in accordance with the purposes and principles of the United Nations Charter. It implies the principle – that States must act in good faith and settle any disputes about the interpretation or application of the law peacefully and must refrain from the threat or use of force in any manner inconsistent with the Charter; – that States have a duty to fulfil their obligations under international law, including through effective implementation at the national level.
To be a lasting condition for peace and security, it necessitates an effective multilateral system so as to prevent or sanction violations of international law; it requires full respect for and effective protection of human rights and fundamental freedoms as a fundamental responsibility of each State; and it entails the obligation of international organizations to act internally and in their relations vis-à-vis Member States and the international community – in accordance with, and showing full respect for, international law.“ III. Viele gute Gründe für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit Die Begründungen, die verschiedene staatliche und internationale Akteure für ihr Engagement bei der Förderung der Rechtsstaatlichkeit anführen, nennen je nach deren Tätigkeitsbereich – und, so darf man vermuten, entsprechend der Zweckbestimmung der Mittel, über die sie verfügen – ganz unterschiedliche Ziele, die sie mit ihren Maßnahmen erreichen wollen.20 1. Eine verbreitete Begründung ist der Schutz der Menschenrechte. Wer die Menschenrechte und Grundfreiheiten wirksam durchsetzen will, der müsse Recht und Gesetz zur bindenden Vorgabe für alles staatliche Handeln machen. Rechts18 Zur völkerrechtlichen Seite S. Chesterman, Rule of Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Enyclopedia of Public International Law, Online-Ausgabe, 2008. 19 The rule of law at the national and international levels: comments and information received from Governments, Report of the Secretary-General, VN-Dok. A / 62 / 121 vom 11. 7. 2007, S. 17. Vgl. auch die ausführliche Stellungnahme Österreichs, a. a. O. S. 5 – 10. 20 Zu den Gründen und Interessen, welche bestimmte Koalitionen von rule of law-Akteure in dem „expandierenden Universum der Rule of Law Promotion“ verfolgen, pointiert G.F. Schuppert, Politische Kultur, Baden-Baden 2008, 686 – 699.
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staatlichkeit – als Garantie, dass das Recht auch den Staat und seine Organe bindet und dass der Bürger seine Rechte und seine Freiheit vor unabhängigen Gerichten notfalls auch gegen die Staatsgewalt durchsetzen kann – schützte vor Willkür und Ungleichheit.21 Nur als Rechtsstaat sei der Staat der Raum der Freiheit, in dem alle – gleich berechtigt und gleich geschützt – ihren Interessen nachgehen können. Nur eine gerechte, rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende Ordnung der Gesellschaft und die Bereitstellung von öffentlichen Institutionen, die diese Ordnung schützen, schüfen Berechenbarkeit und Verläßlichkeit für die private, bürgerschaftliche und ökonomische Betätigung aller Mitglieder einer Gesellschaft. 2. Ein zweiter Strang kommt aus der Wirtschafts- bzw der Entwicklungspolitik: Wohlstand und Entwicklung seien auf Dauer nur innerhalb einer Rahmenordnung möglich, die Rechtssicherheit gewährleistet. Handel und Wirtschaft brauchen den Rechtsstaat, denn erst verlässliche rechtsstaatliche Strukturen im Wirtschaftsleben und rechtsstaatliches, willkürfreies Verhalten der Behörden schaffen Planungssicherheit in den Ländern, in denen Unternehmen investieren bzw. mit denen sie Handel treiben. Ein modernes, verlässliches Privat- und Wirtschaftsrecht, die gleiche Anwendung der Normen auf alle Wirtschaftsteilnehmer, und wirksamer Rechtsschutz – frei von Korruption und Einflussnahme – ermöglichen die Einbindung von Gesellschaften in das internationale Wirtschaftsleben: Rechtsstaatlichkeit als Standortfaktor.22 Diese Erwägungen machen Rechtsstaatlichkeit auch unmittelbar zu einem wichtigen Faktor der nachhaltigen Entwicklung, weil durch sie staatliche Gewalt an bestimmte rechtsstaatliche Prinzipien gebunden wird.23 Sie sei als notwendiger und wichtiger Teilprozess von Entwicklung zu verstehen, um den Menschen – einschließlich der Armen und Marginalisierten einer Gesellschaft („empowerment“)24 – eine menschenwürdige Entwicklung zu ermöglichen. Rechtsstaatlichkeit sei insofern ein Ziel der Entwicklungszusammenarbeit an sich, aber gleichzeitig auch die Verwirklichung anderer Ziele der Entwicklungspolitik, die ihrerseits ohne eine Grundstruktur rechtsstaatlicher Verhältnisse nicht erreicht werden können. Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit schüfen wich21 Vgl. die Schlußerklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993, Ziff. 27: „The administration of justice, including law enforcment and prosecutorial agencies, and , especially, an independent judiciary and legal profession ( . . . ) are essential to the full and non-discriminatory realization of human rights and indispensable to the processes of democracy and sustainable developemnt“, VN-Dok. A / CONF.157 / 23 vom 12. 7. 1993. 22 Schuppert, a. a. O. Fn. 22, 694. 23 Vgl. D. Trubek, The Political Economy of the Rule of Law: The Challenge of the New Development, HRLJ 1 (2009), 28 – 32. 24 Vgl. Commission on the Legal Empowerment of the Poor (Hg.), Making the Law Work for Everyone, New York 2008; kritisch dazu S. Golub, The Commission on Legal Empowerment of the Poor: One Big Step Forward and a Few Steps Back for Development Policy and Practice, HRLJ 1 (2009), 101 ff. Zum Begriff des „empowerment“ D. Bank, Legal Empowerment as a Conceptual and Operational Tool in Poverty Eradication, HJRL 1 (2009), 117 – 131, und S. Khair, Evaluating Legal Empowerment: Problems of Analysis and Measurement, HRLJ 1 (2009), 33 – 37.
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tige Rahmenbedingung für nachhaltige Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung.25 3. Ein drittes Argument verbindet die örtliche bzw. nationale Ebene mit den zwischenstaatlichen Beziehungen und propagiert Rechtsstaatsförderung als Instrument vorausschauender Friedenspolitik. Jeder Beitrag zur Entstehung und Sicherung einer rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden Ordnung sei zugleich ein Beitrag zur zivilen Krisenprävention. Denn Rechtssicherheit und Rechtsschutz als Eckpfeiler rechtsstaatlich verfasster Gemeinwesen fördern die innerstaatliche Stabilität und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden können. Stabile, verlässliche und gerecht gegen jedermann agierende staatliche Institutionen verhindern das Abgleiten in Krise und Konflikt.26 4. Dasselbe Argument gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch für Staaten, die Krieg und Konflikt überwunden oder Gewaltherrschaft abgeschüttelt haben und deren politische und gesellschaftliche Institutionen zerrüttet sind. Hier ist die Schaffung – oder auch die Wiedererrichtung – von Rechtsstaatlichkeit ein zentrales Element der Stabilisierung der Gesellschaft.27 Ein landesweit funktionsfähiges, korruptionsfreies Polizei- und Justizwesen, das Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz – unabhängig von Einkommen, politischer Zugehörigkeit oder gesellschaftlichem Einfluss – garantiert, erhöht die politische Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der neu konstituierten staatlichen Institutionen. Dazu gehört, wenn eine Gesellschaft wieder mit sich ins Reine kommen und eine Chance auf 25 Vgl. auch die Erklärung der Staats- und Regierungschefs beim World Summit 2005 (GV-Res. 60 / 1, Ziff. 11): „We acknowledge that good governance and the rule of law at the national and international levels are essential for sustained economic growth, sustainable development and the eradication of poverty and hunger“. Dazu ausführlich M. Treblicock / I. Daniels, Rule of Law Reform and Development: Charting the Fragile Path of Progress, 2008; zu den Aktivitäten der Weltbank vgl. World Bank, Legal Vice Directorate, Initiatives in Legal and Judicial Reform, Washington 2004. 26 Vgl. Aktionsplan der Bundesregierung Zivile Krisenprävention (2004), Kapitel IV.1. 27 Vgl. die Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats vom 22. 6. 2006 (VN-Dok. S / PRST / 2006 / 28), in der dieser bekräftigte, der SR betrachte „the enhancement of rule of law activities as crucial in the peacebuilding strategies in post-conflict societies“. Vgl. aus der neuesten Forschung A. Hurwitz / R. Huang, Civil War and the Rule of Law: Security, Development, Human Rights, New York 2008; C. Bull, No Entry without Strategy: Building the Rule of Law under UN Transitional Administration, Tokyo / New York 2008. Zur Arbeit der Vereinten Nationen vgl. The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post Conflict Societies, Report of the Secretary-General, VN-Dok. S / 2004 / 616 vom 23. 8. 2004; Dept. for Peacekeeping Operations (DPKO), Primer for Justice Components in Multidimensional Peace Operations: Strengthening the Rule of Law (2006); für die Praxis vgl. Office of the High Commissioner for Human Rights, Rule-of-Law Tools for Post-conflict States (seit 2008, bisher erschienen: Vetting – an Operational Framework; Mapping the Justice Sector; Monitoring the Legal System; Prosecution Initiatives; Truth Commissions, Maximising the Legacy of Hybrid Courts); DPKO (ed.), Handbook on United Nations Multidimensional Peacekeeping Operations, Chapter VII: Police, Judiciary and Corrections Aspects of Rule of Law (2003). Ferner P. Bergling et al. (Hrsg.), Rule of Law in Public Administration: Problems and Ways Ahead in Peace Building and Development, Stockholm 2008.
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politische Stabilität haben will, auch die Aufarbeitung der Verbrechen aus der Bürgerkriegszeit – auch mit den Mitteln des Strafrechts.28 5. Für die Achtung und Stärkung der „rule of law at the international level“ werden zwei Bereiche genannt: Zwischen den Staaten sei Rechtsstaatlichkeit ein Beitrag zu Frieden und Stabilität.29 Auf der internationalen Ebene setze die dauerhafte Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität voraus, dass Konflikte in geregelte Bahnen gelenkt werden können. Im internationalen Verkehr sei zu fordern, dass Staaten und internationale Organisationen sich gemäß ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen verhalten. Dazu gehöre vor allem das Gebot der friedlichen – wenn auch nicht notwendig justiziellen – Streitbeilegung. „Rule of law at the international level“ erfordere das konsequente Zur-Geltung-Bringen des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen: Durch rechtstreues Verhalten, durch Achtung und Beachtung der Verfahrensweisen und Kompetenzen internationaler Organisationen, und durch die Bereitstellung von Institutionen und Verfahren zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sowie die Schaffung der Voraussetzungen, die es den Staaten ermöglichen, diese auch tatsächlich zu nutzen. 6. Nur auf den ersten Blick paradox erscheint schließlich die Forderung, auf der „rule of law“ auch in bewaffneten Konflikten zu bestehen. Wo Krieg herrscht, erinnert diese Forderung daran, dass auch dieser keine rechtsfreie Zeit in einem keinem Recht unterworfenen Raum ist. Der Grundsatz der Herrschaft des Rechts verlange, dass die Normen des humanitären Völkerrecht geachtet und durchgesetzt werden. Die Stärkung nationaler und internationaler Mechanismen für die Aufarbeitung und strafrechtliche Verfolgung von Gewalttaten – bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof – seien Ausdruck des Gedankens, dass weder Regierungen noch Militärs über dem Recht stehen und dass sie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Die justizielle Aufarbeitung schwersten im Verlauf des Konflikts begangenen Unrechts fördere zudem Versöhnung und Ausgleich unter den ehemaligen Konfliktparteien. Es liegt auf der Hand, dass in einem gegebenen Land keine Maßnahme der Rechtsstaatsförderung alle oder auch nur einen kleinen Teil der genannten Ziele zugleich verfolgen kann. Die Breite der (möglichen) Motive und Begründungen macht aber deutlich, dass auf beiden Seiten Bescheidenheit und Einsicht in die Realitäten geboten sind: Da ein funktionierender Rechtsstaat Bedingung und 28 Vgl. P. De Greiff / R. Duthie, Transitional Justice and Development: Making Connections, New York 2009; Zum Verhältnis von Strafverfolgung und Wiederaufbau auch die Nürnberger Konferenz von 2007, alle Beiträge und der Text der „Nürnberger Erklärung“ sind abgedruckt bei K. Ambos / J. Large / M. Wierda (Hrsg.), Building a Future on Peace and Justice: Studies on Transitional Justice, Peace and Development, Berlin / Heidelberg 2009. 29 So auch die Generalversammlung in ihrer Res. 61 / 39 vom 18. 12. 2006, Präambel: „Reaffirming ( . . . ) its solemn commitment to an international order based on the rule of law and international law, which together with the principles of justice, is essential for peaceful coexistence and cooperation among states“.
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Beförderer von so vielen gesellschaftlichen Zielen ist, aber gleichzeitig von so vielen anderen Bedingungen abhängt, läuft die Rechtsstaatsförderung stets die Gefahr – in der Formulierung von Veronica Taylor – „to overpromise and to under-perform“.30
IV. Rechtsstaatsförderung ist kein Produkt, sondern ein Prozess Betrachtet man den vorhin genannten doch sehr anspruchsvollen Katalog von Eigenschaften, und vergegenwärtigt man sich, wo und vor allem wie – über welche historischen Zeiträume hinweg und unter welchen historischen Bedingungen – sich dieses Konzept entwickelt hat, so leuchtet ein zentrale Einsicht für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit unmittelbar ein: Der Rechtsstaat ist keine bloße technischadministrative Organisationsform, sondern eine höchst voraussetzungsvolle Kulturleistung; Rechtsstaatlichkeit ist eine Dimension der politischen Kultur und der Rechtskultur einer Gesellschaft,31 die mit deren politischer und sozialer Struktur insgesamt eng verwoben ist. Beide können nicht beliebig bzw. ohne Rücksicht auf politisch-gesellschaftliche Fernwirkungen verändert oder von einer Gesellschaft in eine andere übertragen werden. Jede Form der Rechtsstaatsförderung ist ein Prozess und kein Produkt. Recht als Regulierungsinstrument für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche und die zu seiner Schaffung und Durchsetzung errichteten Institutionen sind immer eine Hervorbringung einer je konkreten Gesellschaft. Rechtsstaatlichkeit ist daher kein Produkt, das ein „Geber“ entwickeln und herstellen und an einen anderen Ort verfrachten kann, wo es es von einem „Empfänger“ eingebaut und „genutzt“ werden kann. Rechtsstaatsförderung ist nicht die Übergabe eine Blaupause, mit der sich das Gebäude eines modernen Rechtsstaats aus einer anderen Rechtskultur kopieren und und vom Reißbrett errichten ließe. Rechtsstaatsförderung ist daher zu Recht als ein „Kommunikationsprozess mit vielen Teilnehmern“ bezeichnet worden, die ein je unterschiedliches Verständnis von Rechtsstaat haben können.32
V. Rechtsstaatlichkeit aktiv fördern: Die politischen Instrumente Die Palette der konkreten Maßnahmen und Mechanismen, die deutsche Akteure33 der Rechtsstaatsförderung international einsetzen können, ist recht breit und bietet V. Taylor, a. a. O. Fn. 2, 48. Dazu ausführlich G. F. Schuppert, Politische Kultur (2008), S. 638 – 645. 32 Vgl. dazu ausführlich Auswärtiges Amt, Der Rechtsstaat – Patentrezept für alle Welt?, 21. Forum globale Fragen, Berlin 15. Januar 2009, 16 – 33. 30 31
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viele Möglichkeiten, passend zum Bedarf tätig zu werden: neben Maßnahmen zur Stärkung von Polizei, Justiz und Strafvollzug im Sinne rechtsstaatlicher Grundsätze kommen Rechts- und Verfassungsberatung, insbesondere in Transformationsländern und beim Wiederaufbau konfliktbetroffener Gesellschaften in Betracht, ferner die Unterstützung von Reformen zur Anpassung nationaler Rechtsordnungen an die Entwicklung des internationalen Wirtschaftsrechts und bei der Eingliederung in Rechtsordnungen der regionalen Wirtschaftsintegration, die Förderung der Einrichtung von Menschenrechtsinstitutionen und ihrer Arbeit, die Förderung justizieller und anderer Mechanismen zur gesellschaftlichen Aufarbeitung von Verbrechen nach inneren Konflikten und Bürgerkriegen sowie strafrechtliche Verfolgung von schweren Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord etc., die Unterstützung von Mechanismen der „transitional justice“ im Rahmen der gesellschaftlichen Aufarbeitung von Konflikten und ihrer Folgen, der Ausbau von Möglichkeiten zur Aus- und Fortbildung für ausländische Richter, Polizei, Justizpersonal etc., die Verbreitung des Völkerrechts durch Beratung bei Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen sowie durch Forschung und Lehre, die Stärkung von Mechanismen friedlicher Streitbeilegung, der Streitschlichtung und der Vermittlung und die Erleichterung des Zugangs zu ihnen; die Förderung der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit; der Ausbau der Angebote für die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, wissenschaftlichen Einrichtungen und einschlägigen Berufsverbänden sowie das Bereitstellen von Materialien, internationalen Mustergesetzen oder von Übersetzungen deutscher Rechtstexte, Gerichtsentscheidungen und Literatur. Auf internationaler Ebene arbeitet Deutschland aktiv in allen für die Rechtsstaatsförderung zuständigen Gremien – zum Beispiel denen der Europäischen Union, des Europarats, der OSZE und der Vereinten Nationen – mit und unterstützt deren Arbeit zu Gunsten der Rechtsstaatsförderung, u. a. durch Beiträge zur Finanzierung von Rechtsstaatsprogrammen und Projekten regionaler bzw. internationaler Organisationen über Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge bzw. Projektmittel, durch die Entsendung von Experten einschl. Polizei- und Justizpersonal in Friedens- und sonstige Missionen, die u. a. die Stärkung des Rechtsstaats zum Ziel haben; durch das Leisten eines aktiven und dauerhaften Beitrags zur Stärkung internationaler Strafgerichtsbarkeit; durch die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit im allgemeinen, u. a. durch Werbung für ihre Mechanismen, die Vereinbarung von Schiedsklauseln in völkerrechtlichen Verträgen und die Anerkennung ihrer Zuständigkeiten. Ein indirekter Beitrag zur friedlichen Streitbeilegung be33 Neben dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium der Justiz, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit GTZ, dem Bundesministerium des Innern und allen anderen Bundesressorts, die in ihrem Zuständigkeitsbereich jeweils Rechtsberatung anbieten, sind vor allem die Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit (DIRZ, vgl. Jahresbericht 2008) und die Konrad-Adenauer-Stiftung (vgl. KAS, Weltweit für den Rechtsstaat, 2008) mit eigenen weltweiten Programmen für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit aktiv.
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steht darin, den Zugang anderer Staaten zu internationaler Gerichtsbarkeit zu fördern, etwa durch Beiträge zum UN-Trust Fonds, der Prozesskostenhilfe vor dem IGH leistet.
VI. Rechtsstaatsförderung als Querschnittsthema: Einige Abgrenzungen Angesichts der oben genannten, recht breiten „guten Gründe“ für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit scheint dieser Maßnahmenkatalog zunächst doch recht eng auf den Bereich Polizei und Justiz bzw. internationale justizielle Zusammenarbeit konzentriert zu sein. Gerade wegen der großen Spannbreite der politischen Ziele, zu denen die Rechtsstaatsförderung beitragen will, ist es jedoch unerlässlich, sie von anderen Förderbereichen abzugrenzen, will man sie nicht völlig überfordern – und damit leerlaufen lassen. Rechtsstaatlichkeit ist ein wichtiges Element der institutionellen und kulturellen Infrastruktur einer wohlgeordneten, modernen Gesellschaft, aber nicht mit dieser identisch. Umgekehrt tragen viele andere gesellschaftliche und politische Bedingungen zu einer funktionierenden, stabilen rechtsstaatlichen Ordnung bei, ohne dass ihre Herbeiführung deshalb stets als Maßnahme der Förderung von Rechtsstaatlichkeit zu etikettieren wäre. Wegen der zahlreichen Überschneidungen mit anderen sich gegenseitig bedingenden und formenden Politikfeldern ist es daher ratsam, zumindest begrifflich an einigen Abgrenzungen festzuhalten. 1. Eine der in den Theoriedebatten immer wieder problematisierte Abgrenzungen ist die zwischen Rechtsstaat und Demokratie, häufig zugespitzt auf die Frage, wer eigentlich wen bedingt oder voraussetzt. Dazu ist normativ zunächst zu sagen, dass Rechtsstaat und Demokratie von den Verfassungen europäischer Regionalorganisationen meist in einem Atemzug und gleichrangig genannt werden.34 Das Zustandekommen von Gesetzen im Wege demokratischer Selbstbestimmung, die Gewaltenteilung und der Grundsatz der Bindung aller Staatsgewalten an Recht und Gesetz verbürgen die Legitimität der Rechtsordnung und tragen zur Achtung und Durchsetzung der Gesetze bei. Umgekehrt ist nicht zu übersehen, dass die Demokratie und ihre Prozesse der Meinungs- und Mehrheitsbildung rechtliche geregelte und gerichtlich geschützte Verfahren voraussetzen. Das vom Grundgesetz vertretene „gehaltvolle“ oder „materielle“ Konzept von Rechtsstaatlichkeit umfasst auch wichtige Elemente der politischen Freiheit, die ihrerseits das Fundament der Demokratie ist. Rechtsstaat und Demokratie sind daher nicht deckungsgleich, bedin34 Gemäß Art. 2 Vertrag von Lissabon nunmehr: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ( . . . )“. Die Mitgliedstaaten des Europarats sind laut Präambel der Satzung verbunden „mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht“.
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gen sich aber gegenseitig und sind aufeinander angewiesen.35 Sie wirken komplementär und können daher auch nicht getrennt oder in einer festen Reihenfolge betrachtet werden. Das Fehlen des einen vereitelt auf Dauer den Erfolg des anderen. Für die Rechtsstaatsförderung bedeutet dies, dass man dabei die demokratische Verfasstheit des Landes nicht ausblenden können wird; umgekehrt muss sich aber auch die Demokratieförderung der Tatsache bewusst sein, dass sie auf Dauer ins Leere läuft, wenn das von ihr geförderte politische System kein rechtsstaatliches Fundament hat. 2. Die Förderung rechtsstaatlicher Strukturen, der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz sind wichtige Beiträge zum Menschenrechtsschutz, schöpfen jenen aber nicht aus. Viele Menschenrechte, vor allem die „justiziellen“ und bestimmte andere, elementare Menschenrechte sind aus der Sicht des Individuums formulierte Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips. Die grundsätzliche Überprüfbarkeit staatlicher Akte durch die Justiz im Rechtsstaat schützt natürlich auch die Menschenrechte. Viele sonstige gesellschaftliche Einrichtungen und Praktiken zur wirksamen Um- und Durchsetzung der Menschenrechte sind aber politischer Art und nicht konkret vom Rechtsstaatsgedanken vorgegeben. Rechtsstaatsförderung macht daher andere Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte keineswegs überflüssig, während umgekehrt das Gebot der rechtsstaatlichen Ausgestaltung der Gesellschaft weiter reicht als der Schutz der individuellen Grundrechte. 3. Nach dem Ende von Kriegen, Bürgerkriegen und Gewaltherrschaft sind Stärkung und (Wieder-)Aufbau eines rechtsstaatlichen Justiz- und Polizeiapparats ein wichtiger Bestandteil der generellen (Re-)Etablierung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Die justizielle Aufarbeitung schwersten im Verlauf des Konflikts begangenen Unrechts, ggf. unter Inanspruchnahme internationaler Strafjustiz, fördert zudem Versöhnung und Ausgleich unter den ehemaligen Konfliktparteien. Stärkung und Wiederaufbau von Polizei und Justiz nach Ende von Konflikten sind aber nur ein Beitrag zur Stabilisierung des Landes. Sie können andere Maßnahmen zur Entwicklung des Landes in anderen Bereichen und zur Demokratisierung weder ersetzen noch überflüssig machen. Umgekehrt gilt aber auch, dass letztlich alles, was zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau einer Gesellschaft beiträgt, indirekt auch der Stärkung und Stützung des Rechtsstaats dienen kann. 4. Weltbank und internationale Wirtschaftskreise wie auch Akteure der Entwicklungshilfe bezeichnen verlässliche rechtsstaatliche Strukturen im Wirtschaftsleben und rechtsstaatliches Verhalten der Behörden in den Ländern, in denen sie investieren bzw. mit denen sie Handel treiben oder die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unterstützen, als eine der Hauptvoraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum und die Einbindung von Gesellschaften in das internationale Wirt35 So auch die Generalversammlung, die in ihrer Res. 61 / 39 vom 18. 12. 2006 (Präambel) bekräftigt, dass „human rights, the rule of law and democracy are interlinked and mutually reinforcing“.
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schaftsleben. Berechenbares Verhalten der staatlichen Akteure, die gleiche Anwendung der Normen auf alle Wirtschaftsteilnehmer und gleicher Zugang zu allen Institutionen des Rechtsschutzes, sowie wirksamer, korruptions- und klientelismusfreier Rechtsschutz seien Voraussetzung für Investitionen, Handel und Wirtschaft. Das macht Maßnahmen der Rechtsstaatsförderung aber nicht zum Bestand der Wirtschaftspolitik, während umgekehrt wirtschaftlicher Erfolg – das zeigt ein Blick auf die politische Landkarte der Gegenwart – sehr wohl auch in Ländern zustande kommen kann, die nicht als rechtsstaatlich strukturierte Gesellschaften organisiert sind. 5. Die Entwicklungszusammenarbeit zielt auf nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der Menschen. Rechtsstaatlichkeit ist auch dafür eine wesentliche Erfolgsbedingung, weil durch sie staatliche Gewalt an bestimmte rechtsstaatliche Prinzipien gebunden wird. Die Einhaltung und Befolgung dieser Prinzipien durch die staatlichen Behörden wie auch die sonstigen gesellschaftlichen Akteure fördert direkt die Nachhaltigkeit von Entwicklung. Rechtsstaatlichkeit ist insofern notwendiger und wichtiger Teilprozess von Entwicklung zu verstehen, um den Menschen eine menschenwürdige Entwicklung zu ermöglichen. Rechtsstaatlichkeit ist daher einerseits ein Ziel der Entwicklungszusammenarbeit an sich. Andererseits fördert oder ermöglicht sie dort, wo sie besteht, auch die Verwirklichung sonstiger politisch-gesellschaftlicher Ziele der Entwicklungspolitik, die ohne sie nicht oder schwerer erreicht werden könnten.
VII. Akteure der Rechtsstaatsförderung auf internationaler Ebene 1. Die Europäische Union beruht auf den Werten der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleicheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte (Art. 2 EU-Vertrag). Die Entwicklung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist eines der Ziele der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gem. Art. 21 EU-Vertrag.36 Im Rahmen der GASP hat die EU eine Reihe von ESVP-Missionen initiiert, die das Ziel verfolgen, Regierung und Behörden im Einsatzgebiet beim Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats bzw. Polizeiwesens zu unterstützen (z. B. EULEX Kosovo, EUJUST Themis in Georgien, EUPM in Bosnien und Herzegowina). Diese ESVP-Missionen haben entweder ein Beratungsmandat oder verfügen darüber hinausgehend sogar über exekutive Befugnisse (z. B. EULEX Kosovo). Rechtsstaatsförderung ist auch Schlüsselbereich in den regionalen Partnerschaften der EU, so zum Beispiel in der Rule of Law Initiative for Central Asia aus dem 36 Gemäß Art. 21 II Vertrag von Lissabon sind Festigung und Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und der Grundsätze des Völkerrechts Ziele des auswärtigen Handelns der Union.
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Jahr 2007, in Kraft seit 28. 11. 2008. Ihre Schwerpunkte sind die Modernisierung des Wirtschafts- und Verwaltungsrechts, der Verfassungs- und Strafgerichtsbarkeit sowie die Aus- und Fortbildung der juristischen Berufe als Teil der EU-Zentralasienstrategie aus dem Jahr 2007. Menschenrechtsfragen und Rechtsstaatlichkeit werden daneben auch systematisch in die strategischen Dialoge einbezogen, die im Rahmen der mit Drittstaaten geschlossenen Kooperationsabkommen geführt werden. Reformen, Rechtsstaatlichkeit, stabile Demokratien und Wohlstand zu fördern sind ferner wichtige Ziele der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), zu deren Umsetzung 2006 in einer EG- Verordnung allgemeine Bestimmungen zur Schaffung eines Europ. Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments37 beschlossen wurden. Danach soll Gemeinschaftshilfe explizit auch für die Förderung der Rechtsstaatlichkeit – zum Beispiel durch Stärkung der Effizienz der öffentlichen Verwaltung, der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruptions- und Betrugsbekämpfung – eingesetzt werden. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sind schließlich integraler Bestandteil des Barcelona-Besitzstands, der in die Union für den Mittelmeerraum übernommen wurde. Die noch in der Entstehung begriffene Östliche Partnerschaft als Fortentwicklung der ENP gegenüber den Partnerländern im Osten der EU sieht vier thematische Plattformen vor, darunter die thematischen Plattformen Demokratie, gute Regierungsführung und Stabilität. 2. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist ein wichtiger Akteur der Rechtsstaatsförderung. OSZE-Maßnahmen in diesem Bereich fallen unter die Demokratieförderung im Bereich der Menschlichen Dimension.38 Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (OHDIR) unterstützt OSZE-Teilnehmerstaaten bei Reformen der Strafjustiz, Anpassung an OSZE-Verpflichtungen in den Teilnehmerstaaten und Ausbildung von juristischen Berufen.39 Der Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten (HKNM) kann Teilnehmerstaaten Maßnahmen zur Verbesserung ihres rechtlichen Minderheitenschutzes empfehlen. Die Einheit für Polizeiangelegenheiten im OSZE-Sekretariat berät bei der Entwicklung eines modernen Polizeiwesens, basierend auf den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte, und schließlich führen OSZE-Feldmissionen Rechtsstaatsprojekte in Gastländern, v.a. in den Transitionsstaaten der ehemaligen Sowjetunion und in Südosteuropa, durch. Die 37 Verordnung (EG) Nr. 1638 / 2006 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 24. Oktober 2006 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments. 38 Vgl. Copenhagen Document 1990, Par. 2: „(The participating states) are determined to support and advance those principles of justice which form the basis of the rule of law. They consider that the rule of law does not mean merely a formal legality which assures regularity and consistency in the achievement and enforcement of democratic order, but justice based on the recognition and full acceptance of the supreme value of the human personality and guaranteed by the institutions providing a framework for its fullest expression“. 39 Vgl. OSCE Commitments Relating to Judicial Systems and Human Rights. A Guide (2002).
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jährlichen OSZE-Implementierungstreffen zur Menschlichen Dimension prüfen u. a. die Umsetzung von Verpflichtungen im Bereich Rechtsstaatlichkeit, zusätzlich werden Sondertreffen und Seminare (2008 z. B. zu Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung) abgehalten. 3. Die Mitgliedstaaten des Europarats sind laut Präambel der Satzung verbunden „mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht“. Rechtsstaatsförderung ist – neben dem Menschenrechtsschutz und der Demokratieförderung – eine der drei Kernaufgaben des Europarats. Er betreibt Rechtsstaatsförderung in drei Bereichen (mit regionalem Schwerpunkt Ost- und Südosteuropa sowie Staaten des Südkaukasus): – Funktionsfähigkeit und Effizienz der Justiz: Unterstützung bei Ausbildung im juristischen Bereich; konkrete Empfehlungen zur Effizienzsteigerung; Beobachtung und Unterstützung der neuen MS bei der Implementierung ihrer Verpflichtungen. Wichtigstes Instrument: Europäische Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ). – Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten: Verfassungsrechtliche Beratung; Unterstützung bei Gesetzgebung und Rechtsreformen; regelmäßige Überprüfung der Antifolterkonvention; Kooperation zur Wiederherstellung des Rechtsstaats in post-conflict Situationen. – Sicherheit europäischer Bürger: Entwicklung europäischer Standards zur Verbrechenskontrolle; Schaffung eines rechtlichen Rahmens zur Bekämpfung des Terrorismus; Unterstützung für Strafverfolgungsbehörden.
Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) ist ein wichtigstes Instrument des Europarats bei der verfassungsrechtlichen Beratung. Sie wurde 1990 vom Ministerkomitee des ER gegründet hat als Rechtsgrundlage aber ein erweitertes Europaratsabkommen, damit auch Staaten, die nicht zum Europarat gehören, insbesondere Staaten mit Beobachterstatus, Vollmitglied der Kommission werden können. Ihre Aufgaben sind u. a. die verfassungsrechtliche Beratung, Unterstützung bei Wahlen und Referenden, Förderung der Zusammenarbeit der Verfassungsgerichte. Ihre Mitglieder sind „unabhängige Sachverständige“ die durch ihr Wirken in den demokratischen Institutionen oder durch ihren Beitrag zum Fortschritt der Rechts- und Politikwissenschaft internationales Ansehen erworben haben. Die Kommission lässt sich bei ihrer Arbeit von den drei Grundprinzipien des europäischen Verfassungsrechtserbes leiten, die auch die Grundlage der Tätigkeit des Europarates sind, nämlich Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Und schließlich ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein weltweit einzigartiges Organ der Rechtsprechung und ist für die Rechtsstaatlichkeit von grundlegender Bedeutung insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung von „fair trial“.
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4. Im System der Vereinten Nationen sind nach einem Bericht des Generalsekretärs aus dem Jahr 2008 ca. 40 Arbeitseinheiten mit verschiedenen Aspekten der Förderung der „rule of law“ befasst.40 Ihrer Koordinierung dienen die Rule of Law Coordination and Resource Group (RoLCARG) und die Rule of Law Unit im Büro der Stellvertretenden Generalsekretärin. Das Department for Peacekeeping Operations hat für die Polizei- und Justizkomponente von Friedensoperationen der VN ein Office of Rule of Law and Security Institutions (OROLSI) eingerichtet, für die sonstigen Völkerrechtsfragen ist das Office of Legal Affairs (OLA) im VN-Sekretariat zuständig. Gremien, in denen Einzelaspekte der „rule of law“ behandelt werden, sind u. a. die Peacebuilding Commission, der Sicherheitsrat bei der Mandatierung von VN-Friedensoperationen,41 die Generalversammlung mit ihren Ausschüssen für Rechtsfragen (6. Ausschuss)42 und Menschenrechtsfragen (3. Ausschuss). Die Völkerrechtskommission (ILC) sorgt für die Kodifizierung des allgemeinen Völkerrechts, die VN-Kommission für int. Handelsrecht (UNCITRAL) für die Vereinheitlichung des Rechts des internationalen Warenverkehrs und des Zivilrechts. Auch der Menschenrechtsrat, das UN Office on Drugs and Crime (UNODC, Wien),43 die Commission on Crime Prevention and Criminal Justice, die Hochkommissarin für Menschenrechte der VN (Office of the High Commissioner for Human Rights,OHCHR, Genf)44 und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UN Development Programm, UNDP) mit seiner Rule of Law, Justice and Security Unit (ROLJS) im Bureau for Crisis Prevention and Recovery in Genf sind wichtige Akteure der Rechtsstaatsförderung in den Vereinten Nationen. 5. Rechtsstaatlichkeit gehört auch zu den Kernprinzipien, auf die die G8 ihre Partnerschaft und ihre Bemühungen um Förderung eines dauerhaften Friedens, von Sicherheit, Demokratie und Menschenrechten sowie nachhaltiger Entwicklung weltweit gründen (Erklärung der G8-Außenminister vom 30. 6. 2007).45
40 Überblick über alle Rule of law–Aktivitäten des VN-Systems in: The rule of law at the national and international levels, Report of the Secretary-General A / 63 / 64 vom 12. 3. 2008; zur Koordinierung vgl. Strengthening and coordinating United Nations rule of law activities, Report of the Secretary-General, VN-Dok. A / 63 / 226 vom 6. 8. 2008. 41 Vgl. oben Fn. 25. 42 Zur Rolle der GV seit dem World Summit 2005 ausführlich S. Barriga / A. Alday, The General Assembly and the Rule of Law: Daring to Succeed?, MPUNYb 12 (2008), 381 – 408. 43 Vgl. UNODC, Criminal Justice Assessment Toolkit (2008, gemeinsam mit der OSZE); Compendium of Standards and Norms in Crime Prevention and Criminal Justice (2006). 44 Vgl. OHCHR, Human Rights in the Administration of Justice. A Manual for Judges, Prosecutors and Lawyers, Professional Training Series No. 9 (2003), Human Rights and PreTrial Detention: A Handbook of International Standards Relating to Detention, Professional Training Series No. 3 (1994); Human Rights and Law Enforcement: A Manual on Human Rights Training for the Police, Professional Training Series No. 5 (1996). 45 Declaration of G8 Foreign Ministers on the Rule of Law, Potsdam, 30. 6. 2007; vgl. auch G8 Experts Conference on the Rule of Law, Berlin 30. 11. 2007, Conference Documentation (Berlin 2008).
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6. Schließlich gehört noch der große Bereich der friedlichen Streitbeilegung zu den Mechanismen zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in den internationalen Beziehungen. Dazu zählen neben den internationalen Gerichtshöfen für allgemeine völkerrechtliche Streitigkeiten wie etwa der IGH oder im Bereich des Seerechts der Internationale Seegerichtshof auch die regionalen Gerichts- und Menschenrechtsgerichtshöfe sowie im Bereich des internationalen Strafrechts die besonderen Strafgerichtshöfe für einzelne Ländersituationen und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Der Durchsetzung der „rule of law“ dienen ferner zahlreiche gremieninterne oder im Rahmen von völkerrechtlichen Vereinbarungen errichtete Schieds- oder sonstige Streitschlichtungsmechanismen wie etwa die Streitschlichtung nach dem WTO-Übereinkommen.46 VIII. Voraussetzungen für den Erfolg: Eine kleine Checkliste für die Praxis Damit Maßnahmen der Rechtsstaatsförderung wirksam sind und die beabsichtigte Wirkung erzielen, ist also stets sorgfältig nach den kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen im Partnerland zu fragen – eine Aufgabe, die sich nicht nur an die rechtsvergleichende Forschung richtet, sondern auch an andere Zweige der Kulturwissenschaften einschließlich der Geschichtswissenschaft und der Soziologie.47 Dabei werden diejenigen die Unterstützung anbieten, u. a. folgende Fragen beantworten müssen: – Was ist angesichts der konkreten Bedürfnisse sinnvoll? Was genau kann ein Geber anbieten? – An welche vorhandenen rechtlichen und politischen Strukturen und Traditionen kann bzw. muss man anknüpfen? Auf welche bereits vorhandenen Voraussetzungen kann bzw. muss man aufbauen? – Welche sonstigen lokalen Besonderheiten und Gegebenheiten, welche gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen sind zu berücksichtigen? – Was tun andere Länder oder internationale Organisationen bereits, was kann man anderen überlassen, wo kann man sich bereits laufenden Maßnahmen sinnvoll anschließen? – Welche Partner stehen im Gastland für die Zusammenarbeit bereit? – Gibt es eventuell Gegner einer Reform, die bei einer Änderung der Verhältnisse etwas „verlieren“? – Welche Wirkung können unsere Maßnahmen realistischerweise erzielen? Was ist das – realisierbare, pragmatische – Ziel unseres Engagements? 46 Vgl. Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten im Rahmen der WTO von 1994; siehe auch Art. VI GATS: Pflicht zur Einrichtung innerstaatlicher Verfahren zur Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen. 47 V. Taylor, a. a. O. Fn. 2, 50 – 52.
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– Hat unsere Maßnahme politische Unterstützung seitens der Regierung und der Behörden, und bzw. oder wird das Vorhaben von der Zivilgesellschaft unterstützt? – Wie lange wird es realistischerweise dauern? Können wir uns ausreichend lange und mit ausreichenden Mitteln engagieren, um (messbaren) Erfolg zu haben? – Wie können wir überhaupt Wirkung und Erfolg messen bzw. bestimmen (Evaluierung)?
Wer hier realistisch vorgeht, wird trotz der geschilderten begrifflichen wie auch praktischen Probleme und unabhängig von angeblichen „Moden“ dazu beitragen, dass sich in the long run die Herrschaft des Rechts gegen die Willkür der Herrschenden durchsetzen wird.
Das Wechselspiel von Macht und Recht in den internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts Von Christian Hillgruber* I. Einführung Das Spannungsverhältnis von Macht und Recht stellt ein generelles Problem der Rechtsgeltung und -durchsetzung dar, doch für das Völkerrecht ist es seiner herrschaftsfreien Struktur wegen von besonderer, geradezu schicksalhafter Bedeutung; denn es ist „law without force“.1 Das Völkerrecht kennt keinen seinen Rechtssubjekten übergeordneten Gesetzgeber und keine vollziehende Gewalt. Das Völkerrecht regelt v.a. die Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten als einander gleichberechtigten Rechtssubjekten, von deren keines ein Herrschaftsrecht über ein anderes besitzt: „Par in parem non habet imperium“ (Bartolus). In der Völkerrechtsordnung herrscht nicht Subordination, sondern Koordination. In der auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit seiner Mitglieder basierenden Staatengemeinschaft (Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta) ist nur konsensuale Rechtserzeugung möglich; denn Gleichberechtigung bedeutet, dass ein Rechtssubjekt dem anderen, ihm rechtlich gleichgestellten, seinen Willen von Rechts wegen nicht aufzwingen kann. Die einander rechtlich gleichen Staaten müssen sich selbst verpflichten, um einander überhaupt zu etwas rechtlich verpflichtet zu sein. Es gehört angesichts dieser prima facie für eine auch nur partielle Verrechtlichung der internationalen Beziehungen eher ungünstigen Ausgangslage zu den erstaunlichsten zivilisatorischen Errungenschaften, dass die Staatengemeinschaft sich (auch) als Rechtsgemeinschaft begreift und sich prinzipiell als fähig erwiesen hat, ihren eigenen, spezifisch völkerrechtlichen Maßstab und Mindeststandard an Rechtlichkeit zu entwickeln. Dabei ist nicht weiter verwunderlich, dass die völkerrechtlichen Institute und Regeln, auf die sich die Staaten trotz ganz unterschiedlicher Macht und konkurrierenden politischen Zielen verständigt haben, maßgeblich von unabweisbaren prak* Der Verfasser ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1 Gerhart Niemeyer, Law without force, 1941.
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tischen Notwendigkeiten und Bedürfnissen des zwischenstaatlichen Verkehrs geprägt sind2 und der Staatenkonsens nur so weit trägt, wie die Gemeinsamkeiten reichen. Für die Völkerrechtswissenschaft ergibt sich aus dem praktizierten Staatenkonsens als Geltungsgrund des positiven Völkerrechts ein normatives Dilemma, das Dilemma zwischen Apologie und Utopie.3 Sie steht einerseits bei Anwendung der induktiven Methode4 in der Gefahr, bloß tatsächliche Machtverhältnisse, die sich in der internationalen Praxis herausgebildet haben, ohne weiteres rechtlich zu ummänteln und zu überhöhen. Mit dem der besonderen Realitätsnähe des Völkerrechts und dessen strukturbedingter Angewiesenheit auf effektive Anerkennung und Befolgung geschuldeten Rekurs auf die Staatenpraxis scheint ja gerade das, was es am Maßstab des Völkerrechts zu überprüfen gilt, nämlich die Realität internationaler Beziehungen, unversehens selbst zu ihrem eigenem Beurteilungsmaßstab zu werden. Wie aber könnte das Völkerrecht dann seine Eigenständigkeit und seine Normativität, kurz seinen Maßstabscharakter wahren und fortentwickeln? Was hat das Völkerrecht, wenn es aus der doch gerade mit seiner Hilfe „einzuhegenden“, internationalen Praxis geschöpft wird, dieser Praxis im Ernstfall kontrafaktisch entgegenzusetzen?5 Die Völkerrechtswissenschaft muss sich jedenfalls vor einem in den Völkerrechtsnihilismus mündenden, machtbesessenen „Realismus“ in der Betrachtung und Erfassung der internationalen Beziehungen hüten, darf sich nicht, um vermeintlich auf der „Höhe der Zeit“ zu sein, einer Macht, die ihren imperialen Herrschaftsanspruch ohne Rücksicht auf das Völkerrecht stattdessen mit dem angeblichen Recht des Stärkeren durchzusetzen sucht, willfährig andienen. Sonst gerät der Rekurs auf die internationale Praxis zur Absage an den normativen Anspruch, den das Völkerrecht erhebt und erheben muss, wenn es Rechtsordnung sein will. Hier hilft die Erkenntnis, dass nicht alles, was sich in den internationalen Beziehungen mit gewisser Regelhaftigkeit ereignet, sich in diesem Sinne durchgesetzt zu haben scheint, durch das Völkerrecht allein deshalb schon sogleich mit seinem normativen Geltungsanspruch umhegt wird, sondern nur bewährte, auf verallgemeinerungsfähige Rechtsprinzipien rückführbare Verhaltensmuster völkerrechtliche Geltung erlangen. In diesem Sinne stellt nur die von der Staatengemeinschaft selbst reflektierte, für gut und nützlich befundene und daher in Rechtsüberzeugung fortzusetzende Staatenpraxis gültiges Völkerrecht dar. 2 ICJ Reports 1949, S. 174, 178 – Gutachten über den Ersatz im Dienst der Vereinten Nationen erlittener Schäden. 3 Martti Koskenniemi, From Apology to Utopia, 1989. 4 Zum „inductive approach“ siehe Georg Schwarzenberger, The Inductive Approach to International Law, in: HLR 60 (1947), S. 539 ff.; gekürzte deutsche Übersetzung in: JIR 2 (1949), S. 676 ff.; monographisch ders., The Inductive Approach to International Law, 1965. 5 Vgl. dazu und zum folgenden Christian Hillgruber, Der Staat im Völkerrecht, in: ZRph 2007, S. 9 ff.
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Auf der anderen Seite darf sich die Völkerrechtswissenschaft auch nicht in realitätsferner und machtvergessener Abkehr vom Staatenkonsens als der einzigen Quelle des positiv geltenden Völkerrechts verabschieden und ihre Zuflucht in naturrechtlicher Spekulation oder der Utopie gewalt- und machtloser Rechtsidealität suchen, um so vermeintlich Rechtsfortschritt zu befördern. Vor einer solchen Flucht aus der unvollkommenen Realität in ein Scheinrecht ohne Wirklichkeit kann im wohlverstandenen Interesse des auf die Akzeptanz durch die Staaten lebensnotwendig angewiesenen Völkerrechts nur ebenso nachdrücklich gewarnt werden. Wer die völkerrechtliche Geltung von Nichtkonsentiertem behauptet, entzieht auch das schon Konsentierte dem geltungsbegründenden und -erhaltenden allseitigen Einverständnis. Der Weg einer Völkerrechtswissenschaft, die sich ihrem Erkenntnisgegenstand verpflichtet fühlt, kann nach alledem nur ein mittlerer sein, einer, der die vom Machtstreben bestimmten Realitäten der internationalen Politik zur Kenntnis nimmt, ohne den normativen Anspruch des Völkerrechts für die Gestaltung der internationalen Beziehungen aufzugeben, der Mittelweg eines normativen Realismus. Dies scheint mir auch und gerade eine Lehre aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und seiner langen Vorgeschichte zu sein. II. Vorgeschichte Im 20. Jahrhundert hat die Völkerrechtswissenschaft in einer zyklischen Wellenbewegung gleich mehrfach zwischen überbordendem Zukunftsoptimismus und grundsätzlichen Zweifeln an der Möglichkeit wirksamer rechtlicher Einhegung internationaler Politik geschwankt. Nicht zuletzt der relative Erfolg der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 hatte zunächst verbreitet die Hoffnung genährt, eine durch zunehmendes Bewusstsein kultureller Gemeinsamkeit, durch übereinstimmende Grundinteressen, durch technische Zusammenarbeit in Verwaltungsunionen sowie durch wachsende ökonomische Verflechtung zusammenwachsende Staatengemeinschaft werde künftig auch in der Lage sein, ihre machtpolitischen Konflikte unter Vermeidung der Anwendung militärischer Gewalt schiedlich-friedlich zu lösen. Am Horizont tauchte bereits die Vision einer Weltföderation mit einem ständigen Weltgerichtshof auf, der Frieden durch Recht(sprechung) sichern sollte. Dahinter stand der optimistische Glaube an die Dreieinigkeit von Vernunft, Frieden und Kooperation innerhalb ständiger internationaler Institutionen. In einer Abhandlung aus dem Jahr 1917 resümierte Franz von Liszt aus seiner Sicht diese Vorkriegsentwicklung der Völkerrechtsordnung, die ein neues, kosmopolitisches Zeitalter anzukündigen schien, und bekannte freimütig, dass er den Krieg bis zu dem Zeitpunkt für unmöglich gehalten habe, als er tatsächlich erklärt worden sei. Dies sei ein Fehler gewesen, ein fataler Irrtum über eine sich gewissermaßen automatisch vollziehende,
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friedensstiftende Wirkung von Integration. In Wirklichkeit hätten Interessenkonflikte und Expansionsdrang die europäischen Staaten zu einer zerstörerischen Politik wechselnder Allianzen verleitet.6 1. Der Einschnitt des Ersten Weltkriegs Als der Traum von einem sich wie von selbst einstellenden, dauerhaften Frieden wie eine Seifenblase zerplatzt war, saß der Schock über den Ausbruch des Weltkriegs tief und schlug in einen die jeweils andere Kriegspartei in grenzenloser Verbitterung zum outlaw stempelnden Völkerrechtsnihilismus um. Der Pazifist Josef Kohler gelangte 1916 zu der Einschätzung, dass das auf Vereinbarungen gründende Völkerrecht zu einem Ende gekommen sei. Der Krieg habe tiefgreifende Unterschiede im Rechtsbewusstsein der europäischen Mächte offenbart. Der gegen Zivilisten gerichtete englische Wirtschaftskrieg sei mit der deutschen Vorstellung vom Krieg als eines Kampfes zwischen Staaten schlechthin unvereinbar.7 Er, Kohler, müsse sich eingestehen, dass er Gefangener der Illusion gewesen sei, dass andere Nationen seinen Idealismus teilen würden. Doch Verträge mit Lügnern und Verrätern könnten keine Rechtsquelle bilden; nur Völker mit scharfem moralischem Sensus seien berechtigt, an der Schaffung von Völkerrecht mitzuwirken. Könne man jetzt überhaupt noch Briten und Franzosen irgendwie vertrauen? „Nein und dreifach nein“.8 Umgekehrt waren die meisten Internationalisten der Entente-Mächte, allen voran die französischen, davon überzeugt, dass der Krieg aus rücksichtslosem deutschen Streben nach Hegemonie entstanden war und die Art und Weise seiner Führung durch Deutschland dessen völkerrechtsnegierende Vorstellungen von Souveränität, Kriegsräson und Notrecht enthüllt hatten. Die deutschen Verletzungen des Kriegsrechts wurden als so eklatant und gravierend angesehen, dass sie eine andere Behandlung als die nach den gewöhnlichen Regeln völkerrechtlicher Verantwortlichkeit erforderten. Deutschland hatte sich nach dieser Sichtweise an der Idee des Völkerrechts versündigt und damit eine geradezu metaphysische Schuld auf sich geladen, für die es hart bestraft und zumindest vorläufig aus der Völkerrechtsgemeinschaft exkommuniziert werden musste.9
6 Franz v. Liszt, Vom Staatenverband zur Völkergemeinschaft: ein Beitrag zur Neuorientierung der Staatspolitik und des Völkerrechts, 1917. 7 Ganz ähnlich die Einschätzung von Ernst Zitelmann, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts, 1919, S. 57 – 60, der die rhetorische Frage stellt, ob nicht das ganze Kriegsrecht angesichts der fundamentalen Differenz zwischen der deutschen und der englischen Anschauung von der wahren Natur des Krieges zusammengebrochen sei. 8 Josef Kohler / Max Fleischmann, Das neue Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht XI (1916), S. 7. 9 Vgl. dazu Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870 – 1960, 2002, S. 293.
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Konsequenterweise stilisierte sich Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg selbst als der einzige und wahre Verteidiger des Völkerrechts gegen den barbarischen Kriegsgegner, während Deutschland im Gegenzug seinen Kampf gegen das als grob ungerecht angesehene Diktat von Versailles als „Kampf um den Rechtsfrieden“ ausgab, für den es mit seinem einzig richtigen Rechtsstandpunkt allein stand. Das Panorama ist erhellend: Der Kampf um die Macht wird auch als Kampf um das richtige Recht geführt. Es zeigt sich zugleich, dass neben der Wirklichkeit reiner Machtpolitik, der das Recht nur Mittel zum Zweck ist, auch die Idee des Völkerrechts wirkmächtig ist und bleibt. Nicht nur das ohnmächtige Deutschland sucht Zuflucht im Völkerrecht,10 auch die Sieger vertrauen nicht allein auf die – vergängliche – Macht der Stärkeren, sondern auf die friedensstiftende Wirkung des Rechts. Léon Bourgeois brachte diese Erkenntnis auf die Formel, dass das Gebäude des Friedens auf dem Boden des Rechts und nur des Rechts errichtet werden könne.11 Aber wie konnte dies gelingen, wie ein kohärentes internationales System entstehen, wenn die Auffassungen darüber, was Rechtens war und sein sollte, derart divergierten? 2. Der Völkerbund – Konzeption, Ideal und Wirklichkeit Der Neuanfang, der mit der Gründung des Völkerbundes in der Ordnung der internationalen Beziehungen unternommen wurde, war von vornherein mit – seine Erfolgsaussichten erheblich beeinträchtigenden – Vorbelastungen verbunden, von der aufgrund des Fernbleibens der Vereinigten Staaten von Amerika unerreichten Universalität des Systems kollektiver Sicherheit ganz abgesehen. Seine Verknüpfung mit den Friedensverträgen – Deutschland wurde auf diese Weise an die Völkerbundsatzung gebunden, ohne Mitglied des Völkerbundes zu sein – diskreditierte den Völkerbund in den Augen der deutschen Öffentlichkeit wie auch der deutschen Völkerrechtswissenschaft als von den Entente-Mächten beherrschtes, gegen Deutschland gerichtetes machtpolitisches Unterdrückungsinstrument.12 Wenn diese Ansicht nicht, wie zumeist, in strikter Ablehnung des Völkerbundes mündete, weil Deutschland darin, so die Annahme, ohnehin nie volle Gleichberechtigung erlangen werde, dann ließ sie allenfalls ein taktisches Verhältnis zu die10 Der von der deutschen Delegation auf der Friedenskonferenz vorgelegte Entwurf einer Völkerbundsatzung (Hans Wehberg / Alfred Manes, Der Völkerbund-Vorschlag der deutschen Regierung, Berlin 1919) ging so weit, u. a. eine zwingende gerichtliche Entscheidung oder Mediation aller Streitigkeiten unter Ausschluss eines jeglichen, auch bloß ultimativen Rechts zum Krieg vorzusehen. 11 Léon Victor Bourgeois, L’œuvre de la société des nations, 1920 – 1923, 123, S. 112, 114 – 118. 12 Siehe dazu Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 238: „German lawyers cultivated a predominantly strategic attitude towards the League. Although its functional activities were seen as useful, its collective security and peaceful settlement tasks were understood as a half-serious smoke-screen over Anglo-American imperialism“.
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ser Einrichtung zu. Der Wert des Völkerbundes und einer anzustrebenden deutschen Mitgliedschaft in ihm konnte allein darin liegen, auf diesem Wege die das Hauptziel deutscher Außenpolitik darstellende Revision des Versailler Vertrages zu erreichen und auf diese Weise den angestammten Großmachtstatus zurückzuerlangen. Auf der anderen Seite standen in Frankreich und England Völkerrechtler, die den Traum von „internationaler Solidarität“ träumten und ihn im Völkerbund und dem in ihm angelegten System kollektiver Sicherheit – wenn auch noch unvollkommen – realisiert sahen. „If French lawyers were keen to see in the League more than just a treaty (although the disagreed on just how much more) and frequently speculated about federalism and a European Union, solidarist vocabulary provided an effective means to do this; to move in ideas from diversity and antagonism to co-operation and harmony at some concrete level of reality. But one’ solidarity is another’s oppression; and there are many kinds of solidarity, including that of the master and the slave“.13 Aber auch Hersch Lauterpacht, einer der führenden englischen Völkerrechtler, betrachtete den Völkerbund als die „fundamental charter of the international society“.14 In Wirklichkeit war der Völkerbund weder Anti-Deutschland-Pakt der EntenteMächte noch der Ansatz für die Herausbildung eines Weltstaates. Er war, wie Erich Kaufmann hellsichtig erkannt und ausgedrückt hatte, zugleich weniger und mehr als das, wofür die meisten Deutschen ihn hielten; weniger insofern, als seine Aktivitäten sich häufig in Berichten, Beschlüssen und Empfehlungen erschöpften, also in der Produktion von Papier; dagegen mehr insofern, als er Verfahren für die Erörterung und manchmal auch die Beilegung von rechtlichen und politischen Streitigkeiten bereit stellte, während das Einstimmigkeitsprinzip effektiv jede Beeinträchtigung der mitgliedstaatlichen Souveränität ausschloss.15 Obwohl nach Ansicht vieler europäischer Völkerrechtler das „alte“, auf Verträge und Diplomatie setzende, klassische Völkerrecht, das den Ausbruch des Weltkriegs nicht hatte verhindern können, überholt war und durch modernere Strukturen, nämlich effektive internationale Institutionen, ersetzt werden sollte, hielten die führenden europäischen Staaten in ihrer Praxis an den überkommenen Mechanismen fest. In den ersten Jahren seiner Existenz sah sich der Völkerbund als Einrichtung häufig durch Großmachtdiplomatie umgangen, die sich innerhalb der InterAlliierten-Botschafterkonferenz, einem Überbleibsel der Koordinationsforen der Kriegszeit, abspielte. Aber auch die Organstruktur des Völkerbundes selbst mit der dominanten Rolle des Rates und darin der Großmächte16 als geborene ständige Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 316. Hersch Lauterpacht, Japan and the Covenant (1932), in: 3 Political Quarterly, S. 175. 15 Erich Kaufmann, Der Völkerbund (1932), in: Gesammelte Schriften, Bd. II, 1960, S. 224 – 237. 16 Vgl. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 238 – 239: „The League was no weltstaatlich utopia. Its rules and activities were completely dominated by the decisions and policies of the major states“. 13 14
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Mitglieder machte die strukturelle Kontinuität der Völkerrechtsordnung im Sinne einer gesamthänderisch ausgeübten Hegemonie der Großmächte über die vermeintliche Zäsur des Weltkriegs hinweg unübersehbar deutlich.17 Das Ziel des Deutschen Reiches musste es unter diesen Umständen sein, wieder Mitspieler in diesem Konzert der europäischen Großmächte zu werden. Mit der Aufnahme in den Völkerbund 1926 war ein erster wichtiger Schritt in dieser Richtung getan. Als Völkerbundmitglied genoss das Deutsche Reich grundsätzlich Gleichberechtigung und konnte nun, gestützt auf Art. 19 der Völkerbundsatzung, peaceful change reklamieren, für eine Revision auch der übrigen belastenden Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages streiten. Die Hoffnung auf Verständigung sollte sich indes, wie das Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz zeigte, zerschlagen, und daher wuchs allmählich in Deutschland zunächst theoretisch und dann auch praktisch die Bereitschaft, sich notfalls eigenmächtig, ja gewaltsam zu nehmen, worauf man einen Rechtsanspruch zu haben meinte.18 In der Zwischenzeit zerbrach die Völkerbundordnung. Dem japanischen Einmarsch in die zum chinesischen Staatsverband rechnende Mandschurei 1931 hatte der Völkerbund schon nichts Wirksames mehr entgegenzusetzen. Bekanntlich scheuten sich die Mitgliedstaaten und die Völkerbundversammlung, die japanische Invasion als „resort to war“ im Sinne des Art. 16 Abs. 1 der Satzung zu qualifizieren, um so ihre Handlungsfreiheit in dieser Angelegenheit zu bewahren; denn eine gegenteilige Feststellung hätte nach dem strikten Wortlaut der Bestimmung einen kriegerischen Akt gegen alle Mitglieder bedeutet und den Sanktionsmechanismus des kollektiven Sicherheitssystems ausgelöst, auch wenn keine Rechtspflicht zur Anwendung militärischer Zwangsmittel gemäß Art. 16 Abs. 2 bestand. Ein am 24. 10. 1931 gefasster Ratsbeschluss, der Japan zum baldmöglichsten Rückzug seiner Truppen aufforderte, entfaltete angesichts des Einstimmigkeitsprinzips (Art. 5) wegen des japanischen Vetos keine bindende Wirkung.19 Die Untätigkeit des 17 Doch nur wenige Völkerrechtler, wie etwa Charles Dupuis (Le droit des gens et les rapports des grandes puissances avec les autres états avant la pacte de Société des Nations, 1921) oder auch Herbert A. Smith (The real weakness of the League, in: Nineteenth Century 119 (1936), S. 15 – 16), verstanden die Struktur des Völkerbundes als Ausdruck im wesentlich unveränderter Gesetzmäßigkeiten der Großmachtpolitik. Die Völkerbundspolitik erschien danach als Fortsetzung des europäischen Konzerts des 19. Jahrhunderts unter der Dominanz der Großmächte. 18 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 337 beschreibt – in Auseinandersetzung mit G. Scelles „Théorie juridique de la révision des traites, 1936 – das politischrechtliche Dilemma wie folgt: „a credible opponent of Hitler’unilateralism needed to show that there was some mechanism whereby Germany’s legitimate grievances could be dealt with. Otherwise the wide recognition of the obsoleteness of Versailles might have enabled Hitler to portray himself as an executor of solidarity. But unilateral revision could not be allowed. [ . . . ]. Only the Assembly had, under Article 19, such competence.“ 19 Die gegenteilige Auffassung Lauterpachts (Lauterpacht, Japan [Fn. 14] S. 179 – 185) war nicht haltbar. Lauterpacht argumentierte, dass in Rechtsstreitigkeiten niemand Richter in eigener Sache sein könne, und daher, da es hier um Japans Verpflichtungen gegangen sei, sein Votum als Streitpartei nicht veranschlagt werden dürfe. Betroffene Streitparteien wegen
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Völkerbundes in der Mandschurei-Krise konnte politisch – wohlwollend betrachtet – als Verzicht auf einen ohnehin kaum Erfolg versprechenden Versuch einer Wiederherstellung des status quo gedeutet werden. Aber dieser Verzicht leitete zugleich das Ende eines kollektiven Sicherheitssystems ein, das auf der unbedingten Pflicht der Mitgliedstaaten basierte, die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit aller Bundesglieder nicht nur selbst zu achten, sondern auch gegen jeden äußeren Angriff zu wahren (Art. 10). Als Italien Abessinien im Herbst 1935 angriff, fand überhaupt keine ernsthafte Diskussion über die Anwendung militärischer Sanktionen mehr statt, und der Wirtschaftsboykott, der außerhalb des Völkerbundes organisiert wurde, betraf nur ein Zehntel des italienischen Handels und wurde nach der Eroberung von AddisAbbeba aus der Sorge fallen gelassen, Mussolini in Hitlers Arme zu treiben. Auf den Aufbau der Wehrmacht und die darin liegende Aufkündigung der deutschen Abrüstungsverpflichtungen nach dem Versailler Friedensvertrag (vgl. Art. 160, 173, 198) reagierte der Völkerbund, aus dem das Deutsche Reich schon im Oktober 1933 ausgetreten war,20 nach vorherigen Protestnoten der britischen, französischen und italienischen Regierung21 lediglich mit einer hilflos anmutenden Beschwörung der Heiligkeit der Verträge und einer folgenlosen Verurteilung der vom Deutschen Reich begangenen Vertragsverletzung.22 Der von England, Frankreich und Italien in der abschließenden Erklärung der Konferenz von Stresa vom 14. 4. 1935 bekundete Wille, „sich mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Aufkündigung zu widersetzen“,23 war nicht wirklich ernst gemeint. Befangenheit von der Mitwirkung an der Abstimmung in internationalen Gremien auszuschließen, mag „vernünftig“ sein, entsprach jedoch nicht den Verfahrensregeln des Völkerbundes (und sieht im Übrigen auch die UN-Charta nicht vor; vgl. Art. 27 UN-Charta). 20 Schreiben des Reichsministers des Auswärtigen v. Neurath an den Generalsekretär des Völkerbundes vom 19. 10. 1933, abgedruckt in: ZaöRV 4 (1934), S. 151. 21 Abgedruckt in: ZaöRV 5 (1935), S. 339 f., 341 f., 342 f. 22 Vgl. Beschluss des Völkerbundrates vom 17. 4. 1935, gefasst auf der 85. außerordentlichen Tagung, Société des Nations, Journal Officiel, S. 545 ff.; abgedruckt auch in: ZaöRV 5 (1935), S. 354 f. Es wurde lediglich ein Dreizehnerausschuss eingesetzt (zu dessen Tätigkeit siehe in: ZaöRV 6 (1936), S. 125 – 136), der über im Falle einseitiger Aufhebung von Verträgen zu ergreifende Maßnahmen, insbesondere Wirtschaftssanktionen beriet, die aber nicht ergriffen wurden. Die Reichsregierung rechtfertigte die Aufkündigung des Versailler Vertrags damit, dass die alliierten Hauptsiegermächte ihre eigenen Abrüstungsverpflichtungen nicht erfüllt hätten und im übrigen eine wesentliche Veränderung der bei Vertragsschluss gegebenen Umstände eingetreten sei (vgl. Proklamation der Reichsregierung vom 16. 3. 1935, RGBl. I S. 369 = ZaöRV 5 (1935), S. 334 – 338; siehe auch Viktor Bruns, Der Beschluss des Völkerbundsrats vom 17. April 1935, in: ZaöRV 5 (1935), S. 310, 314 ff.). Sie berief sich damit auf nach allgemeinen Völkerrecht prinzipiell anerkannte Vertragsbeendigungsgründe (Vertragsverletzung der anderen Seite; clausula rebus sic stantibus). Zugleich bestritt sie in einer an die Regierungen der im Völkerbundsrat vertretenen Staaten gerichteten Note, diesen das Recht, „sich zum Richter über Deutschland aufzuwerfen“ (in: ZaöRV 5 (1935), S. 355). 23 In ZaöRV 5 (1935), S. 352 (353).
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Auch die am 7. 3. 1936 erfolgende militärische Besetzung des Rheinlandes, eine Verletzung des Versailler Vertrages (Art. 42 f.) und des Vertrags von Locarno (Art. 2), wurde als fait accompli hingenommen und blieb für Deutschland ohne ernsthafte Konsequenzen. Es musste sich nicht mehr gefallen lassen, als vom Völkerbund erneut eines Vertragsbruchs geziehen zu werden.24 Als sich mit dem am 15. 3. 1938 erfolgenden Anschluss Österreichs, den der Versailler Friedensvertrag (Art. 80) verboten hatte, und der Besetzung des Sudetenlandes der vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg bereits unmittelbar anbahnte, blieb der Völkerbund stumm,25 obwohl mit Österreich und der Tschechoslowakei Mitglieder betroffen waren. Frankreich und Großbritannien hatten, wie das Münchener Abkommen demonstrierte, endgültig das dem Völkerbund zugrundeliegende Konzept kollektiver Sicherheit samt dem ihm inhärenten Verbot ihm widersprechender „Einzelverständigungen“ (Art. 20) zugunsten einer Politik des diplomatischen und vertraglichen appeasement außerhalb des Völkerbundes aufgegeben. Doch wie hätte auch angesichts des Rückzugs Japans, Deutschlands und Italiens aus dem Völkerbund in den Jahren 1933 und 1937 anders reagiert werden sollen, wenn man nicht zum letzten Mittel der Wahl, zum Krieg, bereit war? Am 23. Juni 1936, als die Bemühungen des Völkerbundes, Italiens Eroberungskrieg gegen Abessinien zu begegnen, praktisch gescheitert waren, erklärte der britische Premierminister Stanley Baldwin vor dem House of Commons, dass das System kollektiver Sicherheit „failed ultimately because of the reluctance of nearly all the nations in Europe to proceed to what I might call military sanctions . . . there was no country except the aggressor country which was ready for war ( . . . ). If collective action is to be a reality and not merely a thing to be talked about, it means not only that every country is to be ready for war; but must be ready to go to war at once. That is a terrible thing, but it is an essential part of collective security“.26 War man dazu nicht bereit, stellte sich die Frage, ob „man Staaten, die jahrhundertelang tragende Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft gewesen waren, die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft deswegen absprechen (sollte), weil ihr aktuelles inneres Regime nicht mehr den Kriterien des überkommenen Zivilisationsbegriffes entsprach? Diese Konsequenz wollte schon deswegen niemand ziehen, Resolution des Völkerbunds vom 19. 3. 1936, Journal Officiel 1936, S. 339, 340. Siehe zur Reaktion auf den Anschluss Österreichs und dessen Ausscheiden aus dem, Völkerbund kraft Untergangs Georg v. Gretschaninow, Der Mitgliederbestand des Völkerbundes Anfang 1939, in: ZaöRV 9 (1939 / 40), S. 80 (97 – 102). Die britische Regierung ließ im Unterhaus durch Unterstaatssekretär Butler erklären, dass sie eine Behandlung des Anschlusses im Völkerbund für untunlich halte, weil sie zwecklos sei und die Zukunft des Völkerbundes gefährden könne (Parliamentary Debates, Commons, Bd. 333, S. 165). Die Tschechoslowakei nahm von einer eigenen Befassung des Völkerbunds mit der Sudetenkrise Abstand, weil sie die Behandlung der deutschen Minderheit als ihre ausschließlich innere Angelegenheit betrachtete. 26 Commons, Bd. 313, Sp. 1725 – 1726. 24 25
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weil sie zu praktisch unhaltbaren Ergebnissen geführt hätte. Je mehr sich die Diktaturen Abweichungen vom Standard der Zivilisation erlaubten, desto wichtiger wurde es, die diplomatische Verbindung mit ihnen nicht abreißen zu lassen und ihre Einbindung in das Völkerrecht so weit wie irgend möglich aufrechtzuerhalten“.27 Aber dass sich das kollektive Sicherheitssystem des Völkerbundes aufgelöst hatte, stand auch für wohlmeinende Völkerrechtler fest. In einer am 16. November 1938, knapp zwei Monate nach Abschluss des einer Kapitulation gleichkommenden Münchener Abkommens, in Cambridge gehaltenen Rede gelangte Lauterpacht zu dem Schluss, dass aufgrund der Ereignisse der 30er Jahre – die MandschureiKrise, der Abessinienkrieg und das Münchener Abkommen – und der von den entscheidenden Mitgliedern des Völkerbunds dabei eingenommenen Haltung das von der Satzung aufgerichtete System kollektiver Sicherheit, die territoriale Bestandsgarantie des Art. 10 und die Verpflichtung zu kollektiver Reaktion auf Friedensverletzungen gemäß Art. 15 und 16 durch desuetudo ihre Geltung eingebüßt hätten. In der Erfüllung ihres Hauptzwecks, der Friedenswahrung, sei der Völkerbund damit gescheitert.28 Es bleibe nur die vage Hoffnung, „that the true spirit of man will assert itself in the long run“. Doch was sollte in der Zwischenzeit gelten?, fragte Lauterpacht. „Ought we to abandon the League and start afresh as soon as the obstacles disappear? Ought we to maintain it and to adapt it to the needs of a retrogressive period? Ought we to pursue the ideal of universality by reforming the League so as to make it acceptable for everyone? Ought we to admit that if peace cannot be achieved by collective effort, there are other good things that can be achieved through it?“29
III. Der Zweite Weltkrieg – „International Law and Totalitarian Lawlessness“ Erneut, wie 25 Jahre zuvor, machte sich eine Krisen- um nicht zu sagen Endzeitstimmung unter den Völkerrechtlern breit: „What’s wrong with International Law“, fragte schon 1941 der nach Amerika emigrierte Wolfgang G. Friedmann. Für Hersch Lauterpacht war die Antwort klar: Das Problem lag in den „self-judging obligations“, die es den Staaten – in absentia obligatorischer Gerichtsbarkeit oder eines sonstigen, mit Mehrheit und ohne Beteiligung der Streitparteien entscheidenden internationalen Gremiums – verfahrensrechtlich ermöglichten, selbst zu interpretieren, wozu sie sich verpflichtet hatten, und selbst zu beurteilen, ob sie sich – an diesem selbst definierten Maßstab gemessen – völkerrechtsgemäß verhielten. Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 690. Hersch Lauterpacht, The League of Nations, in: International Law, being the Collected Papers of Hersch Lauterpacht, 4 Bände, 1970 – 1978, Bd. 3, S. 575. 29 Eb., S. 583. 27 28
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„There is substance in the view that the existence of a sufficient body of clear rules is not at all essential to the existence of law, and that the decisive test is whether there exists a judge competent to decide upon disputed rights and to command peace“.30 Kollektive Sicherheit bedeutete daher für Lauterpacht nichts anderes als die effektive Herrschaft des Rechts zwischen Staaten durch Vergemeinschaftung der Interpretationshoheit und Entscheidungskompetenz. Aber genau darauf, das gestand Lauterpacht unumwunden ein, hatten sich die Staaten weder bei Gründung des Völkerbundes noch danach, bei den Locarno-Verträgen oder dem Pakt von Paris, verständigen können, und das musste zumindest vorläufig als Ausdruck des unvollkommenen Charakters des Völkerrechts hingenommen werden. Aber warum sollten sich die Staaten, allemal die großen, allein handlungsfähigen, auch auf eine Kollektivierung der Entscheidungskompetenz über Krieg und Frieden einlassen, auf die Übertragung der Zuständigkeit auf einen internationalen Spruchkörper, statt sich das eigene Letztentscheidungsrecht vorzubehalten? Gibt es eine Garantie dafür, dass die Kollektivierung einer politischen Entscheidung die Rechte der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft besser schützt als dezentral getroffene Entscheidungen? Warum sollte die Verbreiterung des politischen Willens eine größere Gewähr für dessen inhaltliche Richtigkeit bieten?31 Internationale Solidarität, auch das war eine Lehre aus dem Scheitern des Völkerbundes wegen der fehlenden Loyalität seiner Mitglieder,32 lässt sich nicht rechtlich erzwingen. Angesichts der Aggression von 1939 stellte sich erneut, wie schon bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die existentielle Frage, ob sich das Völkerrecht nicht überhaupt als funktionslos erwiesen habe oder ob es auf die Herausforderung durch totalitäre, völkerrechtsnegierende Regime wirksam reagieren könne. Wolfgang G. Friedmann meinte 1940: „My first submission is that a large body of international law no longer exists, because its basis has been shattered“,33 und Gerhart Niemeyer stellte ein Jahr später fest: „Our thesis is therefore that political reality has become unlawful, because the existing system of international law has become unreal“.34 Doch nicht alle wollten vor der faktischen Negation des Völkerrechts durch das 30 Hersch Lauterpacht, The Function of Law in the International Community, 1933, S. 424. Das entsprach schon der Sichtweise von John Locke, Two Treatises on Government (1790), § 87: „Diejenigen, welche zu einem einzigen Körper vereinigt sind, ein gemeinsames, feststehendes Recht haben und eine richtliche Gewalt, die sie anrüen können, mit Macht, Streitigkeiten unter ihnen zu entscheiden und Verbrechen zu bestrafen, bilden miteinander eine politische Gemeinschaft (staatliche Gesellschaft). Ale diejenigen dagegen, welche keine solche gemeinsame Berufung besitzen – ich meine auf Erden – befinden sich noch im Naturzustande, indem jeder, da es einen anderen Richter nicht gibt, Richter und Vollstrecker in eigener Person ist“. 31 Zu diesen Einwänden vgl. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 387. 32 So Herbert A. Smith, The real weakness of the League, in: Nineteenth Century 119 (1936), S. 18. 33 Wolfgang G. Friedmann, International Law and the Present War, in: Transactions of the Grotian Society 26 (1941), S. 211 ff. 34 Niemeyer, Law [Fn. 1], S. 9.
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Dritte Reich und seine Bündnispartner kapitulieren, suchten stattdessen nach Strategien für einen völkerrechtlichen Umgang mit den aggressiven Regimen. Georg Schwarzenberger schlug in seiner Monographie „International Law and Totalitarian Lawlessness“ 1943 drei miteinander kombinierbare Handlungsoptionen vor: Den Achsenmächten sei erstens die Berufung auf den Schutz des von ihnen selbst eklatant verletzten Angriffskriegsverbots und des Neutralitätsrechts abzusprechen.35 Lauterpacht dachte in dieser Hinsicht ganz ähnlich und ging noch einen Schritt weiter: Dieser Krieg war kein Konflikt mehr, in dem sich ein Staat neutral verhalten konnte, denn hier ging es auf alliierter Seite um nicht weniger als um die Verteidigung und Erhaltung der Herrschaft des Rechts unter den Völkern. In einer künftigen Völkerrechtsordnung müsse es eine der ganzen Menschheit obliegende Rechtspflicht geben, gegen den Aggressor zu Felde zu ziehen.36 Eine zweite Reaktionsmöglichkeit erblickte Schwarzenberger in einer individuellen Bestrafung der nach und nach bekannt werdenden, ungeheuerlichen (Kriegs-)Verbrechen, die Deutschland und den Deutschen zur Last fielen.37 Schließlich schlug er drittens die Ächtung der mit ihren Angriffskriegen das Völkerrecht flagrant verletzenden Staaten als outlaws vor. Im Umgang mit diesen piratengleichen „hostes humani generis“ sollten keine völkerrechtlichen Regeln mehr gelten, nur noch die „minimum standards of behaviour expected from civilized nations“ verhaltensregulierend und mäßigend wirken. Die Ächtung könne durch Rücknahme der Anerkennung als Völkerrechtssubjekt oder durch die Selbstächtung des Staates aufgrund ständigen Verstoßes gegen fundamentale Grundsätze des Gewohnheitsrechts erfolgen.38 Doch zunächst konnte gegen eine völkerrechtlich ungezügelte Machtpolitik, wie sie das nationalsozialistische Deutschland betrieb, das mit dem Angriff auf Polen offensichtlich den das Deutsche Reich bindenden Briand-Kellogg-Pakt von 1928 verletzte, nicht Recht ohne Macht, sondern letztlich nur überlegene militärische Gegenmacht, wie sie die Alliierten nach und nach organisierten, helfen.
35 Georg Schwarzenberger, International Law and Totalitarian Lawlessness, 1943, S. 45 ff. 36 Hersch Lauterpacht, The Future of Neutrality (1942), unveröffentliches Manuskript, zitiert nach: Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 380 – 381. 37 Georg Schwarzenberger, War Crimes and the Problems of an International Criminal Court, in: Czechoslovak Yearbook of International Law 1 (1942), S. 67 ff. Auch Lauterpacht plädierte für ein Tribunal zur Aufarbeitung der Kriegsverbrecher und machte dabei die individuelle völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Kriegsverbrechern geltend; vgl. The Law of Nations and the Punishment of War Crimes (1944), in: XI BYIL, S. 58 – 95. 38 Georg Schwarzenberger, International Law and Totalitarian Lawlessness, 1943, S. 82 ff., 98, 109 – 110. Mit dieser Auffassung stand Schwarzenberger zwar bezüglich Deutschland nicht ganz allein (vgl. Hans Kelsen, The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, in: AJIL 39 (1945), S. 518 ff.), aber die Alliierten machten sich aus Eigeninteresse am Fortbestand des Reparationsschuldners und Adressaten ihrer Viermächteverantwortung dieser Sichtweise nicht zu eigen. Immerhin behielten sie sich Sonderrechte gegenüber den sog. Feindstaaten vor (vgl. Art. 53 Abs. 1 S. 2, 107 UN-Charta).
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In ihrer Vorstellung einer künftigen, nach dem Kriege anstehenden Neugestaltung der internationalen Beziehungen im Dienst des Friedens unterschieden sich die Konzeptionen Schwarzenbergers und Lauterpachts grundlegend. Lauterpacht erhoffte, seiner Vision der Zwischenkriegszeit treu bleibend, sich eine Vervollkommnung eines Systems kollektiver Sicherheit – mit universeller und zwingender Mitgliedschaft in der organisierten Staatengemeinschaft (unter vorübergehendem Ausschluss der Achsenmächte und ihrer Verbündeten), verbindlicher, grundsätzlich nach dem Mehrheitsprinzip zustande kommender Gesetzgebung in Angelegenheiten von internationaler Relevanz, obligatorischer und bindender Streitbeilegung und Organisation übertragener Zwangsgewalt mit besonderer, wenn auch nicht ausschließlicher Verantwortung der vier größten Mächte.39 Schwarzenberger zog in seiner 1941 unter dem Titel „Power Politics“ erschienenen Studie der internationalen Beziehungen aus der Negativerfahrung eines machtlosen Völkerbundes die Schlussfolgerung, dass das Recht der Staatengesellschaft deren machtpolitischen Verhältnisse nicht ignorieren, sondern widerspiegeln müsse: „In a society in which power is the overriding consideration it is the primary function of law to assist in maintaining the supremacy of force and the hierarchies established on the basis of power and to lend to such a system the respectability and sanctity of law“.40
IV. Friedenssicherung unter den Bedingungen des Kalten Krieges 1945 – 1989: „Verschleierte Machtpolitik“ im Rahmen der Vereinten Nationen Es kann nicht wirklich überraschen, dass das nach dem zweiten Weltkrieg inaugurierte neue kollektive Sicherheitssystem, die Vereinten Nationen, zwar nicht Rechts-, wohl aber Funktionsnachfolger des 1946 endgültig liquidierten Völkerbundes, keinen völkerrechtlichen Quantensprung bedeutet, sondern – so wie die weltpolitischen Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg lagen – strukturell seinem Vorgänger durchaus ähnelt.41 Tatsächlich ist auch die Charta der Vereinten Nationen von 1945, auf die man sich schließlich als Nachkriegsordnung verständigte, nur ein, wenn auch besonders wichtiger multilateraler Vertrag42 und keine Weltverfassung, wie mitunter behauptet worden ist.43 Siehe dazu Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations [Fn. 9], S. 390 – 391. Georg Schwarzenberger, Power Politics, 21951, S. 203; ders., The Frontiers of International Law, 1962, S. 25. 41 Es nimmt daher nicht Wunder, dass Lauterpacht sich von der Struktur der Vereinten Nationen enttäuscht zeigte und insbesondere das Erfordernis der Einstimmigkeit unter den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern kritisierte; vgl. Hersch Lauterpacht, International Law after World War II, in: International Law, being the Collected Papers of Hersch Lauterpacht, 4 Bände. 1970 – 1978, Bd. 2, S. 159 – 170. 39 40
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Der Fortschritt des von den Vereinten Nationen aufgerichteten kollektiven Friedenssicherungssystems gegenüber dem in der Völkerbundära geltenden besteht vor allem darin, dass materiellrechtlich das Angriffskriegsverbot zu einem grundsätzlich strikten allgemeinen Gewaltverbot ausgedehnt worden ist und verfahrensrechtlich der Sicherheitsrat die für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidung darüber trifft, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es zu friedenssichernden Kollektivmaßnahmen einschließlich der Anwendung militärischen Zwangs kommt. Das allgemeine Gewaltverbot gilt allerdings nicht absolut, sondern steht unter dem Vorbehalt des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta), über dessen Inanspruchnahme – jedenfalls in erster Linie – der sich darauf berufende Staat selbst entscheidet. Die Charta der Vereinten Nationen hat damit zwar eine Verfahrenskonzentration, aber keine vollständige Monopolisierung der Entscheidungsgewalt hinsichtlich legaler Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen beim Sicherheitsrat herbeigeführt. Das Selbstverteidigungsrecht ist daher – aus der Binnenperspektive der Vereinten Nationen beurteilt – die eigentliche „Schwachstelle“ seines Friedenssicherungssystems, allerdings eine „Schwachstelle“, die praktisch unvermeidlich ist, weil sich kein Staat das „inherent right“ der Selbstverteidigung aus der Hand nehmen lässt.44 Der rechtliche Sonderfall des Selbstverteidigungsrechts erklärt zugleich, warum diejenigen Staaten, die größere eigene militärische Handlungsfreiheit (zurück-)gewinnen wollen, bei der Definition des Selbstverteidigungsrechts ansetzen. Zwar stellt die Charta die Selbstverteidigung nicht in die alleinige Zuständigkeit des angegriffenen Staates und seiner eventuellen Verbündeten. Vielmehr besteht 42 Als solcher entfaltet er grundsätzlich nur Rechtswirkung inter partes, begründet nur Rechte und Pflichten für die Vertragsstaaten, nicht für außenstehende Drittstaaten. Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta, der bestimmt, dass die Organisation sicherstellt, dass Nichtmitglieder in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta handeln, hat gegenüber diesen keine Verpflichtungskraft. Er schafft nur eine entsprechende Bündnisverpflichtung unter den Mitgliedstaaten. Nichtmitglieder sind nicht an die in Art. 2 UN-Charta niedergelegten und in Art. 2 Ziff. 6 UN-Charta in Bezug genommenen vertragsrechtlichen Prinzipien der Vereinten Nationen gebunden, sondern nur an das universelle Völkergewohnheitsrecht. Diese gewohnheitsrechtliche Bindung erfaßt aber nicht das vertraglich eingerichtete Sanktionssystems des VII. Kapitels der UN-Charta und damit auch nicht die verbindliche Beschlussfassung des Sicherheitsrates. Die Inanspruchnahme von Nichtmitgliedstaaten als Adressaten von Zwangsmaßnahmen oder ihre Verpflichtung zu deren Beachtung und Durchsetzung stellt daher eine unzulässige Kompetenzanmaßung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen dar. Siehe dazu eingehend Udo Fink, Kollektive Friedenssicherung, 1999, S. 905 – 909. 43 Siehe für die Gegenauffassung nur Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, passim; Bardo Faßbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, in: Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), S. 529 – 619. 44 Hersch Lauterpacht, The Function of Law in the International Community, 1933, S. 173, 177 – 182, 271 sah mit dem unzweifelhaften Recht der Staaten, die Bedingungen ihrer Selbstverteidigung selbst festzulegen, den Bedürfnissen der Realität, denen das Völkerrecht Rechnung zu tragen habe, Genüge getan.
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das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 Satz 1 Hs. 2 UN-Charta nur solange, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Damit der Sicherheitsrat seine primäre Verantwortung wahrnehmen kann, müssen Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts trifft, dem Sicherheitsrat sofort angezeigt werden. Sie berühren nicht dessen Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er selbst zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält (Art. 51 Satz 2 UN-Charta). Auf diese Weise soll also auch in einer Selbstverteidigungskonstellation letztlich die Verfahrensherrschaft auf den Sicherheitsrat übergeleitet werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass zunächst, gewissermaßen in primärer Rechtsanwendung, der wirklich oder vermeintlich angegriffene Staat sich selbst das Selbstverteidigungsrecht attestiert und dementsprechend handelt. Aber wenn der Sicherheitsrat sich anschließend mit der Angelegenheit befasst, das Verfahren an sich zieht, kann er (mehrheitlich) zu einer anderen Einschätzung gelangen, das in Anspruch genommene Selbstverteidigungsrecht als nicht gegeben verwerfen. Er hat insoweit das letzte Wort. Das gilt allerdings nicht gegenüber den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern, die mit dem sog. Vetorecht ausgestattet sind. Die Beschlüsse des Sicherheitsrates bedürfen – außer in Verfahrensfragen – nach Art. 27 Abs. 3 UN-Charta der Zustimmung sämtlicher ständiger Mitglieder. Die ständigen Sicherheitsratsmitglieder werden dadurch zu unangefochtenen Herren des Verfahrens. Üben sie ein von ihnen reklamiertes Selbstverteidigungsrecht aus, so können sie durch Einlegung ihres Vetos verhindern, dass der Sicherheitsrat ihrem Verhalten mit einer verbindlichen Sicherheitsratsresolution gem. Kapitel VII UN-Charta wirksam entgegentritt. Die ständigen Sicherheitsratsmitglieder besitzen demnach zwar keine materiell unbeschränkte Definitionsmacht hinsichtlich des Umfangs des ihnen zustehenden Selbstverteidigungsrechts, aber ihre Rechtsstellung ist verfahrensrechtlich unangreifbar. Der Sicherheitsrat ist in seiner Zusammensetzung und in seiner Verfahrensweise bewusst so eingerichtet worden, dass gegen den Willen eines der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder Entscheidungen verbindlicher Art nicht zustande kommen können. Es ist dies der von Schwarzenberger geforderte Tribut an die machtpolitischen Verhältnisse. Schon mit der Androhung, erst recht mit der Anwendung militärischen Zwangs gegen eine dieser Mächte, jedenfalls gegen die USA, Russland und China, würden sich die Vereinten Nationen offensichtlich übernehmen bzw., wenn sie damit tatsächlich Ernst machen wollten, den Ausbruch des nächsten Weltkriegs provozieren. Umgekehrt haben nur solche Beschlüsse über Zwangsmaßnahmen Aussicht auf Befolgung, deren Durchsetzbarkeit durch die Großmächte gewährleistet ist. Schwarzenberger deutete vor diesem Hintergrund die Vereinten Nationen wie vordem den Völkerbund als ein System „verschleierter Machtpolitik“. Hinter dem Schleier des organisatorischen Rahmens dominiere wie eh und je die „Oligarchie
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der Großmächte“.45 Gerade die rechtliche Struktur der Vereinten Nationen, insbesondere das Vetorecht im Sicherheitsrat, ermögliche die Dominanz der Weltmächte in und über die Organisation. Die Praxis gab Schwarzenberger Recht: Die fundamentalen ideologischen und politischen Interessengegensätze, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den beiden Welt- und Führungsmächten USA und Sowjetunion und ihren jeweiligen Machtblöcken aufbrachen und in den sog. Kalten Krieg einmündeten, machten den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der nur im Einverständnis aller ständigen Mitglieder agieren kann, entscheidungs- und handlungsunfähig. Er fiel als „a paralysed peace of machinery“46 über vierzig Jahre lang weitgehend als eigenständiges Instrument der Friedenssicherung aus.47 „This means in effect that peace between the world Powers does not depend on the United Nations, but that the United Nations depends on peace between the world Powers“.48 Tatsächlich wurde eine direkte militärische Konfrontation zwischen den beiden Weltmächten nicht durch das Gewaltverbot und das Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen, sondern durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ verhindert, was begrenzte „Stellvertreterkriege“ in Afrika und Asien nicht ausschloss. Schwarzenberger beurteilte angesichts dessen auch das Entwicklungspotential der Vereinten Nationen skeptisch und sollte damit Recht behalten: Solange der machtpolitische Interessengegensatz und die ideologische Spaltung zwischen den Weltmächten bestehe, könne eine internationale Organisation die ordnungspolitischen Aufgaben nicht erfüllen.49 Nur die Überwindung der Blockgegensätze und die Entwicklung zu einer gemeinschaftlichen, von homogenen Interessen getragenen Koexistenz werde eine effektive und universelle Geltung des Friedensvölkerrechts ermöglichen. Das weltpolitische Ringen um Macht und Einfluss in der Zeit des Kalten Krieges war dabei – wie schon in der vorangegangenen Völkerrechtsepoche – auch ein Kampf um die Durchsetzung des jeweils eigenen Rechtsverständnisses – klassisches europäisch-atlantisches versus „sozialistisches“ Völkerrecht50 – und um die Deutungshoheit über zentrale völkerrechtliche Rechtsbegriffe. War der bewaffnete Kampf gegen die Kolonialmacht legitimer Befreiungskampf oder illegale Gewalt? Was bedeuteten und erforderten Demokratie und Menschenrechte? Hier und in vieGeorg Schwarzenberger, Machtpolitik, 1955, S. 73, 389 ff. So der lybische Delegierte Azzarouk im Iran-Irak-Konflikt (erster Golfkrieg), S / PV / 2665: 20. February 1986, S. 39. 47 Vgl. dazu nur Fink, Kollektive Friedenssicherung [Fn. 42], S. 31 f. 48 Georg Schwarzenberger, International Law and Society, in: The Year Book of World Affairs 1 (1947), S. 177. 49 Schwarzenberger, Machtpolitik [Fn. 45], S. 244 ff., 346 hinsichtlich der Geltung von Menschenrechten, S. 409 ff. hinsichtlich einer Revision der Charta. 50 Siehe dazu nur Reinhart Maurach / Boris Meissner (Hrsg.), Völkerrecht in Ost und West, 1967; Theodor Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?, 1979, passim, insbes. S. 310 – 341. 45 46
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len anderen Fragen bestand tiefgreifender ideologischer (Interpretations-) Dissens, der allenfalls hinter Formelkompromissen versteckt werden konnte, die Spaltung der Völkerrechtsgemeinschaft in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager aber nicht verbergen konnte. Das hinderte allerdings die Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen nicht daran, auf einer Reihe anderer, weniger politisch sensibler Felder durchaus erfolgreiche Arbeit zu leisten, etwa bei der Kodifikation wichtiger Teilbereiche des Völkerrechts, etwa des Vertragsrechts und des Rechts des diplomatischen und konsularischen Verkehrs. Hierin zeigt sich, dass der über alle Völkerrechtsepochen hinweg festzustellende völkerrechtliche Grundkonsens insbesondere „die formalen und technischen Grundlagen des zwischenstaatlichen Verkehrs regelnden Normen und Institutionen“ erfasst.51 Dagegen gelangte das Völkerstrafrecht über rudimentäre Ansätze in den sog. Nürnberger Prinzipien52 zunächst nicht hinaus. Von den Prozessen vor den Nürnberger und Tokyoter Kriegsverbrechertribunalen ging kein nachhaltiger Impuls für eine internationale Strafrechtsordnung aus; die Entwicklung brach unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges ab, kaum dass sie ihren Anfang genommen hatte. Erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Überwindung der unversöhnlichen Konfrontation gewannen die Vereinten Nationen auch auf dem Gebiet der präventiven Friedenssicherung einen größeren Handlungsspielraum, der sie v.a. in den 90er Jahren sogar teilweise bestimmenden Einfluss auf die Bewältigung friedensbedrohender Krisen in der Welt, wie beispielsweise den Irak-Kuwait- oder den Jugoslawienkonflikt, gewinnen ließ. Mit der Errichtung der Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda und der Verabschiedung des Statuts von Rom für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof 1998 erlebte auch das Völkerstrafrecht – nach fünfzigjährigem Dornröschenschlaf wieder eine Auferstehung und einen Aufschwung. V. Ausblick und Resümee Die weltpolitische Wende 1989 / 90 ließ erneut Blütenträume von der einen ungeteilten Welt ohne machtpolitische Gegensätze aufkommen. Es machte sich Hoffnung auf dauerhaften Weltfrieden breit. Ein Politikwissenschaftler verkündete das angebliche „Ende der Geschichte“53 und ein Jurist rief die „demokratische Weltrevolution“ aus.54 Mussten nur noch die letzten Diktaturen gestürzt und in Demokratien verwandelt werden, um den überall auf der Welt in gleicher Weise und in Grewe, Epochen [Fn. 27], S. 40. Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, 1950, adopted by the International Law Commission, in: Yearbook of the International Law Commission, 1950, Bd. II, para 97. 53 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992. 54 Martin Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, 1988. 51 52
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gleichem Umfang geltenden internationalen Menschenrechten zur wahrhaft universellen Geltung und Wirksamkeit zu verhelfen? Manchen schien der universelle Wertekonsens zum Greifen nahe. Mittlerweile ist die Euphorie schon wieder gedämpft, wenn nicht verflogen. Die kurze Zeit der Einigkeit unter den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern ist bereits wieder Geschichte. Sie war, wie sich zeigen sollte, nicht Ausdruck eines Sinneswandels, sondern nur Resultat einer bestimmten, vorübergehenden Mächtekonstellation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in der die USA die alleinige verbliebene Weltmacht waren. Doch mittlerweile hat sich Russland machtpolitisch wieder erholt, zwischenzeitlich verlorene Stärke zurückerlangt und neues Selbstbewusstsein gewonnen. China schickt sich an, auch politisch und militärisch in den Kreis der Weltmächte einzutreten. Das weltweite machtpolitische Ringen hat längst wieder eingesetzt, und im Hintergrund droht sogar ein „clash of civilizations“ (Samuel Huntington). Was bedeutet dies für das Völkerrecht und seine zentrale Aufgabe, Frieden und Stabilität in den internationalen Beziehungen zu garantieren? Gegenläufige Machtinteressen verhindern erneut ein effektives Eingreifen des Sicherheitsrates in den Krisenherden der Welt. Das führt entweder zu allgemeiner Passivität wie im Fall Darfurs oder – in einer Politik kalkulierten Risikos – zur unilateralen, auch militärischen Durchsetzung der eigenen Interessen unter Umgehung der UN-Verfahren. So haben sich etwa die 1999 im Kosovo humanitär intervenieren NATO-Mitgliedstaaten nicht einmal um eine Ermächtigung des Sicherheitsrates bemüht, die wohl am voraussehbaren Veto Russlands und Chinas gescheitert wäre, und die Vereinigten Staaten entbehrten bei dem zum Sturz des Saddam-Regimes führenden IrakKrieg in gleicher Weise einer hinreichenden Autorisierung durch ein UN-Mandat, die ihnen auch Frankreich nicht gewähren wollte. Die westlichen Staaten haben inzwischen auch – kurz nach ihrer Ausrufung – die staatliche Unabhängigkeit des Kosovos anerkannt, obwohl die ständigen Sicherheitsratsmitgliedern über den künftigen Status der bisher bloß Autonomie genießenden serbischen Provinz kein Einvernehmen erzielen konnten und die letzte einschlägige Sicherheitsratsresolution (1244 vom 10. Juni 1999) eigentlich zur Achtung der Souveränität und territorialen Integrität Serbiens verpflichtete.55 Das Vetorecht der ständigen Sicherheitsratsmitglieder hat wieder an Bedeutung gewonnen; sie zeigt sich nicht nur in der mit seiner Ausübung aktualisierten Option, den eigenen Interessen zuwiderlaufende, verbindliche Beschlüsse des Sicherheitsrates zu verhindern, sondern ist auch und vor allem ein Instrument zur Gestaltung solcher Beschlüsse nach dem eigenen politischen Willen.56 55 Allerdings können die Opponenten unter den ständigen Sicherheitsratsmitgliedern die Aufnahme des Kosovo als neues Mitglied in die Vereinten Nationen verhindern (Art. 4 Abs. 2 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 UN-Charta). 56 Christian Hillgruber, Diskussionsbeitrag, in: BDGVR 39 (2000), S. 460 (461). Gerade deshalb steht nicht zu erwarten, dass die beati possidentes bereit sein werden, auf dieses
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Von der vielbeschworenen internationalen Gemeinschaft und Solidarität ist nach wie vor, auch im Kampf gegen „Schurkenstaaten“ oder gegen den internationalen Terrorismus, wenig zu spüren. Die Weltmächte handeln hier ungeachtet aller bemühten Gemeinschaftsrhetorik ganz ungeniert eigennützig. Wenn nicht auf universeller Ebene, hat sich dann nicht vielleicht auf der regionalen europäischen Ebene mit der Europäischen Union eine Wertegemeinschaft herausgebildet, die auch außen- und verteidigungspolitisch gemeinsame Sache macht? Selbst hier sind Zweifel angebracht, auch wenn der europäische Integrationsprozess auf wirtschaftlichem Gebiet unzweifelhaft eine Erfolgsgeschichte sondergleichen darstellt. Nachdem der Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1953 am Souveränitätsvorbehalt Frankreichs gescheitert war, wurde erst vierzig Jahre später mit dem Vertrag von Maastricht ein neuer Anlauf für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) unternommen. Doch gilt für die Bestimmung der Grundsätze und der allgemeinen Leitlinien einer solchen Politik sowie für Beschlüsse über gemeinsame Strategien das Einstimmigkeitsprinzip (Art. 23 Abs. 1 EU). Erst auf der Grundlage einer einstimmig beschlossenen gemeinsamen Strategie kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit gemeinsame Standpunkte annehmen und gemeinsame Aktionen beschließen (Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 EU). Indes ist den Mitgliedstaaten gleichzeitig das Recht eingeräumt, unter Berufung auf „wichtige Gründen der nationalen Politik“ eine Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip zu verhindern (Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 EU). Damit ist auch insoweit das scheinbar verabschiedete Einstimmigkeitsprinzip nach Art der sog. Luxemburger Vereinbarung quasi durch die Hintertür wieder eingeführt, und für Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen gilt das Prinzip qualifizierter Mehrheit ohnehin nicht (Art. 23 Abs. 1 UAbs. 4 EU). An dieser Rechtslage ändert sich auch mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vom 13. 12. 200757 nichts (vgl. Art. 22, 23 ff., 31 EU-Lissabon). Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt es also nur, wenn sich alle Mitglieder auf eine solche verständigen können, und wie wenig Einigkeit in wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten besteht, hat schlaglichtartig die Spaltung Europas in zwei Lager, das sog. „alte“ und „neue“ Europa, in Sachen Irak-Krieg gezeigt. Hier erlebte die GASP ihr Waterloo. Eine genaue historische Analyse, so hat es einmal Schwarzenberger treffend formuliert, verhindere die illusionäre Annahme, dass sich das Völkerrecht im Laufe ihnen eine besondere Rechtsmacht vermittelnde, die volle Souveränität wahrende Instrument zu verzichten oder es auch nur mit anderen Prätendenten zu teilen. Eine Reform des Sicherheitsrates hat daher allenfalls dann gewisse Realisierungschancen, wenn sie an diesem Sonderrecht nicht rührt, sondern sich auf die Aufnahme weiterer ständiger Mitglieder beschränkt. Hier konkurrieren indes auf jedem Kontinent gleich mehrere Bewerber, was eine Lösung im Revisionsverfahren nach Art. 108 UN-Charta äußerst schwierig wenn nicht unmöglich macht. 57 ABl. Nr. C 306 / 1.
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der Zeit kontinuierlich fortschrittlich entwickelt habe.58 Hat sich die Staatengesellschaft seit dem 19. Jahrhundert auch zunehmend institutionell organisiert, so sind doch gleichwohl die Strukturmerkmale dieser Staatengesellschaft weithin gleich geblieben. Das wohl bemerkenswerte Kontinuum der „Verfassung“ der Staatengemeinschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts stellt die durch den Konsens der übrigen Mitglieder völkerrechtlich begründete, allgemein akzeptierte Vorrangstellung der Großmächte bei der Regelung wesentlicher territorialer und Statusfragen, d. h. ihre diesbezügliche Zuständigkeit „zur gesamten Hand“, dar. Wenn auch in wechselnder Zusammensetzung haben die zunächst in dem 100 Jahre währenden „Europäischen Konzert“ (1815 – 1914), sodann im Obersten (Kriegs-)Rat (1918 – 1920), im Völkerbundrat (1920 – 1939) und schließlich seit 1945 im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vereinten Großmächte die großen politischen Fragen mit einer ihnen dazu verliehenen Rechtsmacht entschieden. Die Entscheidungsfreiheit über Krieg und Frieden haben sie sich dabei allerdings stets je für sich vorbehalten. Daran hat sich, wie gesehen, im Grunde bis heute nichts geändert. Zu wichtig erscheint ihnen diese Frage, als dass man ihre Beantwortung anderen überlassen oder diese auch nur mitentscheiden lassen könnte. Ganz in diesem Sinne hat der amerikanische Präsident Georg W. Bush in seiner Rede an die Nation am 20. Januar 2004 formuliert, Amerika werde niemals erst um Erlaubnis fragen, wenn es um die Verteidigung der Sicherheit des amerikanischen Volkes geht. Der jetzige Präsident Obama hat sich bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises in gleicher Weise geäußert: Es werde Zeiten geben, in denen Staaten allein oder in Gemeinschaft mit anderen die Anwendung von Gewalt nicht nur für notwendig, sondern auch für moralisch gerechtfertigt halten. Als Staatsoberhaupt durch Eid verpflichtet, seine Nation zu schützen und zu verteidigen, werde er im Angesicht von Gefahren für das amerikanische Volk nicht stillstehen können.59 Die Regierungen der anderen großen Mächte dürften über die unter Umständen eintretende Notwendigkeit auch einseitiger militärischer Gewaltanwendung nicht wesentlich anders denken.60 Darüber zu lamentieren hat ebenso wenig Sinn, wie sich darüber durch abstrakte Fortentwicklung des völkerrechtlichen Normensystems ohne Abstützung in der Staatenpraxis hinwegzusetzen und die Staaten in ihren internationalen Beziehungen in einer Weise für gebunden zu halten, die sie niemals akzeptiert und aller Voraussicht nach auch nie akzeptieren werden. Es gilt vielmehr, um der Glaubwürdigkeit des Völkerrechts willen, diese anscheinend unüberwindbare Grenze seiner Leistungsfähigkeit zu akzeptieren. 58 Georg Schwarzenberger, Neue Aufgaben für die Völkerrechtswissenschaft, in: EA 9 (1954), S. 6635 (6637 f.). 59 Vgl. Rede des US-Präsidenten Obama vom 10. Dezember 2009 in Oslo, Quelle: www.whitehouse.gov. 60 So hat etwa das BVerfG festgestellt: „Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“ (BVerfGE 111, 307, 319).
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Je nach Betrachtung noch immer oder wieder hat daher die Einschätzung Wilhelm G. Grewes Gültigkeit: „So umfassend der Geltungsanspruch des Völkerrechts ist, so aufwendig sein organisatorische Gerüst, so hochentwickelt seine kodifikatorische Fortschreibung – so kontrovers ist andererseits sein Inhalt und seine Auslegung und so zweifelhaft seine Durchsetzung und Beachtung: getreues Spiegelbild einer zerklüfteten, von tiefen ideologischen, materiellen und machtpolitischen Gegensätzen zerrissenen Staatenwelt, die im Schatten der Atomkriegsdrohung mühsam um ein prekäres, den Frieden wahrendes Gleichgewicht ringt“.61
61
Grewe, Epochen [Fn. 27], S. 808.
Stimmen Zweck und Mittel im internationalen Menschenrechtsschutz überein? Überlegungen anhand des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen Von Eckart Klein* I. Ausgangslage Trotz aller Erfolge, die der Schutz der Menschenrechte in den vergangenen Jahrzehnten seit Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 erzielt hat, ist doch insgesamt die Bilanz der tatsächlichen Achtung der Würde des einzelnen Menschen in den allermeisten Regionen der Welt deprimierend. Abgesehen von Europa, abgeschwächt in Amerika, hat sich in keiner anderen Region unseres Globus das Regime eines jedenfalls prinzipiell gut funktionierenden Menschenrechtsschutzes etablieren können, aber selbst da gibt es einige Staaten, die – wie nicht zuletzt die Vielzahl der nach Straßburg gelangenden Beschwerden belegt1 – offenkundige Defizite bei der Befolgung der von ihnen übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen aufweisen. Umso wichtiger ist für die meisten Menschen der Schutz, der auf der universellen Ebene vorgehalten wird. Neben den politischen Mechanismen, wie sie heute etwa der Menschenrechtsrat in Nachfolge der ehemaligen Menschenrechtskommission verkörpert,2 spielen hier vor allem die zwar im Rahmen der Vereinten Nationen auf Grund eines bestimmten Vertrages geschaffenen und auch tätigen, aber – mit einer Ausnahme3 – nicht unmittelbar in die Organisation eingegliederten Men* Univ.-Prof. Dr. iur. em., Lehrstuhl für Staatsrecht, Völkerrecht und Europarecht, Universität Potsdam Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses 1995 – 2002. 1 Ende des Jahres 2009 waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Rußland mehr als 33.000 Individualbeschwerden anhängig, gegen die Türkei mehr als 13.000, gegen die Ukraine 9.975 und Rumänien 9.812; Zahlen nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 01.2010, S. 5. 2 UN-Doc. A / RES / 60 / 251 vom 15. 03. 2006; dazu Helmut Volger, Human Rights Council, in: ders. (ed.), A Concise Encyclopedia of the United Nations, 2. Aufl. 2010, S. 329 ff. 3 Genau genommen ist der den UN Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 kontrollierende Ausschuss ein Unterorgan des UN Wirtschafts- und Sozialrats, ist aber den anderen Ausschüssen im Übrigen – auch bezüglich seiner Zusammensetzung (unabhängige Experten) – gleichgestellt; vgl. Eibe Riedel, Committee on Economic,
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schenrechtsausschüsse eine Rolle. Ihre Aufgabe ist es, die Staaten, die den jeweiligen Vertrag ratifiziert haben, zu kontrollieren, um auf diese Weise die Einhaltung der akzeptierten Verpflichtungen zu gewährleisten. Bereits diese generelle Aufgabenbeschreibung macht auf eine zweifache Beschränkung der Schutzmöglichkeiten durch diese „Vertragsorgane“ (treaty bodies) aufmerksam. Zunächst kann sich deren Fähigkeit zum Tätigwerden von vornherein nur auf diejenigen Staaten beziehen, die den jeweiligen Vertrag ratifiziert, gegebenenfalls auch den zur Verfügung stehenden Schutzinstrumenten ausdrücklich zugestimmt haben, wobei immer noch die häufig bestehende und viel genutzte Möglichkeit, Vorbehalte zu erklären, zu berücksichtigen ist.4 Haben Staaten den Vertrag nicht ratifiziert oder einen (zulässigen) Vorbehalt erklärt, mögen sie auf anderer Grundlage (z. B. Gewohnheitsrecht)5 materiell verpflichtet sein, doch steht jedenfalls das vom Vertrag geschaffene Schutzinstrumentarium nicht zur Verfügung. Der maßgebliche Kontrollmaßstab ergibt sich grundsätzlich nur aus dem konkreten Vertrag, der freilich, wie es manchmal der Fall ist, bezüglich seiner Interpretation und Anwendung auf andere existente völkerrechtliche Verpflichtungen der Vertragsparteien verweisen kann.6 Den Ausschüssen stehen ferner auch nur die Kontrollmittel zur Verfügung, die ihnen die Staaten im Vertrag eingeräumt haben.7 So ist kein Vertragsorgan ermächtigt, sich etwa aus eigenem Entschluss zur Prüfung von Individualbeschwerden für zuständig zu erklären. Ist dies vertraglich nicht vorgesehen, muss die Grundlage hierfür durch einen weiteren Vertrag geschaffen werden, wie es auch mehrfach geschehen ist.8 Eine andere Frage ist, in welchem Umfang ein Ausschuss in der Lage ist, durch von ihm selbst beschlossene Regeln (Verfahrensordnung; Rules of procedure) seine Kontrollmittel auszugestalten. Ist er zum autonomen Erlass solcher Regeln explizit ermächtigt,9 wird man ihm eine weite am Zweck seiner Kontrollaufgabe orientierte Ausgestaltungskompetenz zuzugestehen haben. Es ist evident, dass sich effektiver Menschenrechtsschutz immer wieder an der Staatensouveränität stößt,10 sei es dass sich die Staaten – zumindest für sich Social and Cultural Rights (CESCR), in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), Heidelberg and Oxford University Press, online (2007). 4 Zum Problem insgesamt Ineta Ziemele (ed.), Reservations to Human Rights Treaties and the Vienna Convention Regime. Conflict, Harmony or Reconciliation, 2004. 5 Eckart Klein (Hrsg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2003. 6 Wie es etwa in Art. 4 IPbpR zur Derogationsmöglichkeit geregelt ist: „. . . provided that such measures are not inconsistent with their other obligations under international law . . .“. 7 Das „Prinzip der begrenzten Ermächtigung“ findet auch hier Anwendung. 8 So etwa das – noch nicht in Kraft getretende – Fakultativprotokoll vom 10. 12. 2008 zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966; kritisch Christian Tomuschat, An Optional Protocol for the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights?, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht., Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, S. 815 ff. 9 Vgl. etwa Art. 39 Abs. 2 IPbpR; ebenso Art. 26 lit. d EMRK.
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selbst – der normativen Weiterentwicklung der materiellen Rechte oder des Schutzinstrumentariums verweigern, sei es dass sie die Feststellung einer Verletzung deshalb nicht akzeptieren, weil diese Feststellung nicht rechtlich bindend ist. Das Schutzschild der staatlichen Souveränität – „Keine Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten!“ – wird aber auch gegenüber der Aufforderung zur Respektierung internationaler Verpflichtungen erhoben; dies ist zwar rechtlich eindeutig falsch, erweist sich aber angesichts des Fehlens einer in soweit einsetzbaren internationalen Zwangsgewalt als durchaus wirksam. Doch die Verteufelung der Souveränität („verdammungswürdiges S-Wort“) führt nicht weiter. Zum einen ist sie – bei aller Wandlung – nach wie vor ein Grundelement der geltenden Völkerrechtsordnung (Art. 2 Abs. 1 VN-Charta), zum anderen ist jeder internationale Menschenrechtsschutz allein aus rein praktischen Gründen auf die jedenfalls prinzipielle Bereitschaft der Staaten angewiesen, bei dieser Aufgabe mitzuwirken.11 Die Pflicht zur Respektierung wichtiger Menschenrechte wird heute von den Staaten in der Tat nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt. Der Rechtfertigungsdruck bei Missachtungen ist deutlich gestiegen, ganz parallel zur Situation bei Verstößen gegen das Verbot eines Angriffskrieges. Schon dies ist ein wichtiger völkerrechtlicher Fortschritt. Die Vielfalt der Rechtfertigungsargumente ist freilich nach wie vor bedenklich, vor allem wenn den (akzeptieren) Rechten unter Hinweis auf die Sharia oder „asiatische“ oder „afrikanische Werte“ eine andere, ihren Schutzcharakter aushebelnde Bedeutung gegeben wird.12 Hiergegen muss klar, zugleich aber umsichtig, argumentiert werden. Insoweit ist die Universalitätsdebatte nach wie vor zentral.13 Gerade dabei sollte aber auch die Anschlussfähigkeit neuerer menschenrechtlicher Behauptungen bedacht werden. Die folgenden Überlegungen nehmen diese Fundamentalfragen nicht auf. Viel bescheidener möchten sie am Beispiel des dem Verfasser vertrauten VN-Menschenrechtsausschusses, der vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Pakt) errichtet wurde, untersuchen, ob die ihm überlassenen Instrumente – von allen anderen, bereits angedeuteten Schwierigkeiten abgesehen – 10 Dazu Eckart Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die staatliche Rechtsanwendung, 1997. 11 Dies machen auch Thomas Buergenthal / Daniel Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 339, sehr deutlich. Ferner: Norman Weiß, Die Verantwortung des Staates für den Schutz der Menschenrechte, in: Eckart Klein / Christoph Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, 2008, S. 517 ff. 12 Dazu etwa Gregor Paul, Die Rede von asiatischen Werten und ihr Einfluss auf die Interpretation der Menschenrechte, in: Klein / Menke (Hrsg.), Universalität (Anm. 11), S. 46 ff. sowie der dazu gegebene Kommentar von Georg Lohmann, Zum Problem der Individualisierung von Menschenrechten in China, ebd. S. 62 ff. 13 Christian Tomuschat, Human Rights. Between Idealism and Realism, 2. Aufl. 2008, S. 69 ff.; Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 74 ff.; Rolf Zimmermann, Zur Begründung der Universalität von Menschenrechten, in: Klein / Menke (Hrsg.), Universalität (Anm. 11), S. 17 ff.
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überhaupt in der Lage sein können, ihre Kontroll- und damit Schutzaufgabe zu erfüllen. Maßstab hierfür ist der vom Pakt anvisierte Schutzzweck.
II. Schutzziele Ausgehend von der Anerkennung der der menschlichen Person zugehörenden Würde (inherent dignity) und der daraus abgeleiteten Rechte wird anerkannt, dass das Ideal freier Menschen nur erreicht werden kann, „wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine bürgerlichen und politischen Rechte ebenso wie seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genießen kann“.14 Die im Einzelnen aufgeführten Paktartikel definieren die angesprochenen bürgerlichen und politischen Rechte im Einzelnen. Die erwähnten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthalten, der fast gleichzeitig mit dem erstgenannten Pakt Anfang 1976 in Kraft getreten ist und von einem eigenen Organ überwacht wird. Ausgehend vom zitierten Wortlaut geht es bei genauer Betrachtung um Zweierlei: Erstens um die Schaffung von Bedingungen, die ein Leben in Freiheit ermöglichen sollen – das ist die eher auf einen allgemeinen Zustand gerichtete Dimension. Zweitens geht es um das Ziel, dass jeder Einzelne die im Pakt garantierten Rechte auch genießen können soll – das ist die die Verwirklichung des konkreten Rechts eines Individuums in den Blick nehmende Perspektive. Beide Schutzzweckdimensionen erklären sich aus der Würde des einzelnen Menschen und sind nicht trennbar: Ohne ein die Menschenrechte generell respektierendes Ambiente ist der Schutz des Einzelnen auf Sand gebaut, erfolgt bestenfalls zufällig. Vom Einzelnen her gesehen – und seine individuelle Würde ist der Ausgangspunkt der Betrachtung15 – reicht indes ein generell den Menschenrechten günstiges Klima nicht aus, wenn er selbst rechtlos gestellt, in seinem Personsein herabgewürdigt wird. III. Kontrollinstrumente des Menschenrechtsausschusses Im Zentrum der dem Menschenrechtsausschuss zur Verfügung stehenden Kontrolle steht das Berichtsverfahren.16 Alle Vertragsparteien (derzeit 165) sind verpflichtet, dem Ausschuss „über die Maßnahmen, die sie zur Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte getroffen haben, und über die dabei erzielten FortPräambel, Abs. 3 IPbpR. Zur praktischen Bedeutung der Menschenwürde als Ausgangspunkt: Eckart Klein, Menschenrechte zwischen Universalität und Universalisierung, in: Christoph Böttigheimer / Norbert Fischer / Manfred Gerwin (Hrsg.), Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, 2009, S. 207 ff. (212 f.). 16 Allgemein dazu Ineke Boerefijn, The Reporting Procedure under the Covenant on Civil and Political Rights, 1999. 14 15
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schritte Berichte vorzulegen“ (Art. 40 Abs. 1 Pakt); dies hat innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages für den jeweiligen Staat, im Übrigen nach Anforderung durch den Ausschuss (in Abständen von ca. 3 – 5 Jahren) zu geschehen. Das zweite Kontrollinstrument ist das sogenannte Mitteilungsverfahren. Staaten, die diesem Verfahren zugestimmt haben (48 Staaten), können die Kontrolle des Ausschusses dadurch auslösen, dass sie auf der Basis der Reziprozität eine Mitteilung (communication) an den Ausschuss richten, mit der einer anderen Vertragspartei die Nichterfüllung ihrer Verpflichtungen vorgeworfen wird (Art. 41 Pakt). Bei den Pflichtverletzungen muss es sich nicht notwendig um die Verletzung konkreter Menschenrechte handeln, es könnte etwa auch die Nichterfüllung der Berichtspflicht gerügt werden. Von dieser Möglichkeit ist bislang nie Gebrauch gemacht worden, was bedauerlich ist.17 Als praktisch irrelevant wird dieses Verfahren im Folgenden nicht weiter behandelt. Bedeutsamer hingegen ist das individuelle Mitteilungsverfahren.18 Mit der Ratifikation des Fakultativprotokolls (FP) kann ein Staat, der Partei des Paktes selbst ist, die Kompetenz des Ausschusses „für die Entgegennahme und Prüfung von Mitteilungen seiner Herrschaftsgewalt unterstehender Einzelpersonen (anerkennen), die behaupten, Opfer einer Verletzung eines in dem Pakt niedergelegten Rechts durch diesen Vertragsstaat zu sein“ (Art. 1 FP). Durchaus erwähnenswert sind auch die vom Ausschuss verabschiedeten „Allgemeinen Bemerkungen“, die wichtige Hinweise auf sein Verständnis einzelner Paktbestimmungen zulassen, auch um den Vertragsparteien eine bessere Orientierung bei der Verwirklichung der Rechte und für die Erfüllung ihrer Berichtspflicht zu geben.19 In den beiden nächsten Abschnitten ist zu erörtern, ob und in wieweit diese drei Instrumente – Berichtsverfahren, Individualbeschwerde, Allgemeine Bemerkungen – geeignet sind, die zwei wesentlichen Ziele des vom Pakt angestrebten Schutzes zu realisieren.
17 Näher Eckart Klein, Die Verantwortung der Vertragsparteien. Überlegungen zu einer effektiven Durchsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen, in: Hans-Jürgen Cremer u. a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, S. 243 ff. (248 ff.). 18 Christoph Pappa, Das Individualbeschwerdeverfahren des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1996. 19 Eckart Klein, „Allgemeine Bemerkungen“ der UN-Menschenrechtsausschüsse, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI / 2, § 127 (S. 395 ff.).
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IV. Adäquanz der Mittel im Hinblick auf die Schaffung eines Menschenrechte allgemein verbürgenden Zustandes 1. Berichtsverfahren Nach seiner in Art. 40 Abs. 1 Pakt enthaltenen, oben zitierten Funktionsbeschreibung erscheint primär das Berichtsverfahren dazu geeignet, die konkrete Realisierung der im Pakt abstrakt formulierten Rechte durch die Vertragsparteien in einem allgemeinen Sinn zu kontrollieren. Zu diesem Zweck ist der Staat gehalten, einen die Paktrechte (Art. 1 – 27 Pakt) betreffenden Bericht abzugeben, in dem sowohl die rechtliche als auch die ihr oft aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht entsprechende faktische Situation darzulegen ist, woran es jedoch in der Praxis häufig fehlt. Zur Vorbereitung der Erörterung im Ausschuss wird eine Themenliste erarbeitet und dem Staat zugestellt. Die (in letzter Zeit zunehmend häufig schriftlichen) Antworten werden zusammen mit weiteren von den Ausschussmitgliedern aufgeworfenen Punkten kritisch diskutiert (sog. constructive dialogue). Abgeschlossen wird die Diskussion seit Beginn der 1990er Jahre20 mit den auch publizierten Abschließenden Bemerkungen (concluding observations), in denen auf Besorgnisse des Ausschusses im Hinblick auf die defizitäre rechtliche oder faktische Lage bei der Beachtung der Verpflichtungen generell, meist aber auch im Hinblick auf ganz konkrete menschenrechtliche Verbürgungen hingewiesen wird und mehr oder weniger spezifizierte Verbesserungen angemahnt werden. Seit 2001 wird der Staat aufgefordert, innerhalb eines Jahres auf einige vom Ausschuss besonders herausgestellte Besorgnisse zu reagieren und seine Abhilfevorstellungen mitzuteilen.21 Dieses Follow-Up-Verfahren hat den Zweck, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen und den Druck auf den Staat aufrecht zu erhalten, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Wird dieses hier nur recht grob gezeichnete Verfahren seinem Zweck gerecht? Sieben Problembereiche sollen kurz angesprochen werden: a) Es ist zuzugeben, dass die Staaten mit sich oft zeitlich und thematisch überschneidenden Berichtspflichten 22 stark belastet sind. Dies wirkt sich insbesondere dort negativ aus, wo wenig leistungsfähige Verwaltungen bestehen, was bekanntlich in vielen Teilen der Welt eher die Regel als die Ausnahme ist. Dies trägt zur Bereitschaft bei, nur unvollkommen zu berichten, d. h. sich auf die Darstellung 20 Zu den Gründen Klein (Anm. 19), § 127 RN. 6; vgl. UN-Doc. A / 47 / 40 Annex 7, S. 199 f. 21 The Rules of Procedure of the Human Rights Committee, UN-Doc. CCPR / C / 3 / Rev. 8 (22. 10. 2005); Eckart Klein, Neuerungen im Verfahren des UN-Menschenrechtsausschusses, in: MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam (Hrsg.), MenschenRechtsMagazin, Themenheft: 25 Jahre Internationale Menschenrechtspakte, 2002, S. 55 ff. (60 f.). 22 Vgl. hierzu Heike Stender, Überschneidungen im internationalen Menschenrechtsschutz, 2004.
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allein der rechtlichen Grundlagen zu konzentrieren, führt häufig zur sehr verspäteten Vorlage der Berichte oder gar zur Verweigerung der Berichterstattung überhaupt. Für die Totalverweigerung ist Überlastung freilich regelmäßig ein nur vorgeschobener Grund. Es ist nötig, die Staaten besser als bisher für die Berichterstattung zu gewinnen. Ein Mittel könnte sein, ihnen größeren Spielraum bei der Berichtsgestaltung zu geben.23 So sollte es nach dem ersten Bericht – wenn es keine wesentlichen Veränderungen gegeben hat – den Regierungen möglich sein, selbst Schwerpunkte zu setzen, etwa nach eigener Einschätzung solche Fragen aufzuwerfen, für die sie das Gespräch selbst suchen. Zur Fortführung des früheren Dialogs sollte ferner über alle bisherigen Reaktionen auf die vorangegangenen Abschließenden Bemerkungen informiert werden. Das bisherige Berichtskonzept ist zu starr geworden, um Interesse zu wecken. b) Angesichts der zahlreichen zu prüfenden Berichte ist es nicht jedem Ausschussmitglied möglich, sich mit jedem Bericht in der an sich nötigen Intensität auseinander zu setzen. Es ist daher richtig, dass seit einigen Jahren sogenannte task forces, bestehend aus ca. 4 – 5 Mitgliedern, darunter der jeweilige Berichterstatter, gebildet werden, die sich eines bestimmten Berichts sehr viel genauer annehmen, gezieltere Fragelisten erarbeiten und in der mündlichen Diskussion mit den Staatenvertretern sachkundigere Beiträge leisten können. Angesichts der für die Diskussion regelmäßig nur knappen zur Verfügung stehenden Zeit (6 – 9 Stunden) bedarf es daher auch einer straffen Sitzungsleitung durch den Ausschussvorsitzenden, was in der Praxis durchaus verbesserungsfähig ist. c) Die in den Abschließenden Bemerkungen enthaltenen Monita sind nicht rechtlich bindend in dem Sinn, dass der betroffene Staat verpflichtet wäre, ihnen ohne Weiteres zu entsprechen.24 Aus der dem Ausschuss übertragenen Prüfkompetenz folgt jedoch, dass die Vertragsparteien die Beurteilung als solche weder als rechtswidrig noch als bedeutungslos einstufen dürfen. Sie haben sich vielmehr mit den Einschätzungen des Ausschusses – im Hinblick auf die Kennzeichnung der Rechtsverstöße wie auf die angeführten Remedurmaßnahmen – seriös, bona fide, auseinanderzusetzen und zu begründen, weshalb sie diese nicht ergreifen wollen. Natürlich ist die fehlende Verbindlichkeit der Ausschussäußerungen der Verwirklichung der Konventionsrechte abträglich, aber es ist nicht so, dass es deshalb von vornherein nicht zu positiver Einwirkung auf den Staat kommen könnte. d) Ein deutliches Manko ist das außerhalb der Fachwelt fast vollständige Fehlen einer publizistischen Aufmerksamkeit für die Arbeit des Ausschusses. Selbst die Medien der behandelten Staaten berichten kaum über die Tatsache der Berichtsprüfung, geschweige denn deren Ergebnisse. Die Abschlusspressekonferenzen sind 23 Der Menschenrechtsausschuss hat solche Initiativen bisher nicht sehr goutiert, vgl. etwa Human Rights Committee, Concluding Oberservations zum 5. periodischen Bericht Australiens, UN Doc. CCPR / C / AUS / CO / 5 (7. 5. 2009), Ziff. 2 24 Klein (Anm. 19), § 127 RN. 27.
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eher traurige Veranstaltungen. Expertenrunden finden weit weniger Interesse als politisch hoch angesiedelte Veranstaltungen, wie sie früher die KSZE-Nachfolgekonferenzen waren und heute – aber schon weniger – die Tagungen des Menschenrechtsrates sind. Ein durch Öffentlichkeit verstärkter Druck auf den Staat lässt sich so nicht aufbauen. e) Die fehlende Publizität wirkt sich auch auf das oft fehlende Interesse der Zivilgesellschaft, insbesondere der menschenrechtlichen Nichtregierungsorganisationen, aus.25 Ihre Arbeit ist für den Ausschuss schon deshalb unverzichtbar, weil sie eine notwendige balancierende Ergänzung zu den nur allzu häufig geschönten Staatenberichten bietet. Da die 18 Ausschussmitglieder unmöglich Experten bezüglich aller 165 Vertragsparteien sein können, bedürfen sie weiterer – freilich nicht als bare Münze zu nehmender – Informationen, um in der Lage zu sein, problematische Punkte in der Rechtsordnung und der Rechtspraxis der Staaten aufzugreifen. Gewiss sind alle Erkenntnisquellen möglich, aber die sogenannten Schattenberichte seriöser Nichtregierungsorganisationen spielen eine wichtige Rolle. Leider versiegt das Interesse dieser Organisationen oft mit Abschluss der Berichtsprüfung. Nichtregierungsorganisationen sollten stärker als bisher auch die Umsetzung der Ausschussempfehlungen im jeweiligen Staat begleiten und ihr Ausbleiben kritisch monieren, und sei es nur, um den Staat zu tragfähigen Begründungen, so es sie gibt, zu veranlassen. f) Ausschuss und Zivilgesellschaft sollten noch viel stärker als bisher darauf drängen, die Behandlung der Abschließenden Bemerkungen durch den jeweiligen Staat einem formalisierten Verfahren unterwerfen. Dazu gehört die offizielle Veröffentlichung dieser Bemerkungen durch die Regierung, die geregelte Einholung der Ansicht der betroffenen Ministerien, gegebenenfalls auch der (Bundes-) Länder, und, soweit existent, die Beteiligung des (unabhängigen!) nationalen Menschenrechtsinstituts.26 Sinnvoll wäre eine jährliche Parlamentsdebatte über die – eigene – Menschenrechtsbilanz, wie sie von internationalen Gremien, darunter dem Menschenrechtsausschuss, aufgestellt wird. Es ist ein Mangel des Paktes, dass das innerstaatliche Reaktionsverfahren wenigstens nicht grob geregelt ist. Umso mehr muss auf seine Etablierung durch den Ausschuss selbst gedrängt werden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Konvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen (2006) nicht nur die Errichtung von „focal 25 Dazu Andrew Clapham, Defining the Role of Non-Governmental Organizations with Regard to the UN Human Rights Treaty Bodies, in: Anne Bayefsky (ed.), The UN Human Rights Treaty System in the 21st Century, 2000, S. 183 ff. Ein praktisches Problem ist, dass häufig gerade in Ländern mit wenig guter Menschenrechtsbilanz die Nichtregierungsorganisationen entweder nicht aktiv oder nicht unabhängig sind; zu letzterem Gesichtspunkt auch Buergenthal / Thürer (Anm. 11), S. 181 ff. und Eckart Klein, Möglichkeiten und Grenzen der Zivilgesellschaft beim Schutz der Grundrechte der Bürger, in: MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam (Hrsg.), MenschenRechtsMagazin 2006, S. 161 ff. 26 Vgl. Eckart Klein, Ergänzungen zum gerichtlichen Rechtsschutz im Bereich der Menschenrechte, in: Wolfram Karl (Hrsg.), Internationale Gerichtshöfe und nationale Rechtsordnung, 2005, S. 145 ff. (153 ff.).
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points“ vorsieht, sondern vor allem auch die Etablierung eines Koordinationsmechanismus innerhalb der Regierung, um die für die Verwirklichung der Rechte notwendigen Tätigkeiten der verschiedenen Bereiche und auf verschiedenen staatlichen Ebenen zu erleichtern.27 In diese Richtung sollten die Anstrengungen auch bezüglich früherer Konventionen gehen. g) Ein besonders wunder Punkt für die Wirksamkeit des Berichtsverfahrens tut sich dann auf, wenn es lange oder gar nicht stattfindet, was leider häufig geschieht. Zahlreiche Staaten haben viele Jahre seit ihrem Beitritt noch nicht einmal den Erstbericht, der innerhalb eines Jahres fällig ist, geliefert.28 Der Pakt sieht keine Maßnahmen vor, um den Staat zur Vorlage des Berichts zu zwingen. Außer immer wieder drängenden Ermahnungen und der Veröffentlichung einer „schwarzen Liste“ im Jahresbericht des Ausschusses ist über viele Jahre nichts geschehen. Erst im Jahr 2001 hat sich der Ausschuss dazu durchgerungen, auch ohne Staatenbericht auf der Grundlage von im Übrigen vorliegenden Informationen die menschenrechtliche Lage vor dem Hintergrund der Paktverpflichtungen zu prüfen und zu entsprechenden Schlussfolgerungen zu kommen.29 Diese Bemerkungen werden dem Staat erst zur Kenntnisnahme und Kommentierung zugeleitet. Ergibt sich daraus ein Gespräch, möglicherweise dann doch noch die Vorlage eines Berichts, hat das Verfahren gewirkt. Verschweigt sich der Staat, werden die zunächst provisorischen Abschließenden Bemerkungen für endgültig erklärt und publiziert.30 Damit ist jedenfalls gesichert, dass ein Staat sich nicht folgenlos dem Berichtsverfahren entziehen kann. Verweigert sich der Staat gleichwohl jeder Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen, ist das Verfahren, das den Staat zur menschenrechtssichernden Tätigkeit gewinnen will, letztlich doch erfolglos. Immerhin kann auf Grund der Abschließenden Bemerkungen noch Druck gegen den Staat aufgebaut werden, der eines Tages fruchtbar werden kann.31 2. Beschwerde- (Mitteilungs-) Verfahren nach dem Fakultativprotokoll Die im Fakultativprotokoll enthaltenen Hinweise auf die notwendige Eigenschaft des Beschwerdeführers, selbst Opfer der Verletzung eines im Pakt garantierten Rechts geworden zu sein, und die damit eng verbundene Unzulässigkeit anonymer Beschwerdeerhebung32 weisen darauf hin, dass das individuelle Beschwerdever27 Stefanie Schmahl, Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen Menschenrechtsschutzes, Archiv des Völkerrechts, 45 (2007), S. 517 ff. (533). 28 Boerefijn (Anm. 16), S. 227 ff. 29 Klein (Anm. 21), S. 59 f. 30 Art. 79 Rules of Procedure (Anm. 21). 31 Die Verweigerung der Berichtspflicht böte eine Möglichkeit für andere Vertragsparteien, nach Art. 41 IPbpR vorzugehen. 32 Art. 1 und 3 FP.
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fahren nicht dazu ausersehen ist, die allgemeine Realisierung der Paktrechte sicherzustellen. Vielmehr geht es um Feststellung und mögliche Behebung (Wiedergutmachung) einzelner Rechtsverstöße, von denen auch nur Einzelne betroffen sind. Gewiss ist es so, dass von solchen Einzelfallfeststellungen Auswirkungen auf das Gesamtsystem ausgehen können; decken solche Feststellungen systemische Mängel auf, mag die Feststellung des Ausschusses den Charakter einer Leitentscheidung haben, die nicht nur für weitere einzelne Parallelfälle wichtig ist, sondern auch zur Korrektur in der nationalen Rechtsordnung führt. Ein solcher Verbesserungs- und edukativer Effekt ist mit jeder Einzelentscheidung verbunden.33 Aber es wäre zu hoch gegriffen, auf dieser Grundlage die spezifische Geeignetheit des Individualbeschwerdeverfahrens zu behaupten, den mit den Paktverpflichtungen der Vertragsparteien abstrakt geschaffenen Rechtsstandard den staatlichen Organen gegenüber generell gewährleisten zu wollen.34 3. Allgemeine Bemerkungen Die „General Comments“ werden diesem allgemeinen Zweck deutlich eher gerecht. Mit ihrer interpretierenden Zusammenschau der bisher im Berichts- und Beschwerdeverfahren gesammelten Erfahrungen bieten sie Hilfen oder Leitlinien für die Staaten und die Öffentlichkeit im Hinblick auf die sich aus den Paktrechten ergebenden Anforderungen und können dadurch mithelfen, Maßnahmen zu ergreifen, um den vorgesehenen völkerrechtlichen Standard im innerstaatlichen Recht zu verwirklichen. Dies gilt auch insoweit, als in den Allgemeinen Bemerkungen Gedanken im Lichte des Verständnisses der Paktrechte als „living instruments“ entwickelt werden, die sich bislang noch nicht in den Debatten über Staatenberichte oder in den Entscheidungen (Views) über Individualbeschwerden niedergeschlagen haben.35
V. Adäquanz der Mittel im Hinblick auf den individuellen Rechtsschutz 1. Berichtsverfahren Zur Garantie individuellen Rechtsschutzes ist das Staatenberichtsverfahren nur sehr beschränkt geeignet. Immerhin ist dem Rechtsschutz des Einzelnen durch das 33 Zur über den Einzelfall hinausreichende Wirkung der Verfassungsbeschwerde vgl. Eckart Klein, Zur objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde, DÖV 1982, S. 797 ff. 34 Auch die Anzahl der vom Ausschuss bisher behandelten Beschwerden (weniger als 2000) ist nicht dazu angetan, die Verfolgung eines solchen Zwecks sicherzustellen. 35 Näher, auch zu den rechtlichen Wirkungen der General Comments, Klein (Anm. 19), § 127 RN. 27 ff.
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Bestehen einer allgemeinen, die Menschenrechte respektierenden Ordnung, auf die das Berichtsverfahren hinwirken kann, nicht nur gedient, sondern er wird dadurch recht eigentlich erst möglich gemacht, indem er zufälligen Launen der Staatsgewalt entzogen wird. Daneben ist auch darauf zu verweisen, dass in das Berichtsverfahren zunehmend Anfragen aufgenommen werden, die sich auf vom Menschenrechtsausschuss in Individualbeschwerdeverfahren getroffene Feststellungen über Paktverletzungen beziehen und so das Berichtsverfahren auch in den Dienst der Durchsetzung solcher individualschützenden Entscheidungen gestellt wird.36 Wie die Individualbeschwerde generelle Auswirkungen zeitigen kann, kann sich auch das Berichtsverfahren zu Gunsten der Respektierung individueller Rechte auswirken. 2. Beschwerde- (Mitteilungs-) Verfahren nach dem Fakultativprotokoll Gewiss ist es der primäre Zweck des Beschwerdeverfahrens, individuellen Rechtsschutz zu gewährleisten, nicht eine generelle Anpassung der nationalen Rechtsordnung an den internationalen Standard herbeizuführen. Das ergibt sich, wie bereits erwähnt, aus dem Zulässigkeitserfordernis persönlicher Opfereigenschaft und dem Ausschluss von anonymen Beschwerden und „Class-actions“ (keine actio popularis).37 Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob dieses Verfahren nach seiner Ausgestaltung vernünftigen Anforderungen stand hält, um diesen Schutzzweck auch zu erfüllen. Insoweit gibt es durchaus Probleme. a) Die Tatsache, dass die Paktstaaten nicht automatisch der Individualbeschwerde unterworfen sind,38 diese vielmehr durch Ratifikation des Fakultativprotokolls besonders anerkennen müssen, mindert natürlich die Geeignetheit dieses Instruments. Eine automatische Unterwerfung ist jedoch derzeit auf der universellen Ebene nicht vorstellbar. Immerhin haben 113 Staaten die Kompetenz des Menschenrechtsausschusses zur Prüfung solcher Individualmitteilungen anerkannt und damit grundsätzlich den Weg zur Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes frei gemacht. b) Das Verfahren erfüllt grundsätzlich die an eine effektive Überprüfung zu stellenden Anforderungen. Dass zunächst die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs verlangt wird (Art. 2 und 5 Abs. 2 lit. b FP), ist nicht nur akzeptabel, 36 Vgl. etwa die von der Spanischen Regierung dem Menschenrechtsausschuss übermittelten schriftlichen Antworten auf dessen „list of issues“, UN-Doc. CCPR / ESP / Q / 5 / Add. I (14. 10. 2008), S. 2 ff. 37 Zulässig sind nicht einmal – anders als nach Art. 34 EMRK – Beschwerden von „Gruppen von Individuen“. 38 Auch hierin unterscheidet sich das Mitteilungsverfahren, das eben nur optional ist, von dem seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls (1998) bestehenden Rechtszustand nach der EMRK.
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sondern sinnvoll, weil der Menschenrechtsausschuss nur sehr beschränkt in der Lage und dabei vollständig auf die Hilfe der Parteien angewiesen ist, über streitige Tatsachen Beweis zu erheben. Diese Klärung muss daher prinzipiell vor staatlichen Gerichten erfolgen. Im Übrigen hilft sich der Ausschuss damit, dass er die Tatsachenbehauptungen des Beschwerdeführers als richtig unterstellt, wenn es der betroffene Staat unterlässt, diese Behauptungen detailliert und schlüssig zurückzuweisen.39 Dies kommt dem Beschwerdeführer entgegen. Für beide Seiten ist Sorgfalt bei ihren schriftlichen Stellungnahmen angesagt, da eine mündliche Verhandlung schon aus faktischen Gründen nicht stattfinden kann.40 Im Ausschuss findet bei nicht von vornherein unzulässigen Beschwerden eine meist sehr intensive Erörterung statt. c) Wichtig ist, dass der Menschenrechtsausschuss nicht nur über das Instrument der Anordnung einstweiliger Maßnahmen (interium measures) verfügt,41 sondern seit dem Jahr 2000 in ständiger Rechtsprechung von der rechtlichen Verbindlichkeit dieser Anordnungen ausgeht.42 Dadurch kann erreicht werden, dass der Vollzug nicht mehr rückgängig zu machender staatlicher Maßnahmen unterbleibt, bis der Ausschuss die Möglichkeit hatte, die Beschwerde im Einzelnen zu prüfen. Wie so oft im Völkerrecht, steht aber dem Ausschuss kein unmittelbares Mittel zur Verfügung, den Staat zu zwingen, der Anordnung zu folgen. Die Erfolgsrate ist indes relativ hoch.43 d) Hält der Ausschuss eine Verletzung der Paktrechte für gegeben, stellt er dies in einer Rechtsmeinung (views) fest und schließt daran die Aufforderung, dem Beschwerdeführer ein „effective remedy“ im Sinne von Art. 2 Abs. 3 lit. a Pakt zu gewähren. Die deutsche Übersetzung „wirksame Beschwerde“ ist ungenau, da es nicht nur um prozessuale Schritte, sondern auch um materielle Wiedergutmachung entsprechend den allgemeinen Regeln der Staatenverantwortlichkeit geht.44 Dementsprechend wird der Staat auch darauf hingewiesen, dass er zukünftige Verletzungen dieser Art (Wiederholungen) zu vermeiden hat. Es ist zutreffend, dass eine Paktverletzung die völkerrechtliche Haftung auslöst.45 Das Problem ist, dass die Feststellung des Ausschusses, es liege eine 39 Eine kritische Erörterung dieser Praxis bei Kirsten A. Young, The Law and Process of the U.N. Human Rights Committee, 2002, S. 190 ff. 40 Ein rechtliches Verbot besteht nicht. 41 Art. 92 (früher 86) Rules of Procedure (Anm. 21). 42 Views of 19 October 2000, Communication No. 869 / 1999, Piandiong et al. v. The Philippines. 43 Hierzu Eva Rieter, Preventing Irreparable Harm. Provisional Measures in International Human Rights Adjudication, 2010, S. 952 ff. 44 Dazu Eckart Klein, Individual Reparation Claims under the International Covenant on Civil and Political Rights: The Practice of the Human Rights Committee, in: Albrecht Randelzhofer / Christian Tomuschat (eds.), State Responsibility and the Individual, 1999, S. 27 ff. (33 f.).
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Paktverletzung vor, nicht rechtlich bindend ist, also den Staat nicht strikt darauf verpflichtet, die entsprechenden Konsequenzen aus der festgestellten Rechtsverletzung zu ziehen. Immerhin haben die Staaten mit der Ratifikation des Fakultativprotokolls die Kompetenz des Ausschusses anerkannt, „to receive and consider communications from individuals“ (Art. 1 FP). Diese rechtliche Anerkennungsverpflichtung wäre sinnlos, könnten sich die Staaten jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Ausschusses entziehen. Insofern besteht eine prozedurale Pflicht des betroffenen Staates, Ergebnis und Begründung des Ausschusses genau zu prüfen und gegebenenfalls Gründe für die Nichtbefolgung anzugeben.46 Mit dem seit 1990 bestehenden Follow-Up-Verfahren wird versucht, auf die Staaten einzuwirken, die Feststellung zu akzeptieren oder sich mindestens damit auseinanderzusetzen. 47 Es ist kein Zweifel, dass die Tatsache, dass der Ausschuss anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kein Gericht ist und keine verbindlichen Urteile fällen kann, die Effektivität des individuellen Rechtsschutzes beeinträchtigt. Auf der universellen Ebene zeichnet sich derzeit aber nicht ab, dass mehr erreichbar wäre. e) Auf ein weiteres Problem ist hinzuweisen. Man könnte argumentieren, dass die relativ geringe Zahl von Beschwerden, die dem Ausschuss seit Beginn seiner eigentlichen Tätigkeit (1977) vorgelegt wurden,48 das Scheitern des Versuchs, individuellen Rechtsschutz zu bieten, dokumentiere. Der wesentliche Grund für diese relativ geringe Zahl liegt zweifellos in der fehlenden Kenntnis dieses Verfahrens unter den Juristen der 113 Parteien des Fakultativprotokolls, ein Phänomen, das ein generelles Problem des internationalen Menschenrechtsschutzes anspricht.49 Andererseits ist der Ausschuss schon jetzt nicht mehr in der Lage, die ihm vorliegenden Beschwerden zügig zu bearbeiten. Eine erhebliche Erhöhung der Zahlen würde – ähnlich wie beim Straßburger Gerichtshof50 – irgendwann zu einem Kollaps der Ausschusstätigkeit im Hinblick auf die Gewährung angemessenen Rechtsschutzes führen. Aus dieser ambivalenten Situation aber den Schluss zu ziehen, das Individualbeschwerdeverfahren sei zum individuellen Rechtsschutz nicht geeignet, sondern trage eher dazu bei, den allgemeinen Rechtsstandard zu verbessern, wäre nicht berechtigt. 45 Vgl. Art. 1 ILC-Entwurf Responsibility of States for Internationally Wrongfull Acts; angenommen von der Generalversammlung durch Res. 56 / 83 (12. 12. 2001). 46 Christian Tomuschat, Making Individual Communications an Effective Tool for the Protection of Human Rights, in: Ulrich Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S. 615 ff. (623 f.). 47 Siehe Art. 101 Rules of Procedure (Anm. 21). 48 Es handelt sich um weniger als 2000 Fälle. 49 Das Problem kann nur durch Aufklärung und Menschenrechtserziehung gelöst werden. Hierzu etwa die Beiträge in: Claudia Mahler / Anja Mihr (Hrsg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, 2004. 50 Dazu Rüdiger Wolfrum / Ulrike Deutsch (eds.), The European Court of Human Rights Overwhelmed by Applications: Problems and Possible Solutions, 2009.
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3. Allgemeine Bemerkungen Die Allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses beziehen zwar die Erfahrungen des Ausschusses mit der Behandlung von Einzelbeschwerden ein51 und geben damit Hinweise darauf, wie sich Staaten verhalten sollen, um Rechtsverletzungen auch im Einzelfall zu vermeiden, haben aber keine unmittelbare Individualrechtsschutzfunktion. VI. Evaluation Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte geht in zutreffender Weise davon aus, dass Menschenrechtsschutz nur gewährleistet werden kann, wenn die Staaten ein generell auf Realisierung dieses Schutzes angelegtes Rechtssystem haben, das einzelnen Individuen als Träger der Rechte die Chance gibt, gegen behauptete Rechtsverletzungen konkreten Schutz zu begehren. Beide Aspekte sind zu trennen, bilden aber nur zwei Seiten derselben Medaille. Die Etablierung einer angemessenen Ordnung und die Gewährleistung von individuellem Schutz bedürfen ebenso wie die Kontrolle der Verwirklichung dieser menschenrechtlichen Anforderungen unterschiedlicher Instrumente. Vor allem mit dem Berichtsverfahren einerseits und dem Beschwerdeverfahren andererseits stellen Pakt und Fakultativprotokoll die zur Erreichung der beiden Zwecke erforderlichen Instrumente zur Verfügung. Es wurde allerdings gezeigt, dass die Ausgestaltung dieser Instrumente in mancher Hinsicht defizitär ist. Dabei konnten hier nicht alle Gesichtspunkte erörtert werden; um ein vollständiges Bild zu erhalten, wäre es zusätzlich notwendig gewesen, Zusammensetzung, Arbeitsweise und Interpretationsmethoden des Menschenrechtsausschusses näher zu erörtern. Immerhin dürfte klar geworden sein, dass einer Kontrolloptimierung in beiden Richtungen grundsätzliche, mit der staatlichen Souveränität argumentierende Einwände der Vertragsparteien entgegenstehen, dass es aber dem Menschenrechtsausschuss gleichwohl möglich ist, wie die Vergangenheit bereits gezeigt hat, die Effektivität seiner Arbeit zu verbessern. Ihm ist mehr prozeduraler Mut zu anzuraten. Stärker muss die Zivilgesellschaft in den Prozess einbezogen werden. Insgesamt wird man jedoch feststellen können, dass das dem Menschenrechtsausschuss anvertraute Kontrollinstrumentarium durchaus prinzipiell in der Lage ist, seine Zwecke zu erfüllen. Oder anders: die Instrumente sind hierzu nicht ungeeignet, auch wenn sie in mancher Hinsicht, auch ohne Vertragsänderungen, noch geschliffen werden können und müssen. Schnelle Erfolge lassen sich bei der praktischen Menschenrechtsarbeit ohnedies nicht erreichen. Die Haupttugenden sind Bescheidenheit und Geduld, aber auch das mutige Beharren auf der Erfüllung der Verpflichtungen ist nötig. Fördern und Fordern gehören auch auf diesem Gebiet eng zusammen. 51 Vgl. etwa die „Allgemeinen Bemerkungen“ Nr. 27 (Freedom of Movement) des Menschenrechtsausschusses von 1999 mit den konkreten Nachweisen.
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VII. Widmung Die vorstehenden Überlegungen sind Wilfried Fiedler gewidmet. Wir haben nicht nur seit vielen Jahren Grüße „über den Teich“ ausgetauscht, sondern lange zurück, bis in die 1970er Jahre, reicht die Zeit der Zusammenarbeit in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht des Bundes der Vertriebenen, unser gemeinsames bis 1990 oft gegen den Zeitgeist geübtes Beharren auf der Offenhaltung der deutschen Frage und den Rechten der durch Vertreibung, wo immer sie geschieht, betroffenen Menschen. Später hat uns das Thema „Gegenmaßnahmen“ auf der Züricher Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 1997 ein weiteres Mal zusammengeführt.52 Jeder Gedankenaustausch mit Wilfried Fiedler war und ist ein Gewinn. Dafür ist an dieser Stelle zu danken.
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Wilfried Fiedler / Eckart Klein / Anton K. Schnyder, Gegenmaßnahmen, 1998.
Europas Einheit in kultureller Vielfalt – Identitätsdiskurse nach dem Reformvertrag von Lissabon Von Markus Kotzur* I. Einleitung: Quo vadis, Europa? Die berühmte Petrusfrage „Quo vadis, Domine?“ (Wohin gehst Du, Herr?) ist spätestens seit dem gleichnamigen Roman des polnischen Schriftstellers H. Sienkiewicz sowie der darauf basierenden US-amerikanischen Spielfilmfassung aus dem Jahre 1951 zum geflügelten Wort geworden. Es steht allgemein für Unsicherheit im Aufbruch und ungewisse Zielorientierung, auf den europäischen Integrationsprozess hin bezogen für jene „offene Finalität“ 1, die nach der Verfassungskrise, dem irischen „Nein“ zu Lissabon2 und der gegenwärtig allenthalben spürbaren Europaskepsis „offener“ erscheint denn je. Die Unionsbürgerinnen und -bürger richten ihr kritisches „Quo vadis?“ an die politischen Eliten und verlangen nach mehr demokratischer Teilhabe am und im konstitutionellen Europa. Die LissabonVerhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht (Februar 2009) wurde denn mit auch gespannter Aufmerksamkeit verfolgt und provozierte manch „apokalyptisch“ anmutende Formulierung in der Tagespresse; das europaskeptische Urteil des BVerfG vom 30. Juni 2009 hat den Weg „nach“ Lissabon zwar frei gemacht, denn „Quo vadis“ Europas konnte und wollte es aber keine endgültige Antwort geben.3
* Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.), Institut für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches öffentliches Recht, Universität Leipzig. Der Autor ist Schüler von Peter Häberle, der mit dem Jubilar Mitglied des Freiburger Seminars von Konrad Hesse war. 1 Der Jubilar hat sich in seinem weit ausgreifenden Œuvre den Zielsperspektiven der europäischen Integration immer wieder gewidmet, etwa W. Fiedler, Die Verrechtlichung – Weg oder Irrweg der Europäischen Integration?, Saarbrücker Universitätsreden 17, 1986; ders., Die Funktion des Rechts in der Europäischen Einigungsbewegung, JZ 1986, S. 60 ff. 2 Zum Reformvertrag von Lissabon mit ausführlicher Literaturübersicht J. Ph. Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der europäischen Gemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, EuR 43 (2008), S. 143 ff.; weiterhin F. Balaguer Callejon, La constitución europea tras el consejo europeo de Bruselas y el tratado de Lisboa, ReDCE 8 (2007), S. 11 ff.; F. C. Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2007), S. 1142 ff.; I. Pernice, Der Vertrag von Lissabon – Ende des Verfassungsprozesses der EU?, EuZW 2008, S. 65 ff.; M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassungsvertrag, JZ 2007, S. 905 ff.
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Das europäische „Quo vadis“ reicht im Kern nämlich noch tiefer, transzendiert das rein normative Moment. Es ist letztlich nicht nur Verfassungs-, sondern ersterer teils vorgelagert, teils aus ihr resultierend Identitätsfrage. Es geht darum, was und wie Europa werden will; wie in seinem Mehrebenensystem4, das nicht hierarchisch, sondern ebenverschränkend zu verstehen sei5, nationale Identitäten und europäische Identität zusammenspielen; wie aus ersteren letzte ihre Konturen gewinnt, wie letztere auf erstere prägend rückwirkt. J. Burckhardt hat mit seiner viel zitierten Wendung von der „Discordia concors“ die Identitätsfrage auf seine Weise beantwortet und an nachfolgende Generationen damit erst gestellt: „In Vielheit eins werden!“6 Die Vielheit ist dabei stets als kulturelle Vielfalt zu denken.7 Ihr korrespondierend gibt es auch nicht nur die eine Identität – weder die europäische noch die je mitgliedstaatliche – sondern multiple Identitäten und teils konvergierende, teils divergierende Identitätsmomente. Deren Wechselspiel in einer offenen politischen Debatte transparent und bürgernah zu diskutieren, die Unionsbürgerinnen und -bürger mit Identitätsfragen zu konfrontieren, ist für die Integrationsdebatte nach Lissabon unverzichtbar. Andernfalls bliebe die Formel vom „Europa der Bürger“ nicht mehr als schöner Schein. R. Müller, Wie viel Schritte bis zum Abgrund?, FAZ vom 12. Februar 2009, S. 5. I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited, in: CMLR 36 (1999), S. 703 ff.; R. Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), S. 45 ff., 46 Fn. 6 mit zahlreichen weiteren Nachweisen auch aus der politikwissenschaftlichen Diskussion (B. Kohler-Koch, M. Jachtenfuchs); B. Nick, Multilevel Governance in the European Union, 2002. 5 A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 188; ihr folgend J. Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, 2008, S. 75. 6 Vgl. Dazu W. Arts / J. Hagenaars / L. Halman (Hrsg.), The Cultural Diversity of European Unity. Findings, Explanations, and Reflections from the European Values Study, 2003; Ch. Landfried, Das politische Europa. Differenz als Potential der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005; grundrechtsspezifisch A. Weber, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung(en), DVBl. 2003, S. 220 ff.; Nachweise auch bei M. Kotzur, Kultur, Forschung und Technologie, in: R. Schulze / M. Zuleeg (Hrsg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006, § 38, Rn. 6 (2. Aufl. 2010 i. E.). 7 Grundlegend P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997). Der Jubilar hat das Thema kultureller Vielfalt vor allem aus der Perspektive des Kulturgüterschutzes beleuchtet, der selbst ja nichts anderes ist als ein Stück der „Identitätswahrung“: W. Fiedler, Kulturgüter als Kriegsbeute? – Rechtliche Probleme der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Russland (mit den Verhandlungsprotokollen), Heidelberger Forum 95, 1995; ders., Rückführung und Schutz von Kulturgütern, Politik und Kultur 14 (1987), S. 19 ff.; ders., Zur Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts im Bereich des internationalen Kulturgüterschutzes, in: FS K. Doehring, 1989, S. 199 ff.; ders., Neue völkerrechtliche Ansätze des Kulturgüterschutzes, in: G. Reichelt (Hrsg.): Internationaler Kulturgüterschutz, 1992, S. 69 ff.; ders., Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz. Zur Entwicklung des Kulturgüterschutzes nach kriegerischen Konflikten, Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 37, 1996, S. 159 ff.; ders., Kulturgüter als Kriegsbeute: Völkerrechtliche Probleme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: M. Frehner (Hrsg.): Das Geschäft mit der Raubkunst. Fakten, Thesen, Hintergründe, 1998, S. 87 ff.; ders., Notes on the Development of the Protection of Cultural Property Following Armed Conflicts, LAW AND STATE 56 (1997), S. 82 ff. 3 4
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II. Eine Wegbeschreibung: Kulturelle und politische Identitäten, ihre Ausdrucksformen Die Präambel des EUV in der Neufassung nach Lissabon erhält einen neuen zweiten, mit dem ersten der Präambel des gescheiterten Verfassungsvertragsentwurfes identischen Erwägungsgrund. Das ist – allen Verzichts auf Verfassungssymbolik zum Trotz – ein Ausdruck sehr bewusster konstitutioneller Kontinuität8: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit, und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“
Der Text reflektiert noch manchen Streit, der im Verfassungskonvent ausgetragen wurde. Er knüpft zunächst an das „kulturelle“, „religiöse“ und „humanistische Erbe“ Europas an. Einen eindeutigen Gottesbezug kennt er nicht.9 Das Wort vom Erbe verweist in der Generationenperspektive auf die nationalen Identitäten der Völker Europas und macht diese ihrerseits interdependenten Identitäten zur unverzichtbaren Integrationsvoraussetzung.10 Damit lässt sich die Präambel auf anspruchsvolle Identitätsdiskurse zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen dem Individuum und dem Kollektiv11, zwischen dem Staats- und dem Unionsbürger, schließlich zwischen der politischen Union und der mitgliedstaatlichen res publica ein.12 Identität ist – nicht nur in diesem politisch-kulturellen Zusammenhang – ein hoch komplexer und voraussetzungsvoller, gleichermaßen vorverständnis- wie kontextabhängiger Begriff.13 Von den unterschiedlichen wissenschaftlichen Dis8 K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 107 f.; allg. A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002. 9 Eine exzellente Übersicht zum Diskussionsstand geben H. Goerlich / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, 2004. Siehe überdies P. J. Tettinger / K. Stern, in: dies. (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Präambel B, Rn. 1 ff. 10 J. H. H. Weiler, Epilogue, The European Courts of Justice: Beyond „Beyond Doctrine“ or the Legitimacy Crisis of European Constitutionalism, in: Slaughter / Stone / Sweet / Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, S. 365 ff., 377 f.; ders., The Constitution of Europe, 1999, S. 238 ff. Anschaulich sieht P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 53 ff., die „europäische (Verfassungs-)Familie im „Spannungsfeld von europäischer Identität und nationalen Identitäten“. 11 L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, 2000, J. C. Alexander u. a. (Hrsg.), Cultural Trauma and Collective Identity, 2004. 12 U. Haltern, Europarecht, 2005, S. 20 ff. m. w. N. 13 S. Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. spricht gar von einem „schillernden“, „heimatlosen“ Begriff, der über die Mathematik, Psychologie, Soziologie und politische Theorie seinen Weg in die Rechtswissenschaften gefunden habe. Aus der Lit.: allgemein I. Plasseraud, L’identité, 2001;
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ziplinen ist er ganz unterschiedlich belegt. Erst im Plural gewinnt er angesichts fragmentierter, mitunter zerrissener, gar gespaltener Identitäten seine volle Wirklichkeit. Der Identitätstopos bezeichnet nicht nur jenen geistig-seelischen Reflexionsvorgang, der das Ganze der Persönlichkeitsbildung umgreift und den Menschen zum Individuum macht; er steht vielmehr auch für all jene einheitsstiftenden Wesensmerkmale, die eine politische Gemeinschaft als solche charakterisieren und die Integration des Gemeinwesens ermöglichen.14 Wo politische Einheitsbildung in Rede steht, geht es damit um politische Identitäten.15 Ganz im Sinne der zentralen These von Ch. Taylor ist die Frage nach der Identität mit der Frage nach dem „guten“ und „richtigen“ und deshalb nach dem – individuell wie gemeinschaftsbezogen – gelingenden Leben verbunden.16 So stehen politische Identitäten für den Gesamtentwurf dessen, was die richtige, die gelingende Lebensführung in der „res publica“ ausmacht, worin der tägliche neue Prozess politischer Einheitsbildung seine Legitimität findet.17 Die „pursuit of hapiness“ als eines der Geburtsparadigmen der werdenden USA kann an dieser Stelle zitiert werden; sie sollte auch auf das werdende konstitutionelle Europa Ausstrahlungswirkung entfalten. Verfassungen, gleich ob diesseits oder jenseits des Atlantik, reflektieren den gesellschaftlichen Gesamtentwurf richtigen, gelingenden Lebens und leisten so auf ihre Weise (normative) Identitätszuschreibungen. 18 Sie A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 7 ff.; für die Europarechtswissenschaft A. Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, 2002; W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 1 ff., mit zahlreichen weiteren Nachweisen, insbesondere aus dem französischsprachigen Raum, S. 7 (Fn. 20); K. M. Meessen, In Search of the European Identity, in: W. Benedek u. a. (Hrsg.), Development and Developing International and European Law, 1999, S. 441 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, GS E. Grabitz, 1995, S. 157 ff.; A. D. Smith, National Identity and the Idea of European Unity, in: International Affairs, 1992, S. 55 ff. 14 A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 156 ff., 160 ff.; J. P. Müller, VVDStRL 62 (2003), S. 194 ff., 196; siehe auch ders., Europäische Verfassung und europäische Identität, in: G. F. Schuppert / I. Pernice / U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 352 ff., sowie in JZ 2004, S. 53 ff. 15 Politische Identitäten sind nicht gleichbedeutend mit der nationalen Identität (dazu etwa E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: Identität im Wandel, Castelgandolfo-Gespräche 1995, hrsgg. von K. Michalski, S. 129 ff.), sondern greifen darüber hinaus. Sie finden – allerdings auch nicht erschöpfend – Widerklang in der Verfassungsidentität (P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21). Politische Identitäten wurzeln vor allem in kulturellen Identitätsmomenten, B. Giesen, Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins der Neuzeit, 1991; A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 7 ff., S. 474 ff. 16 Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 1994, S. 9, 15 und öfter; dazu H. Rosa, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, 1998. 17 In diesem Sinne A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 156 ff., 158. 18 Vgl. etwa A. Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, S. 265 ff.; E. Pache, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfas-
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sind, gehalten in der Sprache des Rechts, eine identitätsstiftende „Meistererzählung“, die den Normadressaten für die zu konstituierende, sodann mit Leben zu erfüllende Grundordnung19 gewinnen wollen. Im europäischen Vergleich der Verfassungstexte werden typische bzw. typusprägende Elemente dieser Meistererzählungen greifbar. Dazu gehören insbesondere die narrativ reichen Präambeln20, die Menschenrechtskataloge, die Staatszielbestimmungen 21 oder die Erziehungsziele.22 Ewigkeitsklauseln nach dem Muster von Art. 79 Abs. 3 GG sollen tradierte, mitunter leidvoll erkämpfte Identitäten bewahren und von evolutivem Identitätswandel ausnehmen.23 Hier stößt sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber an die Grenzen seiner Gestaltungsmacht. Vergleichbare Struktur- und Bestandssicherungsfunktionen erfüllen bei der Übertragung von Hoheitsrechten etwa Normen dem Typus von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG24 oder Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG25 entspresungsrecht?, DVBl. 2002, S. 1154 ff.; W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, S. 1 ff.; S. Korioth und A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. bzw. S. 156 ff.; aus der europäischen Verfassungsdebatte etwa R. Badinter, Une Constitution européenne, 2002; zum Verfassungsbegriff mit zahlreichen Nachweisen aus der aktuellen Literatur S. Haack, Der Begriff der Verfassung, EuR 2004, S. 785 ff. 19 D. Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff. 20 P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff., 245; siehe auch A.-C. Kulow, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997; M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtschutzes, 2001, S. 102. Einen guten, auch rechtsvergleichenden Überblick gibt am Beispiel des deutschen Grundgesetzes H. Dreier, in: ders., GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 16 ff. Allgemein zur rechtsmethodischen Bedeutung von Präambeln auch P. J. Tettinger / K. Stern, in: dies. (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Präambel A, Rn. 10. 21 K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997; J. Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente im deutschen und europäischen Staats- und Verfassungsrecht, 2008, S. 245 f. 22 Früh P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 758 ff.; für Einzelaspekte B. Pieroth, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBl. 1994, S. 949 ff.; M. Bothe / A. Dittmann, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), S. 7 ff. 23 H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953 (Neudruck 1966); Verfassungskontinuität und Identität programmatisch verbindend P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21; rechtsvergleichende Bezüge bei P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: FS H. Haug, 1986, S. 81 ff. (ebenfalls programmatisch auf den Identitätstopos hin orientiert), sowie H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III, Rn. 9 ff. 24 I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23, Rn. 50 ff.; M. Cornils, Art. 23 Abs. 1 GG: Abwägungsposten oder Kollisionsregel, AöR 129 (2004), S. 336 ff. 25 Vgl. R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. 84 m. w. Nachweisen; allgemein zum Thema I. Pernice, Bestandssicherung von Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Biber / Wid-
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chend. Revolutionärem Umbruch können freilich auch solche Garantien keine Grenzen setzen. Identitäten, gleich wie kontinuierlich oder wandelbar, müssen auf mitgliedstaatlicher wie unionaler Ebene Ausdruck, der Bürger muss Anknüpfungspunkte für die Identifikation mit seinem Gemeinwesen finden. Mit anderen Worten: Die Meistererzählung muss täglich neu erzählt, täglich neu vergegenwärtigt werden. Dazu dienen Flaggen26, Hymnen27, Staatssymbole oder Gedenk- und Feiertage, Nationalfeiertage, auch religiöse Feiertage.28 Demonstrationen schaffen ein forum publicum für Identitätsbildung. In Kunst, Unterhaltung, in sportlichen Großereignissen oder zeitgeistgeprägten „Events“ werden Identitätsmomente artikuliert. Wahlkämpfe transportieren Identitätsbehauptungen, politische Skandale29 lassen Identitätszweifel aufkommen, führen zu Identitätskrisen30 oder regen zu engagiertem Eintreten für identitätsstiftende Werte an. So wichtig die geschützte Privatheit für individuelle Identitätsfindung bleibt, ist doch die Öffentlichkeit Nährboden für politische Identitätsbildung und von politischem Identitätswandel. Aus dem Identitätsreservoir der mitgliedstaatlichen Öffentlichkeit mag sich Europa finden, vielleicht auch erst erfinden lassen.31 III. Das „Gemeineuropäische“ als Ausdrucksform der rechtlichen Identität(en) Europas 1. Rechtliche Identität als Ergebnis von Rezeptionsprozessen Die eben benannten Elemente der „Meistererzählung“ formen, auf ihre normativen Gehalte hin befragt, wesentliche Elemente des „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“32. Aus den kulturell grundierten gemeinsamen Verfassungsüberliefemer (Hrsg.), L’espace constitutionell européen. Der europäische Verfassungsraum. The European Constitutional Space, 1995, S. 225 ff. 26 P. Häberle, Nationalflaggen: bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 27 P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007. 28 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 966 ff. und öfter. 29 M. Morlok, Zur Heilsamkeit politischer Skandale, MIP 1999, S. 48 ff. 30 L. Heuschling, Krise der Demokratie und der juristischen Demokratielehre in Frankreich, in: H. Bauer / P. M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 33 ff., 33 m. w. N. 31 G. Delanty, Inventing Europe: Idea, Identity, Reality, 1995. 32 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders., Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 33 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 104 ff., 124 ff. und öfter; P. Ridola, Die kulturgeschichtlichen Grundlagen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 173 ff.
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rungen der Mitgliedstaaten gespeist, steht es für die rechtliche(n) respektive rechtskulturelle(n) Identität(en) Europas. Art. 6 Abs. 2 EU, vor und nach Lissabon die Zentralnorm des allgemeinen Unionsrechts, benennt eben jene Grundsätze, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit.33 Schon sprachlich stellt die Norm eine bemerkenswerte Verknüpfung her. Gerade weil es sich um gemeinsame Grundsätze aller Mitgliedstaaten handelt, „beruht“ die Union auf ihnen. Wenn die Union aber auf ihnen beruht, findet sie hier – explizite Rechtspersönlichkeit hin oder her – nicht nur ihre „verfassungsqualitative“ (D. Th. Tsatsos) Normgrundlage, sondern bindet die Mitgliedstaaten als Normadressaten zugleich an das zurück, was sie selbst geschaffen haben.34 So wirken auf dem Weg zu einem ius commune Europaeum die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen retrospektiv und prospektiv zugleich.35 In ihnen finden die schon vorhandenen gemeinsamen (kulturellen) Elemente der verschiedenen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und damit die rechtskulturellen Identitäten der Mitgliedstaaten unionalen Widerklang. Zugleich wollen sie, auch dank Rechtsangleichung, Harmonisierung oder harmonisierenden Richterrechts, eine noch stärker integrierte, menschenwürderadizierte36 Rechtsgemeinschaft herstellen. Methodisch geschieht das durch gekreuzte (teils diffuse) Rezeptionsvorgänge und Wechselbezüglichkeiten, die im Einzelnen kaum analytisch herauspräpariert und detailgenau nachvollzogen werden können.37 Aus den mitgliedstaatlichen entstehen die unionsrechtlichen Prinzipien. Schon während des Rezeptionsprozesses werden diese aber vom Rezipienten, in erster Linie dem EuGH, angereichert, modifiziert, relativiert. Das Unionsrecht entfaltet dann als solches Rückwirkungen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, gerade weil die Gerichte der Mitgliedstaaten ihrerseits gehalten sind, das nationale Recht „europarechtskonform“ C. Stumpf, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 6 EUV, Rn. 4 ff. H. Wilms, in: ders. / K. Hailbronner, Recht der Europäischen Union, Bd. 1, 1. Lfg. 10 / 2002, Art. 6 EUV Rn. 5; siehe auch Ch. Calliess, in: Ch. Calliess / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6, Rn. 1 ff. 35 Nachdrücklich A. v. Arnauld, Rechtsangleichung durch allgemeine Rechtsgrundsätze? – Europäisches Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht im Vergleich, in: K. Riesenhuber / K. Takayama (Hrsg.), Grundlagen und Methoden der Rechtsangleichung, 2006, S. 247 ff., 247. Er bezieht sich seinerseits auf die Unterscheidung zwischen einem „rechtspolitischen Weg der Rechtssetzung“ und einem „interpretatorischen Weg der Rechtsfindung“ zur Herstellung eines ius commune bei P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261, 270 ff. 36 I. Gutiérrez, Die Menschenwürde als europäischer Verfassungsbegriff, in: KritV 89 (2006), S. 384 ff. 37 K. Zweigert, Der Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, RabelsZ 28 (1964), S. 601 ff.; P. Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, in: JZ 1992, S. 1033 ff.; G. Frankenberg, Stichworte zur „Drittwirkung“ der Rechtsphilosophie im Verfassungsrecht, in: R. Gröschner / M. Morlok (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs, 1997, S. 105 ff., insbes. 110. 33 34
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auszulegen. Zugleich ist die Unionsrechtsordnung – die in einem tieferen Sinne „Gemeinschafts“rechtsordnung bleibt, auch wenn mit Lissabon der Gemeinschaftsbegriff aus dem Primärrecht entfällt – aber auch Rezeptionsmittlerin für Austauschprozesse der Mitgliedstaaten untereinander. Sie eröffnet Einbruchstellen fremden Rechtsdenkens in nationale Rechtsordnungen. Das so konturierte „ius commune“ lässt sich am besten mit einer Metapher umschreiben, die in der Rechtstheorie entwickelt wurde und jede Rechtsordnung als eine Art „Geflecht aus losen Stangen, Bändern, Seilen, Ästen und anderem Strickwerk“ begreift, das an seinen verschiedenen Stellen eine ganz unterschiedliche Dichte aufweist und dessen Teilsegmente teils „ineinander verschlungen“, „teils unverbunden“ nebeneinander, bisweilen auch „aufeinander“ liegen, sei es „geklemmt, geschnürt oder verhakt“.38 Der Reiz dieses eigenwilligen Sprachbildes liegt in seiner Kraft, (Über-)komplexität zu veranschaulichen. Es steht für eine kulturelle Melange interdependenter Teilrechtsordnungen, teils gleich-, teils hierarchisch einander zugeordnet, teils komplementär sich ergänzend, teils konträr sich relativierend, von unterschiedlicher normativer Dichte und mit unterschiedlicher normativer Steuerungskraft. Beteiligt an den „Verflechtungen“ sind alle Akteure der offenen Gesellschaft39: das institutionelle Europa mit den Unionsorganen, allen voran der EuGH; die institutionalisierte Staatlichkeit auf mitgliedstaatlicher Ebene; alle Aktivkräfte der Zivilgesellschaft; zuerst und zuletzt aber die Bürger.40 2. Gemeineuropäische Rechtstexte zum Identitätsthema Früh versprach der Grundsatz wechselseitiger Gemeinschaftstreue in Art. 5 EWGV, dann Art. 10 EG, heute Art. 4 Abs. 3 EUV identitätssichernde Rücksichtnahme,41 die weit über das völkerrechtliche Rechtsmissbrauchsverbot, das Prinzip guter Nachbarschaft und den Grundsatz „pacta sunt servanda“ hinausgeht.42 Nicht ohne Pathos, geschichtsbewusster Selbstvergewisserung und zukunftsweisender Programmatik benennt die bereits zitierte Präambel des EUV zahlreiche Momente politischer Identität von Union und Mitgliedstaaten: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität.43 Ch. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 36. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. 40 J. A. Usher, The Influence of Nationals Concepts on Decisions of the European Court, ELRev. 1 (1976), S. 359 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 20; K. Hailbronner / G. Jochum, Europarecht I, 2005, Rn. 235. 41 A. Puttler, in: Ch. Callies / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 Rn. 43; weiterhin A. Kopp, Europäische Identität als Kategorie des Europarechts, 2002, S. 91 ff. 42 Zahlreiche Nachweise zur Unions- respektive Gemeinschaftstreue, die im Prinzip der Bundestreue ihr bundesstaatliches Vorbild findet (grundlegend H. Bauer, Die Bundestreue, 1992), bei W. Kahl, in: Ch. Calliess / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 10 EGV Rn. 2 ff. 43 Schon dem ursprünglichen Unionsvertrag von Maastricht war die nationale Identität der Mitgliedstaaten ein zentrales Anliegen, vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (189, 211 und öfter). 38 39
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Die eingeforderte Achtung vor mitgliedstaatlicher Geschichte zugleich als europäischer Geschichte, mitgliedstaatlicher Kultur zugleich als europäischer Kultur und mitgliedstaatlichen Traditionen als traditionsbegründenden Trägerelementen in der neuen europäischen Verfassungsarchitektur meint erstlich und letztlich Respekt vor Identität – schon gewordener (mitgliedstaatlicher) und werdender (europäischer) Identität. Normativer Konkretisierung der zentralen Elemente politischer Identität in Europa dient, wie bereits erwähnt, Art. 6 Abs. 1 EUV. Der „materielle Verfassungskern“ und die grundlegende Wertbasis der Europäischen Verfassungsgemeinschaft gründen in dem, was den Mitgliedstaaten an „Grundsätzen“, anders formuliert an die politische Identität prägenden Faktoren gemeinsam ist.44 Art. 49 EUV macht sie zu Beitrittsvoraussetzungen und schützt so die europäische Verfassungsidentität.45 Die zentrale Verbürgung zum Schutz der nationalen Identität(en) der Mitgliedstaaten ist Art. 6 Abs. 3 EUV a. F., Art. 4 Abs. 2 EUV n. F..46 Eine entsprechende Garantie findet sich erstmals ausdrücklich in Art. F des Unionsvertrages von Maastricht (1992).47 Die Klausel wurde später als Art. I-5 Abs. 1 konkretisierend in den Verfassungsvertrag aufgenommen und bleibt, wie gezeigt, auch nach Lissabon erhalten.48 Die Union verpflichtet sich nunmehr, die nationale Identität der Mitgliedstaaten so zu achten, wie sie in „deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ Damit erfolgt zwar eine Limitierung auf die Grundentscheidungen des Staates in rebus politicis, die in diesem Rahmen gewahrte Eigenständigkeit bildet aber ein entscheidendes Gegengewicht zu Kompetenzausweitung im Unionsrecht – und die nationale Sicherheit findet eigenständige Betonung.49 Die Werte-50 und Zieleartikel des nach Lissabon neugefassten Unions44 Ch. Calliess, in: ders. / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art 6 EUV Rn. 1; F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, 2000. 45 Vgl. H.-J. Cremer, in: Ch. Calliess / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 49 EUV Rn. 8 ff., zu den sog. Kopenhagener Kriterien ebd. Rn. 10 mit w. N. in Fn. 62. 46 K. Doehring, Die nationale „Identität“ der Mitgliedstaaten, in: FS U. Everling, Bd. 1, 1995, S. 263 ff.; R. Geiger, EUV / EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 6 EUV, Rn. 13. C. Stumpf, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 6 EUV, Rn. 42 ff. 47 A. Puttler, in: Ch. Callies / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 Rn. 42. 48 Text der am 29. 10. 2004 unterzeichneten Fassung des Verfassungsvertrages, ABl. 2004 Nr. C 310; für den Vertrag von Lissabon K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008. 49 A. Puttler, in: Ch. Callies / M. Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 Rn. 47 m. w. N.; M. Hilf / F. Schorkopf, in: Grabitz / Hilf, EU, Art. 6 EUV, Rn. 75; U. Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBl. 1993, S. 936 ff., 940. 50 W. Arts / L. Halman (Hrsg.), European Values at the Turn of the Millenium, 2004; Ch. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, S. 1033 ff.; H. Joas / Ch. Mandry, Europa als Werte und Kulturgemeinschaft, in: G. F. Schuppert / I. Pernice / U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 569 ff.; H. Joas / K. Wiegandt, Die kulturellen Werte Europas, 2005; M. Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union, in: FS J. Meyer, 2006, S. 49 ff.; Th. Rens-
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vertrages benennen mit besonderem Nachdruck Identitätsgrundlagen und entwerfen Identitätsperspektiven.51 IV. Über politische und rechtliche Identitäten hinaus: Texte und Kontexte Ein so komplexer und ambivalenter Rechtsbegriff wie der der „Identität(en)“ kann nur aus seinen Kontexten heraus vollständig entschlüsselt werden. Und Kontext meint immer auch Kontextwandel: Obgleich Identitäten, vor allem rechtliche – Art. 79 Abs. 3 GG wurde bereits zitiert –, für Kontinuität stehen, sind die Identitätsdiskurse selbst beständigem Wandel unterworfen. Sie stellen sich im Europa vor und nach der Osterweiterung, vor und nach dem Verfassungskonvent, vor und nach Lissabon anders dar.52 Ein eventueller EU-Beitritt der Türkei wirft für den Beitrittskandidaten wie für die Union neue Identitätsfragen auf.53 1. Kulturelle Kontexte Kontext meint, auf eine griffige Formel heruntergebrochen: „Verstehen durch Hinzudenken“.54 Die positiven Rechtstexte sind sich, sowohl was ihre Produktion als auch was ihre Rezeption anbetrifft, solcher Kontextrelevanz sehr wohl bewusst.55 Durch ihre Systematisierungsleistung stellen sie Rechtsbegriffe in selbstgeschaffene Kontexte, zugleich um jene vorverständnisprägenden Kontexte wissend, die den Texten teils vorausliegen, teils hinter ihnen zurücktreten, aber stets mitgedacht, mitbewusst und in Perspektive auf den Leser „mitkommuniziert“ bleiben. Zentraler Kontextbegriff zu den Identitäten ist die Kultur, Identitäten meinen immer auch kulturelle Identitäten.56 Europa selbst ist kulturgeprägter Raum.57 Die mann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 329 ff. („zur Wertordnung der Europäischen Union“). 51 W. Bergem, Europas Werte als Fundament europäischer Identität, in: Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU, 2006; Th. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 330 ff. („Aufbruch der Union zu einer Wertegemeinschaft“). 52 R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl., 2008, Rn. 65 ff. 53 A. Giannakopoulos / K. Maras (Hrsg.), Die Türkei-Debatte in Europa. Ein Vergleich, 2005; J. Gerhards (unter Mitarbeit von M. Hölscher), Kulturelle Unterscheide in der Europäischen Union. Ein Vergleich Zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, 2005. 54 P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff., 50 f.; ders., Die Verfassung im Kontext, in: D. Thürer / J.F. Aubert / J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 10 ff. 55 M. Morlok, Der Text hinter dem Text. Intertextualität im Recht, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 93 ff., 117, unter Verweis auf T. A. van Dijk, Textwissenschaft, 1980, S. 82 ff. 56 Grundlegend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 28 ff.; für eine vergleichende Zusammenschau von Identitäts- und „Kulturelles-Erbe“-
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Kultur, vor allem die politische Kultur seiner Mitgliedstaaten, wirkt mitbestimmend für Europas Realität und Idealität. So wie dieses Europa selbst nicht auf abschließende Finalität hin orientiert, sondern als politische Einheit in ständigem Werden begriffen ist, wird ihm nur ein dynamisch-offener Kulturbegriff gerecht. Er muss das Moment der Verschiedenheit aller mitgliedstaatlichen Kulturen respektieren und darf nicht auf nivellierende Homogenität hin drängen. Kulturelle Differenz (aber gewiss nicht kulturelle Indifferenz) ist das entscheidende Identitätsmerkmal von Mitgliedstaaten und Union.58 2. Klassikertexte als kulturelle Kontexte Eine mehr als kursorische Bestandsaufnahme zu den identitätsrelevanten Klassikertexten59 muss bei den schriftlich und mündlich tradierten Mythen der Antike ihren Anfang nehmen, denn europäische Identitätsbildung gründet zu einem Gutteil in der aufklärerischen Emanzipation vom Mythos zum Logos.60 So hat der Staatsgründungsmythos in Vergils Äneis das europäische Denken nachhaltig beeinflusst, finden sich im Welt- bzw. Gesellschaftsbild der Illias und Odyssee Homers frühe europäische Identitätsmomente. Gleiches gilt für religiöse Texte. Die großen Buchreligionen, nicht nur das Christentum, haben einen entscheidenden Anteil an der Ausprägung der europäischen Identitäten.61 Alle europäischen (Rechts-)Kulturen kennen überdies identitätsstiftende literarische Texte.62 G. E. Lessings RingKlauseln siehe ebd. S. 10 ff., 1148 und öfter; einen kulturtheoretischen Ansatz mit anderer Stoßrichtung verfolgt U. Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 13 ff. (Recht als „eine Imaginationsform, deren Macht nicht in objektivierbaren Fakten, sondern in seiner Möglichkeit liegt, die auf die Bedeutung des Politischen bezogenen Imaginationen zu stabilisieren“); für die angloamerikanische Rechtskultur P. W. Kahn, The Cultural Study of Law. Reconstructing Legal Scholarship, 1999; ders., Freedom, Autonomy and the Cultural Study of Law, in: Yale Journal of Law and the Humanities 13 (2001), S. 141 ff. 57 Siehe auch W. Fiedler, Impulse der Europäischen Gemeinschaft im kulturellen Bereich – Rechtliche Grundlagen und politische Fortentwicklung, in: S. Magiera (Hrsg.): Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 147 ff. 58 Programmatisch Ch. Landfried, Das politische Europa. Differenz als Potential der Europäischen Union, 2. Aufl. 2004. 59 P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; daran anknüpfend M. Kotzur, Die Wirkungsweise von Klassikertexten im Völkerrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff. 60 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 2. Aufl. 1975. 61 J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, 2004; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Debatte um einen Gottesbezug in der Europäischen Verfassung: H. Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: ders. / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, 2004, S. 9 ff., 10; N. K. Riedel, Gott in der europäischen Verfassung?, EuR 2005, S. 676 ff.; siehe auch J. Geerlings, Der Fortgang des europäischen Verfassungsprozesses, Recht und Politik 2006, S. 23 ff.; allgemein P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 3 ff. 62 In diesem Kontext sei auch auf die Relevanz von Europabildern oder Europaentwürfen aus der Feder von „Dichtern und Denkern“ verwiesen, siehe etwa W. Graf Vitzthum,
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parabel aus seinem „Nathan der Weise“ (Erstausgabe 1779) ist längst zum gemeineuropäischen Toleranztext geworden. Wenn N. Bobbio heute nach „Gründen der Toleranz“ fragt, bleibt Lessing stets mitgedacht.63 Mehr noch als die schöne Literatur entfalten philosophische, staats- und gesellschaftstheoretische Entwürfe Wirkung auf die Ausbildung politischer Identität. Von Platon, Aristoteles und Cicero über Hobbes, Locke, Rousseau und Montesquieu bis hin zur Diskursethik eines J. Habermas und darüber hinaus kann gewiss kein vollständiges Panorama gezeichnet werden.64 Epochemachende Namen seien nur als Merkposten genannt. William Penns „Essay Towards the Present and the Future Peace of Europe“ (1693) müsste genauso Erwähnung finden wie I. Kants großer Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1795), das Theoriegebäude eines K. Marx findet einen komplementären Gegenentwurf in den Sozialenzykliken der katholischen Kirche. Statt aller Politikentwürfe zum geeinten Europa sei nur die große Züricher Universitätsrede W. Churchills (1946) ins Gedächtnis gerufen. Und da alle „Europakonstruktionen“ sich auch dekonstruktionistisches Hinterfragen gefallen lassen müssen, sei schließlich J. Derrida genannt. 3. Insbesondere: Religion und Aufklärung als Kontext Für Europas Identitätssuche ist die Dialektik von Religion und Aufklärung prägend. Während vor allem Polen, Irland, Italien, Malta, Litauen, Portugal, die Slowakei und Tschechien im Christentum einen starken Identitätsfaktor sehen und deshalb einen eindeutigen Bezug auf das Christentum in Europas konstitutionellen Texten während der Konventsdebatten forderten, leisteten Belgien und das streng laizistische Frankreich den stärksten Widerstand.65 Das hat seinen Grund teils in der Tradition aufklärerischen Denkens, teils im schlichten Wirklichkeitsbefund, dass zum kulturellen Erbe Europas nicht nur das Christentum, sondern auch das Judentum und in mancherlei Hinsicht der Islam gehören. Hinzu tritt das „westfälische Projekt“ der religiösen Toleranz, der konfessionellen Spaltung als Zivilisationsprodukt entstammend66, in den Religionskriegen blutig errungen und 1648 auf den souveränen Territorialstaat hin konzipiert. Heute formulieren nicht nur multikulturelle und multi-ethnische, sondern auch multi-religiöse Gesellschaften ihre je „Römischer auch“ – Stefan Georges staatspoetisches Europabild, in: FS E. Jayme, 2004, S. 1763 ff. 63 N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, 1998, S. 87 ff. 64 Siehe auch M. Stolleis, Europa – Seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997. 65 Ausführliche Nachweise bei H. Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: ders. / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, 2004, S. 9 ff., 10. 66 J. Balmes, Protestantismus und Katholizismus in ihrer Beziehung zur europäischen Civilisation, 2 Bd., 1888.
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eigenen Herausforderungen an die Europäische Verfassung.67 Im gleichberechtigten pluralistischen Nebeneinander verbietet sich gewiss nicht jedweder Gottesbezug68, notwendig wird aber eine gleichwertige säkulare Begründung von Verantwortung vor der, in der und für die politische(n) Gemeinschaft.69 Wenn von europäischer Aufklärung die Rede ist, meint das mehr als einen bloßen Epochenbegriff und steht für politische Identität(en) in Europa. Da die Aufklärung ganz unterschiedliche Entwicklungen, etwa in England, Frankreich oder Deutschland aufweist, sollte auch besser der Plural „Aufklärungen“ Verwendung finden.70 Doch formen die in vorliegendem Zusammenhang relevanten Aufklärungsleistungen durchaus ein gemeineuropäisches Selbstverständnis in rebus politicis. Sie lassen sich, gewiss holzschnittartig verkürzt, auf die Trias von Subjektivität, Freiheit und Kritik herunterberechen.71 Die Subjektivität verweist letztlich darauf, dass die Menschenwürde „anthropologische Prämisse“ jeder politischen Gemeinschaft ist.72 Der Menschenrechtsuniversalismus der Französischen Revolution erhebt die Subjektivität des Individuums zum mundialen Anspruch.73 Hierin gründet eine – mitunter prekäre – Paradoxie der europäischen Identität: was das Eigene Europas sein will, soll doch zugleich von aller Welt geteilt werden.74 Gleiches gilt für das Freiheitsideal, seinerseits durch die Gleichheit und die Brüderlichkeit (Solidarität) gebändigt.75 Th. Fleiner (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethische Gesellschaft, 1995. P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 3 ff.; N. K. Riedel, Gott in der europäischen Verfassung?, EuR 2005, S. 676 ff.; siehe auch J. Geerlings, Der Fortgang des europäischen Verfassungsprozesses, Recht und Politik 2006, S. 23 ff. 69 In diesem Sinne auch J. H. H. Weiler, Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, 2004. 70 So C.-D. Ostenhövener, in: W. Heun / M. Honecker / M. Morlok / J. Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, S. 136 f., 136. 71 Ebd. 72 P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22; Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; ders., in: K. H. Friauf / W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 12. Ergänzungslieferung 2005, Art. 1 mit einer umfassenden Übersicht zum aktuellen Stand der Literatur; über den europäischen Kulturkreis hinaus K. Aoyagi, Die Achtung des Individuums und die Würde des Menschen, 1996. 73 U. Fastenrath, Einheit der Menschenrechte: Universalität und Unteilbarkeit, in: FS Ch. Tomuschat, 2006, S. 153 ff.; N. Weiß, Die Entwicklung der Menschenrechtsidee, heutige Ausformung der Menschenrechte und Fragen ihrer universellen Geltung, in: J. Hasse / E. Müller / P. Schneider (Hrsg.), Menschenrechte – Bilanz und Perspektiven, 2002, S. 39 ff.; H. Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: H.-R. Reuter (Hrsg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, 1999, S. 43 ff.; L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 2. Aufl. 1991, S. 231 ff. 74 So Th. Meyer, Die Identität Europas. Der EU eine Seele, 2004, S. 227; daran anschließend M. Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union, in: FS J. Meyer, 2006, S. 49 ff., 56. 75 W. Kahl, Freiheitsprinzip und Sozialprinzip in der europäischen Union, in: FS R. Schmidt, 2006, S. 75 ff.; siehe auch S. Bredt, The European Social Contract and the Euro67 68
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4. Weitere Kontexte – Identität, Pluralität, Homogenität Neben der Kultur kennen Identitäten noch viele weitere identitätsrelevante Kontexte. Hier seien nur exemplarisch einige Bezüge hergestellt. Identität steht als positiv konnotiertes Konzept für individuelle wie kollektive Selbstbestimmung76, die selbstbestimmte Entfaltung des Individuums und die politische Selbstbestimmung des Volkes. Gerade der zweite Aspekt politischer Einheitsbildung ist in Europa stark mit dem Konzept der Nation verbunden,77 im Topos von der politischen Identität klingt der der nationalen Identität mit an, ohne dass beide indes identisch wären. Für den offenen europäischen Nationalstaat78 ist aber auch die Integrationsbereitschaft Identitätsmerkmal. Politische Identität entsteht einerseits aus Integration79, ermöglicht anderseits erst die Integrationsleistung einer politischen Gemeinschaft. Und die je eigene Identität setzt der Integration eindeutige Grenzen.80 Identität lebt von und ermöglicht Zugehörigkeit.81 Deshalb wirkt auch die Abgrenzung zu anderen (nationalen) Identitäten und Kulturräumen identitätsstiftend. 82 pean Public Sphere, ELJ 12 (2006), S. 61 ff.; N. Weiß, Wirkung und Mängel der Europäischen Sozialcharta, in: Jahrbuch Menschenrechte 2003, 2002, S. 305 ff. 76 A. Scherzberg, VVDStRL 62 (2003), S. 200 versteht politische Identität als „Sicherung des Selbstbestimmungsfähigkeit des Volkes“. 77 Berühmt geworden ist die Definition von E. Renan, Was ist eine Nation? (1882), 1996, S. 34 f.: „Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein Plebiszit Tag für Tag, wie das Dasein des einzelnen eine dauernde Behauptung des Lebens ist.“; siehe auch R. Streinz, Sinn und Zweck des Nationalstaates in der Zeit der Europäisierung und Globalisierung, in: FS G. Ress, 2005, S. 1277 ff.; W. Fiedler, Die Nation als Rechtsbegriff – Bemerkungen zu ihrem völkerrechtlichen Stellenwert, in: E. Jayme / H.-P. Mansel (Hrsg.): Nation und Staat im internationalen Privatrecht, 1990, S. 45 – 56 ff. 78 Wegweisend K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetztes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; später weiterführend P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff.; jetzt: U. di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; ders., Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff.; K.-P. Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff. 79 K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl. 2006, § 2, Rn. 92; H. Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, 1999, S. 212 ff. über den Zusammenklang von Integrations- und Identitätspolitik; Th. Meyer, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, 2002; siehe überdies S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 901 ff.; U. Everling, Überlegungen zum Fortgang der Europäischen Integration, ZEuS 2001, S. 385 ff.; Klassiker des Integrationsdenkens ist R. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 482 ff.; dazu P. Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre, Der Staat 16 (1977), S. 305 ff.; S. Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht, VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff., 123. 80 Th. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 12, Rn. 2. 81 A. Haratsch, Titel IX: Zugehörigkeit zur Union, in: M. Höreth / C. Janowski / L. Kühnhardt (Hrsg.), Die Europäische Verfassung. Analyse und Bewertung ihrer Strukturentscheidungen, Baden-Baden 2005, S. 271 ff.
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Indes darf eine solche Differenz nicht zu einem Kampf der Kulturen83 stilisiert oder mit der im Freund-Feind-Denken verhafteten existentiellen Identitätsvorstellung eines C. Schmitt verwechselt werden.84 Als identitätsprägend erweist sich auch die Abgrenzung von anderen politischen Systemen. Für das verfassungsstaatliche Selbstverständnis aller EU-Mitgliedstaaten ist die Überwindung von Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus85 eine epocheprägende Transformationsleistung: für die selbst betroffenen, weil sie den Weg in die freiheitliche Demokratie gefunden, für die nicht selbst betroffenen, weil sie den Weg in freiheitliche Demokratie aufzuzeigen mitgeholfen haben. Für den Kontext von Identitäten und Krisen bildet die gegenwärtige Finanzkrise ein Lehrbuchbeispiel. Zusammenfassend sei noch einmal das plurale Moment der Identitäten herausgestellt: Prekär würde der Identitätsbegriff, wenn er absolute Homogenität suggerierte, in dieser Zuspitzung die Existenz von Konflikten leugnete und voraussetzungslos vorhandene, endgültige und damit statisch-substantielle politische Einheit postulierte. Prekär würde er, wenn er freiheitlich-pluralistische zur identitären Demokratie pervertierte, sich auf Indoktrination verließe oder Zugehörigkeit mit sich selbst aufgebender Identifikation verwechselte. Es ist umgekehrt das Prinzip der Nicht-Identifikation (H. Krüger), das im weltanschaulich und religiös neutralen Staat individuelle Sinnsuche und damit Identitätsbildung zulässt. Gemeinsame Identität entsteht letztlich aus Identitätsdifferenzierungen, oder, um auf J. C. Burckhardt zurückzukommen, aus „Einheit in Vielfalt“. V. Schlussbetrachtung Wenngleich nur al fresco, konnte ein Panorama europäischer Identitätsmomente aufgezeichnet werden, die für die gegenwärtige Reformdebatte eine entscheidende Rolle spielen. Europa meint nicht in erster Linie überbordende Bürokratie und Überregulierung; seine Verfasstheit will kein Gegenmodell, sondern ein Komplement zu mitgliedstaatlicher Verfasstheit sein; Europa gewinnt seine Identitäten aus dem Streben nach Frieden in Freiheit; aus der Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt; aus der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche; aus dem Tole82 U. Bitterli, Alte Welt – neue Welt, 1992; G. Nolte, in: VVDStRL 62 (2003), S. 214 f.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 664; für eine Außenperspektive G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA, FCE 4 / 02, 2002 (http: //www.whi-berlin.de). 83 S. P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, 1996; demgegenüber A. Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2007. 84 C. Schmitt, Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie, in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, 1923 – 1940, 1940, S. 59; dazu I. Staff, Lehren vom Staat, 1981, S. 385. 85 Ch. Joerges / N. Singh Ghaleigh (Hrsg.), Darker Legacies of Law in Europe: The Shadow of National Socialism and Fascism over Europe and its Legal Traditions, 2003; S. Hall, Rassismus und kulturelle Identität, Argument-Verlag: Hamburg 1994.
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ranzpostulat gleicher Freiheit auch für die anders Denkenden; aus dem Ringen um die fragile Balance zwischen Freiheit und Sicherheit; aus der Verbindung konfligierender Freiheits- und Gleichheitsinteressen als „gleicher Freiheit für alle“; aus Freiheit durch dezentrale Herrschaftsstrukturen einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung; aus Gemeinwohl (salus publica) in der europäischen res publica.86 Zur Realisierung dieser Identitätsmomente bedarf es nicht nur, aber auch des Rechts. Das Recht selbst, seine kritisch-reflexive wissenschaftliche Aufbereitung in der großen Traditionslinie des römischen Rechts87, ist bestimmendes Element der politischen Identität in den Mitgliedstaaten wie der Union selbst. Und wo bleibt der europäische citoyen? All das, was hier als Identitätsmomente vorgestellt wurde, muss gelebt werden, ist alltägliches Leben und Erleben der Bürgerinnen und Bürger Europas. Damit sind implizite Erwartungen an zivilgesellschaftliches Engagement formuliert. Das Ideal vom verantwortlich handelnden politischen Aktivbürger88 ist für die demokratische Kultur in den Mitgliedstaaten wie für das „Europa der Bürger“, durch die Unionsbürgerschaft89 konstitutionell verwirklicht, gleichermaßen prägend. Der Bürger erlebt ein Stück menschlicher Selbstverwirklichung durch seine gestalterische Teilhabe am politischen Prozess. Er verfasst in und dank gleicher Freiheit seine politische Gemeinschaft.90 Darin liegt jedoch eine kontrafaktische Grundannahme demokratischer Herrschaftsorganisation. Entgegen ihrem notwendig idealistischen Bild sind nicht alle Bürger gleich aufgeklärt, gleich rational, gleichermaßen verantwortungsfähig und verantwortungsbereit.91 Der reale Bürger darf eben auch die grundrechtlich gesicherte Freiheit beanspruchen, jedwede Partizipationsleistung zu verweigern. Neben der Politik sind alle Akteure der offenen Gesellschaft und nicht zuletzt die Wissenschaft in die Verantwortung genommen, Partizipation attraktiv zu machen, zur Mit86 A. v. Bogdandy, Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, JZ 2005, S. 529 ff. 87 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 22 ff. 88 U. K. Preuß, Der EU-Staatsbürger – Bourgeois oder Citoyen, in: G. Winter (Hrsg.), Das öffentliche heute, 2002, S. 179 ff., insbes. 180, unter Verwies auf die berühmte Universitätsrede R. Smends, gehalten in den letzten Tagen der Weimarer Republik am 18. Januar 1933 (Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1958, S. 309 ff.); weit vorausschauend E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, etwa S. 34 ff. 89 H. G. Fischer, Die Unionsbürgerschaft, 1992; N. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft. Die Person und das Gemeinwesen, 2000; E. GöztepeCelebi, Die Unionsbürgerschaft und ihre Fortentwicklung im Hinblick auf die politischen Rechte, 2003; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt. Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007. 90 U. Haltern, Europarecht, 2005, S. 507: „Als Bürger eines Gemeinwesens verkündet man die Einschreibung der Identität des Gemeinwesens in die eigene Identität. Bürgerschaft sagt uns damit nicht nur, was wir tun sollen, sondern auch, wer wir sind“. 91 Mit weiteren Nachweisen dazu M. Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungslehre, in: H. Bauer / P. M. Huber / K.-P. Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 351 ff., 356.
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gestaltung einzuladen, Mitgestaltungsverantwortung vorzuleben. Wie sein wissenschaftlicher Mentor K. Hesse gibt in dieser Hinsicht der Jubilar W. Fiedler ein leuchtendes Vorbild.
Verantwortung in Europa. Die Deutschen in Rumänien im Wandel der Zeit Von Siegrid Krülle*
Durch den Beitritt ost- und südosteuropischer Staaten ist die europäische Gemeinschaft gewachsen. Nicht alle weiße Flecken, die der Eiserne Vorhang hinterlassen hat, haben damit aber schon Farbe angenommen. Eher hat die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 2009 an die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller darauf aufmerksam gemacht, dass Europa nicht nur größer geworden ist, sondern dass auch die Verantwortung für die Geschichte der dazugekommenen Staaten und ihrer dort lebenden Minderheiten gewachsen ist. Um Geschichte, Gegenwart und Fragen zur Zukunft der deutschen Minderheit in Rumänien soll es in diesem Beitrag gehen. Wer sind, wer waren sie, die Siebenbürger Sachsen, die Banater und Sathmarer Schwaben, die Bessarabiendeutschen oder die anderen dazugehörenden deutschen Gruppen? Die deutsche Minderheit in Rumänien hat viele Gesichter. Über allen lastet heute ein großer Schatten: Vor dem II. Weltkrieg lebten in Rumänien 750 000 Deutsche, das waren etwa 4% der Gesamtbevölkerung, heute sind es vielleicht noch 60 000 Menschen. I. Geschichtliche Entwicklung bis 1989 1. Zur Geschichte Rumäniens vor dem I. Weltkrieg Der rumänische Staat ist ein junger Staat und jünger als alle seine Minderheiten. Er ist 1859 durch Zusammenschluß der beiden südlich und östlich des Karpatenbogens gelegenen Fürstentümer Walachei und Moldau entstanden und im Berliner Vertrag von 1878 als von der Pforte unabhängiger Staat anerkannt worden. 1871 erklärte er sich zum Königreich. Die beiden rumänischen Fürstentümer, aus denen der neue Staat hervorging, reichten bis ins 14. Jahrhundert zurück und hatten sich wie die meisten Regionen des Balkans lange in Abhängigkeit zum Osmanischen Reich befunden. Hier in der Region zwischen Donau, Schwarzem Meer und den Karpaten kreuzten sich seit alters her die Wege von Ost nach West, vom Balkan nach Mitteleuropa – Tartaren, Mongolen, Magyaren, slawische Stämme und Hun* Dem Jubilar durch langjährige gemeinsame Mitgliedschaft in der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bonn, herzlich verbunden.
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nen waren durchgezogen und hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Ansiedlung von Dakern und Römern um Christi Geburt wurde zum wichtigen Anknüpfungspunkt für das Selbstverständnis der Rumänen als romanisches und nicht slawisches Volk. Die Bevölkerung des jungen Staates Ende des 19. Jahrhunderts war ethnisch weitgehend homogen, sie bestand zu 85% aus Rumänen. Größere Gruppen bildeten nur die Roma und die Juden. Einziges Problem war der Widerstand des Staates gegen die Gewährung der rumänischen Staatsangehörigkeit an die Juden als „nichtchristliche Bewohner“.1 Deutsche gab es hier praktisch nicht. 2. „Großrumänien“ und seine Minderheiten 1918 a) Entstehung „Großrumäniens“ bei den Friedensschlüssen am Ende des I. Weltkriegs Mit den Friedenschlüssen am Ende des I. Weltkriegs (Verträge von Trianon und St. Germain) konnte der zu den Siegern zählende junge rumänischen Staat sein Staatsgebiet mehr als verdoppeln und sich den Traum vom „Großrumänischen“ Staat erfüllen. Die Verträge schoben die rumänischen Grenzen weit nach Norden und Westen in die mehrheitlich von Rumänen bewohnten Gebiete der zerschlagenen österreich-ungarischen Donaumonarchie vor2; Siebenbürgen, der östliche Teil des Banat, das Kreisch-, Sathmar- und Maramureschgebiet sowie die Bukowina wurden Rumänien zugesprochen. Der Vertrag von Neuilly bestätigte den Besitz der Dobrudscha, deren nördlichen Teil Rumänien bereits nach dem Berliner Kongress (1878) und deren südlichen Teil es nach dem Balkankrieg von 1913 von Bulgarien erlangt hatte. Im Osten kam Anfang 1918 das bisher zum zerschlagenen Zarenreich gehörende Bessarabien dazu. Auch die Bevölkerung hatte sich mehr als verdoppelt. Problematisch war dabei, dass in den neuen Provinzen der Anteil nichtrumänischer Bevölkerungsgruppen erheblich war. 28% der Bevölkerung „Großrumäniens“ und 45 % der Bevölkerung der neuen Gebiete waren keine Rumänen, auch wenn sie ohne Unterschied alle rumänische Staatsangehörige waren. Von einer ethnisch homogenen Bevölkerung konnte nicht mehr die Rede sein. Der erträumte Nationalstaat war in Wirklichkeit ein Nationalitätenstaat geworden, mit dem umzugehen einem in der Behandlung von Minderheiten unerfahrenen und zentralistisch ausgerichteten jungen Staat schwer fallen musste. Die Deutschen mit reichlich 4 % waren nach den Ungarn die zweitstärkste Minderheit, gefolgt von Juden, Ukrainern und einer Vielzahl von kleineren Gruppen.3 1 S. Tontsch, Günther H., Minderheitenschutz in Rumänien, in: Brunner, Georg / Tontsch, Günther H., Minderheitenschutz in Ungarn und Rumänien, 1995 / 2004, S. 6 f. 2 560 000 Rumänen lebten weiterhin als Minderheit in den Nachbarstaaten. 3 Weitere Minderheiten bildeten v. a. die Russen, Bulgaren, Zigeuner, Türken und Tartaren, Gagausen, Serben, Slowaken, Polen. Zu statistischen Angaben s. z. B. Tontsch, S. 8 f.
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Quelle: A.G.Ploetz (Hrsg.), Geschichte des zweiten Weltkriegs, Bd. II, 1960
b) Die deutschen Ansiedlergruppen und ihre Geschichte Aber auch die Deutschen, die 1920 unter dem großrumänischen Dach zusammengeführt wurden, bildeten keine Einheit. Sie setzten sich vielmehr aus damals zwölf Siedlergruppen zusammen – den Siebenbürger Sachsen, den Banater und Sathmarer Schwaben, den Landlern, den Buchenland-, Bessarabien- und Dobrudschadeutschen, ferner den Durlachern, Deutschböhmen, Steyrern, Temeswarern und Zipsern. Diese Gruppen lebten räumlich getrennt voneinander und unterschieden sich in ihren sozialen, wirtschaftlichen und konfessionalen Strukturen und auch in ihrer Ansiedlungsgeschichte.4
4 Vgl. Baier / Bottesch / Nowak / Wieken / Ziegler (Hrsg.), Geschichte und Traditionen der deutschen Minderheit in Rumänien, S. 2007; s. auch die verschiedenen Publikationen von Gabanyi, Anneli Ute, z. B. Die Deutschen in Rumänien, in: „Aussiedler“, Informationen zur politischen Bildung (Heft 267); ferner Gündisch, Konrad, Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen, 1998.
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aa) Die Siebenbürger Sachsen Die Siebenbürger Sachsen sind eine der ältesten deutschen Volksgruppen in Südosteuropa, wenn nicht die älteste noch existierende Siedlergruppe der sogenannten deutschen Ostsiedlung überhaupt. Sie waren es, die sich als erste Ansiedler in Siebenbürgen, im Gebiet des heutigen Hermannstadt, niederließen.5 Das war im Jahr 1143 und 700 Jahre, ehe der spätere rumänische Staat begründet wurde. Die Sachsen waren die erste und älteste, sie entwickelten sich aber auch zur bedeutendsten aller Siedlergruppen. Obwohl ihr nie mehr als 300 000 Menschen angehörten, haben sie in den folgenden 850 Jahren die Kultur und Wirtschaft ihrer Region beispielhaft und zukunftsweisend geprägt.6 Die Ansiedler wurden in der mittelalterlichen ungarischen Kanzleisprache als „Sachsen“ bezeichnet, stammten aber vorwiegend aus dem Rhein-Mosel-Luxemburg-Gebiet. Sie waren dem Ruf des ungarischen Königs Géza II. (1141 – 1162) gefolgt.7 Die ungarischen Herrscher hatten um das Jahr 1000 den ungarischen Staat begründet und danach ihren Hoheitsbereich von der pannonischen Tiefebene aus nach Osten bis zu den Karpatenkämmen erweitert. Der König erwartete sich von den ins Land gerufenen Bauern und Handwerkern mit ihren fortschrittlichen Arbeitsmethoden die Erschließung dieser dünn besiedelten östlichsten Region seines Landes und Schutz der Grenzen gegen die stets drohenden Mongolen- und Tatareneinfälle. Der König stellte den Siedlern Land zur Verfügung, und zwar „Königsboden“, der durch Vorverlegung der Grenzen erlangt war und dem König gehörte, so dass die Ansiedler keinem Adligen, sondern nur dem König verpflichtet und damit freie Bauern waren. Die Ansiedlung der Sachsen erfolgte nach und nach in drei nicht miteinander zusammenhängenden Gebieten, im Altland (um Hermannstadt), im Nösnergau (um Bistritz) und im Burzenland (um Kronstadt). Ins Burzenland hatte der König 1211 den Deutschen Orden gerufen, der dort auch eine Reihe von Ansiedlungen gründete, aber nach 25 Jahren wegen seiner Herrschaftsansprüche wieder aus dem Land gewiesen wurde und sich anschließend im Gebiet der Ostsee niederließ. 5 Die erste urkundliche Erwähnung erfolgte im Jahr 1191 als praepositum Cibiniensem. Eine Probstei entstand, ab 1223 lautete der lateinische Name Villa Hermanni. 6 Aus dem reichhaltigen Schrifttum s. z. B. Wagner, Ernst, Deutsche Siedlung in Siebenbürgen, in: Ostdeutscher Kulturrat (Hrsg.), Rhode, Gotthold (Bearb.), Tausend Jahre Nachbarschaft. Deutsche in Südosteuropa, 1981, S. 113 f. 7 Die Magyaren, ein asiatisches Reitervolk, die bei der Schlacht auf dem Lechfeld 955 endgültig aus West- bzw. Mitteleuropa zurückgedrängt worden waren, waren in der Ebene an Donau und Theiß sesshaft geworden. Sie hatten um das Jahr 1000 ihr Reich fest etabliert und waren zum Christentum übergetreten. Der Sieg der Osmanen bei Mohacs 1526 brach die Vormachtstellung der Ungarn in Europa. Mit dem Sathmarer Frieden 1711 wurde Ungarn endgültig in die Habsburgermonarchie eingegliedert. Der Friede von Passowitz 1718 schloss die Befreiung Ungarns von 200 Jahre dauernder Türkenherrschaft mit der Erwerbung des Banats ab.
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Der sog. Goldene Freibrief des ungarischen König Andreas II. von 1224, nach seinem Verleiher auch „Andreanum“ genannt, würdigt die Ansiedler als „unsere getreuen Gastsiedler“ und bestätigt schriftlich die anfangs nur auf die Siedler im Hermannstädter Gebiet angewendeten besonderen „Privilegien“. Diese galten ab 1486 für alle drei Ansiedlungsgebiete und bildeten bis ins 19. Jahrhundert die entscheidende rechtliche Basis, das „Grundgesetz“, für fast den gesamten Siedlungsraum der Siebenbürger Sachsen. Zu den wichtigsten Privilegien gehörten die freie Richter- (damit auch Ortsvorsteher-) und Pfarrerwahl, Gerichtsbarkeit nach eigenem Gewohnheitsrecht, freie Nutzung von Gewässern und Wäldern, Handelsprivilegien wie Zollfreiheit und freies Marktrecht in ganz Ungarn. Die Siedler waren ihrerseits verpflichtet, jährliche Steuern zu zahlen und Kriegsdienste zu leisten. Die gewährte Autonomie, das Recht zur Selbstbestimmung in politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und kirchlicher Hinsicht, schmiedete die Siebenbürger Sachsen, zu einer Rechtseinheit, einem eigenen „Stand“, einer „Nation“ nach damaliger Terminologie, zusammen. Diese Nation konnte sich voll entfalten, seit 1486 die Geltung des Andreanums auf alle drei Teile des Königsbodens ausgedehnt wurde. Als oberstes politisches, Verwaltungs- und Rechtsgremium fungierte seit 1486 die Sächsische Nationsuniversität (Universitas Saxonum) – zu übersetzen mit Gesamtheit oder Gemeinschaft aller Sachsen. Sie war die politische Vertretung der sächsischen Nation mit Sitz in Hermannstadt, kümmerte sich bis 1878 nach außen wie nach innen um deren Belange und war ein Symbol für politische Einheit und Unabhängigkeit. Zusammen mit dem seit 1583 geltenden Eigen-Landrecht als kodifiziertem Gewohnheitsrecht der Kolonisten bildete sie die Basis der besonderen siebenbürgisch-sächsischen Selbstverwaltung. Zur politischen Selbständigkeit trat im 16. Jahrhundert dank des geschlossenen Übertritts der Siebenbürger Sachsen zum lutherischen Glauben die Unabhängigkeit ihrer Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses. Bald danach galten in Siebenbürgen die Religionsfreiheit und ein strikt eingehaltenes Toleranzgebot (Thorenberger Toleranzgesetze von 1557 – 1568).8 In den seit 1529 zusammentretenden Landtagen kamen neben den Siebenbürger Sachsen auch die beiden weiteren ständischen Staatsnationen des Fürstentums Siebenbürgen, der ungarische Adel und das alte ungarische Hilfsvolk der Szekler, zusammen, um – einstimmig – die Entscheidungen zu treffen, die das ganze Land betrafen, etwa 1542 die Anerkennung der Oberhoheit des Osmanischen Reiches über das „Fürstentum Siebenbürgen“.9 Näheres Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 45. Siebenbürgen war zu Tributleistungen und Heeresdienst verpflichtet, nach innen blieb es selbständig. Das jetzige Fürstentum Siebenbürgen war der östliche der drei Teile, in die das ungarische Königreich nach der Niederlage gegen die Türken bei Mohacs 1526 zerfiel. Der westliche kam zu den Habsburgern, der mittlere wurde türkische Provinz. 1689 fiel Siebenbürgen später ebenfalls an die Habsburger. 8 9
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Loyalität gegenüber dem jeweiligen Herrscher gehörte zu den Grundprinzipien siebenbürgischen Verhaltens. Das waren bis 1526 das Königreich Ungarn, ab 1541 Osmanisches Reich, ab 1689 Habsburgisches Kaiserreich, ab 1867 Königreich Ungarn innerhalb der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, ab 1918 Rumänien, nach 1945 das kommunistische Rumänien, ab 1989 Republik Rumänien. Zum erfolgreichen gemeinschaftsorienterten Wirken der Sachsen gehörten z. B. auch die Übernahme des deutschen Zunftwesens durch das Handwerk, die Einbindung des Alltagslebens in Nachbar-, Bruder- und Schwesternschaften, ein friedliches Zusammenleben mit den anderen Minderheiten, den Rumänen, Ungarn, Serben, Zigeunern, Juden, sowie herausragende Leistungen in den Bereichen Bildung und Schule10, Wissenschaft und Kultur. Im Zusammenhang mit den sich ab 1400 häufenden Türkenüberfällen errichteten die Siebenbürger zum Schutz ihrer Wohnstätten ein einmaliges System von über 200 Wehrkirchen und Kirchenburgen, die im Ernstfalle das ganze Dorf mit Vieh und Nahrung für längere Zeit aufnehmen konnten. Sie sind in größerer Zahl erhalten und teils sehr gut restauriert worden sind. Sie prägen mit ihrem gotischen Baustil bis heute das siebenbürgisch-sächsische Siedlungsgebiet und gehören teilweise zum Weltkulturerbe. Jahrhunderte lang konnten die Siebenbürger Sachsen trotz vieler Wirren und politischer Umbrüche die Struktur ihres Gemeinwesens bewahren, auch in der Periode unter Osmanischer Oberhoheit. Die anschließende Herrschaft der Habsburger ab Ende des 17. Jahrhunderts hatte bereits einen gewissen Abbau der alten Rechte zur Folge. Nach Gründung der österreich-ungarischen Doppelmonarchie fiel Siebenbürgen später durch den österreich-ungarischen Ausgleich von 1867 dem ungarischen Landesteil zu. Das brachte das Ende der Existenz der Siebenbürger Sachsen als gleichberechtigte ständische Nation in Siebenbürgen. Mit der Auflösung der Nationsuniversität verloren die Siebenbürger Sachsen die politische Grundlage ihrer Autonomie.11 Die Nation in ihrer juristischen Form zerbrach, statt von „sächsischer Nation“ sprach man fortan vom „sächsischen Volk“.12 Auch der Königsboden und der Landtag wurden abgeschafft.13 Der von Frankreich inspirierte Siegeszug des nationalen Einheitsstaates, in den sich auch Ungarn und das junge Rumänien einreihten, hatte für die Modelle personaler und territorialer Selbstverwaltung, wie sie von den Siebenbürger Sachsen angewendet wurden, wenig übrig. Sie galten als rückständig und überholt.14 10 Volksschulen sind in Siebenbürgen bereits für das 14. Jahrhundert nachgewiesen, zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte fast jede siebenbürgisch-sächsische Gemeinde ihre Schule. 1541 wurde das erste Gymnasium gegründet, 1722 die allgemeine Schulpflicht eingeführt. 11 Die Nationsuniversität existierte nicht mehr als Träger politischer Kompetenzen, jedoch bis 1937 noch als Stiftung und Vermögensträger weiter. 12 Philippi, Die unbequeme Besonderheit unseres Eigenlebens, in: ders., Staat und Kirche, Bd. 1, 2006, S. 284 f., 286. 13 Zum Ganzen Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 94 f.
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bb) Die Banater Schwaben Über 500 Jahre existierte das Gemeinwesen der Siebenbürger Sachsen bereits, als am Ende der Türkenkriege 1718 eine zweite intensive Phase deutscher Ansiedlung – nun durch die Habsburger Kaiser – einsetzte. Sie hatten nach 150 Jahren Türkenherrschaft das Banat endgültig wiedererlangt und machten sich nun an eine groß angelegte und systematisch geplante Kolonisierungsaktion. Sie begann mit Kaiser Karl VI. in den Jahren 1722 – 1726 und wurde von seiner Tochter Kaiserin Maria Theresia (1740 – 1780) wie auch deren Sohn Kaiser Joseph II. (1780 – 1790) fortgesetzt. Um das von Kriegen verwüstete, menschenleere Sumpfgebiet wieder urbar zu machen und dort Gewerbe und Handel zu beleben, wurden Bauern, Kaufleute, Bergleute und Handwerker aus den Nachbarländern, aber vor allem aus katholischen deutschsprachigen Ländern im Westen angeworben – aus der Pfalz und Lothringen, Hessen und Franken, in geringer Zahl auch aus Bayern, Schwaben und den österreichischen Alpenländern. Es wurden dabei einschlägige Vergünstigungen zugesagt: Eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit, mehrjährige Abgabenfreiheit. In drei so genannten „Schwabenzügen“ kamen die Siedler an, jeweils 15 000 – 30 000 Menschen. Die Banater sind, von einigen Ausnahmen abgesehen, allerdings ebensowenig „Schwaben“, wie die Siebenbürger Sachsen „Sachsen“ sind. Der Name geht auf die in der ungarischen Amtssprache übliche Bezeichnung für die neuzeitlichen deutschen Ansiedler zurück.15 In einer ungeheuren, bewundernswerten Aufbauleistung und unter großen Opfern bewältigten die Ansiedler die Eindämmung der Sümpfe und Wasserläufe und die Urbarmachung des Landes. Bei den Banater Schwaben war der Spruch überliefert: „Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot.“ Tatsächlich entwickelten sich Landwirtschaft und Viehzucht und damit die wirtschaftliche Lage der Ansiedler hervorragend. Das Gebiet wurde zur Kornkammer ÖsterreichUngarns. Die Dörfer und mit ihnen auch das wichtige deutsche Schulwesen florierten. Temeschburg (rum.: Timiosara, ung.: Temeswar), auch Klein-Wien genannt, entwickelte sich zu einer blühenden Stadt und dem kulturellen Zentrum der Banater Schwaben. Hervorzuheben sind auch die aus österreichischen Gebieten stammenden Ansiedler des Banater Berglandes, die dort ein leistungsfähiges Bergbauund Industriegebiet schufen.
14 S. Oeter, Stefan, Minderheiten zwischen Segregation, Integration und Assimilation. Zur Entstehung und Entwicklung des Modells der Kulturautonomie, in: Blumenwitz / Gornig / Murswiek (Hrsg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz, Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht (Bd. 19), 2001, S. 63 f. (72). 15 Zur Geschichte der Banater s. u. a. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 55 f.; Diplich, Das Deutschtum in Ungarn, Das Banat, in: Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 91 f., 100 f.; Stadtmüller, Georg, Geschichte Südosteuropas, 1950.
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Das Banat wurde 1778 verwaltungsmäßig Ungarn eingegliedert. Die Deutschen und Rumänen waren fortan einem ständig wachsenden Assimilisierungs- und Magyarisierungsdruck ausgesetzt. Das änderte sich erst, als der Vertrag von Trianon das Ende der Donaumonarchie besiegelte, das Banat unter Jugoslawien, Ungarn und Rumänien aufgeteilt wurde und Rumänien den östlichen, größten Teil mit Temeschburg erhielt. Bei der Volkszählung von 1930 hatte das Banat knapp 1 Million Einwohner. Die reichliche Hälfte waren Rumänen (54 %), knapp ein Viertel Deutsche (23,7 %). Die Banater Schwaben waren vor den Kriegen und sind noch heute die zahlenmäßig stärkste Gruppe der Deutschen in Rumänien. cc) Die Sathmarer Schwaben Etwa gleichzeitig wie die Banater im Donau-Theiß-Gebiet wurden im 18. Jahrhundert im heutigen Nordwesten Rumäniens, im Kreis Sathmar (rum.: Satu Mare), die sogenannten Sathmarer Schwaben von ungarischen Grundherren angesiedelt. Man zählt sie wie die Banater zu den Donauschwaben. Zur Zeit der frühen siebenbürgisch-sächsischen Ansiedler hatte es hier ebenfalls schon Ansiedler gegeben, die aber in der übrigen Bevölkerung aufgingen. Die jetzigen Ansiedler waren katholische Bauern, die aus oberschwäbischem Gebiet stammten, etwa 6 000 an der Zahl, die in 30 Dörfern zur Freude der Grundherren, in deren Abhängigkeit sie standen, reiche Erträge erwirtschafteten. Sie wurden im 19. Jahrhundert weitgehend magyarisiert, die Einführung des Ungarischen als Schul- und Kirchensprache wirkte sich aus. 1918 gab es keine deutsche Schule mehr. Die Sathmarer erholten sich aber nach dem I. Weltkrieg wieder. Bei Ausbruch des II. Weltkriegs betrug die Zahl der Sathmarer etwa 50 000. Nach dem Krieg blieben verhältnismäßig viele von ihnen in der alten Heimat, so dass man hofft, dass diese Volksgruppe fortbestehen kann.16 Im Jahr 2002 bekannte sich rd. 7 700 Personen als Deutsche. dd) Die „Landler“ Kaiser Karl VI. und Kaiserin Maria Theresia verfolgten zwischen 1734 und 1756 ein interessantes weiteres Projekt. Und zwar wurden unerwünschte Protestanten aus den österreichischen Erblanden, die sogenannten Landler, zwangsweise nach Siebenbürgen „transmigriert“, wie es sehr beschönigend hieß. Sie stammten genauer aus dem Salzkammergut, Kärnten, der Steiermark und dem „Landl“, dem Gebiet zwischen Vöcklabruck, Wels und Gmunden am Traunsee. Die Habsburger, vom Grundsatz des Westfälischen Friedens von 1648 „cuius regio eius religio“ geleitet, wollten mindestens ihre Kernlande frei von Protestanten halten. Wer sich nicht bekehren ließ, wurde abgeschoben – diesmal nicht wieder ins protestantische Ausland, nach Preußen, sondern, um dem Staat das Arbeitspotential der Kontribu16 In einigen Dörfern liegt ihr Anteil an der Bevölkerung noch über 10 %, in der Gemeinde Fienen (rum. Foieni) z. B. sogar bei rund 40% (Volkszählung von 2002). Zur Geschichte und Lage der Sathmarer vgl. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 58 f., S. 24 f.
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enten (Steuerzahler) zu erhalten, an einen geeigneten Ort im Inland. Siebenbürgen kam in Frage, es war das einzige geschlossen protestantische Gebiet der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und der südliche Teil um Hermannstadt durch Türkenüberfälle und Epidemien damals stark entvölkert und verwüstet. Die Landler erhielten leerstehende Anwesen u. a. in den Gemeinden Großau, Großpold und Neppendorf bei Hermannstadt. Die Landler – es gibt noch einige vor Ort – waren den Sachsen rechtlich gleichgestellt, vermischten sich aber nicht mit ihnen. Ihr kulturelles Selbstverständnis, auch ihr Dialekt sind von ihrer altösterreichischen Herkunft geprägt. Die alte bäuerliche Kultur stirbt jedoch wie bei den Sachsen aus.17 ee) Die Bukowinadeutschen Die Gruppe der Bukowina- oder Buchenlanddeutschen stammt aus der Bukowina (deutsch: Buchenland, rum.: Bucovina) in den Nordost-Karpaten. Das Gebiet war lange Teil des Fürstentums Moldau und im 14. bis 16. Jahrhundert sogar dessen politisches Zentrum. Im 16. Jahrhundert geriet die Bukowina unter den Einfluss des Osmanischen Reiches, das sie 1775 an die Habsburger abtrat. Für die Habsburger bot sich die Bukowina als Verbindungsland zwischen Siebenbürgen und dem gerade erlangten nördlich gelegenen Galizien an. Zunächst war sie verwaltungsmäßig Galizien zugeordnet, später, 1849, wurde sie selbständiges österreichisches Kronland mit eigenem Landtag und eigener Landesregierung. Während der bis 1918 dauernden, knapp 150jährigen Habsburgerzeit nahm das Land eine erstaunliche Entwicklung. Zu Beginn der österreichischen Herrschaft hatte die Bukowina 75 000 Bewohner, im wesentlichen Rumänen (85 %) und Ukrainer, auch Ruthenen genannt (10 %), in geringer Zahl Huzulen, Lipowaner und Armenier, Juden und Polen. Bald setzte in dem unterentwickelten Land eine teils geplante, teils spontane Ansiedlung von deutschen Bauern und Handwerkern ein, die vor allem aus anderen Habsburger Gebieten, Galizien, dem Banat, der Zips, dem Böhmerwald, aber auch aus der Rheinpfalz, hessischen und badischen Gebieten stammten. Neue Orte, meist Bauerndörfer, oder neue Kolonien in schon vorhandenen Orten wurden gegründet. Später kamen Tochtersiedlungen im Umland hinzu. Die Habsburger förderten in Stadt und Land und zugunsten aller Nationalitäten das Schul- und Bildungswesen. Damit legten sie die Grundlage für die landwirtschaftliche, industrielle und kulturelle Weiterentwicklung der Region.18
17 Vgl. die mit Hilfe einer Studentengruppe erstellten Recherchen in: Birtler, Roland (Hrsg.), Das letzte Lied vor Hermannstadt. Das Verklingen einer Bauernkultur in Rumänien, 2007; s. auch u. a. Bottesch M. / Grieshofer W. / Schabus W. (Hrsg.), Die Siebenbürgischen Landler, Eine Spurensicherung, 2002. 18 S. Wagner, Rudolf, Die Bukowina und ihre Völkerrgruppen, in: Ostdeutscher Kulturrat (Hrsg.), Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 71.
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In den Städten bildete sich eine deutsche Bürgerschicht heran, die bald zur geistigen und politischen Führungsschicht gehörte. Dazu zählten auch die zahlreich zugewanderten deutsch- oder jiddischsprechenden Juden. Die Oberschicht sprach zumeist deutsch, Amts- und Geschäftssprache waren aber auch rumänisch und ruthenisch. Czernowitz war die Hauptstadt und entwickelte sich zum gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum, nicht nur für die deutsche und jüdische Bevölkerung. 1875 wurde hier die östlichste deutschsprachige Universität gegründet; das blieb sie bis 1920. Gleichzeitig wurden aber auch erstmals Lehrstühle für Rumänisch und Ukrainisch eröffnet. Die Universität wirkte als übernationaler, integrierender Faktor, die nationale Elite wurde hier ausgebildet. Czernowitz war eine europäische Literatur- und Kulturstadt; das einmalige multiethnische und gleichberechtigte kulturelle, religiöse und politische Zusammenleben gilt heute vielen als Vorbild für die Idee eines modernen integrierten Europa. Obgleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nationale Ideen Fuß gefasst hatten, erlebte das berühmte Kulturleben in der Zwischenkriegszeit noch einmal eine zweite und letzte Blüte19, ehe es in den Strudel des II. Weltkriegs geriet. In Erinnerung an die jüdisch-deutsche Kultur jener Zeit spricht man heute von der „versunkenen Literaturlandschaft der Bukowina“. Fast alle Juden wurden im II. Weltkrieg vom faschistischen Antonescu-Regime in die rumänischen Ghettos und KZs in Transnistrien deportiert. Etwa die Hälfte überlebte, wanderte aber zum großen Teil aus. Gegenüber 1775 hatte sich (Volkszählung von 1910) die Gesamtbevölkerungszahl mehr als verzehnfacht (ca. 800 000). Die Deutschen einschließlich der starken Gruppe der sich zum Deutschtum bekennenden Juden (13 %) machten 21% der Bevölkerung des Landes und über 50% der Bewohner von Czernowitz aus. 2002 wurden in der Südbukowina noch 1800 Deutsche gezählt.20 ff) Die Bessarabiendeutschen Die deutsche Volksgruppe der Bessarabiendeutschen21 war von 1814 bis 1940 in Bessarabien ansässig. Bessarabien, östlich von Rumänien zwischen den Flüssen Pruth und Dnjestr gelegen, gehörte von 1918 – 1940 zu Rumänien. Heute gehört es zu Moldavien, teils zur Ukraine. Wie die benachbarte Bukowina war das umstrittene Bessarabien ursprünglich Teil des Fürstentums Moldau. Nach 350jähriger Türkenherrschaft und Eroberung durch die Truppen des russischen Zars Alexander I. (1801 – 1825) kam das Gebiet 1812 im Frieden von Bukarest endgültig zu 19 Berühmte Schriftsteller dieser Epoche waren z. B. Gregor von Rezzori (1914 – 1998), Alfred. Margul-Sperber (1898 – 1967), Rose Ausländer (1901 – 1988), Paul Celan (1920 – 1970). 20 Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 33. 21 Zum Ganzen s. u. a. Schmidt, Ute, Die Deutschen aus Bessarabien, 2. Aufl. 2004; Brandes, Detlef, Von den Zaren adoptiert, Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurussland und Bessarabien 1751 – 1914, 1993.
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Russland. Kischinew wurde die Hauptstadt des kleinen neu gegründeten Gouvernements Bessarabien. Wie die Habsburger betrieben auch die Zaren eine „Peuplierungspolitik“ – die planmäßige Besiedelung und Kolonisierung meist noch unbewohnter Gebiete durch die Anwerbung von Ausländern22, denen sie bestimmte Rechte und Vergünstigungen zusagten. Zar Alexander I. versprach im Manifest von 1813 – kostenloses Land (66 Hektar pro Familie), – zinslose Kredite, – Steuerfreiheit auf 10 Jahre, – Selbstverwaltung, – Religionsfreiheit, – unbefristete Befreiung vom Militärdienst.
Die Ansiedler bestanden aus zwei Gruppen. Die erste Gruppe, die sog. Warschauer Kolonisten, kamen 1814 – 1817 mit Pferd und Wagen aus den damals preußischen Gebieten im heutigen Polen.23 Sie waren dort ursprünglich um 1770 / 80 von den preußischen Königen angesiedelt worden. Die Auswanderer der zweiten Gruppe kamen von 1822 – 1842 überwiegend aus Württemberg, wo 1816 das Auswanderungsverbot aufgehoben worden war. Sie gelangten entweder auf dem Landweg über Schlesien und Galizien oder aber mit den sogenannten „Ulmer Schachteln“ auf der Donau in die neue Heimat. Sie hatten dazu 2000 km zurückzulegen, viele kamen auf dem beschwerlichen Weg ums Leben. Die Gründe für die Auswanderung waren politischer, wirtschaftlicher und religiöser Art. Die Menschen litten unter Fremdherrschaft und Abgabenlast – in Württemberg wie im Warschauer Gebiet mit den napoleonischen Kriegen zusammenhängend; es fehlte an einer Hofstelle oder sonstigem ausreichenden Auskommen; sie wünschten sich – vor allem als Mennoniten oder pietistische Württemberger – freie Religionsausübung nach ihren Vorstellungen. Der Zar sicherte durch ein eigens eingerichtetes sog. Fürsorgekomitee die Einhaltung des versprochenen Rechts auf Selbstverwaltung und der sonstigen Zusagen. Etwa 9 000 Menschen siedelten sich bis 1826 an. Sie ließen sich überwiegend im fruchtbaren südlichen Landesteil, dem Budschak, nieder und zwar meist als selbständige Bauern, die es mit Ackerbau, Vieh- und vor allem Pferdezucht oft zu erheblichem Wohlstand brachten und einen bedeutenden Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung Bessarabiens hatten. Doch gab es auch viele bäuerliche Kleinbetriebe, weniger als 10% der Deutschen waren in Kleinindustrie und Gewerbe tätig.24 Das identitätsstiftende Kirchen-, Gemeinde- und Schulwesen lag autonom 22 Die einheimischen Bauern kamen als Leibeigene des Adels für eine Ansiedelung nicht in Frage. 23 S. Brandes, S. 88 f., auch zur Armut und wirtschaftlichen Bedrängtheit der Siedler.
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in der Hand der Ansiedler. Man lebte getrennt nach Herkunft und Religion in eigenen Dörfern oder Ortsteilen, aber in guter Nachbarschaft und Kooperation mit den anderen Nationalitäten. Aus 24 Mutterkolonien wurden letztendlich 150 Gemeinden mit einem Landbesitz von insgesamt 300 000 Hektar. Die Deutschen galten zur Zeit der Zarenherrschaft als loyale Bürger und gute Steuerzahler. Leider änderte sich ab 1870 die Situation. Der Zar hob schrittweise die Sonderstellung der Kolonisten auf.25 – 1871 wurden die Selbstverwaltungsrechte, auch das Fürsorgekomitee, beseitigt und die Kolonien in die allgemeine russische Verwaltung eingeordnet. Russisch wurde Amts- und in der Schule Pflichtsprache. Das Schulwesen kam unter staatliche Aufsicht, wenn es auch wie die Ausbildung der Lehrer (Werner-Schule in Sarata) durch die Anbindung an die Kirche noch unter deutschem Einfluss blieb. Später wurden deutsche Schulen durch staatliche ersetzt. – Das Ende der Befreiung von dem langjährigen Militärdienst (6 aktive, 9 Reservistenjahre) im Jahr 1874 war für viele Familien existenzbedrohend und für die Mennoniten schon aus Gewissensgründen unerträglich. Das veranlasste neben der zunehmenden Landknappheit 25 000 Personen zur Ausreise nach Nord- und Südamerika.26 – Ab 1880 sahen sich die Ansiedler zunehmend einer Homogenisierungs- und Russifizierungspolitik ausgesetzt, die von panslawistischen und nationalistischen Bestrebungen gesteuert war. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs verhärtete sich die Situation nochmals. Schulen wurden geschlossen, Gottesdienste verboten. Es drohten Enteignung und Deportation und damit alle Härten des russischen Systems.27 Diese Bedrohung endete mit den Bürgerrechtsgarantien des Revolutionsjahrs 1917.28 Bessarabien wendete sich 1918 vom russischen Reich ab und erklärte den Anschluss an Rumänien.29 Das ersparte den deutschen Ansiedlern das schlimme Schicksal der Russlanddeutschen, setzte sie aber in der Folgezeit dem Druck Rumäniens aus.
24 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa Bd. III, Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, 1957 / 1984, S. 19 E. 25 S. Hecker, Hans, Die Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, 1994, S. 24 f., 64. 26 Zur Lösung des Wehrpflichtproblems durch Auswanderung s. Brandes, S. 365 f. 27 Zum 1917 stornierten sog. Liquidationsgesetz des Zars Nikolaus II. von 1915 s. Hecker, S. 25. 28 S. Hecker, S. 26. 29 1918 wurde in Kischinev unter der Bezeichnung „Landesrat“ eine nationale Volksversammlung gebildet. Der Landesrat übernahm die Regierung und erklärte den Anschluss an Rumänien. Die Deutschen organisierten sich daneben politisch in dem als konservativ angesehenen und kirchlich orientierten Deutschen Volksrat für Bessarabien; zu dessen Tätigkeit s. Glass, Hildrun, Minderheit zwischen zwei Diktaturen – Zur Geschichte der Juden in Rumänien 1944 – 49, 2002, S. 109 f.
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Bei der Volkszählung von 1930 hatte Bessarabien ca. 2,8 Millionen Einwohner, davon waren 81 000, lediglich 2,8 %, Deutsche.30 gg) Die Dobrudschadeutschen Die Dobrudschadeutschen waren als jüngste der deutschen Ansiedlergruppen ab etwa 1840 für 100 Jahre in der Dobrudscha31 am Westufer des Schwarzen Meeres ansässig.32 Sie waren Ableger der bessarabischen und anderer deutscher Siedlungen im südlichen Russland. Die ersten Landsuchenden ließen sich zwischen 1841 und 1856 nieder, als die Dobrudscha noch zur Türkei gehörte, und wurden damit osmanische Untertanen. Die beiden weiteren Ansiedlungswellen wurden durch die Russifizierungsaktionen zwischen 1870 und 1890 (Rücknahme der Kolonistenprivilegien, Militärdienst, Verstaatlichung der Schulen) ausgelöst. Die meisten Ansiedler lebten gemeinsam mit Rumänen, Bulgaren, Tartaren in Dörfern und zwar von der Landwirtschaft, 50% davon aber als Landlose in entsprechender Armut. Die wirtschaftliche Situation besserte sich um die Jahrhundertwende. Damals lebten in 40 Ansiedlungen 9 000 Deutsche. 1930 wurden 12 000 Deutsche gezählt, das entsprach 2,7 % der Bevölkerung. 2002 wurden in den Kreisen Konstanza und Tulcea noch 400 Deutsche gezählt, die aber teils aus Siebenbürgen und dem Banat zugezogen waren. c) Die Zwischenkriegszeit Die Deutschen in den am Ende des II. Weltkriegs mit Rumänien vereinten Gebieten hatten unter dem Nationalisierungsdruck ihrer bisherigen Heimatstaaten zunehmend gelitten. Die Siebenbürger Sachsen waren unter den Ungarn vom Stand einer gemeinschaftstragenden Nation in den simpler Minderheitsangehöriger abgeglitten, die Banater sahen sich um deutschsprachige Schulen, Zeitungen und Theater gebracht und die Bessarabiendeutschen sahen sich im Zarenreich durch harte 30 Stumpp, Karl, Das Deutschtum in Bessarabien, 1941, S. 1. Die Rumänien machten 57%, die Russen 12%, die Ukrainer 11%, die Juden 7%, die Bulgaren 6% der Bevölkerung aus. Bis 1812 war die Bevölkerung praktisch rein rumänisch. Es waren also seit 1812 durch Russland im Zuge seiner systematischen Siedlungspolitik nicht nur deutsche, sondern noch weit mehr Russen, Ukrainer und Juden zugezogen und der rumäniche Bevölkerungsanteil dadurch reduziert worden. Er machte zwar in Russland eine Minderheit, in Bessarabien aber mit Abstand die Mehrheit aus. Die diskriminierende Politik der Russen richtete sich vor allem gegen die Rumänen. 31 Die nördliche Dobrudscha kam 1878 durch den Berliner Kongreß zu Rumänien. In dem kleineren südlichen Teil, der von 1913 bis 1918 und von 1919 – 1940 zu Rumänien gehörte, seitdem Teil Bulgariens ist, lebten nur wenige Deutsche. 32 Zur Geschichte der Dobrudschadeutschen vgl. z. B. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 34 f.; http: //de.wikipedia.org/wiki/Dobrudschadeutsche; Petri, Hans, Geschichte der Deutschen Siedlungen in der Dobrudscha. Hundert Jahre Leben am Schwarzen Meer, 1956.
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Russifizierungsmaßnahmen bedroht. Auf Grund dieser schlechten Erfahrungen hatten sich alle deutschen Gruppen für den Anschluss ihrer bisherigen Heimatgebiete an Rumänien ausgesprochen.33 Sie vertrauten dabei auf die Zusagen, die die Rumänen auf ihrer „Nationalversammlung“ im siebenbürgischen Karlsburg im Zusammenhang mit ihrem eigenen Angliederungsbeschluß am 1. 12. 1918 gemacht hatten: „Volle nationale Freiheit für alle mitwohnenden Völker“.34 aa) Rumänisierungsdruck Als neue rumänische Staatsangehörige mussten die Deutschen bald erkennen, dass die Zusagen nur halbherzig oder gar nicht eingehalten wurden und keinen Niederschlag in der neuen Verfassung von 1923 oder sonstigem innerstaatlichen Recht fanden. Art. 1 der Verfassung erklärte Rumänien vielmehr zum „einheitlichen und unteilbaren Nationalstaat“. Der im Gefolge der Friedensverträge von den Großmächten vorgelegte Minderheitenschutzvertrag von Paris vom 9. 12. 1919, der den Minderheiten kollektive Rechte im kulturellen und kirchlichen Bereich mit völliger Autonomie in Schul- und Religionsfragen zugestand,35 wurde nur widerstrebend unterzeichnet und ebenso zögernd oder gar nicht im innerstaatlichen Recht und der Rechtspraxis berücksichtigt.36 Die zentralistisch von Bukarest aus betriebene Politik zeigte deutliche Rumänisierungsbestrebungen gegenüber allen Minderheiten.37 Der politischen sollte eine wirtschaftliche und kulturelle Vereinheitlichung aller Landesteile folgen. Die Währungsumstellung von Kronen auf Leu brachte die Neubürger um drei Viertel ihrer Ersparnisse. Der rumänische Staat dehnte den Geltungsbereich seiner Altgesetze, aber z. B. auch den der neuen Agrarreformgesetze auf die neu erlangten Gebiete aus, so dass deutsche Großbauern, die es im wesentlichen aber nur in Bessarabien gab, Teile des von Generationen erwirtschafteten Besitzes verloren. Schwerwiegender waren die Auswirkungen auf den Grundbesitz von Gemeinden, Kirchen und Stiftungen, insbesondere in Siebenbürgen. Hier verloren z. B. die Nationsuniversität, die als Stiftung und Vermögensträger noch bis 1937 existierte, und die evangeliche Kirche einen großen Teil ihres Grundvermögens, dessen Erträgnisse für die Finanzierung von Schulen und Sozialeinrichtungen vorgesehen waren. Wie immer, wenn es um Assimilierung geht, wurde im wichtigen Bereich der Schule, Sprache und Kultureinrichtungen operiert. Der Unterricht in der jeweiligen 33 Im November 1918 die Bukowiner, am 8. 1. 1919 die Siebenbürger Sachsen („Mediascher Anschlusserklärung“), 1919 auch die Bessarabiendeutschen und Banater, denen wegen der gemeinsamen katholischen Religion die Trennung von Ungarn am schwersten fiel. 34 Zu den Karlsburger Beschlüssen und der verfassungsrechtlichen Lage Kenti, Erich, Minderheitenschutz in Rumänien, 1992, S. 44 f. 35 S. dazu Kenti, S. 24 f. 36 Zur damaligen wie heutigen Minderheitenschutzproblematik auch Tontsch, S. 8 f., 24 f. 37 S. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 88 f.
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Muttersprache war entgegen der vorausgegangenen Versprechungen nur eingeschränkt erlaubt bzw. teilweise auch ganz verboten – mit Ausnahme des Banat, wo die Förderung deutscher Schulen die Zurückdrängung der ungarischen Sprache bewirken sollte.38 Von Versuchen, Angehörige der Minderheiten aus wichtigen Ämtern zu verdrängen („numerus valachius“), wurde erst abgelassen, als der Völkerbund intervenierte. Immerhin blieben die sonstigen politischen Rahmenbedingungen akzeptabel, die Minderheiten, die sich schon 1919 zum „Verband der Deutschen in Rumänien“ zusammengeschlossen hatten, waren mit der „Deutschen Partei“ im Parlament vertreten39, genossen Rede- und Pressefreiheit und arrangierten sich trotz aller Enttäuschung in Loyalität mit ihrem Staat. bb) Nationalsozialistischer Einfluss In der zweiten Hälfte der Zwischenkriegszeit wuchs jedoch die Unruhe. Es kamen Entwicklungen in Gang, die bis heute Fragen aufwerfen. Bei allen deutschen Gruppen führte der Assimilierungsdruck in Verbindung mit verschlechterten wirtschaftlichen Verhältnissen und nationalsozialistischer Propaganda dazu, dass ein Teil der Deutschen sich an seine deutschen Wurzeln erinnerte, sich der Idee des Deutschtums und „Erneuerungsbewegungen“ zuwandte und schließlich mit dem Dritten Reich sympathisierte.40 Hitler hatte mit der Aussage beeindruckt, er sei „für alle Deutschen“ da. Für Hitler war Rumänien aber vor allem wegen seines Erdöls und als Aufmarschgebiet für den geplanten Krieg gegen die Sowjetunion interessant. 3. Der II. Weltkrieg und seine Folgen: Der Krieg. Umsiedlung, Flucht, Deportation Die Hitlersche Politik und die Folgen des II. Weltkriegs hatten für die deutsche Minderheit in Rumänien verheerende Auswirkungen. Sie erschütterten sie in ihrer Existenz. – Umsiedlungen: Auf Grund der Abmachungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion von 1939 / 194041 wurden die Grenzgebiete Bessarabien Ebenda, S. 88. S. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 89, 88. Vorsitzender der Parlamentsfraktion war der angesehene Politiker Hans Otto Roth. Rudolf Brandsch (1880 – 1953) war Vorsitzender des 1919 gegründeten Verbandes der Deutschen Großrumäniens und für die europäische Minderheitenbewegung aktiv. 40 In kritischer Auseinandersetzung mit diesem umstrittenen Thema Böhm, Johann, Hitlers Vasallen der deutschen Volksgruppe in Rumänien vor und nach 1945, 2006, S. 5 f. 41 Geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 mit Abgrenzung der Interessensphären für den Fall einer künftigen Neuordnung Euro38 39
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und Nordbukowina der sowjetischen Interessensphäre zugeordnet und im Juni 1940 von den Sowjets besetzt; ab September 1940 wurden die Deutschen aus diesen Gebieten „heim ins Reich“ umgesiedelt.42 Die Umsiedlung wurde anschließend auch auf die Deutschen in der Südbukowina, der Dobrudscha und im „Altreich“ ausgedehnt.43 Die Umsiedler wurden zunächst in Lagern auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches untergebracht und dann meist im besetzten Polen – im Gebiet Danzig, dem Warthegau, schließlich auch dem Generalgouvernement – angesiedelt. Zur Entschädigung wurden den Umsiedlern die Höfe enteigneter Polen zur Verfügung gestellt, diese Höfe verließen sie wieder im Zug der Flucht- und Vertreibungswelle von 1944 / 45.44 Insgesamt waren von der Umsiedlungsaktion 214 000 Personen betroffen. – Verlust der deutschen Minderheit in Nordsiebenbürgen: Mit dem Anschluß Nordsiebenbürgens an Ungarn auf Grund des II. Wiener Schiedsspruchs vom 30. 8. 1940 schieden weitere 35 000 Menschen aus der deutschen Minderheit aus und wurden zu ungarischen Staatsangehörigen und Angehörigen des Deutschen Volksbundes in Ungarn. Die Deutschen in Rumänien wurden zur „Deutschen Volksgruppe in Rumänien“ und zur juristischen Person deklariert. Rumänien unter Führung des faschistischen Ion Antonescu trat indessen am 23. 11. 1940 dem Dreimächtepakt der Achsenmächte bei und beteiligte sich ab Juni pas. Deutsch-sowjetrussische Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von Bessarabien und der nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich vom 5. 9. 1940, Text in: Hecker, Hellmuth, Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges, 1971, S. 121 f. Hitlers Strategie der Umsiedlung von Nationalitäten zur Verbesserung von Trennungslinien und Rettung von Volkstumssplittern im Osten und Südosten Europas wurde in seiner programmatischen Reichstagsrede vom 6. 10. 1939 öffentlich zur Kenntnis gebracht. 42 Die Verträge wurden prompt abgewickelt. Das im Vertrag vom 5. 9. 1939 vorgesehene deutsche Umsiedlungskommando traf am 9. 9. ein und nahm am 15. 9. für die Nordbukowina seine Arbeit auf. Am 27. 9. trafen der erste Eisenbahntransport mit 1 000 Umsiedlern, Mitte November termingerecht der letzte Transport in Deutschland ein. Zur Zuständigkeit der deutschen und sowjetischen Umsiedlungskommandos gehörte z. B. die Schätzung des von des Umsiedlern zurückgelassenen Vermögens. Zahlreiche Dokumente deutscher Stellen zur Durchführung der Umsiedlung in Popa, Klaus (Hrsg.), Akten um die deutsche Volksgruppe in Rumänien 1937 – 1945. Eine Auswahl, 2005. 43 Vereinbarung zwischen der Deutschen Regierung und der Königlich rumänischen Regierung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung in der Südbukowina und der Dobrudscha in das Deutsche Reich, Hecker, Hellmuth, S. 78 f. Die Umsiedlung aus der Südbukowina erfolgte nicht über Galizien wie bei den Nordbukowianern, sondern auf einer Südroute über Siebenbürgen und Ungarn und endete daher meist in österreichischen Lagern bzw. auf zugewiesen Höfen der Untersteiermark. Andere landeten im Sudetengau bzw. der Tschechoslowakei oder der sowjetischen Besatzungszone und wurden wieder in die Südbukowina zurückverbracht, wo die Deportation zur Zwangsarbeit in der UdSSR drohte. 44 Zum Ganzen ausführlich Kotzian Ortfried, Die Umsiedler, Die Deutschen aus Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, Galizien, der Karpathoukraine und West-Wolhynien, 2004, S. 138 f.; Schmidt, S. 127 f.; Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa, Bd. III, Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, S. 41 f.
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1941 am Krieg gegen die Sowjetunion. Er wollte an der Seite Hitlers die verlorenen Gebiete Bessarabien und Bukowina zurückgewinnen. Das gelang; in das ebenfalls besetzte, östlich von Bessarabien gelegene Transnistrien deportierte Rumänien mit Unterstützung des Deutschen Reiches alle Juden aus der Nordbukowina und Bessarabien. 300 000 dieser und der transnistrischen Juden kamen ums Leben.45 – Einziehung zur Waffen-SS: Gemäß mit Deutschland getroffener Absprachen46 durften sich „rumänische Staatsbürger volksdeutscher Zugehörigkeit, die am 1. April 1943 das 17. Lebensjahr vollendet“ hatten, es waren vor allem die wehrfähigen Südsiebenbürger Sachsen und Banater Schwaben gemeint, „freiwillig in die Deutsche Wehrmacht-SS einreihen lassen“. Das galt auch bis auf gewisse Ausnahmen für bereits in der rumänischen Armee dienende Volksdeutsche. Die Beibehaltung der rumänischen Staatsangehörigkeit, mit allen sich daraus ergebenden Rechten, wurde ausdrücklich zugesichert.47 75 000 Männer gelangten auf diese Weise zur deutschen Wehrmacht, zu SS-Verbänden oder der Organisation Todt und bevorzugt zum Einsatz an der Ostfront und zur Partisanenbekämpfung auf dem Balkan. 15% kamen dabei um, die anderen vielfach in sowjetische Kriegsgefangenschaft und dann meist in westliche Länder. Die wenigen Tausend, die zurückkehrten, wurden in der Regel festgenommen und zum Teil jahrelang abermals inhaftiert. – Evakuierung und Flucht: Die rumänische Kapitulation am 23. August 1944 war mit einem Frontwechsel verbunden. Rumänien kämpfte auf Seiten der Alliierten unter sowjetischem Kommando gegen Deutschland und seine Verbündeten weiter. Ziel war vor allem, Nordsiebenbürgen mit dem Szeklerland wiederzuerlangen. Beim Einmarsch der Sowjetarmee in Rumänien wurden die Deutschen im ungarisch verwalteten Nordsiebenbürgen vorsorglich evakuiert, während die Deutschen im Banat und anderen Grenzregionen flüchteten. Die Bewohner ganzer Dörfer zogen in langen Trecks in Richtung Westen. Viele wurden von den Sowjets überrollt und zurückgebracht.48 Hier zählten sie wie grundsätzlich alle Volksdeutschen als potentielle „Volksverräter“. – Deportation zur Zwangsarbeit: Für diejenigen unter den Zurücktransportierten oder Verbliebenen, die junge Männer und Frauen im Alter von 17 – 45 bzw. 18 – 30 Jahren waren, begann ab Januar 1945 die Deportation in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit. Über 75 000 Menschen waren hiervon betroffen; etwa 10 000 S. Baier / Bottesch / Nowak / Wiecken / Ziegler (Hrsg.), S. 93. Vertrag vom 12. Mai 1943, Text in: Popa (Hrsg.), Akten Nr. 448, S. 434. 47 Durch Führererlass vom 19. 5. 1943 erhielten sie die deutsche Staatsangehörigkeit; s. dazu Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, Bd. III, S. 55 E m. Anm. 81, zum Ganzen S. 55 E f. 48 Die zur deutschen Wehrmacht und SS berufenen deutschen Volksgruppenangehörigen blieben unter deutschen Waffen und gehörten zum „feindlichen Heer“. S. Milata, Paul, Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu, Rumäniendeutsche in der Waffen-SS, 2007. 45 46
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kamen um. Die meisten Überlebenden kehrten später nicht mehr in die Heimat zurück, sondern wurden nach Deutschland oder Österreich entlassen.49 Durch Umsiedlung, Krieg, Deportation und Flucht reduzierte sich unmittelbar im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen die Zahl der Volksdeutschen in Rumänien um fast die Hälfte von 750 000 auf 380 000 (1956). 4. Das Nachkriegsschicksal der Verbliebenen unter kommunistischer Diktatur Von 1945 – 1989 stand Rumänien im Einflussbereich der Sowjetunion und unter kommunistischer Herrschaft. Durch die Friedensverträge von 1947 verlor Rumänien endgültig Bessarabien und die Nordbukowina an die Sowjetunion, doch erhielt es Nordsiebenbürgen von Ungarn zurück. Das damals festgelegte Staatsgebiet hat es bis heute inne. Die Politik der rumänischen Kommunisten war in den ersten Nachkriegsjahren offen gegen die Volksdeutschen gerichtet. An eine Vertreibung wie in der Tschecholowakei, Ungarn, Polen oder den deutschen Ostgebieten war offensichtlich nicht ernsthaft gedacht.50 Aber es ging um kollektive Bestrafung, Verschleppung, Enteignung und Entrechtung. Die schon erwähnten Deportationen in die Sowjetunion im Januar 1945 stellten eine erste schwerwiegende ethnische Diskriminierung dar, die die Deutschen schlechthin unabhängig davon betraf, wie groß die jeweiligen Sympathien für das Dritte Reich gewesen waren. Von dem Schock dieser ersten Nachkriegsjahre haben sich die Deutschen nie wieder richtig erholt. a) Entrechtung – Die Rumäniendeutschen verloren alle politischen Rechte. Das am 7. 2. 1945 erlassene Minderheitenstatut, das die Gleichheit aller Staatsbürger ohne Unterschied der Nationalität proklamierte, galt für die Deutschen ausdrücklich nicht. Durch das Wahlgesetz vom Juli 194651 wurde ihnen das Wahlrecht aberkannt. – Die rumäniendeutschen Bauern verloren durch Gesetz vom 23. 3. 1945 ihren landwirtschaftlichen Grundbesitz nebst lebendem und totem Inventar, die Grundlage ihres selbstbestimmten Lebens.52 Betroffen waren „rumänische 49 Neben Herta Müller, Atemschaukel, 2009, s. u. a. Hans Zikeli, Ursula Kaiser-Hochfeldt, Hans und Frieda Juchum, Verschleppt in die Sowjetunion 1945 – 1949, 1991, und die zahlreichen Literaturhinweise bei Philippi, Paul, Kirche und Politik, Bd. I, 2006, S. 70 Fn. 6, 7. 50 Vgl. Dokumentation der Vertreibung, Bd. III, S. 84 E f., S. 85 m. Anm. 31. 51 Art. 7 Abs. 1 e WahlG, in: Monitorul Oficial Teil I, Nr. 161 v. 15. 7. 1946.
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Staatsangehörige deutscher Nationalität (Abstammung), die der deutschen Volksgruppe angehört haben . . .“. Da durch Dekret v. 20. 11. 1940 alle rumänischen Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit zu Mitgliedern der Deutschen Volksgruppe erklärt worden waren, bedeutete dies die Enteignung praktisch aller deutschen Bauern. Die Aktion führte zu einer ungeheurer Schwächung nicht nur der betroffenen deutschen Landwirte, sondern der rumänischen Landwirtschaft überhaupt. Die erfahrenen deutschen Bauern wurden zu einem Großteil zu Industriearbeitern. Die Höfe wurden meist in unrentable Zwergwirtschaften aufgeteilt und an ungeschulte auswärtige Personen, sog. „Kolonisten“, häufig Roma-Familien, vergeben. Diese Ansiedlungspolitik bedeutete auch, dass die traditionelle Geschlossenheit der deutschen Dörfer gesprengt wurde. – 1948 begann der „sozialistische Aufbauprozess“, nachdem am 31. 12. 1947 die Volksrepublik ausgerufen worden war. 1948 wurde die Landwirtschaft kollektiviert, durch Gesetz vom 11. 6. 1948 wurden Banken und Unternehmen an den Staat überführt und im gleichen Jahr auch die Schulen verstaatlicht – ein Schlag für die deutschen Kirchen. Deutsche wie rumänische Eliten verschwanden in Gefängnissen oder Lagern. 10 000 Banater wurden 1950 / 51 in die Baragansteppe verschleppt und Siebenbürger Sachsen 1952 als „politisch Unzuverlässige“ aus ihren Städten ausgewiesen. – Nach dem Tode Stalins 1953 beruhigte sich die Lage etwas, doch folgte um 1958 noch einmal eine Reihe von Prozessen, in denen Deutsche wegen Nationalismus, Chauvinismus und versuchtem Regimesturz verurteilt werden sollten. Im Schwarze-Kirche-Prozess wurden 20 Männer, meist junge Kronstädter, verurteilt, davon neun zu lebenslanger Haft, so auch der damalige Kronstädter Stadtpfarrer Dr. Konrad Möckel.53 Die berüchtigte Securitate, die sich in den 50er Jahren besonders verbrecherisch gebärdete und auch Deutsche in ihren Fängen hatte, spielte in diesem Prozess ebenfalls eine Rolle.54
Zwar wurde in den 50er Jahren ein Teil der antideutschen Gesetze zurückgenommen – deutsche Sprache, Schulen, Theater und Zeitungen wurden wieder zugelassen, das Wahlrecht wieder zuerkannt, Häuser in meist desolatem Zustand wieder zurückgegeben. Auch brachten die allgemeinen Liberalisierungsmaßnahmen in 52 Agrarreformgesetz Nr. 187 vom 23. 3. 1945 mit Durchführungsverordnung v. 11. 4. 1945, dt. Üb. in: Dokumentation der Vertreibung, Bd. III, S. 156 E f. 1945 waren noch 77 % der Deutschen Landwirte, 1956 noch 22 %. 53 S. Karl Dendorfer (einer der Verurteilten), Der Schwarze-Kirche-Prozess . . . und kein Ende?, in: Siebenbürgische Zeitung 25. 7. 2010. 54 Im September 2010 wurde der tragische Fall des Oskar Pastior bekannt, dessen Deportationsschicksal Herta Müller in ihrem preisgekrönten Buch Die Atemschaukel darstellt. Schwer misshandelt von der Securitate, erklärte er sich 1961 unter großem Druck zur Mitarbeit bereit und setzte sich dann 1968 in die Bundesrepublik ab. Als Darstellung eines Betroffenen s. Schlesak, Dieter, Die SECURITATE, Verweigerung und Todesangst. Die zwei Epochen der Securitate. Ihre Foltermethoden, ihre Dissidenten und Informanten. Persönliche Erfahrung, in: Der Freitag v. 30. 1. 2010.
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den sechziger Jahre gewisse Erleichterungen. Aber das Zerstörungswerk war nicht rückgängig zu machen, und der Assimilierungsdruck auf die Minderheiten wuchs. Ceaucescu (1965 – 1989), in den ersten Jahren seiner Amtszeit noch zurückhaltend, verfolgte in den 70er Jahren mit aller Härte seine neue „Homogenisierungspolitik“, die darauf ausgerichtet war, eine einheitliche sozialistische Nation zu schaffen: „Die spezifischen Merkmale der mitwohnenden Nationalitäten werden noch einige Zeit erhalten bleiben, dann jedoch im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen und nationalen Homogenisierung unserer sozialistischen Nation mehr und mehr verschwinden.“55 Die Ausreisebestrebungen wurden – auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande – immer deutlicher. b) Ausreise In den 50er und 60er Jahren verließen zunächst im Wege der Familienzusammenführung 20 000 Volksdeutsche das Land. Die Familienzusammenführung resultierte vor allem daher, dass die rumäniendeutschen Deportierten und Kriegsgefangenen zum großen Teil in die Bundesrepublik entlassen worden waren und die Familien zu sich holen wollten. In den 70er und 80er Jahren folgten weitere 222 500 Volksdeutsche nach. Auf Grund humanitärer Aspekte und vor dem Hintergrund der 1975 unterzeichneten KSZE-Schlußakte schloß die Bundesregierung in den 70er Jahren mit der rumänischen Regierung ein Abkommen, das die rumänische Regierung verpflichtete, jährlich 12 000 – 16 000 Deutsche ausreisen zu lassen gegen Zahlung eines Pauschalbetrages pro Aussiedler in Höhe von 5 000, später 7 800 DM.56 Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Dezember 1989 machten innerhalb eines halben Jahres 111 500 Personen von der neuen Reisefreiheit Gebrauch. Es ging weiter: 1992 waren noch knapp 120 000 Deutsche im Lande. 1997 noch gut 80 000, im Jahr 2002 60 000. Offensichtlich wollte man die schon vor Jahren gefassten Pläne zur Ausreise nicht mehr aufgeben. Man berief sich darauf, dass die Familien, die Freunde, die Nachbarn längst weggegangen waren – der Einwand, hier sei ein durch Gemeinschaftsverhalten ausgelöster Sog entstanden, der es ausschließe, von „freiwilliger“ Individualentscheidung zur Ausreise zu sprechen,57 mag teilweise berechtigt sein. Aber es gab offenbar nach all den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre kein Vertrauen in die rumänische Regierung und eine gesicherte Zukunft. Appelle, Versprechungen und tatsächlich in die Wege geleitete Reformen halfen nicht. So auf der Landeskonferenz der rumänischen KP im Sommer 1972. Zu Bedenken und kritischen Überlegungen des Theologen und Historikers Paul Philippi, eines erklärten Gegners dieser Abmachung, s. Philippi, Die Politik der Bundesregierung gegenüber den Rumäniendeutschen, in: ders., Kirche und Politik, Bd. I, S. 97 f., ferner S. 109 f., S. 224 f. 57 Philippi, ebenda. 55 56
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II. Die Zeit ab 1989: Gegenwart und Zukunft 1. Die Ausgereisten und ihre Organisation in Deutschland Die Deutschen aus Rumänien, die am oder nach Ende des II. Weltkriegs nach Deutschland kamen und hier eine neue Heimat fanden, wurden wie die sonstigen Flüchtlinge aufgenommen und danach als Spätaussiedler in der Regel schnell integriert. Sie waren im Gegensatz zu anderen Spätausiedlern mit der Sprache vertraut und über das Land gut informiert. Nach den hier gebliebenen Kriegsflüchtlingen kamen zwischen 1950 und 1997 insgesamt 430 000 Menschen nach Deutschland: – Rückkehrer aus sowjetischen Arbeits- oder Kriegsgefangenenlagern, die nicht nach Rumänien zurückkonnten oder wollten, – deren Angehörige in Rumänien, denen die Ausreise im Wege der Familienzusammenführung zugestanden wurde, – Spätaussiedler, die unter dem kommunistischen Regime in Rumänien nicht weiterleben wollten oder konnten und oft jahrelang auf ihre Ausreisegenehmigung hatten warten müssen.
Die einzelnen Gruppen, die Siebenbürger Sachsen, Banater etc., werden in der Bundesrepublik durch gut organisierte Landsmannschaften und ihre Unterverbände vertreten.58 Diese stehen mit den entsprechenden Landsmannschaften in den anderen Aufnahmestaaten (Österreich, USA, Kanada) wie auch mit dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien in enger Verbindung. Ebenso treten die Siebenbürger und die Banater Landsmannschaft als Sprecher ihrer Landsleute gegenüber rumänischen Behörden auf – derzeit vor allem in den offenen Fragen der Restitution enteigneten Vermögens. Die Landsmannschaften sind bestrebt, durch regelmäßige Zusammenkünfte, Veranstaltungen und Ausstellungen den Zusammenhalt unter den Mitgliedern, die alten Traditionen und die überlieferte Kultur zu erhalten. Dazu gehören auch die Bemühungen um den Erhalt und die Pflege ihrer hier befindlichen Kulturgüter und 58 Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen mit Sitz der Bundesgeschäftstelle in München, Siebenbürgisches Kulturzentrum mit Museum, Bibliothek und Archiv in Gundelsheim mit Schloss Horneck; dort auch Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturrat; Museum in Gummersbach; Siebenbürgisch Sächsische Stiftung mit Sitz in München, Begegnungsstätte in München mit angeschlossenen Diensten; Siebenbürger Zeitung. Landsmannschaft der Banater Schwaben mit Sitz in München; Donauschwäbisches Zentrum, Haus der Donauschwaben, Sitz des Weltdachverbands in Sindelfingen; Donauschwäbisches Zentralmuseum in Ulm; Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Landsmannschaft der Buchenlanddeutschen mit Zentrum in Augsburg; der dortigen Universität angegliedertes Bukowina-Institut. Verein der Bessarabiendeutschen, Sitz, Museum sowie Archiv in Stuttgart. Landsmannschaft der Dobrudscha- und Bulgariendeutschen fusionierte wegen Auflösungserscheinungen 2009 mit dem Verein der Bessarabiendeutschen in Stuttgart; Patenstadt Heilbronn.
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der dafür geschaffenen Einrichtungen. Ferner betrachten sie es als ihre Aufgabe, Spätaussiedler bei einer identitätswahrenden Integration in Deutschland zu unterstützen. Die Landsmannschaften wurden 1949 duch die damaligen Rückkehrer aus sowjetischen Gefangenen- und Arbeitslagern gegründet. Ihr großes Anliegen war die Familienzusammenführung mit den noch in Rumänien lebenden Angehörigen. Generell hielten die Siebenbürger und Banater Landsmannschaft die Aussiedlung ihrer noch verbliebenen Landsleute für geboten, sie wollten sie vor weiterer kommunistischer Unterdrückung und der befürchteten Assimilierung durch die rumänische Mehrheit bewahren.59 Heute müssen sich die Landsmannschaften der Identitätsfrage stellen: Ist eine Gemeinschaft z. B. der Siebenbürger Sachsen möglich, deren Mitglieder in beliebigen Staaten leben und durch das Bekenntnis zu gemeinsamer Geschichte, Tradition und Geisteshaltung verbunden sind? Oder ist der Einwand berechtigt: Die Gemeinschaft der Sachsen kann nur mit unmittelbarem territorialen Bezug im angestammten Wohngebiet bestehen und sich dort auch den notwendigen Veränderungen stellen, alles andere sei ein „Pseudo-Siebenbürgen“, eine Illusion – man könne die durch Auswanderung aus Siebenbürgen verlassene sächsische Gemeinschaft nicht in der Bundesrepublik aufbauen und wiederfinden.60 Diese Diskussion behandelt eine Grundsatzfrage, die sich in vergleichbaren Minderheitsfällen wohl regelmäßig stellen wird. 2. Die verbliebenen Deutschen a) Gründe für den Verbleib Bei der Volkszählung von 2002 wurden noch etwa 60 000 Menschen gezählt. Die Zahl kann sich wegen der demographischen Struktur weiter etwas verringert haben. Die Gründe, warum Menschen sich nicht in den Ausreisestrom einreihten, sind verschieden. Häufig waren praktische Gründe ausschlaggebend wie Krankheit, Alter, familiäre Bindungen oder die Sorge, in der Bundesrepublik beruflich nicht Fuß fas59 Ihr Konzept stimmte nicht mit den Vorstellungen der Verbliebenen, die evtl. aushalten wollten, und auch nicht mit denen der rumänischen Regierung in den 50er Jahren überein, die offensiv für die Heimkehr der ehemaligen Soldaten und Kriegsflüchtlinge warb und die wichtigsten diskriminierenden Maßnahmen gegenüber den Rumäniendeutschen aus den ersten Nachkriegsjahren zurücknahm. Laut Dekret vom 26. 7. 1955 wurde den ehemaligen Soldaten die Amnestie für alle Vergehen – bis auf Mord – und die automatische Wiedererlangung der rumänischen Staatsangehörigkeit zugesagt, falls sie bis 23. 8. 1956 – später: bis 30. 12. 1958 – ins Land zurückkehrten. 60 So Prof. Philippi, Theologe und Historiker in Hermannstadt, in: „Allfälliges aus dem Jahr 1988“. Kann sich eine Volkskirche wandeln?, in: ders., Kirche und Politik, Bd. I, S. 180 f. (206). Vertreter der Gegenmeinung ist Herr Berndt Fabritius, Bundesvorsitzender der siebenbürgischen Landsmannschaft und Präsident der weltweiten Föderation der Siebenbürger Sachsen.
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sen zu können. Der Grund konnte aber auch in der engen Verbundenheit mit der Gemeinschaft und dem Wunsch liegen, für deren Neuanfang und Fortentwicklung vor Ort zur Verfügung zu stehen und Mitverantwortung zu übernehmen. In der Zeit nach der Wende haben sich für die verbliebenen Deutschen und die anderen Minderheiten darüber hinaus die Rahmenbedingungen für ihre Existenz sehr verbessert. „Die kulturelle, soziale und politische Integrität ist nun gesichert. Die rumänische Regierung anerkennt in ihren Gesetzen und Verordnungen, dass moderner Minderheitenschutz der rechtlichen und politischen Absicherung bedarf“, so das Auswärtige Amt in einer Internet-Stellungnahme aus dem Jahr 2009. Die Angehörigen der deutschen Minderheit profitieren von einer veränderten und verbesserten Rechtslage. b) Die rechtliche Situation aa) Zur Rechtslage nach innerstaatlichem Recht – Verfassung: Die Verfassung von 1991 garantierte die Gleichheit aller Bürger und das Recht der nationalen Minderheiten „auf Bewahrung, Entwicklung und Äußerung ihrer ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität“. Entgegen der Erwartungen insbesondere der ungarischen Minderheit entsprach dies nur dem Standard eines individualrechtlichen Minderheitenschutzes. 61 Die Verfassung von 2003 änderte das nicht ab, wenngleich sie verschiedene Bestimmungen mit minderheitsrechtlichem Bezug und die Garantie des „Rechts auf Identität“ enthält (Art. 6), wie es etwa auch im Dokument des Kopenhagener KSZE-Folgetreffens von 1990 (Art. 32 / 33) formuliert ist. Alle diese verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind jedoch unter den Vorbehalt der Gleichheit und Nichtdiskriminierung hinsichtlich der anderen rumänischen Staatsbürger gestellt.62 – Minderheitenschutzgesetz: Bis heute ist das in der Verfassung vorgesehene, vor allem wegen der Vorstellungen der ungarischen und der Roma-Minderheit sehr umstrittene Minderheitenschutzgesetz nicht zustande gekommen.63 Bei der Aufnahme Rumäniens in den Europarat war die Einführung eines solchen Gesetzes bereits zur Auflage gemacht worden.64 Die Deutschen erwarten sich von dem Gesetz u. a. eine Klärung gewisser Grundlagen und eine Definition des umstrittenen Minderheitenbegriffs. Rumänien tut sich hier schwer, weil es traditionell am Konzept des einheitlichen und unteilbaren Nationalstaats mit zentralistischer Verwaltung fest61 62 63 64
Tontsch, S. 24 f. S. Tontsch, S. 24 f., 37 f. Zu den verschiedenen Entwürfen Tontsch, S. 26 f.; Texte S. 83 f. So Tontsch, S. 25.
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hält.65 Offenbar wird das Gesetzesvorhaben auch stark als Angelegenheit der Minderheiten, nicht der Regierung angesehen, die aus Mehrheitsangehörigen besteht.66 – Wahlgesetz: Die Verfassung wie auch schon das Wahlgesetz von 1990 garantieren unabhängig von der Stimmenzahl den Organisationen und Parteien der Minderheiten einen Parlamentssitz zu. 18 nationale Minderheiten, darunter die deutsche, sind mit einem Abgeordneten vertreten.67 Der starke ungarische Verband, der zugleich als Partei auftritt, ist infolge der hohen Stimmenzahl sogar mit mehreren Abgeordneten vertreten.
Ein „Interministerieller Rat zum Schutz der Minderheiten“ ist für die Einhaltung der neuen Minderheitenpolitik verantwortlich. Er ist als konsultatives Organ der Regierung tätig. Ein Unterstaatssekretär ist von Regierungsseite für Angelegenheiten der deutschen Minderheit zuständig. Seit 2000 ist der Banater Ovidiu Gant in dieser Position beim Departement für Interethnische Beziehungen im Ministerium für Öffentliche Information. – Kulturgüterschutz: Rumänien ist auf diesem Sektor im Rahmen seiner Möglichkeiten auf der Basis einfachgesetzlicher Regelungen tätig. Für die Deutschen ist von Interesse der Bereich Kulturwahrung, unter den die Sachkultur der Minderheiten fällt, so der Denkmalschutz, der die Erhaltung u. a. der siebenbürgischen Ortschaften, Städte und Kirchen umfasst.
Die Gebiete Rumäniens, insbesondere diesseits der Karpaten, sind als Kulturlandschaft von den deutschen Bewohnern entscheidend mitgeprägt worden. Das gilt für sie auch als Landschaft der politischen und sozialen Kultur. Durch die Auswanderung der Deutschen ist das Kulturerbe sehr gefährdet. Konzentrierte Hilfsmaßnahmen sind zu seiner Erhaltung notwendig. Das gilt für historische Bauten, für Archivgut, für die bildende Kunst, das Kunsthandwerk, die Volkskunst. Es besteht nicht nur ein deutsches, rumänisches oder europäisches Interesse, vielmehr ein weltweites Interesse an den herausragenden Baudenkmälern in den deutschen Siedlungsgebieten, insbesondere den Kirchenburgen. Einige von ihnen wurden neben der gesamten Schäßburger „Burg“ in die UNESCOListe des Weltkulturerbes aufgenommen, nämlich die Kirchenburgen in Tartlau, Birthälm, Wurmloch und Deutsch-Weißkirch. Auch andere bedürfen dringend einer Restaurierung oder zumindest Sanierung. Zu entscheiden ist, welche der 140 sächsischen Kirchenburgen in die Förderprogramme aufgenommen68 und Tontsch, 41. Ovidiu Gant, Wir müssen unsere Identität auch politisch bewahren, Interview, in: Deutsches Jahrbuch für Rumänien 2003, S. 26 f., 28. 67 Lahnsteiner, Eva, Maßnahmen positiver Diskriminierung für Minderheiten im rumänischen Wahlrecht, in: ZaöRV 68 (2008), S. 1107 f. 65 66
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welche der verlassenen Kirchen ggf. auch der orthodoxen oder katholischen Kirche überlassen werden – eine ungenutzte, leere Kirche ist die gefährdetste.69 Fragen grundsätzlicher Art stellen sich: Für welchen Zweck und in wessen Interesse wird erhalten? Wer identifiziert sich mit dem historischen Bauwerk? Die Förderung eines „Baudenkmäler-Tourismus“ ist nicht gewollt.70 Zu erwähnen ist eine neuere Regelung zur Rückgabe rechtswidrig enteigneter beweglicher Kulturgüter. Eine Änderung des Artikels 99 des Gesetzes Nr. 182 / 2000 vom 5. 5. 2010 soll eine schnellere Rückerstattung von mobilen Kulturgütern ermöglichen, die während der Zeit des Kommunismus in Rumänien enteignet wurden. Jährlich sollen Teilbestände von Sammlungen, deren Klassifizierungsverfahren läuft, nach Abschluß der Gutachten zurückgegeben werden.71 – Immobilienrückgabegesetz: Ein Bereich, der die Deutschen in Rumänen wie in Deutschland in höchstem Maß interessiert, ist die Frage der Rückgabe während der kommunistischen Zeit enteigneter Immobilien. Derzeit geht es vor allem um über 200 000 fristgerecht eingereichte Restitutions- oder Entschädigungsanträge auf der Grundlage des Immobilienrückgabegesetzes Nr. 10 / 2002, das im verwaltungsrechtlichen Verfahren die Rückgabe von zwischen 6. 3. 1945 und 22. 12. 1989 enteigneter Immobilien, Häuser, Land etc. vorsieht – es sei denn, sie seien weiterverkauft, vermietet oder sonst weitergegeben worden, dann soll entschädigt werden. Ein hierzu ergangener, die Restitution durchweg ablehnender Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 9. 6. 2008 besagt, daß die EMRK nur dann Vorrang vor innerstaatlichem Recht habe, wenn der Rückgabeanspruch „nicht die gegenwärtigen Eigentumsrechte oder die Rechtssicherheit beeinträchtigt“. Klagen beim EGMR wurden hiergegen anhängig gemacht. Der Beschluss könnte als politische Entscheidung ergangen sein, um die jetzigen Besitzer der Häuser vor Herausgabe
68 An den Förderprogrammen sind auch verschiedene Stiftungen und private Geldgebers beteiligt. So ist z. B. die Siebenbürgisch Sächsische Stiftung mit Sitz in München seit 1992 in guter Zusammenarbeit mit den zuständigen rumänischen Behörden und mit dem Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche sowie der Messerschmitt-Stiftung, ebenfalls mit Sitz in München, die den World Monuments Fund (WMF) für die Mitarbeit gewann, an der Restaurierung und Instandhaltung einiger Baudenkmmäler maßgeblich beteiligt. Prinz Charles von Großbritannien hat Förderprojekte zugunsten u. a. von Schäßburg, Birthälm und DeutschWeißkirch in die Wege geleitet. 69 Vlad, Monica, Schutz von Kulturgütern durch Rumänien, in: Gornig, G. H. / Horn, H.D. / Murswiek, D. (Hrsg.), Kulturgüterschutz – internationale und nationale Aspekte (Staatsund völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht), Bd. 24, 2007, S. 220 f., zum Problem der Kirchendiebstähle in Verbindung mit der Frage: Hat die Kirche der Deutschen in Rumänien eine Zukunft? 70 Zum Ganzen und auch zu zurückliegenden Erhaltungsmaßnahmen für Hermannstadt Architekt Fabini, Hermann, Die Baukunst der Siebenbürger Sachsen. Inforrmationen zu Siebenbürgen am Beispiel Hermannstadts und der Kirchenburgen. Ein Rück- und Ausblick, http: //www.siebenbuerger.de. 71 http: //www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/schlagworte/eigentumsrueckgabe.
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zu schützen und ihnen zu ermöglichen, bei Rechtskraft der Entscheidung die einmal billigst erworbenen Häuser teuer verkaufen zu können. Das würde z. B. dazu führen, dass die Richter oder Securitate-Angehörigen, die nach dem Kronstädter Schwarze-Kirche-Prozess von 1958 die elterliche Villa eines der – längst offiziell rehabilitierten – Verurteilten übernahmen, diese nun endgültig behalten oder weiterveräußern könnten, während er auf eine Entschädigung verwiesen würde, um die es ihm nie gegangen ist und die nach neuer Regelung auch nur minimal ausfiele. bb) Rechtslage nach Europa- und Völkerrecht Dem Schutz der deutschen wie der anderen Minderheiten kommt ferner zugute, dass Rumänien auch international in ein mehr oder weniger verbindliches Schutzsystem eingebunden ist. – UN-Recht: Schon vor der Wende war Rumänien den UN-Pakten für Menschenrechte beigetreten. Mehr als Art. 27 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte bietet die von der Generalversammlung im Dezember 1992 verabschiedete „Erklärung über die Rechte von Angehörigen nationaler, ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten“ Orientierung für die Rechte von Minderheiten. Rechtsverbindlichkeit hat aber auch sie nicht; schon über den Begriff der Minderheit wurde keine Einigkeit erlangt. – Europarecht: Auf europäischer Ebene hat Rumänien das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. 2. 1995 unterzeichnet und am 29. 4. 1995 ratifiziert.72 Staatsberichte wurden 1999 bzw. 2005 vorgelegt. Auch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 22. 6. 199273 wurde 1995 unterzeichnet. Die Europäische Menschenrechtskonvention nebst Zusatzprotokollen hat Rumänien schon 1994 ratifiziert74; auf Grund des Protokolls Nr. 9 hat es seinen Staatsbürgern den Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Straßburg eröffnet.75
Seit 1. 1. 2007 ist Rumänien Mitglied der EU und damit deren menschen- und minderheitenrechtlichen Vorgaben unterworfen. In Art 2 des Lissabon-Vertrages von 2009 sind die europäischen Minderheiten erstmals als ein schützenswertes 72 Text in Streinz, Rudolf (Hrsg.), 50 Jahre Europarat. Der Beitrag des Europarats zum Regionalismus, 2000, S. 134 f. 73 Text in EuGRZ 1993, S. 154 f. 74 MO 1994 Nr. 135, S. 1. 75 Zum Ganzen Tontsch, S. 59 f. Zum Minderheitenschutz im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention s. Hillgruber, Ch. / Jestaedt M., Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten, 1993.
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europäisches Erbe genannt. Das ist ein Fortschritt. Bisher musste man sich mangels weiterer Normierung mit der Erkenntnis begnügen, daß Ziel- und Strukturvorgabe der Integration eindeutig die Anerkennung und Achtung der Vielfalt der Kulturen sind, dass die Vielfalt ein Strukturelement des Integrationsprozesses ist.76 Mangels praktikabler Rechtsvorschriften kommt es weiterhin auf die spezifischen Regelungen in bilateralen Verträgen an.77 Der Minderheitenschutz ist aus EU-Sicht vorrangig eine Sache der Mitgliedstaaten. cc) Bilaterale Verträge Rumänien hat mit den Mutterstaaten seiner Minderheiten ein System bilateraler Verträge abgeschlossen, zuletzt und stark umkämpft auch mit Ungarn. Die Verträge stellen im bilateralen Verhältnis klar, daß Rumänien die Minderheitsangelegenheiten nicht als „innere Angelegenheit“ betrachten kann. Der Vertrag über Freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien vom 21. 4. 1992 macht es sich zur Aufgabe, die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für das künftige Überleben der deutschen Minderheit in Rumänien zu sichern und stellt Förderprogramme für den landwirtschaftlichen, medizinischen, sozialen, Schul-, Jugend- und Kultursektor auf. Von 1990 bis 1995 gab die Bundesregierung dafür 122 Mio. DM aus, im Jahr 2009 waren es rund 2,5 Mio. Euro von deutscher und 1,3 Mio. von rumänischer Seite. Im Jahr 2010 waren es 1,7 Mio. Euro von deutscher und 1,17 Mio. von rumänischer Seite.78 Das Auswärtige Amt stellt 2010 540 000 Euro für kulturelle und bildungspolitische Maßnahmen zur Verfügung. Die Bundesregierung schreibt den Minderheiten wegen ihrer Erfahrungen mit verschiedenen Menschen, Kulturen, verschiedenen Sprachen und politischen Systemen eine vermittelnde Brückenfunktion zwischen den Staaten zu und unterstützt sie daher konsequent.
c) Die für die Verbliebenen wichtigen Organisationen aa) Das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien Die Bundesregierung steht auch mit dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) in Verbindung. Dieses Forum hat sich als Verband und wichtige Interessen-, vor allem aber auch als politische Vertretung der deutschen Minderheit direkt nach der Wende gebildet. Er vertritt alle deutschen Gruppen in Rumänien, auch die verbliebenen Einzelpersonen etwa in Bessarabien, und ist Ansprechpartner für die Bundesregierung wie auch für die rumänische Regierung.
76 77 78
S. z. B. Opitz Maximilian, Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union, 2007. Oeter, S. 169, 170 m. Anm. 29. 20. 9. 2010 http: //www.pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm.
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Er hat einen Landesverband und ist mit seinen fünf Regional-, den Orts- und Zentrumsforen im ganzen Land erreichbar. DFDR-Vorsitzender ist derzeit der Hermannstädter Bürgermeister Klaus Johannis. Seit 2000 gewann das DFDR auf kommunal- und regionalpolitischer Ebene an Bedeutung. Wie in Hermannstadt gibt es auch in einigen anderen Orten und politischen Gremien deutsche Bürgermeister und Vorsitzende. Das Demokratische Forum ist das wichtigste Standbein der deutschen Minderheit in Rumänien. bb) Die evangelische und katholische Kirche Für das Gemeinschaftsleben der Deutschen spielen nicht zuletzt die evangelische und katholische Kirche weiterhin eine bedeutende Rolle. Traditionell hatte die Evangelische Landeskirche A.B. als Volkskirche und autonomer Träger des deutschsprachigen Schulwesens eine wichtige volkstumserhaltende Funktion. Sie ist weiterhin vom volkskirchlichen Grundsatz der Identität von Sprach- und Kirchengemeinde getragen. Ungeachtet aller Irritationen durch die Zeitgeister der Vergangenheit und des Dahinschwindens der Pfarrgemeinden durch die Ausreise von Gemeindemitgliedern und Pfarrern stellt sie für die Verbliebenen neben dem Forum das unverzichtbare zweite Standbein der Gemeinschaft dar. Die Kirche lebt jedoch insbesondere auf dem Land in einer extremen Diasporasituation mit besonderen Herausforderungen an die Pfarrer und mitarbeitenden Laien, die die alte große Gemeinde als Identifikationsfigur ersetzen müssen. Sie steht vor der Frage, wie sich die weitere Zukunft gestalten wird. Ein Vertreter der Kirche sagt dazu:79 Es ist auf volkskirchlicher Basis in Anpassung an die Gegebenheiten davon auszugehen, dass die Kirche nicht von ihrer Größe, sondern von ihren Aufgaben lebt. Auch die ethnische wie die ökumenische Öffnung dürfen kein Hindernis für die Identitätswahrung darstellen. Um der Gemeinschaft willen ist der Beharrungswillen der Verbliebenen zu stärken.
Resümee Die deutschen Gemeinschaften, die auf dem Gebiet des heutigen rumänischen Staates lebten oder leben, unterschieden sich nach Herkunft, Zeit und Ort der Ansiedlung. Sie hatten eine jeweils andere Geschichte. Jede Gruppe zeichnete sich durch eine Aufbauleistung ersten Ranges aus. Die Bessarabiendeutschen haben mit ihren Dorf- und Glaubensgenossen die Landwirtschaft und Viehzucht ihrer Region gefördert. Die ungeheure Aufbauleistung der Banater war eine Leistung ihrer Dorf79 Philippi, Veränderte Aufgaben der Siebenbürgischen Kirche? in: ders., Kirche und Politik, Bd. I, 2006, S. 114 f.
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gemeinschaften, die im ganzen Reich höchste Anerkennung fand. Die Magyarisierung verhinderte, dass sich eine geistige Führungsschicht entwickeln konnte wie in Siebenbürgen. Die herausragende Bedeutung der Siebenbürger Sachsen liegt zum einen im Aufbau eines demokratischen, hervorragend organisierten Gemeinwesens schon im Mittelalter, das Qualitäten voraussetzte, die vorgelebt und in langer Tradition an die Nachkömmlinge weitergegeben wurden: Freiheits- und Selbstbewußtsein, Tatkraft, Unabhängigkeit. Die Sachsen haben den Beweis erbracht, daß die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nicht zu Loyalitätskonflikten mit den Mehrheitsgruppen und dem Staat führen muß. Sie haben seit Jahrhunderten europäische Brücken geschlagen. Sie hatten stets wirtschaftliche und geistige, aber nie politische Beziehungen zum deutschen Sprachraum und Zentraleuropa. Die Jugend war es, Studenten, Handwerker, die sich auf den Weg nach Mitteleuropa machten. Die ethnische wie religiöse Vielfalt, die in Siebenbürgen – und auf etwas andere Weise in der Kultur- und Literaturregion der Bukowina – vorgelebt wurde, ist eine Bereicherung für Rumänien und für ganz Europa. Die Minderheit braucht aber mehr als nur Toleranz durch den Wohnsitzstaat, mehr als formale Gleichberechtigung, wenn sie sich zum Wohl des Ganzen entwickeln soll. Der Angehörige einer Minderheit will kein Objekt, sondern ein Subjekt und in die Gestaltung seines Gemeinwesens mit eingebunden sein. Auch das lehrt das Beispiel Siebenbürgens. Die Gemeinschaften in Rumänien wurden beeinträchtigt durch Gedanken der Aufklärung, dann vor allem die nationalistischen Ambitionen ihrer Heimatstaaten. In die Knie gezwungen haben sie erst die Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Der Rechtsstaat und der Rechtsstatus der Minderheiten gehörten zum Erfahrungsschatz des Landes. Diese wurden durch schwere rechtswidrige Eingriffe bei Kriegsende verletzt, der Vertrauensverlust war ungeheuer. Heute brauchen die Verbliebenen, um überleben, ihre Identität wahren und die ihnen auch durch die deutsche und rumänische Regierung zugeschriebene Brückenfunktion weiter ausfüllen zu können, die Unterstützung dieser beider Staaten, aber darüber hinaus das Interesse und die Aufmerksamkeit durch ganz Europa. Die Karpathenregion liegt nicht am Rande, sondern mitten in Europa.
Von der Universitätsgründung bis zur Errichtung eines Seminars für Völkerrecht – Charles Chaumont, Hans Wiebringhaus, Friedrich August Freiherr von der Heydte, Karl Zemanek, Ignaz Seidl-Hohenveldern und Wilhelm Karl Geck als Repräsentanten des Fachgebiets Völkerrecht an der Universität des Saarlandes Von Wolfgang Müller*
Als erste nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründete linksrheinische Hochschule entstand die Universität des Saarlandes in der damaligen Sondersituation des politisch teilautonomen und ökonomisch durch Wirtschafts- und Währungsunion mit Frankreich verbundenen Saarlandes. Mit europäischer Perspektive und unter Verschmelzung französischer und deutscher Bildungstraditionen öffnete die seinerzeit zweisprachige Hochschule im November 1948 ihre Pforten, und ihre wechselvolle Geschichte ist bereits durch zahlreiche, insbesondere durch das Universitätsarchiv erarbeitete Publikationen beleuchtet worden.1 Vornehmlich basie* Mit diesem Beitrag zur Entwicklung des Fachgebiets Völkerrecht an der Universität des Saarlandes reiht sich auch der Universitätsarchivar in den weiten Kreis der Gratulanten ein und wünscht Herrn Prof. Fiedler alles Gute, Gesundheit, Glück und Segen für die kommende Zeit. 1 Vgl. dazu die Angaben unter http: //www.uni-saarland.de/info/universitaet/geschichte/ literatur-zur-geschichte/literatur-von-dr-wolfgang-mueller.html. Zur Geschichte der Juristischen Fakultät vor allem Ignaz von Seidl-Hohenveldern, Erinnerungen an die Saarbrücker Universität, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40, 1992, S. 189 – 199. Werner Maihofer, Vom Universitätsgesetz 1957 bis zur Verfassungsreform 1969. Persönliche Erinnerungen an eine bewegte Zeit der Universität des Saarlandes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 22, 1996, S. 373 – 403. Wolfgang Müller, Ulrich Stock und Ernst Seelig. Biographische Skizzen zu zwei Professoren der frühen Jahre der Universität des Saarlandes, in: Heinz-Günther Borck unter Mitarbeit von Beate Dorfey (Hrsg.): Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500 bis 2000. Gemeinsame Landesausstellung der rheinland-pfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz Band 98), Koblenz 2002, S. 210 – 228. Wolfgang Müller, „Wir leben jetzt in einer sehr interessanten Übergangszeit“ – Prof. Dr. Rudolf Schranil (1885 – 1956) als Jurist an den Universitäten in Prag, Halle und Saarbrücken, in: Tiziana J. Chiusi / Thomas Gergen / Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 643 – 682.
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rend auf bio-bibliographischen Recherchen bietet der folgende Beitrag einen weiteren universitätsgeschichtlichen Mosaikstein und erinnert an die Saarbrücker Jahre einiger Wissenschaftler, die von der Universitätsgründung bis zur Errichtung eines Seminars für Völkerrecht dieses Fachgebiet repräsentiert haben.
Charles Chaumont Erstmals ist in den Vorlesungsverzeichnissen zum Studienjahr 1950 / 51 eine in französischer Sprache gehaltene Vorlesung „Völkerrecht“ des Lehrbeauftragten Charles Chaumont2 nachgewiesen, der das Fach „Droit International Public“ als Professor an der Juristischen Fakultät Nancy lehrte, außerdem als Chef du Département des Sciences politiques au Centre Européen Universitaire de Nancy sowie als Professor der Juristischen Fakultät in Paris am „Institut des Hautes Études Internationales“ fungierte und juristischer Berater des Quai d’Orsay, Mitglied der französischen Delegation bei der Generalversammlung der gerade aus der Taufe gehobenen UNO und des Exekutivkomitees der „Assocation française“ für die Vereinten Nationen war. Da die Universität des Saarlandes unter der Ägide der Universität Nancy entstanden war und zahlreiche Professoren aus Nancy in Saarbrücken lehrten,3 überrascht es kaum, dass auch dieser am 18. Dezember 1913 geborene Wissenschaftler kurzzeitig zu den Dozenten der neuen Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gehörte. Nach seinen Veranstaltungen im akademischen Jahr 1950 / 51 hielt er an der Saar erst wieder 1954 / 55 Lehrveranstaltungen zum „Recht der Vereinten Nationen“ und zu „Problemen der Organisation internationaler Gemeinschaften“ sowie 1955 / 56 zu „Droit International Public“ sowie „Droit des Organisations internationales“. Zuletzt bot er dann im Wintersemester 1956 / 57 eine Vorlesung und ein Seminar zum Völkerrecht an.
2 Die folgenden Angaben sind der im Universitätsarchiv Saarbrücken (Uni A SB) verwahrten Saarbrücker Personalakte entnommen. Zu Chaumonts wissenschaftlichem Œuvre unter anderem: Le droit des peuples à disposer d’eux-mêmes. Méthodes d’analyse du droit international. Mélanges offerts à Charles Chaumont, Paris 1984 (Bibliographie XXIII – XXVII). Zuletzt das im ersten Heft der Revue Belge du Droit International 2004 veröffentlichte Dossier: Actualité de la pensée de Charles Chaumont mit dem Vorwort von Jean Salmon (S. 253 – 254) und den Beiträgen von Emanuelle Jouannet, La pensée juridique de Charles Chaumont (S. 258 – 289) und Monqiue Chemillier-Gendreau, Actualité de la pensée de Charles Chaumont et perspectives du droit international (S. 290 – 308) sowie der Adresse remise au professeur Charles Chaumont par la Faculté de Droit de l’Université libre de Bruxelles – Mai 1971 (S. 309 – 317). 3 Vgl. dazu Wolfgang Müller, „Dieses Institut am Leben zu erhalten und zu entwickeln“. Impressionen zur Kooperation der Medizinischen Fakultäten Homburg / Saar und Nancy, in: Wolfgang Müller (Hrsg.), Unter der Ägide der Universität Nancy. Streiflichter zur Gründung des Homburger Hochschulinstituts vor 60 Jahren, aktualisierter Nachdruck Saarbrücken 2009, S. 4 – 21, inbseondere S. 12 – 13.
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Hans Wiebringhaus Zu den prägenden und einflussreichen Mitarbeitern der Juristischen Fakultät zählte seinerzeit der im Oktober 1925 in Köln geborene und seit 1937 in Saarbrücken lebende Hans Adolf Hugo Wiebringhaus,4 der nach seiner Studienzeit in Caen und dem Erwerb des „Diplôme d’Études Supérieures de Droit Privé“ als Stipendiat der Regierung an die junge Universität des Saarlandes wechselte und seit dem Wintersemester 1949 als auch Verwaltungsaufgaben übernehmender Assistent fungierte. Dabei pflegte er enge Verbindungen zu dem ihm bereits aus Caen bekannten und seit Herbst 1950 in Saarbrücken wirkenden Rektor Joseph-François Angelloz.5 Das vertrauensvolle Verhältnis zum Rektor dokumentierte unter anderem die zeitweilige Überlegung, Wiebringhaus zum Rektoratssekretär zu ernennen, wobei allerdings die Universitätsgremien dann doch im Interesse des Kandidaten einen wissenschaftlichen Assistenten nicht mit einer solch ausschließlich administrativen Aufgabe betrauen wollten. Ohnehin hatte der junge Assistent recht früh diverse völkerrechtliche und rechtsvergleichende Miszellen – etwa über den britisch-iranischen Ölstreit, Kompetenzsphären im vergleichenden Völkerrecht oder über die Gültigkeit ausländischer Scheidungsurteile – sowie Tagungsberichte6 publiziert, im Lehrprogramm der Fakultät diverse Übungen übernommen und beispielsweise in einem am 10. Januar 1951 in „Radio Saarbrücken“ gesendeten Beitrag über den an der heimischen Universität möglichen, der französischen Tradition folgenden, jedoch in Deutschland unüblichen Studiengang „Lizenz der Rechtswissenschaften“ informiert. Während ihres Kongresses im Herbst 1951 verlieh ihm die Haager Völkerrechtsakademie ihr seinerzeit selten vergebenes „Diplôme de Droit international public et privé“, und unter anderem knüpfte er im Januar 1952 über einen befreundeten Diplomaten im spanischen Außenministerium Verbindungen zur Universität Madrid, um so zwei Stipendiaten für das gerade aus der Taufe gehobene Saarbrücker Europa-Institut zu gewinnen. Am 4. Juli 1952 folgte mit seiner vom Referenten Prof. Dr. Franz Schäfer7 und den beiden Koreferenten François Luchaire und André Joly betreuten Saarbrücker Dissertation „Bei4 Die folgende Darstellung basiert vor allem auf der im Uni A SB verwahrten Personalakte (PA Wiebringhaus). 5 Vgl. August Stahl, Joseph-François Angelloz 1893 – 1978, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Germanisten im Osten Frankreichs (Annales Universitatis Saraviensis Philosophische Fakultät Band 19), St. Ingbert 2002, S. 57 – 81. 6 Vgl. unter anderem Hans Wiebringhaus, Kompetenzsphären im modernen Völkerrecht, in: Annales Universitatis Saraviensis Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Droit Économie 2, 1952, S. 125 – 144. Rechtliche Probleme der Europäischen Integration. Bericht über eine Studientagung von Hörern der Haager Akademie für Internationales Recht in Saarbrücken vom 3. bis 8. Juni 1952, in: Ebenda 3, 1952, S. 220 – 224. Die Entscheidung des Haager Gerichtshofes im Britisch-Iranischen Ölstreit, in: Ebenda 1 / 2, 1953, S. 70 – 83. 7 Zu Leben und Wirken Franz Schäfers demnächst Markus Gehrlein, Franz Schäfer. Ein Juristenleben vom Kaiserreich zum Bonner Grundgesetz (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe Band 20), Karlsruhe 2010.
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trag zur Lehre vom Gesetze der funktionellen Verdoppelung innerhalb einer universalistischen Theorie des Internationalprivat- und Völkerrechts“ die Promotion.8 Der gerade Promovierte versäumte es nicht, gemeinsam mit Rektor Angelloz dem damaligen saarländischen Kultusminister umgehend ein Exemplar der Dissertation zu übersenden, die diesem dann „einen weiteren Einblick in die wissenschaftliche Arbeit unseres saarländischen Nachwuchses“ ermöglichte.9 Auch Justizminister Heinz Braun flößte die „Doktorarbeit des Herrn Wibringhaus (sic!) mächtigen Respekt ein“ und vermittelte „nach außen hin einen ausgezeichneten Eindruck . . . Ich hoffe, dass ich Zeit finde, mich einmal in die Arbeit zu vertiefen.“10 Der französische Botschafter an der Saar Gilbert Grandval wurde ebenfalls mit einem Exemplar bedacht und würdigte den jungen Doktor gegenüber dem Rektor als „un excellent élément de la Faculté de Droit et qui, par sa formation intellectuelle, représente bien l’esprit européen de votre Université.“11 Bereits in den folgenden Semestern übernahm Wiebringhaus Seminare am 1951 als „Krone und Symbol“ der Universität des Saarlandes gegründeten Europa-Institut über „Völkerrechtliche Betrachtungen zur europäischen Organisation“ und erwies sich bald nach dem Urteil des Gründungsdekans der Juristischen Fakultät Félix Senn „en toutes occasions“ als ein „bon ambassadeur, à l’étranger, de l’Université de la Sarre“.12 Insbesondere pflegte er intensive Kontakte zur Haager Völkerrechtsakademie, begleitete Saarbrücker Studierende mehrfach zu deren Sitzungen oder referierte selbst bei deren Kongressen. Angesichts seiner zahlreichen Reisen sah sich Rektor Angelloz wegen der Gleichbehandlung der anderen Assistenten einmal gehalten, seine finanziellen Mittel zu limitieren und ihn zu verpflichten, bei der besuchten Tagung auch Dokumentationen und Werbebroschüren über die Universität des Saarlandes zu verteilen. 1953 wurde Wiebringhaus zum Vorsitzenden der Vereinigung der ehemaligen Absolventen der Haager Völkerrechtsakademie gewählt. Im Saarland hatte sich übrigens bereits im November 1951 unter der Präsidentschaft des damaligen Justizministers Erwin Müller eine in Saarbrücken residierende „Saarländische Gruppe der Hörer und ehemaligen Hörer der Haager Akademie für Internationales Recht“ 8 Vgl. dazu die in der Personalakte als Kopien überlieferten Rezensionen des an der Universität Valencia lehrenden Professors A. Miaja de la Muela, Manuel de droit international privé, Madrid 1954, S. 179 – 180, von A. Rossignol in Revue de droit public et de la science politique en France et à l’étranger 1954, S. 256 – 259 sowie H.A.H. in Revue générale de droit international public 1954, S. 149 – 155. Vgl. außerdem die Besprechung Horst Möllers im Jahrbuch für internationales Recht 6, 1956, S. 350 – 351. Zur positiven Zitelmann-Rezeption durch Wiebringhaus jetzt auch Thomas Decker, Das kollisionsrechtliche Werk Ernst Zitelmanns (1852 – 1923). Ein Konzept für die zukünftige Gestaltung des Internationalen Privatrechts?, Diss. Osnabrück 2004, S. 124. 9 Vgl. den in der PA Wiebringhaus überlieferten und mit dem Eingangsvermerk 21.2. versehenen Brief des Ministers Franz Singer an Rektor Angelloz. 10 Ebenda, Minister Heinz Braun an Angelloz 23. Februar 1953. 11 Ebenda, Botschafter Grandval an Angelloz 24. Februar 1953. 12 Ebenda, Dekan Senn an Angelloz 20. Oktober 1952.
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mit dem Ziel gebildet, „die geistigen Beziehungen zwischen ehemaligen saarländischen Hörern der Haager Akademie für Internationales Recht zu festigen und zu vertiefen und in Zusammenarbeit mit der AAA in Haag zur Fortsetzung eines internationalen Gemeinschaftsgefühls tätig zu sein.“ Ferner waren „zukünftige Hörer und sonstige Interessenten mit Wesen und Aufgabe der Haager Akademie bekannt zu machen und eine Teilnahme an den alljährlichen Sessionen der Akademie zu erleichtern.“13 Bereits im Juni 1952 fand dann eine Studienkonferenz in Saarbrücken zu „Les problèmes juridiques d’intégration européenne“ statt, in deren Verlauf auch der bekannte französische Politiker und Gastprofessor an der Universität des Saarlandes André Philip, französische Professoren sowie der Bonner Ordinarius für Völkerrecht Walter Schätzel14 referierten. Dabei warnte Schätzel in seinem Beitrag über die „Saar und Europa“ davor, „in der Saarfrage die politischen Leidenschaften zu einem aussichtslosen Kampfe aufzuputschen. Er wisse keinen kompetenteren Vermittler mit objektiver Urteilskraft als die Institution der Haager Akademie, deren Autorität er die Saarfrage zu eingehendem Studium empfahl.“15 Ebenfalls unter maßgeblicher Beteiligung von Hans Wiebringhaus folgte dann im Mai 1954 in Saarbrücken mit internationalen Referenten der sechste Kongress der „Association des Auditeurs et anciens Auditeurs de l’Académie de Droit International de La Haye“. Dabei bot sich auch den Besuchern der Universität eine „impression inoubliable; car elle leur montre surtout comment des choses faites pour la guerre – une caserne – peuvent être transformées dans une œuvre de paix et de coopération internationale.“ 16 1953 referierte er unter anderem bei der Tagung des Österreichischen EuropaKomitees über die „rechtlichen Grundlagen der europäischen Gemeinschaft“ und hielt dort einen Radiovortrag zur Saarfrage, bei der Völkerrechtstagung der Universität Valladolid präsentierte er Betrachtungen über „Rechtliche und politische Probleme des internationalen Föderalismus“ sowie „Föderalistische Verwirklichungen in Europa“ und legte maschinenschriftlich vervielfältigte „Vergleichende Betrachtungen des französischen und saarländischen Verfassungsrechts“ als „Vorlesungsunterlage für Studierende der (Saarbrücker) Fakultät“ vor.17 Mehrfach widmete sich „der Assistent für Völkerrecht und Internationales Privatrecht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät“ in Aufsätzen und Vorträgen Vgl. dazu Uni A SB Sammlung Hütten 1, Satzung, vor allem Artikel 2. Vgl. Daniel-Erasmus Khan, Schätzel, Walter, in: Neue Deutsche Biographie 22, 2005, S. 527 – 528 [Onlinefassung]: URL:http: //www.deutsche-biographie.de/artikelNDB_pnd 118794884.html. 15 Vgl. dazu die umfassende Dokumentation in Uni A SB Sammlung Hütten 4. Das Zitat stammt aus einem ungezeichneten Zeitungsartikel: Dr. Lorscheider und Prof. Schätzel vor der Studientagung. 16 Vgl. dazu Uni A SB Sammlung Hütten 5. Das Zitat stammt aus dem Rapport du sixième congrès de l’AAA – Sarrebruck 3 – 10. Mai 1954, S. 5. 17 Vgl. zu den diversen Publikationen auch die im Uni A SB verwahrte Sammlung Wiebringhaus. 13 14
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der seinerzeit politisch brisanten und kontrovers diskutierten Saarfrage. Bereits im Dezember 1952 hatte er in der vom Justiz- und Finanzministerium herausgegebenen „Saarländischen Rechts- und Steuerzeitschrift“ „einige grundsätzliche Bemerkungen zur völkerrechtlichen Stellung Deutschlands und des Saarlandes“ veröffentlicht, die nach seinem Fazit „endgültig nur durch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages unter Mitwirkung der vier interessierten Großmächte gelöst oder besser noch durch Inanspruchnahme einer wirklich übernationalen Institution geregelt werden“ könne.18 Im „Archiv des Völkerrechts“ beleuchtete er am Beispiel der aktuellen Saarverträge des Jahres 1953 „Die Entwicklung des Vertragsverhältnisses zwischen der Saar und Frankreich“, das sich aus seiner Sicht von einem „Quasi-Protektorat“ zur „Unionstreuhandschaft“ entwickelte und nun von einem System der Gleichberechtigung abgelöst wird, das naturgemäß noch einige Beschränkungen enthält, sich aber doch bemüht, den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen beider Parteien gerecht zu werden.“19 In weiteren Aufsätzen betrachtete er „Die Auswirkungen der Abkommen über europäische Organisation auf die Verfassung des Saarlandes“20 sowie „Die derzeitige rechtliche Stellung des Saarlandes unter besonderer Berücksichtigung des 1. und 2. Teiles des Berichtes von Van der Goes van Naters“. Dabei verteidigte er den eigenständigen Weg des Saarlandes und betonte unter anderem, „daß es sich bei der Saar um eine außerhalb der Kompetenzsphäre der Deutschen Bundesrepublik liegende Frage handelt“,21 „dass die bisher an der Saar geschaffene Situation der politischen Sezession des Saarlandes von Deutschland auf jeden Fall, auf Grund der Entscheidung der alliierten Besatzungsmächte als Inhabern der deutschen Souveränität, bis zum Abschluß eines Friedensvertrages als zu Recht und bis dahin definitiv bestehende Situation aufrechtzuerhalten ist. Jedes politische Regime, das sich an der Saar auf diesem Prinzip der politischen Unabhängigkeit von Deutschland (und zudem auf innerstaatliche legitimen Vorgängen) gründet, besteht daher zu Recht.“22
18 Vgl. Hans Wiebringhaus, Zur völkerrechtlichen Stellung Deutschlands und des Saarlandes. Einige grundsätzliche Bemerkungen, in: Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 4, Dezember 1952, S. 97 – 101, Zitat S. 101. 19 Vgl. Hans Wiebringhaus, Die Entwicklung des Vertragsverhältnisses zwischen der Saar und Frankreich, in: Archiv des Völkerrechts 4, 1953 / 54, S. 323 – 333, Zitat S. 333. 20 Vgl. Hans Wiebringhaus, Die Auswirkungen der Abkommen über europäische Organisation auf die Verfassung des Saarlandes, in: Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 7, 1955, S. 3 – 6 und 37 – 40. 21 Vgl. Hans Wiebringhaus, Die derzeitige rechtliche Stellung des Saarlandes unter besonderer Berücksichtigung des 1. und 2. Teiles des Berichtes von Van der Goes van Naters, in: Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 5, 1953, S. 53 – 57, Zitat S. 56. Eine französische Version erschien unter dem Titel Hans Wiebringhaus, La situation juridique de la Sarre à la lumière des 1ère et 2ième parties du rapport de M. Van Der Goes Van Naters sur le statut futur d’une Sarre européisée, in: Annales Universitatis Saraviensis Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Droit Économie 3, 1 – 2, 1954, S. 108 – 120. Diese Ausgabe war als „Mélanges Senn“ dem Gründungsdekan der Juristischen Fakultät Félix Senn gewidmet worden. 22 Vgl. ebenda, S. 56.
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Es überrascht kaum, dass diese prononcierte Positionen in den saarpolitischen Auseinandersetzungen jener Tage Kontroversen23 auslösten, zumal Wiebringhaus am 20. November 1953 auch in der „Saarländischen Volkszeitung“ das „Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Saarfrage“ analysiert und sich kritisch mit Äußerungen des Liberalen Thomas Dehler auseinandergesetzt hatte, worauf die „Deutsche Saar-Zeitung“ in einer ganzseitigen, unter dem Pseudonym Hans-Joachim Hagemann veröffentlichten Abhandlung Helmut Lauks über „Das Selbstbestimmungsrecht und die Saar“ den „Zweckartikel“ „richtig stellte“.24 Schließlich thematisierte die „Deutsche Saar-Zeitung“ den im August 1951 erfolgten Erwerb der saarländischen Staatsbürgerschaft durch Wiebringhaus und richtete im Januar 1954 ihren „Scheinwerfer“ auf den nicht habilitierten und ohne Referendar- und Assessorexamen agierenden saarländischen „Völkerrechtsexperten“, der nach einer „engstirnigen schulmäßigen Heranbildung an der Saarbrücker Universität“ nun für „die politischen Wünsche und Forderungen der separatistischen Brot- und Auftraggeber“ „als offizieller Vertreter des „Saarlandes“ und als wissenschaftlich aufgemachter Sprecher für die angeblichen saarländischen Völkerrechtsansprüche in die Welt“ geschickt werde und dessen Plädoyer für „Hoffmanns Separatismus“ bei der Tagung der Deutschen Burschenschaften in Berlin „im Gelächter unterging“.25 Interessanterweise kritisierte der bekannte Bonner Völkerrechtler Prof. Dr. Walter Schätzel in einem ausführlichen Schreiben an das „Saarreferat“ des Auswärtigen Amtes diese negative Bewertung der doch als „wesentliche Stütze des Deutschtums an der Westgrenze“ geltenden Saarbrücker Universität.26 Auch Hans Wiebringhaus „gehört an und für sich zum guten wissenschaftlichen Nachwuchs“ und „wäre durchaus als Habilitand an einer deutschen Universität in Frage gekommen“.27 In seiner Antwort zeigte sich Saarreferent Thierfelder jedoch „etwas bedenklich . . . bezüglich Herrn Wiebringhaus. Sein neuester Artikel über die rechtliche Stellung des Saarlandes stellt tatsächlich den Versuch dar, die Waffen des 23 Vgl. dazu auch die die gesamte völkerrechtliche Diskussion um die Saar umfassend kritisch dokumentierende Darstellung bei Herbert Elzer, Konrad Adenauer, Jakob Kaiser und die „kleine Wiedervereinigung“. Die Bundesministerien im außenpolitischen Ringen um die Saar 1949 bis 1955 (Geschichte, Politik und Gesellschaft Band 9), St. Ingbert 2007. Zu Wiebringhaus unter anderem S. 844 – 847, 882 – 883. 24 Vgl. Hans Joachim Hagmann, Das Selbstbestimmungsrecht und die Saar. Richtigstellungen zu einem Zweckartikel der „Saarländischen Volkszeitung“, in: Deutsche Saar-Zeitung, 2. Dezember-Ausgabe 1953, S. 4. 25 Vgl. Im Scheinwerfer. Dr. Hans Wiebringhaus der saarländ. „Völkerrechtsexperte“, in: Deutsche Saar-Zeitung, Januar 1954, S. 3. 26 Vgl. dazu insgesamt Wolfgang Müller, „Primär französisch gesteuerte und orientierte Einrichtung“ oder „wesentliche Stütze des Deutschtums an der Westgrenze“. Die Perzeption der Universität des Saarlandes aus der Bonner Perspektive in den frühen fünfziger Jahren, in: Wolfgang Haubrichs / Kurt-Ulrich Jäschke / Michael Oberweis (Hrsg.), Grenzen erkennen – Begrenzungen überwinden. Festschrift für Reinhard Schneider zur Vollendung seines 65. Lebensjahrs, Sigmaringen 1999, S. 425 – 441, zu Wiebringhaus S. 431 – 432. 27 Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Abt. 2, Band 503, 250 ff. Brief Schätzels vom 28. Januar 1954.
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Rechts für die politische Position der Saarregierung einzusetzen, wobei der politische Wille für mein Gefühl über das zulässige Maß hinaus die rechtlichen Erwägungen beeinflusst. Dieses Urteil tut mir leid, da der Artikel erneut beweist, dass Wiebringhaus offenbar ein sehr qualifizierter Mann ist. Daß diese Bemerkungen in keiner Weise die unverantwortliche Sprache der Saarzeitung rechtfertigen sollen, brauche ich Ihnen gegenüber wohl kaum zu betonen.“28 In seiner Entgegnung bedauerte Schätzel die Wiebringhaus’schen „Entgleisungen“, nahm „sie nicht allzu ernst“ und sah darin eher „die unmassgebenden Äusserungen eines jungen Mannes“. Ohnehin wollte Schätzel „vor allen Dingen erreichen, dass die naturgemässe Ablehnung der gegenwärtigen Regierung im Saarland nicht auch auf die Universität Saarbrücken ausgedehnt wird, die mit der Regierung nichts zu tun hat, sondern sich durchaus ihre Selbständigkeit gewahrt hat. Man kann daher die Universität Saarbrücken keinesfalls mit den Universitäten in der Ostzone gleichstellen.“ 29 Gleichwohl setzte sich Lauks in der März-Ausgabe der „Deutschen Saar-Zeitung“ nochmals in seinem ausführlichen Beitrag „Unrecht wird zu Recht verdreht“ kritisch mit den „Thesen von Hans Wiebringhaus“ auseinander und attackierte seine Wertungen zur aktuellen völkerrechtlichen Position des Saarlandes.30 Im April 1954 publizierte Wiebringhaus mit seinem Studienkollegen Dr. Helmut Hütten31 und dem Grazer Völkerrechtler, Rechtsphilosophen und Soziologen Prof. Johann Mokre eine Dokumentation „Europäisierung der Saar und Völkerrecht auf der Grundlage des Vorschlages von van der Goes van Natern“, in der die Autoren nicht nur die „wichtigsten Bestimmungen des Europäisierungsplanes“, sondern auch die „Legitimation der Vertragspartner“ und „die rechtliche Wirkung der Europäisierung“ analysierten und in ihrem Nachwort auf die „Mannigfaltigkeiten der rechtlichen Probleme des vorliegenden Europäisierungsplanes“ verwiesen. Dennoch erschienen ihnen „die auftretenden Schwierigkeiten jedoch nicht“ als „unüberwindlich und die Durchführung der Europäisierung des Saarlandes im Ergebnis mit dem geltenden Völkerrecht durchaus vereinbar.“32 Seit 1. Februar 1954 an das Europa-Institut versetzt, beendete Wiebringhaus dann im Herbst 1954 seinen Dienst an der Universität des Saarlandes und wechEbenda fol. 252, Thierfelder an Schätzel 4. Februar 1954. Ebenda fol. 257, Schätzel an Thierfelder 8. Februar 1954. 30 Vgl. Dr. Hans Joachim Hagemann, Unrecht wird zu Recht verdreht. Zu zwei Aufsätzen in der saarländischen „Rechts“-Zeitschrift, in: Deutsche Saar-Zeitung, 2. März-Ausgabe 1954, S. 4 mit massiver Kritik des Beitrages Hans Wiebringhaus, Die derzeitige rechtliche Stellung des Saarlandes unter besonderer Berücksichtigung des 1. und 2. Teiles des Berichtes von Van der Goes van Naters, in: Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 5, 1953, S. 53 – 57. 31 Vgl. Dr. Helmut Hütten, Von Mainz über Angers und Caen an die Universität des Saarlandes, in: Wolfgang Müller (Hrsg.), Studentische Impressionen aus den frühen Jahren der Universität des Saarlandes, Saarbrücken 2006, S. 44 – 47. 32 Vgl. Helmut Hütten / Johann Mokre / Hans Wiebringhaus, Europäisierung der Saar und Völkerrecht auf der Grundlage des Vorschlages von van der Goes van Naters, Saarbrücken 1954, Zitat S. 32. 28 29
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selte in die Verwaltung des Europa-Rates. Als „Mitglied des Generalsekretariats des Europarates“ präsentierte er 1955 im Saarbrücker West-Ost-Verlag die zweite, mit einem Vorwort des renommierten Pariser Völkerrechtlers Georges Scelle versehene Auflage seiner Dissertation.33 1959 folgten der Kommentar „Die RomKonvention für Menschenrechte in der Praxis der Straßburger Menschenrechtskonvention“ und dann 1965 die erste und 1967 die zweite Auflage seines Bandes „Gerichtshof für Europa?“.34 Neben diesen Monographien hat Wiebringhaus, der die Abteilung für Soziale Fragen beim Europarat leitete, insgesamt rund 200 Publikationen zu Aspekten der Menschenrechte, des Sozial- und Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und sozialen Sicherheit verfasst. Ferner wirkte er unter anderem als Dozent am Europa-Kolleg in Brügge, übernahm Gastvorlesungen an verschiedenen Universitäten wie Göttingen, Utrecht, Straßburg und Tokio und war Mitglied der Elsässischen Akademie für Wissenschaft und Kunst. Dr. Hans Wiebringhaus ist 1990 verstorben.35
Friedrich August von der Heydte Zu den in der Gründungsphase an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät lehrenden Professoren gehörte auch Friedrich August Freiherr von der Heydte, der bereits im Frühjahr 1951 seine Bewerbung an der neuen Universität präsentierte.36 Im beigefügten, undatierten Lebenslauf37 schilderte er ausführlich und teils mit recht informativen Annotationen seine akademische und militärische Laufbahn. Seine Studien in München, Innsbruck, Graz, Berlin und Wien beendete er mit der Abschlussprüfung der Konsulakademie, den drei österreichischen Staatsprüfungen und der Promotion in Graz zum Dr. rer. pol. Zum Intermezzo als Assistent seines früheren Wiener Lehrers Hans Kelsen an der Universität zu Köln 33 Vgl. Hans Wiebringhaus, Das Gesetz der funktionellen Verdoppelung. Beitrag zu einer universalistischen Theorie des Internationalprivat- und Völkerrechts. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Georges Scelle, 2. Auflage, Saarbrücken 1955. 34 Vgl. Hans Wiebringhaus, Die Rom-Konvention für Menschenrechte in der Praxis der Straßburger Menschenrechtskonvention, Saarbrücken 1959. Hans Wiebringhaus, Gerichtshof für Europa?, Freiburg 1965 sowie Hans Wiebringhaus, Gerichtshof für Europa? Voraussetzungen und Möglichkeiten der Gründung eines obersten europäischen Gerichtshofes mit allgemeiner Kompetenz (Europäische Aspekte Reihe I Recht Nr. 6), 2. Auflage, Leiden 1967. 35 Zur Bio-Bibliographie: International Encyclopaedia for Labour Law and Industrial Relations, Suppl. 42, March 1984, CoE – 3 sowie Sammlung Wiebringhaus Uni A SB. 36 Die folgende Darstellung basiert vor allem auf der im Uni A SB verwahrten Personalakte (PA von der Heydte). Vgl. außerdem die Autobiographie Friedrich August von der Heydte, „Muß ich sterben, will ich fallen . . .“ Ein „Zeitzeuge“ erinnert sich. Berg am See 1987. Außerdem Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920 – 1970) (Studien zur Zeitgeschichte Band 69), München 2005, S. 63 – 71, die die Saarbrücker Zeit nicht erwähnt. Außerdem von der Heydtes Auskünfte vom 28. Juni 1991 auf eine Anfrage des Uni A SB. 37 Vgl. PA von der Heydte, Uni A SB, der ich auch weiter folge.
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bemerkte er: „Wenige Monate, nachdem ich diese Stellung angetreten hatte, im April 1933, wurde Kelsen von der nationalsozialistischen Regierung entlassen und gezwungen zu emigrieren. Meine öffentliche Stellungnahme für Kelsen – und gegen die persönlichen Anwürfe, die sein Nachfolger, Carl Schmitt, mein neuer Chef, gegen ihn gerichtet hatte, – kostete auch mir (sic!) meine Stellung. Ich wurde im Lauf des Sommersemesters 1933 entlassen.“ Es folgten eine einjährige Assistentenzeit an der Wiener Konsularakademie bei Alfred Verdroß, der Besuch der Sommerkurse des „Bureau d’Études internationales“ in Genf und dank einer Fellowship der Carnegie-Stiftung Forschungsaufenthalte an der Nationalbibliothek in Paris und der Vatikanischen Bibliothek in Rom, „um Material für eine Studie über die Rechts- und Staatslehre des 13. Jahrhunderts zu sammeln, mit der ich mich an einer deutschen Universität habilitieren zu können hoffte.“ In jenen Jahren pflegte er – nach eigenen Worten – „enge Fühlungnahme mit der staats- und völkerrechtlichen Praxis“ – etwa in der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten des Wiener Bundeskanzleramtes und des Außenministeriums, durch Besuche der öffentlichen Sitzungen und Kommissionen des Völkerbundes sowie ein Stipendium der Académie de Droit im Haag, wo er „an der Hand meines früheren Berliner Lehrers, Professor Erich Kaufmann, Einblick in die Tätigkeit des Haager Internationalen Gerichtshofs nehmen konnte.“ Nach den Auslandsaufenthalten nahm er „dankbar“ das Angebot einer Assistenz und einer späteren Habilitation beim ihm aus Wien bekannten und nun nach Münster berufenen Rechtshistoriker Karl Gottfried Hugelmann an. „Bald nach Antritt dieser Assistentenstelle im Sommersemester 1935 mußte ich jedoch erkennen, dass sich die Verhältnisse an den deutschen Universitäten während meines Auslandsaufenthaltes unter nationalsozialistischem Druck so verändert hatten, dass es für mich als Vertreter einer ausgesprochen katholischen Rechts- und Staatsauffassung kaum mehr möglich würde, in Deutschland Hochschullehrer zu werden – und zu bleiben. Ein Zusammenstoss mit dem NSDSTB und der Gestapo infolge meines Eintretens für einen vom NSDSTB bei der Gestapo denunzierten Hausmeister der katholischen Studentenheime, in dem ich wohnte, gab im Sommersemester 1936 den letzten Anstoß, um mich zur Aufgabe all meiner Berufspläne und zur Änderung meines Berufs zu veranlassen.“ Da das „Reichsheer . . . damals“ als „letzter Stützpunkt der konservativen, antinazistischen Kreise in Deutschland“ galt, schlug er die auch in seiner Autobiographie ausführlich ausgebreitete militärische Laufbahn ein, die für den hoch dekorierten Fallschirmjäger-Offizier in „lockerer Verbindung mit dem Kreis der Verschwörer“ vom 20. Juli 1944 im Juli 1947 mit der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft endete. Knapp zwei Jahre später habilitierte er sich an der Universität München und las seit dem Sommersemester 1949 „Völkerrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie“. Abschließend dokumentierte er seinen konfessionellen und politischen Standpunkt, indem er auf seine Mitgliedschaft in der katholischen Studentenverbindung Unitas, im katholischen Akademikerverband, in der CSU und im Bund Deutscher Föderalisten sowie seine Tätigkeit als „Sachreferent für staatsrechtliche Fragen“ innerhalb des katholischen Zentralkomitees verwies. „Durch verwandtschaftliche Bindungen eng
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mit Frankreich verknüpft, versuche ich in dem eben umschriebenen politischen Rahmen vor allem für ein Sich-finden Deutschlands und Frankreichs zu arbeiten, ein Sich-finden, das meiner Überzeugung nach die Voraussetzung für den Fortbestand der abendländisch-christlichen Kultur ist.“ Seine Verbindung ins Saarland knüpfte er über den ihm seit den 30er Jahren bekannten Geistlichen Rat Lauer, dem er, verbunden mit seinen Überlegungen zum deutsch-französischen Verhältnis, brieflich seine Hoffnungen mitteilte, „an irgendeiner süddeutschen Universität einen Lehrstuhl zu erhalten. Es wird dies allerdings nicht sehr leicht sein, da die Masse der Professorenschaft liberal-nationalistisch eingestellt ist und einem Katholiken, der seine Wissenschaft aus dem Glauben heraus betreiben will, mit Misstrauen begegnet. Gerne würde ich auch einen Lehrstuhl an der neu gegründeten Saar-Universität annehmen: Leider habe ich aber keinerlei Beziehungen zu der Saarbrückner (sic) Fakultät.“38 Immerhin leitete Lauer diesen Brief an das Kultusministerium weiter, und Hochschulreferent Dr. Hans Groh veranlasste, „dass sich sowohl das Hohe Kommissariat der Französischen Republik im Saarland wie auch die Universität des Saarlandes direkt an Sie wegen der Einreichung der erforderlichen Unterlagen wenden“ und „dass damit die von Ihnen gewünschte Beziehung zu der Saarbrücker Fakultät hergestellt ist“ sowie eine baldige persönliche Begegnung möglich sei.39 Nachdem dann über von der Heydte „bei den zuständigen französischen Stellen eingezogene Erkundigungen leider außer einigen vagen Andeutungen nichts ergaben“40 und der Kandidat seine Unterlagen einschließlich des ihn in den Kreis der „Entlasteten“ einreihenden Entnazifizierungsbescheides eingereicht hatte, lud ihn Hochschulreferent Groh im September 1950 zu Berufungsverhandlungen nach Saarbrücken ein. Interessanterweise bemerkte Groh in einem gleichzeitig versandten Schreiben an Dekan Eckard in St. Ingbert: „Falls nicht unerwartete, in der Person von Herrn Dr. Freiherr von der Heydte liegende Gründe auftauchen, dürfte die Berufung nach hier gesichert sein. Die eben angedeuteten Gründe sind im wesentlichen eher politischer Art, da naturgemäss von dem Staats- und Verwaltungsrechtler der Universität des Saarlandes ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Verfassung des Saarlandes41 notwendigerweise gefordert werden muss. Ich hielte es für angebracht, wenn Sie in dieser Hinsicht bei Herrn Dr. Freiherr von der Heydte vorfühlen könnten, falls Sie von seiner Loyalität einer etwaigen neuen staatlichen Autorität gegenüber nicht von vornherein überzeugt sind.“42 Der Dekan umschiffte diese saarpolitisch brisante Vgl. PA von der Heydte, von der Heydte an Lauer 19. Januar 1950. Vgl. ebenda, Hochschulreferent Groh an von der Heydte 13. Februar 1950. 40 Ebenda, Groh an von der Heydte 14. Juni 1950. 41 Vgl. zuletzt Rudolph Brosig, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Saarland, Saarbrücken 2009 sowie Rudolf Wendt / Roland Rixecker und die weiteren Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes (Hrsg.), Verfassung des Saarlandes – Kommentar, Verlag Alma Mater, Saarbrücken 2009. Online-Version unter http: //www.verfassungsgerichtshof-saarland.de/Kommentar SVerf (Endfassung 22 – 06 – 09).pdf. 42 PA von der Heydte, Groh an Eckard 27. September 1950. 38 39
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Frage und verwies stattdessen auf von der Heydtes „hervorragende soldatische Eigenschaften, die auch im bürgerlichen Leben von höchstem Werte sind. So glaube ich bestimmt, dass er, falls er an die Universität berufen wird, für sie und in ihr eine Zierde sein wird.“43 Nach Verhandlungen von der Heydtes Ende November 1950 beschlossen die Saarbrücker Universitätsgremien zum im Februar 1951 beginnenden Sommersemester seine Nominierung für den Lehrstuhl für Verwaltungsrecht als außerordentlicher Professor 2. Klasse. Doch den Kandidaten hatten inzwischen auch Angebote aus Rheinland-Pfalz und Bayern erreicht, ihn demnächst möglicherweise als ordentlichen Professor nach Mainz oder Würzburg zu berufen. In dieser Zwickmühle schlug von der Heydte unter Hinweis auf eine in Saarbrücken kaum sofort verfügbare Wohnung Rektor Angelloz und dem Dekan der Juristischen Fakultät Senn vor, als Gastprofessor zeitweise an der Universität des Saarlandes zu wirken und beendete seinen Brief an den Dekan mit dem an den Ideen des Rektors orientierten Bekenntnis, „dass die Aufgabe der Universität des Saarlandes im Rahmen eines neuen Europa eine ausserordentlich grosse ist, und ich werde bestrebt sein, bei meiner Tätigkeit dort einen kleinen Beitrag zur Annäherung der beiden Nationen zu liefern, zwischen denen das Saarland eine natürliche Brücke bildet und mit denen ich selbst durch meine Abstammung und meine Zuneigung in gleicher Weise verbunden bin. Eine besondere Freude wird es mir sein, an der gleichen Universität wie Sie, sehr verehrter Herr Professor, lesen und auftauchende wissenschaftliche Probleme mit Ihnen besprechen zu können.“44 Angelloz reagierte prompt mit einer durchaus auch direkt möglichen Berufung als ordentlicher Professor an die „Université européenne de la Sarre“, bemerkte aber auch, „que nous pouvons accepter dans le corps enseignant uniquement ceux qui veulent se consacrer entièrement à notre Université.“45 Gegenüber Dekan Senn beschwor von der Heydte nochmals die große „Aufgabe, zwei Nationen zusammenzuführen, die aus gemeinsamer abendländischer Wurzel entstanden – durch eine unglückliche geschichtliche Entwicklung einander immer mehr entfremdet worden sind. Um diese geistige Wiedervereinigung des Abendlandes angesichts der drohenden Gefahr aus dem Osten vorzubereiten und sicherzustellen, bedarf es des guten Willens und der Tatkraft aller, die von der Notwendigkeit einer geistigen Einigung überzeugt sind und darum wissen, dass eine solche Einigung nur dann Erfolg hat, wenn der Deutsche nicht vergisst, was geschehen ist, und wenn der Franzose vergibt, was geschehen ist. Nicht vergessen ist ebenso wie vergeben . . .“.46 Während in der Korrespondenz vielfältige Planungen erörtert wurden und Missverständnisse den Dekan fragen ließen, „y–a-t-il eu confusion dans l’esprit de Monsieur von der Heydte?“47, trat er dann doch Anfang Dezember 1952 endlich die Saarbrücker Gastprofessur an, obwohl er gleichzeitig seit Frühjahr 1951 in der 43 44 45 46 47
Ebenda, Eckard an Groh 30. Oktober 1950. Ebenda, von der Heydte an Senn 13. Januar 1951. Ebenda, Angelloz an von der Heydte 20. Januar 1951. Ebenda, von der Heydte an Senn 1. Februar 1951. Ebenda, Senn an Angelloz 26. Februar 1951.
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Nachfolge Walter Schätzels als Ordinarius für Staats- und Völkerrecht in Mainz agierte und dann 1954 nach Würzburg wechselte. In Saarbrücken übernahm er diverse Lehrveranstaltungen im Bereich des Verwaltungsrechts und des Staatsrechts, warb Rektor Angelloz als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der „Abendländischen Akademie“, präsentierte außerdem am Europa-Institut unter anderem Vorlesungen über „Die Begriffe von der Souveränität und die Staatengemeinschaft“, „Probleme der Wiedererneuerung des Völkerrechts“, „Einführung in das Völkerrecht“, „Juristische Probleme Europas“ sowie Seminare zu „Souveränität und Supranationale Ordnung“, „Politik“ oder „Aktuelle Bündnisprobleme“.48 Ebenso engagierte sich von der Heydte für die neuen, unter dem Titel „Saar Europa“ erscheinenden „Hefte des Europa-Instituts an der Universität des Saarlandes“. Zwar ließ sich sein für die erste Ausgabe vorgesehener Artikel über das gerade gegründete „Institut für Annäherung und Vergleichung des europäischen Rechts“ sowohl wegen einer Blinddarmentzündung seiner Sekretärin als auch wegen seiner eigenen Skepsis vor voreiligen Veröffentlichungen nicht realisieren, doch Rektor Angelloz bekannte: „Parmi les professeurs de nationalité allemande, vous êtes celui qui s’interesse le plus à notre Institut d’Études Européennes et je pourrais presque dire: le seul qui s’intéresse activement.“49 Daher kündigte von der Heydte einen anderen Beitrag für „Saar Europa“ an und streifte dabei auch die aktuellen tagespolitischen Debatten um den deutschen Wehrbeitrag nach dem Scheitern der Europäschen Verteidigungsgemeinschaft: „Je crois que notre institut est vraiment propre à servir de noyau aux études scientifiques européennes et de modèle pour d’autres instituts. Or, nous avons besoin d’un exemple au moment où tous les efforts d’une politique européenne ont abouti à la formation d’une armée nationale allemande, quelle ironie!“50 So reflektierte er in der zweiten Ausgabe von „Saar-Europa“ über „Sinn und Aufgabe eines Europa-Instituts“. Dabei würdigte er diese die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der europäischen Völker offenbarenden Begegnungsstätten junger Menschen als bedeutende „Integrationsmittel“ mit dem Ziel, die Absolventen „zu Aktivisten für Europa zu erziehen“. Denn „wer durch die Schule eines Europa-Instituts gegangen ist, muß es als begeisterter Träger des europäischen Gedankens und als geschulter Kämpfer für die europäische Einigung verlassen.“ Dem zwischen Luxemburg und Straßburg liegenden Europa-Institut der Universität des Saarlandes wies er die spezifische Aufgabe zu, „die lebende Verbindung zwischen zwei europäischen Völkern zu schaffen.“51 Während Rektor Angelloz vier Tage nach der politisch wegweisenden Volksentscheidung vom 23. Oktober 1955 von der Heydte versicherte, „dass die Universität 48 Vgl. dazu die entsprechenden Angaben in den verschiedenen Vorlesungsverzeichnissen der Universität des Saarlandes. 49 Vgl. PA von der Heydte, Angelloz an von der Heydte 2. April 1955. 50 Ebenda, von der Heydte an Angelloz 9. April 1955. 51 Vgl. Friedrich August von der Heydte, Sinn und Aufgabe eines Europa-Instituts, in: Saar Europa. Hefte des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes 2, 1955, S. 3 – 7, Zitat S. 7.
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so ruhig ist wie immer und dass wir alles tun werden, damit sie weiter arbeitet und sich weiter entwickelt“,52 begannen aber sowohl in der Universität als auch in der Tagespresse heftige politisch-publizistische Diskussionen um Zukunft und Orientierung der Universität des Saarlandes.53 Auch wenn die diversen Auseinandersetzungen bereits an anderer Stelle analysiert wurden und im Rahmen dieses Beitrages nicht mehr ausführlich auszubreiten sind, so gehörte aus der Perspektive der prodeutschen Heimatbund-Parteien auch Friedrich-August von der Heydte zu den Persönlichkeiten, die heute noch „ausschließlich die Interessen Frankreichs an der Universität vertreten und teilweise noch mit Dienststellen der Sûreté in Verbindung stehen.“54 Bereits im Vorfeld der Landtagswahlen im November 1952 hatte von der Heydte mit einem in der vom Justiz- und Finanzministerium des Saarlandes herausgegebenen „Saarländischen Rechts- und Steuerzeitschrift“ 55 sowie in der Tagespresse erschienenen Artikel „Was ist „Europäisierung“?“ Aufsehen erregt, vor dem 23. Oktober 1955 auch Parteitage der Christlichen Volkspartei Johannes Hoffmanns besucht und sich vergebens für einen direkten Kontakt zwischen der Hoffmann-Regierung und der Bundesregierung sowie eine Aufnahme der SaarRegierung in die ständige Konferenz der bundesdeutschen Kultusminister eingesetzt. Bevor er am 18. Juli 1956 seinen Lehrauftrag an der Universität des Saarlandes einstellte, hatte sein Artikel „Christliche Politik im Zeichen des Hasses“ für publizistische Furore gesorgt und sogar eine Anfrage im Landtag des Saarlandes ausgelöst, da er die Verfolgung der Hoffmann-Anhänger mit der ersten Phase der Entnazifizierung, die Übernahme der Macht durch den Heimatbund mit den Ereignissen des Jahres 1933, die Propagandamethoden der DPS mit denen der NSDAP verglichen und den geschäftsführenden Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät aufgefordert hatte, „im Hinblick auf die Eindeutschung der Universität und das deutsche Wirtschaftswunder Klosettpapier zu beschaffen.“ Die „Deutsche Saar“ antwortete mit der Schlagzeile „Querulant oder Brunnenvergifter?“, bezeichnete von der Heydte als Geistesverwandten der Separatisten vom Schlage Hoffmanns, fragte im Parlament nach seinen „geistigen Voraussetzungen für die Ausübung der Lehramtstätigkeit an einer Universität“ und protestierte gegen einen vorgesehenen Vortrag von der Heydtes vor einem studentischen Arbeitskreis. Daraufhin rief die „Saarländische Volkszeitung“ zum Schutz der „Universität gegen den geistigen Terror der DPS“ auf.56 Kurz zuvor hatte von der Heydte auch Vgl. PA von der Heydte, Angelloz an von der Heydte 27. Oktober 1955. Vgl. dazu umfassend Wolfgang Müller, Die Universität des Saarlandes in der politischen Umbruchsituation 1955 / 56, in: Rainer Hudemann / Burkhard Jellonek / Bernd Rauls (Hrsg.): Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945 – 1960 (Schriftenreihe Geschichte, Politik und Gesellschaft der Stiftung Demokratie Saarland Band 1), St. Ingbert 1997, S. 413 – 425. Daraus auch die folgende Passage zum Fall von der Heydte S. 422 – 423. 54 Vgl. dazu die Berichte im Landesarchiv Saarbrücken, NL Heinrich Schneider 241. Nachtrag zum Bericht vom 29. September 1956. 55 Vgl. Prof. Dr. Freiherr von der Heydte, Was ist „Europäisierung“? Möglichkeiten, Wege, Ziele, in: Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift 4, 1952, S. 65 – 66. 52 53
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noch einen Prozess gegen die Universität des Saarlandes zur Klärung seiner Rechte als Gastprofessor angestrengt, den er dann im Oktober 1957 vor dem Arbeitsgericht Saarbrücken verlor. Da bislang lediglich seine Memoiren „Muß ich sterben – will ich fallen . . .“ vorliegen und eine wissenschaftliche Biographie weiterhin Desiderat ist, bleibt an dieser Stelle nur zu erwähnen, dass von der Heydte bis 1975 als Professor für Staatsund Verwaltungsrecht sowie für Politische Wissenschaften an der Universität Würzburg wirkte, er im Oktober 1962 das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wegen Landesverrats anzeigte und damit eine zentrale Rolle in der „Spiegel“-Affäre spielte, zeitweise als CSU-Mitglied dem bayrischen Landtag angehörte und in den 80er Jahren in Parteispendenaffären verstrickt war.57 Auch im zeitgenössischen Urteil war von der Heydte „eine schillernde Persönlichkeit der Zeitgeschichte“ und „zeit seines Lebens ein überzeugter militanter Katholik, aber zugleich ein absolut toleranter Mensch, aus parteipolitischer und wissenschaftlicher Überzeugung Föderalist und von der Notwendigkeit einer starken Position Bayerns in Deutschland – gegen die norddeutschen Protestanten – überzeugt. Dank seines spontanen, vielfach verblüffenden Esprits und getragen von der Faszination des Augenblicks, reagierte er oft impulsiv, was dann auch in seiner Saarbrücker Zeit manche publizistischen Attacken gegen ihn auslöste. In jenen Jahren begleitete ich ihn vielfach zu zahlreichen parteipolitischen Gesprächen mit Repräsentanten der unterschiedlichen, nach 1955 noch getrennten christdemokratischen Gruppierungen oder zu Begegnungen in der Mission Diplomatique Française.“58
Karl Zemanek Dieser von der Heydte in Saarbrücken gelegentlich begleitende Zeitzeuge war der junge, 1929 in Wien geborene und gerade an der Universität seiner Heimatstadt 56 Vgl. Freiherr Friedrich August von der Heydte, Christliche Politik im Zeichen des Hasses, in: Deutsche Tagespost Würzburg 20. Juni 1956. Außerdem: Saarländische Volkszeitung Nr. 143, 22. Juni 1956. Replik der Deutschen Saar: Querulant oder Brunnenvergifter? Gastprofessor Freiherr von der Heydte (Universität Saarbrücken) hetzt gegen die HeimatbundParteien, in: Deutsche Saar Nr. 52, 26. Juni 1956, S. 6; sowie: Große Anfrage betreffend den Leitartikel der „SVZ“ vom 22. Juni 1956, Landtag des Saarlandes, 3. Wahlperiode, Drucksachen, Abteilung III, Nr. 44 vom. 29. Juni 1956; und die Antwort Nr. 54 v. 17. September 1956 (Landesarchiv Saarbrücken, NL Schneider 241) sowie: Das ist die Freiheit an der Saar. Prof. Dr. Frhr. v. d. Heydte stellt seine Lehrtätigkeit in Saarbrücken ein, in: Saarländische Volkszeitung Nr. 164, 13. Juli 1956, S. 1. Zuletzt: Von der Heydte, Falscher Zungenschlag an der Saar, in: Europäische Zeitung 25. August 1956. 57 Vgl. http: //www.munzinger.de/search/portrait/Friedrich+August+Freiherr+von+der+Heydte/ 0/6326.html. 58 Vgl. dazu die Aufzeichnung eines Gesprächs von Prof. Zemanek mit Universitäts-Archivar Wolfgang Müller am 18. Januar 1995 in Saarbrücken.
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promovierte Karl Zemanek,59 der Anfang der 50er Jahre zunächst als Stipendiat des Europa-Instituts und anschließend als Assistent der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an die Universität des Saarlandes gekommen war. Seine folgenden, bislang unpublizierten autobiographischen Impressionen illustrieren anschaulich jene bewegte Zeit auf dem Saarbrücker Campus.60 „Nach meiner Promotion 1952 in Wien leistete ich den damaligen Laufbahnvorschriften gemäß ein einjähriges Berufspraktikum bei Gericht ab. Während dieser Zeit wies mich mein Lehrer Prof. Verdroß auf die Möglichkeit hin, dass das neu geschaffene Europa-Institut der Universität des Saarlandes Stipendien anbiete. Kurz danach – im Sommer 1953 – besuchte ich einen Sommerkurs der Haager Akademie für Internationales Recht und traf dort auch saarländische Studenten, mit denen ich über die Saarbrücker Universität und meine Pläne sprach. Nachdem man mir im Verlauf dieser Gespräche zur Annahme des Stipendiums geraten und Mithilfe bei der Bewältigung anstehender Fragen zugesagt hatte, entschied ich mich, das angebotene einjährige Stipendium anzunehmen. So studierte ich nach der Bewältigung zahlreicher bürokratischer Pass- und Zollformalitäten – vom damals unter VierMächte-Verwaltung stehenden Wien in das politisch teilautonome, und durch Wirtschafts- und Währungsunion mit Frankreich eng verbundene Saarland – sozusagen als „Post-graduate“ seit November 1953 am 1951 gegründeten Europa-Institut . . . Das Domizil der bekannten internationalen Studentengemeinschaft AGA eröffnete zahlreiche kulturelle und gesellige Kontakte in der Freizeit, zumal das Saarbrücker Kulturleben damals vergleichsweise wenig Impulse bot. Zu meinen akademischen Lehrern zählten die Juristen Friedrich August von der Heydte, René de Lacharrière, François Luchaire, Bernard Perrin und André Philip, und ich erinnere mich noch an Exkursionen zum Europa-Rat nach Straßburg, zu den Organen der Montanunion nach Luxemburg, zur UNO nach Genf, aber auch nach Hamburg und Berlin. Das Europa-Institut strahlte damals ein spezifisch internationales Flair aus, entzog sich der ansonsten in der Universität spürbaren Klassifizierung nach deutschen oder französischen Universitätstraditionen und wurde daher von manchen als Fremdkörper innerhalb der Universität angesehen. Obwohl man außergewöhnlich profilierte Wissenschaftler wie den hervorragenden André Philip als Dozenten gewonnen hatte, zeigten sich doch bald die mit den Gastprofessoren verbundenen Probleme. Die Dozenten waren nämlich nicht ständig anwesend, sondern reisten meist nur kurzfristig zu ihren Veranstaltungen an, so dass sich weder eine kontinuierliche Arbeit noch ein dauerhaftes Verhältnis zwischen Studenten und Professoren entwickeln konnte. Denn die Hauptlast der alltäglichen praktischen Arbeit trugen am Institut die Assistenten Wolfgang Leiner und Hubertus Bung, auch Hans Wiebringhaus’ Engagement sollte nicht vergessen werden. Mit der Einrichtung der diplomatisch-politischen Sektion zur Ausbildung des saar59 Vgl. zur Biographie Karl Zemaneks: http: //intlaw.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/ int_beziehungen/Personal/cv__engl_zemanek.pdf. 60 Die folgenden Abschnitte dokumentieren im subjektiven Stil die von Prof. Zemanek autorisierten Gesprächsnotizen.
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ländischen Diplomatennachwuchses geriet das Europa-Institut vollends in das Fadenkreuz der politischen Auseinandersetzungen des Jahres 1955, und es war abzusehen, dass das Scheitern einer Europäisierung der Saar auch das Ende eines stark international geprägten Europa-Instituts und stattdessen die Orientierung auf eine strikt den deutschen Universitätstraditionen verpflichtete Landesuniversität erbringen würde. Anlässlich eines Gastvortrages meines Lehrers Verdroß an der Universität wurde ich zu einem Essen bei Rektor Angelloz eingeladen, dem aus meiner Sicht — und abgesehen von irgendwelchen Spekulationen über möglicherweise damit verbundene Motive – die deutsch-französische Verständigung im Geist Robert Schumans das zentrale Anliegen seiner Saarbrücker Zeit war. Während der Zusammenkunft offerierte mir der damalige Dekan der Juristischen Fakultät Rudolf Bruns die Stelle eines Assistenten an seiner Fakultät im Fachgebiet Öffentliches Recht und Völkerrecht, die ich dann vom Juni 1954 bis Oktober 1956 innehatte – in einer überaus anregenden internationalen Atmosphäre den Professoren Friedrich August von der Heydte, Charles Chaumont, Ignaz Seidl-Hohenveldern sowie René de Lacharrière zugeteilt.“ Unter anderem widmete er sich auch am vom Dekan geleiteten und den als Generalsekretären tätigen Professoren Heinrich Lange und Georges Langrod verwalteten „Institut für Vergleichung und Annäherung des Europäischen Rechts“ der Sammlung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen der Parlamente und Ministerien der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. „Die Fakultät war seinerzeit gekennzeichnet durch die völlig unterschiedlichen deutschen und französischen Ausbildungsprofile und Traditionen, die weder damals noch heute – auch aus der Erfahrung meiner seitherigen wissenschaftlichen Laufbahn – verschmolzen werden konnten. Als Rudolf Bruns 1954 das Dekanat vom seit 1948 agierenden Gründungsdekan Félix Senn übernahm, hegte man vielfach die Hoffnung, der neue Amtsinhaber werde die Fakultät stärker als bisher am deutschen Vorbild orientieren. Jedoch sollte sich diese Erwartung nicht erfüllen, und Bruns sah sich am Ende seiner Amtszeit zahlreichen Vorwürfen seiner deutschen Kollegen wegen seiner Amtsführung und „Frankophilie“ ausgesetzt.“ Zemanek erlebte an der Saar auch die heftigen saarpolitischen Kontroversen seiner Zeit. Im Rahmen der Pariser Verträge hatten Konrad Adenauer und der französische Regierungschef Pierre Mendès-France im Oktober 1954 ein „europäisches Statut“ vereinbart, das jedoch die Bevölkerung des Saarlandes in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 mit 67,7 Prozent der Stimmen ablehnte. „Auch wenn Einzelheiten kaum noch aus der Erinnerung rekonstruierbar sind, so verhielten sich damals die französischen Diplomaten weitgehend rezeptiv und waren meines Erachtens auch kaum vom negativen Votum der saarländischen Bevölkerung zur Europäisierung am 23. Oktober 1955 überrascht. Über den leidenschaftlich geführten Abstimmungskampf ist ja schon viel berichtet worden. Die Auseinandersetzung scheint mir ein Musterbeispiel für die Bedeutung von Massenpsychologie zu sein. Während die Universität – zumindest in meiner Rückschau – kein Forum für heftige Auseinandersetzungen bildete, so erinnere ich mich an den emotional aufgeheizten Besuch in der „Wartburg“, die mit der ersten Strophe des „Deutschlandliedes“ endete. Das Votum der Saarbevölkerung resul-
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tierte sicherlich einerseits aus der stets üblichen negativen Perzeption einer „Besatzungsherrschaft“ und ihren bürokratischen Herausforderungen und Kontrollen um Zoll und Visum und der ökonomischen Magnetwirkung des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik. Andererseits ist zu bedenken, dass die Auseinandersetzung vor dem 23. Oktober 1955 nur drei Monate dauerte, die aufgeheizte Stimmung eskalierte, extreme Polarisierung förderte und einen sich im Laufe der Zeit scharfe Gegensätze wohl allmählich abbauenden Diskurs verhinderte.“ Nachdem Karl Zemanek bereits im Februar / März 1956 ein seiner Habilitation dienendes Forschungsstipendium an die Bibliothek der Vereinten Nationen in Genf geführt hatte, endete im Oktober 1956 seine Saarbrücker Zeit. Er setzte seine außerordentliche wissenschaftliche Laufbahn in Wien fort, wo er sich 1957 habilitierte, 1958 zum außerordentlichen und 1964 zum ordentlichen Professor für Völkerrecht und Internationale Organisationen aufstieg. In besonderer Weise verband er nicht zuletzt durch die Übernahme vielfältiger diplomatischer Aufgaben Theorie und Praxis des Völkerrechts, hat seit ihren Anfängen „die Entwicklung der dauernden Neutralität“ seines Heimatlandes „durch Jahrzehnte mitgestaltet und wissenschaftlich begleitet“ und zählt auch aufgrund seines Engagements für die wissenschaftliche Gemeinschaft zu den „international anerkannten österreichischen Gelehrten“.61 Ignaz von Seidl-Hohenveldern Die 1954 erfolgende Berufung des aus Österreich stammenden Ignaz von SeidlHohenveldern62 als Professor für öffentliches Recht unterstrich den Anspruch der europäischen Orientierung der Universität des Saarlandes und die Internationalität des Lehrkörpers. Nicht zuletzt wegen seiner bilingualen Sprachkompetenz und seiner ausgleichenden Persönlichkeit übernahm der profilierte Völkerrechtsexperte bald die Aufgabe eines Bindegliedes zwischen den seit der Universitätsgründung tätigen französischen und den dann später gekommenen deutschen Kollegen, agierte als Dolmetscher in den Fakultätssitzungen und half die atmosphärischen Spannungen zu bereinigen, die infolge des politischen Umbruchs nach der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 die Fakultät kurzzeitig belastet hatten.
61 Vgl. Konrad Günther / Gerhard Hafner / Winfried Lang / Hanspeter Neuhold / Lilly Sucharipa-Behrmann (Hrsg.), Völkerrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Realität. Festschrift für Karl Zemanek zum 65. Geburtstag, Berlin 1994, S.VIII. Schriftenverzeichnis S. 495 – 502. 62 Vgl. die autobiographischen Berichte Ignaz von Seidl-Hohenveldern, in: Hermann Baltl / Nikolaus Grass / Hans Constantin Faußner (Hrsg.), Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben (Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte Band 14), Sigmaringen 1990, S. 257 – 271 (künftig zitiert: Ignaz Seidl-Hohenveldern, Autobiographie). Ignaz von Seidl-Hohenveldern, Erinnerungen an die Saarbrücker Universität, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40, 1992, S. 189 – 199 (künftig zitiert: Seidl-Hohenveldern, Saarbrücker Erinnerungen).
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1918 in Mährisch-Schönberg geboren, hatte Seidl-Hohenveldern seine in Genf begonnenen und durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochenen Studien in Innsbruck abgeschlossen und war im Juni 1946 in die Abteilung Verfassungsdienst des Wiener Bundeskanzleramtes eingetreten. „Ich lernte in dieser Zeit unendlich viel, sowohl im Verfassungsrecht als auch im Völkerrecht, da der Verkehr mit den Besatzungsmächten hinsichtlich ihrer Tätigkeit in Österreich dem Verfassungsdienst oblag“, bekannte er in autobiographischen Reminiszenzen.63 Seinerzeit begann er auch mit der Sammlung von „Gerichtsurteilen über die Zeit der deutschen und alliierten Besetzung Österreichs“, die 1982 in seine Monographie „Die Überleitung von Herrschaftsverhältnissen am Beispiel Österreichs“ münden sollte. Während er zeitweise die Haager Akademie für Internationales Recht besuchte und „als internationaler Beamter zur Rechtsabteilung der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECC) abgestellt“ war, hatte Alfred Verdroß außerdem seine Habilitation angeregt, und Seidl-Hohenveldern konnte sich im Juli 1951 mit einer dann auch mehrfach ausgezeichneten Studie zum ihn persönlich tangierenden „internationalen Konfiskations- und Enteignungsrecht“ an der Universität Wien habilitieren. In jenem Jahr wechselte er von der Verfassungs- in die Völkerrechtsabteilung des Bundeskanzleramtes und folgte dann im September 1954 dem – wohl auf Empfehlung von Verdroß ergangenen – Ruf an die Universität des Saarlandes als außerordentlicher Professor für öffentliches Recht. Im März 1955 wurde ihm dann „der Lehrstuhl für Völkerrecht“ übertragen und im Januar 1958 die Ernennung zum ordentlichen Professor vollzogen.64 In einem farbigen Zeitzeugen-Bericht hat er Anfang der 90er Jahre vor allem die Atmosphäre und die universitäre Lebenswelt auf dem Saarbrücker Campus in jener Zeit beschrieben. So erlebte er an der Saar nicht nur den Tag des Wiener Staatsvertrages und die Unabhängigkeit seiner österreichischen Heimat, sondern auch gleichzeitig die heftigen saarpolitischen Auseinandersetzungen. In einer im „Archiv des Völkerrechts“ 1956 publizierten Miszelle präsentierte er ohne „Wertung dieser Ereignisse“ einen chronikalisch geprägten „Bericht über die Entwicklung an der Saar seit Abschluß des deutsch-französischen Abkommens über das Statut der Saar vom 23. Oktober 1954“.65 Dabei verglich er zunächst die im April 1954 von Goes van Naters der Beratenden Versammlung des Europarates vorgelegten Planungen mit dem von Adenauer und Mendès-France ausgehandelten Abkommen, wandte sich dann den französisch-saarländischen Wirtschaftskonventionen vom 3. Mai 1955 und den Beschlüssen des Rats der Westeuropäischen Union zur im Statut vorgesehenen Volksabstimmung zu, informierte über den „mit großer Erbitterung geführt(en)“ WahlVgl. Ignaz Seidl-Hohenveldern, Autobiographie, S. 259, dort auch das folgende Zitat. Vgl. Uni A SB PA Seidl-Hohenveldern, Vertrag vom 22. März 1955. 65 Vgl. Ignaz Seidl-Hohenveldern, Bericht über die Entwicklung an der Saar seit Abschluß des deutsch-französischen Saarabkommens über das Statut der Saar vom 23. Oktober 1954, in: Archiv des Völkerrechts 5,1956, S. 445 – 455. 63 64
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kampf 66 und die Bildung der Übergangsregierung Heinrich Welsch, ehe er mit dem Ergebnis der Landtagswahl vom 18. Dezember 1955 und der Wahl des neuen Ministerpräsidenten Ney schloss. „Es wird nun Aufgabe der deutschen und französischen Regierung sein, unter Konsultierung dieser Regierung eine Lösung des Saarproblems zu finden, die dem Wollen der Saarbevölkerung und den Interessen der beiden Staaten Rechnung trägt.“67 Diese Erwartungen Seidl-Hohenveldern sollten sich nach dem Luxemburger Vertrag zwischen Bonn und Paris vom 27. Oktober 1956 erfüllen, der den Weg zur Lösung der Saarfrage eröffnete. Zum 1. Januar 1957 folgte der politische und zum 6. Juli 1957 der wirtschaftliche Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik. Parallel vollzog sich an der Universität der keineswegs konfliktfreie Übergang zur Landesuniversität und der administrative Wechsel von den eher französischen Strukturen zum deutschen Universitätssystem. Bemerkenswert ist dabei, dass sich Seidl-Hohenveldern im Februar 1956 auch an der Diskussion einer Denkschrift beteiligte, die der in Bern geborene und seit 1954 an der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes tätige Physiologe Robert Stämpfli konzipiert und den neutralen Professoren und Dozenten vorgelegt hatte, die weder französische oder deutsche Staatsangehörige waren, noch aus dem Saarland stammten. Das Memorandum plädierte für die Wahrung des internationalen Profils der Universität und warnte vor der Gefahr, dass die Hochschule in der aktuellen Umbruchsituation „ihre Originalität durch eine überstürzte nationalistische Entwicklung . . . verlieren und durch (den) Verlust ihres internationalen Charakters zu einer unbedeutenden Provinzuniversität herabzusinken drohe.“68 Zwar überreichte dann Mitte März 1956 eine Delegation die von sämtlichen 24 neutralen Professoren und Dozenten unterzeichnete Resolution im Kultusministerium, unterstützende Voten profilierter Wissenschaftler trafen ein, und die beiden Nobelpreisträger Adolf Butenandt und Otto Hahn solidarisierten sich mit der Stämpfli-Denkschrift, doch zeigte sich bald, dass die gerade von den Initiatoren so entschieden geforderte Internationalität nur äußerst schwer realisierbar sein sollte. Neben seinen Veranstaltungen und Seminaren an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät hielt Seidl-Hohenveldern als zusätzliche Lehraufträge „Vorlesungen und Seminare über Völkerrechtsprobleme am Europa-Institut“.69 Ebenda, S. 451. Ebenda, S. 455. 68 Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Müller, „Nur unter Beibehaltung des übernationalen Universitätscharakters“. Eine Denkschrift über die Universität des Saarlandes 1956, in: Wolfgang Haubrichs / Wolfgang Laufer / Reinhard Schneider (Hrsg.), Zwischen Saar und Mosel. Festschrift für Hans-Walter Herrmann zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Band. 24), Saarbrücken 1995, S. 473 – 485. 69 Vgl. Uni A SB PA Seidl-Hohenveldern, beispielsweise die entsprechende Übernahme am 24. Oktober 1955 sowie die Angaben in den diversen Vorlesungsverzeichnissen der Universität des Saarlandes. 66 67
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Diese Einrichtung verfügte seit 1953 auch über eine Diplomatische Sektion, die sich der Ausbildung des saarländischen Diplomaten- und Verwaltungsnachwuchses widmete, Lehrveranstaltungen aus dem Bereich der Geschichte, Psychologie und Wirtschaft, aber auch des Rechts anbot und unter anderem den bekannten Publizisten Peter Scholl-Latour70 zu ihren Dozenten zählte. Seidl-Hohenveldern präsentierte dort aufgrund seiner Wiener Erfahrungen ein spezielles „völkerrechtliches diplomatisches Praktikum“. Nicht zuletzt wegen seiner diplomatischen Sektion war das Europa-Institut im Umfeld des Abstimmungskampfes als Instrument französischer Kulturpolitik und „angebliche Propagandazentrale der Hoffmann-Regierung“ von den prodeutschen Parteien attackiert worden. Im Zuge des universitären Umbruchs wurde das ursprünglich stark kultur- und literaturwissenschaftlich geprägte Institut dann in ein „stärker juristisch und ökonomisch ausgerichtetes Europäisches Forschungsinstitut unter der Ägide“ des ersten deutschen Rektors, des Juristen Heinz Hübner, umgewandelt,71 wo Seidl-Hohenveldern seit dem Wintersemester 1956 / 57 wieder Vorlesungen über „Das Recht der internationalen Organisationen“, „Recht und Technik des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge“ oder „Die westeuropäischen Vertragswerke, Organisationen und Institutionen“ hielt und zeitweise die rechtswissenschaftliche Abteilung dieses Europäischen Forschungsinstituts leitete. In der Fakultät bot er außerdem Vorlesungen über „Das Recht der Vereinten Nationen“, „Völkerrechtliche Probleme der Auslandsinvestitionen“, „Allgemeines Völkerrecht“, „Das Recht der internationalen Wasserläufe“, aber auch „Öffentliches Recht für Wirtschaftswissenschaftler“ an.72 Außerdem zeichnete es die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät aus, dass die mit der Universitätsgründung einsetzenden Verbindungen zur Mutteruniversität Nancy über die politischen Veränderungen zwischen 1955 und 1957 weitgehend fortbestanden. Wesentlich trug dazu das mitten in den saarpolitischen Turbulenzen im Herbst 1955 eingerichtete „Centre d’ Études Juridiques Françaises“, das heutige Centre Juridique Franco-Allemand, bei. Gerade Seidl-Hohenveldern pflegte engen wissenschaftlichen Austausch mit den meist aus Nancy anreisenden französischen Kollegen.73 Selbst sieben Jahre nach seinem Wechsel an die Universität zu Köln engagierte er sich in den akademischen Jahren 1971 / 72 sowie 1972 / 73 als externer Lehrbeauftragter mit Veranstaltungen zu „Droit International 70 Vgl. dazu umfassend Peter Scholl-Latour, Reminiszenzen an die Universität des Saarlandes, in: Champus – AStA-Magazin der Universität des Saarlandes 4 / 05, Juni 2006, S. 36 – 45. Der auch mit zeitgenössischen Quellentexten illustrierte Beitrag dokumentiert ein Interview von Universitäts-Archivar Wolfgang Müller mit Prof. Peter Scholl-Latour. 71 Vgl. dazu Werner Maihofer, Vom Universitätsgesetz 1957 bis zur Verfassungsreform 1969. Persönliche Erinnerungen an eine bewegte Zeit der Universität des Saarlandes, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 22, 1996, S. 383. 72 Vgl. dazu die Angaben in den verschiedenen Vorlesungsverzeichnissen der Universität des Saarlandes. 73 Vgl. dazu die Rubrik „Französische Kurse“ in Seidl-Hohenveldern, Saarbrücker Erinnerungen, S. 191 – 192.
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Économique“ bzw. „Théorie générale des organisations internationales“ für das Studienprogramm des Centre. Wissenschaftlich widmete er sich während seiner Saarbrücker Jahre vor allem „den Grenzen des Eingriffs eines Staates in das Vermögen von Ausländern. Hierzu zählt neben der offenen und schleichenden Nationalisation und deren Folgen (Bewertungsprobleme) auch das Devisen-, Kartell- und Steuerrecht, die Berufung auf die Immunität, die ICSID Schiedsgerichtsbarkeit und die Kontrolle über multinationale Unternehmen.“74 Er transformierte die Zeitschriftenaufsätze der jeweiligen Fakultäten bietenden „Annales Universitatis Saraviensis“ für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in eine neue, vor allem Dissertationen und andere Monographien umfassende Schriftenreihe und präsentierte als ersten Band seine 1963 erschienenen „Investitionen in Entwicklungsländern und das Völkerrecht“. In Ergänzung des Lehrbuchs von Verdroß legte er ferner seine später auch in die spanische und die japanische Sprache übersetzen „Praktische(n) Fälle aus dem Völkerrecht“ vor und beschäftigte sich in diversen Gutachten mit Aspekten des deutschen Auslandseigentums. Während seiner Saarbrücker Jahre agierte er unter anderem zwischen 1957 und 1962 als „Berichterstatter des ILA-Komitees über Rechtsfragen der Nationalisationen“ und nahm auch an Sitzungen des Flußrechtskomitees teil. „1959 / 1960 gehörte er zum fünfköpfigen „European Advisory Committee . . . , das die Entwürfe des American Law Institute zur zweiten Auflage des „Restatement on the Foreign Relations Law of the United States“ zu begutachten hatte.“75 Auch seine Verbindungen zur Haager Akademie für Internationales Recht bestanden weiter, wo er als Sessionsleiter über internationale Flüsse (1961), Fragen der Staatennachfolge (1962) und das „Recht der Verträge“ (1963) fungierte. Im Studienjahr 1963 / 64 leitete er als Dekan die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes und folgte dann nach zehn Saarbrücker Jahren zum 1. August 1964 dem Ruf an die Universität zu Köln. In seinen autobiographischen Impressionen hat er dann auch die weiteren Etappen seiner wissenschaftlichen Laufbahn, seine diversen Gastprofessuren und den im Sommer 1981 vollzogenen Wechsel an seine „Heimatuniversität“ Wien beschrieben, wo er 1988 emeritiert wurde. Ebenso skizzierte der Ehrendoktor der Universität Paris V sein späteres Œuvre und seine Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften.76 Der Universität des Saarlandes blieb er zeitlebens eng verbunden, wie seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum des Europa-Instituts wenige Wochen vor seinem Tod am 25. Juli 2001 in Wien dokumentiert.77 Vgl. dazu Seidl-Hohenveldern, Autobiographie, S. 262, der ich auch weiter folge. Ebenda, S. 264. 76 Vgl. dazu Gerhard Hafner / Gerhard Loibl / Alfred Rest / Lilly Sucharipa-Behrmann / Karl Zemanek (Hrsg.), Liber amicorum. Professor Ignaz Seidl-Hohenveldern in honour of his 80th anniversary, Den Haag 1998. Darin auch List of Publications by Ignaz Seidl-Hohenveldern, S. 863 – 894. 77 Vgl. die Nekrologe Karl Zemanek, Ignaz Seidl-Hohenveldern (1918 – 2001), in: Annuaire de l’Institut de Droit International 69, 2002, S. 57 – 58. Gerhard Loibl / Thomas Wälde, 74 75
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Wilhelm Karl Geck Zum 1. November 1964 übernahm dann der bisherige Heidelberger Privatdozent und am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe tätige Wilhelm Karl Geck das durch den Wechsel Seidl-Hohenvelderns nach Köln vakante Saarbrücker Ordinariat für Staats- und Völkerrecht, wobei bei der Berufung die Einrichtung eines Seminars für Völkerrecht vereinbart wurde. Insbesondere in der ihm posthum gewidmeten „Gedächtnisschrift“ sind sowohl seine wissenschaftliche Laufbahn nachgezeichnet als auch sein facettenreiches, „Völkerrecht und staatliches Verfassungsrecht prägend“ verbindendes Œuvre78 und seine besondere Persönlichkeit gewürdigt worden. Der am 30. Mai 1923 im westfälischen Watterscheid-Höntrop Geborene entstammte einem protestantischen Pfarrhaus. Dem Abitur am Humanistischen Gymnasium Petrinum in Recklinghausen schlossen sich wie bei vielen Angehörigen dieser Generation sofort Arbeits- und Kriegsdienst an. Nach der Rückkehr aus amerikanischer Gefangenschaft, wo er auch eine Lagerschule besucht hatte, begann er im Mai 1946 in Frankfurt das Studium der Rechtswissenschaft, erwarb nach dem Referendarexamen dank eines Stipendiums an der Bucknell-Universität in Pennsylvania 1950 den Grad eines Masters of Arts und wurde im Juni 1953 mit seiner von Hermann Mosler betreuten Studie „Die Entscheidung rechtsetzender Gewalt und die Ausübung delegierter Legislativbefugnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika“ in Frankfurt promoviert. Im nordrhein-westfälischen Justizdienst tätig, war er zwischen September 1954 und September 1957 in die öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesjustizministeriums abgeordnet und vertrat dort zeitweise den Referatsleiter für völkerrechtliche Grundsatzfragen sowie Internationale und Europäische Organisationen und Gerichtsbarkeit. Als Referent am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht konnte er sich dann 1961 an der Ruperto-Carola für „Deutsches und ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“ mit seinen Betrachtungen über „Die völkerrechtlichen Wirkungen verfassungswidriger Verträge – zugleich ein Beitrag zum Vertragsschluß im Verfassungsrecht der Staatenwelt“ habilitieren und seine Abordnung zum Bundesverfassungsgericht – zuletzt als Mitarbeiter des Präsidenten Gebhard Müller – im Sommersemester 1962 durch einen Lehr- und Forschungsauftrag an der State University Michigan in Ann Arbor unterbrechen. Obituary: Ignaz Seidl-Hohenveldern (1918 – 2001) unter http: //www.dundee.ac.uk/cepmlp/ journal/html/forum_14.html. Wolfgang Müller: Die Universität trauert – Prof. Dr. Ignaz Seidl-Hohenveldern, in: campus Universität des Saarlandes 31,4,2001, S. 62. 78 Vgl. Georg Ress, Der Staats- und Völkerrechtler Wilhelm Karl Geck, in: Wilfried Fiedler / Georg Ress (Hrsg.): Verfassungsrecht und Völkerrecht. Gedächtnisschrift für Wilhelm Karl Geck, Köln 1989, S. 11. Außerdem dort auch die biographische Skizze seines akademischen Lehrers Hermann Mosler: Wilhelm Karl Geck S. 1 – 9 sowie die Würdigung Wilfried Fiedlers: Wilhelm Karl Geck als Kollege im Fachbereich, S. 23 – 26 sowie als Schriftenverzeichnis die Juristischen Veröffentlichungen von Prof. Dr. Dr. h.c. W. K. Geck, S. 1023 – 1033. Die Publikationen sind auch weitgehend in der Sammlung Geck im Uni A SB verwahrt.
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Nachdem er im Juni 1964 einen Ruf auf das Mannheimer Ordinariat für Staatsund Verwaltungsrecht abgelehnt hatte, wechselte er – wie eingangs bereits erwähnt – zum 1. November jenes Jahres an die Universität des Saarlandes, der er über 20 Jahre und unerachtet eines 1968 erfolgenden weiteren Rufes an die Ludwig-Maximilians-Universität in München die Treue hielt. 1968 war er von der Bundesregierung „zum Mitglied des Schiedsgerichtshofes und der Gemischten Kommission nach dem Abkommen über deutsche Auslandsschulden sowie zum Mitglied der Schiedskommission für Güter, Rechte und Interessen in Deutschland nach dem Überleitungsvertrag ernannt“ worden,79 und der Landtag des Saarlandes hatte ihn im Februar 1973 erstmals zum Mitglied des Saarländischen Verfassungsgerichtshofes gewählt. Ebenso wenig überrascht es, dass er seit 1974 dem Kuratorium und seit 1981 dem seit 1986 von ihm geleiteten Fachbeirat des Heidelberger MaxPlanck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht angehörte. Im akademischen Jahr 1970 / 71 agierte er, der sich intensiv mit den verschiedensten Aspekten des Hochschulrechts und der Ausbildung beschäftigt hatte, als Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Durch seine Vorlesungen und Forschungen an zahlreichen ausländischen Hochschulen mehrte er das internationale Profil der Universität des Saarlandes, und in besonderer Weise widmete er sich der Kooperation mit der Keio-Universität / Tokio, die seit den frühen 60er Jahren enge wissenschaftliche Verbindungen nach Saarbrücken pflegt und ihm 1985 die Würde eines Ehrendoktors verlieh. Nach langer schwerer Krankheit verstarb Wilhelm Karl Geck am 23. April 1987 im Alter von 63 Jahren.80
Vgl. PA Geck Uni A SB Mitteilung vom 11. September 1968. Vgl. die Nekrologe Wilfried Fiedler, Spezialist in Staats- und Völkerrecht – Zum Tode von Professor Wilhelm Karl Geck, in: Saarbrücker Zeitung 29. 4. 1987. Wilfried Fiedler, Besonderes Interesse für Völkerrecht und Staatsrecht. Prof. Dr. Dr. h.c. Wilhelm Karl Geck verstorben, in: campus 17. 3. 1987, S. 17. Rudolf Bernhardt, Wilhelm Karl Geck 30. Mai 1923 – 25. April 1987, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 47, 1987, S. 219 – 220. 79 80
Die Mitwirkung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge in Österreich Von Theo Öhlinger*
Die zunehmende Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft gründet sich – auch – auf Regelungen in staatlichen Verfassungen, die die nationale Rechtsordnung dem internationalen Recht gegenüber öffnen.1 Eine traditionsreiche Geschichte weisen dabei die Regelungen über die Mitwirkung der nationalen Parlamente am Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge auf. Die Bundesverfassung der Republik Österreich hat diese Mitwirkung von Anfang an (1920) in einer sehr eigenständigen und „modernen“ Weise geregelt (Art. 50 B-VG), die früh internationale Aufmerksamkeit erweckte. Diese Bestimmung wurde in der Zwischenzeit zweimal in grundlegender Weise verändert, zuletzt um die Jahreswende 2007 / 08. Eine Festschrift zu Ehren eines Gelehrten, dessen Schaffen in besonderer Weise auf die Schnittstellen von Staatsrecht und Völkerrecht – in seinen eigenen Worten2: die Verzahnung und Verflechtung zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht – fokussiert ist, mag daher einen geeigneten Ort bilden, die neue Fassung dieser Bestimmung einem internationalen Publikum bekannt zu machen.
I. Der Ursprung in der konstitutionellen Monarchie 1. Der Gegensatz von auswärtiger Gewalt des Monarchen und Gesetzgebung Die Beteiligung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge war eine zentrale Streitfrage der konstitutionellen Monarchie. Der Abschluss von Staatsverträgen galt als Teil der „auswärtigen Gewalt“, die unbestritten dem Mo* Prof. Dr. Theo Öhlinger, em. o. Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Universität Wien. 1 Siehe etwa M. Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten. Die Rezeption verfassungsstaatlicher Normen durch das Völkerrecht, Rechtstheorie 2008 (Sonderheft Weltrecht), S. 191 ff. 2 W. Fiedler, Auswärtige Gewalt und Verfassungsgewichtung. Zum Problem des internationalen Verfassungsrechts, in: FS Schlochauer, 1981, S. 57 (61).
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narchen vorbehalten blieb.3 Im Besonderen bildete auch die „Vertragsgewalt“ (treaty-making power) „in der constitutionellen Theorie . . . ein entweder mit der executiven Gewalt zu verbindendes oder ihr ihrem Wesen nach zukommendes Element“.4 Weil allerdings schon früh erkannt wurde, dass staatsvertragliche Regelungen geeignet sind, Freiheit und Eigentum der Bürger zu beschränken, wurde auch schon bald die Forderung nach einer Mitwirkung der Volksvertretungen am Zustandekommen solcher Verträge erhoben, weil sie in die der Volksvertretung vorbehaltene Gesetzgebung „übergreifen“ würden. Auch das Reichs- und Partikularverfassungsrecht des Heiligen Römischen Reiches kannte Mitwirkungsbefugnisse der Stände am Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Sie blieben vereinzelt über die Periode des Absolutismus hinweg bis in das 19. Jh. erhalten und konnten von der konstitutionellen Bewegung wieder aufgegriffen werden.5 Eine nachhaltigere Linie ging allerdings von der Belgischen Verfassung von 1831 aus, die für die Gültigkeit von Handelsverträgen und solchen Verträgen, die dem Staat oder einzelnen Staatsbürgern Lasten auferlegten, die Zustimmung des Parlaments verlangte.6 Territoriale Veränderungen bedurften überhaupt eines Gesetzes. Die belgische Regelung wurde fast wörtlich übersetzt in der Preußischen Verfassung vom 31. Jänner 1850 nachgebildet und, wohl vermittelt durch diese, auch in das Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung (§ 11) sowie das Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt (Art. 6) vom 21. Dezember 1867 – zwei der fünf Staatsgrundgesetze, die die Verfassung Österreichs in den letzten Jahrzehnten der Habsburger Monarchie bildeten – übernommen. 2. Dualismus von Völkerrecht und staatlichem Recht Die verfassungsrechtlichen Regeln über die parlamentarische Mitwirkung an Staatsverträgen standen auch im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht und wurden ab der zweiten Hälfte des 19. Jh. zum Katalysator aller Theorien über diese Relation, die sich grob in jene des Dualismus und des Monismus gliedern lassen.7 Zu den frühen Theoretikern des Dualismus gehört der Österreicher Friedrich Tezner. Anknüpfend an Paul Laband8 stößt sich auch Tezner an dem Widerspruch Ausführlich T. Öhlinger, Der völkerrechtliche Vertrag im staatlichen Recht, 1973, S. 3 ff. G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887, S. 180. 5 Vgl. dazu H. W. Baade, Das Verhältnis von Parlament und Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, 1962, S. 146 ff. 6 Zu Vorläufern dieser Bestimmung in französischen Verfassungen sowie der US-Verfassung siehe M. Rotter, Die Staatsverträge, in: H. Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, S. 771 (772 f.). 7 Dazu ausführlich T. Öhlinger (Fn. 3), S. 32 ff. 8 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. II, 1. Aufl. 1878, S. 152 ff.; 5. Aufl. 1911, S. 125. ff. 3 4
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der konstitutionellen Theorie zwischen dem ungeschmälerten Recht des Staatsoberhauptes, den Staat kraft seiner Repräsentationsgewalt völkerrechtlich zu binden, und der rechtlichen Freiheit des Parlaments zur Erlassung von Rechtssätzen, die zur Durchführung eines völkerrechtlichen Vertrages erforderlich sein können. Er versucht allerdings nicht, diesen Widerspruch aufzulösen, sondern radikalisiert ihn, indem er ihn zu einem absoluten Gegensatz transformiert: den „Gegensatz des Völkerrechtes und des Verfassungsrechtes dieses oder jenes Staates als zweier einander selbständig gegenüber stehender Rechtsordnungen“9. Tezner wird damit zu einem – in dieser Rolle freilich heute weitgehend vergessenen – Begründer der dualistischen Theorie, die dann ihre klassische Formulierung durch Heinrich Triepel erfährt.10 Als Rechtssatzform des Völkerrechts könne, so Triepel11, der völkerrechtliche Vertrag nicht zugleich Rechtsquelle im Landesrecht sein; er bleibt völkerrechtlicher Vertrag, „auch wenn er in einem Gesetzblatte oder sonstwie publiziert wird, er ist schlechterdings nicht anders als völkerrechtlich wirksam, und nur von einer völkerrechtlichen, niemals von einer staatsrechtlichen Gültigkeit des Vertrages kann gesprochen werden“. Um innerstaatlich wirksam zu werden, bedürfe daher der Vertrag einer Transformation (so der in der Folge geprägte Terminus) in eine staatliche Rechtsform. Am Ende der Monarchie war dies auch herrschende Lehre in Österreich.12 II. Die Bundesverfassung von 1920 1. Die Gleichstellung von Staatsvertrag und Gesetz Das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 (B-VG) knüpfte an den Theorie- und Rechtsbestand der konstitutionellen Monarchie insofern an, als es die Mitwirkung des Parlaments (Nationalrat und Bundesrat) am Zustandekommen von Staatsverträgen in das Kapitel über die „Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes“ einordnete (Art. 50 B-VG). Implizit kommt darin das Verständnis zum Ausdruck, dass der Abschluss von Staatsverträgen ein Element der vollziehenden Gewalt sei, an der das Parlament lediglich „mitwirke“. Das entspricht dem Konzept der „auswärtigen Gewalt“ als Teil der „Regierungsgewalt“.13 Neu ist allerdings die Umschreibung jener Staatsverträge, die „zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung durch den Nationalrat“ bedürfen: Es sind alle „politischen 9 F. Tezner, Zur Lehre von der Giltigkeit der Staatsverträge, Grünhuts Zeitschrift 20, 1893, S. 120 (123). 10 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899. 11 Triepel, ibidem, S. 117 f. 12 Den Stand der Lehre und Staatspraxis fasst L. Pitamic, Die parlamentarische Mitwirkung bei Staatsverträgen in Österreich, 1915, zusammen. 13 Siehe zuvor bei Fn. 3 f.
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Staatsverträge, andere nur, sofern sie gesetzändernden Inhalt haben“. Neu ist auch die Regelung des – das Kapitel über den „Weg der Gesetzgebung“ abschließenden – Art. 49 B-VG, wonach „die Bundesgesetze und die im Artikel 50 bezeichneten Staatsverträge vom Bundeskanzler im Bundesgesetzblatt kundzumachen“ sind. Unter dem Einfluss Hans Kelsens und seiner Schule werden diese Bestimmungen zum Ausgangspunkt einer radikalen Neuinterpretation der Mitwirkung des Parlaments an völkerrechtlichen Verträgen. Für Kelsen ist Art. 49 B-VG eine Bestätigung seiner monistischen Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht: Wenn Völkerrecht Recht ist, könne es keinen begrifflichen oder sonst wie fundamentalen Gegensatz zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht geben. Daher habe ein völkerrechtlicher Vertrag im Staatsinneren potentiell die gleichen Rechtswirkungen wie ein staatliches Gesetz. Es könnten durch einen völkerrechtlichen Vertrag insbesondere auch Rechte und Pflichten privater Personen, unmittelbar und ohne in staatliches Recht „transformiert“ werden zu müssen, geregelt werden.14 Die durch Art. 49 B-VG verfügte Gleichstellung der Staatsverträge mit den formellen (Bundes-)Gesetzen verlange zugleich eine an der Gesetzgebungsfunktion des Parlaments orientierte Abgrenzung der vom Parlament zu genehmigenden Verträge. „Gesetzändernde“ Staatsverträgen im Sinn des Art. 50 B-VG sind daher nicht nur jene Verträge, die bestehende, sondern auch solche, die potentielle Gesetze abändern, also alle Verträge, die die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments berühren.15 Diese Kompetenz wird wiederum in Art. 18 B-VG dahingehend umschrieben, dass „die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“ dürfe. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat diese Bestimmung – auch das unter dem Einfluss Kelsens16 – sehr strikt dahingehend interpretiert, dass jedes Handeln eines Verwaltungsorgans (und auch eines Gerichtes) in einem formellen Gesetz eine hinreichend bestimmte, d. h. alle wesentlichen Elemente des Handelns ausreichend determinierende, Grundlage bedürfe. Der Staatsfunktion „Verwaltung“ – der Terminus des B-VG lautet bezeichnenderweise: Vollziehung – bleibt in dieser Deutung kein Raum für eine eigenständige rechtliche Handlungskompetenz; sie wird zur Gänze der Staatsfunktion „Gesetzgebung“ unterworfen. An die Stelle der klassischen Gewaltenteilungslehre tritt das Paradigma des Stufenbaus der Staatsfunktionen.17 Aus dieser Gleichsetzung der parlamentarisch genehmigten Staatsverträge mit den Bundesgesetzen ergeben sich folgende Konsequenzen: 14 H. Kelsen, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922, S. 133 f.; ders., Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 186: „Die Verfassung behandelt Staatsverträge als den Gesetzen koordinierte Rechtsquellen“. 15 Kelsen, Bundesverfassung (Fn. 14), S. 135. 16 Näher T. Öhlinger, Hans Kelsen – Vater der österreichischen Bundesverfassung?, in: FS Brauneder, 2008, S. 407 (409 f.). 17 Dazu ausführlich Öhlinger (Fn. 3), S. 62 ff.
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– Der Staatsvertrag verliert seine Qualität als exekutiver Akt; er wird zu einem Instrument der „Parlamentsherrschaft“18 und damit zu einer parlamentarischen Rechtssatzform. – Parlamentarisch genehmigte Staatsverträge sind selbst „Gesetze“ im Sinn des Art. 18 B-VG, können also Verwaltungshandeln (und gerichtliche Entscheidungen) unmittelbar regeln. – Der parlamentarischen Genehmigung bedürfen alle Staatsverträge, die nicht selbst in einem Gesetz oder parlamentarisch genehmigten Staatsvertrag eine hinreichend bestimmte Grundlage besitzen.
Ein gesetzesfreier Bereich der Regierung hat in dieser Konzeption keinen Platz mehr. Wie alle „Gewalt“-Begriffe des Staatsrechts19 verschwindet denn auch jener der „auswärtigen Gewalt“ aus dem Repertoire der österreichischen Verfassungsrechtslehre. 2. Gleichstellung von Staatsverträgen und Verfassungsgesetzen Eine besondere Eigenheit der österreichischen Verfassung war es bis vor kurzem – siehe dazu unten IV. 2. – überdies, dass in der Form eines Staatsvertrages auch Verfassungsrecht geschaffen werden konnte, und zwar dadurch, das die parlamentarische Genehmigung mit der für Verfassungsgesetze erforderlichen qualifizierten Mehrheit (siehe Art. 44 Abs. 1 B-VG) erfolgte. Derartige Staatsverträge sind Verfassungsgesetzen gleichgestellt. (Die österreichische Verfassung besteht aus einer Vielzahl von Verfassungstexten; dazu noch unten IV.1.). Verfassungsrang haben insbesondere die EMRK und alle ihre Zusatzprotokolle, womit in Österreich eine deutsche Streitfrage, die auch Wilfried Fiedler beschäftigte,20 klar entschieden ist, dies freilich erst seit der B-VGNovelle 1964 – siehe dazu unten III.
Kelsen, Bundesverfassung (Fn. 14), S. 134. Siehe insbes. Art. 1 B-VG: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht (!) geht vom Volke aus.“ Zu dieser bewussten, „in der ganzen Verfassung durchgeführten“ Abkehr von der traditionellen Gewalt-Terminologie Kelsen, Bundesverfassung (Fn. 14), S. 65. 20 W. Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, in: R. Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, 2000, S. 11 (16 f.). 18 19
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3. Parlamentarisierung der Außenpolitik a) Der rechtliche Umfang der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnisse Diese neue Deutung der Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments am Abschluss von Staatsverträgen impliziert – zumindest in formaler Hinsicht – eine erhebliche Parlamentarisierung der Außenpolitik. Folgende Elemente seien hier hervorgehoben. aa) Zunächst ist festzuhalten, dass der verfassungsgesetzlich Terminus „Staatsvertrag“ nicht nur Verträge mit anderen „Staaten“ meint. Der verfassungsrechtliche Begriff des Staatsvertrages ist vielmehr identisch mit dem des völkerrechtlichen Vertrages. Diese extensive Auslegung gebietet sich schon deshalb, weil ansonsten für einen Vertragsabschluss mit anderen Völkerrechtssubjekten keine verfassungsrechtliche Grundlage vorhanden wäre, weil es eben keine Reservekompetenz der Regierung auf außenpolitischem Gebiet gibt. Diese Deutung eines durch die internationale Praxis überholten verfassungsgesetzlichen Terminus in einem dem Entwicklungsstand des Völkerrechts angepassten Sinn versteht sich geradezu von selbst. bb) Wenn ein völkerrechtlicher Vertrag eine dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle bildet, so ist es nur konsequent, auch die Modifikationen eines solchen Vertrages ähnlichen Regeln zu unterwerfen, wie sie für formelle Gesetze gelten. Es ist daher in Österreich ganz unstrittig, dass jede künftige Änderung eines vom Parlament genehmigten Staatsvertrages einer parlamentarischen Mitwirkung im Sinn des Art. 50 B-VG bedarf, auch wenn eine solche Änderung für sich keinen politischen oder gesetzändernden Gehalt hat. Die Staatspraxis hat dieses Genehmigungserfordernis sogar auf Änderungen erstreckt, die in einem im Vertrag selbst vorgesehenen vereinfachten Verfahren erfolgen, das die Mitwirkung der nationalen Parlamente überflüssig macht oder sogar ausschließt. Sie hat sich damit freilich in ein verfassungsrechtliches Dilemma manövriert, das erst durch die Verfassungsnovelle 2008 – siehe unten IV. 2. – gelöst wurde. An diesem Punkt wird eine grundsätzliche staatsrechtstheoretische Differenz zwischen dem Paradigma, das die Auslegung des Art. 50 B-VG, und jenem, das die Auslegung der deutschen Parallelregelung des Art 59 Abs. 2 GG leitet21, besonders deutlich. cc) Die österreichische Staatspraxis erstreckt den Staatsvertragsbegriff des B-VG auch auf gewisse einseitige Völkerrechtsgeschäfte. (In diesem Punkt ist der österreichische Staatsvertragsbegriff sogar weiter als jener des völkerrechtlichen 21 Siehe dazu U. Fastenrath, Inhaltsänderung völkerrechtlicher Verträge ohne Beteiligung des Gesetzgebers – verfassungsrechtliche Zulässigkeit und innerstaatliche Wirkung, in: R. Geiger (Fn. 20), S. 93 ff.
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Vertrages.) Richtig ist dies jedenfalls in Bezug auf solche einseitige Völkerrechtsgeschäfte, die in einem formalen Zusammenhang mit Staatsverträgen stehen22, wie: Kündigungen, Rücktritte, Suspendierungen, Vorbehalte und interpretative Erklärungen23. Solche Akte modifizieren die Geltung oder den Inhalt eines Staatsvertrages, so dass es nur konsequent ist, diese Akte den gleichen prozeduralen Regeln zu unterwerfen wie den Abschluss des Vertrages selbst. Diese Akte bedürfen demnach der parlamentarischen Genehmigung, wenn der Vertrag selbst parlamentarisch genehmigt wurde bzw. zu genehmigen ist. Die österreichische Staatspraxis tendiert dazu, auch einseitige völkerrechtliche Rechtsgeschäfte, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem Vertrag stehen, der parlamentarischen Genehmigung nach Art. 50 B-VG zu unterwerfen. Diese Praxis ist freilich von einiger Unsicherheit gekennzeichnet. Ein Beispiel liefert die Anerkennung ausländischer Staaten oder Regierungen.24 Der Grund für eine solche im Rechtsvergleich doch ganz ungewöhnliche Extension des Begriffes „Staatsvertrag“ liegt darin, dass auf diese Weise die gemäß Art. 18 B-VG erforderliche, aber fehlende „gesetzliche“ Grundlage für einen solchen Akt dadurch hergestellt wird, dass man ihn – gleich einem völkerrechtlichen Vertrag – durch seine parlamentarische Genehmigung selbst zum „Gesetz“ macht. dd) Zwei Besonderheiten des Staatsvertrages gegenüber dem formellen Gesetz bleiben allerdings erhalten. Zum einen kann die Initiative zum parlamentarischen Genehmigungsverfahren nur von der Bundesregierung ausgehen. Andere Formen der Gesetzesinitiative – Anträge von Mitgliedern des Nationalrats („Initiativanträge“), Initiativen des Bundesrats oder Volksbegehren: siehe Art. 41 B-VG – kommen bei Staatsverträgen nicht in Betracht.25 Zum anderen kann der Nationalrat den Text des Vertrages nicht mehr ändern. Seine „Mitwirkung“ ist auf ein Ja oder Nein eingeschränkt. Allerdings erlaubt die österreichische Staatspraxis auch in diesem Punkt Ausnahmen: Der Nationalrat kann Vorbehalte, die die Regierung vorschlägt, ablehnen oder inhaltlich modifizieren. Er kann aber auch, soweit Vorbehalte oder interpretative Erklärungen zu einem bestimmten Vertrag völkerrechtlich zulässig sind, im Genehmigungsverfahren von sich aus initiativ werden und einen solchen Vorbehalt oder eine solche Erklärung beschließen. Insoweit ist es dem Nationalrat möglich, auf den für Österreich verbindlichen Text eines Staatsvertrags gestaltenden Einfluss zu nehmen. Aus völkerrechtlicher Sicht mag dies problematisch sein.26 Aus verfassungsrechtlicher Sicht 22 Zu „einseitigen Rechtsgeschäften, die mit völkerrechtlichen Verträgen zusammenhängen“, siehe H. Miehsler / G. Hafner / S. Wittich, Die einseitigen Rechtsgeschäfte, in: Neuhold / Hummer / Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 4. Aufl. 2004, Rn. 503 ff.; dort auch kursorische Bemerkungen zur österreichischen Praxis. 23 Zahlreiche Nachweise bei T. Öhlinger, Art. 50 B-VG (Neubearbeitung), in: Korinek / Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 9. Lfg. 2009, Rn. 14. 24 Siehe T. Öhlinger, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56, 1997, S. 81 (86). 25 Näher T. Öhlinger (Fn. 23), Rn. 98.
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ergeben sich im Hinblick auf die Gleichstellung der Staatsverträge mit den formellen Gesetzen gegen diese Praxis keine Bedenken.27 b) Praktische Bedeutung Für Kelsen war diese weitreichende Beteiligung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge eine Konsequenz des „Prinzips der Parlamentsherrschaft“28, die für ihn das Essentiale der Demokratie bildet.29 Art. 50 B-VG scheint damit jenen „verstärkten Anteil“ an parlamentarischer Kontrolle bzw. die „notwendige und zu steigernde Mitwirkung des Parlaments an international ausgerichteten Entscheidungen“, die gerade auch dem Jubilar (bezogen auf die parallele Bestimmung des Art. 59 Abs. 2 GG) ein Anliegen sind,30 durchaus zu erfüllen. Ob diese Kontrolle auch jene Effektivität aufweist, die sich Wilfried Fiedler in diesem Zusammenhang wünscht, ist freilich eine andere Frage. In der Realität ist der Handlungsspielraum des Parlaments gerade bei der Genehmigung völkerrechtlicher Verträge äußerst gering. Das Parlament kann, von den zuvor skizzierten Ausnahmen abgesehen, am Vertragstext keine Änderungen vornehmen, sondern ist auf die Alternative einer Genehmigung oder Ablehnung beschränkt und sieht sich dabei vielfachen außenpolitischen Restriktionen unterworfen. In der Regel reduziert sich daher die parlamentarische Mitwirkung auf eine bloß formale Prozedur – auf ein „,Nachkeppeln‘, da der Inhalt des Vertrages bereits feststeht“, wie dies Bruno Kreisky als Bundeskanzler einmal formulierte.31 Die Geschäftsordnung des Nationalrats sieht denn auch für Staatsverträge die Möglichkeit eines „verkürzten Verfahrens“ ohne Ausschussberatungen vor, von dem durchaus häufig Gebrauch gemacht wird. Die von Kelsen von Art. 50 B-VG erwartete Demokratisierung der Außenpolitik würde wohl andere Instrumente erfordern. Darauf wird noch zurückzukommen sein.32
26 So K. Zemanek, Das Völkervertragsrecht, in: Neuhold / Hummer / Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 4. Aufl. 2004, Rn. 305. 27 T. Öhlinger (Fn. 23), Rn. 101. 28 Kelsen, Bundesverfassung (Fn. 14), S. 134. 29 Siehe H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 26 ff. 30 Siehe W. Fiedler (Fn. 20), S. 21; ders. (Fn. 2), S. 75 f. 31 Salzburger Nachrichten vom 15. 7. 1972 zu einer von der Opposition verlangten Sondersitzung des Nationalrats über die Genehmigung des Freihandelsabkommens mit der EWG. 32 Siehe unten IV. 4.
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III. Die B-VGNovelle 1964 1. Der Anlass der Novelle: Der Verfassungsrang der EMRK Art 50 B-VG wurde zweimal in tiefgreifender Weise verändert, zum ersten Mal 1964.33 Diese Novelle wurde durch Entscheidungen des VfGH34 ausgelöst, die der EMRK den Verfassungsrang aberkannten. Österreich war der EMRK 1958 beigetreten, und sie war nach der Absicht des Nationalrats als Staatsvertrag im Verfassungsrang in die österreichische Rechtsordnung inkorporiert worden. Allerdings wurde sie gemäß einer bis dahin zu Staatsverträgen vertretenen Auffassung nicht auch im BGBl. als Verfassungsrecht gekennzeichnet.35 In einer 1960 einsetzenden Rechtsprechung verneinte der VfGH mangels einer solchen Kennzeichnung diesen Verfassungsrang und sprach der EMRK als bloß den Rang eines einfachen Gesetzes besitzenden Staatsvertrag auch die unmittelbare Anwendbarkeit ab. In der pointierten Formulierung von Felix Ermacora36: „Damit gelang es (dem VfGH) für sechs Jahre, sich die MRK samt ihren Protokollen vom Leib zu halten.“ Die erforderliche Sanierung einer Reihe von als verfassungsändernd beschlossenen, aber nicht als solche bezeichneten Staatsverträgen bzw. einzelner Bestimmungen in Staatsverträgen wurde zum Anlass einer sorgfältig vorbereiteten Verfassungsnovelle genommen, mit der die Rechtssatzform „Staatsvertrag“ grundsätzlich neu geregelt wurde.
33 BGBl. 1964, Nr. 59. Dazu von Grüningen, Die österreichische Verfassungsnovelle über Staatsverträge vom 4. März 1964, ZaöRV 1965, S. 76 ff.; H. Klecatsky, Die Bundesverfassungsnovelle vom 4. März 1964 über die Staatsverträge, JBl 1964, S. 349 ff.; H. Miehsler, Alfred Verdross’ Theorie des gemäßigten Monismus und das Bundesverfassungsgesetz vom 4. März 1964, BGBl. Nr. 59, JBl 1965, S. 566 ff.; R. Walter, Die Neuregelung der Transformation völkerrechtlicher Verträge in das österreichische Recht, ÖJZ 1964, S. 449 ff. 34 VfGH Slg. 3767 / 1960, 4049 / 1961 u. a.; ferner Slg. 4127 / 1961, 4213 / 1962 zum Staatsvertrag von Wien. 35 Dies entsprach der bis dahin üblichen Praxis auf der Grundlage des Art. 50 Abs. 2 B-VG in seiner ursprünglichen Fassung, die den dort enthaltenen Verweis auf Art. 44 Abs. 1 B-VG (formale Erfordernisse von Verfassungsgesetzen) lediglich auf die dort normierten Mehrheitserfordernisse bezog, nicht aber auch auf die dort für formelle Bundesverfassungsgesetze angeordnete Bezeichnungspflicht. Dem widersprach G. Winkler, Der Verfassungsrang von Staatsverträgen, ZÖR 10, 1959 / 60, S. 514 (535 ff.). Der VfGH schloss sich dieser Auffassung an. 36 F. Ermacora. Die Rechtsprechung österreichischer Gerichte zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: FS Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, 1968, S. 167 (176).
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2. Der Erfüllungsvorbehalt Neu ist insbesondere das Institut des „Erfüllungsvorbehaltes“: Anlässlich der Genehmigung eines Staatsvertrages kann der Nationalrat beschließen, dass dieser Vertrag „durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist“. Dies gilt als eine authentische Interpretation, dass der Vertrag nicht unmittelbar anwendbar („self-executing“) ist. Allerdings bedeutet die Unterlassung eines solchen Vorbehalts nicht auch eine verbindliche Anordnung seiner unmittelbaren Anwendbarkeit; vielmehr ist es diesfalls Sache der zuständigen Behörden und Gerichte, diese Frage selbst zu klären. Darin liegt eine gewisse Schwäche des Erfüllungsvorbehalts. Eine weitere Schwäche hat sich aus der – sehr fragwürdigen – Auffassung der Praxis ergeben, dass ein solcher Vorbehalt nur bezüglich eines ganzen Vertrages gemacht werden dürfe. Tatsächlich stellt sich aber die Frage, ob ein völkerrechtlicher Vertrag unmittelbar anwendbar ist oder nicht, für die potentiellen Anwender (Verwaltungsbehörden und Gerichte) stets nur hinsichtlich einzelner Bestimmungen eines Vertrages. Die 2007 / 08 erfolgte Neufassung des Art. 50 B-VG – dazu sogleich IV. – stellte denn auch klar, dass ein Erfüllungsvorbehalt auch in einem eingeschränkten Umfang erlassen werden kann (Art. 50 Abs. 2 Z. 3). Die Praxis hat allerdings von dieser Neufassung in den zwei Jahren ihrer Geltung noch keine Kenntnis genommen. Das deutet auf strukturelle Probleme hin, die noch näher zu untersuchen wären. Bislang hat jedenfalls diese „Erfindung“ des österreichischen Verfassungsgesetzgebers die daran geknüpften Erwartungen – nämlich eine klare und verbindliche Scheidung der unmittelbar anzuwendenden und der non-self-executing Regelungen völkerrechtlicher Verträge zu gewährleisten – nicht ganz erfüllt. 3. Verfassungsgerichtliche Prüfung der Staatsverträge Durch die Novelle 1964 wurde ferner die (zuvor bestrittene und jedenfalls nie praktizierte) Zuständigkeit des VfGH zur Prüfung der Verfassungs- oder Gesetzeskonformität völkerrechtlicher Verträge klargestellt (Art. 140a B-VG).37 Es hat freilich auch seither noch keinen Fall gegeben, in dem der VfGH die Gesetz- oder Verfassungswidrigkeit eines Staatsvertrages festgestellt hätte. Mit der neu geschaffenen Prüfungsbefugnis des VfGH hängt es auch zusammen, dass die parlamentarische Genehmigung nicht mehr als ein Gültigkeitserfordernis eines politischen oder gesetzändernden Staatsvertrages normiert ist. Sie ist keine Bedingung der Gültigkeit, sondern der Verfassungskonformität eines völkerrechtlichen Vertrages. Wurde sie zu Unrecht unterlassen, so ist ein Vertrag auch nicht 37 Näher T. Öhlinger, Art. 140a B-VG, in: Korinek / Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Loseblattausgabe 7. Lfg. 2005, Rz. 1 ff.; H. Schäffer, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Staatsverträgen in Österreich in rechtsvergleichender Perspektive, in: FS Starck, 2007, S. 953 ff.
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nichtig, sondern darf – ab der einschlägigen Feststellung des VfGH – von österreichischen Organen nur nicht angewendet werden. Der Ausdruck „gesetzändernd“ selbst wird durch die Worte „oder gesetzesergänzend“ erweitert, um damit außer jeden Zweifel zu stellen, dass eben jeder Staatsvertrag, der die Gesetzgebungskompetenz berührt, der parlamentarischen Mitwirkung bedarf.38
IV. Die Neufassung des Art. 50 B-VG Nach mehreren kleineren Änderungen39 erfolgte eine neuerliche tiefgreifende Revision im Jahr 2007 (kundgemacht im BGBl. I 2008, Nr. 2). Art. 50 B-VG erhielt damit folgende Fassung: (1) Der Abschluss von 1. politischen Staatsverträgen und Staatsverträgen, die gesetzändernden oder gesetzesergänzenden Inhalt haben und nicht unter Art. 16 Abs. 1 fallen, sowie 2. Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden, bedarf der Genehmigung des Nationalrates. (2) Für Staatsverträge gemäß Abs. 1 Z 1 gilt darüber hinaus Folgendes: 1. Sieht ein Staatsvertrag seine vereinfachte Änderung vor, so bedarf eine solche Änderung nicht der Genehmigung nach Abs. 1, sofern sich diese der Nationalrat nicht vorbehalten hat. 2. Gemäß Abs. 1 Z 1 genehmigte Staatsverträge bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, soweit sie Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches der Länder regeln. 3. Anlässlich der Genehmigung eines Staatsvertrages kann der Nationalrat beschließen, in welchem Umfang dieser Staatsvertrag durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist. (3) Auf Beschlüsse des Nationalrates nach Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 Z 3 ist Art. 42 Abs. 1 bis 4 sinngemäß anzuwenden. (4) Staatsverträge gemäß Abs. 1 Z 2 dürfen unbeschadet des Art. 44 Abs. 3 nur mit Genehmigung des Nationalrates und mit Zustimmung des Bundesrates abgeschlossen werden. Diese Beschlüsse bedürfen jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. (5) Der Nationalrat und der Bundesrat sind von der Aufnahme von Verhandlungen über einen Staatsvertrag gemäß Abs. 1 unverzüglich zu unterrichten.
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Siehe zuvor II. 1. Siehe T. Öhlinger (Fn. 23), Rn. 10.
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1. Das Motiv der Neufassung Anders als die Novelle von 1964 wurde diese Änderung nicht durch eine Diskussion über die Relation von Völkerrecht und staatlichem Recht oder die Position völkerrechtlicher Verträge im staatlichen Recht ausgelöst. Die Neufassung des Art. 50 B-VG war vielmehr Teil einer Verfassungsnovelle, deren Ziel die „Bereinigung“ des Bundesverfassungsrechts war.40 Dazu muss man wissen, dass das österreichische Bundesverfassungsrecht nicht aus einem einzigen Verfassungsgesetz besteht. Neben dem „Bundes-Verfassungsgesetz“ existieren vielmehr rund 50 weitere Bundesverfassungsgesetze (BVG) sowie mehrere hundert Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen. Es gibt ferner eine Reihe von Staatsverträgen, die – wie die EMRK und alle ihre Zusatzprotokolle – zur Gänze oder in einzelnen Bestimmungen Verfassungsrang besitzen, und es gab bis vor kurzem mehrere hundert Verfassungsbestimmungen auch in Staatsverträgen. Die Neufassung des Art. 50 B-VG war Teil eines Programms, das sich eine Reduktion des Bundesverfassungsrechts außerhalb der „Stammurkunde“ des B-VG zum Ziel setzte. 2. Die Eliminierung der Rechtssatzform „verfassungsändernder oder verfassungsergänzender Staatsvertrag“ Die in dieser Hinsicht wichtigste Innovation findet sich gerade nicht im Text des neuen Art. 50 B-VG: Mit der Reduktion des Verweises im Abs. 3 auf Art. 42 B-VG (Verfahren der einfachen Gesetzgebung) wurde die Rechtssatzform „verfassungsändernder oder verfassungsergänzender Staatsvertrag“ aus der österreichischen Rechtsordnung eliminiert.41 Es ist in Zukunft nicht mehr möglich, Bundesverfassungsrecht in der Form eines Staatsvertrages zu erzeugen. Gleichzeitig wurden in einem „Ersten Verfassungsrechtsbereinigungsgesetz“ eine Reihe von Staatsverträgen im Verfassungsrang sowie Verfassungsbestimmungen in 176 Staatsverträgen zu „einfachen Staatsverträgen oder Bestimmungen“42 herabgestuft.43 Voraussetzung dafür war die Änderung mehrerer Bestimmungen des B-VG, mit denen bislang Staatsverträge häufig kollidierten – eine Kollision, die regelmäßig durch den Verfassungsrang der einschlägigen staatsvertraglichen Regelungen gelöst wurde. Dazu gehört auch der neue Abs. 2 Z. 1 im Art. 50 B-VG: Weil parlamentarisch genehmigte Staatsverträge, wie schon gesagt44, nur unter neuerlicher Mitwirkung 40 Siehe dazu auch P. Lindermuth, Das Recht der Staatsverträge nach der Verfassungsbereinigung, ZÖR 2009, S. 299 (300 ff.). 41 Vgl. A. Janko, Staatsverträge und Bundesverfassung, in: FS Köck, 2009, S. 501 (505 ff.); Lindermuth (Fn. 40), S. 310 ff. 42 So die Terminologie dieses Gesetzes; gemeint sind Verträge oder Vertragsbestimmungen im Rang einfacher Gesetze. 43 Dazu näher E. Wiederin, Verfassungsbereinigung, in: Jahrbuch Öffentliches Recht 2008, S. 45 (64 f.).
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des Parlaments abgeändert werden dürfen, wurden Bestimmungen in Staatsverträgen über vereinfachte Änderungsverfahren ohne notwendige Mitwirkung der nationalen Parlamente – gewissermaßen als leges speciales zu Art. 50 B-VG – in den Verfassungsrang gehoben.45 Eine Reihe von Staatsverträgen oder einzelner Bestimmungen in Staatsverträgen behalten allerdings ihren Verfassungsrang, darunter die EMRK und ihre Zusatzprotokolle. 3. Grundlagenverträge der EU a) Ein neuer Typus von „Staatsverträgen“ Auch die Neufassung des Abs. 1 im Art. 50 B-VG erfolgte aus diesem Motiv. Ihr wesentlicher Gehalt besteht in der Differenzierung zwischen politischen und gesetzändernden Verträgen (Z. 1) auf der einen und „Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden“ (Z. 2) – darunter ist das vertragliche Primärrecht der EU zu verstehen – auf der anderen Seite. Der Beitritt zur EU (1994) beruhte auf einem besonderen Bundesverfassungsgesetz.46 In der Folge wurden auch die Verträge von Amsterdam und von Nizza sowie die Beitrittsverträge von 2003 und 2006 auf der Grundlage spezieller Bundesverfassungsgesetze ratifiziert.47 Nunmehr ermächtigt Art. 50 Abs. 1 Z. 2 B-VG den Nationalrat in genereller Weise dazu, Grundlagenverträge der EU zu genehmigen (und durch diese Genehmigung einen solchen Vertrag in die österreichische Rechtsordnung zu inkorporieren). Das eben war das Motiv dieser Neuerung. Besondere Bundesverfassungsgesetze sind dafür in Zukunft überflüssig. Erster Anwendungsfall der neuen Bestimmung war der Vertrag von Lissabon.48 Mit dieser Differenzierung wird zugleich die besondere Rechtsqualität solcher Verträge anerkannt, die sich aus dem primären EU-Recht selbst ergibt: ihre potentielle unmittelbare Anwendbarkeit sowie ihr (Anwendungs-)Vorrang vor staatlichem Recht. Unbestritten ist dabei in Österreich der Vorrang des primären (wie sekundären) EU-Rechts auch vor dem staatlichen Verfassungsrecht. Es folgt dies aus dem EU-BeitrittsBVG, das u. a. wegen dieses Geltungsanspruchs des EURechts (damals noch: Gemeinschaftsrechts) im Verfahren einer „Gesamtänderung der Bundesverfassung“, somit auf der Grundlage einer Volksabstimmung, beSiehe oben II. 3. a) bb). Siehe Lindermuth (Fn. 40), S. 314 f. 46 EU-BeitrittsBVG BGBl. 1994, Nr. 744. 47 Näher T. Öhlinger, BVG Amsterdam / Nizza, in: Korinek / Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 6. Lfg. 2003, Rn. 1. 48 Ausführlich T. Öhlinger, Übernahme des Vertrages von Lissabon in die österreichische Rechtsordnung, in: Hummer / Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, S. 411 ff. 44 45
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schlossen wurde. Dieses BeitrittsBVG steht weiterhin in Geltung, während die anlässlich des Vertrags von Amsterdam usw. erlassenen Ermächtigungsgesetze im Sinne der angesprochenen Verfassungsrechtsbereinigung49 aufgehoben wurden. b) Verfassungsrechtliche Grenzen des primären EU-Rechts EU-Grundlagenverträge im Sinn dieser Bestimmung bedürfen gemäß Art. 50 Abs. 4 B-VG einer qualifizierten Mehrheit im Nationalrat und im Bundesrat. Diese „Verfassungsmehrheit“ legitimiert es, dass Regelungen solcher Verträge vom Bundesverfassungsrecht abweichen, ohne dass solche Abweichungen besonders gekennzeichnet werden müssen. Allerdings normiert Art. 50 Abs. 4 auch eine bislang nicht ganz unstrittige Grenze: Mit dem Verweis auf Art. 44 Abs. 3 wird klargestellt, dass neuerlich eine Volksabstimmung stattzufinden hat, wenn ein EU-Grundlagenvertrag so massiv in die staatliche Verfassungsordnung eingreift, dass eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ vorliegt, wie dies anlässlich des Beitritts einhellig angenommen wurde.50 Aus einer anderen Perspektive: EU-Recht hat nicht auch Vorrang vor den Grundprinzipien der Bundesverfassung, deren Änderung eine „Gesamtänderung“ dieser Verfassung im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG ausmacht. c) Volksabstimmungen über EU-Verträge Der pauschale Verweis auf Art. 44 Abs. 3 hat freilich auch einen Effekt, der offensichtlich nicht intendiert war: Er ermöglicht es einem Drittel der Mitglieder des Nationalrats oder des Bundesrats, eine Volksabstimmung über einen EU-Vertrag auch dann zu verlangen, wenn ein solcher Vertrag nicht auch eine Gesamtänderung der Bundesverfassung impliziert. In den Erläuterungen der Regierungsvorlage der B-VGNovelle 2008 wird dies zwar anders dargestellt. Sie gehen von der früheren – von Kelsen begründeten, aber nicht unbestritten gebliebenen – Auffassung aus, dass über einen völkerrechtlichen Vertrag „eine Volksabstimmung unter keinen Umständen stattfinden“ könne.51 Sollte ein solcher Vertrag eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken, so müsse vorweg ein formelles Bundesverfassungsgesetz beschlossen und dieses einem Referendum unterzogen werden (wie dies anlässlich des EU-Beitritts geschah). Der neue Wortlaut des Art. 50 B-VG hat dieser Auffassung freilich jegliche Grundlage entzogen und ist wohl kaum einer Auslegung im Sinn der Regierungsvorlage zugänglich.52 Siehe zuvor IV. 1. Dazu ausführlich Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, in: Korinek / Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 1. Lfg. 1999, Rn. 2 ff. 51 H. Kelsen, Bundesverfassung (Fn. 14), S. 137. Zu den Gegenpositionen siehe A. Janko, Gesamtänderung der Bundesverfassung, 2004, S. 347 ff. 49 50
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Den politischen Hintergrund dieser Kontroverse bildet ein Brief des damaligen Bundeskanzlers Gusenbauer und des damaligen neuen Parteivorsitzenden der SPÖ und nunmehrigen Bundeskanzlers Faymann im Frühjahr 2008 an die auflagenstärkste österreichische Tageszeitung „Die Krone“, die eine Kampagne zur Abhaltung einer Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon unterstützt hatte. In diesem Brief wird angekündigt, dass ihre Partei – anders als noch im Fall des Vertrags von Lissabon – in Zukunft für Volksabstimmungen über „wesentliche“ Änderungen der EU-Verträge eintreten würde. Sollte die SPÖ ihre Position nicht revidieren oder sich die Mehrheitsverhältnisse im österreichischen Nationalrat nicht radikal verändern, muss daher in Zukunft auch in Österreich mit regelmäßigen Referenden über EU-Verträge gerechnet werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit solchen Referenden über den Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon könnte das in Europa gemischte Gefühle auslösen. 4. Information des Parlaments Eine bemerkenswerte Neuerung stellt der letzte Absatz des Art. 50 B-VG dar. Er verpflichtet – wohl: den zuständigen Bundesminister –, den Nationalrat und den Bundesrat von der Aufnahme von Verhandlungen über einen politischen oder (wahrscheinlich53) gesetzändernden Staatsvertrag unverzüglich zu unterrichten. Diese neue Regelung war ein Zugeständnis an die parlamentarische Opposition, die im Vorfeld der B-VGNovelle 2008 – im sog. „Österreich-Konvent“54 – verfassungsändernde und damit eine Zweidrittel-Mehrheit im Nationalrat erfordernde Staatsverträge oder Bestimmungen in Staatsverträgen als ein Instrument der Kontrolle der Regierung(smehrheit) erachtete und deren Ab- bzw. Rückbau als eine „Entdemokratisierung der Außenpolitik“ kritisierte.55 Durch diese frühzeitige Information (wie sie auch Wilfried Fiedler postuliert56) soll dem Parlament die Möglichkeit eines Einflusses auf die Vertragsgestaltung zu 52 Näher T. Öhlinger (Fn. 23), Rn. 69 f. Anders allerdings G. Lienbacher, Staatsreform, in: Jahrbuch Öffentliches Recht 2008, S. 23 (32); E. Wiederin, Verfassungsbereinigung, in: Jahrbuch Öffentliches Recht 2008, S. 45 (55 f.); C. Grabenwarter / B. Ohms, B-VG, Manz Taschenausgabe, 12. Aufl. 2008, Fn. 1 zu Art 44 B-VG; Lindermuth (Fn. 40) S. 330 f.; I. Siess-Scherz, Staatsverträge und Bundesverfassung: Weiterhin ein nicht ganz unproblematisches Verhältnis – eine Auseinandersetzung mit Teilaspekten des Art. 50 B-VG, in: Jahrbuch Öffentliches Recht 2009, S. 77 (95 ff.). 53 Dies steht zu Verhandlungsbeginn nicht immer schon fest, sondern kann sich erst im Laufe, allenfalls auch – auf Grund einer genaueren verfassungsrechtlichen Prüfung durch den dafür zuständigen Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes – erst nach dem Vertragsabschluss ergeben. 54 Dazu näher T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Auf. 2009, Rn. 61a. 55 Siehe T. Öhlinger, Das Völkerrecht und das Europarecht im Österreich-Konvent, in: FS Schäffer, 2006, S. 555 (563 f.). 56 W. Fiedler (Fn. 2), S. 75.
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einem Zeitpunkt eröffnet werden, in dem der Vertragstext noch nicht unabänderlich fixiert ist, wie dies im Zeitpunkt der parlamentarischen Genehmigung in aller Regel der Fall ist.57 Das Parlament (Nationalrat oder Bundesrat) könnte in jener Verfahrensphase seine Position etwa in Form einer Resolution (Art. 52 B-VG) zum Ausdruck bringen. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass weder der Nationalrat noch der Bundesrat in den zwei Jahren seit dem Inkrafttreten dieser Bestimmung imstande waren, ihre Geschäftsordnungen an diese neue Regelung anzupassen, geschweige denn dass es den Versuch gab, eine Position zu einem in Verhandlung stehenden Vertrag zu formulieren. Die auffallende Diskrepanz zwischen rechtlichem Anspruch und tatsächlichem Interesse oder auch Fähigkeit des Parlaments an einer Mitwirkung in der Außenpolitik konnte also auch diese neue Bestimmung bislang nicht im Sinn des Kelsen’schen Prinzips der Parlamentsherrschaft58 überwinden.
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Siehe zuvor II. 3. b). Siehe zuvor Fn. 28.
Grundrechtsdogmatische Probleme in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Von Georg Ress*
I. Die Grundrechts-„dogmatik“ des EGMR setzt sich aus einer Reihe von Besonderheiten gegenüber der Rechtssprechung nationaler Verfassungsgerichte zusammen. Ebenso wie bei den nationalen Grundrechten gibt es bei den Menschenrechten und Grundrechten im Rahmen der EMRK Probleme aus der Natur des Grundrechts – als Abwehrrecht, als objektive Rechtsgarantie mit daran anknüpfenden Schutzpflichten, eventuell sogar als Leistungsrecht und als positive und negative Rechte. Der Umfang des Schutzbereichs wird durch eine vom Gerichtshof schrittweise etablierte dynamische, evolutive Auslegung entwickelt, wobei die Rechtsvergleichung als Auslegungsmethode (present day conditions) eine entscheidende Rolle spielt (the Convention as a living instrument). Die Konvention hat sich dabei von einem klassischen völkerrechtlichen Vertrag mit menschenrechtlicher Schutzwirkung zu einer Art europäischem Verfassungsinstrument (European Public Order) entwickelt, für das nicht mehr die etablierten Regeln der Reziprozität gelten. Für die Grundrechtsschranken spielt im Bereich der Artikel 8 – 11, aber auch darüber hinaus, die Bestimmung dessen eine Rolle, was „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist“. Dieser Begriff führt auf ein je nach Menschen- und Grundrecht unterschiedlich weit gehandhabtes Verhältnismäßigkeitsprinzip zurück. Eine bedeutende Rolle daneben (oder auch innerhalb des Verhältnismäßigkeitsprinzips) spielt der so genannte Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten (margin of appreciation), der die Eingriffslinie zwischen dem nationalen Souveränitätsraum und der Rechtssprechung des Gerichtshofs auf der Grundlage der EMRK kennzeichnet. II. Ebenso wie in nationalen Verfassungen gibt es „absolute“ Rechtsgarantien, die ohne ausdrückliche Schranken aus dem eigenen Schutzbereich heraus interpretiert werden müssen. Das gilt insbesondere für das in Art. 3 verankerte Verbot der * (em.) o. Professor Dr. Dr. Dr. h.c. mult., ehem. Richter des EGMR. Mit dem Jubilar verbinden mich viele Jahre gemeinsamer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität des Saarlandes, vor allem aber unser wissenschaftliches Interesse an der Rechtslage Deutschlands nach 1945, an Problemen der Staatensukzession und am Schutz der Menschrechte. Wilfried Fiedler war immer jemand, der den Fragen auf den Grund gehen wollte, wofür unser gemeinsames Interesse an den Arbeiten von Hermann Heller steht.
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Folter, der unmenschlichen und der erniedrigenden Behandlung. Die Einschränkungen sind inhärent aus den Grenzen des Schutzbereichs zu entwickeln. Die Tendenz, gewisse schrankenspezifische Einschränkungen in die Auslegung des Schutzbereichs einzubeziehen, wie sie auch für das Bundesverfassungsgericht vermerkt wurde, ist auch beim EGMR unverkennbar, wenngleich nicht durchgängig. Am deutlichsten zeigen sich diese Abgrenzungsprobleme bei Art. 2 (Recht auf Leben), das nur wenige explizit aufgelistete Einschränkungsmöglichkeiten kennt, was sich dahingehend auswirkt, dass der Schutzbereich – wie bei der Frage, ob das ungeborene Leben, der Fötus, vom Begriff des menschlichen Lebens mit umfasst wird – entsprechend eng, um nicht zu sagen: verengt – interpretiert wird.1 So ist die Interpretation und Abgrenzung des Schutzbereichs der EMRK-Garantien selbst unsicher. Schon die Kommission und jetzt der Gerichtshof haben in Art. 2 bei der Frage, ob die Abtreibungsgesetze mancher Länder statthaft sind, unterstellt, dass sich Art. 2 auch auf das ungeborene Leben erstreckt und, obwohl eine entsprechende Einschränkungsmöglichkeit nicht im Text von Art. 2 steht, eine inhärente Schranke für gegeben und das Recht auf Leben nicht unverhältnismäßig betroffen angesehen. Diese Argumentation ist eigentlich das Ende der absoluten Rechte, sofern dieser Begriff überhaupt einen Sinn hatte. Denn ob die Beschränkung, die es zu einem relativen macht, von außen herangetragen oder als inhärente Grenze über die Auslegung des Schutzbereichs entwickelt wird, ist dogmatisch zwar sicher bedeutsam, im Ergebnis aber in der Regel irrelevant. In meinen Augen ist auch die Entscheidung Jahn and others v. Germany2 ein Beispiel für diese Tendenz, weil der EGMR zwar eine Eigentumsverletzung feststellt, aber die normale Rechtsfolge, nämlich eine Entschädigungspflicht des Verletzerstaates herunterspielt, beziehungsweise verneint. Im Völkerrecht bedeutet dies die Aufweichung der HullRule, wie sie sich in den Enteignungsfällen Chiles und anderer Staaten nach sozialistisch – kommunistischen Umwälzungen schon angebahnt hat, wo auch außergewöhnliche Umstände zur Rechtfertigung ins Feld geführt wurden. Diese Tendenz mag durch die große Zahl von Fällen, die hinter jedem dieser Enteignungsfälle steht, begünstigt worden sein, da der EGMR kaum in der Lage ist, diese hohe Zahl von Fällen angemessen zu bewältigen. Im Urteil Broniowski v. Poland3 hat der Gerichtshof mit der Entwicklung der so genannten Pilot Procedure einen Ausweg aus diesem Dilemma gezeigt, der sich in Zukunft positiv auf die Behandlung vergleichbarer Fälle auswirken wird. Dies hat sich schon bei den Post-LoizidouFällen gezeigt.4 III. Zwar ist in der EMRK die Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Grundfreiheiten angelegt (Rights and freedoms – so der Titel von Section I) – sie Siehe die Diskussion in Vo v. France [GC], no. 53924 / 00, ECHR 2004-VIII – (8. 7. 04). Jahn and others v. Germany [GC], nos. 46720 / 99, 72203 / 01 und 72552 / 01, ECHR 2005-VI (30. 6. 05). 3 Broniowski v. Poland [GC], no. 31443 / 96, ECHR 2004-V – (22. 6. 04). 4 Siehe Xenides-Arestis v. Turkey, no. 46347 / 99 (22. 12. 05); Demopoulos and others v. Turkey [GC], nos. 46113 / 99, etc. (1. 3. 10). 1 2
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hat aber in der Praxis nur geringe Auswirkung. Für alle Menschenrechte und Grundfreiheiten hat der EGMR prozedurale Schutzpflichten zur Sicherung („secure“ in Artikel 1) der substantiellen Garantien entwickelt, z. B. die Pflicht zur effektiven Ermittlung in den Fällen von verschwundenen Personen. Insbesondere wurde im Hinblick auf Artikel 2 und Artikel 3 (Schutz des Lebens, Schutz vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung / Folter) dargelegt, dass ein Staat, wenn eine Person durch Mitwirkung staatlicher Organe verschwindet, eine Pflicht zur effektiven Ermittlung über den Verbleib des Betroffenen hat (Tepe v. Turkey5 und Ülkü Ekinchi v. Turkey6). Häufig wird behauptet, dass diese Person sich entweder in den Händen des Staates befindet oder unter Einwirkung staatlicher Macht verschwunden, um nicht zu sagen: umgekommen ist. In solchen Fällen wird der Staat für verpflichtet gehalten, wirklich effektiv das Schicksal des Betroffenen aufzuklären. Oft lässt sich nicht feststellen, ob die Person tot ist und wer für den Tod verantwortlich ist. In der Regel kann auch der Gerichtshof eine solche Aufklärung nicht bewerkstelligen und auch Beweiserhebungen in den betreffenden Ländern führen oft in der Substanz zu einem negativen Ergebnis. Was der Gerichtshof aber häufig feststellen kann, ist die Verletzung der Konvention durch eine mangelhafte Ermittlung. Da der Staat in einer solchen Situation verpflichtet ist, ein wirklich effektives Ermittlungsverfahren durchzuführen, um festzustellen, erstens, wo die betreffende Person verblieben ist, zweitens, wer unter Umständen strafrechtlich für das Verschwinden verantwortlich ist, liegt bei mangelhafter Ermittlung eine Verletzung der „prozeduralen Seite“ der Menschenrechtsgarantie vor. Ist eine Person nachgewiesenermaßen in den staatlichen Gewahrsam gekommen, so hat der Staat die Beweislast dafür nachzuweisen, dass alle gesundheitlichen Schäden, mit denen der Betreffende wieder in Freiheit gesetzt wird, nicht auf eine staatliche Einwirkung zurückgehen. Im Fall Ribitsch gegen Österreich7 hat der Gerichtshof festgestellt, dass Österreich nicht plausibel dargelegt hat, wie es zu den erheblichen Verletzungen des Beschwerdeführers in einem Wiener Polizeibüro gekommen ist. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die Regierung: „. . . were accordingly under an obligation to provide a plausible explanation of how the applicant’s injuries were caused. But the government did not more than referred to the outcome of the domestic criminal proceedings where the high standard of proof necessary to secure a criminal conviction was not found to have been satisfied. It is also clear that, in that context, significant weight was given to the explanation that the injuries were caused by a fall against a car door. Like the Commission, the Court finds this explanation unconvincing. On the basis of all the material placed before it, the Court concludes that the government has not satisfactorily established that the applicant’s injuries were caused otherwise than – entirely, mainly, or partly – by the treatment he underwent while in police custody.“
Die Schutzpflichten fließen bei allen Rechten der EMRK also aus den substantiellen Garantien, wobei das nebeneinander beider Aspekte (positive obligations / 5 6 7
Tepe v. Turkey, no. 27244 / 95 (Sect. 2) (Eng) – (9. 5. 03). Ülkü Ekinchi v. Turkey, no. 27602 / 95 (Sect. 2) (Eng) – (16. 7. 02). Ribitsch v. Austria – 336 (4. 12. 95).
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duty not to interfere) vielfach strittig ist (vergleiche die Fälle Hatton and others v. UK8 und Odievre v. France9). IV. Für schrankenlose Menschenrechte verwendet der Gerichtshof den Begriff der absoluten Rechte. Für diese Menschenrechte, insbesondere das Folterverbot, ist eine Tendenz zur Ausdehnung des Schutzbereichs festzustellen. Zum Beispiel im Fall Selmouni v. France10 hat der Gerichtshof festgestellt, dass in diesem Fall die Misshandlungen während einer Polizeihaft nicht nur eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, sondern Folter darstellten. Der Gerichtshof stellte fest: „. . . having regard to the fact that the Convention is a ,living instrument which must be interpreted in the light of present day conditions‘, the Court considers that certain acts which were classified in the past as ,inhuman and degrading treatment‘ as opposed to ,torture‘ could be classified differently in the future. It takes the view that the increasingly high standard being required in the area of protection of human rights correspondingly and inevitably requires greater firmness in assessing breaches of the fundamental values of democratic societies.“
Zum Schutz der Menschenrechte, aber im Gegensatz zum berühmten SoeringFall11 aus dem Jahr 1989, hat der Gerichtshof kürzlich im Fall Einhorn v. France12, die Auslieferung eines zum Tode Verurteilten in die USA gestattet, weil inzwischen die Versicherung der amerikanischen Regierung, dass der Beschwerdeführer nicht zum Tode verurteilt würde, deutlicher geworden ist. V. Die Rechtsprechung hat im Hinblick auf die internationale rechtliche Einbettung Aspekte eines „judicial self restraint“ und eines „judicial activism“ gezeigt. Im Fall Bankovic13 gegen 17 NATO Staaten (auch eine Artikel 2 Beschwerde) hat der Gerichthof den Begriff der Jurisdiction in Artikel 1 restriktiv interpretiert und seine Gerichtsbarkeit für extraterritoriale Hoheitsakte der Vertragsstaaten verneint, also die Gleichung: Hoheitsakt, der einem Vertragstaat zurechenbar ist, ist gleich: Verantwortung unter der EMRK, nicht bestätigt. Der Gerichtshof hat hier ausgeführt: „In short, the Convention is a multi-lateral treaty operating, subject to article 56 of the Convention, in an essentially regional context and notably in the legal space (espace juridique) of the Contracting States. The Federal Republic of Yugoslavia clearly does not fall within this legal space. The Convention was not designed to be applied throughout the world, even in respect of the conduct of Contracting States. Accordingly the desirability of avoiding a gap or vacuum in human rights protection has so far been relied on by the Court in favour of establishing jurisdiction only when the territory in question was one that, but Hatton and otters v. UK [GC], no. 36022 / 97, ECHR 2003-VIII – (8. 7. 03). Odievre v. France [GC], no. 42326 / 98 ECHR 2003-III – (13. 2. 03). 10 Selmouni v. France [GC], no. 25803 / 94, ECHR 1999-V – (28. 7. 99). 11 Soering v. United Kingdom – 161 (7. 7. 89). 12 Einhorn v. France (dec.), no. 71555 / 01, ECHR 2001-XI – (16. 10. 01). 13 Bankovic and others v. Belgium and others (dec.) [GC], no. 52207 / 99, ECHR 2001-XII – (12. 12. 01). 8 9
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for the specific circumstances, would normally be converged by the Convention. The Court therefore is not persuaded that there was any jurisdictional link between the persons who were victims of the act complained of and the respondent states. Accordingly, it is not satisfied that the applicants and their deceased relatives were capable of coming within the jurisdiction of respondent states on account of the extraterritorial act in question.“
Diese Entscheidung hat den regionalen Charakter der EMRK und des Gerichtshofs bestätigt und damit die Erstreckung der Kompetenz des Gerichtshofs über den Bereich der Vertragsstaaten hinaus im Prinzip zurückgewiesen (Ausnahme ist ein besetztes Territorium in Nordzypern). In den Fällen, in denen es um die Auslegung der Vorbehalte ging (Belilos v. Switzerland14) hat der EGMR mit einem hypothetischem Parteiwillen die sachliche Reichweite der EMRK, so weit wie möglich, im ursprünglichen Sinn zu Erhalten getrachtet (extensive menschenrechtsfreundliche Interpretation). VI. Im Verhältnis zum Völkerrecht, hat der EGMR die EMRK „völkerrechtsfreundlich interpretiert“, d. h. sie so ausgelegt, dass sie mit dem Völkergewohnheitsrecht so weit wie möglich im Einklang steht. Es wäre auch ein anderer Zugang möglich gewesen, denn selbst ein völkerrechtlicher Vertrag ist durchaus als vertragliche Sonderrechtsordnung in Abweichung vom Völkergewohnheitsrecht, sofern es nicht ius cogens ist, zu verstehen. Diese völkerrechtsfreundliche Tendenz hat sich bei den Immunitätsurteilen zur Staatenimmunität (Al Adsani v. UK15) und zur diplomatischen Immunität (Fogarty v. UK16) gezeigt. Diese Entscheidungen eines internationalen Gerichts wie des EMGR haben erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts. Die Tatsache, dass der Gerichtshof im Fall Al Adsani (mit knapper Mehrheit 9:8) die Immunität des „Folterstaates“ Kuwait wenngleich nicht für strafrechtliche Verfolgungen, aber für privatrechtliche Schadensersatzansprüche bestätigt hat, war auch für den gegen die Bundesrepublik Deutschland in Griechenland anhängigen Prozess der Angehörigen der Opfer eines von der SS liquidierten Dorfes und für die (vergebliche) Vollstreckung ihres vor dem Areopag erstrittenen Titels von Bedeutung (Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany17). Denn der Gerichtshof hat die Nichtgenehmigung der Vollstreckung durch den griechischen Justizminister als mit Artikel 6 der EMRK (Garantie des Zugangs zum Gericht) deshalb als konventionsgemäß angesehen, weil für Fälle eines Schadensersatzanspruches an sich Immunität noch gewährt werden darf. VII. Bei der Interpretation des Schutzbereiches der Grundrechte hat sich der EGMR um eine Harmonisierung mit der Rechtsprechung des EuGH bemüht – insBelilos v. Switzerland – 132 (29. 4. 88). Al Adsani v. United Kingdom [GC], no. 35763 / 97, ECHR 2001-XI (21. 11. 01). 16 Fogarty v. United Kingdom [GC], no. 37112 / 97, ECHR 2001-XI (21. 11. 01). 17 Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany (dec.), no. 59021 / 00, ECHR 2001-X – (12. 12. 02). 14 15
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besondere bei der Interpretation des Begriffs Civil Right in Artikel 6 im Fall Pellegrin v. France18 hat der Straßburger Gerichtshof Definitionen des EuGH zum Begriff der öffentlichen Verwaltung (öffentlichen Gewalt) im alten Artikel 48 Abs. 4 EG Vertrag für seine Rechtsprechung übernommen und damit den Anwendungsbereich von Artikel 6 erheblich erweitert. Allerdings hat die spätere Rechtsprechung diese „Harmonie“ wieder in Frage gestellt. Andererseits hat der EGMR die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Artikels 6 auf Steuersachen (Ferrazzini v. Italy19) abgelehnt, weil es sich hierbei um einen zentralen und engen Bereich der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt handele, der nicht von diesem Verständnis des Begriffs Civil Right gedeckt ist. VIII. Für die Prozessgarantien des Artikel 6 ist kennzeichnend, dass einerseits die Probleme der Verfahrenslänge als Strukturprobleme mancher Staaten den Gerichtshof an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht haben. So hat der Gerichtshof gegen Italien in den Jahren 2001 und 2002 jedes Jahr nahezu 300 Urteile wegen überlanger Verfahrensdauer erlassen. Es hat insofern aber keine Verbesserung der Anforderungen wegen der großen Zahl von Verfahren gegeben, auch nicht im Hinblick auf die Länge der Verfahren vor Verfassungsgerichten. Diese Rechtssprechung ist kein spezielles Problem in der Bundesrepublik Deutschland, sondern taucht gegen Spanien, Portugal und andere Staaten auf. Andererseits hat der Gerichtshof mit seiner Betonung des Prinzips des kontradiktorischen Verfahrens (Waffengleichheit) zu einer Änderung der Verfahrensordnung in zahlreichen Vertragsstaaten Anlass gegeben. Im Fall Kress v. France20 und Yvon v. France21 hat der Gerichthof die Stellung des Commissaire du Gouvernement kritisch im Lichte der Waffengleichheit gewürdigt und Verletzungen festgestellt – nicht dagegen im Fall Kleyn and others v. Netherlands22 über die Mischung von konsultativen und jurisdiktionellen Elementen im niederländischen Staatsrat. Auch im Bezug auf Artikel 6 lassen sich „aktivistische“ und „restriktive“ Elemente feststellen. Zu den restriktiven Fällen gehören Waite and Kennedy v. Germany23, Urteil vom 18. 2. 1999, ein Fall der einen arbeitsrechtlichen Streit zwischen den Beschwerdeführern und der European Space Agency betraf. Die deutschen Gerichte haben aufgrund des Sitzabkommens die Gerichtsbarkeit vor deutschen Gerichten verneint, und der Straßburger Gerichtshof hatte diese Ablehnung bekräftigt – einerseits wegen der legitimen Ziele, welche internationale Organisationen wahrnehmen, und zweitens wegen der Existenz von „alternative means of legal process available to the applicants“, die angeblich im Rahmen der ESA selbst existiert. Ebenso restriktiv ist die Auslegung von Artikel 6 im Fall Prince Hans-Adam II of Liechtenstein v. Germa18 19 20 21 22 23
Pellegrin v. France [GC], no. 28541 / 95, ECHR 1999-VIII – (8. 12. 99). Ferrazzini v. Italy [GC], no. 44759 / 98, ECHR 2001-VII – (12. 7. 01). Kress v. France [GC], no. 39594 / 98, ECHR 2001-VI – (7. 6. 01). Yvon v. France, no. 44962 / 98 (sec. 3), ECHR 2003-V – (24. 4.03). Kleyn and others v. Netherlands [GC], no. 39343 / 98 etc., ECHR 2003-VI – (6. 5. 03). Waite and Kennedy v. Germany [GC], no. 26083 / 94, ECHR 1999-I – (19. 2. 99).
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ny24 ausgefallen. Unter den evolutiven oder extensiven Tendenzen könnte man den Fall Brumareseu v. Romania25 aus dem Jahr 1999 einordnen. In diesem Fall hatte der oberste Gerichtshof von Rumänien ein rechtskräftiges Urteil annulliert, welches schon vollstreckt worden war. Der Gerichtshof stellte fest, dass Artikel 6 mit seinem Recht auf ein Fair Trial, also ein faires Gerichtsverfahren, auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit enthalte und dass im Prinzip eine endgültige Entscheidung eines Rechtsstreites nicht jederzeit später in Frage gestellt werden dürfe. Der Gerichtshof stellte gleichzeitig fest, dass eine Verletzung von Artikel 1 des ersten Zusatzprotokolls (Schutz des Eigentums) vorlag. Der Beschwerdeführer war seines Eigentums an einer Wohnung ohne irgendeine Rechtfertigung durch öffentliche Interessen beraubt worden. Vergleichbare Probleme haben sich im Fall Sovtransavto Holding v. Ukraine26 gezeigt, wo die Annullierung aufgrund eines „Protests, welcher ebenfalls der Staatsanwaltschaft bzw. den politischen Instanzen die Eröffnung eines Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshofs und die Überprüfung auf die Gesetzmäßigkeit jederzeit ermöglichte“. Außerdem hatte in diesem Fall der Präsident Kutschma direkt in das Verfahren eingegriffen und damit die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte verletzt. Der Fall McGonnell v. UK27 betrifft die Funktionen des Bailiff of Guernsey. Da der Bailiff vorher an der Entscheidung über den Entwicklungsplan von Guernsey als Vorsitzender der Gesetzgebung teilgenommen und auch dem Royal Court bei der Entscheidung, eine Baugenehmigung für den Beschwerdeführer zu erteilen, vorgesessen hatte, war diese Funktionsvermischung Anlass dafür, die objektive Unabhängigkeit in Frage zu stellen. IX. Während beim Bundesverfassungsgericht die Abgrenzung zur Kompetenz des Gesetzgebers die unterschwellige Gratwanderung mancher Entscheidungen bestimmt, hat beim EGMR die Abgrenzung zu den Kompetenzen der Mitgliedsstaaten in dem Begriff der „margin of appreciation“ ihren dogmatischen Standort gefunden. Diese margin of appreciation schwankt je nach Natur des Menschen- / Grundrechts und der Umstände des Falles. Es ist auch eine dogmatisch umstrittene Frage, ob es zur Lösung der Fälle überhaupt der margin of appreciation bedarf und ob die Erwägungen nicht vielmehr einzig und allein im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips Platz finden sollten. Beispiele für eine solche margin of appreciation sind u. a. der Fall Pretty v. UK.28 Madame Pretty, die an einer Neuronenkrankheit litt und vom Kopf an gelähmt war, wollte Selbstmord mit ihres Ehemanns Hilfe begehen, was nach britischem Recht strafrechtlich verboten war. Sie 24 Prince Hans-Adam II of Liechtenstein v. Germany [GC], no. 42527 / 98, ECHR 2001-VIII – (12. 7. 01). 25 Brumareseu v. Romania [GC], no. 28342 / 95, ECHR 1999-VII – (28. 10. 99). 26 Sovtransavto Holding v. Ukraine, no. 48553 / 99 (sect. 4), ECHR 2001-VII – (25. 7. 02). 27 McGonnell v. United Kingdom, no. 28488 / 95 (sect. 3), ECHR 2000-II – (8. 2. 00). 28 Pretty v. United Kingdom, no. 2346 / 02 (sect. 4), ECHR 2002-III – (29. 4. 02).
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machte geltend, dass die Weigerung der britischen Behörden, einen begleiteten Selbstmord zu erlauben, die Konvention und speziell Artikel 2 und 3, aber auch Artikel 8 verletze. Der Gerichtshof wies ihre Beschwerde ab und fand, dass aus Artikel 2, welcher das Recht auf Leben schützt, nicht ein Recht zu sterben, ob durch dritte Personen oder mit Hilfe einer öffentlichen Behörde, abgeleitet werden könnte. Auch aus Artikel 3 ließ sich nach Ansicht des Gerichtshofs keine „positive obligation“ ableiten, welche die Regierung verpflichten könnte, entweder den Ehemann nicht zu verfolgen, wenn er seiner Frau beim Selbstmord helfe, oder irgendeine andere rechtmäßige Möglichkeit für einen begleitenden Selbstmord zu schaffen. Die Frage, ob der Eingriff in das Privatleben, Artikel 8, eine Verletzung darstelle, wurde von der Kammer eindeutig und einstimmig verneint, während der Gerichtshof bei Artikel 3 schon aus dem Begriff „treatment“ abgeleitet hat, dass das Verhalten der britischen Behörden nicht als ill-treatment bezeichnet werden kann: „It is beyond dispute that the respondent government have not, themselves, inflicted any ill-treatment on the applicant. Nor is there any complaint, that the applicant is not receiving adequate care from the State medical authorities. The situation of the applicant is therefore not comparable with the case of D. v. UK in which an AIDS-sufferer was threatened with removal from the United Kingdom to the island of St. Kitts where no effective medical or palliative treatment for his illness was available and he would have been exposed to the risk of dying under most distressing circumstances.“
Was Artikel 8 angeht, so hat der Gerichtshof immerhin akzeptiert, dass ein Eingriff in den Anwendungsbereich vorliegt: „The applicant in this case is prevented by law from exercising her choice to avoid what she considers will be an undignified and distressing end to her life. The Court is not prepared to exclude that this constitutes an interference with her right to respect for private life as guaranteed under article 8 § 1.“
Andererseits hat der Gerichtshof abgelehnt, aus Artikel 8 ein unbegrenztes Persönlichkeitsrecht oder Recht auf „self determination“ abzuleiten: „No previous case has established as such any right of self determination as being contained in article 8 of the Convention. The Court considers that the notion of personal autonomy is an important principle underlying the interpretation of its guarantees.“
Der Gerichtshof untersucht dann die Frage der margin of appreciation und der Verhältnismäßigkeit und ruft in Erinnerung: „that the margin of appreciation has been found to be narrow as regards interference in the intimate area of an individual sexual life.“ Diesen Aspekt hält der Gerichtshof nicht für überzeugend. Der Fall kann nicht „be regarded as of the same nature or of attracting the same reasoning“ als der Fall Dudgeon v. UK29 über das Verbot der Bestrafung der Homosexualität zwischen erwachsenen Männern. Für die Argumentation des Gerichtshofs war es entschei29
Dudgeon v. UK – 45 (22. 10. 81).
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dend – in agreement with the House of Lords – dass das Gesetz über die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord: „. . . was designed to safeguard life by protecting the weak and vulnerable and especially those who are not in a condition to take informed decisions against acts intended to end life or to assist an ending life.“
Der Gerichtshof kam zum Ergebnis, dass: „. . . the blanked nature of the ban on assisted suicide is not disproportionate. It does not appear to be arbitrary to the Court for the law to reflect the importance of the right to life, by prohibiting assisted suicide while providing for a system of enforcement and education which allows due regard to be given in each particular case to the public interest in bringing a prosecution, as well as to the fair and proper requirements of redistribution and deterrence.“
Noch stärker waren die Argumente im Fall Odievre v. France30, ein Fall der die anonyme Geburt in Frankreich betraf, wo es darum ging, ob und wie weit die französische Gesetzgebung die Gesundheit der Mutter und des Kindes während der Schwangerschaft und der Geburt schützen und Abtreibungen vermeiden durfte: „. . . there is also a general interest at stake, as a French legislator has consistently thought to protect the mother’s and child’s health during pregnancy and birth and to avoid abortions, particularly illegal abortions, and children being abandoned other than under the proper procedure. The right to respect for life, a high ranking value guaranteed by the Convention, is one of the aims pursued by the French system.“
Der Gerichtshof war deshalb der Auffassung, dass sich das Recht, seine eigene Abstammung zu kennen, deshalb gegenüber den Schutzinteressen des Staates für Mutter und Kind im Lichte der margin of appreciation nicht durchsetzen kann. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, „that the choice of the means calculated to secure compliance with article 8 in the sphere of the relations individuals between themselves is in principle a matter that falls in the Contracting States margin of appreciation. In this connection, there are different ways of ensuring ,respect for private life‘, and the nature of the State’s obligation will depend on particular aspects of private lives which is at issue.“
In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass in den meisten Staaten zwar nicht eine der französischen vergleichbare Gesetzgebung existiert, dass aber in manchen Ländern keine Pflicht für die natürlichen Eltern besteht, ihre Identität bei der Geburt ihrer Kinder zu offenbaren und dass es zum Schutz vor der Aussetzung von Kindern in vielen Staaten eine Diskussion über verschiedene Schutzmöglichkeiten gibt. „In the light not only of the diversity of practice to be found among the legal systems and traditions but also of the fact that various means are being resorted to for abandoning children, the Court concludes that States must be afforded a margin of appreciation to decide
30
Siehe oben Fußnote 9.
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which means are apt to ensure that the rights guaranteed by the Convention are secured to everyone within that jurisdiction.“
Dieser dogmatische Zugriff über Verhältnismäßigkeit plus margin of appreciation wird vielfach in Frage gestellt – so in der concurring opinion des Richters Rozakis, der der Auffassung ist, dass der Gerichtshof „has proceed to an analysis of the competing interests involved, applying explicitly or implicitly its own case law in order to find which of the competing interest of the applicant on the one hand and of the democratic society on the other hand are more worthy of protection and for which reasons.“ Er kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Gerichtshof sich in vollem Umfang mit dieser Abwägung auseinandersetzte und dass die „margin of appreciation played a relatively marginal role in this assessment.“ Andere concurring opinions weisen auf die plurale Grundrechtssituation hin, wenn es nicht nur um die Beziehung zwischen Mutter und Kind, sondern auch um den Schutzauftrag des Staates gegenüber beiden geht. Demgegenüber ist der Bezug auf die „margin of appreciation“ in der dissenting opinion für verfehlt angesehen worden. Zunächst wird zugegeben, dass der Umfang der margin of appreciation: „. . . may depend not only on the right or rights concerned but also, as regards each right, on the very nature of the interest concerned. Thus certain aspects of the right to private life are peripheral to that right, whereas others form part of its inner core. We are firmly of the opinion that the right to an identity which is an essential condition to the right to autonomy and development is within the inner core of the right to respect for one’s private life.“
Außerdem wird bemängelt, dass die vergleichende Analyse des Gerichtshofs nicht den Stand der Entwicklung unter den Staaten des Europarates wiedergibt, obwohl doch gerade davon, nämlich von dem Fehlen eines common denominators, die margin of appreciation abhängt. Da aber kein anderes Land ein vergleichbares System wie Frankreich hat, fehlt den Dissenters ein entsprechender Anknüpfungspunkt. Eine andere vergleichbare Abgrenzungsfrage hat sich im Fall Hatton and others v. UK31 (Urteil vom 8. 7. 2003) über die Frage gestellt, ob die Beeinträchtigung der Beschwerdeführer, die in der Einflugsschneise des Flughafens Heathrow in London wohnen, so erheblich ist, dass sich daraus eine Verletzung von Artikel 8 ergab. Die Frage ließ sich als Eingriff, aber auch als Verletzung der positiven Verpflichtungen Großbritanniens bzw. der Flughafenaufsichtsbehörden formulieren, die bestimmte air navigation orders mit den entsprechenden anderen Forderungen erlassen hatten. Der Gerichtshof kam in diesem Zusammenhang wieder auf die margin of appreciation zurück und stellte fest: „The Court is thus faced with conflicting views as to the margin of appreciation to be applied: on the one hand the government claimed a wide margin on the ground that the case concerns matters of general policy, and, on the other hand, the applicants claim that where 31
Siehe oben Fußnote 8.
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the ability to sleep is affected the margin is narrow, because of the ,ntimate‘ nature of the right protected. This conflict of views on the margin of appreciation can be reconciled only by reference to the context of a particular case.“
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die Lärmbelastung nicht durch den Staat oder durch staatliche Organe, sondern durch Aktivitäten privater Fluggesellschaften verursacht wurde, aber befand gleichermaßen, dass es: „the State’s responsibility in environmental cases may arise from a failure to regulate private industry in a manner securing proper respect for the right infringed in article 8 of the Convention. Broadly similar principles apply whether a case is analysed in terms of a positive duty on the State or in terms of an interference by a public authority which article 8 writes to be justified in accordance with paragraph 2 of this provision. The Court is not therefore required to decide whether the present case falls into one category or the other, the question is whether in the implementation of the 1993 policy on night flights at Heathrow Airport a fair balance was struck between the competing interests of the individuals affected by the night noise in the community as a whole.“
Der Gerichtshof fand mit Mehrheit, dass das 1993 von Großbritannien eingeführte Schema über Lärmbegrenzung noch dieser Abwägung standhält und dass die Regierung sich auf eine „average perception of noise disturbance“ verlassen konnte. Andererseits werden zur Rechtfertigung auch die ökonomischen Interessen stark ins Gewicht gelegt: „. . . which conflict with the desirability of limiting or haunting night flights in pursuing the above aims. The Court considers it reasonably to assume that those flights contribute at least to a certain extent to the general economy.“
Dann stellt der Gerichtshof gewisse ökonomische Faktoren wie „serious passenger discomfort (wenn sie später abfliegen müssen oder später ankommen) and a consequent loss of competitiveness“ (Heathrow Airport im Vergleich zu anderen europäischen Flughäfen) gegenüber. Der Gerichtshof prüft auch den prozeduralen Aspekt, ob in dem Entscheidungsprozess der Regierung in diesen Fragen die notwendigen Untersuchungen und Studien durchgeführt wurden und die Beschwerdeführer und andere betroffene Personen in ausreichendem Maße beteiligt waren (was bejaht wird) und kommt zum Ergebnis, dass in diesem Fall keine Verletzung von Artikel 8 vorliegt. X. Für die dynamische Interpretation des Schutzbereiches und auch für die Anwendung der margin of appreciation ist der Fall Christine Goodwin v. UK32 vom Juli 2002 charakteristisch. Die Beschwerdeführerin, die eine transsexuale Operation (Mann zu Frau) hinter sich hatte, machte geltend, dass die nationale britische Politik im Bezug auf die Änderung ihres Status nicht ausreichend sei. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass er schon in einer früheren Entscheidung auf den besonders intimen Aspekt dieser Situation hingewiesen hatte. Er stellte unter 32 Christine Goodwin v. United Kingdom [GC], no. 28957 / 95, ECHR 2002-VI – (11. 7. 02).
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Rückgriff auf rechtsvergleichende Studien fest, dass im Gegensatz zu früheren Jahren, in denen der Gerichtshof unter Hinweis auf die unterschiedliche Praxis in den Europaratsstaaten noch von einer Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur vollkommenen Berücksichtigung dieser Situation Abstand genommen hatte, nunmehr der Punkt erreicht ist, in dem eine solche Verpflichtung sich herleiten lasse. Die Rechtsvergleichung wird sozusagen zur Leitmethode in solchen Fällen. XI. Schlussbemerkung: Die dogmatische Bedeutung der Interpretation der Konvention zeigt sich auch in vielen anderen Fällen, zum Beispiel zum Schutz der Demokratie im Fall Refah Partisi v. Turkey33, in dem der Gerichtshof das Programm, die Scharia einzuführen, wegen ihres Inhalts mit der Konvention als unvereinbar ansah. Es haben sich mittlerweile eine solche Fülle von Besonderheiten der Interpretation der EMRK herausgebildet, die ein festes dogmatisches Korsett bilden, dass ein eigenes methodisches Grundverständnis angezeigt ist.
33 Refah Partisi (the Welfare Party) and others v. Turkey [GC], no. 41340 / 98 etc., ECHR 2003-II – (13. 2. 03).
Das Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten Von Friedrich Schoch* I. Zugang zu Informationen des öffentlichen Sektors Das am 27. 11. 2008 durch das Ministerkomitee angenommene „Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten“1 ist der erste völkerrechtliche Vertrag, der allgemein das Recht einer jeden Person auf Zugang zu Dokumenten staatlicher Behörden anerkennt.2 Was den Zugang zu Dokumenten des öffentlichen Sektors betrifft, war auf der Ebene des Internationalen Rechts am 25. 06. 1998 die „Aarhus-Konvention“ angenommen worden.3 Dieses – drei unterschiedliche Bereiche betreffende – Übereinkommen (Informationszugang, Öffentlichkeitsbeteiligung, Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten) ist jedoch bereichsspezifisch angelegt und regelt nur den Zugang zu Informationen über die Umwelt;4 ein allgemeines Informationszugangsrecht besteht danach nicht. 1. Die Informationsfreiheit als Grund- und Menschenrecht Die Bedeutung der Informationszugangsfreiheit im öffentlichen Sektor wird deutlich, wenn das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten in den größeren * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg sowie Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Die Verbindung zu Wilfried Fiedler geht zurück auf die 1980er Jahre an der Universität Kiel. 1 The Council of Europe Convention on Access to Official Documents, CETS No 205 [Sammlung der Europaratsverträge – SEV – Nr. 205]. 2 Zur Entstehungsgeschichte des Übereinkommens Schram, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 21 (23 ff.). 3 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, veröffentlicht mit dem deutschen Zustimmungsgesetz im BGBl II 2006, 1251; vgl. ferner das Änderungsgesetz vom 17. 07. 2009, BGBl II, 794. 4 Dazu Scheyli, ArchVR 38 (2000), 217 ff.; Zschiesche, ZUR 2001, 177 ff.; Schink, EurUP 2003, 27 ff.; von Danwitz, NVwZ 2004, 272 ff.; Walter, EuR 2005, 302 ff.; monographisch Almeling, Die Aarhus-Konvention, 2008, S. 38 ff.
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Zusammenhang der grundrechtlich und menschenrechtlich radizierten Informationsfreiheit gesetzt wird. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG (sowie unter Berufung auf Art. 19 AEMR und Art. 10 EMRK) erkannt: „Ein demokratischer Staat kann nicht ohne freie und möglichst gut informierte öffentliche Meinung bestehen. Daneben weist die Informationsfreiheit eine individualrechtliche . . . Komponente auf. Es gehört zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten. Zudem ist in der modernen Industriegesellschaft der Besitz von Informationen von wesentlicher Bedeutung für die soziale Stellung des Einzelnen. Das Grundrecht der Informationsfreiheit ist wie das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie . . . Erst mit seiner Hilfe wird der Bürger in den Stand gesetzt, sich selbst die notwendigen Voraussetzungen zur Ausübung seiner persönlichen und politischen Aufgaben zu verschaffen, um im demokratischen Staat verantwortlich handeln zu können.“5
Vorgenommen ist damit eine treffende Charakterisierung der individualrechtlichen und der objektivrechtlichen Funktion der Informationsfreiheit im demokratischen Verfassungsstaat westlicher Prägung. Im Interesse der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung wird ein Kommunikationsprozess geschützt, der sowohl zur Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen als auch zur fortwährenden Stabilisierung der demokratischen Ordnung beiträgt.6 In dem darin angelegten Wechselspiel zwischen individueller Freiheitsbetätigung und Aufrechterhaltung des freiheitlichen politischen Systems fungiert die Informationsfreiheit gleichsam als Grundlage der Meinungs(äußerungs)freiheit; die zunehmende Informiertheit des Einzelnen befähigt ihn zu kritischer Reflexion, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. 2. Reichweite der Informationsfreiheit als Abwehrrecht Bedenkt man, dass der Staat (nebst Untergliederungen) der größte „Informationsbesitzer“ ist,7 stellt sich vor dem skizzierten Hintergrund die Frage nach dem Zugang zu Informationen des öffentlichen Sektors. Soweit staatliche Stellen von Amts wegen informieren, also Informationen des öffentlichen Sektors preisgeben,8 ist der Zugang zu diesen Informationen rechtlich unproblematisch. Der individuell, auf Antrag unternommene Versuch, an Informationen des öffentlichen Sektors zu BVerfGE 27, 71 (81 f.) – „Leipziger Volkszeitung“. BVerfGE 90, 27 (31) = JZ 1995, 152 (m. Anm. Hoffmann-Riem / Eifert). 7 Näher dazu in europäischer Perspektive EU-Kommission, KOM (2002) 207 endg.; prononciert BT-Drs. 16 / 2453 S. 7: „Öffentliche Stellen sind die größten Informationsproduzenten in Europa“. 8 Einzelheiten dazu bei Gusy, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2008, § 23 Rn. 95 ff. (allerdings unter dem rechtlich undifferenziert verwendeten Begriff „Öffentlichkeitsarbeit“). 5 6
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gelangen, verspricht indessen juristisch nur dann Erfolg, wenn sich der Antragsteller auf ein subjektives öffentliches Recht gegenüber der betreffenden Stelle berufen kann. Das Grundrecht der Informationsfreiheit hilft in dieser Konstellation nach herrschender Doktrin9 nicht weiter. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG ist als Abwehrrecht konzipiert, gibt also kein Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle; gesichert ist nur der Zugang zu allgemein zugänglichen Quellen gegen staatliche Beschränkungen.10 Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, wenn sie (technisch) geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen.11 Staatliche Dokumente (oder sonstige Informationsträger) gehören dazu – ohne einen die Publizität herstellenden Widmungsakt – nicht.12 Auch sonstige Grundrechte gewähren – jedenfalls nach der Rechtsprechung und der herrschenden Doktrin – kein allgemeines Informationszugangsrecht gegenüber dem Staat.13 Das gilt insbesondere für die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG)14 und die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG);15 vereinzelte Ausnahmen beruhen auf Besonderheiten des Grundrechtsschutzes16 oder der konkreten Fallgestaltung.17 Auch das Internationale Recht vermochte bislang in diesem Punkt keine Abhilfe zu schaffen;18 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 9 A. A. Wegener, Der geheime Staat – Arkantradition und Informationsfreiheitsrecht, 2006, S. 480 ff.; ders., in: Festschrift für Bartlsperger, 2006, S. 165 ff.; Scherzberg, in: Fluck / Theuer, Informationsfreiheitsrecht, Loseblatt, Stand: März 2009, A I, VerfR Rn. 99 ff.; ders., in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, 2009, § 49 Rn. 17 ff. 10 BVerfGE 103, 44 (59 f.); Kloepfer, DÖV 2003, 221 (223, 227); Kugelmann, DÖV 2005, 851 (856); Schoch, DÖV 2006, 1 (3); Guckelberger, VerwArch 97 (2006), 62 (75); M. Bohne, NVwZ 2007, 656 (658 f.). 11 BVerfGE 27, 71 (83); 33, 52 (65); BVerfG-K, NVwZ 1992, 463 (464); BVerfGE 90, 27 (32); 103, 44 (60); BVerfG-K, NJW 2001, 503 (504). 12 BVerfG-K, NJW 1986, 1243; BVerwGE 47, 247 (252); 61, 15 (22); BayVGH, BayVBl 2008, 539; Bull, ZG 2002, 201 (207); Masing, VVDStRL 63 (2004), 377 (379); Sydow / Gebhardt, NVwZ 2006, 986 (989); Roßnagel, MMR 2007, 16 (17); Kloepfer, Informationsrecht, 2002, § 3 Rn. 78. 13 Zusammenfassend Schoch / Kloepfer, Informationsfreiheitsgesetz (IFG-ProfE), 2002, Einl. Rn. 12. 14 VGH BW, NVwZ 1998, 987 (990); OVG NW, NVwZ-RR 1998, 311 (312) und NWVBl 2000, 304 (306); VG München, NVwZ 2005, 477 (478); Thum, AfP 2005, 30 ff. 15 BVerfG-K, NJW 1986, 1243; BVerwG, NJW 1986, 1277 (1278); Gurlit, DVBl. 2003, 1119 (1122). 16 Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht bzw. Recht auf informationelle Selbstbestimmung) als Grundlage für Auskunftsansprüche; vgl. BVerfGE 79, 256 (269); 96, 56 (63); BVerfG-K, NJW 1999, 1777; BVerwGE 82, 45; VerfGH RP, NJW 1999, 2264; relativierend allerdings BVerfG-K, JZ 2007, 91 (m. Anm. Klatt). 17 BVerwGE 118, 270: Informationsanspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG zu den Bedingungen eines Vergabeverfahrens zwecks Bewerbung um eine behördliche Konzession. 18 Speziell zum EG-Recht und zur EMRK unten II.
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(vgl. Art. 19 AEMR) ist ohnehin rechtlich unverbindlich, und Art. 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte lässt sich nicht als Gewährleistung der Informationszugangsfreiheit interpretieren.19 3. Informationsfreiheitsgesetzgebung in Deutschland Setzt das individuelle Recht auf Zugang zu Informationen des öffentlichen Sektors somit einen Gesetzgebungsakt voraus, der ein entsprechendes subjektives Recht (nebst Begrenzungen zum Schutz überwiegender öffentlicher Belange und privater Interessen Dritter) schafft, ist die (Fort-)Entwicklung der Informationszugangsfreiheit auf einen entsprechenden (rechts)politischen Willen der Gesetzgebungsorgane angewiesen. Davon konnte in Deutschland lange Zeit keine Rede sein.20 Die zögerliche Haltung der parlamentarischen Mehrheit(en) in diesem Punkt reihte sich durchaus ein in die Phalanx rechtspolitischer Zurückhaltung in anderen Ländern. Spätestens mit dem Freedom of Information Act von 1966 in den USA21 setzte jedoch weltweit eine Entwicklung ein, die alle wichtigen Länder erfasste; in den 1970er und 1980er Jahren wurde durch die Informationsfreiheitsgesetzgebung in nahezu allen westeuropäischen Staaten das voraussetzungslose Recht auf Zugang zu den bei öffentlichen Stellen vorhandenen Informationen eingeführt.22 Ganz am Ende dieser Entwicklung stehen das Vereinigte Königreich23 und Deutschland.24 Im deutschen Bundesstaat entsteht ein Gesamtbild zum Stand der Informationsfreiheitsgesetzgebung nur bei einer Zusammenschau des Bundesrechts und des Landesrechts.25 Die Vielfalt der einzelnen Gesetze ist kaum noch zu überblicken. Die Rechtsentwicklung allein auf der Bundesebene kann systematisch in drei Regelungskomplexe aufgefächert werden. Neben vielen Einzelnormen in Fachgeset19 Näher dazu sowie zu sonstigen Bemühungen auf internationaler Ebene um die Informations(zugangs)freiheit Karpen, DVBl. 2000, 1110 ff. 20 Vgl. Bullinger, in: Donald C. Rowat (Ed.), Administrative Secrecy in developed Countries, 1979, S. 217 ff.; G. Nolte, DÖV 1999, 363 ff.; Schoch, Die Verwaltung 35 (2002), 149 ff. 21 Näher dazu Gellman, DuD 1998, 446 ff. 22 Die Entwicklung ist nachgezeichnet bei Schoch / Kloepfer, IFG-ProfE (Fn. 13), Einl. Rn. 3 ff.; ferner z. B. Erdelt, DuD 2003, 465 ff. 23 Zur dortigen Entwicklung Thomas, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 125 ff. 24 Mangels eigener Informationsfreiheitsgesetze leisteten gerade das Vereinigte Königreich und Deutschland dem Vernehmen nach im Europarat lange Zeit Widerstand gegen das Übereinkommen über den Zugang zu amtlichen Dokumenten; Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 24. 25 Kompakter Überblick dazu bei Berger, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 117 ff.; ausführlich Dalibor, ebd., S. 271 ff.; zur jüngeren Entwicklung der Gesetzgebung auch Sydow, NVwZ 2008, 481 ff.
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zen26 bestehen etliche bereichsspezifische Informationszugangsgesetze; erwähnt seien das Bundes-Archivgesetz27 und das Stasi-Unterlagen-Gesetz,28 ferner das Umweltinformationsgesetz,29 das Verbraucherinformationsgesetz30 und das Geodatenzugangsgesetz.31 In sachlichem Zusammenhang mit diesen Gesetzeswerken steht das Informationsweiterverwendungsgesetz, das allerdings keine Informationszugangsrechte normiert, sondern diese voraussetzt und – darauf aufbauend – die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors, insbesondere deren kommerzielle Nutzung, regelt und die Entwicklung neuer Informationsprodukte und Informationsdienste zu fördern sucht.32 Neben den fachgesetzlichen Einzelnormierungen und den bereichsspezifischen Gesetzeswerken steht das am 01. 01. 2006 in Kraft getretene Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG).33 Danach hat jeder einen materiellrechtlich vorausset26 Vgl. dazu Schild, RDV 2000, 96 (98 ff.); Bull, ZG 2002, 201 (203 ff.); Scherzberg, ThürVBl 2003, 193 (194 f.). 27 Vgl. dazu (m. umfangr. Nachw.) Schoch / Kloepfer / Garstka, Archivgesetz (ArchG-ProfE), 2007, Einl. Rn. 2. 28 Vgl. dazu Stoltenberg, DtZ 1992, 65 ff.; Schuppert, AfP 1992, 105 ff.; Weberling, DÖV 1992, 161 ff.; Weichert, ZRP 1992, 241 ff.; Eberle, DtZ 1992, 263 ff.; Trute, JZ 1992, 1043 ff.; Staff, ZRP 1992, 462 ff.; zu den Novellierungen des StUG Geiger, NJW 1994, 2676 ff.; Schmidt, DtZ 1997, 106 ff. von Lindheim, NJW 1998, 3012 ff.; Weberling, ZRP 2002, 343 ff.; Lenski, LKV 2004, 114 ff.; Drohla, NJW 2004, 418 ff.; Derkens, NVwZ 2004, 551 ff. – Wichtig die Entscheidung im „Fall Kohl“ BVerwGE 121, 115; dazu von Heinegg, AfP 2004, 505 ff., sowie C. Arndt, NJW 2004, 3157 ff. 29 Zum UIG 2005 Näckel / Wasielewski, DVBl. 2005, 1351 ff.; Scheidler, UPR 2006, 13 ff.; Gurlit, EurUP 2006, 224 ff.; rechtsvergleichend zum UIG des Bundes und zu den entsprechenden Landesgesetzen Schomerus / Tolkmitt, NVwZ 2007, 1119 ff.; zur neueren Rechtsprechung Franßen / Tenhofen, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 167 ff. 30 Vgl. dazu Hufen, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2008, S. 123 ff.; Wustmann, ebd., Jahrbuch 2009, S. 205 ff.; ders., BayVBl 2009, 5 ff.; Hartwig / Memmler, ZLR 2009, 51 ff.; Albers / Ortler, GewArch 2009, 225 ff.; Wiemers, ZLR 2009, 413 ff.; Zilkens, NVwZ 2009, 1465 ff. 31 Gesetz über den Zugang zu digitalen Geodaten (Geodatenzugangsgesetz – GeoZG) vom 10. 02. 2009 (BGBl. I S. 278); zu den europarechtlichen Vorgaben Karg / Polenz, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2008, S. 85 ff. 32 Einzelheiten zum IWG bzw. dessen Entwurf bei Püschel, DuD 2006, 481 ff.; Altmeppen / Kahlen, MMR 2006, 499 ff.; Schoch, NVwZ 2006, 872 ff.; Maisch, K&R 2007, 9 ff.; Hopf, RiA 2007, 53 ff. und 109 ff.; Hornung, in: Towfigh u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, 2009, S. 75 ff. 33 Dazu P. Wendt, AnwBl. 2005, 702 ff.; Sokol, CR 2005, 835 ff.; Schmitz / Jastrow, NVwZ 2005, 984 ff.; Kloepfer / von Lewinski, DVBl. 2005, 1277 ff.; Sieberg / Ploeckl, Der Betrieb 2005, 2062 ff.; Kugelmann, NJW 2005, 3609 ff.; Kloepfer, K&R 2006, 19 ff.; Beckemper, LKV 2006, 300 ff.; Steinbach / Hochheim, NZS 2006, 517 ff.; Bräutigam, DVBl. 2006, 950 ff.; Sellmann / Augsberg, WM 2006, 2293 ff.; Reinhart, DÖV 2007, 18 ff.; Frowein, in: Festschrift für Starck, 2007, S. 219 ff. – Rechtsvergleichend zu IFG, UIG und VIG Schomerus / Tolkmitt, DÖV 2007, 985 ff.
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zungslosen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen gegenüber Bundesbehörden und gleichgestellten Einrichtungen (§ 1 Abs. 1 IFG). Seine Grenzen findet der Anspruch am Schutz von besonderen öffentlichen Belangen (§ 3 IFG) und an der Gewährleistung des behördlichen Entscheidungsprozesses (§ 4 IFG) sowie am Schutz personenbezogener Daten (§ 5 IFG), des geistigen Eigentums (§ 6 Satz 1 IFG) und von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 6 Satz 2 IFG). Für Amtshandlungen nach dem IFG werden Gebühren und Auslagen erhoben (§ 10 IFG).34 Regelungen in anderen Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen gehen (mit Ausnahme des § 29 VwVfG und des § 25 SGB X) dem IFG-Anspruch vor (§ 1 Abs. 3 IFG).35 Nachdem Deutschland mittlerweile auf der Bundesebene über ein allgemeines Informationsfreiheitsgesetz verfügt, bietet sich der Rechtsvergleich mit dem Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten an (unten III.). Gemeinsamkeiten zwischen dem IFG und dem Übereinkommen dürfen betont werden. Besonders wertvoll ist jedoch die Hervorhebung von Divergenzen zwischen den beiden Rechtsakten; sie verdeutlichen Unterschiede und zeigen einen eventuellen Novellierungsbedarf beim IFG an, falls es zur Ratifizierung des Europarat-Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland kommen sollte.
II. Einflüsse des Internationalen Rechts auf die Informationsfreiheit in Deutschland Die – potentielle – Bedeutung des Übereinkommens über den Zugang zu amtlichen Dokumenten für den innerstaatlichen Rechtskreis wird erst sichtbar, wenn die normativ schwachen Vorgaben des bisher maßgeblichen Internationalen Rechts in Erinnerung gerufen werden. Das gilt sowohl für das supranationale EG-Recht als auch für die EMRK. 1. Informationszugangsfreiheit im EG-Recht Das Gemeinschaftsrecht normiert für das allgemeine Informationszugangsrecht der Mitgliedstaaten mangels Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft keine verbindlichen Vorgaben. Die 2001 erlassene „Transparenzverordnung“36 gilt nur für 34 Zu bislang aufgetretenen, signifikanten Praxisproblemen des IFG Schoch, NJW 2009, 2987 ff. 35 Das betrifft insbesondere das Verhältnis zu den bereichsspezifischen Informationszugangsgesetzen; vgl. am Beispiel von IFG und StUG Olbertz, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 225 ff.; aus der Rechtsprechung VG Berlin, AfP 2009, 621 ff. 36 Verordnung (EG) Nr. 1049 / 2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. 05. 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parla-
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das Eigenverwaltungsrecht der Gemeinschaft. Nach Maßgabe des Art. 255 EGV (Art. 15 AEUV) wird jedem Unionsbürger sowie jeder natürlichen und juristischen Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat nach Maßgabe der Verordnung ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe (Europäisches Parlament, Rat, Kommission) zuerkannt (Art. 2). Zwar mag insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu der „Transparenzverordnung“37 für das Verständnis innerstaatlicher Parallelvorschriften inspirierend wirken, rechtliche Bindung kommt ihr jedoch nicht zu.38 Verbindliche Vorgaben für das mitgliedstaatliche Informationszugangsrecht normiert das EG-Recht nur bereichsspezifisch. Von größter Bedeutung ist die – 2003 novellierte und die Aarhus-Konvention rezipierende – Umweltinformations-Richtlinie;39 sie gewährleistet indessen nur das Recht auf Zugang zu Umweltinformationen. Das bereits erwähnte Geodatenzugangsgesetz beruht auf der „Inspire“-Richtlinie der EG;40 sie zielt auf den Erlass allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung der Geodateninfrastruktur in der EG für Zwecke der gemeinschaftlichen Umweltpolitik, wobei die von den Mitgliedstaaten eingerichteten und verwalteten Geodateninfrastrukturen die Grundlage bilden (Art. 1). Auch die Informationsweiterverwendung hat eine europarechtliche Grundlage;41 allerdings betrifft dieser Rechtsakt die dem Informationszugang nachgelagerte (kommerzielle) Nutzung von Informationen des öffentlichen Sektors.
ments, des Rates und der Kommission, ABlEG Nr. L 145 / 43; erläuternd dazu Wägenbaur, EuZW 2001, 680 ff.; Partsch, NJW 2001, 3154 ff.; Bock, DÖV 2002, 556 ff.; Bartelt / Zeitler, EuR 2003, 487 ff.; Marsch, DÖV 2005, 639 ff.; Boysen, Die Verwaltung 42 (2009), 215 ff.; ausführlich Meltzian, Das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane, 2004, S. 192 ff. 37 Dazu von Danwitz, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 1 ff. 38 Erwägungsgrund (15) der VO 1049 / 2001 / EG sagt ausdrücklich: „Diese Verordnung zielt weder auf eine Änderung des Rechts der Mitgliedstaaten über den Zugang zu Dokumenten ab, noch bewirkt sie eine solche Änderung“. 39 Richtlinie 2003 / 4 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. 01. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90 / 313 / EWG des Rates, ABlEU Nr. L 41 / 26; erläuternd Butt, NVwZ 2003, 1071 ff.; Werres, DVBl. 2005, 611 ff. 40 Richtlinie 2007 / 2 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. 03. 2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INSPIRE), ABlEU Nr. L 108 / 1. 41 Richtlinie 2003 / 98 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. 11. 2003 über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors, ABlEU Nr. L 345 / 90; erläuternd Püschel, Informationen des Staates als Wirtschaftsgut, 2006, S. 77 ff.
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2. Informationszugangsfreiheit nach der EMRK Die EMRK normiert – anders als das primäre Gemeinschaftsrecht (Art. 255 EGV / Art. 15 AEUV) – kein Informationszugangsrecht. Die Informationsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EMRK enthält das Recht auf Empfang von Informationen.42 Eingeschlossen ist darin der Schutz desjenigen, der sich aktiv um Informationen bemüht; das damit verknüpfte Recht auf ungehinderten Empfang von Informationen erstreckt sich aber nur auf allgemein zugängliche Quellen.43 Art. 10 Abs. 1 EMRK reicht demnach nicht weiter als Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG. Auf der Grundlage der Pressefreiheit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar schon früh davon gesprochen, die Öffentlichkeit habe ein Recht, über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse angemessen informiert zu werden.44 Ein individueller Anspruch gegenüber öffentlichen Stellen auf Information(szugang), z. B. Erteilung von Auskünften, lässt sich daraus aber nicht ableiten. Konsequenterweise hat der Gerichtshof in der Entscheidung „Guerra“ erkannt, Art. 10 EMRK verpflichte den Staat nicht zur Sammlung und Verbreitung von Informationen; das Recht von Anwohnern einer Chemiefabrik auf staatliche Information nach einem Störfall in der Fabrik wurde über die Gewährleistungspflicht gemäß Art. 8 EMRK konstruiert.45 In der jüngeren Vergangenheit entwickelt der Gerichtshof auf der Grundlage eines tastend voranschreitenden case law-Konzepts indessen ein extensives Verständnis des Art. 10 Abs. 1 EMRK.46 Zwar gilt nach wie vor der Grundsatz, dass sich Art. 10 EMRK weder ein allgemeines Individualrecht auf Zugang zu Informationen des öffentlichen Sektors noch eine Verpflichtung öffentlicher Stellen zur Information des Individuums entnehmen lässt, jedoch werden Ausnahmen zu Gunsten der Presse (und von NGOs in vergleichbarer Funktion) entwickelt. Leitidee ist die Grundannahme, dass die Presse (bzw. eine NGO) ihrer wesentlichen Rolle als „Wächter der Öffentlichkeit“ (public watchdog) gerecht werden müsse.47 Nach dieser Maxime hat der Gerichtshof im April 2009 auf der Grundlage des Art. 10 EMRK zu Gunsten einer NGO das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten 42 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 10 Rn. 11; am Beispiel des Empfangs ausländischer Satelliten-Fernsehprogramme EGMR, EuGRZ 1990, 261 = NJW 1991, 620 Tz. 47 – „Autronic“. 43 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 23 Rn. 6. 44 EGMR, EuGRZ 1979, 386 Tz. 65 – „Sunday Times“; EGMR, EuGRZ 1995, 16 Tz. 59 – „Observer und Guardian“. 45 EGMR, NVwZ 1999, 57 Tz. 53 und Tz. 58 ff. – „Guerra“. 46 EGMR, Entscheidung Nr. 19101 / 03 vom 10. 07. 2006 – „Sdruzení Jihoceshé Matky gegen Tschechische Republik“. 47 EGMR, EuGRZ 1995, 16 Tz. 59 – „Observer und Guardian“; EGMR, NJW 2000, 1015 Tz. 64 – „Bladet Tromsø“; EGMR, NJW 2004, 2653 Tz. 39 – „Perna“; EGMR, NJW 2006, 591 Tz. 40 – „Karhuvaara und Iltalehti“; EGMR, NJW 2008, 2563 Tz. 64 f. – „Voskuil“. – Erläuternd zu Besonderheiten der Pressefreiheit im Rahmen des Art. 10 EMRK Holoubek, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VII / 1, 2009, § 195 Rn. 10 ff.
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gegenüber dem ungarischen Staat anerkannt; es ging um Informationen von großer öffentlicher Bedeutung (Strafgesetzgebung bezüglich Betäubungsmittelvergehen), für die ein staatliches Informationsmonopol besteht und die (ohne weitere Datenerhebung) „fertig und verfügbar“ gewesen sind, so dass die Vorenthaltung jener Informationen gegenüber einem „public watchdog“ einer unzulässigen staatlichen Zensur gleichkomme.48 Art. 10 EMRK wird damit für eine spezielle Fallkonstellation eine leistungsrechtliche Dimension zuerkannt. Ein generelles Informationszugangsrecht gegenüber dem öffentlichen Sektor bedeutet dies allerdings nicht.
III. Zugang zu amtlichen Dokumenten nach dem Europarat-Übereinkommen Der Überblick zur (bisherigen) Rechtslage verdeutlicht, dass es in der Zeit vor dem Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten49 keine Regelung des Internationalen Rechts mit Anspruch auf juristische Verbindlichkeit zum allgemeinen Recht des Einzelnen auf Zugang zu Informationen öffentlicher Stellen der Staaten gegeben hat. Von daher könnte das Übereinkommen als „Wert an sich“ bezeichnet werden. Interessanter ist jedoch die Frage, welche – verglichen mit dem IFG (des Bundes) – völkerrechtlichen Bindungen die Bundesrepublik Deutschland im Falle eines deutschen Zustimmungsgesetzes einginge und welcher Änderungsbedarf im innerstaatlichen Recht dadurch hervorgerufen werden könnte.
1. Zielsetzungen des Übereinkommens In seiner Präambel (Nr. 3) macht das Übereinkommen deutlich, dass es insbesondere auf Art. 19 AEMR sowie Art. 6, 8 und 10 EMRK und der Aarhus-Konvention basiert und die dortigen Leitideen unter Berücksichtigung verschiedener politischer Erklärungen des Ministerkomitees des Europarates (Präambel Nr. 4) fortentwickelt. Besonders betont wird die Bedeutung, die in einer demokratischen pluralistischen Gesellschaft der Transparenz staatlicher Behörden zukommt (Präambel Nr. 5); dieser Hinweis deckt sich mit der Zweckbestimmung der Informationszugangsfreiheit im innerstaatlichen Recht.50 48 EGMR, Entscheidung Nr. 37374 / 05 vom 14. 04. 2009 – „TASZ“; erläuternd dazu Voorhoof, IRIS 2009 – 7:2 / 1. 49 Vgl. Nachw. oben Fn. 1; nachfolgend wird das Übereinkommen abgekürzt mit „ÜK“ zitiert. 50 Einzelheiten dazu bei Schoch, Informationsfreiheitsgesetz (IFG), Kommentar, 2009, Einl. Rn. 34 ff.
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Bemerkenswert sind die Erwägungsgründe zur Ausübung des Rechts auf Zugang zu amtlichen Dokumenten. Die Präambel (Nr. 6) hebt dazu folgende Funktionen hervor: – Erschließung einer Informationsquelle für die Öffentlichkeit; – Unterstützung der Öffentlichkeit bei der Meinungsbildung über den Zustand der Gesellschaft und über die staatlichen Behörden; – Förderung der Integrität, Effektivität, Effizienz und Verantwortlichkeit der staatlichen Behörden und dadurch Stärkung der Legitimität der Behörden.
Auffällig ist die hohe Übereinstimmung, die diese Zielsetzungen mit den Funktionen des IFG aufweisen.51 Unverkennbar ist auch das Gedankengut, das sich bereits in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall „Leipziger Volkszeitung“ findet.52 Der Europarat zieht die Schlussfolgerung (Präambel Nr. 7), dass grundsätzlich alle amtlichen Dokumente öffentlich und einsehbar sein sollen,53 vorbehaltlich des Schutzes anderer berechtigter Rechte und Interessen. 2. Wesentlicher Inhalt des Übereinkommens Das Übereinkommen ist in drei Titel untergliedert. Von Interesse ist hier vornehmlich Titel I (Art. 1 bis 10), der das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten, die Ausnahmen hiervon und Verfahrensfragen regelt. Titel II (Art. 11 bis 15) behandelt das „following-up“ des Übereinkommens (Einsetzung einer Expertengruppe, Konsultationen der Vertragsparteien, Sekretariat, Berichts- und Veröffentlichungspflichten). Titel III (Art. 16 bis 22) enthält Umsetzungs- und Schlussvorschriften (Unterzeichnung und Inkrafttreten des ÜK, Beitritt zum ÜK, räumlicher Geltungsbereich des ÜK, Änderungen des ÜK, Erklärungen, Kündigung, Notifikation). a) Anwendungsbereich Nach Art. 1 Abs. 1 ÜK bleiben innerstaatliche Regelungen und völkerrechtliche Verträge, die bereits einen umfangreicheren Zugang zu amtlichen Dokumenten anerkennen, unberührt. Dieses Konzept der Statuierung von Mindeststandards ist dem Informationszugangsrecht nicht fremd,54 wurde vom IFG jedoch bewusst 51 Die Amtliche Begründung (BT-Drs. 15 / 4493, S. 6) nennt: effektive Wahrnehmung von Bürgerrechten, Förderung der demokratischen Meinungs- und Willensbildung, Verbesserung der Kontrolle staatlichen Handelns; es solle damit Anschluss an europäische und internationale Entwicklungen gefunden werden. 52 Vgl. Text (Zitat) zu Fn. 5. 53 Die Herstellung der rechtlichen Verbindlichkeit durch ein Zusatzprotokoll zur EMRK war dem Vernehmen nach keine durchsetzbare Option; vgl. Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 30.
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nicht aufgegriffen.55 Für einen völkerrechtlichen Vertrag ist diese Art der Rechtsetzung die angemessene Vorgehensweise. Im vorliegenden Zusammenhang dürfen „Mindeststandards“, wie noch zu zeigen sein wird, nicht mit „niedrigen Standards“ gleichgesetzt werden.56 Dem sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens unterfallen „staatliche Behörden“ (englische Version: „public authorities“).57 Erfasst hiervon sind zumindest (Art. 1 Abs. 2 lit. a. ÜK)58 – Regierung und Verwaltung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene; – gesetzgebende Organe und Stellen der Justiz, soweit sie nach innerstaatlichem Recht Verwaltungsfunktionen wahrnehmen; – natürliche und juristische Personen, soweit sie eine Verwaltungsaufgabe ausüben.
Die beiden letztgenannten Punkte entsprechen dem Bundesrecht (§ 1 Abs. 1 Satz 2 und 3 IFG). Darüber hinaus sind nach dem Übereinkommen Anspruchslücken ausgeschlossen, die in Deutschland im Wege der Gesetzesinterpretation herbeigeführt werden. So ist die Freistellung der Finanzverwaltung vom Informationszugangsrecht59 nach Art. 1 Abs. 2 lit. a ÜK ausgeschlossen. Und auch die Exemtion der Regierung60 ist nicht möglich, da das Übereinkommen nicht zwischen Regierungstätigkeit und Verwaltungstätigkeit unterscheidet. Gegenstand des Informationszugangs sind „amtliche Dokumente“.61 Eingeschlossen sind darin alle in beliebiger Form aufgezeichneten Informationen, die von den staatlichen Behörden verfasst oder empfangen werden und in deren Besitz sind. Ein (signifikanter) Unterschied zum Begriff „amtliche Information“ im deutschen Recht (§ 2 Nr. 1 IFG)62 ist nicht zu erkennen. Vgl. dazu Schoch / Kloepfer, IFG-ProfE (Fn. 13), § 2 Rn. 27 ff. BT-Drs. 15 / 4493, S. 8; Schmitz / Jastrow, NVwZ 2005, 984 (989); Sellmann / Augsberg, WM 2006, 2293 (2294); zur Kritik vgl. Schoch, IFG (Fn. 50), § 1 Rn. 236. 56 Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 35 f. 57 Unmissverständlicher wäre (in der inoffiziellen Übersetzung) im deutschen Recht die Begriffswahl „öffentliche Stellen“. 58 Jede Vertragspartei kann nach Art. 1 Abs. 2 lit. a ÜK den Begriff „staatliche Behörden“ zudem ausdehnen auf (1) die gesetzgebenden Organe hinsichtlich ihrer anderen Tätigkeiten, (2) die Justizbehörden hinsichtlich ihrer anderen Tätigkeiten, (3) natürliche oder juristische Personen, soweit sie gemäß dem innerstaatlichen Recht öffentliche Aufgaben erfüllen oder aus öffentlichen Mitteln finanziert werden; erläuternd dazu Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 39 f. 59 So z. B. BFH / NV 2007, 1141; OVG NW, DStRE 2004, 479 (480); Pump, DStZ 2003, 535 (538); zur Kritik vgl. Schoch, IFG (Fn. 50), § 1 Rn. 211 f. 60 So VG Berlin, AfP 2008, 107 (109), zu Dokumenten des Bundeskanzleramts zu der geplanten Ostseepipeline; zur Kritik an dieser Rechtsprechung vgl. Schoch, NJW 2009, 2987 (2989). 61 Art. 1 Abs. 2 lit. b ÜK; erläuternd Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 37 f. – Ebenso im EG-Recht z. B. Art. 2 und Art. 3 lit. a VO 1049 / 2001 / EG; auch die PSI-Richtlinie (s. o. Fn. 41) ist auf „Dokumente“ ausgerichtet, Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Nr. 3 RL 2003 / 98 / EG. 54 55
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b) Inhalt und Umfang des Informationszugangs Das „Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten“ (Art. 2 ÜK) ist in Gestalt einer staatlichen Gewährleistung ausgeformt. Danach garantiert jede Vertragspartei jedem ohne Diskriminierung das Recht, auf seinen Antrag hin Zugang zu amtlichen Dokumenten im Besitz staatlicher Behörden63 zu haben. Auf die Motive, Gründe und Intentionen des Antragstellers kommt es nicht an;64 auch ein berechtigtes oder gar ein rechtliches Interesse ist für den Informationszugang nicht Voraussetzung. Insoweit besteht eine mit dem IFG übereinstimmende Rechtslage.65 In der völkerrechtlichen Perspektive kommt auch dem Gebot der Nichtdiskriminierung ein besonderer Stellenwert zu; jegliche Diskriminierung, was immer der Anknüpfungspunkt sein mag (Nationalität, Wohnsitz, Status etc.), ist untersagt.66 Kein Rechtsetzungsakt zur Informationszugangsfreiheit im öffentlichen Sektor kann auf Ausnahmetatbestände verzichten, die den Informationszugang zum Schutz bestimmter öffentlicher Belange oder privater Interessen Dritter ausschließen oder (sachlich bzw. zeitlich) beschränken. Das Europarat-Übereinkommen räumt folglich jeder Vertragspartei die Möglichkeit ein, das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten zu beschränken (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 ÜK). Voraussetzung hierfür ist – in deutlicher Anlehnung an die Schrankensystematik des Art. 10 Abs. 2 EMRK –, dass die Beschränkungen gesetzlich genau festgelegt werden und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz bestimmter Belange und Interessen erforderlich sowie verhältnismäßig sind (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ÜK); als Schutzgüter werden genannt a) die nationale Sicherheit, die Verteidigung und die internationalen Beziehungen; b) die öffentliche Sicherheit; c) die Vorbeugung, Untersuchung und Verfolgung von strafbaren Handlungen; d) Disziplinaruntersuchungen; Vgl. zum Begriff „amtliche Information“ VG Berlin, AfP 2009, 621 (622 f.). Ähnlich das deutsche Recht (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und § 7 Abs. 1 Satz 1 IFG), das den Anspruch auf bei der Behörde tatsächlich vorhandene Informationen, über die die Behörde auch verfügen kann, bezieht; vgl. Schoch, IFG (Fn. 50), § 1 Rn. 29 ff. und § 7 Rn. 27 ff. – Keine Vorsorge ist für den Fall getroffen, dass die anspruchsverpflichtete Behörde Dokumente weggibt (z. B. einem Privaten zurückgibt) und dadurch den Zugangsanspruch vereitelt; vgl. VG Berlin, NVwZ 2009, 856 m. Bespr. Hartleb, NVwZ 2009, 825 ff. 64 Wer Zugang zu einem amtlichen Dokument beantragt, muss nach Art. 4 Abs. 1 ÜK nicht begründen, warum er Zugang zu diesem Dokument haben möchte. 65 Einzelheiten dazu bei Schoch, IFG (Fn. 50), § 1 Rn. 18 ff. – Unzutreffend daher BayVGH, DVBl. 2009, 323: Versagung eines aus kommerziellen Gründen begehrten Informationszugangs; zur Kritik vgl. Schoch, NJW 2009, 2987 (2990). 66 Einzelheiten dazu bei Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 40. 62 63
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e) Aufsichtsaufgaben, Inspektion und Kontrolle durch staatliche Behörden; f) die Privatsphäre und sonstige rechtmäßige private Interessen; g) gewerbliche und sonstige wirtschaftliche Interessen; h) die Wirtschafts-, Währungs- und Wechselkurspolitik des Staates; i) die Gleichheit der Parteien vor einer rechtsprechenden Instanz und das Funktionieren der Justiz; j) die Umwelt; k) Beratungen in oder zwischen staatlichen Behörden, die die Bearbeitung eines Vorgangs betreffen. Diese Schutzgüter67 entsprechen weitgehend – wenn auch bei zum Teil abweichender Diktion68 – denjenigen, die in § 3 und § 4 IFG als öffentliche Belange und in § 5 sowie § 6 IFG als private Interessen Dritter geschützt sind.69 Eine Bereichsausnahme wie § 3 Nr. 8 IFG kennt Art. 3 ÜK allerdings nicht. Bemerkenswerte Abweichungen zum deutschen Recht bestehen bei den Informationsrestriktionen in zwei anderen Punkten. Zunächst besteht für alle Schutzgüter eine einheitliche „Gefahrenlage“70 als Voraussetzung für die Versagung71 des Informationszugangs; der Zugang zu den in einem amtlichen Dokument enthaltenen Informationen darf verweigert werden, wenn deren Offenlegung ein Schutzgut tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigen würde (Art. 3 Abs. 2 ÜK). Außerdem besteht ein Abwägungsvorbehalt; selbst im Falle einer Schutzgutgefährdung darf der Informationszugang nicht versagt werden, wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse an der Offenlegung der Information besteht (Art. 3 Abs. 2 ÜK).72 Dies stellt eine signifikante Abweichung zur Rechtslage nach dem IFG dar.73 Weder die öffentlichen Belange gemäß § 3 IFG noch das durch § 6 Satz 1 IFG geschützte geistige Eigentum und die durch § 6 Satz 2 IFG gewährleisteten 67 Zudem kann ein Antrag nach Art. 5 Abs. 5 ÜK (aus formalen Gründen) abgelehnt werden, wenn trotz behördlicher Unterstützung der Antrag zu ungenau bleibt, um das gesuchte amtliche Dokument zu ermitteln oder wenn der Antrag offensichtlich unverhältnismäßig ist. Formale – aber in der Sache andere – Ablehnungsgründe kennt auch das IFG in § 9 Abs. 3. 68 Erläuternd Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 43 f. 69 Vgl. dazu Schmitz / Jastrow, NVwZ 2005, 984 (991 ff.); Kloepfer / von Lewinski, DVBl. 2005, 1277 (1281 ff.); Kugelmann, NJW 2005, 3609 (3611 f.). 70 Anders allein schon § 3 IFG: Möglichkeit nachteiliger Auswirkungen auf ein Schutzgut (Nr. 1), Gefährdung (Nr. 2) bzw. Beeinträchtigung (Nr. 3) bzw. Eignung zur Beeinträchtigung (Nr. 6) eines Schutzguts; zur Kritik vgl. Schoch, NJW 2009, 2987 (2990 f.). 71 Die Möglichkeit des teilweisen Informationszugangs bei nur partiellen Ablehnungsgründen sieht Art. 6 Abs. 2 ÜK vor. 72 Zu den in Art. 3 Abs. 2 ÜK normierten Kategorien „harm test“ und „public interest test“ Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 42 f. 73 Näher dazu und zu den kontroversen rechtspolitischen Debatten Schoch, IFG (Fn. 50), Vorb. § 3 Rn. 40 ff.
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Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind einer Abwägung zugänglich.74 Dem insoweit bestehenden absoluten Schutz des deutschen Rechts stellt das EuroparatÜbereinkommen den lediglich relativen Schutz öffentlicher Belange und privater Drittinteressen gegenüber, die den Informationszugang hindern oder einschränken können. c) Verfahren und Durchführung des Informationszugangs Die Verfahrensregelungen des Europarat-Übereinkommens sind weitgehend unspektakulär. Grundlinie des Verfahrensrechts ist die Beschränkung der Formalitäten auf das zur Bearbeitung des Antrags erforderliche Maß (Art. 4 Abs. 3 ÜK). Bemerkenswert ist die Option, dass dem Antragsteller das Recht eingeräumt werden kann, anonym zu bleiben, es sei denn, die Offenlegung der Identität ist für die Bearbeitung des Antrags wesentlich (Art. 4 Abs. 2 ÜK). Die Bearbeitung eines Antrags läuft nach Regeln ab, die in etlichen Punkten §§ 7 ff. IFG vergleichbar sind, deren Regelungstiefe jedoch nicht immer erreichen. Art. 5 ÜK normiert75 – die behördliche Unterstützungspflicht im Rahmen des Zumutbaren zur Identifizierung des gewünschten amtlichen Dokuments; – die Bearbeitungspflicht einer jeden Stelle, die das Dokument besitzt, ggf. die Pflicht zur Weiterleitung des Antrags an die zuständige Stelle; – die Bearbeitung der Anträge nach dem Gleichheitsgrundsatz; – das Gebot zur zügigen Antragsbearbeitung und Entscheidung über den Antrag; – die Pflicht zur Begründung einer Ablehnungsentscheidung und zur Bekanntgabe dieser Entscheidung gegenüber dem Antragsteller.
Die Durchführung des Informationszugangs ist in dem Europarat-Übereinkommen nur rudimentär geregelt. Die Auskunftserteilung spielt praktisch keine Rolle.76 Wird dem Antrag stattgegeben,77 darf der Antragsteller wählen, ob er das Original oder eine Kopie einsehen will oder ob er eine Kopie erhalten möchte, es sei denn, der Wunsch ist unverhältnismäßig (Art. 6 Abs. 1 ÜK). Bei einem nur teilweisen Informationszugang sollen die Auslassungen grundsätzlich deutlich gekennzeichnet werden (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 ÜK). Der Zugang zu einem amtlichen Dokument kann auch dadurch gewährt werden, dass der Antragsteller auf leicht zugängliche Quellen verwiesen wird (Art. 6 Abs. 3 ÜK). 74 Vgl. aus der Praxis zum absoluten Schutz nach § 3 Nr. 6 IFG BayVGH, DVBl. 2009, 323 = AfP 2009, 183 Tz. 40 ff.; zum absoluten Schutz nach § 6 IFG VG Braunschweig, ZUM 2008, 254 (256 ff.) und VG Berlin, AfP 2009, 621 (623 f.). 75 Erläuternd dazu Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 46 ff. 76 Vgl. zur Auskunftserteilung im deutschen Recht § 1 Abs. 2 Satz 1 und § 7 Abs. 3 IFG; dazu Schoch, IFG (Fn. 50), § 1 Rn. 135 f. und § 7 Rn. 73 ff. 77 Zu dem sich anschließenden Procedere näher Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 48 ff.
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d) Kosten Fragen zu den Kosten des Informationszugangs berühren seit jeher einen heiklen und sensiblen Punkt.78 Nach deutschem Recht werden für Amtshandlungen nach dem IFG – mit Ausnahme der Erteilung einfacher Auskünfte – Gebühren und Auslagen erhoben (§ 10 IFG). Der (früher) immer wieder geäußerte Verdacht, seitens der informationspflichtigen Behörden würden überhöhte Gebühren und Auslagen mit abschreckender Wirkung für (potentielle) Antragsteller erhoben, kann empirisch nicht bestätigt werden. Die Praxis zeigt vielmehr, dass die Gebührenerhebung nach dem IFG und der entsprechenden Gebührenverordnung sehr moderat ist; von prohibitiven Effekten kann keine Rede sein.79 Das Europarat-Übereinkommen folgt einer anderen Rationalität als das deutsche Recht und trifft eine kategoriale Unterscheidung nach der Art des Informationszugangs (Art. 7 ÜK): Die Einsichtnahme in ein amtliches Dokument in den Räumlichkeiten der informationspflichtigen Stelle ist grundsätzlich (Ausnahme: Dienste von Archiven und Museen) kostenfrei; für Kopien amtlicher Dokumente kann ein angemessener Preis verlangt werden, der die tatsächlichen Kosten der Reproduktion und Zustellung jedoch nicht übersteigen darf.80 Das Europarat-Übereinkommen schreibt demnach für Fallgestaltungen Kostenfreiheit vor, die nach deutschem Recht unzulässig ist.81 e) Sonstige Regelungen Titel I des Europarat-Übereinkommens trifft einige weitere, nicht unwesentliche Regelungen zum Recht der Informationszugangsfreiheit. Für Fälle der Antragsablehnung (ganz oder teilweise) ist ein „Beschwerderecht“ vorzusehen (Art. 8 ÜK); eröffnet sind der Zugang zu einem Gericht oder zu einer anderen gesetzlich vorgesehenen unabhängigen und unparteiischen Instanz; außerdem steht einem abgelehnten Antragsteller – alternativ – immer ein schnelles und kostengünstiges Verfahren zur erneuten Prüfung durch eine staatliche Behörde zu. Ferner treffen die Vertragsparteien etliche Pflichten zur Verbesserung des Informationszugangsrechts und seiner praktischen Handhabung (Art. 9 ÜK). Schließlich werden die staatlichen Behörden angehalten, von Amts wegen Dokumente zu veröffentlichen, um die Transparenz und Effizienz der Verwaltung zu fördern und eine aufgeklärte Beteiligung der Öffentlichkeit an Fragen von allgemeinem Interesse zu unterstützen (Art. 10 ÜK). Vgl. Schoch / Kloepfer, IFG-ProfE (Fn. 13), § 14 Rn. 7 ff. und Rn. 12 ff. Einzelheiten zu der Thematik bei Sauerwein, in: Dix / Franßen / Kloepfer / Schaar / Schoch (Hrsg.), Informationsfreiheit und Informationsrecht, Jahrbuch 2009, S. 137 ff. 80 Vgl. dazu Schram, Jahrbuch 2009 (Fn. 2), S. 50. 81 Näher zur Kostenerhebungspflicht nach § 10 Abs. 1 IFG Schoch, IFG (Fn. 50), § 10 Rn. 23 ff. 78 79
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Das Inkrafttreten des Übereinkommens des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten setzt die Ratifikation, Annahme oder Genehmigung von zehn Mitgliedstaaten des Europarates voraus (Art. 16 Abs. 3 ÜK). Vorgesehen ist auch der spätere Beitritt zu dem Übereinkommen; es tritt in diesem Fall am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitraum von drei Monaten nach dem Tag der Hinterlegung der Beitrittsurkunde beim Generalsekretär des Europarates folgt (Art. 17 ÜK). 3. Perspektive für die Bundesrepublik Deutschland Mit einer Ratifikation des Europarat-Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Es erscheint sogar zweifelhaft, ob Deutschland dem Übereinkommen zu einem späteren Zeitpunkt beitreten wird. In zentralen Punkten des allgemeinen Informationszugangsrechts bestehen signifikante Unterschiede zwischen dem IFG und dem neuen völkerrechtlichen Abkommen. Unter realpolitischen Vorzeichen kann nicht erwartet werden, dass der Bund an einer Ausweitung der Informationszugangsfreiheit nur deshalb interessiert ist, weil das Ministerkomitee des Europarates diesen Standpunkt einnimmt. Die Divergenzen betreffen zentrale Regelungen: Eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs des Informationszugangsrechts ist aus der Sicht der Bundesregierung sicherlich nicht wünschenswert. Der Verzicht auf eine Bereichsausnahme für Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden (§ 3 Nr. 8 IFG)82 wäre in Deutschland wahrscheinlich kaum durchsetzbar.83 Kaum vorstellbar ist gegenwärtig das Absehen von abwägungsresistenten, absoluten Schutzgütern im IFG durch Einführung einer Abwägungsklausel,84 die den Informationszugang trotz einer Schutzgutbeeinträchtigung erlaubt, wenn ein überwiegendes (übergeordnetes) öffentliches Interesse an der Offenlegung der an sich geschützten Information besteht.85 Bei den Kostenregelungen stellt die Europarat-Vorschrift (Art. 7 Abs. 1 ÜK) die Akteneinsicht grundsätzlich kostenfrei, während nach dem IFG grundsätzlich Aus gesetzgeberischer Sicht dazu BT-Drs. 15 / 4493, S. 12. Versucht wird eher das Gegenteil, d. h. die Einführung neuer Bereichsausnahmen, z. B. für die BaFin und die Deutsche Bundesbank, BR-Drs. 827 / 08, S. 3 f.; ablehnend dazu Gurlit, WM 2009, 773 (774); vgl. ferner Tolkmitt / Schomerus, NVwZ 2009, 568. 84 Auch das VIG verzichtet auf eine generelle Abwägungsklausel; vgl. Beyerlein, in: ders. / Borchert, Verbraucherinformationsgesetz (VIG), Kommentar, 2010, § 2 Rn. 1. 85 Die Abwägungsklauseln im UIG (§ 8 Abs. 1 Satz 1, § 8 Abs. 2, § 9 Abs. 1 Satz 1) beruhen auf Art. 4 Abs. 2 Satz 3 RL 2003 / 4 / EG: „In jedem Einzelfall wird das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe gegen das Interesse an der Verweigerung der Bekanntgabe abgewogen“. 82 83
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alle Amtshandlungen der Gebührenpflicht unterliegen (§ 10 Abs. 1 IFG),86 so dass auch in diesem Punkt eine Annäherung nur schwer vorstellbar ist. Weitere (kleinere) Divergenzen zwischen dem Europarat-Übereinkommen und dem IFG mögen hinzutreten, so dass ein deutsches Zustimmungsgesetz zu dem völkerrechtlichen Vertrag auch noch aus sonstigen Gründen eher unwahrscheinlich ist. Hinzu tritt der bundesstaatliche Aspekt. Im Falle der Verbindlichkeit des Europarat-Übereinkommens hat jede Vertragspartei in ihrem innerstaatlichen Recht die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die Bestimmungen über den Zugang zu amtlichen Dokumenten aus dem Übereinkommen umzusetzen (Art. 2 Abs. 2 ÜK). Anspruchsverpflichtet sind indessen Regierungen und Verwaltungsbehörden auch auf regionaler und kommunaler Ebene (Art. 1 Abs. 2 lit. a Nr. 1 ÜK). Es ist nicht zu erwarten, dass diejenigen deutschen Länder, die über ein IFG noch gar nicht verfügen,87 bereit sein werden, ihre Haltung zur allgemeinen Informationszugangsfreiheit auf Grund der Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zu ändern. Vergleichbares gilt mutatis mutandis für die anderen Länder, die ihr IFG (bzw. AIG oder IZG) möglicherweise ändern müssten. Die beklagenswerte Zersplitterung des deutschen Informationszugangsrechts88 wird somit nach Lage der Dinge durch das Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten mit großer Wahrscheinlichkeit keine Überwindung erfahren.89
86 Das gilt bei strikter Beachtung des Gesetzes sogar im Falle der Ablehnung eines Antrags auf Informationszugang; vgl. Schoch, IFG (Fn. 50), § 10 Rn. 37 ff. (m. Nachw. zur Gegenauffassung). 87 Anfang des Jahres 2010 waren dies Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen. 88 Näher dazu Schoch, IFG (Fn. 50), Einl. Rn. 118 ff. (zum Landesrecht) und Rn. 159 ff. (zum Bundesrecht). 89 So auch die Einschätzung der Informationsfreiheitsbeauftragten des Bundes und der Länder, vgl. Landesbeauftragte für Informationsfreiheit der Freien Hansestadt Bremen, 4. Jahresbericht vom 31. 3. 2010, S. 17.
Das Karlsruher Konzept der europäischen Integration Bemerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 6. 2009 Von Meinhard Schröder* I. Ausgangslage Mit dem Vertrag von Lissabon vom 13. 12. 2007 verändert sich das Erscheinungsbild der Europäischen Union auf Jahre hinaus grundlegend. Der Vertrag führt eine einheitliche Organisationsstruktur ein und modifiziert bestehende Organstrukturen. Das materielle Unionsrecht wird durch Auflösung der Drei-Säulen-Struktur noch weiter als bisher der „supranationalen Methode“ unterstellt. Unbeschadet des Festhaltens am Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung werden bisherige Aufgabenfelder der Union verdichtet (u. a. in der Sozialpolitik) und neue erschlossen (u. a. Energie und Katastrophenschutz), die Kompetenzen der Union erstmalig systematisiert.1 Die Bundeskanzlerin charakterisierte den Vertrag deshalb als „die Grundlage für die neue Europäische Union im 21. Jahrhundert“2. Jedenfalls ist die Bedeutung ähnlich weitreichend wie die des Maastricht-Vertrages:3 Wie beim Maastricht-Vertrag, mit dem sich auch der Jubilar befasst hat,4 entstand alsbald die Sorge um den Fortbestand der deutschen Staatlichkeit und – wenn auch diesmal verstärkt durch die zwischenzeitlich gewachsenen Kompetenzen – um die demokratische Legitimation der Europäischen Union. Erneut stellte sich die Frage, ob der institutionelle Rahmen der Europäischen Union den Anforderungen des Grundgesetzes genügt, insbesondere das Integrationsprogramm hinreichend vorhersehbar und bestimmbar ist. Zur Klärung wurde auch diesmal das Bundesverfas* Prof. Dr. Meinhard Schröder, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Trier. 1 Eingehende Darstellung etwa bei Terhechte, Der Vertrag von Lissabon: Grundlegende Verfassungsurkunde der Europäischen Gemeinschaft oder technischer Änderungsvertrag?, EuR 43 (2008), 143 ff. 2 Regierungserklärung zum Europäischen Rat und EU-Reformvertrag in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. 12. 2007. 3 So ausdrücklich das Lissabon-Urteil BVerfG, NJW 2009, 2267. 4 In Rezensionen von W. v. Simson / J. Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht (1992) und P. M. Huber, Maastricht – ein Staatsstreich? (1993), in: AöR 119 (1994), 682 f.
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sungsgericht als „Hüter des Staates im Prozess der Europäischen Integration“5 in Anspruch genommen. Sein Urteil enthält auf 148 Seiten in Anknüpfung an das Maastricht-Urteil das auf lange Zeit für die deutsche Politik maßgebliche Konzept der Europäischen Integration. Ein wesentliches Anliegen ist dabei das Bestreben, „die weitere europäische Entwicklung demokratieverträglich zu gestalten“6. In politischen Stellungnahmen ist das Lissabon-Urteil als „ein guter Tag für den Vertrag“7 gewertet worden. Der Vertrag soll die Prüfung „glänzend“ bestanden haben,8 das Urteil nach einer Schätzung des Kommissionspräsidenten Barroso „die wichtigen Innovationen im Vertrag widerspiegeln, insbesondere die Stärkung der demokratischen Legitimität der Europäischen Union“9. Aus dieser Perspektive waren und sind die Folgen des Urteils nur innerstaatliche, nämlich die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Nachbesserungen im Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union10 vorzunehmen, um die bis dahin aufgeschobene Ratifikation zu ermöglichen.11 Aber es gab auch Stimmen, die Auswirkungen des Urteils auf die europäische Ebene und das Integrationskonzept erwarten: Das BVerfG habe den Lissabon-Vertrag einschränkend interpretiert, in eine Art Karlsruher Vertrag verwandelt.12 Es sei der Schlusspunkt der Europäischen Integration wie wir sie kennen.13 Im Verhältnis zwischen Karlsruhe und dem Europäischen Gerichtshof werde es krachen.14 Diesen Befürchtungen soll mit einer auf die Grundlinien beschränkten Analyse der verfassungsgerichtlichen Konzeption der Europäischen Integration nachgegangen werden.
5 So der Titel meines Beitrags, in: DVBl. 1994, 316 ff.; jetzt Janisch, Hüter des Nationalstaates, in: Das Parlament Nr. 28 vom 6. 7. 2009, S. 3. 6 Vgl. Prantl, SZ Nr. 148 vom 1. 7. 2009, S. 1, Karlsruhe gibt Bundestag Macht über Europa. 7 So die Bundeskanzlerin Merkel zitiert nach: SZ Nr. 148 vom 1. 7. 2009, S. 2. 8 So der Europaabgeordnete Hänsch (SPD) zitiert nach Weingärtner, Das Parlament Nr. 28 vom 6. 7. 2009, S. 10, Einflussreiche Nordlichter. 9 Zitiert nach: Das Parlament a. a. O. 10 Text in: BT-Drucks. 16 / 8499. 11 In diesem Sinne die Äußerungen der Abgeordneten Schäfer (SPD) und Stübgen (CDU / CSU) in der 229. Sitzung des Bundestages am 1. 7. 2009. 12 Prantl (Fußn. 6); von einer völlig neuen Interpretation sprach der Abgeordnete Gysi (Die Linke) in der 229. Sitzung des Bundestages am 1. 7. 2009; s. a. Darnstedt u. a., Wut und Tränen, Der Spiegel 28 / 2009 vom 7. 7. 2009, S. 28 (29): „Karlsruher Lesart“. 13 R. Müller, Weckruf aus Karlsruhe, FAZ Nr. 149 vom 1. 7. 2009, S. 1; P. Kirchhof, „klarer Endpunkt“ „des europäischen Zuges“, zitiert nach: Der Spiegel a. a. O., S. 30; Oppermann, „Gefahr der Versteinerung“, zitiert nach: FAZ Nr. 174 vom 30. 7. 2009, S. 6, „Grundgesetz über alles“, Kritik am Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag. 14 Prantl, Europäische Sternstunde, SZ Nr. 148 vom 1. 7. 2009, S. 4; Oppermann a. a. O.: Es könne sein, dass nunmehr „Krieg“ zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof eröffnet sei.
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II. Die Bausteine des Konzepts Das Integrationskonzept des Lissabon-Urteils wird aus der Perspektive der Bewahrung der Staatlichkeit entwickelt. Es ist souveränitätsbetont, ein Verbund souveräner Staaten, der die Legitimation seiner Existenz und Wirksamkeit im Wesentlichen den mitgliedstaatlichen Parlamenten verdankt. Gemessen am MaastrichtUrteil erscheint das Konzept nicht neu, in vielen Details wesentlich zugespitzter, in anderen neuartig. Bloß „epigonenhaft“ ist das Lissabon-Urteil jedenfalls nicht.15 1. Die Union als Verbund souveräner Staaten Das Lissabon-Urteil übernimmt aus dem Maastricht-Urteil die Kennzeichnung der Union als Staatenverbund, allerdings mit bemerkenswerten neuen Akzentuierungen. a) Der Staatenverbund wird nicht mehr aus dem „Selbstverständnis der Union“ abgeleitet. Er ist vielmehr der Weg, den das Grundgesetz der europäischen Vereinigung weist (Rn. 229), die Konsequenz der Verfassungslage, wie sie das Gericht sieht. Deutlicher als bisher erscheint der Staatenverbund als Organisationstyp, der das „einzigartige Phänomen“ der Union erfassen soll,16 jedoch gerade deswegen keiner international anerkannten Typologie entspricht.17 b) Aufschlussreich ist die Charakterisierung des Staatenverbundes als dauerhafte Verbindung souverän bleibender Mitgliedstaaten (Rn. 229). Sie ist etatistisch, auf die Bewahrung der Staatlichkeit ausgerichtet. Sie unterstreicht die „Dominanz“ der Mitgliedstaaten für die Integration und blendet nach wie vor den Status der Unionsbürger als Besonderheit des Organisationstyps aus.18 Weil die Mitgliedstaaten im Staatenverbund souverän bleiben und im Lissabon-Urteil durchgängig nur von ihrer Souveränität gesprochen wird, ist damit zugleich der These einer zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Souveränität19 eine Absage erteilt. Auch der Versuch, die Europäische Integration als Verfassungsverbund zu 15 So ein Kritikpunkt von Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones AT Sea, GLJ 10 (2009), 1201 (1207). 16 Streinz, Boxenstopp für Lissabon, NJW 30 / 2009, III. 17 Herdegen, Europarecht, 11. Aufl. (2009), § 5 Rn. 10. 18 Vor dem Lissabon-Urteil Everling, Die Europäische Union im Spannungsfeld von gemeinschaftlicher und nationaler Politik und Rechtsordnung, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht (2003), 849 (886); Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, 5. Aufl. (2005), Art. 23 Rn. 5; Zuleeg, Diskussionsbeitrag in: VVdStRL 16 (2001), 363 f.; zum Folgenden auch Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along? Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 2009, 724 (730). 19 So P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVdStRL 60 (2001), 194 (210); Calliess, Auswärtige Gewalt, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. (2006), § 83 Rn. 10.
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deuten, bei dem es auf die staatliche Souveränität (vorerst) nicht ankommt,20 findet keine Stütze.21 c) Die Grundordnung des Staatenverbundes, die „Verfassung“ Europas, ist und bleibt eine abgeleitete Ordnung (Rn. 231). Sie unterliegt der alleinigen Verfügung der Mitgliedstaaten (Rn. 231) und begründet im politischen Alltag eine weitreichende, sachlich begrenzte überstaatliche Autonomie (Rn. 231). Ein Widerspruch zur europarechtlichen Sichtweise der Autonomie22 liegt darin so lange nicht, wie die europarechtliche Autonomie auf das Verhältnis zum Völkerrecht bezogen wird.23 Andererseits klingt bereits in dieser zitierten Passage an, dass das Verfassungsgericht eine „Verselbstständigung des EG-Rechts gegenüber dem Staatsrecht“24 nicht akzeptiert, wie sie der EuGH als Freiheit zur Entwicklung einer eigenen ausgreifenden, an Integrationszwecken orientierten Konkretisierungsmethode genutzt hat.25 2. Die Legitimation der Unionsgewalt Im Maastricht-Urteil sind es zuvörderst die „Staatsvölker der Mitgliedstaaten“, die die hoheitlichen Aufgaben und Befugnisse des Staatenverbundes „über die nationalen Parlamente zu legitimieren haben“.26 Auch im Lissabon-Urteil sind sie die „Quelle der Gemeinschaftsgewalt“ (Rn. 231). Hinzu tritt wie im Maastricht-Urteil27 die „ergänzende“ und „stützende“ Vermittlung demokratischer Legitimation durch ein Europäisches Parlament (Rn. 262). Insofern ist der Ausgangspunkt der Legitimationsfrage unverändert. Geändert hat sich jedoch die Balance der durch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament vermittelten Legitimation: Im Maastricht-Urteil ist sie durch Kompetenzzuwachs und ein einheitliches Wahlrecht zu Gunsten des Europäischen Parlaments entwicklungsfähig.28 Im Lissabon-Urteil fehlt die demokratische Perspektive weitgehend.29 Eine „neue Ent20 So Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVdStRL 60 (2001), 148 (155 ff.); Jacobs, The Sovereignty of Law, 2007 (dazu instruktiv: Kemmerer, Souverän?, FAZ Nr. 61 vom 12. 3. 2008, S. N 3). 21 Kritisch bereits Everling (Fußn. 18), 887. 22 Zu ihr etwa Möllers, Verfassungsgebende Gewalt-Verfassung-Konstitutionalisierung, in: v. Bogdandy (Fußn. 18), 1 (26 ff.). 23 Zutreffend Oppermann / Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. (2009), § 10 Rn. 8. 24 Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVdStRL 63 (2004), 41 (49). 25 Dazu Oppermann / Nettesheim (Fußn. 23), Rn. 9. 26 BVerfGE 89, 155 (184). 27 BVerfGE 89, 155 (184, 186). 28 BVerfGE a. a. O. 29 Nettesheim, FAZ (Fußn. 13); hierzu und zum Folgenden auch Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett? Zum Urteil des BVerfG zum Vertrag von Lissabon, JZ 2009, 881 (882 f.).
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wicklungsstufe“, ein „neues Leitbild der Demokratie“ auf europäischer Ebene will das Gericht nicht anerkennen (Rn. 295), obschon die Veränderungen seit dem Maastricht-Vertrag, die sich auch im Lissabon-Vertrag abzeichnen, erheblich sind.30 Aus einer bloßen Synthese nationaler Ordnungsstrukturen kann das Leitbild auch nicht gewonnen werden.31 Aber gerade diese Vorstellung prävaliert im Lissabon-Urteil, weil letztlich die Maßstäbe „einer staatlich verfassten Demokratie“ über die Bestimmung des Legitimationsniveaus entscheiden (Rn. 276) und dementsprechend eine „gleichheitsgerechte“ Ausgestaltung der europäischen Institutionen erwartet wird (Rn. 295).32 Darum beanstandet das Gericht die mitgliedstaatliche Kontingentierung der Sitzverteilung im Europäischen Parlament und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Stimmgewicht der Unionsbürger (Rn. 284 ff.) als am „Baumuster des Bundesstaates“ orientierte (Rn. 296) „Überföderalisierung“ (Rn. 288). Das aus der Ungleichheit resultierende Defizit ist nach Auffassung des Gerichts nicht zu rechtfertigen und durch andere im Vertrag angelegte demokratische Entwicklungen nicht aufzuwiegen (Rn. 289). Wenn auch nicht unheilbar,33 so ist es doch mittelfristig nicht leicht zu überwinden.34 Deshalb stagniert bis auf weiteres die Legitimationswirkung des Europäischen Parlaments auf niedrigem Niveau – für die Beteiligung an künftigen Europawahlen nicht eben günstig. Grundsätzlicher ist zu fragen, ob die Maßstäbe der Legitimation im Hinblick auf die Besonderheiten der Europäischen Integration und das Vorbild föderierter Organisationsformen35 differenzierter bestimmt werden sollten. Eine bloße Entschuldigung für die Abweichung von nationalen demokratischen Standards wäre das keinesfalls.36 Schon jetzt kann festgehalten werden, dass die im Lissabon-Urteil an anderer Stelle getroffene Aussage, dass eine schematische Übernahme des grundgesetzlichen Demokratieverständnisses nicht gefordert sei (Rn. 267), für die Legitimationsfrage folgenlos geblieben ist.37 30 Siehe nur Ruffert, Institutionen, Organe und Kompetenzen – der Abschluss eines Reformprozesses als Gegenstand der Europarechtswissenschaft, in: Schwarze / Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1 / 2009, 31 (34 f.). 31 Sommermann, Demokratiekonzepte im Vergleich, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa (2005), 191 (219). 32 Dazu auch Calliess, Interview in: NJW-aktuell 3 / 2009, XVI. 33 So aber Darnstedt u. a., (Fußn.12), S. 30. 34 Ruffert (Fußn. 30), 40 mit Nachw. 35 Dazu Classen (Fußn. 18), Rn. 30; Möllers, Was ein Parlament ist, entscheiden die Richter, in: FAZ Nr. 162 vom 16. 7. 2009, S. 27 und Pache, Das Ende der europäischen Integration, EuGRZ 36 (2009), 280 (295); Terhechte (Fußn. 18), 728 f. 36 So aber Schorkopf, The European Union as an Association of Sovereign States: Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, GLJ 10 (2009), 1219 (1225); ders., Die Europäische Union im Lot. Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, 718 (720). 37 Siehe auch Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, in: FAZ Nr. 182 vom 8. 8. 2008, S. 7; Schönberger (Fußn. 15), 1214 f.: Blindheit gegenüber den Besonderheiten der Demokratie auf europäischer Ebene; Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Orakel und integrative Optionen, Integration 4 / 2009, 331 (344); Ukrow, Deutschland auf dem Weg vom Motor zum Bremser der europäischen Integration? Kritische Anmerkun-
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3. Die Kompetenzausstattung der Union und ihre Grenzen Dass die Grundordnung der Union von den Mitgliedstaaten abgeleitet ist (oben II 1c)), bestimmt auch die Kompetenzlage. a) Eine Kompetenzkompetenz steht der Union, wie schon im Maastricht-Urteil ausgesprochen,38 nicht zu (Rn. 233). Grundlegend für die Wahrung der Kompetenzen ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Es wird als „Schutzmechanismus zur Erhaltung mitgliedstaatlicher Verantwortung“ im „politischen Primärraum“ charakterisiert (Rn. 301) und ist „vertraglicher Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlegung der Unionsgewalt“. Besonderes Gewicht gewinnt das Prinzip dadurch, dass es nicht nur, wie noch im Maastricht-Urteil,39 einen europarechtlichen Grundsatz darstellt, sondern auch „mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien“ aufnimmt (Rn. 234), die allerdings nicht präzisiert werden. Mit dieser neuartigen Begründung eröffnet sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Möglichkeit, die Einhaltung des Prinzips im Rahmen seiner Zuständigkeiten zu prüfen (Rn. 235). b) Das Integrationsprogramm muss hinreichend bestimmt, aber nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein (Rn. 236, 237). Vom „konstruktiven Vertrauen in den Integrationsmechanismus“ umfasst sind deshalb eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire) und zur wirksamen Kompetenzauslegung am Maßstab der implied powers bzw. der effet utile-Regel (Rn. 236, 237). Eben deshalb kann dem BVerfG auch keine „falsche Großzügigkeit“ „in methodischer Hinsicht“ vorgehalten werden.40 Anders bewertet das Lissabon-Urteil dynamische Vertragsvorschriften mit Blankettcharakter. Sie sollen erst gar nicht vereinbart oder jedenfalls in einer Weise ausgelegt werden, die die nationale Integrationsverantwortung wahrt (Rn. 238, 239). Gemeint ist zunächst die Nachfolgebestimmung des Art. 308 EGV, der neue Art. 352 AEUV. Diesem wird infolge der Erweiterung der Anwendung auf die in den Verträgen festgelegten Politikbereiche bescheinigt, dass er die Vertragsgrundlagen substantiell ändern könne und deshalb aus verfassungsrechtlicher Sicht nur in Anspruch genommen werden könne, wenn Bundestag und Bundesrat der Inanspruchnahme zuvor zugestimmt hätten (Rn. 328). Damit schließt das Gericht an die Befürchtung an, die schon im Maastricht-Urteil Anlass dazu gab, eine restriktive Handhabung des damals behandelten Art. 235 EWGV einzufordern.41 Diese Forderung wird jetzt verschärft wegen des „dynamischen“ Charakters des Art. 352 AEUV und dem in ihm gesehenen qualitativen Sprung in der europäischen Rechtsentwicklung.42 Unabhängig davon bleibt bemerkenswert,43 gen zum „Lissabon“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, ZEuS 2009, 717 (727). 38 BVerfGE 89, 155 (194). 39 BVerfGE 89, 155 (192). 40 So aber Gärditz / Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 (877). 41 BVerfGE 89, 155 (210).
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dass dynamisch angelegte Kompetenzen ohne nationale Kontrolle nicht mehr akzeptiert werden. Das gilt explizit für Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3, kann aber Konsequenzen auch für andere breit angelegte Kompetenzräume wie Art. 94 und 95 EGV haben.44 Denn an anderer Stelle heißt es im Lissabon-Urteil, dass unbestimmte oder zur dynamischen Fortentwicklung übertragene Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten Gefahr laufen, das Integrationsprogramm zu überschreiten und in eine unzulässige Kompetenzkompetenz zu münden, wenn Organe der Europäischen Union – implizit ist damit der EuGH angesprochen – unbeschränkt ohne äußere Kontrolle entscheiden können, wie das Vertragsrecht ausgelegt wird. Wo die Grenze zwischen der zu kontrollierenden und einer den Maßstäben der implied powers bzw. dem effet utile verpflichteten Kompetenzausübung verläuft,45 bleibt dabei offen. c) Die schon im Maastricht-Urteil in Anspruch genommene ultra vires-Kontrolle bei Kompetenzüberschreitungen durch die Union mit der Folge der Unanwendbarkeit von Unionsrecht in Deutschland wird fortgeführt (Rn. 240) und jetzt als Forderung des Grundgesetzes zur Wahrung der Grenzen der verfassungsstaatlichen Integrationsermächtigung präsentiert (Rn. 336). Das Gericht hält es sogar für denkbar, dafür ein speziell darauf zugeschnittenes verfassungsgerichtliches Verfahren vorzusehen (Rn. 240, 241), obwohl die bisherigen Zuständigkeiten im Ganzen ausgereicht haben, den Integrationsprozess verfassungsrechtlich zu begleiten.46 Auf keinen Fall sollte es eine jedem Bundesbürger zustehende EU-Normenklage gegen missliebige Europa-Vorschriften geben:47 Wer dem Bürger die Möglichkeit eröffnet, eine gerichtliche Entscheidung über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten herbeizuführen, erweitert den Individualrechtsschutz systemwidrig.48 Die Kontrolle soll es ermöglichen, die „den Mitgliedstaaten zustehende konzeptionelle Integrationsverantwortung“ (Rn. 238) einzufordern. Infolge der ablehnenden Haltung des Lissabon-Urteils gegen dynamisch angelegte Kompetenzen (II 3 b)) dürfte die in ihr liegende Hürde eher gewachsen sein.49 Erst die Zukunft muss Classen (Fußn. 29), 884. Dazu bereits mein Beitrag (Fußn. 5), 321 f. 44 Vgl. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. (2008), Rn. 132; Nettesheim, Kompetenzen, in: v. Bogdandy (Fußn. 18), 415 (440). 45 Dazu auch Nettesheim (Fußn. 44), 424. 46 Siehe dazu aber auch Gärditz / Hillgruber (Fußn. 40), 874; positiv für ein neues Prozessrecht Schorkopf (Fußn. 36), 1233 f. und zuletzt ders. (Fußn. 36), 722; kritisch abwägend Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil, ZRP 2009, 195 (197 f.). 47 Erwogen von Darnstedt u. a. (Fußn. 12), S. 30; s. a. Pache (Fußn. 35), 296. 48 Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 2267 (2269). 49 R. Müller, (Fußn. 13): „Es ist [ . . . ] eine [ . . . ] Illusion zu glauben, die Letztkontrolle des Bundesverfassungsgerichts werde sich auf wenige Grenzfälle beschränken. Die Fälle warten schon [ . . . ]“; Schorkopf, (Fußn. 36), 721 f. 42 43
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erweisen, ob spürbare Einschränkungen dadurch eintreten, dass die kompetenziellen Grenzüberschreitungen „ersichtlich“ sein müssen – ein juristisch unklarer Begriff – und bei der Ausübung der Kontrolle der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes beachtet werden soll (Rn. 240). Die Bedingung, dass Rechtsschutz auf der europäischen Ebene nicht zu erlangen ist, verkennt, dass die Mitgliedstaaten die Kompetenzkontrolle prinzipiell dem EuGH zugewiesen haben und deshalb Raum für eine verfassungsgerichtliche Kontrolle nur bei dauerhaften und schwerwiegenden, vom EuGH nicht sanktionierten Kompetenzverletzungen bleiben kann.50 Davon abgesehen, führt sie nicht notwendig zu einer Rücknahme der Kontrolle.51 Weil endgültige Entscheidungen des EuGH mit Rücksicht auf die völkervertragliche Grundlage der Union nur „grundsätzlich“ anerkannt werden (Rn. 337), ist die Bedingung nämlich so zu interpretieren, dass Rechtsschutz auch dann nicht zu erlangen war, wenn der EuGH nicht so entschieden hat, wie die Kompetenzlage aus der Perspektive der konzeptionellen Integrationsverantwortung Deutschlands erscheint. Von einer in einem Mehrebenensystem nahe liegenden Kooperation – so noch das Maastricht-Urteil52 –, einem Dialog mit dem EuGH ist bezeichnenderweise keine Rede.53 4. Die Bewahrung eines ausreichenden Raumes für die selbstverantwortliche Gestaltung der politischen und sozialen Lebensverhältnisse durch die Mitgliedstaaten a) Die Passagen des Lissabon-Urteils zur Bewahrung eines ausreichenden Raumes mitgliedstaatlicher Gestaltung im Prozess der Europäischen Integration sind vor dem Hintergrund erklärbar, dass spätestens seit der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung Unsicherheit über den „Sinn von Souveränität in einem mit unbestimmtem Ziel vorangetriebenen Integrationsprozess“ besteht.54 Die Hamburger Staatsrechtslehrertagung 2003 mit ihren kontrovers gebliebenen Einschätzungen zum Fortbestand und Inhalt der Staatlichkeit belegt dieses Urteil vollauf.55 Das Maastricht-Urteil hat zur Vergewisserung über etwaige „Kernberei50 Dazu Müller-Graff (Fußn. 37), 348 f.; Proelß, Bundesverfassungsgericht und internationale Gerichtsbarkeit – Mechanismen zur Verhinderung und Lösung von Jurisdiktionskonflikten, Tübinger Habilitationsschrift 2009, Kapitel 3 IV.2. 51 Treffende Analyse auch bei Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, 1197 (1202). 52 BVerfGE 89, 155 (175). 53 Pache (Fußn. 35), 297; Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen . . ., ZEuS 2009, 559 (569); überraschend deshalb P. Kirchhof, Faszination Europa, in: FAZ Nr. 218 vom 19. 9. 2009, S. 8: „Die bisherige Erfahrung in der Kooperation beider Gerichte ist erfolgversprechend und wird durch das LissabonUrteil bestätigt“. 54 Herdegen, Zeitgemäße Souveränität, in: FAZ Nr. 169 vom 24. 6. 2009, S. 9.
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che der eigenen Staatlichkeit“ und zur „Benennung unverzichtbarer Aufgabenbereiche“ nur wenig beigetragen.56 Es blieb bei der prinzipiellen Feststellung, dass die Staaten hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder bedürfen, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihnen legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann.57 Im Übrigen verwies das Gericht auf die Möglichkeit, die Zugehörigkeit zur Union durch einen gegenläufigen Akt wieder aufzuheben. Dadurch werde die Qualität eines souveränen Staates gewahrt.58 b) Im Lissabon-Urteil stehen Souveränität und freiheitliche Demokratie in einem engen Zusammenhang. Das Grundgesetz garantiert die „souveräne Staatlichkeit“ zum Schutz der in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze (Rn. 216, 248). Souveränität ist das „Selbstbestimmungsrecht“ der politischen Gemeinschaft (Rn. 220). Sie umschreibt die Fähigkeit zu selbstverantwortlicher Gestaltung der politischen und sozialen Lebensverhältnisse (Rn. 226), die auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union erhalten bleiben muss (Rn. 249) und durch das Austrittsrecht der Mitgliedstaaten aus der Union bekräftigt wird (Rn. 329). Beim Eintritt in einen europäischen Bundesstaat ginge sie verloren (Rn. 228). Die Souveränität erscheint damit als notwendige Grundlage demokratischer Ordnung,59 als der Raum, der die darin geltende Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung garantiert.60 Grundsätzliche Bedenken gegen dieses Souveränitätsverständnis, das Tendenzen des gegenwärtigen Völkerrechts aufnimmt (Menschenrechte, Demokratie),61 bestehen nicht. Es lässt sich nicht dagegen einwenden, dass das Grundgesetz den Begriff der Souveränität nicht verwendet.62 Es setzt ihn wie die allermeisten Staatsverfassungen voraus – etwa in den Vorschriften über die Beziehungen zu auswärtigen Staaten (Art. 32 und 59), über die Staatsangehörigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2) und über die Verteidigung mit militärischen Mitteln (Art. 87a, 115a ff.) – und verbietet eine darüber hinaus gehende, an den Grundwerten der Verfassung orientierte Inhaltsbestimmung nicht. Aber auch zum Integrationsprozess steht die so bestimmte Souveränität nicht von vornherein in Widerspruch, weil, wie Art. 4 Abs. 2 S. 2 EUV zeigt, die Mitgliedstaaten auch während ihrer Mitgliedschaft in der 55 Referat von Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 7 (10, 17 ff., 21 ff.) und die Diskussionsbeiträge von Di Fabio (S. 71 f.), Doehring (S. 73 f.), Oppermann (S. 74) und Isensee (S. 90 f.). 56 Ellwein / Hesse, Der überforderte Staat (1997), S. 45; vgl. dazu auch meinen Beitrag (Fußn. 5), 320 f. 57 BVerfGE 89, 155 (186). 58 BVerfGE 89, 155 (190 f.). 59 Herdegen (Fußn. 54). 60 Schorkopf (Fußn. 36), 1224. 61 Eingehend dazu Herdegen (Fußn. 54); ablehnend Ukrow (Fußn. 37), S. 723. 62 Diese Tendenz bei Lenz (Fußn. 37); s. a. Terhechte (Fußn. 18), 728.
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Union ihre „grundlegenden Funktionen“ als (souveräne) Staaten prinzipiell bewahren wollen.63 c) Die Wahrung der Souveränität erfordert nicht, dass eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssen. Vermieden werden muss aber, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr besteht (Rn. 248 f., 351). Zur Konkretisierung dieser Forderung beschreibt das Lissabon-Urteil „wesentliche Bereiche demokratischer Gestaltung“, die es als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit“ ansieht (Rn. 249, 252): u. a. die Staatsbürgerschaft; Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht; die Verfügung über das Gewaltmonopol, polizeilich nach innen und militärisch nach außen; die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand; die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen, etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (Rn. 252-260). Die Benennung der einzelnen Aufgabenfelder erfolgt zwar in der Rechtsprechung erstmalig, ist aber im Schrifttum als Kernaufgabe des (welt-)offenen Verfassungsstaates vorgezeichnet und deswegen auch nicht kühn im Sinne ihrer Erfindung.64 Als Parallelen zum Lissabon-Urteil seien erwähnt: die Garantie von Freiheit und Sicherheit;65 die Wahrung des Rechtsfriedens und der öffentlichen Ordnung;66 Verteidigung;67 Daseinsvorsorge und Schaffung von Wohlfahrt;68 Ressourcenbeschaffung;69 Herstellung sozio-kultureller Identität.70 Auch Art. 4 Abs. 2 EUV enthält beispielhaft71 derartige Kompetenzfelder. Freilich hätte man erwarten können, dass die für die Selbstgestaltung des Staates wesentlichen Kompetenzfelder grundgesetzspezifisch begründet worden wären. Damit hätte das Gericht dem Einwand vorgebeugt, es habe ohne Not eine allgemeine Staatsaufgabenlehre begründet.72 Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 (6). In diese Richtung Lenz (Fußn. 37); missverstanden als Staatsaufgabenlehre sind die Vorbehaltsbereiche bei Halberstam / Möllers, The German Court says „Ja zu Deutschland“, GLJ 10 (2009), 1241 sub C II 3; überzogene Kritik auch bei Schönberger (Fußn. 15), 1209; eingehend und differenzierend demgegenüber Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1202). 65 Kokott (Fußn. 55), 24 f. 66 Ellwein / Hesse (Fußn. 56), S. 173 f. 67 Herdegen, Völkerrecht, 8. Aufl. (2009), § 28 Rn. 7. 68 Kokott (Fußn. 55), 26. 69 Ellwein / Hesse (Fußn. 56), S. 175 f.; Herdegen (Fußn. 67). 70 Kokott (Fußn. 54), 26. 71 Oppermann, Eine Verfassung für Europa, DVBl. 2003, 1165 (1170) zur fast identischen Bestimmung des Verfassungsvertrages (Art. I-5 Abs. 2). 72 Classen (Fußn. 29), 887; s. a. Terhechte (Fußn. 18), 731. 63 64
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d) Zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten, ihrer verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten nimmt das Lissabon-Urteil erstmalig eine Identitätskontrolle in Anspruch (Rn. 240, 247, 336). Sie soll wie die ultra vires-Kontrolle europafreundlich eingesetzt werden, wie diese im Einzelfall zur Unanwendbarkeit des Unionsrecht in der Bundesrepublik führen (Rn. 240). Bezogen auf die genannten wesentlichen Aufgabenfelder der staatlichen Selbstgestaltung73 zeigt sich schon jetzt die Problematik dieser Kontrolle. Einerseits akzeptiert das Bundesverfassungsgericht, dass auch sie nicht absolut integrationsfest sind. Andererseits verwendet es zur Bestimmung der Grenzen des Übertragbaren interpretationsbedürftige Kriterien, deren Handhabung strittig sein und die Identitätskontrolle auf den Plan rufen kann. So darf das Strafrecht nur für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte unter restriktiven Voraussetzungen harmonisiert werden, wobei substantielle mitgliedstaatliche Handlungsspielräume erhalten bleiben müssen (Rn. 253) und die vertraglichen Kompetenzgrundlagen, deren Einsatz besonderer Rechtfertigung bedarf, strikt – keinesfalls dynamisch – ausgelegt werden dürfen (Rn. 358). Abgaben dürfen nicht in wesentlichem Umfang supranationalisiert werden, eine Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben muss erhalten bleiben (Rn. 256). Auch die Sozialpolitik steht unter Wesentlichkeitsvorbehalt. Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen muss primäre Staatsaufgabe bleiben, auch wenn die allmähliche Angleichung nicht ausgeschlossen ist (Rn. 259). Ohne nähere Präzisierung wird für die kulturell bedeutsamen Bereiche die Forderung aufgestellt, dass die jeweilige Gemeinschaft das Subjekt der demokratischen Legitimation bleiben müsse (Rn. 260). Die Unsicherheiten für die Entwicklung der Europäischen Integration liegen auf der Hand.74 Eine Rückholpflicht der deutschen Organe für den Fall, dass bei den erwähnten Selbstgestaltungsbereichen Identitätskriterien des Bundesverfassungsgerichts schon bei verabschiedeten Rechtsakten der Union überschritten sind,75 lässt sich aus dem Lissabon-Urteil nicht ableiten. Optimistisch erscheint andererseits die Einschätzung, die Identitätskontrolle sei die intelligentere Version eines Vertragsvorbehaltes, ein beweglicher dynamischer Vorbehalt, der dem Verfassungsgericht mehr Flexibilität und Fingerspitzengefühl erlaube, aber auch einiges abverlange, weil das Gericht sich die Verpflichtung aufgeladen habe, der Kontrollfunktion gerecht zu werden.76 73 Einen engeren Anwendungsbereich der Identitätskontrolle präferiert Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1205), der aber die Inanspruchnahme für die Vorbehaltsbereiche für denkbar hält; i. E. auch Terhechte (Fußn. 18), 729 f. (Sicherung bei Vertragsrevisionen); wie im Text Schorkopf (Fußn. 36), 722. 74 Siehe auch Calliess (Fußn. 53), S. 569 ff.; Fisahn, Bundesverfassungsgericht friert die europäische Demokratie national ein!, KJ 2009, 220 (224), der mit Recht die unterschiedlichen Strategien des BVerfG zur Sicherung der Vorbehaltsbereiche hervorhebt, und Sauer (Fußn. 46), 196 f. 75 So Gärditz / Hillgruber (Fußn. 40), 879.
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e) Zur Beurteilung der erweiterten Kompetenzen im Vertrag von Lissabon unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung der souveränen Staatlichkeit verwendet das Bundesverfassungsgericht einen kombinierten Ansatz. Es stellt auf eine Gesamtschau77 ab, die richtigerweise nicht auf quantitativen Relationen beruht, sondern darauf, dass für zentrale Regelungsbereiche substantielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben. Dabei legt es allerdings die dafür relevanten Kompetenzen im Lichte der wiedergegebenen Differenzierungen aus (Rn. 351 ff.). 5. Die Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane a) Schon das Maastricht-Urteil war ein Beitrag zur Begrenzung des Aufstiegs der Regierungen und des Abstiegs der Parlamente im Integrationsprozess.78 Das Lissabon-Urteil verstärkt diese Entwicklung. Ein legitimierender (Gesetzgebungs-) Akt ist nunmehr erforderlich – für die als Änderung des Primärrechts verstandene Inanspruchnahme der Brückenklauseln (Art. 31 Abs. 3, 48 Abs. 7 EUV; Art. 312 Abs. 2 UAbs. 2, 333 Abs. 1 AEUV: Rn. 317 ff. mit 413 ff.); – für die Einbeziehung des Familienrechts bei grenzüberschreitendem Bezug in die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art. 81 Abs. 3 AEUV: Rn. 369); – für die Ausweitung der Strafrechtskompetenz der Union (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV); – zum Schutz grundlegender Strukturen des mitgliedstaatlichen Strafrechts in der Unionsgesetzgebung (Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV: Rn. 365 mit 418); – zur Erhaltung des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz der Bundeswehr im Ausland (Rn. 255 mit 381 ff.); – bei Inanspruchnahme der Abrundungskompetenz (Art. 352 AEUV: Rn. 328 mit 417).
Der besondere Akzent der Entscheidungsrechte liegt auf der Pflicht ihrer Wahrnehmung. Denn sie sind Ausprägungen der Integrationsverantwortung, die allen Verfassungsorganen dauerhaft obliegt (Rn. 245), in den erwähnten Anwendungsfällen zunächst den Gesetzgebungsorganen. Diese soll die mitgliedstaatliche Verantwortung für ein verfassungsrechtlich vertretbares Konzept der Europäischen Integration zur Geltung bringen und unterscheidet sich darin von der kompensatorischen innerstaatlichen Beteiligung der Gesetzgebungsorgane an Rechtsetzungsakten der Union, die das Lissabon-Urteil nicht behandelt.79 Die Forderung, dass 76 Schorkopf zitiert nach Darnstedt u. a. (Fußn. 12); skeptisch demgegenüber mit Recht Calliess (Fußn. 53). 77 Dafür bereits Herdegen (Fußn. 67). 78 Mein Beitrag (Fußn. 5), 325.
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auch die Inanspruchnahme der Abrundungskompetenz (Art. 352 AEUV) eines legitimierenden Gesetzgebungsaktes bedarf, überzeugt in diesem Zusammenhang nur, wenn sie als auf die Übertragung neuer Hoheitsrechte gerichtet verstanden wird, was der näheren Begründung bedurft hätte.80 Um eine unvorhersehbare und daher verfassungsrechtlich nicht verantwortbare Kompetenz handelt es sich nicht; das Primärrecht wird durch sie nicht verändert.81 b) Die Integrationsverantwortung zwingt zur Befassung mit offenem Ergebnis. Schweigen darf nicht als Zustimmung gewertet werden (Rn. 320).82 Nur in diesem Sinne trifft zu, dass den Gesetzgebungsorganen vorgeschrieben wird, wie sie ihre Integrationsverantwortung wahrzunehmen haben.83 Dabei geraten sie auch nicht unter Zeitdruck.84 Denn es handelt sich in den dargestellten Anwendungsfällen der Integrationsverantwortung nicht um die Beteiligung an Normalfällen des Integrationsprozesses im Sinne von Art. 12 a) – c) EUV i. V. m. den einschlägigen Protokollen. Eine andere Frage ist, wie sich die Integrationsverantwortung im parlamentarischen Regierungssystem mit seiner strukturellen Verbindung von parlamentarischer Mehrheit und Regierung bewähren wird. Sie kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn Bundestag und Bundesrat „das verfassungsrechtlich Mögliche wagen und einfordern“85. Dazu bedarf es eines verantwortungsbewussten kritischen Rollenverständnisses des Parlaments im Verhältnis zur Regierung.86 Eine nur politisch motivierte, verfassungsrechtlich ungenügende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung birgt die Gefahr in sich, dass sie später vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird. Denn dieses hat sich die Letztverantwortung vorbehalten.87 Die Verantwortung der Gesetzgebungsorgane geht zu Lasten der Regierung. Diese darf nicht (mehr) ohne Zustimmung der Gesetzgebungsorgane oder muss 79 Dazu mein Beitrag, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 37 (2002), 301 (308 ff.); a. A. Schorkopf, Der Mensch im Mittelpunkt, FAZ Nr. 162 vom 18. 7. 2009, S. 6: kompensiert die abnehmende Möglichkeit der parlamentarischen Feinsteuerung; das Kompensationsargument auch bei Möllers (Fußn. 35); Trennung jetzt auch bei Classen (Fußn. 29), 886. 80 Classen (Fußn. 29); kritisch auch Terhechte (Fußn. 18), 727 f. und Müller-Graff (Fußn. 37), 353 f. 81 Zutreffend Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1200); kritisch auch Terhechte (Fußn. 18), 727 f. 82 P. Kirchhof, Demokratie in Europa, in: FAZ Nr. 152 vom 4. 7. 2009, S. 12; Prantl, Europäische Sternstunde, in: SZ Nr. 148 vom 1. 7. 2009, S. 9. 83 Nicht genügend differenzierend deshalb Lenz (Fußn. 37). 84 So Lenz a. a. O. 85 Schorkopf (Fußn. 36), 1236. 86 In diese Richtung bereits die Abg. Löning (FDP) und Schäfer (SPD) in der 229. Sitzung des Bundestages (Fußn. 11). Dazu auch Müller-Graff (Fußn. 37), 358. 87 S. a. Calliess, Unter Karlsruher Totalaufsicht, in: FAZ Nr. 198 v. 27. 8. 2009, S. 8; Kritisch zur Integrationsverantwortung auch: v. Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, 1 (3) und Kottmann / Wohlfahrt, Der gespaltene Wächter? Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung, ZaöRVR 69 (2009), 443 (454 ff.).
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nach deren Weisungen handeln (Rn. 320, 328). Ihre Informationspflichten gegenüber den Gesetzgebungsorganen werden verfassungsrechtlich aufgewertet (Rn. 375). Bei dieser Einschätzung ist zu beachten, dass sich diese Auswirkungen im LissabonUrteil auf genau definierte und begrenzte Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung beziehen und nicht die Politikgestaltung und Rechtsetzung im Allgemeinen erfassen. Deshalb stehen die Entscheidungsrechte nicht als Konsequenz dafür, dass die Mitwirkung einer Europäischen Integration keine klassische Außenpolitik mit ihrer herkömmlichen Bevorzugung der Exekutive mehr sei.88 Ebenso wenig lässt sich ein Widerspruch zu anderen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts konstruieren,89 in denen der parlamentarische Einfluss auf die Regierung im Bereich der Außenpolitik eher klein gehalten wurde.90 III. Gesamtbewertung und Perspektiven Vergleicht man das Lissabon-Urteil mit dem Maastricht-Urteil, ist zunächst eine deutliche Zunahme verfassungsrechtlicher Kautelen und Grenzen der Europäischen Integration festzustellen. Die Frage, woran dies liegt,91 dürfte mit der in der Bundesrepublik Deutschland seit 1993 kritisch begleiteten Inanspruchnahme von Kompetenzen und der sie stützenden Rechtsprechung des EuGH zu beantworten sein.92 Die Zielrichtung der Vorgaben ist, gemessen an den Inhalten, vor allem der Schutz der Staatlichkeit. Der Wahlbürger kann und soll ihn prozessual in Gang setzen.93 Nur in begrenztem Maße sind die Vorgaben durch den Lissabon-Vertrag selbst aufgeworfen.94 Das gilt für die Aussagen zur staatsanalogen Entwicklung der Union (Rn. 264, 278). Sie liegen aus der Sicht mitgliedstaatlicher Integrationspolitik ebenso fern wie die zur Bundesstaatlichkeit (Rn. 228, 263), denen seit langem jeder Realitätsbezug fehlt,95 oder zum Entwicklungsverlauf der Europäischen Integration mit der Möglichkeit eines Missverhältnisses zwischen Art und Umfang der demokratischen Legitimation (Rn. 264). In dieser Richtung aber argumentierend Schorkopf (Fußn. 79). Andeutung bei Möllers (Fußn. 35). 90 BVerfGE 68, 1 (80 ff.); 90, 286 (357 ff.); 104, 151 (207) und dazu Calliess (Fußn. 19), Rn. 36 ff. 91 Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1207 f.). 92 Dazu FAZ Nr. 147 vom 29. 6. 2009, S. 11: Karlsruhe prüft die „Hydra von Brüssel“; Herzog / Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, DRiZ 2009, 141 ff.; Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft – das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 2004, 2185 ff.; ders., Gattoussi / Stadt Rüsselsheim – ein neuer Schritt zur Entmündigung der Mitgliedstaaten?, NVwZ 2007, 415 ff.; Zöller, Europäische Strafgesetzgebung, ZIS 2009, 340 ff. 93 Anders die Einschätzung von Schorkopf (Fußn. 36), 1222: im Zentrum des Urteils steht das Individuum, der Bürger, nicht der oft erwähnte Staat. 94 Pache (Fußn. 35), 289. 95 Schönberger (Fußn. 15), 1208; Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1198); Pache (Fußn. 35), 297. 88 89
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Wie sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben auf die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Entscheidungsprozess der Union auswirken, ist ungewiss.96 Wahrscheinlich ist eine Zunahme der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf der Basis der ultra vires- und Identitätskontrolle. Konflikte mit dem EuGH, dessen Entscheidungszuständigkeit bemerkenswerter Weise im LissabonUrteil kaum berührt wird,97 sind vorprogrammiert, zumal das Bundesverfassungsgericht das Letztentscheidungsrecht in Anspruch nimmt (Rn. 334, 336).98 Die angebliche Offenheit des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Integration99 ist kaum auszumachen. Deshalb ist zweifelhaft, ob das Lissabon-Urteil in der bereits angefertigten englischen Übersetzung als Einladung zu einer grenzüberschreitenden Diskussion über die Vertragsassoziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten genommen werden kann.100 Im Ganzen erscheint die Beobachtung zutreffend, dass das Bundesverfassungsgericht seine eigene Philosophie von der Europäischen Integration entwickelt101 und dem bisherigen Verständnis der Europäischen Integration seine Karlsruher Konzeption gegenüberstellt.102 Ob deren Bausteine in Anbetracht der Integrationsbereitschaft und -offenheit des Grundgesetzes zwingend abzuleiten sind, bedarf noch der Diskussion.103 Jedenfalls finden sich für die Zukunft der Europäischen Integration, abgesehen von unrealistischen (bundes-)staatsbezogenen Aussagen, keine Perspektiven im Lissabon-Urteil. Dessen Grundhaltung ist ganz überwiegend defensiv,104 obschon die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland weder in Gefahr war noch durch den Vertrag von Lissabon in Gefahr gerät. Dynamik kann sich auf der Basis des Vertragsrechts, wie es das Bundesverfassungsgericht interpretiert, nur noch begrenzt entwickeln. Eher droht eine Versteinerung.105
Skeptisch Pache (Fußn. 35), 298. Vgl. auch Schorkopf (Fußn. 36), 1227. 98 Ruffert (Fußn. 51), 1197 (1207 f.); Calliess (Fußn. 53); optimistischer, auf die europapolitische Vernunft des Gerichts setzend Nettesheim (Fußn. 45). Denkbare Fallgruppen der Kontrolle bei Frenz, Unanwendbares Europarecht nach Maßgabe des BVerfG? Im Blickpunkt: das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. 6. 2009, EWS 2009, 297 (299), ders., Europarechtsabwehr vor dem BVerfG nach dem Lissabon-Urteil, VerwArch 100 (2009), 475 (481 ff.). 99 So Schorkopf (Fußn. 36), 1239. 100 So Schorkopf (Fußn. 36), 1239. 101 Tomuschat, The Ruling of the German Court on the Treaty of Lisbon, GLJ 10 (2009), 1259. 102 Siehe Oppermann, Den Musterknaben ins Bremser-Häuschen – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, EuZW 2009, 473. 103 Kaum überzeugend die polemische Rechtfertigung von Hillgruber, Die besseren Europäer, FAZ Nr. 210 vom 10. 9. 2009, S. 8. 104 Schönberger (Fußn. 15), 1216; Ukrow (Fußn. 37), S. 721 f. 105 Oppermann (Fußn. 13). 96 97
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Meinhard Schro¨der
Ein guter Tag für den Lissabon-Vertrag ist das besprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts entgegen der Meinung der Bundeskanzlerin deshalb nicht; ob es der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union förderlich ist, erscheint fraglich.
Wann ist es Krieg? Von Torsten Stein* I. Einleitung Im Zusammenhang mit der Beteiligung deutscher Streitkräfte an der vom UNSicherheitsrat mandatierten International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan1 ist es in Deutschland (und offenbar nur da) seit dem Jahr 2008 und insbesondere nach dem von einem deutschen Kommandeur angeordneten Luftangriff auf zwei von den Taliban gekaperten Tanklastwagen im September 2009, der auch eine erhebliche Zahl ziviler Opfer gefordert haben soll,2 zu einer manchmal absurd erscheinenden Debatte darüber gekommen, ob sich die Bundeswehreinheiten in Afghanistan „im Krieg“ befänden. Aus der Sicht der dort eingesetzten Soldaten und angesichts der Lage vor Ort ist das so, aber die deutsche Politik (Regierung und Parlament) hat sich dieser Erkenntnis allzulange verweigert und beharrlich (lediglich) von einem „Stabilisierungseinsatz“ gesprochen. Dafür sind dann auch (völker-)rechtliche Argumente vorgebracht worden: völkerrechtlich könne ein Krieg nur zwischen souveränen Staaten stattfinden; Deutschland führe aber keinen Krieg gegen Afghanistan, sondern helfe der afghanischen Regierung im Konflikt mit den aufständischen Taliban. Wenn man die immer intensiveren militärischen Auseinandersetzungen „Krieg“ nenne, spiele man nur den Taliban in die Hände, die dann Kombattanten und Konfliktpartei auf einer Stufe mit der Regierung Afghanistans würden, was vor allem dann zum Tragen käme, wenn eines Tages über den Abzug der ausländischen Truppen verhandelt würde.3 Gesagt wird auch, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen „legitimiere keine Kriege“, oder das Mandat des Deutschen Bundestages für den Afghanistaneinsatz decke „kriegerische Aktionen“ nicht ab. Ganz abstrus wird es, wenn ver* Univ.-Prof. Dr. iur., Direktor des Europa-Instituts (Sektion Rechtswissenschaft) an der Universität des Saarlandes. Der Autor ist Wilfried Fiedler seit 1991 durch die Zugehörigkeit zur selben Fakultät fachlich und freundschaftlich verbunden. 1 Res. 1386 (2001), sowie Res. 1510 (2003) und zuletzt 1833 (2008). 2 Siehe nur E. Lohse, Kriegsähnliche Zustände am Kundus und Spree, FAZ v. 16. 12. 2009, S. 3. 3 K. Naumann, Krieg? Das hätten die Taliban gern, Süddeutsche Zeitung v. 1. 8. 2009; L. Rühl, Das Unwort Krieg, FAZ v. 23. 7. 2009, S. 8; M. Schmidt, Krieg oder Einsatz für den Frieden, ZEIT ONLINE 2009 / 31 v. 26. 7. 2009.
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mutet wird, die Bundesregierung vermeide das Wort „Krieg“, weil es bedeute, dass die Bundeskanzlerin höchstpersönlich als Oberbefehlshaberin verantwortlich sei für Erfolg oder Misserfolg der militärischen Mission.4 Da wird dann spätestens deutlich, dass die Begriffe völlig durcheinander geraten: Das Grundgesetz (GG) spricht nicht mehr von „Krieg“ (außer von „Angriffskrieg“ in Art. 26 GG), wie frühere deutsche Verfassungen, sondern vom „Verteidigungsfall“ (Art. 115 a ff. GG), der von den gesetzgebenden Organen festgestellt und vom Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet werden muss. Nur dann geht die Befehls- und Kommandogewalt, die bislang der Verteidigungsminister inne hatte (Art. 65 a GG), auf den Bundeskanzler über (Art. 115 b GG). Mit sonstigen (Auslands-) Einsätzen der Bundeswehr, ohne dass „das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen“ wird, hat das nichts zu tun. Fraglich ist heute auch, ob jeder bewaffnete Konflikt auch größeren Ausmaßes immer gleich ein „Krieg“ ist, und wofür der Begriff „Krieg“ heute eigentlich noch Bedeutung hat; den „Krieg erklärt“ hat schon lange niemand mehr. Für die Soldaten im Einsatz, die beschossen werden, auf Minen und Sprengfallen fahren oder treten und zunehmend Opfer zu beklagen haben, sind das nicht nur Wortspiele. Für sie hängt davon ab, ob das Genfer Kriegsrecht gilt (das heute verschämt „International Humanitarian Law“ genannt wird und sogleich jene auf den Plan ruft, die sagen, wenn „humanitarian“, dann müssten im bewaffneten Konflikt auch die allgemeinen Menschenrechte gelten5), oder lediglich deutsches Notwehrrecht mit der Folge, dass nach jedem Schusswaffengebrauch, der (auch) zivile Opfer fordert, eine deutsche Staatsanwaltschaft ermittelt. Im Folgenden soll versucht werden, die Begriffe zu klären und auseinanderzuhalten und die Frage zu beantworten, welche Rolle der Begriff „Krieg“ überhaupt noch spielt. II. Krieg als Faktum Nach Clausewitz6 ist „Krieg ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Krieg ist damit ein Zustand, in dem feindliche Gruppen einen Konflikt mit Waffengewalt austragen. Schon Clausewitz hat das nicht auf den klassischen Krieg zwischen Staaten begrenzt. Krieg ist ein unter Einsatz erheblicher Mittel mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt, an dem mehrere planmäßig vorgehende Kollektive beteiligt sind, die Überlegenheit zu erreichen suchen. M. Schmidt, Wir sind im Krieg, ZEIT ONLINE 2009 / 28 v. 5. 7. 2009. Siehe dazu E. Klein, Der Schutz der Menschenrechte in bewaffneten Konflikten, Menschenrechtsmagazin 2004, S. 5 ff.; Th. Meron, The Humanization of Humanitarian Law, AJIL 94 (2002), S. 239 ff. 6 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Ungekürzter Text nach der Erstauflage (1832 – 34), Ullstein 1980, S. 17. 4 5
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Kriegsformen sind heute vielfältig und nicht unbedingt an Staaten gebunden. Es gibt zwischenstaatliche Kriege (einschließlich von Koalitionskriegen mit mehreren Kriegführenden auf einer oder beiden Seiten); es gibt Bürgerkriege innerhalb eines Staates im Kampf um die Macht im Staate, es gibt Kriege zur Erzwingung regionaler Autonomie, zur Erzwingung der Unabhängigkeit und Vertreibung von Kolonialmächten oder zur Sezession aus einem bestehenden Staat und zur Gründung eines eigenen Staates, oder auch mit dem Ziel des Anschlusses an einen anderen. Sie alle erfüllen die Definition von Clausewitz: Ein wie auch immer definiertes Kollektiv setzt Waffengewalt ein, um seinen politischen Willen durchzusetzen. Davon, dass der Kontrahent gleichartig sein müsse, ist bei Clausewitz nicht die Rede, seine Kriegsdefinition ist nicht an die Symmetrie der Akteure gebunden.7 Heute ist viel von „asymmetrischem Krieg“ die Rede, in dem die Kontrahenten ganz unterschiedliche, aber jedenfalls gewaltsame Mittel einsetzen. Die früheren „Guerilla-Kriege“ waren daran gemessen noch ganz „symmetrisch“, auch wenn die Guerillas sich nach einzelnen Angriffen zurückzogen und sich nicht im Morgengrauen auf dem Schlachtfeld einer gegnerischen Armee stellten. Bei den heutigen „asymmetrischen Kriegen“ verfügt die eine Seite über smart weapons (satellitengesteuerte Marschflugkörper und unbemannte Kampfdrohnen), über Panzer, Bomben und Raketen, die andere Seite über Sprengfallen und die Möglichkeit, in der Zivilbevölkerung Deckung zu suchen.8 Auch das erfüllt die Definition des Krieges von Clausewitz, der sie nicht an der Art der eingesetzten Mittel festgemacht hat, solange sie nur als „Waffengewalt“ gelten können, eingesetzt zur Erzwingung eines Zieles. Was dagegen wenig hilfreich ist bei der Frage „Wann ist Krieg?“, ist die Inflation des Begriffes „war“ im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch. Da liest man neben dem „war on terror“ über war against drugs“ oder sogar „war against climate change“. Weder reine Polizeiaktionen noch das Verbot energieverzehrender Glühlampen haben irgendetwas mit „Krieg“ zu tun. III. Krieg im Sinne des Völkerrechts Das klassische Völkerrecht hat neben dem bloßen Faktum der Anwendung von Waffengewalt zur Durchsetzung eigener Interessen noch einen zusätzlichen formalen Akt vorausgesetzt, bevor von „Krieg“ gesprochen wurde. Nach Art. 1 des Abkommens über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 19079 dürfen 7 So zu recht H. Münkler, Der asymmetrische Krieg, Der Spiegel 44 / 2008 (27. 10. 2008), S. 176 f. 8 Münkler, ibid., der pointiert: „Was den einen eine Kampfdrohne, ist dem anderen der Selbstmordattentäter“. Was allerdings entgegen Münkler jedenfalls in Afghanistan immer „symmetrischer“ zu werden scheint, ist, was er als Kennzeichen der „Asymmetrie“ bezeichnet: Die ungleiche Verteilung der Chancen, zu töten oder getötet zu werden. 9 RGBl. 1910, S. 82 ff.
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Feindseligkeiten unter den Vertragsstaaten erst nach einer „unzweideutigen Benachrichtigung“ beginnen, entweder durch eine mit Gründen versehene Kriegserklärung oder durch ein Ultimatum mit bedingter Kriegserklärung. Erst dann war „Krieg“ mit der Folge, dass das bislang zwischen den Konfliktparteien geltende Friedensvölkerrecht abgelöst wurde durch Kriegsvölkerrecht; den neutralen Mächten war der Kriegszustand unverzüglich anzuzeigen (Art. 2 des Abkommens). „Kriegsvölkerrecht“ bedeutete nicht nur die Anwendung der damals gleichzeitig angenommenen Abkommen über die „Gesetze und Gebräuche“ des Landkrieges und des Seekrieges,10 darunter insbesondere die „Haager Landkriegsordnung“,11 sondern auch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und die Beendigung, zumindest aber Suspendierung aller zwischen den Kriegsparteien bestehenden Verträge mit Ausnahme derer, die eben das Verhalten der Streitkräfte im Kriege betrafen. Wie sehr der lediglich formale Akt der „Kriegserklärung“ von Bedeutung war, ohne dass es überhaupt zu einem Waffeneinsatz kam, zeigen die Kriegserklärungen mancher Staaten Lateinamerikas gegenüber dem Deutschen Reich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges;12 da ist kein Schuss mehr gefallen, aber man konnte deutsche Staatsangehörige internieren, die mit ihnen geschlossenen Verträge missachten13 und ihr Vermögen als „Feindvermögen“ beschlagnahmen. Das alles ist nicht mehr völkerrechtliche Staatenpraxis. Das Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten ist zwar noch gültig,14 aber schon seit dem Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 1928, in dem sich so gut wie alle damals existierenden Staaten verpflichteten, auf den Krieg „als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen [zu] verzichten“,15 nannten sie ihre militärischen Expeditionen nicht mehr Krieg und „erklärten“ ihn auch nicht. In den zahlreichen bewaffneten Konflikten seit jener Zeit ist nicht nur der Krieg nicht mehr erklärt worden, sondern sind auch die kompletten Konsequenzen des alten „Kriegszustandes“ nicht gezogen worden. Die Staaten entscheiden heute im Einzelfall, welche weiteren Folgen sie aus dem ziehen wollen, was man „Krieg“ nennen kann;16 das gilt auch für die weitere Gültigkeit oder bloße Suspendierung von Verträgen.17 10 RGBl. 1910, S. 107 ff. Regeln über den Luftkrieg sind über einen Expertenentwurf nicht hinausgekommen (vgl. AJIL 17 [1923]), Supplement, S. 245 ff. und 32 (1938), Supplement, S. 1 ff. und haben erst unter spezifischen Aspekten des Schutzes von Zivilpersonen Eingang gefunden in das I. Zusatzprotokoll vom 8. 6. 1977 zu den Genfer Konventionen (BGBl. 1990 II, 1550). 11 Ibid., S. 132 ff. 12 Siehe dazu und allgemein W. Meng, War, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of International Law (EPIL), Vol. IV (2000), S. 1334 ff. 13 Vgl. im Einzelnen Ch. Steimel, War, Effect on Contracts, in: EPIL (Fn. 12), S. 1360 ff. 14 Kurioserweise sind dem Abkommen die Fidschi-Inseln im Jahre 1970 noch beigetreten. 15 RGBl. 1929 II, 97; siehe dazu Stein / v. Buttlar, Völkerrecht (12. Aufl. 2009), Rn. 771 f. 16 Siehe dazu im Einzelnen Meng, Fn. 12. 17 J. Delbrück, War, Effect on Treaties, in: EPIL (Fn. 12), S. 1367 ff.
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Zur weiteren Erodierung der Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg im Völkerrecht hat beigetragen, dass eine nicht unerhebliche Zahl größerer militärischer Operationen heute von den Vereinten Nationen autorisiert oder mandatiert sind. Auch das sind – abgesehen von reinen „Friedensmissionen“ nach „Kapitel 6 1/2“ der UN-Charta – Unternehmungen, die Clausewitz’ Definition von Krieg erfüllen würden, mit dem entscheidenden Unterschied, dass es nicht um die Durchsetzung des Willens eines einzelnen Staates geht, sondern um das Interesse der Staatengemeinschaft. Aber niemand käme auf die Idee, daran alle Folgen des „klassischen“ Kriegszustandes nach Völkerrecht zu knüpfen, mit Ausnahme des „ius in bello“.18 Es scheint, dass „Krieg“ im Völkerrecht viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren hat, und dass es, was heute nach wie vor dabei von entscheidender Bedeutung ist, eher am Begriff des armed conflict, der bewaffneten Auseinandersetzung, festzumachen ist. Darauf ist zurückzukommen. Aber „Kriegszustand“ hat oder hatte nicht nur eine Bedeutung im Völkerrecht, sondern hat sie nach wie vor im nationalen (Verfassungs-) Recht, und da mag auch ein Grund dafür liegen, dass manche Staaten (mit Ausnahme der USA) eher zögern, ihre Auslandseinsätze „Krieg“ zu nennen.
IV. Krieg im Sinne des Staatsrechts Vermutlich alle nationalen Verfassungen enthalten Vorschriften über den „Krieg“ oder „Kriegszustand“. Oft beschränken sie sich darauf festzulegen, wer zur Feststellung oder Ausrufung des Kriegszustandes zuständig ist; die sich daran anschließenden Konsequenzen für die innerstaatliche Rechtsordnung sind dann Regelungsgegenstand von Gesetzen. Zuständig ist durchweg das Staatsoberhaupt,19 in den meisten Fällen nach Ermächtigung oder vorausgehender Feststellung durch das Parlament.20 Manche Verfassungen verzichten auf die parlamentarische Feststellung, wenn faktisch bereits ein Kriegszustand besteht,21 andere verlängern eine an sich abgelaufene Parlamentsperiode „auf die ganze Dauer des Krieges“.22
Siehe unten V. Z. B. Art. 167 § 1 der belgischen Verfassung: „Der König befehligt die Streitkräfte, stellt den Kriegszustand sowie das Ende der Kampfhandlungen fest. Der König setzt die Kammern davon in Kenntnis, sobald das Interesse und die Sicherheit des Staates es erlauben, und fügt die angemessenen Mitteilungen hinzu.“ Sehr ähnlich Art. 36 Abs. 1 der griechischen Verfassung. 20 Z. B. Art. 63 Abs. 3 der spanischen Verfassung: „Dem König obliegt es, nach vorheriger Ermächtigung durch die Cortes Generales den Krieg zu erklären und Frieden zu schließen.“ Portugal: Art. 135 Abs. 3 (Staatspräsident auf Vorschlag der Regierung und Ermächtigung durch das Parlament). 21 Z. B. Deutschland: Art. 115a Abs. 4 GG; Niederlande: Art. 96 Abs. 2; Dänemark: Art. 19 Abs. 2. 18 19
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Wieder andere Verfassungen überlassen die zum Teil erhebliche Umstellung der Rechtsordnung im Kriegsfalle nicht einfachen Gesetzen, sondern regeln das bis ins Detail selbst. Ein Beispiel ist fraglos Kapitel Xa des deutschen Grundgesetzes (Art. 115 a – l), das Kompetenzverschiebungen zwischen der Legislative und der Exekutive und im föderalen System ebenso vorsieht wie die Einschränkung bestimmter Grundrechte. Noch deutlicher ist dies in der griechischen Verfassung (Art. 48), wonach im Kriegsfall oder innerstaatlichen Notstand ein ganze Reihe von Grundrechten durch Parlamentsbeschluss oder auch Präsidialverordnung ausgesetzt werden können,23 bis hin zur Einrichtung von Ausnahmegerichten.24 Eingehende Regelungen zu den Kompetenzverlagerungen im Falle von „Krieg und Kriegsgefahr“ enthält auch die schwedische Verfassung in Kapitel 13; bemerkenswert ist dabei die Regelung in § 10 dieses Kapitels, die allen Staatsorganen untersagt, im Falle der feindlichen Besetzung (von Teilen) des Landes Beschlüsse für das besetzte Gebiet zu fassen oder dort amtliche Befugnisse auszuüben.25 Die wenigen Beispiele belegen, dass wohl alle Staaten verfassungsrechtliche und gesetzliche Regeln für den „Krieg“ vorhalten, aber keiner hat davon Gebrauch gemacht, wie immer intensiv seine Beteiligung an Auslandseinsätzen und „asymmetrischen Konflikten“, wie in Afghanistan, sein mag, für die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Formulierung „take alle measures . . .“ den Waffeneinsatz autorisiert hat. „Krieg“ im völkerrechtlichen wie im verfassungsrechtlichen Sinne ist damit reserviert für die Bedrohung des eigenen Territoriums, aber keine Kategorie, mit der Einsätze wie jener in Afghanistan rechtlich erfasst würden, unabhängig davon, dass ein deutscher Verteidigungsminister mal behauptet hat, die Bundesrepublik würde auch am Hindukusch verteidigt, und dass die NATO nach dem 11. September 2001 den „Bündnisfall“ erklärt und (soweit ersichtlich) bis heute nicht aufgehoben hat. Das bedeutet aber nicht, dass für Konflikte wie in Afghanistan uneingeschränkt das völkerrechtliche „Friedensrecht“ und nach nationalen Vorschriften „Notwehr“, „Nothilfe“ und „persönliche Selbstverteidigung“ gelten würden. Was in der Definition von Clausewitz durchaus „Krieg“ wäre, ist jedenfalls ein nach heutiger Terminologie „bewaffneter Konflikt“, ob international oder national und gegebenenfalls „asymmetrisch“. 22 Z. B. Griechenland: Art. 53 Abs. 3. Bezüglich auch anderer Staatsorgane siehe Art. 115h GG. 23 Ausgesetzt werden können die innerstaatliche Freizügigkeit, die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung, der Schutz der Wohnung, das Versammlungs- und Vereinigungsrecht, die Gedanken- und Pressefreiheit, das Briefgeheimnis, das Verbot der Zwangsarbeit, das Streitrecht und die Mitwirkung von Geschworenen im Strafprozess. 24 Art. 48 Abs. 1 i. V. m. Art. 8. 25 Art. 10 Abs. 2 des 13. Kapitels formuliert im Übrigen: „Jedes öffentliche Organ im besetzten Gebiet ist verpflichtet, so zu handeln, wie es den Verteidigungsbestrebungen und der Widerstandsfähigkeit sowie dem Schutz der Zivilbevölkerung und im übrigen dem schwedischen Interesse am dienlichsten ist“.
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V. Der bewaffnete Konflik Der Begriff des „bewaffneten Konflikts“ entstammt schon der Zeit, in der die Staaten die Verpflichtungen aus der Satzung des Völkerbundes und des BriandKellog-Paktes vermeiden, aber dennoch auf die Anwendung militärischer Gewalt nicht verzichten wollen.26 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der „Krieg“ weitgehend durch den „bewaffneten Konflikt“ ersetzt worden, nicht zuletzt, um den automatischen Eintritt der sekundären Rechtsfolgen des Kriegszustandes zu vermeiden oder jedenfalls in der Dispositionsbefugnis der Konfliktparteien zu belassen.27 Zunächst galt das nur für den zwischenstaatlichen (internationalen) bewaffneten Konflikt, obwohl zunehmend auch innerstaatliche Konflikte das Ausmaß echter Kriege („Bürgerkriege“) annahmen.28 Eine Reaktion darauf war bereits der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949,29 der auch für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt die Einhaltung bestimmter Mindestregeln des „ius in bello“ vorsah für „Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen“. Das II. Zusatzprotokoll zu dem Genfer Abkommen aus dem Jahre 197730 hat den gemeinsamen Artikel 3 „weiter entwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern“ (Art. 1). Dennoch haben viele Staaten lange gezögert, das II. Zusatzprotokoll zu ratifizieren; Entwicklungsländer befürchteten, eine völkerrechtliche Regelung interner Konflikte würde die Stabilität ihrer Regierungen gefährden, andere hatten die Sorge, Aufständische würden damit zu Konfliktparteien und Kombattanten und könnten nicht mehr strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.31 Zumindest Letzteres ist falsch, denn sowohl beim gemeinsamen Art. 3 wie auch beim II. Zusatzprotokoll geht es um humanitäre Mindestgarantien für jene, die „nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“. Das gesamte Kriegsrecht, einschließlich des Kombattantenstatus und des Kriegsgefangenenstatus, gilt nach wie vor nur für jene, die von einem Staat als „kriegsführende Partei“ („Aufständische“, „Befreiungsbewegung“) anerkannt wurden. Damit würden sie für das gesamte Kriegsrecht partielles Völkerrechtssubjekt. Obwohl auf die Anwendung des Kriegsrechts beschränkt, hat sich bislang kaum ein Staat zu solch einer „Anerkennung“ bereiterklärt, um den Gegner nicht völkerrechtlich aufzuwerten.32 Siehe Meng (Fn. 12), S. 1337 f. Stein / v. Buttlar (Fn. 15), Rn. 1214 ff. 28 Siehe im einzelnen Stein / v. Buttlar, Rn. 1269 ff. 29 BGBl. 1954II, S. 783 ff. 30 BGBl. 1990 II, 1637. 31 Das scheint auch der Grund zu sein, den Begriff „Krieg“, koste es was es wolle, zu vermeiden (vgl. Naumann, Fn. 3). Es geht aber auf Kosten der eingesetzten Soldaten, wenn man sich nicht wenigstens zum „bewaffneten Konflikt“ bekennt. 32 Stein / v. Buttlar (Fn. 15), Rn. 1269 f. 26 27
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Das Problem ist aber im „asymmetrischen Konflikt“ heute ein ganz anderes. Schon vor Jahren hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) auf der Basis von Studien, die auch die Zentralen Dienstvorschriften und Field Manuals verschiedener Streitkräfte einschlossen, jegliche Unterscheidung zwischen „armed conflicts“ aufgegeben, ob international oder national, oder auch nur zwischen rivalisierenden Banden in einem Staat, wenn und solange der Konflikt intensiv und bewaffnet war. Für jeden dieser Konflikte gilt das Kriegsvölkerrecht, begrenzt auf die humanitären Anliegen (Schutz der Zivilbevölkerung und der Verwundeten, Auswahl militärischer Ziele, Verbot unterschiedsloser Angriffe, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Nach Ansicht des IKRK ist das geltendes Gewohnheitsrecht, unabhängig von der Art des Konflikts und von irgendeinem Status der Konfliktparteien,33 der sich dadurch auch nicht ändert. Im „asymmetrischen bewaffneten Konflikt“ besteht oft das Problem, dass die bewaffneten Kämpfer sich nicht (immer) von der Zivilbevölkerung unterscheiden, z. B. bei verdeckten Kampfhandlungen oder wenn „they act as farmers by day and fighters by night“. Das Zitat stammt aus einer neuen Studie, die das IKRK im Juni 2009 veröffentlicht hat.34 Darin wird der Frage nachgegangen, unter welchen Voraussetzungen und für welchen Zeitraum Zivilisten im bewaffneten Konflikt den Schutz des Völkerrechts gegen gezielte militärische Angriffe verlieren. Nach dem Genfer Kriegsrecht verlieren Zivilpersonen diesen Schutz, „wenn und solange sie direkt an Kampfhandlungen teilnehmen“, aber das Genfer Recht definiert nicht, wann diese direkte Beteiligung vorliegt. Die IKRK geht davon aus, dass sich im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt staatliche Streitkräfte und „organisierte bewaffnete Gruppen“ gegenüberstehen, wobei die Mitglieder der letztgenannten sich oft nicht durch Uniformen oder Unterscheidungszeichen von der Zivilbevölkerung unterscheiden. Die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen könne freiwillig oder das Ergebnis einer Zwangsrekrutierung sein, oder aber auch auf bloßer Clan-Zugehörigkeit beruhen. Gegenstand gezielter militärischer Angriffe dürften nur solche Mitglieder der bewaffneten Gruppen werden, die eine „continuous combat function“ hätten,35 während jene, die nur spontan, sporadisch oder unorganisiert an Kampfhandlungen teilnähmen, ebenso Zivilpersonen im Sinne des Kriegsrechts blieben wie jene, die außerhalb einer spezifischen militärischen Operation Waffen und Nachschub heranbrächten; etwas lakonisch wird zu diesen „Helfern“ gesagt: „ . . . even though their activities or location may increase their exposure to incidental death or injury“. Direkt angegriffen werden sollten aber auch jene dürfen, die für eine „continuous combat function“ trainiert und ausgerüstet werden, aber noch nicht in die Kampfhandlun33 International Humanitarian Law and the Challenges of Armed Conflicts (December 2003). 34 „Interpretive Guidance on the Notion of ,Direct Participation in Hostilities‘ under International Humanitarian Law“ (ICRC 2009). 35 Ibid. S. 33 ff. Diese „continuous combat function“ beinhalte aber nicht einen Kombattantenstatus.
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gen eingegriffen hätten. Wer aber nicht „reguläres“ Mitglied der organisierten Gruppen ist, sondern sich als Zivilperson an Kampfhandlungen beteilige, verliere den Schutz vor direkten Angriffen nur für die Dauer der spezifischen Beteiligung.36 Vor und auch während eines Angriffs auf „organisierte bewaffnete Gruppen“ sei immer mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu verifizieren, ob es sich bei den Angegriffenen um Kämpfer oder (auch) bloße Helfer handelt.37 Experten des „International Humanitarian Law“ haben diese Studie sehr gelobt38 und sie ist sicherlich Ausdruck des Verständnisses des IKRK von seiner Aufgabe. Für die konkrete Situation in manchen Krisengebieten erscheint das allerdings etwas blauäugig; wie soll ein ISAF-Kommandeur in Afghanistan hinreichend sicher sein können, dass ein Afghane, der sich von der Kleidung her nicht von einem Taliban unterscheidet und wie fast jeder männliche Afghane ein Gewehr trägt, nur Benzinfässer rollt oder auch von seiner Schusswaffe Gebrauch machen wird? Festzuhalten bleibt aber in jedem Fall, dass auch im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt nach Völkerrecht das Genfer Kriegsrecht gilt, was immer sich ein truppenstellender Staat als Mandat für sein Kontingent ausgedacht hat. Und damit sind wir beim deutschen Dilemma.
VI. Das deutsche Dilemma Das deutsche Dilemma liegt in dem parlamentarischen Mandat, das jeder Auslandseinsatz der Bundeswehr seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den ersten Auslandseinsätzen39 benötigt, das mittlerweile auf der Basis des „Parlamentsbeteiligungsgesetzes“ 40 erteilt wird (oder vielleicht auch einmal nicht), und das dazu geführt hat, dass die parlamentarische Kontrolle zu einem „parlamentarischen Mikro-Management militärischer Operationen“41 geworden ist. Dass das „Parlamentsheer“ eine schlichte Erfindung des Bundesverfassungsgerichts ist und nicht etwa „deutsche Verfassungstradition“, soll hier nicht noch einmal thematisiert werden.42 36 37 38
Ibid., S. 73. Ibid., S. 76. Vgl. nur C. Kreß, Was im Kampf gegen Terror-Netze erlaubt ist, FAZ v. 13. 8. 2009,
S. 6. 39 BVerfGE 90, 286 ff. Seither ständige Rechtsprechung (E 100, 266 ff., 104, 151 ff., 108, 34 ff.; 121, 135 ff.), zuletzt sogar im Urteil zum Vertrag von Lissabon, BVerG, 2 BvE 5 / 08 et. al. vom 30. 6. 2009, NJW 2009, S. 2267 ff.; vgl. dazu T. Stein, Ceterum censeo: „Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer“, ZEuS 2009, S. 681 ff. 40 BGBl. 2005 I, 775. 41 So völlig zu Recht Naumann, Fn. 3. 42 Vgl. Stein, Fn. 39 und schon zuvor Stein / Kröninger, Bundeswehreinsatz im Rahmen von NATO-, WEU- bzw. UN-Militäraktionen, Jura 1995, S. 254 ff.
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Das Mandat des UN-Sicherheitsrates für ISAF43 beinhaltet – verkürzt wiedergegeben – die Unterstützung der afghanischen Behörden und des internationalen Zivilpersonals, das mit dem Wiederaufbau befasst ist, damit sie ihre Tätigkeit in einem sicheren Umfeld ausüben können. Dafür autorisiert der Sicherheitsrat alle an ISAF teilnehmenden Staaten, „alle zur Erfüllung des Mandates notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen; das gilt gemeinhin als Ermächtigung auch zur Anwendung militärischer Gewalt. Insoweit eröffnet das völkerrechtliche Mandat einen weiten Handlungsspielraum, der nur durch die Regeln des humanitären Kriegsrechts begrenzt wird. Die NATO hat das in den „ISAF Rules of Engagement“ umgesetzt, die äußere Grenzen für den Einsatz militärischer Gewalt aufstellen, die mit den kriegsvölkerrechtlichen Vorgaben konform gehen. Diese Vorgaben erlauben zum Beispiel (und das bestätigt auch die oben genannte Studie des IKRK), Taliban anzugreifen, wenn sie noch keine unmittelbare Bedrohung darstellen, und auch dann, wenn damit zu rechnen ist, dass dabei auch Zivilpersonen zu Schaden kommen, sofern dies nicht „in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht“44. Das ist aber ein ganz anderer Maßstab als der deutsche Verwaltungs- oder auch polizeirechtliche Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“ (Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Mittels), an den das Bundestagsmandat45 das deutsche ISAF-Kontingent binden will. Obwohl dieses Mandat von dem UN-Mandat ausgeht, trägt es alle Züge eines eigentlich „zivilen“ Mandates, das den Schusswaffengebrauch nur für Selbstverteidigung oder Nothilfe erlaubt, aber nicht für die wirksame Bekämpfung organisierter bewaffneter Gruppen. Ausdruck dieser für die in Afghanistan gegebenen Situation völlig unsinnigen Beschränkung war die sogenannte „Taschenkarte“ für die Soldaten, die im Juli 2009 dann geändert wurde,46 aber immer noch nicht schlicht und ergreifend die bloße Anwendung des humanitären Kriegsrechts vorgibt, wie das für alle anderen NATO-Staaten gilt. VII. Fazit In rechtlicher Hinsicht spielt der Begriff „Krieg“ oder „Kriegszustand“ für die vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Militärmissionen, in welcher Gegend der Welt auch immer, keine Rolle, weder völkerrechtlich noch staatsrechtlich. Selbst die „Operation Allied Force“ der NATO gegen Jugoslawien im Kosovo-Konflikt im Frühjahr 1999 war in dem Sinne kein „Krieg“ mit all den nach Völkerrecht und Staatsrecht daran geknüpften Konsequenzen. Die „Operation Allied Force“ mit Fn. 1. Vgl. Art. 57 Abs. 2 b) I. Zusatzprotokoll zu dem Genfer Abkommen und gleichlautend § 11 Abs. 1 Nr. 3 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches. 45 Bundestagsdrucksachen 14 / 7930, 15 / 5996 und 16 / 10473. 46 Vgl. R. Müller, Capture or kill, FAZ vom 15. 12. 2009, S. 2. Die „Taschenkarte“ selbst ist als Verschlussdokument eingestuft („Nur für den Dienstgebrauch“). 43 44
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ihren (ausschließlich Luft-)Angriffen war die Anwendung bewaffneter Gewalt ohne UN-Mandat, über deren Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht man streiten kann.47 Aber fraglos galten auch dafür die Regeln des völkerrechtlichen („humanitären“) Kriegsrechts. Wenn immer aber der UN-Sicherheitsrat sein Mandat mit der Maßgabe „take all measures“ versieht und sich der Konflikt, den es beizulegen gilt, zu einem „bewaffneten“ (internationalen, nicht-internationalen oder dazu auch „asymmetrischen“) entwickelt, gilt das völkerrechtliche (humanitäre) Kriegsrecht. Wer gegen dessen Regeln verstößt, macht sich strafbar, aber nicht nach nationalem Strafrecht wegen z. B. Totschlags, schwerer Körperverletzung etc. Eine Nation, die Teile ihrer Streitkräfte in solche Einsätze schickt, sollte sich im Vorhinein darüber im Klaren sein. Der Deutsche Bundestag war es bei der Erteilung des Mandats für den Afghanistan-Einsatz offenbar nicht. Die Anwendbarkeit des völkerrechtlichen (humanitären) Kriegsrechts bestimmt sich aber nicht nach einem nationalen Parlamentsmandat, sondern danach, ob sich der Konflikt zu einem „bewaffneten“ entwickelt. Das sich daraus vielleicht ergebende „Ausbrechen“ aus dem nationalen Parlamentsmandat ist nicht strafbar.
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Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Stein / v. Buttlar (Fn. 15), Rdnr. 812 ff.
Wie hast du’s mit der Religion? Anmerkungen zum Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Von Rudolf Streinz* I. Einleitung Die berühmte Gretchenfrage1 wird auch Gerichten gestellt2. Denn die Religionsfreiheit ist auch eine Rechtsfrage3, und wegen ihrer Struktur eine besonders kontroverse. Als individuelles Recht, das es jedem gestattet, „es mit der Religion zu halten wie er will“4, lässt es auf den ersten Blick jeden „nach seiner Facon selig werden“5. Daraus auf Konfliktfreiheit zu schließen wäre aber voreilig. Denn * Prof. Dr. Rudolf Streinz, Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Fiedler hat mich in meiner Assistentenzeit als Herausgeber des German Yearbook of International Law, in dem 1983 einer meiner ersten Aufsätze („Succession of States in Assets and Liabilities“) erschien, und als Laudator bei der Verleihung des Förderpreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft 1986 gefördert. Dies bleibt unvergessen und dafür möchte ich mich auch durch diesen Beitrag bedanken. 1 Goethe, Urfaust: Gretchen: „Wie hast du’s mit der Religion?; Faust, Erster Teil: Margarete: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Zitiert nach Erich Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, 1998, Bd. III, S. 405 (Vers 1107) bzw. S. 109 (Vers 3415). 2 Vgl. aus der deutschen Rechtsprechung jüngst z. B. BVerfG, Urt. v. 1. 12. 2009, GewArch 2010, 29 (Ladenöffnung an Adventssonntagen in Berlin); vgl. zum verfassungsrechtlichen Schutz des Sonntags Peter Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988; VG Berlin, Urt. v. 29. 9. 2009, NVwZ-RR 2010, 189 (Anspruch auf islamisches Gebet in der Schule); OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. 12. 2009, NVwZ-RR 2010, 219 (Lärmbelastung der Nachbarn durch islamisches Gebetshaus in einem allgemeinen Wohngebiet). 3 Vgl. zu den verschiedenen Aspekten der Religionsfreiheit Martin Heckel, Walter Kasper, Wolfgang Loschelder und Jochen Abr. Frowein, Religionsfreiheit, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl. 1988, Bd. 4, 1988, Spalte 820 ff. 4 Gerhard Anschütz, Die Religionsfreiheit, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 675, in Anlehnung an die „Gretchenfrage“. 5 Friedrich der Große, Randbemerkung vom 22. 6. 1740 zur Frage, ob die römisch-katholischen Schulen für die Soldatenkinder dieser Konfession erhalten bleiben sollen: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden, und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abtrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden“. Zitiert nach, Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, Atlas Verlag Köln, o.J., S. 348.
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gewisse Aspekte der Religionsfreiheit lassen sich erst dann entfalten, wenn man das Verhältnis von Gruppen und religiösen Verbänden untereinander und zum Staate berücksichtigt6. Dies hat der „Streit um das Kreuz in der Schule“ in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 19957 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)vom 3. November 20098 deutlich gemacht. Die Religionsfreiheit gehört zum menschenrechtlichen Grundbestand und ist daher in den Verfassungen aller Verfassungsstaaten im materiellen Sinn verankert9. Als gemeinsame Verfassungstradition aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde sie in Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union10 aufgenommen11. Dabei orientierte sich der Grundrechtekonvent unter Leitung von Roman Herzog ausdrücklich12 an Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)13. Durch die EMRK wurde die Religionsfreiheit auf regionaler Ebene völkerrechtlich verankert, wie auch in Art. 12 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention14 und in Art. 8 der Afrikanischen Menschenrechtscharta15, nunmehr auch in Art. 30 der Arabischen Charta der Menschenrechte16. Auf universeller Ebene führt sie Art. 18 der All6 Axel Frhr. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2009, Bd. VII (Freiheitsrechte), § 157, Rn. 3. 7 BVerfGE 93, 1. 8 EGMR, Zweite Kammer, Beschwerde Nr. 30814 / 06 (Lautsi / Italien). 9 Vgl. die Übersichten bei Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 4 (S. 447) sowie Charlotte Gaitanides, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: Sebastian M. Heselhaus / Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 29 (S. 805). 10 Ursprüngliche Fassung in ABl. 2000 Nr. C 364 / 1, angepasste und seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vom 13. 12. 2007 am 1. 12. 2009 über Art. 6 Abs. 1 EUV mit gleicher Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge ausgestatte Fassung in ABl. 2007 Nr. C 303 / 1 sowie ABl. 2010 Nr. C 83 / 389. Vgl. dazu Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse, 3. Aufl. 2010, S. 118 ff. 11 Vgl. dazu Norbert Bernsdorff, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006, Art. 10 GRCh, Rn. 1 f. 12 Vgl. zur Diskussion im Grundrechtekonvent Bernsdorff (Fn. 11), Art. 10 GRCh, Rn. 6 ff. 13 EMRK vom 4. 11. 1950. Aktuelle Fassung in Sartorius II, Internationale Verträge – Europarecht, Loseblatt (1. 12. 2009), Nr. 130. 14 Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. 11. 1969. ILM 9 (1970), 673. Deutsche Übersetzung in EuGRZ 1980, 435; Bruno Simma / Ulrich Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte – Ihr internationaler Schutz, 5. Aufl. 2004, Nr. 83. 15 Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27. 6. 1982. ILM 21 (1982), 59. Deutsche Übersetzung in Jahrbuch für afrikanisches Recht 2 (1981), S. 243; EuGRZ 1986, 677; Simma / Fastenrath (Fn. 14), Nr. 85. 16 Die von der Arabischen Liga am 15. 1. 2004 beschlossene Charta (englischer Text in Boston International Law Journal 24 (2006), S. 149 und International Human Rights Report
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gemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 194817 auf, völkerrechtlich verbindlich ist sie in Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 196618 verankert. Diese Europäisierung und Internationalisierung hat Wilfried Fiedler in seinem Referat auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Heidelberg im Jahr 1999 kritisch gewürdigt und vor allem auf das Problem der Universalität der Menschenrechte hingewiesen19, aber auch die Unterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates und die Reaktionen des EGMR auf diese gewürdigt20. Die kontroversen Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil des EGMR, das auf Verlangen Italiens durch die Große Kammer des EGMR überprüft werden wird21, lassen an dieses grundlegende Referat anknüpfen.
II. Das Kruzifix-Urteil des EGMR Der EGMR wurde mit dem Fall durch eine Individualbeschwerde von Frau Lautsi gegen die Republik Italien befasst. Frau Lautsi, eine italienische Staatsangehörige finnischer Abstammung, hatte verlangt, dass die Kruzifixe in den Klassenräumen der öffentlichen Schule in Abano Terme, in denen ihre damals elf bzw. 13 Jahre alten Kinder unterrichtet werden, abgehängt werden. Als dem die Schule nicht folgte, erhob sie Klage, die vom Verwaltungsgericht nach Vorlage an den italienischen Verfassungsgerichtshof22, der sich aus prozessualen Gründen nicht mit der materiellen Rechtsfrage befasste23, abgewiesen wurde24. Die Berufung dagegen blieb erfolglos25. Frau Lautsi erhob daraufhin im eigenen Namen und im Namen ihrer beiden Kinder gegen die Republik Italien Individualbeschwerde zum 12 (2005), S. 893) überarbeitet die nicht in Kraft getretene Arabische Charta der Menschenrechte vom 15. 9. 1994 (Recht auf Religionsfreiheit dort gemäß Art. 26). Sie ist am 15. 3. 2008 in Kraft getreten für Algerien, Bahrein, Jordanien, Libyen, Saudi-Arabien und Palästina, ferner Jemen, Quatar und Vereinigte Arabische Emirate. Vgl. dazu Matthias Herdegen, Völkerrecht, 8. Aufl. 2009, S. 354 f. 17 Deutsche Übersetzung in Sartorius II (Fn. 13), Nr. 15. 18 Deutsche Übersetzung in Sartorius II (Fn. 13), Nr. 20. 19 Wilfried Fiedler, Staat und Religion, in: VVDStRL 59 (2000), S. 199 (202 ff.). 20 Vgl. ebd., S. 207 ff. 21 Der Antrag Italiens auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer (Art. 43 Abs. 1 EMRK) wurde am 1. 3. 2010 gemäß Art. 43 Abs. 2 EMRK angenommen, sodass gemäß Art. 43 Abs. 3 EMRK die Große Kammer (vgl. Art. 27 Abs. 1, Art. 31 EMRK) entscheiden wird. 22 Beschluss des Verwaltungsgerichts der Region Venetien vom 14. 1. 2004. Vgl. dazu EGMR (Fn. 8), Tz. 11. 23 Beschluss vom 15. 12. 2004. Vgl. dazu EGMR (Fn. 8), Tz. 26. 24 Urteil des Verwaltungsgerichts der Region Venetien vom 17. 3. 2005. Vgl. dazu EGMR (Fn. 8), Tz. 13. 25 Urteil des Staatsrats vom 13. 2. 2006. Vgl. dazu EGMR (Fn. 8), Tz. 15.
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EGMR gemäß Art. 34 EMRK. Durch Urteil vom 3. November 2009 hat die Zweite Kammer des EGMR26 einstimmig entschieden, dass die in Italien durch eine Rechtsverordnung angeordnete Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen gegen Art. 2 Protokoll Nr. 1 zur EMRK in Verbindung mit Art. 9 EMRK verstößt und sprach der Beschwerdeführerin gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigung von 5000 Euro durch Italien zu. Gemäß Art. 2 Protokoll Nr. 1 zur EMRK darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Gemäß Art. 9 EMRK hat jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Als Kehrseite ist davon auch die sog. negative Religionsfreiheit geschützt27. Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung betont, dass die religiöse Dimension von Art. 9 EMRK eines der wichtigsten Elemente für die Identität von Gläubigen und für ihre Lebenskonzeption, Art. 9 EMRK aber ebenso ein besonders wertvoller Schutz für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Unbeteiligte sei28. Im konkreten Fall hat der EGMR das Vorbringen der italienischen Regierung und des italienischen Verwaltungsgerichts, das Kruzifix sei insoweit Ausdruck italienischer Geschichte und Kultur und damit italienischer Identität sowie Symbol der Prinzipien der Gleichheit, der Freiheit und der Toleranz, zurückgewiesen. Der Katholizismus sei seit 1985 in Italien nicht mehr Staatsreligion29. Tragende Gründe des Urteils sind letztlich die Pflicht des Staates zur Neutralität in Fragen des Bekenntnisses (der Religion), die Beeinträchtigung der Rechte der Erziehungsberechtigten und der Kinder, die in Pflichtschulen dem Kruzifix ausgesetzt sind, 26 Besetzt mit den Richtern Tulkens (Belgien), Barreto (Portugal), Zagrebesky (Italien), Jociene (Litauen), Popovic (Serbien), Sajo (Ungarn) und Karaka (Türkei). 27 EGMR, Urteil vom 13. 8. 1981 (Young, James und Webster / Vereinigtes Königreich), EuGRZ 1981, 559, Tz. 52 ff., auf das sich der EGMR im Fall Lautsi (Fn. 8), Tz. 47 bezieht. Vgl. auch Jochen Abr. Frowein, in: ders. / Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 9, Rn. 7 und ebd., Rn. 3 (Schutz der negativen Glaubensfreiheit durch die Gedankenfreiheit); Christoph Grabenwarter, in: Wolfram Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblatt, Art. 9 EMRK, Rn. 55 ff.; ders., in: Karl Korinek / Michael Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Loseblatt, 6. Lieferung 2003, Art. 9 EMRK, Rn. 21 ff., Rn. 17; Gaitanides (Fn. 9), § 29, Rn. 17. 28 EGMR, Urteil vom 25. 5. 1993, Beschwerde Nr. 14307 / 88 (Kokkinakis / Griechenland), Series A Nr. 260, Tz. 31 = ÖJZ 1994, 59. 29 EGMR (Fn. 8), Tz. 23. Hinweis auf Gesetz Nr. 121 vom 25. 3. 1985 und Konkordat zwischen Italien und dem Vatikan vom 18. 2. 1984 zur Änderung der Lateranverträge vom 11. 2. 1929, gemäß denen die Katholische Religion zur alleinigen Religion des italienischen Staates erklärt worden war (vgl. ebd., Tz. 21 f.), was im Konkordat 1984 ausdrücklich geändert wurde. Vgl. auch den Hinweis des EGMR (Fn. 8), Tz. 26 auf das Urteil Nr. 203 des italienischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1989.
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und der Erziehungsauftrag öffentlicher Schulen30. Auf den Hinweis der Beschwerdeführerin auf die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofes, dass Kruzifixe in Wahllokalen unzulässig seien31, ging der EGMR nicht ein32. III. Reaktionen auf das Urteil des EGMR Erwartungsgemäß wurde das Urteil von den diversen Gegnern religiöser Symbole begrüßt, von kirchlicher Seite, aber auch von Politikern kritisiert33. Seitens der Europäischen Union sah man sich veranlasst klarzustellen, dass der EGMR eine Einrichtung des Europarats, nicht der Europäischen Union sei – in einigen Medien war der Luxemburger Gerichtshof mit dem Straßburger Gerichtshof verwechselt worden. In Italien war die Kritik zum Teil recht heftig. Nach dem Kruzifixstreit vor den italienischen Gerichten hatte sich eine Mehrheit von rund 80 Prozent der Bürger für religiöse Symbole in Schulen ausgesprochen. Als Reaktion auf das Urteil sollen in ganz Italien an vielen öffentlichen Orten als Zeichen des Protests Kreuze angebracht und Kommunen sich vergewissert haben, dass in allen ihrer öffentlichen Räumen Kruzifixe hängen. Die italienische Regierung beantragte die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR („Berufung“ gemäß Art. 43 Abs. 1 EGMR). Diese wurde vom EGMR am 1. März 2010 EGMR (Fn. 8), Tz. 48 ff. Italienischer Kassationshof, Urteil vom 1. 3. 2000. Vgl. dazu EGMR (Fn. 8), Tz. 7. 32 Wahllokale sind wie Gerichte anders zu beurteilen als Schulen, vgl. zu Gerichten BVerfG, Beschluss vom 17. 7. 1973, BVerfGE 35, 366 (375 f.): Kein allgemeines Verbot von Kreuzen im Gerichtssaal, aber Anspruch auf Entfernung eines Prozessbeteiligten, der sich als Jude in seinem Grundrecht verletzt fühlt. Kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG sowie des Hessischen VGH, (Beschluss vom 4. 2. 2003, NJW 2003, 2471 / 2473 und Beschluss vom 1. 6. 2005, NJW 2006, 1227: Kreuze im Sitzungssaal des Kreistages) wegen der insoweit gegenüber Erwachsenen fehlenden missionarischen Wirkung Juliane Kokott, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 4, Rn. 52. Differenzierend Starck (Fn. 9), Art. 4 Abs. 1, 2, Rn. 25 (keine Verletzung der negativen Religionsfreiheit durch Kreuze in Gerichtssälen; ggf. Anspruch auf Entfernung des Kreuzes aus dem Sitzungssaal des Kreistags auf Verlangen eines Atheisten). Berechtigtes Verständnis für die Entfernung des Kreuzes aus dem Gerichtssaal in Sondersituationen äußert Christoph Link, Stat Crux? – Die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, 3353 (3356). 33 Heftige Kritik kam seitens der italienischen Regierung, seitens des Vatikan (vgl. Focusonline vom 3. 11. 2009: „Vatikan kritisiert Urteil des EGMR“), seitens der Italienischen Bischofskonferenz und der Deutschen Bischofskonferenz, vgl. Academia 6 / 2009, S. 373 („Bischofskonferenz kritisiert Straßburger Kruzifix-Urteil“), ferner von Politikern der CSU, z. B. Landtagspräsidentin Barbara Stamm, Kultusminister Ludwig Spaenle und dem Europaabgeordneten Manfred Weber sowie aus Österreich, wo der Nationalrat am 19. 11. 2009 eine kritische, den Standpunkt Italiens unterstützende Resolution fasste. Entschließungen der Parlamente Litauens (Außenpolitischer Ausschuss) und Polens (Plenum) unterstützten ausdrücklich die Anrufung der Großen Kammer des EGMR durch Italien, vgl. Salzburger Nachrichten vom 14. 1. 2010. Heftige Kritik äußerte der österreichische Völkerrechtler Karl Zemanek, Die Presse vom 22. 11. 2009 („Das Urteil ist ein Blödsinn . . . eine sachlich falsche und rechtspolitisch dumme Entscheidung“). 30 31
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angenommen34. Die Parlamente Litauens und Polens sprachen sich für eine Unterstützung Italiens vor dem EGMR aus35.
IV. Vergleich mit dem Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 Heftige Reaktionen und Kritik hatte auch der sog. Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 16.5. 199536 ausgelöst. Da ein endgültiges Urteil des EGMR ungeachtet der Entscheidung eines Einzelfalls und darauf beschränkter unmittelbarer Rechtswirkung letztlich darüber hinausgehende Bedeutung hat, da darauf gestützte Folgeverfahren naheliegen37 bietet sich ein Vergleich des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts an. Das Urteil des EGMR stimmt in einigen Ansätzen mit dem Beschluss des BVerfG überein. Dieser erging mit fünf gegen drei Stimmen, die Sondervoten abgaben38. Die den Beschluss tragende Mehrheit der Richter betonte die gebotene Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten. Das Kruzifix als spezifisch christliches39 Symbol könne nicht als allgemeines Identitätsmerkmal des Staates oder europäischer Kultur betrachtet werden. Die negative Seite der Bekenntnisfreiheit verbiete, dass Kinder in Pflichtschulen einem „Lernen unter dem Kreuz“ ausgesetzt seien40. Anders als das BVerfG41 geht der EGMR aber nicht auf die positive Seite der Bekenntnisfreiheit ein, obwohl diese von Art. 9 EMRK betont wird. Daher fehlen auch Ausführungen zur Herbeiführung einer praktischen Konkordanz zwischen der negativen und der positiven Bekenntnisfreiheit. Der apodiktische Leitsatz im Kruzifix-Urteil42 wurde wohl zu Recht als „überschießende Formulierung“ verstanden, während tatsächlich wohl nur die Unausweichlichkeit des Kreuzes in Fällen eines individuellen Gewissenskonflikts beanstandet, d. h. eine Widerspruchslösung angemahnt wurde43. Diese Folgerung zog aus dem Kruzifix-Urteil der 34 Vgl. die Pressemitteilung Nr. 177 des EGMR vom 2. 3. 2010, abrufbar unter http: // cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=2&portal=hbkm&action=html&highlight=Lautsi& sessionid=52151510 &skin=hudoc-pr-en (zuletzt geprüft am 27. 4. 2010). 35 Vgl. Salzburger Nachrichten vom 14. 1. 2010: Litauen, Italien und Polen gegen Kruzifix-Urteil. 36 BVerfGE 93, 1. 37 Siehe zu den Folgen unten V. 38 Sondervoten der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, BVerfGE 93, 1 (25 ff.). 39 Auch wenn der Katholizismus nicht mehr Staatsreligion ist, ist das Kruzifix in Italien wohl ein katholisches Symbol. 40 BVerfGE 93, 1 (16 ff., 18). 41 Vgl. BVerfGE 93, 1 (21 ff.). 42 „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG“.
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bayerische Gesetzgeber, ohne dass dies seitens der Rechtsprechung einschließlich des BVerfG beanstandet wurde44. Generell ist das BVerfG stärker um eine Begründung seines Standpunkts bemüht als der EGMR. Diese Begründungsdefizite und die noch stärker als die ohnehin problematische Äußerung des BVerfG vom „Lernen unter dem Kreuz“45 verletzend wirkende Diktion (Menschenrechtsverletzung; Erziehung der Kinder zur Kritik mit dem durchscheinenden Vorwurf der Indoktrination) des EGMR dürften zu Akzeptanzproblemen beitragen. V. Folgen 1. Konkrete Folgen des Urteils des EGMR Sollte die Große Kammer das Urteil der Kammer bestätigen, so ist dieses Urteil endgültig (Art. 44 Abs. 1 EMRK) und für Italien verbindlich. Denn gemäß Art. 46 EMRK verpflichten sich die Hohen Vertragsparteien, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Bislang werden die Urteile des EGMR ungeachtet Kritik und Akzeptanzproblemen in der Regel befolgt. So wurde z. B. in Deutschland dem Urteil des EGMR im Fall Caroline von Hannover (Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht)46 trotz der Kontroverse zwischen EGMR und BVerfG47 Rechnung getragen48. Es gibt allerdings auch seltene Ausnahmen. So hat das für die Überwachung der Durchführung der Urteile des EGMR zuständige Ministerkomitee des Europarats (Art. 46 Abs. 2 EMRK) am 10. Mai 2006 die Mitgliedstaaten aufgefordert, Maßnahmen gegen Russland zu ergreifen, weil die russischen Behörden bis dahin keine Maßnahmen zur Freilassung einer erfolgreichen Beschwerdeführerin49 er43 So Markus Möstl, in: Josef Franz Lindner / Markus Möstl / Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern. Kommentar, 2009, Art. 135 – 137, Rn. 15. Vgl. auch die später erfolgende „Klarstellung“ durch den Verfassungsrichter Henschel, dass nur die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoße, vgl. Kokott (Fn. 32), Art. 4, Rn. 50. So interpretierten den Beschluss auch die Gerichte, vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 21. 4. 1999, BVerwGE 109, 40 (44 ff.) = NJW 1999, 3063. 44 Siehe dazu unten V. 4. 45 So BVerfGE 93, 1 (18). Ablehnend z. B. Josef Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der Kruzifix-Beschluß des BVerfG, ZRP 1996, 10 (11 f.), im Ergebnis zustimmend z. B. Ludwig Renck, Zum rechtlichen Gehalt der Kruzifix-Debatte, ZRP 1996, 16 (16 ff.). Literaturnachweise zur Kontroverse z. B. bei Kokott (Fn. 32), Art. 4, Rn. 37 ff. 46 EGMR, Urteil vom 24. 6. 2004 (Caroline von Hannover / Deutschland), EuGRZ 2004, 404, Nr. 76 ff. 47 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999, BVerfGE 101, 361 – Caroline von Hannover. 48 Vgl. die Nachweise bei Rudolf Streinz, Zur Europäisierung des Grundgesetzes, in: Peter M. Huber (Hrsg.), Das Grundgesetz zwischen Stabilität und Veränderung, 2007, S. 33 (51) und zuletzt BVerfGE 120, 180 mit Analyse von Dieter Dörr, JuS 2008, 1107. 49 EGMR, Urteil vom 8. 7. 2004 (Ilascu / Moldawien und Russland), HRLJ 2004, 332.
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griffen haben50. In Italien hat Ministerpräsident Berlusconi angekündigt, das Urteil auf keinen Fall zu befolgen. 2. Auswirkungen auf andere Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Wie generell entscheidet auch dieses Urteil des EGMR einen Einzelfall51. Es hat aber in seinen grundsätzlichen Ausführungen darüber hinausgehend Bedeutung auch für andere Vertragsstaaten. Beides wurde seitens des Sprechers des EGMR betont. Es bleibt abzuwarten, wie die Große Kammer des EGMR entscheiden wird52 und wie Italien auf deren Urteil reagiert. Abzuwarten bleibt auch, wie in eventuellen Folgefällen andere Mitgliedstaaten reagieren. Denn solche Fälle können durch das Urteil provoziert werden. So sollen in Polen Schüler in Breslau unter Berufung auf das Urteil des EGMR die Abnahme von Kruzifixen verlangt haben, was von der Schule abgelehnt wurde, und in Swinemünde soll Herr Maciejewski unter Berufung auf das Urteil des EGMR vom Stadtrat die Entfernung von Kreuzen aus der Öffentlichkeit gefordert haben. Das Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ist in den Mitgliedstaaten des Europarates und auch innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehr unterschiedlich und reicht von Laizismus mit strikter Trennung bis zum Staatskirchentum mit dazwischen liegenden Kooperationsmodellen 53. Ebenso unterschiedlich sind die Regelungen der Bekenntnisfreiheit bzw. Religionsfreiheit in den 47 Vertragsstaaten der EMRK54. Daher dürfte sich hier erhebliches Konfliktpotential ergeben.
3. Folgen für die Akzeptanz der Rechtsprechung des EGMR Entgegen dem warnenden Vorbringen der italienischen Regierung55 hat der EGMR den Vertragsstaaten keinen Beurteilungsspielraum („margin of appreciatiVgl. dazu Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 27), Art. 46, Rn. 22. Vgl. zu den Rechtsfolgen von Urteilen des EGMR Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 27), Art. 46, Rn. 1 ff. Liegt ein sog. „systemisches Problem“ vor, das in der Gesetzgebung liegt, muss der Staat dieses durch Änderung des Gesetzes lösen (vgl. ebd., Rn. 12 f. m. w. N.). Allerdings muss der EGMR die Begrenzung beachten, die sich aus seiner Jurisdiktion ergibt, was im Fall Görgülü insoweit nicht geschehen ist, als die Anordnung des EGMR, der Beschwerdeführer müsse Zugang zu seinem Kind erhalten, auf der Basis von Tatsachen in der Vergangenheit beruhte und die seitherige Entwicklung nicht berücksichtigte, vgl. ebd., Rn. 10. 52 Die mündliche Verhandlung fand am 30. 6. 2010 statt. Vgl. SZ vom 1. 7. 2010, S. 7. 53 Vgl. dazu Christian Waldhoff, in: Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen, 2006, Art. I-52, Rn. 3 ff. m. w. N. 54 Vgl. dazu die Übersicht bei Bernsdorff (Fn. 11), Art. 10, Rn. 2. 50 51
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on“; „marge d’appréciation“) eingeräumt. Es fällt auf, dass der Straßburger EGMR, der diese Argumentationsfigur gerade für solche „Identitätsfragen“ aufgrund unterschiedlicher Traditionen und Bewertungen entwickelt hat56, in letzter Zeit insoweit restriktiver zu sein scheint als der Luxemburger EuGH hinsichtlich der Europäischen Union. Der EuGH hat z. B. Fall im Omega-Fall („Laserdrome“) das besondere Menschenwürdeverständnis in Deutschland als Beschränkung der Grundfreiheiten aus Gründen der öffentlichen Ordnung akzeptiert57. Die Rechtsprechung des EGMR nach der Erweiterung des Europarats nach der „Wende“ 1989 / 1990 bedarf insoweit allerdings noch genauer Analyse, auch dahingehend, ob sich je nach Fallkonstellation und Zusammensetzung der Kammern Unterschiede feststellen lassen. Generell ist der EGMR mangels eines über die Überwachung durch das Ministerkomitee58 hinausgehenden Vollstreckungsverfahrens auf die Akzeptanz seiner Urteile angewiesen und muss die Balance zwischen effektivem Schutz der durch die EMRK garantierten Rechte und der Einräumung von Bewertungsspielräumen der einzelnen Mitgliedstaaten wahren bzw. gegebenenfalls wieder finden. Über die Reichweite eines Beurteilungsspielraums hinaus stellt sich angesichts des durch Geschichte und Tradition geprägten Verständnisses der Religionsfreiheit die Frage „grundsätzlicher Offenheit für geschichtlich geprägte regionale Besonderheiten“59. 4. Folgen für Deutschland angesichts der Rechtsprechung des BVerfG zur Berücksichtigung von Urteilen des EGMR Angesichts dieser Rechtsprechung des EGMR werden die Vorbehalte verständlich, die das BVerfG bei grundsätzlich positiver Haltung gegenüber der EMRK und den Urteilen des EGMR, einschließlich verfassungsrechtlicher und damit verfas55 Vgl. EGMR (Fn. 8), Tz. 38. Insbesondere wurde auf die Anwesenheit eines Vertreters der orthodoxen Religion bei staatlichen Zeremonien in Griechenland und die Schließung von Büros und Geschäften am Karfreitag im Elsass und damit einer Region des „laizistischen“ Frankreichs hingewiesen, vgl. ebd., Tz. 39. 56 Grundlegend EGMR, Urteil vom 7. 12. 1976 (Handyside / Vereinigtes Königreich), Série A, Nr. 24; EGMR, Urteil vom 26. 4. 1979 (Sunday Times / Vereinigtes Königreich), EuGRZ 1979, 386. Analyse von Dietrich Murswiek, JuS 1980, 523. Speziell zur Religionsfreiheit EGMR, Urteil vom 20. 9. 1994 (Otto-Preminger-Institut / Österreich), HRLJ 1994, 371 = ÖJZ 1995, 194. Vgl. dazu Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 27), Vorbemerkung zu Art. 8 – 11, Rn. 13 ff. Speziell hinsichtlich der Rechtsprechung des EGMR zur Religionsfreiheit Fiedler (Fn. 19), S. 217 ff. 57 EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004, Rs. C-36 / 2 (Omega Spielhallen und Automatenaufstellungs- GmbH / Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn), Slg. 2004, I-9609, Rn. 28 ff., 37 ff. Analyse von Rudolf Streinz, JuS 2005, 63. 58 Art. 46 Abs. 2 EMRK. Vgl. dazu Frowein, in: Frowein / Peukert (Fn. 27), Art. 46, Rn. 16 ff. 59 Fiedler (Fn. 19), S. 219.
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sungsgerichtlicher Bewehrung bei Missachtung durch nationale Gerichte60, im sog. Görgülü-Urteil entwickelt hat. Urteile des EGMR sind danach von deutschen Gerichten „gebührend zu berücksichtigen“; allerdings unter Beachtung verfassungsrechtlicher Schranken61. Letztlich kommt insoweit zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes Vorrang zu. Die Vorbehalte des BVerfG dürften sich hauptsächlich auf Fragen praktischer Konkordanz bei fehlender bzw. nicht hinreichender Berücksichtigung konfligierender Rechte beziehen. In Fallkonstellationen wie der des Görgülü-Falles ist z. B. das Kindeswohl gegenüber den Rechten des Vaters zu berücksichtigen und abzuwägen62. In den „Kruzifix-Fällen“ gilt dies für die positive Bekenntnisfreiheit gegenüber der negativen Bekenntnisfreiheit63. Trägt man dieser praktischen Konkordanz64, Rechnung, dürfte die in Deutschland und speziell in Bayern nach dem sog. Kruzifix-Beschluss gefundene Lösung von Konflikten den Vorgaben der EMRK entsprechen. Das nach dem Urteil des BVerfG geänderte Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz sieht vor, dass „angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“ in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht wird, das in begründeten Konfliktfällen aber abgenommen werden muss65. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat dies eben wegen dieser Konfliktlösung für mit der Bayerischen Verfassung vereinbar erklärt66, das BVerfG eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht angenommen67. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat entschieden, dass sich für Andersdenkende eine zumutbare und nichtdiskriminierende Ausweichmöglichkeit ergibt, wenn die Anforderungen an die Begründung des Widerspruchs nicht überzogen werden68. Im 60 Vgl. die (teilweise) Aufhebung der das Urteil des EGMR vom 26. 2. 2004 (Görgülü / Deutschland), EuGRZ 2004, 700 missachtenden Beschlüsse des OLG Naumburg vom 30. 6. 2004, EuGRZ 2004, 749, BVerfGE 111, 307 (330 ff.). 61 BVerfG, Urteil vom 14. 10. 2004, BVerfGE 111, 307 (Leitsätze 1 und 2). Vgl. dazu Rudolf Streinz, Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ZfP 2009, 465 (483 ff.). 62 Zutreffend ausgewogen zu diesem Urteil Gertrude Lübbe-Wolf, ECHR and national jurisdiction – The Görgülü Case, HFR Contribution 12 / 2006, S. 1 (1 ff.). 63 Vgl. zur praktischen Konkordanz zwischen diesen beiden Dimensionen hinsichtlich des Schulgebets BVerfG, Urteil vom 16. 10. 1979, BVerfGE 52, 223 und zuletzt VG Berlin, Urteil vom 29. 9. 2009, NVwZ-RR 2010, 189 (190 f.) m. w. N. 64 Begriffsprägend Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff. 65 Art. 7 Abs. 3 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) idF d Bek vom 31. 5. 2000, der nach dem Kruzifix-Urteil des BVerfG durch Gesetz vom 23. 12. 1995 (GVBl. S. 850) eingefügt wurde. Vgl. dazu Heinrich Amadeus Wolff, in: Lindner / Möstl / Wolf (Fn. 43), Art. 107, Rn. 44; Möstl, ebd., Art. 135 – 137, Rn. 15. Zur verfassungskonformen Handhabung der Widerspruchsregelung vgl. Kokott (Fn. 32), Art. 4, Rn. 49 ff. 66 BayVerfGH, Urteil vom 1. 8. 1997,VerfGHE Bd. 50, 151 (156) = NJW 1997, 3157 = BayVBl. 1997, 686. 67 BVerfG, Beschluss vom 27. 10. 1997, NJW 1999, 1020. 68 BVerwGE 109, 40 (Leitsätze und S. 51 ff.) = NJW 1999, 3063.
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konkreten Fall hob es allerdings die Vorinstanzen69 auf und verpflichtete den Freistaat Bayern, die Entfernung der Kreuze in den Räumen der Schule anzuordnen, in denen die Tochter der Kläger regelmäßig unterrichtet wird70. Die Widerspruchslösung sei bundesverfassungskonform dahin auszulegen, dass sich die Widersprechenden dann, wenn sie sich auf ernsthafte und einsehbare Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung stützen, eine Einigung nicht zustande kommt und andere zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen, letztlich durchsetzen müssen71. Dies sah das BVerwG bei den Klägern, überzeugten Atheisten, als gegeben an. Es betonte aber zugleich, dass weltanschauliche Indifferenz den Widerspruch nicht tragen könne und ein freies Vetorecht nicht bestehe. Vorhersehbare Konflikte seien möglichst von vornherein zu vermeiden und notfalls schon bei der Klasseneinteilung unter Wahrung der gebotenen Diskretion zu berücksichtigen72. In einem ausdrücklich als „atypisch“ bewerteten Einzelfall hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Abnahme eines Kreuzes auf Verlangen eines Lehrers während dessen Unterrichtserteilung angeordnet73, in einem anderen Fall hat das Verwaltungsgericht Augsburg die Klage eines atheistischen Lehrers abgelehnt, da es nicht davon überzeugt war, dass der Lehrer durch das Kreuz im Klassenraum eine schwerwiegende seelische Belastung erleide, die eine Ausnahme rechtfertige74. .Bedauerlicherweise ist der EGMR auf das Problem eines schonenden Ausgleichs zwischen konfligierenden Rechten nicht eingegangen75. Dieser Lösungsansatz war allerdings auch nicht vorgetragen worden. Der Hinweis der italienischen Regierung, man könne die Kinder auf Privatschulen ohne Kruzifix schicken oder häuslichen Unterricht erteilen76, war wenig hilfreich.
VG München und BayVGH, Urteil vom 22. 10. 1997, BayVBl. 1998, 305. BVerwGE 109, 40 (42). 71 Ebd., Leitsatz 2, unter Hinweis auf BayVerfGH, Urteil vom 1. 8. 1997 BayVBl. 1997, 686 = VerfGHE Bd. 50, 151 = NJW 1997, 3157. 72 BVerwGE 109, 40 (Leitsätze 3 und 4). 73 BayVGH, Urteil vom. 21. 12. 2001, NVwZ 2002, 1000 (1007 ff. und Leitsatz 6). Grundsätzlich habe aber der Lehrer gegenüber den Erziehungsberechtigten eine schwächere Position, da er nicht nur – als Person – Grundrechtsträger, sondern zugleich auch Amtsträger sei, der sich nicht über den gesetzlich normierten Sinngehalt des Schulkreuzes ohne weiteres hinwegsetzen könne (ebd., Leitsatz 5). 74 VG Augsburg, Urteil vom 14. 8. 2008 (Az. Au 2 K 07.347). 75 Zutreffende Kritik von Christian Walter, Die Hoheit unter dem Kreuz. Der Europäische Gerichtshof überschätzt seine Rolle im Zusammenspiel zwischen Staaten und Religionen. Das zeigt die Kruzifix-Entscheidung, FAZNET 2010. Dabei wird auch hinsichtlich der möglichen Wirkung auf Kinder zutreffend auf den Unterschied zwischen Kruzifixen mit Corpus und schlichten Kreuzen hingewiesen. Im Kruzifix-Beschluss des BVerfG ging es wirklich um ein Kruzifix von 80 cm Größe und 60 cm großem Korpus, vgl. BVerfGE 93, 1 (3). Allerdings bezog das BVerfG ausdrücklich Kruzifixe und (bloße) Kreuze ein. 76 Vgl. EGMR (Fn. 8), Tz. 37. 69 70
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VI. Ergebnis und Ausblick Das Urteil des EGMR überzeugt weder im Ergebnis noch in der Begründung. Dass die Anbringung eines Kruzifixes im Klassenzimmer gegen die Menschenrechte verstoßen soll, hat zu empörten Reaktionen geführt. Allerdings folgt dieser Tenor, folgt man dem EGMR, aus dem Prüfungsmaßstab der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Unnötige Verletzungen bringen aber einige der Begründungen, und sie überzeugen vor allem deshalb nicht, weil die von Art. 9 EMRK geschützte und vom Staat auch zu schützende positive Bekenntnisfreiheit ausgeblendet bleibt. Dies und mögliche Folgen für Vertragsstaaten der EMRK, deren Verfassungen eine bestimmte Religion ausdrücklich hervorheben, sowie die erforderliche Akzeptanz seiner Urteile sollte die Große Kammer beim Finden eines schonenden Ausgleichs zwischen den konfligierenden Rechten der Beteiligten berücksichtigen77. Denn „es geht stets um die konkrete Gestaltung des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit im Einzelfall, nicht um eine mechanische Position zugunsten der Minderheit“78.
77 Vgl. Walter (Fn. 75), der auf darauf hinweist, dass das Urteil der Großen Kammer vom 29. 6. 2007 im wegen der klaren Bevorzugung des Christentums im Pflichtfach „Christentum, Religion und Philosophie“ durchaus problematischen Fall Folgero u. a. / Norwegen (Beschwerde Nr. 15472 / 02) mit 9:8 Stimmen äußerst knapp ausfiel. Vgl. zum Fall Folgero Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 22, Rn. 78. Vgl. auch Ivo Augsberg / Kai Engelbrecht, Staatlicher Gebrauch religiöser Symbole im Licht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zur Entscheidung des EGMR vom 3. 11. 2009 in der Rs. Lautsi, JZ 2010, 450 (458). 78 Fiedler (Fn. 19), S. 221.
Die Leftovers des Lissabon-Vertrages: Anforderungen an die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union Von Oliver Suhr* I. Einleitung Am 21. Oktober 1985 eröffnete Wilfried Fiedler das Studienjahr an der Universität des Saarlandes mit einem Vortrag zur Funktion des Rechts in der europäischen Integration.1 Zu diesem Zeitpunkt war das Schengener Abkommen gerade unterzeichnet worden.2 Die Europäischen Gemeinschaften hatten zehn Mitgliedstaaten. Die Beitrittsrunden von 1986, 1995, 2004 und 20073 standen ebenso noch aus wie die Einheitliche Europäische Akte sowie die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, Rom und Lissabon.4 In seinem Vortrag betrachtet Fiedler Ansätze skeptisch, die das Europarecht vorschnell als Sonderrecht konstruieren und seine Einbettung in die übrige Rechtsordnung und insbesondere in das Völkerrecht vernachlässigen.5 Auch weigert Fiedler sich, die Deutschlandfrage und die europäische Integration gegeneinander aus* Oliver Suhr war von 1996 bis 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht der Universität des Saarlandes (Prof. Dr. Wilfried Fiedler). Heute ist er Stellvertretender Leiter der Abteilung Europa, Interregionale Zusammenarbeit und Leiter des Referats Europapolitik und Europarecht im Ministerium für Inneres und Europaangelegenheiten des Saarlandes sowie Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes und an der Fachhochschule des Saarlandes für Verwaltung. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder. 1 Fiedler, Die Funktion des Rechts in der Europäischen Einigungsbewegung. Die Verrechtlichung – Weg oder Irrweg der Europäischen Integration, JZ 1986, S. 60 ff. 2 14. Juni 1985. 3 1. Januar 1986: Portugal und Spanien; 1. Januar 1995: Österreich, Finnland und Schweden; 1. Mai 2004: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern; 1. Januar 2007: Bulgarien und Rumänien. 4 Die EEA vom 17. / 18. Februar 1986 ist am 1. Juli 1987 in Kraft getreten. Der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 ist am 1. November 1993 in Kraft getreten. Der Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 ist am 1. Mai 1999 in Kraft getreten. Der Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 ist am 1. Februar 2003 in Kraft getreten. Der Vertrag über ein Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004 ist nicht in Kraft getreten. Der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 ist am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten. 5 Fiedler (Fn. 1.), JZ 1986, S. 60 ff. (62).
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zuspielen.6 In diesem Punkt wird er wenige Jahre später, am 3. Oktober 1990, mit der Realisierung der deutschen Einheit im Rahmen der europäischen Integration rascher als noch 1985 vorhersehbar bestätigt.7 Die weiteren von Fiedler angesprochenen Fragen sind ein Vierteljahrhundert später von unverändert hoher Aktualität. Sie prägen die Diskussion rund um den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon. So stellt Fiedler die Frage, welche Verfassungsorgane in welchem Umfang Verantwortung für die Fortentwicklung der Integration tragen und verweist in diesem Zusammenhang auf die Einschränkungen, die aus dem Einstimmigkeitsprinzip und der einseitigen Betonung nationaler Interessen erwachsen.8 Fiedler wirft dabei auch einen kritischen Blick auf die dynamische Auslegung der europäischen Verträge.9 Diese abgewogene Auseinandersetzung mit der Gestaltungsaufgabe der Europapolitik hebt sich positiv ab von der rein negativen Beschreibung der Kompetenzen der Europäischen Union, die über weite Strecken das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts prägt10 und auch immer wieder Gegenstand von Polemiken ist.11 Die vorgenannte Frage Fiedlers beantwortet der Vertrag von Lissabon, indem er sowohl die Handlungsfähigkeit der Europapolitik als auch ihre demokratische und gerichtliche Kontrolle stärkt. Stichworte sind hier unter anderem die Reduzierung der Einstimmigkeitserfordernisse sowie die Einführung eines Systems der doppelten Mehrheit im Rat12, die Stärkung der Mitentscheidung des Europäischen Par6 Ibidem, S. 65. Siehe hierzu auch ders., Europäische Integration und deutschlandpolitische Optionen – Eine Alternative?, in: Hacker / Mampel (Hrsg.): Europäische Integration und deutsche Frage, 1989, S. 115 ff.; ders., Deutschland und Europa. Über die Zunahme der geistigen Provinzialität in der Deutschland-Diskussion, in: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Verantwortung für Deutschland, 1989, S. 79 ff. 7 Vgl. ders., Die Herstellung der Souveränität Deutschlands und die Auswirkungen auf das geeinte Europa, in: Fischer / Haendcke-Hoppe-Arndt (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands, 1992, S. 143 ff.; ders., Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, Der Staat 31 (1992), S. 436 ff. 8 Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 60 ff. (61, 63). 9 Ibidem, S. 61, 64. 10 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a., BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, 2267, hier zitiert nach http: //www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html. Siehe zur Kritik z. B. von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum, NJW 2010, S. 1 ff., 4 („Verhinderungsdiskurse . . . Defensivhaltung“); Suhr, Von der Notwendigkeit einer mit der Integration Schritt haltenden Rechtsgemeinschaft: Vereinfachte Vertragsänderung im Vertrag von Lissabon, Saarbrücker Bibliothek, http: //archiv.jura.uni-sb. de/projekte/Bibliothek (15. 7. 2009), S. 3. 11 Siehe z. B. Herzog / Bolkestein / Gerken, Die EU schadet der Europa-Idee, FAZ v. 15. 1. 2010, S. 14; Herzog / Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 8. 9. 2008, S. 8; dies., Die Europäische Union gefährdet die parlamentarische Demokratie in Europa, Welt am Sonntag v. 14. 1. 2007. Widerlegt u. a. bei Fastenrath, FAZ v. 4. 6. 2009, S. 8; Lenz, WHI-Paper 1 / 09, www.whi-berlin.de/documents/whi-paper0109.pdf (15. 1. 2010).
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laments13 und der Rolle der nationalen Parlamente14, die Schaffung von Kompetenz-Kategorien15, das Subsidiaritäts-Frühwarnsystem16, die Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta17 und die Entscheidung für den Beitritt zur EMRK18 oder die Vervollständigung des Rechtsschutzes vor dem EuGH19. Bei Fiedler wird auch bereits ein gewisses Unbehagen im Hinblick auf den Umfang europäischer Rechtsetzung spürbar.20 Im Gegensatz zu dem wenig ergiebigen Streit um Prozentzahlen der jüngeren Vergangenheit21 verweist er auf Fakten und betont – ausgehend von dem durch das europäische Primärrecht gesetzten Rahmen – den politischen Gestaltungsauftrag.22 Die einheitliche Geltung und Durchsetzung des Europarechts arbeitet er als Schlüssel zum Erfolg der europäischen Integration heraus: „In Wirklichkeit wurde die strikte, gerichtlich überprüfbare Bindung an die Verträge zum Garanten des politischen Einigungsprozesses.“23 Mehrfach hebt Fiedler die Vertragsänderung 12 Siehe insbesondere Art. 16 Abs. 3 bis 5 EUV. Vgl. Maurer, Die Ausdehnung der Verfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat, in: Lieb / Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, Diskussionspapier der SWP-Forschungsgruppe EU-Integration, 3. Aufl. 2009, http: //www. swp-berlin.org (15. 1. 2010), S. 21 ff. 13 Siehe insbesondere Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 1 EUV. Vgl. Maurer, Das Europäische Parlament, in Lieb / Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (Fn. 12), S. 14 ff.; ders., Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, ibidem, S. 46 f., 105 ff. 14 Siehe insbesondere Art. 12 EUV und das Protokoll (Nr. 34) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Vgl. Kietz, Die Nationalen Parlamente, in: Lieb / Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (Fn. 12), S. 29 ff. 15 Art. 2 ff. AEUV. Vgl. P. Becker, Kompetenzordnung, in: Lieb / Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (Fn. 12), S. 12 f. 16 Siehe insbesondere Art. 5 Abs. 3 EUV und das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Vgl. P. Becker, Umsetzungsmaßnahmen in Deutschland, in: Lieb / Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (Fn. 12), S. 102 ff. 17 Art. 6 Abs. 1 EUV. 18 Art. 6 Abs. 2 EUV. 19 Siehe Everling, Rechtschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, S. 71 ff.; M. Schröder, Neuerungen im Rechtsschutz der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon, DÖV 2009, S. 61 ff.; Nehl, Das EU-Rechtsschutzsystem, in: Fastenrath / Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag, 2009, S. 149 ff.; Suhr, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, ibidem, S. 299 ff. (307 ff.). 20 Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 60 ff. (61). 21 Vgl. z. B. Hoppe, Die Europäisierung der Gesetzgebung: Der 80-Prozent-Mythos lebt, EuZW 2009, S. 168 ff.; Joho, Der 80%-Mythos auf dem Prüfstand: Wie europäisch ist die nationale Politik?, integration 2009, S. 398 ff.; Töller, Mythen und Methoden. Zur Messung der Europäisierung der Gesetzgebung des Deutschen Bundestages jenseits des 80-ProzentMythos, ZParl 2008, S. 3 ff. 22 Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 63; vgl. zu diesem politischen Gestaltungsauftrag jetzt von Bogdandy (Fn. 10), NJW 2010, S. 1 ff., 4 f. 23 Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 62.
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als äußere Grenze der Anwendung und Auslegung der Verträge hervor.24 Das Bundesverfassungsgericht stellt die Anforderungen an Änderungen der europäischen Verträge in den Mittelpunkt seines Lissabon-Urteils.25 Anliegen dieses Beitrags ist es, 25 Jahre nach Fiedlers grundlegenden Analyse der europäischen Verträge und kurze Zeit nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon einige Aspekte der kurzfristigen Entwicklungsperspektive des Primärrechts der Europäischen Union und der Anforderungen an diese absehbaren Vertragsänderungen näher zu betrachten. II. Die europäischen Verträge nach dem Vertrag von Lissabon Im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon findet sich vielfach die Einschätzung, dass dieser Vertrag nach einer relativ raschen Abfolge von Vertragsrevisionen den Endpunkt oder doch zumindest den vorläufigen Endpunkt der europäischen Integration markiere.26 Die Bundeskanzlerin formulierte diesen Gedanken anlässlich der Ratifikation des Vertrages durch den Deutschen Bundestag am 24. April 2008 differenzierter: „. . . anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag von Lissabon kein Verfallsdatum. Er hat anders als seine unmittelbaren Vorgänger keine Revisionsklausel. Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge ist heute nicht in Sicht.“27 Da der Vertrag über eine Verfassung für Europa nur in seiner abgespeckten Version des Reformvertrages von Lissabon durchsetzbar war, wobei eine Reihe verfassungsprägender Elemente und der Begriff der Verfassung selbst gestrichen wurden, steht also vorerst kein weiterer Anlauf zu einem großen Wurf mehr an. Die Zeit für eine Europäische Verfassung, die auch diesen Namen trägt, ist noch nicht reif.28 Der Europäische Bundesstaat ist eine Zukunftsvision, deren Umsetzung aber in näherer Zukunft nicht ansteht und im Lissabon-Vertrag weder intendiert noch enthalten ist.29 Umso mehr überrascht es, dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Lissabon-Urteil immer wieder auf das Thema Europäischer Bundesstaat Ibidem, S. 64. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 306 ff., 406 ff. Vgl. bereits BVerfGE 75, 223, 240 ff.; BVerfGE 89, 155, 199. 26 Vgl. P. Kirchof, FAZ v. 1. 7. 2009, S. 11; Schorkopf, Die Europäische Union im Lot, EuZW 2009, S. 718 ff. (721, 723). Vgl. auch FAZ v. 19. 1. 2010, S. 4. A.A. Selmayr, Endstation Lissabon?, ZEuS 2009, S. 637 ff. (679). 27 Bundestags-Plenarprotokoll 16 / 157, S. 16452 B. 28 Vgl. hierzu bereits Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 64 f. 29 Siehe Art. 1 Abs. 1 und Art. 50 EUV. Vgl. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 277 (Auszug): „Ein auf Staatsgründung zielender Wille ist nicht feststellbar.“. 24 25
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zurückkommt.30 Hier geht das Bundesverfassungsgericht auf Fragen ein, die der Prozess-Stoff nicht aufwirft, und versucht, Pflöcke für die Zukunft einzuschlagen.31 Da diese Überlegungen zum Europäischen Bundesstaat nicht durch den Vertragstext aufgeworfen werden und auch nicht das im Lissabon-Urteil gefundene Ergebnis tragen, handelt es sich um obiter dicta, die nicht von der Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG erfasst werden.32 Die Gründung eines Europäischen Bundesstaats oder die offizielle Titulierung der europäischen Verträge als „Europäische Verfassung“ stehen mithin in absehbarer Zeit nicht an. Auch der von der deutschen und der französischen Regierung angesichts der internationalen Finanzkrise ins Spiel gebrachte Gedanke, eine intensivere Kontrolle der Haushalte der EU-Mitgliedstaaten mittels Primärrechtsänderungen umzusetzen, beispielsweise Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt ähnlich wie schwerwiegende Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte gemäß Art. 7 Abs. 3 S. 1 EUV durch einen Entzug des Stimmrechts im Rat zu ahnden,33 dürften kurzfristig kaum realisierbar sein, zumal die Haushaltssouveränität34 weiter eingeschränkt werden würde. Gleichwohl zeichnet sich eine Reihe weiterer Änderungen der europäischen Verträge ab. Da sich für offen gebliebene Reformschritte der EU-Verträge in der Vergangenheit im EU-Jargon der Begriff „Leftovers“ etabliert hat,35 sollen die hier im Mittelpunkt stehenden und zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages bereits absehbaren Primärrechtsänderungen hier als die drei „Leftovers des Lissabon-Vertrages“ firmieren: Irland und die Tschechische Republik haben als Bedingung für eine Ratifikation des Lissabon-Vertrages Sonderregelungen aus30 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 5 f., 113, 179, 228, 263, 296, 334, 347, 376. 31 Vgl. Bröhmer, „Containment eines Leviathans“, ZEuS 2009, S. 543 ff. (552 ff.); Sack, Der „Staatenverbund“ – Das Europa der Vaterländer des Bundesverfassungsgerichts, ZEuS 2009, S. 623 ff. (624 ff.). 32 Vgl. Hector, Zur Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, ZEuS 2009, S. 599 ff. (602); Pache, Das Ende der Europäischen Integration?, EuGRZ 2009, S. 285 ff. (298). 33 Vgl. z. B. das Deutsch-französische Positionspapier (sog. „Schäuble-Lagarde-Papier“) Wirtschaftspolitische Steuerung in Europa vom 21. 7. 2010 (Auszug): „Es sollten politische Sanktionen eingeführt werden, wie z. B. Aussetzung der Stimmrechte von Mitgliedstaaten, die in erheblichem Umfang und / oder wiederholt gegen gemeinsame Verpflichtungen verstoßen. Die Rechtsgrundlage für solche Strafmaßnahmen ist eingehend zu prüfen. Dieser Mechanismus müsste bei einer zukünftigen Änderung des AEUV aufgenommen werden“. 34 Vgl. hierzu auch BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 249, 252, 256. 35 S. z. B. Nicolaysen, Die Bedeutung des Nizza-Vertrages für die Rechtsordnung – Rückblick und Perspektive: Von den Amsterdam left-overs zum Post-Nizza-Prozess. Die permanente Reform der Unionsverfassung, 2002; Truszczyn´ski, „The Leftovers of Amsterdam“ and Poland’s Interests, in: Barcz (Hrsg.), The Treaty of Nice, 2002, S. 22 ff.; Woschnagg, Die Post-Nizza-Agenda: „Leftovers“ als unendliche Geschichte?, in: Griller (Hrsg.), Die EU nach Nizza : Ergebnisse und Perspektiven, 2002, S. 297 ff.
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gehandelt, die noch der rechtlich verbindlichen Umsetzung im Primärrecht harren. Auch macht die Tatsache, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 noch auf alter vertraglicher Grundlage erfolgten, Überlegungen zu den Übergangsregelungen im Hinblick auf die Sitzverteilung im Europäischen Parlament notwendig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien bereits weit gediehen sind und auch ein zügiger Beitritt Islands im Bereich des Möglichen erscheint. III. Die Leftovers des Vertrages von Lissabon 1. Irland Irland war der einzige EU-Mitgliedstaat, in dem die innerstaatliche Ratifikation des Lissabon-Vertrages auch mittels eines Referendums zu erfolgen hatte. Die erste Abstimmung erfolgte am 12. Juni 2008. Bei einer Beteiligung von 53,1 Prozent der Stimmberechtigten votierten 53,4 Prozent gegen den Lissabon-Vertrag. Trotz des irischen Neins wurde die Ratifikation in den übrigen Mitgliedstaaten fortgesetzt. Nach einer Analyse der Gründe für das irische Nein vereinbarte der Europäische Rat am 11. / 12. Dezember 2008, dass Irland eine Reihe von Garantien erhalten und im Gegenzug einen zweiten Anlauf für die Ratifikation unternehmen sollte.36 Der Europäische Rat vom 18. / 19. Juni 2009 konkretisierte diese Garantien zugunsten Irlands:37 Erstens fassten die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs einen Beschluss zu den Bereichen Recht auf Leben, Steuerwesen sowie Sicherheit und Verteidigung,38 zweitens erfolgte eine Feierliche Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten39 und drittens wurde eine einseitige Erklärung Irlands zur Außenund Sicherheitspolitik vorgesehen.40 Der Beschluss wurde dahingehend erläutert, dass er mit dem Vertrag von Lissabon voll und ganz vereinbar sei, keine erneute Ratifikation dieses Vertrages erforderlich mache, rechtlich bindend sei und am Tag des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon wirksam werde. Naheliegenden Zweifeln, inwieweit die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs einseitig und ohne Ratifikationserfordernis den Vertrag von Lissabon im Wege eines solchen „verbindlichen“ Beschlusses auszulegen vermögen, wurde insofern zumindest mittelfristig Rechnung getragen, als ins Auge gefasst wurde, den Beschluss „zum Zeitpunkt des Ab36 Ratsdok. Nr. 17271 / 1 / 08 REV 1, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 11. / 12. Dezember 2008, Ziffern 1 – 4 und Anlage 1. 37 Ratsdok. Nr. 11225 / 2 / 09 REV 2, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18. / 19. Juni 2009, Ziffern 1 – 5 und Anlagen 1 – 3. 38 A. a. O., Anlage 1. 39 A. a. O., Anlage 2. 40 A. a. O., Anlage 3.
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schlusses des nächsten Beitrittsvertrags“ in ein Protokoll aufzunehmen und ratifizieren zu lassen.41 Mit anderen Worten sollten diese Vereinbarungen des Europäischen Rates den Weg zu einem erfolgreichen irischen Referendum im zweiten Anlauf bahnen, aber erst im Zuge der nächsten Erweiterungsrunde in Form eines Protokolls zum Bestandteil des Primärrechts der Europäischen Union werden.42 Das zweite irische Referendum fand am 2. Oktober 2009 statt. Bei einer Beteiligung von 58 Prozent der Stimmberechtigten votierten diesmal 67,1 Prozent für den Lissabon-Vertrag. Das bereits ausformulierte „Irland-Protokoll“ ist mithin das erste Leftover des Lissabon-Vertrages, d. h. die erste in der Warteschleife befindliche Anpassung der europäischen Verträge. 2. Tschechische Republik In der Tschechischen Republik wurde der Vertrag von Lissabon am 18. Februar 2009 durch das Abgeordnetenhaus und am 6. Mai 2009 auch durch den Senat ratifiziert. Der tschechische Präsident Václav Klaus verweigerte die Unterschrift unter die Ratifikationsurkunde zunächst mit Hinweis auf das ausstehende zweite Referendum in Irland. Als Irland wie auch Deutschland und Polen den Vertrag schließlich ratifiziert hatten, äußerte Klaus die Sorge, dass die Grundrechte-Charta dazu dienen könnte, gerichtlich gegen die Beneš-Dekrete und ihre Folgen vorzugehen. Der Europäische Rat vom 29. / 30. Oktober 2009 kam der Tschechischen Republik insoweit entgegen, als die im Hinblick auf die Grundrechte-Charta im Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union für Polen und das Vereinigte Königreich vereinbarten Sonderregelungen auf die Tschechische Republik erstreckt werden sollen: Den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates wurde ein entsprechendes Änderungsprotokoll beigefügt. Dieses soll „zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages“ dem EUV und AEUV beigefügt werden, also Primärrechtscharakter bekommen.43 Dieses „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik“ ist das zweite Leftover des Lissabon-Vertrages. Als am 3. November 2009 das wiederholt befasste tschechische Verfassungsgericht feststellte, dass der Vertrag von Lissabon nicht verfassungswidrig ist, unterzeichnete Präsident Klaus die Ratifizierungsurkunde. Diese wurde am 13. November 2009 als letzte in Rom hinterlegt.
A. a. O., Ziffer 5 und Anlage 1. Siehe Art. 51 EUV. 43 Ratsdok. Nr. 15265 / 1 / 09 REV 1, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 29. / 30. Oktober 2009, Ziffern 2 und Anlage 1. 41 42
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3. Übergangsregelungen betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments Die Wahlen zum Europäischen Parlament fanden 2009 noch auf Grundlage der bisherigen europäischen Verträge statt, also der Fassung des Vertrages von Nizza vom 26. Februar 2001 sowie der Beitrittsrunden 2004 und 2007. 736 Europaabgeordnete wurden auf der Grundlage von Art. 190 Abs. 2 EGV im Juni 2009 gewählt. Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon sieht in Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 1 EUV bis zu 751 Sitze im Europäischen Parlament vor. Jeder Mitgliedstaat erhält mindestens 6 Sitze, aber keiner mehr als 96. Die Verteilung dieser Sitze auf die Mitgliedstaaten wird nicht mehr primärrechtlich festgelegt, sondern soll nach Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates auf Initiative des Europäischen Parlaments und mit dessen Zustimmung festgelegt werden.44 Für diesen Beschluss besteht ein Entwurf, dem das Europäische Parlament am 11. Oktober 2007 im Grundsatz zugestimmt hat45 und der durch die Erklärung Nr. 4 im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz um einen zusätzlichen Sitz für Italien modifiziert wurde. Daraus ergibt sich ein Verteilungsschlüssel für die insgesamt 751 Sitze. Mit Blick auf die bei der Europawahl 2009 besetzten 736 Sitze stehen einer Reihe von Mitgliedstaaten zusätzliche Sitze zu: Spanien soll 4 zusätzliche Sitze erhalten, Frankreich, Österreich und Schweden je 2 zusätzliche Sitze und Bulgarien, Italien, Lettland, Malta, Niederlande, Polen, Slowenien und das Vereinigte Königreich je einen zusätzlichen Sitz. Deutschland stehen statt der 2009 auf alter Grundlage gewählten 99 Europaabgeordneten nach dieser neuen Regelung nur noch 96 Sitze zu. Die neue Rechtslage bedeutete mit anderen Worten, dass die genannten 12 Mitgliedstaaten insgesamt 18 zusätzliche Sitze zu besetzen haben, während Deutschland angesichts der neuen Obergrenze von 96 Sitzen 3 Abgeordnete zu viel hatte. Die Europäische Union stand also vor der Frage, wie nach den auf alter Rechtsgrundlage erfolgten Europawahlen der Übergang von den bisher 736 Sitzen zu den zukünftig vorgesehenen 751 Sitzen erfolgen sollte. Diese durch das verzögerte Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages entstandene Situation war nicht vorausgesehen und daher auch vertraglich nicht geregelt worden.
44 Vgl. z. B. Arndt, Ausrechnen statt aushandeln: Rationalitätsgewinne durch ein formalisiertes Modell für die Bestimmung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, ZaöRV 68 (2008), S. 247 ff.; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 14 EUV, Rn. 17 ff.; Kaufmann-Bühler, in: Lenz / Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 14, EUV, Rn. 21 f. 45 Dok. 2007 / 2169(INI), Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Oktober 2007 zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments.
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Der Europäische Rat vom 11. / 12. Dezember 2008 legte hierzu in seinen Schlussfolgerungen fest, so früh wie möglich Übergangsmaßnahmen zu treffen, um die Zahl der Abgeordneten der zwölf Mitgliedstaaten zu erhöhen, denen nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages mehr Sitze zustehen. Da Deutschland seine 99 Abgeordneten bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Jahr 2014 belassen werden sollten, sollte die Gesamtzahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments bis zum Ende der Legislaturperiode 2009 – 2014 vorübergehend von 736 auf 754 steigen. Erst danach sollte die Obergrenze von 751 gelten. Diese Änderung sollte möglichst während des Jahres 2010 in Kraft treten.46 Der Europäische Rat vom 18. / 19. Juni 2009 bestätigte diese Linie und traf weitere Festlegungen. Den zwölf betroffenen Mitgliedstaaten sollten drei Varianten zur Verfügung stehen für die Besetzung der 18 bis 2014 zur Nachbesetzung anstehenden Sitze nämlich entweder (a) die Besetzung mittels einer Ad-hoc-Wahl oder (b) die Bestimmung auf Grundlage der Ergebnisse der Europawahlen vom Juni 2009 oder (c) die Ernennung durch die nationalen Parlamente aus ihrer Mitte. Auf Grundlage dieser Weichenstellungen des Europäischen Rates legte Spanien, das die Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2010 ausübte, einen Textvorschlag vor.47 Der spanische Vorschlag sieht eine Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen vor, die – bei rechtzeitiger Ratifikation in allen Mitgliedstaaten – zum 1. Dezember 2010 in Kraft treten soll. Er bestätigt die oben genannten Zahlen, wonach bis 2014 kein Mitgliedstaat Sitze verliert und 18 Sitze nachbesetzt werden sollen. 4. Drei ausformulierte Protokolle, aber keine gekoppelte Ratifikation Gut ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 lagen der EU mithin drei Protokolle zur Änderung der Verträge in ordentlichen Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 2 bis 5 EUV vor: Das IrlandProtokoll, das Tschechien-Protokoll und das Protokoll zu den Übergangsmaßnahmen im Hinblick auf das Europäische Parlament. Alle drei bedürfen nach Art. 48 Abs. 4 EUV der einstimmigen Annahme durch eine Regierungskonferenz und sodann der Ratifikation in allen Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Da die drei Protokolle bereits ausformuliert und im Europäischen Rat politisch abgestimmt waren, lag der Gedanke nahe, nach Art. 48 Abs. 3 Satz 2 EUV ausnahmsweise auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten und direkt eine Regierungskonferenz nach Art. 48 Abs. 4 Unterabs. 1 EUV einzuberufen. Der ebenfalls naheliegenden Annahme, dass die drei Protokolle aus verfahrensökonoRatsdok. Nr. 17271 / 1 / 08 REV 1, Anlage 1. Ratsdok. Nr. 17196 / 09 vom 4. Dezember 2009, auch abgedruckt in BR-Drs. 8 / 10 (neu). 46 47
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mischen Gründen gebündelt dem Vertragsänderungsverfahren unterworfen werden würden, wurde nicht entsprochen. Stattdessen wurde zunächst nur für die Übergangsregelungen im Hinblick auf das Europäische Parlament ein Vertragsänderungsverfahren eingeleitet. Irland und die Tschechische Republik wurden darauf verwiesen, dass ihnen im Europäischen Rat zugesichert worden war, die sie betreffenden Protokolle „zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages“ den Verträgen beizufügen. War diese Formulierung aus der Sicht Irlands und Tschechiens ursprünglich durchaus auf den nächstmöglichen Zeitpunkt gemünzt gewesen, erwies sie sich im Nachhinein als Begründung für eine spätere Umsetzung. Noch einmal würden sie wohl kaum so formulieren. Streng dem Wortlaut nach bestand aber kein politischer Anspruch auf eine frühere Einlösung dieser Zusagen. Ein wichtiger Grund für das Vorziehen der Übergangsregelungen im Hinblick auf das Europäische Parlament bestand darin, dass man diese Änderung möglichst noch 2010 umsetzen wollte. Die aktuelle Besetzung des Europäischen Parlaments stand in einem erheblichen Spannungsverhältnis zum EU-Primärrecht: Einerseits standen 12 Mitgliedstaaten mehr Sitze zu, die diesen Machtzuwachs natürlich so schnell wie möglich realisiert sehen wollten. Andererseits nahm Deutschland weiterhin 99 Sitze ein, obwohl am 1. Dezember 2009 in Art. 14 Abs. 2 Satz 4 EUV eine Obergrenze von 96 Abgeordneten in Kraft getreten war: Fürwahr eine Einladung, Beschlüsse des Europäischen Parlamentes als fehlerhaft anzugreifen. Hätte man die drei Protokolle im Paket vorgelegt, dann hätte die Gefahr bestanden, das Verfahren dadurch zu verzögern: Art. 48 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV macht den Verzicht auf den Regelfall der Einberufung eines Konvents davon abhängig, dass der Umfang der geplanten Änderungen die Einberufung eines Konvents nicht rechtfertigt. Hierfür hätte in diesem Fall dreier ausformulierter knapper Protokolle einiges gesprochen – unabhängig davon, ob man dieses Kriterium rein quantitativ oder doch auch qualitativ versteht.48 Aber Art. 48 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV verlangt auch eine Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Verzicht auf einen Konvent. Ob im Falle einer Bündelung der drei Protokolle im Europäischen Parlament die nach Art. 231 Abs. 1 AEUV notwendige Mehrheit der abgegeben Stimmen für den Verzicht auf einen Konvent zustande gekommen wäre, war keineswegs selbstverständlich: Die in den Protokollen betreffend Irland und die Tschechische Republik gefundenen Sonderwege waren auf dem klassisch exekutivlastigen Wege festgelegt worden, welcher die Verankerung der Konventsmethode im Primärrecht gerade ein Ende bereiten sollte.49 Das Europäische Parlament brennt nach dem 48 Vgl. Booß, in: Lenz / Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 48 EUV, Rn. 3; Heintschel von Heingegg, in: Vedder / Heintschel von Heingegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, Art. IV-443, Rn. 4 f. 49 Vgl. Suhr, Von der Notwendigkeit einer mit der Integration Schritt haltenden Rechtsgemeinschaft (Fn. 10), S. 4 f.
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Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages darauf, seine neuerlich gestärkten Befugnisse50 in die Waagschale zu werfen und dementsprechend waren bereits Forderungen nach der Durchführung eines Konvents laut geworden. Mit Blick auf Irland und die Tschechische Republik muss man feststellen, dass die Argumente gegen eine Bündelung der zur Ratifikation anstehenden Texte nicht minder für den nächsten Beitrittsvertrag gelten: Die jeweils in den Schlussfolgerungen gebrauchte Formulierung „zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages“ ist zunächst weithin so verstanden worden, dass die Protokolle dem Beitrittsvertrag mit Kroatien beigefügt und zusammen mit diesem ratifiziert werden sollten. Das mag vor dem Hintergrund der mühsamen und langwierigen Ratifikationsrunden nach dem Nizza-, dem Verfassungs- und dem Lissabon-Vertrag unter verfahrensökonomischen Gesichtspunkten prima facie durchaus plausibel gewesen sein. Bei genauerer Betrachtung wird man ein solches Verfahren einer formalen Koppelung beider Materien aber kaum empfehlen können: Ein solcher Vertrag müsste auf EU-Ebene die Voraussetzungen der Art. 48 Abs. 2 bis 5 EUV und Art. 49 EUV erfüllen. Dieses führt zu einer Kumulierung von verfahrensrechtlichen Anforderungen. Zwar ist man es in der EU von den großen Vertragsrevisionen her gewohnt, dass es im Stadium der Ratifikation um ein Alles oder Nichts geht. Das wird auch in Zukunft nach Art. 48 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV der Fall sein, wenn das Ergebnis eines Konvents vorgelegt wird. Damit ist allerdings die Verschränkung des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens und des Beitrittsverfahrens nicht zu vergleichen: Ganz bewusst sieht beispielsweise der EUV für einen Beitritt gemäß Art. 49 Abs. 1 Satz 3 EUV die Zustimmung des Europäischen Parlaments vor, während es einem ordentlichen Änderungsvertrag, der ja unter Umständen gerade über die Befugnisse des Europäischen Parlaments entscheidet, inhaltlich nicht zustimmen muss. Es erscheint sogar die Frage berechtigt, inwieweit eine formale Koppelung der Verfahren der Art. 48 und 49 EUV rechtlich überhaupt zulässig ist. Jedenfalls wäre es politisch fragwürdig, einen Europaabgeordneten, der beispielsweise im tschechischen Protokoll eine drohende Relativierung der Grundrechte-Charta erkennt und dieses deshalb ablehnen möchte, zugleich zu einer Ablehnung des Beitrittsvertrages mit Kroatien zu zwingen. Nichts anderes gilt für die innerstaatlichen Ratifikationsverfahren: Auch hier kann eine Koppelung zu einer Kumulierung der Anforderungen führen. Im Extremfall kann sie den Unterschied ausmachen, ob nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG die einfache Mehrheit in Bundestag und Bundesrat ausreicht oder eine Zweidrittelmehrheit nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG notwendig ist. Insofern wird man dazu raten, den Hinweis auf den „Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages“ rein temporal und nicht im Sinne einer formalen vertraglichen Einheit zu verstehen. Diese Verknüpfung sollte man weder Irland oder der Tschechischen Republik noch Kroatien oder Island zumuten. 50 Vgl. Streinz / Ohler / Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 63 ff.
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Das Beispiel der Übergangsregelungen im Hinblick auf das Europäischen Parlament scheint die Vorzüge einer schrittweisen separaten Ratifikation zu belegen: Die Einleitung dieses Vertragsänderungsverfahrens gelang geräuschlos.51 Am 6. Mai 2010 hat das Europäische Parlament dem Verzicht auf die Einberufung eines Konvents zugestimmt.52 Am 23. Juni 2010 wurde eine eintägige Regierungskonferenz durchgeführt. Die Mitgliedstaaten haben das Änderungsprotokoll unterzeichnet.53 Am 3. September 2010 hat die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf die innerstaatliche Ratifikation eingeleitet. 54 5. Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat In Deutschland war dieses erste ordentliche Vertragsänderungsverfahren auf Grundlage des Vertrages von Lissabon Anlass, die neuen Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente, ihre „Integrationsverantwortung“, wahrzunehmen. Ende 2009 wurden die nationalen Parlamente gemäß Art. 48 Abs. 2 Satz 3 EUV konsultiert.55 Das Vertragsänderungsverfahren warf im Wesentlichen drei Fragen auf: Erstens stieß im Deutschen Bundestag die dritte im Protokoll vorgesehene Variante für die Nachbesetzung der Sitze im Europäischen Parlament auf heftige Kritik: Danach soll es nationalen Parlamenten möglich sein, die erforderliche Zahl von Mitgliedern aus ihrer Mitte zu benennen. Diese Delegationslösung wurde insbesondere auf Wunsch Frankreichs aufgenommen.56 Zweitens war zu klären, in welcher Form der Deutsche Bundestag vor der Festlegung der Vertragsänderungen zu beteiligen 51 Siehe Dok. 13 / 10, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 17. Juni 2010, Ziffer 28; Dok. EUCO 11 / 10, Beschluss des Europäischen Rates über die Prüfung der von der spanischen Regierung vorgeschlagenen Änderungen der Verträge in Bezug auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments durch eine Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten und die Nichteinberufung eines Konvents. 52 Dok. P7_TA-PROV(2010)0147 und IPR(2010)05 – 05(74157), Beschluss des Europäischen Parlaments vom 6. Mai 2010 zu dem Vorschlag des Europäischen Rates, zur Änderung der Verträge wegen der Übergangsmaßnahmen in Bezug auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments keinen Konvent einzuberufen. 53 Siehe Dok. CIG 1 / 10, Protokoll zur Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag über die Europäische Union, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft beigefügt ist. 54 Bundesrats-Drucksache 541 / 10, Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni 2010 zur Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag über die Europäische Union, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft beigefügt ist. 55 Siehe Ratsdok. 17196 / 09 vom 4. Dezember 2009, abgedruckt in Bundesrats-Drucksache 8 / 10 (neu) vom 7. Januar 2010. 56 S. BT-Drs. 17 / 2127, S. 2; BT-Drs. 17 / 1460, S. 5; FAZ vom 19. 12. 2009, S. 4.
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war. Denn nach § 10 EUZBBG57 soll die Bundesregierung vor der Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen Einvernehmen mit dem Bundestag herstellen. Drittens stellte sich die Frage, auf welcher Grundlage und mit welcher Mehrheit die innerstaatliche Ratifikation erfolgen sollte, wobei nach der bisherigen Verfassungspraxis58 drei Varianten in Frage kamen, nämlich Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, nur Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG oder Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Eine Ratifikation auf Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG erfordert eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Eine Ratifikation nur auf Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erfordert eine einfache Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Schließlich erfordert eine Ratifikation nur auf Grundlage von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eine einfache Mehrheit im Bundestag und gar keine Zustimmung des Bundesrates. a) Inhaltliche Bedenken gegen das Änderungsprotokoll Im Zentrum der inhaltlichen Kritik an dem Änderungsprotokoll stand die dritte darin vorgesehene Möglichkeit für die Nachbesetzung der Sitze im Europäischen Parlament, wonach es nationalen Parlamenten möglich sein soll, die erforderliche Zahl von Mitgliedern aus ihrer Mitte zu benennen.59 Diese Variante c) entspricht dem ursprünglichen Art. 138 Abs. 1 EWGV60 bis zur Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahre 1979.61 Bedenken gegen diese Delegationslösung wurden zunächst auf Art. 14 Abs. 2 und 3 EUV gestützt. Art. 14 Abs. 3 EUV ordnet eine Direktwahl der Europaabgeordneten an. Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV weist dem Europäischen Parlament und nicht dem Europäischen Rat, dem Rat oder dem Ratsvorsitz das Initiativrecht für einen Beschluss über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zu. Beiden Argumenten ist indes entgegen zu halten, dass ein Änderungsprotokoll, sobald es nach Abschluss des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens gemäß Art. 48 Abs. 2 – 5 EUV in Kraft getreten ist, gleichrangiger Teil des Primärrechts wird.62 Es ist daher üblich, in Protokollen Übergangsregelungen zu verankern, wel57 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. 9. 2009, BGBl. I 2009, S. 3026. 58 Vgl. hierzu ausführlich Suhr, Von der Notwendigkeit einer mit der Integration Schritt haltenden Rechtsgemeinschaft (Fn. 10), S. 5 ff. 59 Siehe die BT-Drs. 17 / 235, 17 / 1179, 17 / 1460, 17 / 1568 und 17 / 2127; BT-Plenarprotokoll 17 / 40, S. 3910D-3921C und 17 / 49, S. 4994B-4994C. 60 Art. 138 Abs. 1 EWGV a.F. lautete: „Die Versammlung besteht aus Abgeordneten, die nach einem von jedem Mitgliedstaat bestimmten Verfahren von den Parlamenten aus ihrer Mitte ernannt werden“. 61 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976 (Direktwahlakt), ABl. EG 1976 Nr. L 278 / 1, BGBl. II 1977, S. 733.
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che die in EUV und AEUV enthaltenen Regelungen zeitweise modifizieren oder abbedingen. Bestes Beispiel ist das Protokoll über die Übergangsbestimmungen, welches gerade durch dieses Änderungsprotokoll ergänzt werden soll. Auch bei Beitrittsverträgen nach Art. 49 EUV kommt es immer wieder zu institutionellen Übergangsregelungen, beispielsweise einer zeitweisen Überschreitung der vertraglich vorgesehenen Obergrenzen für Mitgliederzahlen wie in Art. 14 Abs. 2 Satz 2 EUV, Art. 301 Abs. 1 AEUV oder Art. 305 Abs. 1 AEUV. Eine Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Regelung, die bestimmte Grundätze dem Vertragsänderungsverfahren entziehen würde, gibt es im EUV nicht. Nach Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV sind EUV und AEUV ausdrücklich gleichrangig, so dass es im Europarecht keine direkte Entsprechung zu der deutschen Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts gibt. Daher kann auch der Hinweis auf die grundlegenden demokratischen Garantien in den Verträgen, etwa in Art. 2, 6 und 10 EUV, zu keinem anderen Ergebnis führen. Die Grundrechte-Charta, die u. a. in Art. 39 Abs. 2 GRCh die Direktwahl des Europäischen Parlaments garantiert, wird in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV als mit den Verträgen rechtlich gleichrangig erklärt. Auch sie steht also nicht über den Verträgen und kann unter dem Gesichtspunkt der Normenhierarchie ein solches Änderungsprotokoll nicht verhindern. Nicht a priori ausgeschlossen erscheint eine Prüfung des Änderungsprotokolls am Maßstab der demokratischen Garantien in den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der EMRK, namentlich am Maßstab des Rechts auf freie Wahlen in Art. 3 ZP I, in dessen Anwendungsbereich auch die Wahlen zum Europäischen Parlament fallen.63 Allerdings ist auf den Übergangscharakter des Änderungsprotokolls hinzuweisen, welches die Folgen des unerwartet späten Inkrafttretens des Lissabon-Vertrages erst nach der Europawahl bis 2014 auffangen soll. Auch soll das Änderungsprotokoll einen verfassungsrechtlich äußerst problematischen Ist-Zustand beheben: Die Stimmenverteilung entspricht seit dem 1. Dezember 2009 nicht der vom Lissabon-Vertrag intendierten Gewichtung und die 99 deutschen Sitze liegen oberhalb der primärrechtlich geltenden Grenze von 96 Sitzen. Die Delegationslösung ist für die Versammlungen der Mehrzahl der internationalen Organisationen die Regel, beispielsweise entspricht die strittige Variante c) der entsprechenden Regelung für die Beratende Versammlung des Europarats in Art. 25 lit. a) Satzung Europarat. Die Abgeordneten, die auf diese Weise in Organe von internationalen Organisationen delegiert werden, sind in direkten Wahlen demokratisch gewählt, wenn die Siehe Art. 51 EUV. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 18. Februar 1999 (GK), Matthews / Vereinigtes Königreich, Nr. 24833 / 94, Rep. 1999-I. Vgl. hierzu in den Rs. C-145 / 04 und C-300 / 04 die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 6. April 2006 und das Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 12. September 2006. 62 63
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Wahl sich auch auf das nationale Parlament und nicht direkt auf die Versammlung der internationalen Organisation bezog. Fortbestehenden Bedenken mit Blick auf die Gewährleistung der Demokratie im jeweiligen nationalen Verfassungsrecht und der EMRK lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass die 12 betroffenen Mitgliedstaaten sich bei der Nachbesetzung für die Variante a) oder b) entscheiden. Dieses ändert allerdings nichts daran, dass alle Unionsbürger von Beschlüssen unter Mitwirkung nicht direkt gewählter Europaabgeordneter betroffen sein werden, wenn sich Frankreich erwartungsgemäß für Variante c) entscheidet. Eine gerichtliche Überprüfung des Änderungsprotokolls vor dem EuGH ist nicht zu erwarten: Dieser hat nicht die Aufgabe, das Primärrecht auf seine Gültigkeit zu überprüfen oder gar zu verwerfen. Eine gerichtliche Überprüfung des Änderungsprotokolls wäre aber denkbar im Rahmen der innerstaatlichen Ratifikation und Umsetzung. Hier könnte beispielsweise das jeweilige Zustimmungsgesetz zu dem Änderungsprotokoll am Maßstab des Demokratieprinzips überprüft werden und diese Überprüfung könnte zu dem Ergebnis führen, dass das nationale Verfassungsrecht eine oder mehrere der drei im Änderungsprotokoll eröffneten Varianten für die Nachbesetzung der Sitze ausschließt. Dieses betrifft vor allem die 12 Mitgliedstaaten, die nationale Regelungen zur Nachbesetzung ihrer zusätzlichen Sitze zu treffen haben. Ob hier auch die Verfassungsgerichte der übrigen 15 Länder, etwa das Bundesverfassungsgericht, angesprochen sein könnten, erscheint zweifelhaft, zumal leider auch unter dem Vertrag von Lissabon das Europawahlrecht stark national geprägt bleibt.64 Beeinträchtigt würde das Wahlrecht der Wähler der Staaten, die Variante c) zur Anwendung bringen, nicht aber das Wahlrecht aller Unionsbürger. Völlig ausgeschlossen erscheint es aber nicht: In seinem Lissabon-Urteil nimmt das Bundesverfassungsgericht weitgehende Ableitungen aus Art. 38 GG vor.65 Auch arbeitet es die europarechtlichen Garantien des Demokratieprinzips heraus.66 Da es allerdings die Rolle des Europäischen Parlaments im Vergleich zu den nationalen Parlamenten stark relativiert,67 relativiert es auch die entsprechenden wahlrechtlichen Anforderungen.68 64 Siehe Art. 223 Abs. 1 AEUV. Vgl. Wichard, in Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der EU, 2006, Art. I-21, Rn. 10 f.; Kluth, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2006, Art. 190 EGV, Rn. 7 ff. 65 Siehe BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 167 ff., 175 ff. Vgl. hierzu z. B. Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, S. 1197 (1206); Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along?, EuZW 2009, S. 724 ff. (726). 66 A. a. O., Abs.-Nr. 271. 67 A. a. O., Abs.-Nr. 276 ff. Vgl. Selmayr (Fn. 26), ZEuS 2009, S. 637 ff. (647 ff.); Terhechte, (Fn. 65), S. 724 ff. (729). 68 Auszug Abs.-Nr. 271 „Das Europäische Parlament ist als ein unmittelbar von den Unionsbürgern gewähltes Vertretungsorgan der Völker eine eigenständige zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation (vgl. BVerfGE 89, 155, 184 f.). Als Vertretungsorgan der Völker
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Der Deutsche Bundestag kritisierte, dass die Delegationslösung in Variante c) dem „Geist des Direktwahlaktes von 1976“ widerspreche.69 Im Ergebnis stellte er aber seine Bedenken mehrheitlich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen zurück unter Hinweis auf die Einmaligkeit der Situation und den von der französischen Seite dringend geäußerten Bedarf nach der Delegationslösung.70 b) Herstellung von Einvernehmen mit dem Bundestag über die Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der europäischen Verträge Parallel zu der Diskussion der Delegationslösung in Variante c) des Änderungsprotokolls zeigte sich Klärungsbedarf zur Handhabung von § 10 EUZBBG.71 Da mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und der Einleitung von Vertragsänderungsverfahren Mechanismen in Gang gesetzt werden, die faktisch-politisch erfahrungsgemäß kaum mehr zu stoppen sind, ordnet § 10 EUZBBG in Nachfolge von Ziffer VI der am 28. September 2006 zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung geschlossenen Vereinbarung72 an, dass vor Ingangsetzung dieser Prozesse Einvernehmen mit dem Bundestag hergestellt werden soll. Diese Regelung hatte bereits im Zusammenhang mit der Eröffnung der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon für Diskussionen gesorgt: Die Opposition war der Meinung, dass vor der Eröffnung der den Vertrag von Lissabon vorbereitenden Regierungskonferenz die Bundesregierung das Einvernehmen mit dem Bundestag hätte herstellen müssen.73 Dieses geschah unter erheblicher Kritik der Opposition erst nachträglich.74 Zunächst beigelegt wurde dieser Streit durch eine briefliche Zusage der Bundesregierung.75 Allerdings zeigte sich im Zusammenhang mit der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Island, dass der Klärungsbedarf fortbestand.76 in einer supranationalen und als solche von begrenztem Einheitswillen geprägten Gemeinschaft kann und muss es in seiner Zusammensetzung nicht den Anforderungen entsprechen, die sich auf der staatlichen Ebene aus dem gleichen politischen Wahlrecht aller Bürger ergeben“. 69 BT-Drs. 17 / 1179, BT-Plenarprotokoll 17 / 40, S. 3910D-3921C. 70 BT-Drs. 17 / 2127, BT-Plenarprotokoll 17 / 49, S. 4994B-4994C. 71 Siehe BT-Drs. 17 / 235, S. 3, Ziffer II.1. 72 Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union in Ausführung des § 6 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 28. September 2006, BGBl. I S. 2177. 73 Siehe u. a. BT-Drs. 16 / 5875, BT-Drs. 16 / 6632, S. 7 f., BT-Drs. 16 / 7139, BT-Drs. 16 / 12109, BT-Drs. 16 / 13205. Vgl. FAZ vom 3. 7. 2007, S. 4. 74 BT-Drs. 16 / 6399, BT-Plenarprotokoll 16 / 115, S. 11941D-11949C, BT-Plenarprotokoll 16 / 118, S. 12203B-12219C. 75 BT-Drs. 16 / 13169, BT-Plenarprotokoll 16 / 224, S. 24686B-24698C. 76 BT-Drs. 17 / 246, 17 / 260, BT-Drs. 17 / 271, 17 / 1059.
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Die Opposition war der Meinung, dass im Falle des § 10 EUZBBG die Bundesregierung den Bundestag förmlich ersuchen muss, das Einvernehmen herzustellen, was bedeutet, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bzw. die Einleitung von Vertragsänderungsverfahren voraussetzt, dass der Bundestag zuvor mit einfacher Mehrheit zugestimmt hat.77 Die Bundesregierung wollte § 10 entsprechend § 9 Abs. 4 EUZBLG handhaben. Dieser knüpft die Verpflichtung der Bundesregierung, Parlamentsvorbehalt einzulegen, ausdrücklich daran, dass der Bundestag tatsächlich eine Stellungnahme beschlossen hat und die Bundesregierung hiervon wesentlich abweichen will. Dieses hätte bedeutet, dass die Bundesregierung auch bei einer Nichtbefassung des Bundestages der Aufnahme der Verhandlungen hätte zustimmen können oder wenn beispielsweise kein Antrag im Bundestag eine Mehrheit bekommen hätte. In der Tat bereitet das Verständnis von § 10 EUZBBG Schwierigkeiten: § 9 Abs. 4 Satz 1 EUZBBG knüpft die Verpflichtung der Bundesregierung, Parlamentsvorbehalt einzulegen, ausdrücklich daran, dass der Bundestag tatsächlich eine Stellungnahme beschlossen hat und die Bundesregierung hiervon wesentlich abweichen will. Anders dagegen § 10 Abs. 2 EUZBBG. Dieser knüpft die Aufforderung, regelmäßig78 das Einvernehmen herzustellen, nicht ausdrücklich an das Vorliegen einer früheren Stellungnahme. Diese abweichende Regelung in § 10 EUZBBG lässt sich auch erklären: § 9 EUZBBG regelt allgemein die Möglichkeit einer Stellungnahme des Bundestages zu sekundärrechtlichen Vorhaben der Europäischen Union, die von unterschiedlicher Bedeutung und großer Anzahl sind. Demgegenüber betrifft § 10 EUZBBG mit Art. 48 und 49 EUV Situationen, die stets von immenser Bedeutung sind und seltener vorkommen. Die Ergebnisse der Verhandlungen müssen vor ihrem Inkrafttreten innerstaatlich ratifiziert werden, was es sinnvoll erscheinen lässt, die europa- und außenpolitisch kaum mehr rückholbare Weichenstellung der Verhandlungseröffnung stets mit einer politischen Selbstbindung des Bundestages in Form der Einvernehmenserteilung zu verbinden. Sucht man nach anderen Situationen, in denen von einer solchen Herstellung des Einvernehmens die Rede ist, fällt § 14 Abs. 1 EUZBLG ins Auge, der ebenfalls zu der jungen Begleitgesetzgebung des Lissabon-Vertrages gehört: Auch hier wird die Herstellung des Einvernehmens nicht davon abhängig gemacht, dass eine vorlaufende Stellungnahme des Bundesrates vorliegt.79 Schließlich spricht auch das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür, stets das Einvernehmen mit dem Bundestag herzustellen: Denn es betont die Integrationsverantwortung des Bundestages.80 In diesem Zusammenhang verlangt 77 78 79 80
Siehe BT-Drs. 17 / 235, 17 / 246, 17 / 260, 17 / 271. „Soll“, nicht „muss“. Siehe als weiteres Beispiel § 5 Abs. 3 a.F. EUZBLG. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 236 ff.
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es eine aktive tatsächliche Befassung des Bundestages und nicht nur die passive theoretische Zugriffsmöglichkeit.81 Eine solche tatsächliche Befassung ist nur in Form der ausdrücklichen Herstellung des Einvernehmens gesichert, nicht aber mit dem Hinweis darauf, dass der Bundestag hätte Stellung nehmen können. Die tatsächliche Herstellung des Einvernehmens liegt auch insofern einzig auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts, als sie es dem Bundestag nicht erlaubt, vor dem Hintergrund der strukturellen politischen Übereinstimmung zwischen Regierung und Mehrheitsfraktionen einer Entscheidung auszuweichen und diese der Exekutive zu überlassen. Sondern der Bundestag muss mit der Herstellung des Einvernehmens klar und aktiv Verantwortung für die Entscheidung übernehmen; und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem noch eine Einflussnahme möglich ist und noch kein ausgehandelter Vertrag auf dem Tisch liegt. Auch der Deutsche Bundestag hat im Ergebnis der Auslegung den Vorzug gegeben, die stets eine explizite Herstellung des Einvernehmens verlangt. So hat er im streitigen Ausgangsfall der Lissabon-Regierungskonferenz sein Einvernehmen nachträglich ausdrücklich erteilt und damit unterstrichen, dass er ein reines Absehen des Bundestages von einer Stellungnahme nicht für ausreichend hält, sondern die ausdrückliche Herstellung des Einvernehmens für notwendig hält.82 Im Falle des Änderungsprotokolls betreffend die Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments hat der Bundestag jeweils auf Antrag der Regierungsfraktionen der Einberufung einer Regierungskonferenz und den erwarteten Ergebnissen der Regierungskonferenz zugestimmt.83 Auch im Falle der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Island hat der Bundestag ausdrücklich sein Einvernehmen erklärt.84 Mithin hat sich in der Praxis geklärt, dass in den Situationen eines ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 2 – 5 EUV oder eines Beitritts nach Art. 49 EUV gemäß Art§ 10 EUZBBG stets das Einvernehmen mit dem Bundestag explizit hergestellt werden muss. Dieses erscheint angesichts der strukturellen politischen Übereinstimmung zwischen Bundestagsmehrheit und Bundesregierung ohne weiteres praktikabel und lässt die Integrationsverantwortung des Bundestages zur maximalen Entfaltung kommen. Zwar ist das Einvernehmen jeweils auf Grundlage von Anträgen der Regierungsfraktionen hergestellt worden. Zuvor hat es aber jeweils ausführliche parlamentarische Debatten gegeben, so dass für die betreffenden Fragen Öffentlichkeit hergestellt wurde. A. a. O., besonders deutlich in Abs.-Nr. 415 f. BT-Drs. 16 / 13169, S. 2, BT-Plenarprotokoll 16 / 224, S. 24686B-24698C (Auszug): „Der Deutsche Bundestag ( . . . ) erklärt der Bundesregierung sein Einvernehmen zu den Verhandlungen im Rahmen der Regierungskonferenz zur Änderung der europäischen Verträge ( . . . )“. 83 BT-Drs. 17 / 1179, BT-Plenarprotokoll 17 / 40, S. 3910D-3921C.; BT-Drs. 17 / 2127, BTPlenarprotokoll 17 / 49, S. 4994B-4994C. 84 BT-Drs. 17 / 1190, BT-Plenarprotokoll 17 / 37, S. 3515A-3528A. 81 82
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Neben diesen positiven Feststellungen bleibt aber auch die Erkenntnis, dass die neuen Beteiligungsrechte es nicht verhindern konnten, dass den nationalen Parlamenten wieder nur fertige Texte vorgelegt wurden. Diesmal lag das daran, dass der Inhalt des Änderungsprotokolls bereits vom Europäischen Rat Wort für Wort festgelegt wurde85 und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments auf einen Konvent verzichtet wurde. Hier wäre in Zukunft daran zu denken, nicht nur dem Europäischen Parlament, sondern auch einer Mindestzahl von nationalen Parlamenten das Recht zu geben, gemäß Art. 48 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV auf der Einberufung eines Konvents zu bestehen. Dabei könnte man sich an den Quoren des Art. 7 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit orientieren. c) Rechtsgrundlage der Ratifikation und erforderliche Mehrheiten Bei dem Entwurf des Zustimmungsgesetzes zu dem Änderungsprotokoll betreffend die Übergangsbestimmungen musste die Bundesregierung entscheiden, ob sie es nur auf Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, auf Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG oder auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG stützt.86 Dabei gab es seit Art. 23 GG im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht in das Grundgesetz eingefügt wurde noch keinen direkten Präzedenzfall: Die Zustimmungsgesetze zu Beitrittsverträgen hat die Bundesregierung regelmäßig nur auf Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gestützt,87 was bedeutet hätte, dass nur der Bundestag mit einfacher Mehrheit zustimmen muss. Der Bundesrat war der Ansicht, dass die richtige Rechtsgrundlage in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG zu suchen sei,88 was eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordert hätte. Da der Bundesrat aber den Beitritten jeweils mit breiter Mehrheit zugestimmt hat, kam es nicht zu einer Klärung. Die Zustimmungsgesetze zu den großen Vertragsrevisionen wurden zuletzt immer auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG gestützt.89 Der Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Nizza erhielt nur einen Hinweis auf Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, nicht aber auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG, was bedeutet hätte, dass Bundestag und Bundesrat nur mit einfacher Mehrheit zustimmen müssen.90 Allerdings setzte sich im GesetzgebungsverArt. 48 Abs. 2 EUV spricht von „Entwürfen“. Siehe ausführlich Suhr, Von der Notwendigkeit einer mit der Integration Schritt haltenden Rechtsgemeinschaft (Fn. 10), S. 5 ff. 87 Siehe zuletzt BT-Drs. 16 / 2293, 16 / 3155. 88 Siehe zuletzt BR-Drs. 360 / 06 (Beschluss). 89 Siehe zuletzt BT-Drs. 16 / 8300 (Vertrag von Lissabon), 15 / 4900 (Vertrag über eine Verfassung für Europa). 90 Siehe BT-Drs. 14 / 6146, S. 6. 85 86
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fahren die Auffassung durch, dass es sich doch um einen Fall des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG handelte.91 Das Lissabon-Urteil scheint das streitige Verhältnis von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG in zwei Punkten geklärt zu haben: Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht zweimal die Formulierung gebraucht „Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und gegebenenfalls Satz 3 GG“92 wird deutlich, dass es im Rahmen des Anwendungsbereichs des Art. 23 Abs. 1 GG in der Tat zwei Alternativen gibt: Die einfache Mehrheit in Bundestag und Bundesrat und die Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Davon war vielfach ohnehin ausgegangen worden, aber es war durchaus auch die Tendenz zu beobachten gewesen, im Zusammenhang mit Art. 23 Abs. 1 GG einen eigenen Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu verneinen und stets eine Zweidrittelmehrheit zu verlangen.93 Weiterhin scheint das Bundesverfassungsgericht für alle EU-Vertragsänderungsverfahren eine Spezialität des Art. 23 Abs. 1 GG anzunehmen, was bedeuten könnte, dass eine isolierte Anwendung von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und damit auch eine Primärrechtsänderung ohne Zustimmung des Bundesrates in Zukunft ausgeschlossen ist: „Für die europäische Integration gilt der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Hoheitsrechte nur durch Gesetz und mit Zustimmung des Bundesrates übertragen werden können. Dieser Gesetzesvorbehalt ist zur Wahrung der Integrationsverantwortung und zum Schutz des Verfassungsgefüges so auszulegen, dass jede Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts erfasst wird. Die Gesetzgebungsorgane des Bundes betätigen somit auch bei vereinfachten Änderungsverfahren oder Vertragsabrundungen, bei bereits angelegten, aber der Konkretisierung durch weitere Rechtsakte bedürftigen Zuständigkeitsveränderungen und bei Änderung der Vorschriften, die Entscheidungsverfahren betreffen, ihre dem Ratifikationsverfahren vergleichbare politische Verantwortung.“94
Nimmt man den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts hier wörtlich, dann ist in Zukunft für alle Vertragsänderungen (Art. 48 EUV) und wohl auch Beitritte (Art. 49 EUV) zumindest eine Zustimmung von Bundestag und Bundesrat mit einfacher Mehrheit nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG notwendig. Ob das Bundesverfassungsgericht wirklich ausnahmslos „jede Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts“ gemeint hat, erscheint allerdings zweifelhaft: Beispielsweise gehört die Satzung des EuGH als Protokoll gemäß Art. 51 EUV zum Primärrecht und kann gemäß Art. 281 AEUV im ordentlichen GesetzBT-Drs. 14 / 7172, S. 3, 5; BGBl. II 2001, S. 1666. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 319 und 412. 93 Vgl. z. B. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 ff. (423). 94 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs.-Nr. 243 (Auszug). 91 92
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gebungsverfahren, d. h. mit qualifizierter Mehrheit geändert werden. Auch eröffnet Art. 300 Abs. 5 AEUV in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 EUV bei wörtlicher Auslegung die Möglichkeit, die Regelungen des Art. 300 Abs. 2 und 3 AEUV per Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit zu ändern.95 Sieht man aber von diesen Beispielen ab, die nicht Gegenstand der im Übrigen umfänglichen Ausführungen des Lissabon-Urteils zur vereinfachten Vertragsänderung waren, dann liegt doch nahe, dass das Bundesverfassungsgericht eine Spezialität von Art. 23 Abs. 1 GG annehmen wollte. Für das Zustimmungsgesetz zu dem Änderungsprotokoll betreffend die Übergangsbestimmungen würde das bedeuten, dass nur noch zwischen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG zu entscheiden wäre. Bei dieser Überlegung sollte man sich zunächst vor Augen führen, dass die gesamte europäische Integration bis zum Vertrag von Maastricht auf Grundlage von Art. 24 Abs. 1 GG begründet wurde, also ohne Zweidrittelmehrheit. Dieses legt es nahe, den Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG auf Fälle zu begrenzen, in denen von den Vertragsänderungen entsprechende begründbare Wirkungen ausgehen, also etwa eine Ausweitung der Abstimmung im Rat mit qualifizierter Mehrheit oder eine Übertragung zusätzlicher Kompetenzen. Für das Änderungsprotokoll wird man einerseits sagen können, dass die Stimmenverteilung im Europäischen Parlament Machtfragen betrifft, zumal das Europäische Parlament seit dem Vertrag von Lissabon zum regelmäßigen Mitgesetzgeber geworden ist. Allerdings ist über diese Machtverteilung bereits im Vertrag von Lissabon entschieden worden. Das Änderungsprotokoll soll jetzt lediglich den Ist-Zustand den Vorgaben des Lissabon-Vertrages anpassen. Allerdings werden Deutschland vorübergehend bis 2014 99 Sitze zugestanden, obwohl seit dem 1. Dezember 2009 eine Obergrenze von 96 besteht: Für dieses vorübergehende Plus an politischem Gewicht für Deutschland wird man keine Zweidrittelmehrheit verlangen können. Betrachtet man den Regelungsumfang von Beitrittsverträgen und vergleicht diesen mit dem Regelungsumfang des Änderungsprotokolls, dann wird deutlich, dass man an das Änderungsprotokoll wohl kaum strengere Anforderungen stellen kann als man in Zukunft an Beitrittsverträge stellen will. Auch dieses spricht dafür, hier einen Anwendungsfall des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG anzunehmen. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf das hier gefundene Ergebnis, dass für das Zustimmungsgesetz zu dem Änderungsprotokoll nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG eine einfache Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig ist, nicht bestätigt, sondern nimmt einen Anwendungsfall nur des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG 95 Str. Vgl. Suhr, in Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der EU, 2006, Art. I-32, Rn. 35 f.; Kaufmann-Bühler, in: Lenz / Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 300, Rn. 17; Rosner, in Mayer (Hrsg.), EUV und AEUV, Art. 300 AEUV, Rn. 15 ff.; Epping, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, Art. I-32, Rn. 9.
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an. Es ist anzunehmen, dass der Bundesrat wie bei den bisherigen Beitrittsverträgen zwar der angegebenen Rechtsgrundlage widersprechen wird, aber in der Sache dem Änderungsprotokoll mit breiter Mehrheit zustimmen wird, so dass es wiederum nicht zu einer endgültigen Klärung kommt.96
IV. Schluss Wilfried Fiedler hat 1985 bei der Eröffnung des Studienjahres an der Universität des Saarlandes die Bedeutung des Vertragsänderungsverfahrens betont. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 bestätigt und dabei die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat herausgestellt.97 Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass der Vertrag von Lissabon keine „Endstation“ ist. Im Gegenteil bilden die EU-Verträge wie das Grundgesetz eine lebendige Verfassung, die auf funktionierende Änderungsverfahren angewiesen ist.98 Weitere Erweiterungsrunden sind absehbar und werden die legitime Frage nach neuen Übergangs- und Sonderregelungen aufwerfen. Der Europäische Bundesstaat ist eine Zukunftsvision, aber die Finanz- und Wirtschaftskrise hat weitgehende Überlegungen zur Haushaltskontrolle einschließlich entsprechender Änderungen des Primärrechts hervorgerufen. Die drei hier vorgestellten „Leftovers von Lissabon“ muten demgegenüber als Korrekturen im Detail an. Sie sind keine Musterbeispiele für die von Fiedler zu Recht beschriebene eigentliche Stärke des Europarechts, seine einheitliche Geltung und Durchsetzung. Im Gegenteil sind die von Irland und Tschechien durchgesetzten Protokolle Ausnahmen von dieser Regel. Der wirkliche rechtliche Gehalt dieser Protokolle ist schwierig zu ermitteln. Sie sollten einerseits von Anfang an verbindlich sein und harren andererseits noch ihrer Inkraftsetzung mittels des Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EUV. Insofern sind sie Beispiele dafür, in welchem Ausmaß die europäische Integration Kompromissbereitschaft und Flexibilität von allen Beteiligten verlangt.99 Deshalb ist es so wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes betont, die neue Ansätze für supranationale Herausforderungen eben gerade nicht a priori ausschließt.100 Das Änderungsprotokoll betreffend die Übergangsmaßnahmen im Hinblick auf das Europäische Parlament zeigt, dass es noch viel Diskussionsstoff zu Art. 48 f. EUV und der neuen deutschen Begleitgesetzgebung gibt. Vor allem aber zeigt die intensive Diskussion der nur vordergründig technischen Frage des Verfahrens zur Das Gesetzgebungsverfahren war bei Manuskriptabschluss noch nicht beendet. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10). 98 Vgl. Suhr, Von der Notwendigkeit einer mit der Integration Schritt haltenden Rechtsgemeinschaft (Fn. 10), S. 9. 99 Vgl. Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 60 ff. (62). 100 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, 2 BvE 2 / 08 u. a. (Fn. 10), Abs. -Nr. 225 ff. 96 97
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Nachbesetzung der 18 Sitze im Europäischen Parlament, zeigen Anzahl und Umfang der in diesem Zusammenhang angefallenen Parlamentsdrucksachen, dass der Deutsche Bundestag und der Bundesrat sich ihrer Integrationsverantwortung bewusst sind. Wilfried Fiedler hat, wie eingangs dargestellt, seinen Argwohn nie versteckt, wenn in einer juristischen Diskussion vorschnell Lösungen sui generis postuliert wurden. Das gilt gerade auch für das Europarecht, das er nie als aliud, sondern als integralen Bestandteil des internationalen öffentlichen Rechts begriffen hat. Der Vertrag von Lissabon hat als Vertrag der Parlamente und der Bürgerinnen und Bürger mit einem erheblichen Zugewinn an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz die Grundsätze verwirklicht, die im Mittelpunkt von Fiedlers Arbeit stehen: Die Richtung stimmt, der Rahmen ist gesetzt und kann nun politisch ausgefüllt werden.101
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Vgl. Fiedler (Fn. 1), JZ 1986, S. 60 ff. (63).
Verfassungen, internationale Verträge und das Recht der Europäischen Union im Wandel Verfassungsrechtliche, völkerrechtliche und europarechtliche Betrachtungen zum Wandel mittels Auslegung Von Michaela Wittinger* I. Einführung Innerstaatliche Verfassungen und völkerrechtliche Verträge teilen das Element einer ihnen innewohnenden Dynamik. Es sind Rechtsinstrumente, die nicht starr und statisch sind, sondern durch die zuständigen Organe, insbesondere Verfassungsgerichte oder auf Ebene der internationalen Verträge durch die Staaten, durch Internationale Organisationen oder Internationale Gerichte weiterentwickelt werden. Gerade daher werden völkerrechtliche Verträge, etwa wenn es sich um Gründungsverträge Internationaler Organisationen handelt, als „Verfassungen“ bezeichnet, ohne dass dies jedoch eine Identität oder Vergleichbarkeit der Gründung von Staaten und Internationalen Organisationen bedeutete.1 Die Flexibilität von Verfassungen und internationalen Verträgen kann zu einer Fortentwicklung von Vorschriften oder u.U. sogar des gesamten Rechtsinstruments führen, die weit über die Intention der Verfassungsväter oder der Gründungsmitglieder eines völkerrechtlichen Vertrages geht. Es ist die Verfassungspraxis und die Organisations- und Staatenpraxis, die die tatsächliche und rechtliche Weiterentwicklung innerstaatlicher Verfassungen und internationaler Abkommen bestimmen. Im Folgenden wird die Fortentwicklung des Grundgesetzes und die völkerrechtlicher Verträge, wie der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Satzung des Europarats, betrachtet; kurz wird ferner die Dynamik und Weiterentwicklung des Rechts der Europäischen Union beleuchtet. Im Zentrum steht der Wandel mit* Die Autorin ist Professorin für Öffentliches Recht (insbesondere Staatsrecht und Europarecht) an der Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung / Bereich Bundeswehrverwaltung, Mannheim und Privatdozentin an der Universität des Saarlandes. Der Jubilar ist Promotions- und Habilitationsvater der Autorin. Die Festschrift und dieser Beitrag sind ihm in Dankbarkeit gewidmet. 1 Näher dazu Wittinger, Der Europarat: die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, Baden-Baden 2005, S. 38 f.
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tels Auslegung durch nationale Gerichte und internationale Gerichte. Der Fokus liegt dabei auf der Auslegung, die geprägt oder veranlasst ist durch die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und durch technische Entwicklungen. Dies ist eine Frage, mit der sich bereits der Jubilar ausführlich befasst hat.2 Der Beitrag will damit eine Thematik aufgreifen, die im Œuvre von Wilfried Fiedler eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die wissenschaftlichen Verdienste des Jubilars für den Kulturgüterschutz würdigen bereits zahlreiche andere Beiträge in vorliegender Festschrift.
II. Verfassungsrecht und Verfassungswandel Bereits Wilfried Fiedler machte darauf aufmerksam, dass seit Georg Jellinek in der Staatsrechtstheorie die Funktion der Rechtsprechung für den Verfassungswandel unterstrichen und die Weiterentwicklung der Verfassung mittels Auslegung als zentrale Frage des Verfassungswandels ausgemacht wird.3 Mit der Gründung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Funktion, das Grundgesetz auszulegen4, wurde die Deutungshoheit über die Verfassung und damit der Schlüssel zum Verfassungswandel in die Hände dieses Gerichts gelegt. So hielt Rudolf Smend 1976 fest „(D)as Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt.“5 Und auch aus Anlass des 60. Geburtstages des Grundgesetzes, am 23. Mai 2009, hielt die Literatur zur Entwicklung des Grundgesetzes bestätigend fest, dass die tatsächliche Bedeutung des Grundgesetzes „vor allem durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts“ bestimmt wird.6 Das Bundesverfassungsgericht selbst hat für das aus „Erkenntnis, Bewertung und Entscheidung“ bestehende Prozedere der Verfassungsinterpretation bekanntlich mehrere Methoden definiert, nach denen es vorgeht, um den „objektiven Willen des Gesetzgebers“ zu ermitteln: die grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung7. Hinzukommt das auf Konrad Hesse, dem verehrten Lehrer des Jubilars8 zurückgehende Gebot, bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen die Einheit der Verfassung zu wahren und im Sinne „praktischer Konkordanz“9 zu lösen. Da der aktuelle Verfassungsinhalt durch Kon2 Dazu insgesamt Fiedler, Sozialer Wandel Verfassungswandel Rechtsprechung, AlberBroschur Rechts- und Sozialwissenschaft, Freiburg / München 1972. 3 Fiedler, ibidem, S. 26. 4 Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG. 5 In: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 330; dazu auch Lamprecht, NJW 2009, 1454. 6 Sachs, NJW 2009, 1441. 7 BVerfGE 11, 126 (130). 8 Siehe hierzu den Beitrag von Häberle in vorliegender Festschrift. 9 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg, Neudruck 20. Aufl. 1995, Rnr. 72.
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kretisierung je nach zugrundeliegendem Fall gegebenenfalls neu ermittelt werden muss, bedeutet Verfassungsinterpretation immer auch Fortbildung der Verfassung und damit Verfassungswandel. Wandel wird damit zur verfassungsrechtlichen Konstanten. Dem Verfassungswandel, den Fragen des Einflusses von „Zeit“, „sozialem Wandel“, technischem Fortschritt und „gesellschaftlichen Wandel“ sowie dem Verhältnis von Wandel und Verfassungsänderung hat sich der Jubilar bereits 1972 in seiner staatswissenschaftlichen Untersuchung10 gewidmet. Und auch später stellte er sich die Frage nach der Fortbildung der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht.11 Der Jubilar hat schon damals festgestellt, dass das Problem des Verfassungswandels der Verfassungstheorie Schwierigkeiten bereitet. Schwierigkeiten, die aus der „verfassungsrechtlichen Bewältigung des Zeitfaktors“ und dem Begriff des „sozialen Wandels“ resultierten und die sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspiegelten.12 Wilfried Fiedler legte dar, dass es gerade der Problemkomplex des „wissenschaftlich-technischen Fortschrittes“ und der hiermit vielfach verbundene „wesentlich undeutlicher konturierte Bereich ,gesellschaftlichen‘ Wandels“ ist, der die Rechtsprechung bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen zu deren Fortentwicklung veranlasst. Im Folgenden werden Beispiele aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt und problematisiert, die belegen, dass dies eine Erkenntnis ist, die nach wie vor gültig ist. Es sind Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der letzten Jahre, die zum einen den Bereich des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ betreffen. Zum anderen handelt es sich um Beispiele, die mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden sind. In beiden Bereichen fand jeweils eine Fortbildung des Grundgesetzes statt. 1. Verfassungswandel veranlasst durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt: genetischer Vaterschaftstest, Fotografier- und Aufnahmetechniken, Computer- und Informationstechnik Die Notwendigkeit aufgrund des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und damit einhergehender neuer Möglichkeiten und Verfahren den Einzelnen vor Gefährdungen verstärkt zu schützen, ist vorrangig im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht offenkundig geworden. Dieses Recht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, das vom Bundesverfassungsgericht präzisiert wurde13, enthält nach gefestigter Rechtsprechung das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und auf Selbstdarstellung:14 10 11 12 13
Fiedler, oben Fußn. 2. JZ 1979, 417 ff. Fiedler, oben Fußn. 2, S. 54 ff. und S. 109. Etwa: BVerfGE 54, 148 ff. (153); BVerfGE 99, 185 ff. (193); BVerfGE 101, 361 ff. (380).
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Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung der Selbstbestimmung stand im Mittelpunkt der heute für jedermann durch die Gentechnik geschaffenen Möglichkeit, mittels kommerzieller Labors Vaterschaftstests durchführen zu lassen – auch sog. anonyme. Im Kontext der Selbstbestimmungsfreiheit stellte das Bundesverfassungsgericht fest, einem Mann dürfe nicht verwehrt werden, zu klären, ob ein ihm rechtlich zugeordnetes Kind auch tatsächlich von ihm abstammt.15 Die Selbstbewahrung im Kontext der Veröffentlichung von Fotos aus dem Alltags- und Privatleben Prominenter hat das Bundesverfassungsgericht 1999 beschäftigt. Die Entwicklung von Aufnahmetechniken, die es ermöglichen, einen Menschen zu fotografieren und dabei, die räumliche Abgeschiedenheit zu überwinden, ohne dass der Betroffene dies bemerkt, veranlasste das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Fotos von Caroline v. Monaco, den Rückzug an abgeschiedene Orte – wie den dem unbemerkten Einblick entzogenen ruhigen Winkel eines Gartenlokals – als Teil der Privatsphäre zu bewerten, die von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst ist.16 Eine Grundrechtsverletzung insoweit wurde aber in diesem grundlegenden Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Bildberichterstattung und zum Verhältnis Persönlichkeitsschutz und Medienfreiheit abgelehnt. Daher erhob Caroline (mittlerweile) v. Hannover eine Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der 2004 zu ihren Gunsten urteilte und eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Deutschland bejahte.17 Die Kriterien der „absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte“ und der „örtliche Abgeschiedenheit“, die in jahrelanger Rechtsprechung zur Konkretisierung des Kunsturhebergesetzes von der deutschen Zivil- und Verfassungsrechtsprechung etabliert worden waren, genügten dem EGMR für den erforderlichen Schutz des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK und dem darin enthaltenen Recht am eigenen Bild nicht; da es in der EMRK kein allgemeines Persönlichkeitsrecht gibt, musste auf das Privatleben rekurriert werden. Der EGMR bezweifelte ausdrücklich, dass die Trennung in „absolute und relative Personen der Zeitgeschichte“ mit rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar sei; und auch das Kriterium der „örtlichen Abgeschiedenheit“ befand er als zu unbestimmt, um für den Betroffenen eine zuverlässige Einschätzung zu ermöglichen, ob er in einer bestimmten Situation Schutz seines Privatlebens erwarten darf oder nicht.18 Der Aufschrei in der deutschen Presselandschaft über das Urteil war groß, die deutsche Rechtsprechung „erschüttert“ 14 Im Einzelnen zur Rspr. Pieroth / Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Heidelberg, 25. Aufl. 2009, Rnr. 391 ff. 15 BVerfGE 117, 202 ff. (225 ff.). 16 BVerfGE 101, 361 ff. (383 ff.) – unter dem Aspekt der Privatsphäre / Abgeschiedenheit wurde aber eine Verletzung des Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgelehnt. 17 Caroline v. Hannover / Deutschland, Urt. v. 24. 6. 2004, Reports of Judgments and Decisions 2004-VI. 18 Ibidem, Rnr. 74 f.
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und die Pressefreiheit wurde als elementar bedroht bewertet.19 Dessen ungeachtet folgte der BGH dem EGMR im Frühjahr 2007 und gab sein früheres Konzept der „absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte“ auf. An die Stelle dieser Schablone setzte er eine einzelfallbezogene Interessenabwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Interesse des Abgebildeten an dem Schutz seiner Privatsphäre.20 Danach muss für das konkrete Bild begründet werden, warum gerade an seiner Veröffentlichung ein zeitgeschichtliches Interesse besteht. Bei der Beurteilung des zeitgeschichtlichen Interesses stellt der BGH auf den Informationswert ab. Grundlage für den Informationswert ist für den BGH das EGMR-Kriterium, ob ein Beitrag zu einer „Diskussion von allgemeinem Interesse“ erbracht wird. Der BGH legt dabei aber zunächst einen weiten Maßstab an – nicht nur historisch-politische Vorgänge, sondern auch unterhaltende Beiträge können einen relevanten Informationswert haben. Besteht dieser aber nur „wesentlich in der Unterhaltung ohne gesellschaftliche Relevanz“, ist laut BGH kein berücksichtigenswertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer Bildveröffentlichung gegen den Willen des Betroffenen gegeben. Der Prominente muss die Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsschutzes danach nicht ohne Einwilligung hinnehmen. Insgesamt betrachtet, nimmt damit der BGH im Ergebnis die vom EGMR geforderte Abwägung der Interessen im Einzelfall vor und orientiert sich an der EGMRVorgabe, dass ein Vorgang „von allgemeinem Interesse“ betroffen sein muss. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits bestätigte im Februar 2008 diese neue Rechtsprechung des BGH.21 Entscheidend ist für das Bundesverfassungsgericht die Abwägung der kollidierenden Rechtspositionen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz durch die Fachgerichte. Dieser Abwägung bedürfe es gerade bei unterhaltenden Inhalten, die es nicht aus der Pressefreiheit ausnimmt. Ferner prüft das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die EMRK, ob die Fachgerichte ihrer Aufgabe nachgekommen sind, die EGMR-Entscheidungen in die nationale Rechtsordnung „einzupassen“, also, ob die Maßgaben der EMRK hinreichend beachtet worden sind.22 Das Bundesverfassungsgericht nutzt zugunsten der Pressefreiheit geschickt den Auslegungsspielraum, den der EGMR belässt, wenn er – wie späteren Urteilen zu entnehmen ist, auf das sich das Bundesverfassungsgericht auch stützt – Berichte über das Privatleben von Personen außerhalb des staatlichen Lebens zulässt, sofern diese Berichte „jedenfalls zu einem gewissen Grade Angele19 Krit. zum Urt. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., München 2007, S. 234 m. w. N. 20 BGH, Urt. v. 6. 3. 2007 – VI ZR 51 / 06 (OLG HH), NJW 2007, 1977 ff. 21 BVerfG, Beschl. v. 26. 2. 2008 – 1 BvR 1602 / 07, NJW 2008, 1793 ff. 22 Zu dieser Formel, die aus dem Görgülü-Beschl. des BVerfG v. 14. 10. 2004 (2 BvR 1481 / 04) stammt, BVerfGE 111, 307 ff. = NJW 2004, 3407 (3411). Zum Konflikt zwischen BVerfG und OLG Naumburg, das sich weigerte das vorangegangene EGMR-Urteil Görgülü / Deutschland, Urt. v. 26. 2. 2004, NJW 2004, 3397 ff., zu beachten, s. EuGRZ 2006, 615 f. Zur Missverständlichkeit des Görgülü-Beschl., der Passagen enthält, die als Relativierung der Bedeutung der EGMR-Urteile im deutschen Recht verstanden werden können, näher Wittinger, Familienpraxis (frampa.ch) 2009, 100.
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genheiten des öffentlichen Interesses betreffen“23 oder wenn der EGMR für eine solche Angelegenheit auch den Kontext der Berichterstattung 24 heranzieht. Unerwähnt lässt das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass diese Fälle Gesetzesverstöße der Abgebildeten betrafen, eines Industriellen und eines Ehemannes einer Politikerin, und dass daher das „public interest“ bejaht wurde. Es ging hingegen nicht um typische Klatschpresse-Bildberichte aus dem Privatleben Prominenter. In Übereinstimmung mit dem EGMR hat das Bundesverfassungsgericht ferner der Bildbeschaffung durch Paparazzi eine Grenze gesetzt, wie zuvor schon der BGH, und einen erhöhten Schutzbedarf des Prominenten bei heimlichen Aufnahmen sowie bei beharrlicher Nachstellung anerkannt.25 Das Bundesverfassungsgericht hat damit die Reichweite des Persönlichkeitsschutzes Prominenter in unterhaltenden Medienberichten gegen Abbildungen über ihre Privat- und Alltagsleben deutlich ausgedehnt. Kritisch ist anzumerken, dass es die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Basis der Straßburger Vorgaben schwer vorhersehbar macht, wie die Abwägung im Einzelfall zwischen Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit ausfallen wird. Jedenfalls hat sich auch hier gezeigt, wie sich Verfassungsinhalte wandeln – jetzt hin zu einem stärkeren Schutz des Prominenten vor einer Bildberichterstattung über sein Privatleben, das durch die Fortentwicklung moderner Foto- und Aufnahmetechniken – bis hin zum relativ unbemerkten Fotografieren mittels Handy – eine immer zugänglichere Sphäre geworden ist. Ferner wird durch die Überwindung der zunächst bestehenden Rechtsprechungsdivergenz zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR zur Presseberichterstattung über Prominente, hin zu einer Akzeptierung der EGMR-Rechtsprechung grosso modo deutlich, wie ein Verfassungswandel nicht zuletzt auch durch europäisch-völkerrechtliche Einflüsse veranlasst wird. Anknüpfend an das Selbstdarstellungsrecht und den darin u. a. enthaltenen Schutz vor unerwünschter heimlicher Wahrnehmung der Person entwickelte das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil26 das Recht der informationellen Selbstbestimmung und legte damit den Grundstein zum Recht des Einzelnen auf Schutz vor Erhebung und Verarbeitung seiner Daten.27 Im Jahre 2008 war das Bundesverfassungsgericht aufgerufen, sich im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutzgesetz Nordrheinwestfalens mit den Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations- und Computertechnik und insbesondere auch des Internets auseinanderzusetzen. Den durch dieses Gesetz ermöglichten heimlichen Zugriff auf 23 Karhuvaara und Iltalethi / Finnland, Urt. v. 16. 11. 2004, Recueil des arrêts et décisions 2004-X, Ziff. 45. 24 Tønsbergs Blad und Haukom / Norwegen, Urt. v. 1. 3. 2007, abrufbar über die Entscheidungssammlung des EGMR im Internet (HUDOC), http: //www.echr.coe.int, Rnr. 87. 25 BVerfG, Beschl. v. 26. 2. 2008 – 1 BvR 1602 / 07, NJW 2008, 1793 (1797). 26 BVerfGE 65, 1 ff. (42 f.). 27 Dazu näher Pieroth / Schlink, oben Fußn. 14, Rnr. 399 ff.
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Computerdaten bewertete das Bundesverfassungsgericht als Verletzung des „Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als besonderer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“.28 Geschaffen wurde damit eine neue Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die der Fortentwicklung „informationstechnischer Systeme“ – vom Personalcomputer bis zum Internet – geschuldet ist. Zu Recht verwies das Bundesverfassungsgericht auf das durch diese Systeme eröffnete breite Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten, die zur Erzeugung, Verarbeitung und Speicherung von Daten führen und vor allem unterstrich es auch die Erzeugung von selbsttätigen weiteren Daten durch diese Systeme, die Aufschluss über Verhalten und Eigenschaften des Nutzers geben. Entscheidend war für das Bundesverfassungsgericht, dass außer der Persönlichkeitsentfaltung neue Persönlichkeitsgefährdungen durch diese Systeme und die Vernetzung eröffnet werden: Gefährdungen, die durch die technische Zugriffsmöglichkeit von Dritten zur Ausspähung oder Manipulierung von Daten des Einzelnen entstehen, wobei der Einzelne solche Zugriffe nur zum Teil wahrnehmen und nur begrenzt abwehren kann, da seine Schutzvorkehrungen unterlaufen werden können. Der Aspekt der Heimlichkeit und der mangelnden Wahrnehmungsmöglichkeit durch den Betroffenen aufgrund des technischen Fortschritts war – wie schon im Caroline I-Urteil von 1999 – damit ein entscheidender Aspekt. Den vorhandenen Grundrechtsschutz in Art. 10 GG29 und Art. 13 GG sowie durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht bewertete das Bundesverfassungsgericht als unzureichend, um den zunehmenden Gefahren der Informationstechnik zu begegnen, und sah die Schließung einer Lücke im Grundgesetz als erforderlich an.30 Da der Zugriff über einzelne Datenerhebungen erheblich hinausgehe, wurde insbesondere das einmal zur Wahrung persönlicher Daten geschaffene Recht der informationellen Selbstbestimmung als nicht mehr ausreichend bewertet. Das durch Auslegung ermittelte „neue Grundrecht“ soll laut Bundesverfassungsgericht einschlägig sein, wenn ein Dritter durch den Zugriff auf das informationstechnische System – genannt werden festinstallierte oder mobile Personalcomputer, Mobiltelefone oder elektronische Terminkalender – „einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung“ gewinnen „oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit“ erhalten kann.31 Betrachtet man die stetige Verbreitung der informationstechnischen Systeme wie Personalcomputer und Mobiltelefone, ergibt sich ein beträchtlicher Anwendungsbereich dieses neuen „,Computergrundrechts‘ mit dem sperrigen Namen“32; und auch wenn in der Literatur auf Abgrenzungsschwächen im Anwendungsbereich hingewiesen wurde33 – so kann die Erhebung von BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (824, Rnr. 166). An dieser Vorschrift scheiterte die sog. Vorratsdatenspeicherung, dazu BVerfG, 1 BvR 256 / 08, 1 BvR 263 / 08 und 1 BvR 586 / 08, Urt. v. 2. 3. 2010, NJW 2010, 833. Dazu Wolff, NVwZ 2010, 751 ff. 30 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (825 f., Rnr. 181 ff.). 31 Ibidem, 822 (827, Rnr. 203). 32 Kutscha, NJW 2008, 1044. 28 29
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Kontodaten anders als vom Bundesverfassungsgericht angenommen34 mit Blick auf das homebanking auch von dem neuen Grundrecht und nicht nur dem informationellen Selbstbestimmungsrecht umfasst sein – stellt die Schaffung des „neuen Computergrundrechts“ angesichts der zunehmenden „Computerisierung“ des Alltags einen bedeutenden Schritt für den Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen dar. Mit Blick auf das hiesige Thema des Verfassungswandels wird in dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts offenbar, wie auf Ebene der Verfassung auf geänderte technische Entwicklungen reagiert werden kann – und muss. Zugleich wird deutlich, dass – wie der Jubilar 1979 bereits feststellte35 –, zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt auch die gewandelten Lebensverhältnisse hinzukommen, die eine Fortbildung der Verfassung auslösen. Gewandelte Lebensverhältnisse, wie sie sich hier in der gestiegenen Nutzung von Computern und des Internets durch große Kreise der Bevölkerung manifestieren, welche wie das Bundesverfassungsgericht feststellte, „mehr und mehr zum Normalfall“36 geworden ist. Verfassungsfortbildung offenbart sich hier in Form der Neuschöpfung einer Grundrechtsausprägung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die zunehmende „Computerisierung“ zeigt sich nicht nur in der Verwendung von Personalcomputern im privaten Bereich, sondern auch im öffentlichen Bereich, etwa im Einsatz von Wahlcomputern, der zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2009 zu den Anforderungen an die Öffentlichkeit der Wahl führte.37 In Auslegung dieses Wahlöffentlichkeitsgrundsatzes, der aus Art. 38 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG abgeleitet wird und als Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung gesehen wird38, folgerte das Bundesverfassungsgericht, dass die öffentliche Überprüfbarkeit aller wesentlichen Schritte der Wahl sichergestellt sein muss. Die Entscheidung über den Einsatz von Wahlgeräten hat danach der Gesetzgeber zu treffen, wobei sein Ermessen vom Bundesverfassungsgericht nicht dahingehend überprüft wird, ob zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden wurden; den Einsatz von Wahlcomputern, die die Stimmen der Wähler elektronisch erfassen und das Wahlergebnis elektronisch ermitteln, sieht das Bundesverfassungsgericht nur unter engen Voraussetzungen als mit dem Grundgesetz vereinbar an. So muss der Wähler selbst “ – auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse – nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung . . . unverfälscht erfasst wird.“.39 Das im Jahre 2008 kreierte Grundrecht auf Gewährleistung Kutscha, ibidem, 1042 f. BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (836, Rnr. 313 ff.), dazu krit. Kutscha, ibidem, 1043. 35 Fiedler, oben Fußn. 2, S. 54 ff. 36 BVerfG, Urt. v. 27. 2. 2008, NJW 2008, 822 (824, Rnr. 174). 37 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2009, EuGRZ 2009, 125 ff., abrufbar und im Folgenden zitiert nach www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen /. 38 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2009, ibidem, Rnr. 106 ff. 39 BVerfG, Urt. v. 03. 03. 2009, ibidem, Rnr. 119. 33 34
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der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme scheint auch in dieser Entscheidung auf, wenn der „Wähler nicht darauf verwiesen werden (darf), nach der elektronischen Stimmabgabe alleine auf die technische Integrität des Systems zu vertrauen“.40 Daher sind für das Bundesverfassungsgericht Wahlgeräte erforderlich, in denen die Stimmen nicht nur elektronisch erfasst werden, sondern die auch z. B. ein für den jeweiligen Wähler sichtbares Papierprotokoll ausdrucken, das zur Ermöglichung einer Nachprüfung gesammelt wird.41 Auch das grundrechtsgleiche Wahlrecht erfuhr damit im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Wahl eine Fortentwicklung in dem Sinne, dass Wahlcomputer grundsätzlich zulässig sind, allerdings nur unter den genannten Voraussetzungen. 2. Grundgesetz und gesellschaftliche Entwicklungen Gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen sind seit Bestehen des Grundgesetzes insbesondere in zwei grundrechtsrelevanten Bereichen zu verzeichnen, die hier herausgegriffen werden: zum einen die Veränderungen im Hinblick auf Familie, Ehe und Scheidung sowie Lebenspartnerschaften, zum anderen die Ausbreitung des Islam und seiner Symbole mit den damit einhergehenden Fragen u. a. zur Religionsfreiheit. In der Literatur wurde anlässlich des 60. Geburtstages des Grundgesetzes treffend dargelegt, wie sich das verfassungsrechtliche Eheverständnis seit der Schaffung des Grundgesetzes 1949 gewandelt hat und dies bei, oder trotz, des unveränderten Wortlauts des Art. 6 Abs. 1 GG: „Es war ein langer Weg von 1949 bis 2009. Er reicht von einem Ehebegriff, der die Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau nur in der Ehe erlaubte . . .bis zur freien Beziehung zwischen Mann und Frau, die, das entsprechende Einverständnis vorausgesetzt, sogar das Polygamieverbot haben leerlaufen lassen. . . . Scheidung ist inzwischen zu einem Pendant der Ehe geworden. Die dauerhafte Verbindung gleichgeschlechtlicher Partner, früher im Einzelfall strafbar, ist legalisiert. Der Mann als Haupt der Familie hat ausgedient. Über die Rollenverteilung in der Ehe entscheiden die Ehegatten selbst.“42 Das Bundesverfassungsgericht seinerseits hat stets unterstrichen, dass der Gesetzgeber, die wesentlichen, das „Institut der Ehe bestimmenden Strukturprinzipien“ zu beachten habe43 und darauf abgestellt, die Ehe werde nicht abstrakt gewährleistet durch Art. 6 Abs. 1 GG; entscheidend sei die verfassungsgeleitete Ausgestaltung, wie sie „den herrschenden“, in den gesetzlichen Regelungen maßgeblich zum Ausdruck gelangenden „Anschauungen“ entspricht.44 So wurde etwa entschieden, das „nach den heutigen Gegebenheiten“ die Aufgabenverteilung in der 40 41 42 43 44
Ibidem, Rnr. 120. Ibidem, Rnr. 121 ff. Zuck, NJW 2009, 1449 ff. (1453). BVerfGE 31, 58 (69 f.); BVerfGE 62, 323 (330) = NJW 1983, 511. BVerfGE 15, 328 (332); BVerfGE 31, 58 (82 f.); BVerfGE 53, 224 (245).
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Ehe in erster Linie der freien Entscheidung der Ehegatten unterliege.45 Die Verfassungsnorm ist damit offen für einen Bedeutungs- und Wertewandel von Ehe- und Familie oder, wie formuliert wurde, für den „jeweiligen Zeitgeist“.46 Er kann zu einem Wandel der Verfassung selbst führen. Ob ein gesellschaftlicher Bedeutungswandelt eingetreten ist, entscheidet das Bundesverfassungsgericht, das den, nur einen Rahmen vorgebenden, Inhalt der Institutsgarantie näher bestimmt.47 Eine andere gesellschaftliche Veränderung fand im Zuge der Migration mit der Ausbreitung des Islam statt. Und nicht selten wird „der“ Islam, den es so nicht gibt48, dabei als Hauptgefahrenquelle für die religiöse Freiheit in der Gesellschaft ausgemacht.49 Hatte sich bislang die grundrechtliche Auseinandersetzung zur Religionsfreiheit50 – von den Zeugen Jehovas abgesehen51 – um die christliche Religion gedreht, insbesondere um das Kruzifix in der staatlichen Pflichtschule52, ging es ab den 90er Jahren um rechtliche Fragen der Zementierung des Islam. Im Zentrum53 und als Symbol – mitunter auch als Synonym – für „den“ Islam stand dabei das Kopftuch. Ein Verbot für Lehrerinnen, in der Schule ein religiös motiviertes Kopftuch zu tragen, scheiterte an der damals fehlenden landesgesetzlichen Grundlage.54 Das Bundesverfassungsgericht verwies darauf, dass der „mit zunehmender Pluralität verbundende gesellschaftliche Wandel“ für den Gesetzgeber Anlass sein kann, das zulässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen.55 Dies haben die Länder zwischenzeitlich getan. Im Hinblick auf ihren Versuch, entgegen der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen56 eine Sonderbehandlung christlicher Symbole zu zementieren, wie etwa im Schulgesetz Baden-Württembergs57, ist die verfasBVerfGE 39, 169 (183); BVerfGE 105 1 (10). Zuck, NJW 2009, 1149 ff. (1453); s. auch Würtenberger, Zeitgeist und Recht 1987, S. 89 ff. 47 Dazu auch Zuck, ibidem. 48 Zur Kontroverse um die Inhalte und zu den unterschiedlichen Strömungen Wittinger, Christentum, Islam, Recht und Menschenrechte, Otto von Freising Vorlesungen der Kath. Universität Eichstätt, Bd. 27, Wiesbaden 2008, S. 45 ff. (47). 49 Dazu näher Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 7 (9 ff. m. w. N.). 50 Zu den Entwicklungen im Rahmen seines Rückblicks auf 60 Jahre GG Sachs, NJW 2009, 1441 (1447 f.). 51 Zum Selbstbestimmungsrecht und zu den Anforderungen an Religionsgesellschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts werden wollen BVerfGE 102, 370 (384 ff.). Zum Vorschlag, den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts aus Gleichbehandlungsgründen abzuschaffen, Sacksofsky, oben Fußn. 49, S. 7 (26 ff.). 52 BVerfGE 93, 1 (15 ff.). 53 Zum Schächtverbot BVerfGE 104, 337 (345 ff.) (Anspruch eines muslimischen Metzgers auf eine Ausnahmegenehmigung). 54 BVerfGE 108, 282 ff. 55 BVerfGE 108, 282 ff. (LS 2. und 309 ff.). 56 BVerfGE 108, 282 (300). 45 46
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sungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Diskussion allerdings noch nicht beendet. Ferner wurde im November 2009 durch den EGMR die „Kruzifix-Debatte“ für die Mitgliedstaaten neu eröffnet, wobei es sich aus deutscher Sicht um ein „déjà-vu“ handelt.58 3. Die Dynamik des Grundgesetzes Das Grundgesetz ist damit gekennzeichnet von einer Offenheit für Entwicklungen, seien sie wissenschaftlicher-technischer oder gesellschaftlich und sozialer Art. Unter der Geltung von vom Wortlaut her unverändert gebliebener Normen lässt das Grundgesetz, wie die aufgeführten Beispiele zeigen, diese Einflüsse und einen Bedeutungswandel zu: die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vollzieht diesen Wandel mittels zulässiger Auslegungen von Verfassungsnormen. Durch diesen Wandel ändert sich daher der Inhalt und das verfassungsrechtliche Verständnis von Verfassungsbestimmungen. Anders formuliert, dass Grundgesetz ist ein „dynamisches“ Instrument oder ein „living instrument“. Dies ist eine Bezeichnung, die der Rechtsprechung des EGMR entlehnt ist, der sie für die Europäische Menschenrechtskonvention geprägt hat; hierauf wird im Folgenden noch näher eingegangen.59 An hiesiger Stelle bleibt festzuhalten, dass die bisher hergebrachte Auflistung der Auslegungsmethoden des Grundgesetzes – grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung – diesen dynamischen Aspekt nicht offen benennen. Wenn das Bundesverfassungsgericht jedoch auf die „heutigen Gegebenheiten“60 oder den „gesellschaftlichen Wandel“61 rekurriert und damit auf veränderte Realitäten, auf den gewandelten „Zeitgeist“ oder auf neue gesellschaftliche Auffassungen, bedeutet dies nichts anderes, als das Grundgesetz „dynamisch“ zu interpretieren. Die „dynamische“ Auslegung kann dabei in das bisherige Auslegungssystem integriert werden und als ein Unterfall der teleologischen Interpretation betrachtet werden.62
57 Zur entsprechenden Problematik im baden-württembergischen Kindergartengesetz näher Wittinger, VBlBW 2006, 169 ff. 58 Lautsi / Italien, Urt. v. 3. 11. 2009; siehe dazu den Beitrag von Streinz in dieser Festschrift. 59 Dazu sogleich, unter IV. 1. 60 Hierzu oben Fußn. 45. 61 Oben Fußn. 55. 62 Vgl. Grabenwarter, oben Fußn. 19, § 5, Rnr. 12 ff. (zur EMRK).
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III. Völkerrechtliche Verträge im Wandel: das Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europaratssatzung 1. Die dynamische Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention Der EGMR selbst beschreibt die EMRK als „living instrument, which must be interpreted in the light of present day conditions“63, ein Rechtsprechungsgrundsatz, den der Gerichtshof als in seiner Rechtsprechung „fest verankert“ sieht.64 Es ist eine Auslegungsmethode, die als „dynamisch“ oder „evolutiv“ beschrieben werden kann.65 Sie wird vom Gerichtshof, wie das Zitat zeigt, damit begründet, dass die Konvention ein sich fortentwickelndes Instrument ist, auszulegen im Lichte der heutigen Verhältnisse, d. h. im Lichte der in den demokratischen Gesellschaften der Vertragsstaaten aktuell vorherrschenden Bedingungen und nicht nur nach den mutmaßlichen Ansichten der Verfasser der Konvention. Die evolutive Auslegung bedeutet damit, dass die Begriffe der Konvention selbständig zu interpretieren und der EGMR rechtsschöpfend tätig ist. Sie ermöglicht es dem Gerichtshof, die EMRK den heutigen, tatsächlichen und sich verändernden Gegebenheiten anzupassen. Aus Sicht der Mitgliedstaaten der EMRK kann dies sogar zur Überschreitung der Grenzen, die der Wortlaut der EMRK-Bestimmungen zieht, führen oder zu Auslegungen, die vom – jedenfalls ursprünglichen Willen – der Vertragsstaaten nicht mehr gedeckt sind. In der Literatur wird die „dynamische“ Auslegung des Straßburger Gerichtshofs daher abgelehnt, wenn sie nicht von einer „subsequent practice“ gedeckt sei, da die Bereitschaft von Vertragsstaaten, sich an Menschenrechtsschutzinstrumente zu binden, geschmälert werde.66 Allerdings ist festzuhalten, dass diese durch die EGMR-Rechtsprechung zementierte Besonderheit der Konventionsauslegung es ermöglicht hat, gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen in den EMRK-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Jedenfalls für die EMRK ist im übrigen auch nicht ersichtlich, dass die Bereitschaft der EMRK-Mitgliedstaaten, die Jurisdiktion des EGMR zu akzeptieren – auch im Hinblick auf diese Auslegungsmethode – nicht vorhanden sei. Besonders deutlich zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zum Schutz des Familienlebens in Art. 8 EMRK67, dass mittels der evoluti63 Etwa Tyrer / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 25. 4. 1978, Série A Nr. 26, Ziff. 31, Marckx / Belgien, Urt. v. 13. 06. 1979, Série A Nr. 41, Ziff. 31. 64 Louizidou / Türkei, Urt. v. 23. 3. 1995, Série A Nr. 310, Ziff. 71. 65 Dazu bereits Wittinger, Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, Baden-Baden 1999, S. 43; ferner Grabenwarter, oben Fußn. 60, § 5, Rnr. 12 ff. (als Unterform der teleologischen Interpretation). 66 Kempen / Hillgruber, Völkerrecht, München 2007, S. 326 f. 67 Im Einzelnen dazu Wittinger, Familienpraxis (frampa.ch) 2009, 84 ff.
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ven Auslegungsmethode auf gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen in den EMRK-Mitgliedstaaten reagiert wurde. So war zur Entstehungszeit der EMRK unproblematisch, dass die in Art. 8 EMRK geschützte „Familie“ aus einem verheirateten Ehepaar und seinen minderjährigen Kindern besteht, also das Modell der europäischen Klein- oder Kernfamilie geschützt war. Die Berücksichtigung veränderter gesellschaftlicher Gegebenheiten mittels der „dynamischen Auslegung“ ermöglichte es dem EGMR, auch die Gemeinschaft von unverheirateten Eltern und ihren nichtehelichen Kindern und insbesondere auch die Einzelverbindung in den Schutzbereich einzubeziehen: sowohl die zwischen Mutter und ihrem nichtehelichen Kind – wie der Gerichtshof bereits 1979 in seinem leading case zum Nichtehelichenrecht, Marckx gegen Belgien, entschied68 –, als auch die zwischen dem Vater und seinem nichtehelichen Kind – wie es seit 1994 ständige Rechtsprechung ist.69 Seither ist die Frage nach der Rechtsposition des Vaters eines nichtehelichen Kindes, entweder im Vergleich zu derjenigen der Mutter, zu Vätern ehelicher Kinder oder die Position von Vätern in nationalen Verfahren häufig Gegenstand der Urteile des EGMR: der Gerichtshof hat hier – ermöglicht durch die „dynamische“ Auslegungsmethode – deutlich die Rechte des Vaters, der an seinem Kind „interessiert“ ist, gestärkt.70 Darüber hinaus hat der EGMR auch neue Themen zum Bereich „Familienleben“, die ihm in den Individualbeschwerden unterbreitet wurden, in Angriff genommen bzw. nehmen müssen: etwa zu Vaterschaftsfragen und Vaterschaftsanfechtung, zur freien Entscheidung gegen eine genetische Elternschaft im Kontext der Reproduktionsmedizin und zur Thematik der anonymen Geburt. In anderen Bereichen – dem Lebensschutz in Art. 2 EMRK – musste sich der EGMR z. B. der Frage stellen, ob es die EMRK gebietet, Sterbehilfe rechtlich zuzulassen.71 Dabei spielt im Zusammenhang mit der „dynamischen Auslegung“ häufig eine Rolle, ob bereits eine Harmonisierung und ein gemeinsamer Standard in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ausgemacht werden kann; eine Entwicklung, der der EGMR bei seiner Entscheidungsfindung stets Gewicht beimisst und an deren Anfang ein gesellschaftlicher Wandel steht, der dann seinen Eingang in die nationalen Rechtsordnungen – und später in die EMRK – findet. Ist hingegen noch kein Konsens in einer Frage erreicht und geht es insbesondere um „schwierige Fragen von Moral und Ethik“72, räumt der EGMR den Staaten eine weitere Ermessensmarge ein als sonst. So hat der EGMR klargestellt, dass ein Recht auf freie Entscheidung für oder gegen eine genetische Vaterschaft besteht73 und weiter, dass Staaten die anonyme Geburt gestatten dürfen.74 Ferner hat der Série A Nr. 31, Ziff. 41 = EuGRZ 1979, 454 ff. Keegan / Irland, Urt. v. 26. 05. 1994, Série A Nr. 290, Ziff. 55 ff. 70 Im Einzelnen dazu und zum Folgenden Wittinger, oben Fußn. 65, 35 ff. 71 Pretty / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 29. 4. 2002, Recueil des arrêts et décisions 2002-III, Ziff. 42 ff. 72 Evans / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 10. 04. 2007, Große Kammer, NJW 2008, 2014, Ziff. 72. 73 Evans / Vereinigtes Königreich, ibidem. 68 69
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EGMR in Weiterentwicklung seiner früheren Rechtsprechung festgehalten, dass ein Zwang zum Führen eines gemeinsamen Familiennamens – also die zwingende Aufgabe des Mädchennamens für eine verheiratete Frau – gegen die EMRK verstößt.75 Ebenso sieht der EGMR mittlerweile die Ablehnung einer Adoption allein aufgrund der homosexuellen Orientierung des Adoptionswilligen als Verstoß gegen Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK an76, eine Frage die sechs Jahre zuvor, im Jahre 2002, noch gegenteilig entschieden wurde.77 Schließlich zeigt auch die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zur Transsexualität, dass die entsprechenden innerstaatlichen Rechtsentwicklungen und damit auch gesellschaftliche Veränderungen relevant sind: der EGMR unterstellte die sexuelle Selbstbestimmung und das Recht zur Geschlechtsänderung Art. 8 EMRK und leitete eine positive Pflicht des Staates ab, in alltäglichen Dokumenten, wie einem Pass, die Geschlechtsänderung vorzunehmen78; ein Anspruch auf völlige rechtliche Anerkennung wurde vom Gerichtshof aber 1990 und auch noch 1998 abgelehnt.79 Im Jahre 2002 wandte sich der EGMR ausdrücklich von dieser bisherigen Rechtsprechung ab und legte den EMRK-Staaten die Pflicht auf, die Geschlechtsumwandlung rechtlich in jeder Hinsicht anzuerkennen und damit etwa auch die Eingehung einer Ehe zu ermöglichen.80 Die Rechtsprechung des EGMR ist damit das Beispiel par excellence für die „dynamische“ Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages oder einer „Verfassung“, als die man die EMRK trotz aller Abstriche, die im Vergleich zu nationalen Verfassungsdokumenten zu machen sind81, auch bezeichnen kann. Es ist eine In74 Odièvre / Frankreich, Urt. v. 13. 02. 03, Große Kammer, NJW 2003, 2145. Im Einzelnen zu diesem Urteil die Bspr. von Wittinger, Anonyme Geburt – endlich Klarheit?, NJW 2003, 2138 ff. 75 Tekeli / Türkei, Urt. 16. 11. 2004, Recueil des arrêts et décisions 2004-X, Zif. 61. 76 E.B. / Frankreich, Urt. v. 22. 01. 2008, Ziff. 70 ff., abrufbar über die HUDOC-Datenbank des EGMR, oben Fußn. 25. 77 Fretté / Frankreich, Urt. v. 26. 02. 2002, Recueil des arrêts et décisions 2002-I, Ziff. 32. Vgl. ferner zur Adoption durch den Lebenspartner und der damit nach innerstaatlichem Recht einhergehenden Aufhebung der Verwandtschaft mit der Mutter – mangels Heirat – Emonet / Frankreich, Urt. v. 13. 03. 2008, abrufbar über HUDOC, ibidem. 78 B / Frankreich, Urt. v. 25. 3. 1992, Série A Nr. 232-C, Ziff. 49 ff. 79 Cossey / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 27. 9. 1990, Série A Nr. 184, Ziff. 38 ff.; Sheffield und Horsham / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 30. 7. 1998, Recueil des arrêts et décisions 1998-V, Ziff. 51 ff. 80 Goodwin / Vereinigtes Königreich, Urt. v. 11. 7. 2002 (Große Kammer), Recueil des arrêts et décisions 2002-VI, Ziff. 71 ff. 81 Zur EMRK als partiell materieller Verfassung Ress, BDGVR 23 (1982), S. 9 mwN; zur EMRK als „Konstitutionalisierungsprozess“ Walter, ZaöRV 59 (1999), 961 ff.; zur EMRK als „Grundrechtsverfassung“ Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 ff. (353 ff.); zur EMRK (und zur Europäischen Sozialcharta) als „europäische Verfassung im weiteren Sinn“ Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozess, Berlin et al., 2003, S. 91 ff. und 146; zu den Interdependenzen zwischen nationalem Verfassungsrecht, EMRK und Gemeinschaftsrecht: Langenfeld / Zimmermann,
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terpretationsart, die nationalen Rechtsvorstellungen und Wertungen und deren Wandel in den mitgliedschaftlichen Rechtsordnungen und Gesellschaften Rechnung trägt. 2. Die Weiterentwicklung der Europaratssatzung a) Die Satzung des Europarats als „Verfassung“ Bei der Satzung des Europarats82 handelt es sich um den Gründungsvertrag einer Internationalen Organisation. Sie definiert Zweck und Ziele des Europarates (Art. 1), regelt seine Zusammensetzung und die Voraussetzungen einer Aufnahme und Mitgliedschaft (Art. 2 bis Art. 9), enthält allgemeine Bestimmungen über Rechtsstellung und Funktion seiner Organe (Art. 10 bis Art. 37), über seine Finanzierung (Art. 38 und Art. 39) sowie über die Vorrechte und Immunitäten seiner Mitglieder (Art. 40). Ferner klärt die Satzung auch, wie sie geändert werden kann (Art. 41). Es gibt aber keine Vorschrift dazu, wie die Satzung auszulegen ist und wer hierzu berechtigt ist. Im Völkerrecht ist anerkannt, dass Gründungsverträge Internationaler Organisationen als völkerrechtliche Verträge zu qualifizieren sind, als solche aber auch „verfassungsrechtliche“ Elemente enthalten, die sie von einem „gewöhnlichen“, auf einen Austausch von Leistungen ausgerichteten völkerrechtlichen Vertrag unterscheiden.83 Dies gilt auch für die Satzung des Europarats: als Gründungsvertrag des Europarates ist sie ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, den die zehn Gründungsmitgliedstaaten 84 des Europarates schlossen und dem die hinzukommenden Mitgliedstaaten beitraten. Die Europaratssatzung kann darüber hinaus aber auch als „Verfassung“ des Europarats bezeichnet werden, ohne dass dies wie einführend bereits erwähnt eine Identität oder Vergleichbarkeit der Gründung von Staaten und Internationalen Organisationen bedeutete.85 Denn gerade die Europaratssatzung enthält – im Unterschied zu anderen Gründungsverträgen – Elemente, die auch nationale Verfassungen kennzeichnen. So zementiert sie in ihrem Art. 3 ZaöRV 52 (1992), 259 ff.; zum Verfassungsgerichtscharakter und zur verfassungsgerichtlichen Zukunft des EGMR Wildhaber, EuGRZ 29 (2002), 569 ff. 82 V. 5. Mai 1949; am 3. August 1949 in Kraft getreten. Im Folgenden ERS. 83 Vgl. die Qualifizierung der UN-Charta durch den IGH in Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20 July 1962, ICJ Reports 1962, S. 151 ff. (157: „that the Charter is a multinational treaty, albeit a treaty having special characteristics“); vgl. ferner: Schermers / Blokker, International Institutional Law, The Hague et al. 1995, §§ 1148 ff.; Bernhardt, EPIL 2, Amsterdam et al. 1995, S. 1289 f.; Ress / Bröhmer, in: Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, Oxford, 2. Aufl. 2002, Interpretation, Rnr. 1 f.; Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin, 3. Aufl. 2007, S. 285, Rnr. 37. 84 Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Schweden, Vereinigtes Königreich, siehe Abs. 1 der Präambel der ERS. 85 Vgl. hierzu zu Recht auch Meng, Das Recht der Internationalen Organisationen, BadenBaden 1979, S. 177 f.
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i. V. m. mit der Präambel86 die Grundprinzipien des Europarats – Rechtstaatlichkeit, Schutz von Grund- und Menschenrechten sowie Demokratie87 – auf die die Mitgliedstaaten verpflichtet werden. Die Satzung des Europarats, der einst als regionale Organisation der westlichen Demokratien entstand und vor 1989 über eine relativ homogene Staatsstruktur verfügte, enthält also verfassungsrechtliche Begriffe und Prinzipien, die aus den innerstaatlichen Verfassungen bekannt und in ihnen geschützt sind.88 Ferner erfüllt umgekehrt die Verpflichtung auf diese Werte – auf völkerrechtlicher Ebene – die Funktion einer Begrenzung von staatlicher Gewalt und entspricht damit einer Grundaufgabe der nationalen Verfassung.89 Es findet damit auch in der Europaratssatzung eine Funktion ihren Ausdruck, wie sie in der Literatur der EMRK attestiert wird90. Hinzu kommt, dass diese Grundwerte des Europarats, die in der Satzung festgeschrieben sind, Ausdruck der Basisprinzipien des „europäischen Verfassungsstaates“91 sind. Präzisiert wurde dieser nicht zuletzt auch durch die EMRK, welche meist im Vordergrund der Debatte um Konzeption und Formierung einer europäischen Verfassungsgemeinschaft steht.92 Die „Grundaussage“ zum „europäischen Verfassungsstaat“ enthält aber die ältere Europaratssatzung und hier speziell Art. 3 ERS. Vor diesem Hintergrund kann der Europarat daher zu Recht gekennzeichnet werden als „die einzige internationale Organisation, deren eigentliche ,raison d’être‘ es gerade darstellt, die materiellen und formellen Grundwerte des Verfassungsstaates zu definieren und kollektiv zu garantieren“.93 Die Europaratssatzung umschreibt damit das Konzept des „europäischen Verfassungsstaates“ und der Europarat hat zu dessen Ausgestaltung beigetragen und ihn weiterentwickelt, auch durch die in seinem Rahmen entstandenen Konventionen. Gerade die Aufnahme der osteuropäischen Staaten hat diesem „Modell“ einen neuen „Anwendungsbereich“ verschafft und zu seiner Ausdehnung und Sicherung beigetragen.94 Die 86 Es ist heute anerkannt, dass die Präambel eines völkerrechtlichen Vertrages ein mit Rechtsqualität ausgestatteter Vertragsbestandteil ist, vgl. Art. 31 Abs. 2 WVK („Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen“). 87 Abs. 3 der Präambel der ERS. 88 Grundlegend zu den Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassung bei der Auslegung von Gründungsverträgen Internationaler Organisationen Ress, BDGVR 23 (1982), 7 ff. (27 ff.). 89 Vgl. nur: Isensee, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts II, Heidelberg, 3. Aufl. 2004, § 15, Rnr. 185 f. 90 So von Walter, ZaöRV 59 (1999), 971. 91 Zum Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft siehe die Beiträge von Steinberger, Klein und Thürer, VVD-StRL 50 (1991), S. 9 ff., 56 ff. und 97 ff.; vgl. zur Konstitutionalisierung im Nachkriegseuropa und zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaft als Kern der europäischen Verfassung insgesamt die Schrift von Giegerich, oben Fußn. 81, (S. 46 ff. zur Rolle des Europarats im „institutionellen Geflecht zur Sicherung von Verfassungsstaatlichkeit in Europa“). 92 Dazu bereits die Nachweise oben, Fußn. 77. 93 Thürer, VVD-StRL 50 (1991), S. 105 f.; ihm folgend Klein, AVR 39 (2001), 122.
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Europaratssatzung hat dabei eine – im Folgenden zu thematisierende – Dynamik offenbart. b) Die Dynamik der Europaratssatzung Die Europaratssatzung teilt mit nationalen Verfassungen das Element einer innewohnenden Dynamik: ist die Organisation erst einmal entstanden, sind es die Bestimmungen über das „Innenleben“ der Organisation, die ihre weitere Tätigkeit lenken, Vorschriften also, die einen „lebenden Organismus“95 betreffen, der sich im Laufe der Zeit festigt, aber auch verändert und innerhalb dessen zwangsläufig eine Praxis, ein Organisationsrecht, entstehen wird, die offenbaren, wie die Satzungsbestimmungen in der Realität ausgefüllt werden. Bereits Churchill verwies darauf, man wolle mit dem Europarat keine „Maschine“, sondern eine „lebendige Pflanze“ schaffen.96 Und auch in der Literatur wurde früh der „living, and therefore, changing“ Charakter von Organisation und Satzung betont.97 Etwa Robertson unterstrich 1956 die dynamische, in der Satzung angelegte Konzeption des Europarats: „This evolutary character of the Council of Europe is a special and unusual quality which distinguishes it from most other international organisations. The latter have, as a general rule, defined functions of a specific nature and the mesure of their success is the degree to which they fulfil these functions. With the Council of Europe it is different. Its aim is to achieve greater unity between its members, than which nothing could be more vague and general. Having no precise mandate, the organisation has to evolve not only its policies but also its objectives as it goes along; this is one reason why it is in a constant state of evolution.“98
So kann sich auch eine Dynamik ergeben, die über die Vorstellungen der Gründungsmitglieder hinausgeht, wie dies entsprechend für Verfassungen und die Intention von „Verfassungsvätern“ gilt. Die Flexibilität, die der Europaratssatzung als „Verfassung“ immanent ist, kann damit zu einer Entwicklung oder Änderung von Satzungsvorschriften führen, die zum einen politische Bedeutung hat, vor allem aber auch rechtliche Fragen aufwirft. Für die Vereinten Nationen und ihre Gründungscharta wird schon lange auf diese Problematik aufmerksam gemacht.99 94 Zur Aufnahme der osteuropäischen Staaten und ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung Wittinger, oben Fußn. 1, S. 215 ff. (244 ff.). 95 Dazu auch Klein, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), oben, Fußn. 82, S. 352, Rnr. 190; vgl. auch: Schermers / Blokker, oben Fußn. 75, § 1148 („living body“). 96 Intervention of Winston Churchill, 11th August 1950, Assemblée consultative, 2ème session, Compte rendus 1950, I, S. 222. 97 Schuman, American Political Science Review 45 (1951), 729 f. (der aber die ERS nicht als „Verfassung“ bezeichnet). 98 The Council of Europe, 1956, S. 210 (Hervorhebung hinzugefügt). 99 Bereits früh hierzu Engel, ICLQ 16 (1967), 865 ff.
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Auch für den Europarat haben sich diese Fragen zur Weiterentwicklung seines Statuts – über 50 Jahre nach seiner Gründung – und insbesondere im Kontext seiner „Osterweiterung“ jedoch im selben Maße gestellt. Diese Fragen wurden an anderer Stelle bereits untersucht100 und können und sollen hier nicht im Einzelnen wiederholt werden. Exemplarisch sei die Entwicklung des in der Satzung festgeschriebenen Rechtsstaatsprinzips (Art. 3 ERS, „rule of law“) angeführt, deren Inhalte vornehmlich anhand der Praxis der Parlamentarischen Versammlung bei der Aufnahme der neuen östlichen Mitgliedstaaten herausgefiltert werden können.101 Danach ergibt sich seit dem Verfahren zur Aufnahme Rumäniens im Jahre 1993 als Aufnahmepraxis der Parlamentarischen Versammlung insoweit vor allem, dass das gesamte innerstaatliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, auf den Prüfstand gestellt und den Kandidaten „Verpflichtungen“ („commitments / engagements“) auferlegt wurden, dieses innerstaatliche Recht zu reformieren. Ferner werden als Elemente der „rule of law“ aus den Aufnahmedokumenten der Versammlung deutlich: die Bindung an das Gesetz und die Existenz einer Verfassung, die durch die Teilung der Gewalten und den Schutz der Grund- und Menschenrechte gekennzeichnet ist, wobei jedoch das Vorhandensein einer förmlichen Verfassung vor der Aufnahme in den Europarat nicht zwingend war und auch Übergangslösungen akzeptiert wurden, bis es zur Verfassungsrevision oder Verabschiedung einer neuen Verfassung kam. Des Weiteren war ein verfassungsrechtlicher Vorrang des Völkerrechts (besonders von Menschenrechtsverträgen) sowie die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in mehreren Europaratskonventionen von Nöten. Zudem musste die Unabhängigkeit von Justiz und Polizei bestehen und eine dort herrschende Korruption bekämpft werden. Insbesondere wurden auch die von den östlichen Aufnahmekandidaten geschaffenen Verfassungsgerichte überprüft, an die die Erwartung geknüpft wurde, Defizite der innerstaatlichen Rechtsordnung auszugleichen, womit die Existenz eines Verfassungsgerichts ein Aspekt ist, der die „Fähigkeit“ eines Kandidaten gemäß Art. 4 ERS belegen soll, die Bestimmungen des Art. 3 ERS zu erfüllen. Die Organpraxis der Parlamentarischen Versammlung und die des Ministerkomitees zur „rule of law“ im Zusammenhang mit der Aufnahme der östlichen Staaten stimmt überein und ist von einem Konsens der Mitgliedstaaten gedeckt.102 Es hat sich damit insgesamt gerade anhand des Aufnahmeprozesses der neuen Mitgliedstaaten nach 1989 gezeigt, wie sich die Satzung im Einzelnen – ein Vertrag, der wie schon betont keine Vorschrift über seine Auslegung enthält – ausgefüllt und interpretiert wurde durch die Praxis der Europaratsorgane und ihrer Mitgliedstaaten. Dabei hat sich die Satzung auch als Maßstab und steuernder Faktor für die Verfassungsentwicklungen in den ost- und zentraleuropäischen Aufnahmekandidaten bzw. jungen Mitgliedstaaten des Europarats erwiesen. Wittinger, oben Fußn. 1, S. 244 ff. Dazu und zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips unter verfassungsrechtlichen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Betrachtungen, Wittinger, JöR 57 (2009), 427 ff. (438 ff.), ferner Wittinger, oben Fußn. 1, S. 245 ff. 102 Im Einzelnen Wittinger, oben Fußn. 1, S. 294 ff. 100 101
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IV. Europarechtliche Aspekte: der Wandel der europäischen Verträge Das Recht der Europäischen Union und das bisherige Gemeinschaftsrecht ist eine auf eine fortschreitende Integration ausgelegte, supranationale Rechtsordnung, die sich ständig weiterentwickelt hat. Auch das Recht der Europäischen Union ist damit von seiner Grundstruktur durch einen evolutiven, nicht-statischen Charakter gekennzeichnet. Zuständig für die Wahrung des Rechts und die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts sind der EuGH (seit dem Inkrafttreten des Lissabon Vertrages mit neuem Namen als Gerichtshof der Europäischen Union betitelt) und das Europäische Gericht erster Instanz (EuG).103 Ebenso wie der EGMR für die Auslegung der EMRK berücksichtigt der EuGH bei der Auslegung des Europarechts dessen evolutiven Charakter.104 Diese Dynamik führt zum einen dazu, dass die historische Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des EuGH nur eine untergeordnete Rolle spielt, wobei auch die Unzulänglichkeit der Materialien zu den Gründungsverträgen hinzukommt.105 Des Weiteren ist die teleologische Interpretation für das bisherige Gemeinschaftsrecht von besonderer Bedeutung, vor allem die Unterform der Argumentationsfigur des effet-utile, an dem sich der EuGH bei der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften orientiert, um die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren.106 Schließlich ist die richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH zu nennen, die formell in Art. 220 EG (= Art. 19 EU) wurzelt und materiell mit dem dynamischen Charakter des Gemeinschaftsrechts verbunden ist und insbesondere dazu führt, dass der EuGH europarechtlich nicht gewollte Lücken schließen darf. Damit ist mit Blick auf die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten ein sensibler Bereich der Rechtsprechung des EuGH betroffen, die einerseits das Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedstaaten und andererseits das Verhältnis zwischen den Organen betrifft.107 Gerade die langjährige Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union und schließlich das mühsam errungene Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 offenbart das Bedürfnis nach einer Vertragsanpassung und Fortentwicklung sowie die erforderliche Anpassung an eine gestiegene Mitgliedstaatenzahl. Im Hinblick auf das Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedstaaten hat das Bundesverfassungsgericht diesem Wandel der Europäischen Union Art. 220 EG = Art. 19 EU. Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1180). Zu den Auslegungsmethoden beider Gerichte im Grundrechtsschutz näher Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsystem in Europa?, Berlin 2007, S. 234 ff. und 278 ff.; krit. Kempen / Hillgruber, oben, Fußn. 66, S. 326 f. 105 Dazu im Einzelnen Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV-EGV-Kommentar, München, 3. Aufl. 2007, Art. 220, Rnr. 13. 106 Näher dazu Streinz, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), FS für Ulrich Everling, Bd. II, Baden-Baden 1995, S. 1491 ff. 107 Im Einzelnen hierzu Calliess, NJW 1985, 929 ff. 103 104
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jedoch eine Grenze gezogen in seinem „Lissabon“-Urteil.108 Denn danach bleibe die Europäische Union auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon „ein Verbund souverän bleibender Staaten“109 und dürfe die europäische Integration „nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen“.110 Die weiteren Entwicklungen hierzu und zur Fortentwicklung der europäischen Verträge durch die Mitgliedstaaten und durch den EuGH können wir alle – zusammen mit dem Jubilar – nur abwarten. Vielleicht eignen sie sich für einen Beitrag zu seinem 75. Geburtstag.
108 Urt. v. 30. 6. 2009, NJW 2009, 2267 ff., aus der Lit. dazu nur: Ruffert, DVBl. 2009, 1197 ff.; Terhechte, EuZW 2009, 724 ff.; und die Beiträge in German Law Journal, Vol. 10, No. 8- 1 August 2009, special edition. Siehe Ferner den Beitrag von Schröder in dieser Festschrift. 109 Urt. v. 30. 6. 2009, NJW 2009, 2267 (LS 1). 110 Ibidem, NJW 2009, 2272.
Steuerrecht und Wirtschaftsordnung
Internationale Steuerharmonisierung – Segen oder Fluch? Von Michael Elicker* I. Einführung Der Jubilar hat sich in seinem großen wissenschaftlichen Werk häufig auseinandergesetzt mit Fragen der Souveränität und des fairen Umgangs der Staaten auf der Grundlage des Rechts. Dabei hat er auch die weniger mächtigen Staaten und deren Situation nicht außer Acht gelassen, was besondere Anerkennung verdient. Die spezifischen Interessen der kleinen Staaten stehen nämlich selten im Focus der Forschung über die internationalen Beziehungen, da viele Wissenschaftler der Meinung sind, große Staaten seien ein lohnenderes Arbeitsfeld. Gleichzeitig haben viele kleine Länder selbst nicht die wissenschaftlichen Einrichtungen und das entsprechende Personal, um ihre Interessen und Angelegenheiten in einer ähnlich aggressiven Weise auf die Tagesordnung zu bringen, wie die großen das gerne tun.
II. Steuerharmonisierung wider Willen – Erinnerung an das Völkerrecht Das muss Konsequenzen zeitigen für die in den internationalen Beziehungen herrschenden Vorverständnisse. Dies ist im vergangenen Jahr sehr deutlich geworden im Vorgehen der „Großen 20“ gegen eine Reihe von Staaten, viele davon kleine Karibikstaaten, deren Ausgestaltung des Steuerrechts von den G 20 als unfaires Wettbewerbsverhalten empfunden wurde. Es ist erstaunlich, dass es bislang nicht einmal in der Wissenschaft, geschweige denn in der allgemeinen Öffentlichkeit, diskutiert worden ist, ob die Druckmaßnahmen, die in dieser Angelegenheit ausgeübt oder angedroht wurden, mit dem völkerrechtlichen Interventionsverbot1 vereinbar sind. Das völkerrechtliche Interventionsverbot findet seine dogmatische * Der Autor ist Hochschullehrer für Steuerrecht, insbesondere für Europäisches und Internationales Steuerrecht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes und Rechtsanwalt in Stuttgart. Der Jubilar war einer seiner verehrten Lehrer des öffentlichen Rechts. 1 Art. 2 Nr. 4 UN-Charta. Da es mittlerweile völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, sind auch Nicht-UN-Mitgliedsstaaten daraus berechtigt und verpflichtet.
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Grundlage im Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UNCharta). Das Interventionsverbot verbietet die Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“, die „domaine réservée“ anderer Staaten. Der Begriff der „inneren Angelegenheiten“ umfasst nach mittlerweile allgemeiner Auffassung im Kern die autonome Gestaltung der Verfassungs- und Wirtschaftsordnung – also insbesondere auch des Steuersystems – durch den jeweiligen Staat. Es ist anerkannt, dass die Ausübung wirtschaftlichen Drucks unter das Interventionsverbot subsumiert werden kann. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Resolutionen der UN-Generalversammlung von Interesse, die sich um eine Konkretisierung der Kriterien bemüht haben. Hier ist zuvörderst die „Friendly Relations Declaration“ von 1970 zu nennen, und zwar insbesondere der Grundsatz betreffend die Pflicht, im Einklang mit der Charta nicht in Angelegenheiten einzugreifen, die zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören: „Kein Staat und keine Staatengruppe hat das Recht, unmittelbar oder mittelbar, gleichviel aus welchem Grund, in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen. Folglich sind die bewaffnete Intervention und alle anderen Formen der Einmischung oder Drohversuche gegen die Rechtspersönlichkeit eines Staates oder gegen seine politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilelemente völkerrechtswidrig. Ein Staat darf keine wirtschaftlichen, politischen oder sonstigen Maßnahmen gegen einen anderen Staat anwenden oder ihre Anwendung begünstigen, um von ihm die Unterordnung bei der Ausübung seiner souveränen Rechte zu erlangen oder von ihm Vorteile irgendwelcher Art zu erwirken. [ . . . ] Jeder Staat hat das unveräußerliche Recht, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne Einmischung irgendwelcher Art durch einen anderen Staat zu wählen. [ . . . ]“.2 Überlegungen in dieser Richtung anzustellen, mag nun müßig erscheinen, weil die betroffenen kleinen Staaten sich bereits dem Druck gebeugt haben, so dass der Sieg in dieser Auseinandersetzung bereits von den großen Staaten davongetragen wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies jedoch nur die erste Runde. Der Streit um das Bankgeheimnis etwa war im größeren Bereich der Auseinandersetzungen um Steuerwettbewerb oder Steuerharmonisierung ein für die großen Hochsteuerstaaten volkswirtschaftlich nicht im Vordergrund stehender, letztlich relativ unbedeutender Teilkomplex dieser Materie. Das ergibt sich schon daraus, dass die Abwanderung von Unternehmen in das Ausland selbstverständlich sehr viel gravierendere Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der Hochsteuerstaaten hat als die Entscheidung einzelner privater Geldanleger für einen ausländischen Finanzplatz. Diese besonders gefährliche Exportmobilität von Unternehmensinvestitionen 2 Ebenfalls von Bedeutung ist die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten von 1974 (GA Res. 3281). Dort heißt es in Art. 32: „No State may use or encourage the use of economic, political or any other type of measures to coerce another State in order to obtain from it the subordination of the exercise of its sovereign rights.“ In die gleiche Richtung geht auch die Erklärung über die Unzulässigkeit der Intervention und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten von 1981 (GA Res. 36 / 103).
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ist nach dem Feldstein-Horioka-Paradoxon, das auf empirische Belege gestützt werden kann, gar stärker als die Mobilität privaten Anlagekapitals.3 Es ist bekannt, dass Territorien mit niedriger Unternehmensbesteuerung, wie etwa einige Schweizer Kantone, vonseiten der Europäischen Union und wichtiger Mitglieder der OECD als unfaire Wettbewerber empfunden werden. Und ganz sicher sind aktuelle Schlagzeilen wie „Den Zugern steht im nächsten Jahr eine massive Steuersenkung ins Haus“4, „Die Wirtschaftslage im Kanton Zug ist nach wie vor gut – von der Finanzmarktkrise ist kaum etwas zu spüren“5 und „Neuer Rekord im Handelsregisteramt“6 geeignet, im krisengeschüttelten Rest Europas Neid und Missgunst zu erregen. Da jedenfalls insofern weitere Runden von Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Union sowie zwischen dieser und anderen Staaten zu erwarten sind, ist es lohnend, sich mit dem Gegensatz zwischen Steuerwettbewerb und Steuerharmonisierung eingehender zu befassen. Gerade in Europa scheint es ja zu der schon begrifflich offenbar Frieden und Freude verheißenden „Harmonisierung“ keine legitime Alternative mehr zu geben. Es fragt sich, ob diese wohl schon vorherrschende Sichtweise gerechtfertigt ist. III. Motive der Regierungen der Hochsteuerländer „Der Wettbewerb der Systeme ist nichts anderes als die Kehrseite der Harmonisierung: Überall dort, wo nicht harmonisiert wird, ist Platz für den Wettbewerb der Systeme.“7 Umgekehrt ausgedrückt: Die Steuerharmonisierung verhindert innerhalb der von der Harmonisierung umfassten Territorien, dass ein Steuermodell einem Wettbewerb der Systeme ausgesetzt wird und sich darin bewähren muss. Es liegt jedenfalls nicht ohne weiteres auf der Hand, dass eine solche Maßnahme sich volkswirtschaftlich vorteilhaft auswirke. Was steckt dann dahinter, wenn sich einzelne Staaten der Europäischen Union für Harmonisierungen und damit für eine Ausschaltung des Wettbewerbs im Bereich der Unternehmensbesteuerung stark machen? Und was würde passieren, wenn sie damit Erfolg hätten? Ganz besonders die Hochsteuerstaaten Deutschland und Frankreich setzen sich immer stärker für die Harmonisierung der direkten Steuern in Europa ein. Dem 3 Winfried Fuest / Bernd Huber, Steuern als Standortfaktor im internationalen Wettbewerb, Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Institut der deutschen Wirtschaft Köln Nr. 252, Köln 1999, S. 16 f.; Winfried Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, Beiträge zur Ordnungspolitik aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln Nr. 19, Köln 2006, S. 29. 4 „Neue Zuger Zeitung“ vom 2. September 2009, S. 1, 3. 5 „Zuger Presse“ vom 4. November 2009, S. 3. 6 „Zuger Presse“ vom 4. November 2009, S. 1. 7 Claus-Dieter Ehlermann, Ökonomische Aspekte des Subsidiaritätsprinzips: Harmonisierung versus Wettbewerb der Systeme, Integration 18 (1995), S. 11 (11).
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entspricht eine grundlegende steuerpolitische Neuorientierung der Kommission. Diese hat sich mit ihrer Mitteilung vom 19. Dezember 2006 von ihrer zuvor verfolgten Strategie eines – „negativ“ integrierenden – „Wettbewerbs der mitgliedstaatlichen Steuersysteme“ verabschiedet und ist zu einer – „positiv“ annähernden – Strategie der „Koordinierung der mitgliedstaatlichen Steuersysteme“ übergegangen.8 Grundlegend ist es in diesem Zusammenhang, die Motive zu überprüfen, die nationale Regierungen und die Kommission dazu führen, sich gegen den Steuerwettbewerb und für die Steuerharmonisierung ins Zeug zu legen. 1. Interesse grenzüberschreitend tätiger Unternehmen Die Regierungen der Hochsteuerländer äußern einige Begründungen für die Harmonisierungsbestrebungen öffentlich. Zu diesen Begründungsansätzen gehört das Interesse der Unternehmen selbst, das Interesse derjenigen Unternehmen, die in mehreren Staaten tätig sind und durch die unterschiedlichen Steuersysteme gesteigerte administrative Kosten haben.9 Diese Kosten sind zwar nicht von der Hand zu weisen, aber sie sind doch überschaubar. Schon rein quantitativ wird das nicht die entscheidende Erwägung sein können. 2. Gedanke des „Level Playing Field“ Von der Tragweite des Arguments her wiegt schwerer der Gedanke des „Level Playing Field“, oder des „ebenen Spielfeldes“: Es wird behauptet, der Wettbewerb zwischen den Unternehmen, gerade in einem Binnenmarkt, sei fairer, wenn alle Unternehmen auch unter den gleichen steuerlichen Bedingungen wirtschafteten.10 Aber: Diese Sichtweise betrachtet nur eine Seite der Medaille: Auch z. B. ein hervorragendes Bildungs- und Ausbildungssystem und eine überlegene Infrastruktur in einem bestimmten Land begründen relative Wettbewerbsvorteile. Es kommt also in Wahrheit auf die Fähigkeit der Politiker an, ein gutes Verhältnis zwischen der Belastung der Bürger und nachfragegerechten – unter Umständen nationenspezifischen – Staatsleistungen herzustellen. In diesem Sinn ist der Steuerwettbewerb immer notwendig auch ein Leistungswettbewerb. Im Wettbewerb stehen aus Sicht der Unternehmer immer komplexe Steuer-Leistungs-Pakete und nicht nur die Besteuerung als isolierte Einzelkomponente.11 8 Dies befürwortend Christian Seiler / Georg Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (844). 9 Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, S. 23 ff. 10 Horst Siebert / Michael J. Koop, Institutional Competition, A Concept for Europe?, in: Außenwirtschaft, 45. Jg. (1990), S. 439 (445). 11 Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, S. 13 f., 20 f.
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3. These des „Race to the Bottom“ Das wohl gerade in jüngerer Zeit am häufigsten verwendete Argument liegt in der These eines „Race to the Bottom“: Der Standortwettbewerb soll danach zu einem Unterbietungswettbewerb führen, der die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates in Gefahr bringt.12 Wieso ist das Thema gerade jetzt so aktuell? Es ist wohl das Zusammentreffen dessen, was man als Globalisierung bezeichnet, mit der Grundfreiheiten-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu den direkten Steuern. Bisher hatte man versucht, den Steuerwettbewerb durch Beschränkungen der Faktormobilität zu unterbinden13, etwa durch außensteuerliche Spezialregelungen. Jedenfalls im EU-Raum konnten und können diese Versuche, die Faktormobilität zu behindern, nicht aufrechterhalten werden, das heißt: Der Wettbewerbsdruck muss angestiegen sein. Im Zusammenwirken mit einer Politik niedriger Unternehmenssteuern durch bisherige Mitglieder der Europäischen Union wie Irland und Neumitglieder vor allem in Ost-Mittel-Europa müsste das nach der Logik der Race-to-the-Bottom-Theorie dazu geführt haben, dass die bisher hochbesteuernden Wohlfahrtsstaaten zu einer Steuersenkungspolitik übergegangen und dadurch in Finanznot geraten sein müssten. Soweit die Theorie. Aber stimmt das auch? Ist die Sozialstaatlichkeit im bisherigen Steuerwettbewerb abgebröckelt? Die tatsächlichen Zahlen verraten etwas anderes: In Wahrheit ist das Sozialbudget seit Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen, auch in seinem Anteil am Gesamtbudget. Die Sozialleistungsquote in Deutschland liegt jetzt bei über einem Drittel des Sozialprodukts und ist so hoch wie nie zuvor.14 Es kann also keine Rede davon sein, dass der Wohlfahrtsstaat zurechtgestutzt worden wäre. Wie ist es nun mit der etwas verfeinerten Variante des „Race to the Bottom“Argumentes, nämlich der Befürchtung, dass im Gesamtgefüge der Steuern mobile Faktoren, insbesondere Unternehmen und Kapital entlastet werden und immobile Faktoren wie Arbeit stärker belastet werden?15 In der Tat hat man in Deutschland seit einiger Zeit versucht, den Steuerstandort durch Maßnahmen im Wettbewerb zu positionieren, denen „Signalwirkung“ zukommen soll. Paradebeispiel ist die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes. 12 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1997 / 1998: Wachstum, Beschäftigung, Währungsunion – Orientierungen für die Zukunft, Stuttgart 1997, S. 178; ILO, A fair Globalization – Creating Opportunities for All, S. 19; vgl. schon Wallace E. Oates, Fiscal Federalism, New York 1972. 13 Daniel Kiwit / Stefan Voigt, Grenzen des institutionellen Wettbewerbs, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 17: Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, Tübingen 1998, S. 313 (330). 14 Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, S. 14. 15 Hans-Werner Sinn, Der neue Systemwettbewerb, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2002, S. 391 (395 f.).
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Die Tarifabsenkungen wurden aber in jeder Runde „gegenfinanziert“, fatalerweise auch durch den Ansatz von z. T. sogar fiktivem Einkommen in der Bemessungsgrundlage.16 Auch in den anderen Hochsteuerländern gingen Tarifsenkungen mit oft unsystematischen Verbreiterungen der Bemessungsgrundlagen einher. Die effektive durchschnittliche Steuerbelastung der Investitionen ist dabei relativ stabil geblieben.17 Sowohl in der OECD insgesamt als auch in der europäischen Gruppe sind die von den Unternehmen eingehobenen Steuern über die vergangenen Jahrzehnte schneller gewachsen als die gesamtwirtschaftliche Leistung. In Europa ist der Anteil des Aufkommens der Unternehmenssteuern am Bruttoinlandsprodukt seit Anfang der 1970ger Jahre um fast 80% gestiegen.18 Der Anteil der Unternehmenssteuern am Gesamtsteueraufkommen hat in Europa gerade zwischen 1970 und 2000 um ca. 40 % zugenommen. Danach war die Steigerungsquote kurzzeitig etwas gesunken; ab etwa 2004 haben wir aber wieder ein schnelleres Wachstum bei den Unternehmenssteuern.19 Von einem „race to the bottom“ bei den Unternehmenssteuern kann also überhaupt keine Rede sein.20 4. Interesse am Machterhalt Es gibt noch eine Erklärung für das Interesse der Regierungen von Hochsteuerstaaten an der Unterbindung des Steuerwettbewerbs. Von den Regierungen selbst wird diese freilich nie öffentlich angesprochen: Es ist das ganz profane Eigeninteresse von politischen Oligarchien am Machterhalt und an einem möglichst ungestörten und kontrollfreien Agieren. Insbesondere Brennan und Buchanan haben herausgestellt, dass Steuerwettbewerb zu einer Begrenzung der Steuergewalt, der Höhe der Steuern und damit zu einer grundsätzlich gesunden Beschränkung der Macht der Politiker führt.21 Auch insofern kann der Wettbewerb als das „genialste Entmachtungsinstrument“ (Franz Böhm)22 bezeichnet werden. 16 Dazu Michael Elicker, Schröders „Steuersenkungen“ wirken kontraproduktiv, Gastkommentar, Der Betrieb 2005, Heft 15, I; Michael Elicker, Entwurf einer proportionalen NettoEinkommensteuer, Köln 2004, S. 142 ff. m. w. N. 17 OECD, Tax Policy Studies 16: Fundamental Reform in Corporate Income Tax, 2007, Kap. A; Alfred Boss, Tax Competition and Tax Revenues, Working Paper No. 1256, 2005, S. 11; Michael Devereux / Rachel Griffith / Alexander Klemm, Economic Policy 2002, S. 451 ff. 18 Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, S. 17 ff. 19 Fuest, Steuerharmonisierung und Steuerwettbewerb, Zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, S. 17 ff. 20 Michael Rodi, Internationaler Steuerwettbewerb, StuW 2008, 327 (329); Thomas Rixen, Taxation and Cooperation – International Action against harmful Tax Competition, in: Schirm, Globalization – State of the Art and Perspectives, 2007, S. 61 (64 f.). 21 Geoffrey Brennan / James M. Buchanan, Journal of Public Economics 1977, S. 255 ff.
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Institutioneller Steuerwettbewerb bedeutet, dass Staaten durch das Angebot von unterschiedlich ausgestalteten Steuer-Leistungs-Paketen konkurrieren.23 Den Steuerbürgern ist dadurch die Möglichkeit zu Abwanderung und Widerspruch gegeben – schlagwortartig vielleicht besser bekannt als „exit and voice“: Die Unternehmer wählen in der Tendenz den Standort aus, der nach ihrer Auffassung das für sie beste Verhältnis zwischen staatlichen Leistungen und Steuern bietet.24 Es ist diese im Prinzip ständig eröffnete Möglichkeit der Abwanderung, die eine permanente Kontrolle an die Regierenden heranträgt. Die Wahlen finden ja nur in längeren Abständen statt mit vergleichsweise vagen, unverbindlichen Wahlaussagen. Die Möglichkeit von „exit and voice“ und die damit verbundene Kontrolle der Regierungspolitik auch zwischen den Wahlen, würden ausgeschaltet, wenn es gelänge, ein „Harmonisierungskartell“ durchzusetzen.25 Die Regierenden könnten mit der Sicherheit des Monopolisten ein ruhiges Leben genießen.26 5. Verwischung der Verantwortlichkeiten Die Sache hat auch einen das Demokratieprinzip betreffenden Aspekt: Die Regierung könnte sich nämlich durch die Steuerharmonisierung in einem nicht unerheblichen Ausmaß der unmittelbaren Kontrolle durch das Parlament und der Kontrolle durch das Wahlvolk entziehen: Steuererhöhungen wären künftig etwa auf die europäische Ebene als übergeordnete politische Ebene verlagert. Das Zustandekommen der Gemeinschaftsentscheidungen auf dieser übergeordneten Ebene ist für die Wähler wenig transparent. So können die Regierenden der einzelnen Mitgliedstaaten ihren Wählern gegenüber die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen verschleiern.27 Für spätere Regierungen genügt dann der Hinweis, dass man gar keine Handhabe besitze, weil eine Regelung europarechtlich vorgegeben sei.
22 Franz Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, Kartelle und Monopole im modernen Recht, Karlsruhe 1961, S. 22. 23 Horst Siebert / Michael J. Koop, Europa zwischen Wettbewerb und Harmonisierung, WiSt 1994, 611 (611); Holger Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, Bayreuth 2000, S. 180. 24 Siebert / Koop, Europa zwischen Wettbewerb und Harmonisierung, WiSt 1994, 611 (612). 25 Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, S. 182 f. 26 Herbert Giersch, Vertikale Kompetenzverteilung in Wirtschaftsgemeinschaften, in: Gerken / Lüder (Hrsg.), Europäische Ordnungspolitik im Zeichen der Subsidiarität, Berlin u. a. 1995, S. 35 (38); Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, S. 183. 27 Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, S. 182.
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IV. Gute Gründe für den Steuerwettbewerb Die zuletzt genannten – „inoffiziellen“ – Motive, aus denen Regierungen eine Steuerharmonisierung anstreben, sind offensichtlich schon gute Gründe dafür, den Steuerwettbewerb zu verteidigen. Aber von diesem Ausgangspunkt aus lässt sich die segensreiche Wirkung des Steuerwettbewerbs in verschiedener Hinsicht noch deutlicher zeigen: 1. Der „Fall“ Müller: Protest durch Exil zeigt Wirkung Ein Beispiel ist der sehr prominente Fall eines Herstellers von Molkereiprodukten, des Herrn Müller aus Aretsried. Als Herr Müller in die Schweiz zog, ging es um Folgendes: Wenn Herr Müller und seine präsumtiven Erben ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätten, wäre im Fall des Todes von Herrn Müller deutsche Erbschaftsteuer auf das in Großbritannien belegene Betriebsvermögen der Firma angefallen. Großbritannien hatte zu diesem Zeitpunkt schon keine Erbschaftsteuer mehr auf Betriebsvermögen und die deutsche Steuer wäre auch nicht durch ein Erbschaftsteuer-Abkommen gemildert worden. Herr Müller sagte zu Recht, dass sein Tod unter diesen Umständen den Konzern zurückwerfen würde, seine Nachfolger müssten sich für die Steuer verschulden28 und Investitionen streichen. Der damalige Finanzminister Eichel hat im deutschen Fernsehen zu bester Sendezeit mit Herrn Müller über den Fall diskutiert und hat dabei im Grunde nur ein Argument angeführt, das er ständig wiederholte: Herr Müller, Sie nutzen doch auch die deutsche Infrastruktur und fahren über die deutschen Straßen. Meinen Sie nicht, dass Sie dann auch in Deutschland Steuern zahlen sollten? Das war natürlich kein besonders überzeugendes Argument – ging es doch ausschließlich um britische Betriebe von Herrn Müller. Hinsichtlich des in Deutschland belegenen Betriebsvermögens hätte er der Steuerpflicht auch durch Wegzug aus dem Gebiet der unbeschränkten deutschen Steuerpflicht ohnehin nicht entkommen können. Und natürlich steht die persönliche Infrastrukturnutzung des Herrn Müller, steht sein Gebrauch der deutschen Straßen in keinem Verhältnis zu der Millionensteuer, die der deutsche Fiskus für das britische Betriebsvermögen erhoben hätte. Das deutsche Steuer-Leistungs-Paket war insofern also aus der Sicht von Herrn Müller unannehmbar und daher kam es zu „exit and voice“. In der Folge ist der sehr prominente Fall des Herrn Müller auch in die Vorüberlegungen des Gesetzgebers zur besonderen Berücksichtigung der Problematik der Betriebsvermögen in der darauffolgenden Erbschaftsteuerreform eingegangen. Dabei handelte es sich – trotz aller Kritik – zumindest um einen Versuch, in diesem Bereich zur Verbesserung des Steuer-Leistungs-Pakets beizutragen. Das gilt auch 28 Vgl. zu dieser Problematik Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 145 f. m. w. N.
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für EU-Betriebsvermögen, was bei Herrn Müller der ausschlaggebende Punkt war. Und die Begünstigung des Betriebsvermögens kam hiernach auch den vielen kleinen und mittleren deutschen Unternehmern zugute, die nicht daran denken können, auszuwandern. Was hier letztlich durch den Steuerwettbewerb zur Schweiz mit bewirkt worden ist, ist also nicht nur eine Kontrolle der Politiker, sondern ein materieller Beitrag zur Überprüfung und Verbesserung des Steuerrechts auch für weniger mobile Unternehmer. 2. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren Friedrich August von Hayek hat den Begriff des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“29 geprägt und dieser Wettbewerb sorgt nach der Entdeckung auch für die stetige Überprüfung des Entdeckten: Im Fall Müller haben wir gesehen, dass es dabei auch um die materielle Überprüfung von durch den Steuergesetzgeber und die Regierung selbst getroffenen Entscheidungen geht. Das konkret existierende Steuer-Leistungs-Paket ist ja immer nur eine fehlbare Hypothese30, ein fehlbares Modell über die geeignete kollektive Problemlösung, das sich auf Vermutungswissen stützt.31 Wie Hayek in seiner „Verfassung der Freiheit“ sagt: Wir können „in keinem Stadium sicher sein, dass wir schon die besten Arrangements oder Institutionen gefunden haben . . .“.32 In einer freiheitlichen Rechtsordnung muss die Regierung ein gutes Verhältnis zwischen Lasten und Leistungen anstreben33, also auf der Einnahmenseite eine möglichst hohe Nettoergiebigkeit mit möglichst geringen Zusatzlasten der Besteuerung und auf der Ausgabenseite eine möglichst effektive Aufgabenerfüllung.34 Diese Ziele können, da Regierungen irren (und dies oftmals in spektakulärer Weise), letztlich nur in einem durch Versuch und Kontrolle gesteuerten Prozess entwickelt werden – und zwar auch in der Form, dass im eigenen Land eine Imitation von Modellen versucht wird, die von anderen schon erfolgreich erprobt worFriedrich August von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968. Zur Interpretation von Institutionen als fehlbare Hypothesen Hans Albert, Freiheit und Ordnung, Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, in: Walter-EuckenInstitut (Hrsg.), Vorträge und Aufsätze 109, Tübingen 1986, S. 40 f. 31 Karl Popper, Objektive Erkenntnis, Ein evolutionärer Entwurf, 4. Aufl., Hamburg 1984, S. 1 ff. 32 Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl., Tübingen 1983, S. 297. 33 Dazu Michael Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Besteuerung, DVBl. 2006, 480 ff. 34 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 24 ff., 52 ff. m. w. N. 29 30
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den sind. Dieser Prozess funktioniert schon zu den heutigen Bedingungen nicht überall. Er kann insbesondere dann nicht recht greifen, wenn Länder schon durch konstitutionelle Reformhindernisse – etwa durch die gegenseitige Blockade von Gesetzgebungsorganen – oder durch eine spezielle politische Kultur wenig reformfähig sind. 3. Beispiel Estland: Punktuelle Harmonisierung contra Reformfähigkeit Es gibt aber auch noch positive Beispiele für reformfähige Länder, etwa Estland: Dort hat man mit großem Erfolg eine konsequent „nachgelagerte“ Unternehmensbesteuerung eingeführt. In vielen Übersichts-Tabellen wird das irreführend als ein Körperschaftsteuersatz von 0 % dargestellt. In Wahrheit geht es aber um den Zeitpunkt der Besteuerung oder – besser gesagt – um die Realisierungsschwelle35: Das estnische System erfasst Unternehmenserträge erst bei ihrer Ausschüttung aus dem Unternehmen. Nicht ausgeschüttete Erträge bleiben unbelastet. Dieser Besteuerungsmodus hat zu einem atemberaubenden Wirtschaftswunder geführt; die oft zweistelligen Wachstumsraten Estlands haben die von China übertroffen.36 Die Arbeitslosigkeit war im Rahmen dieses Aufschwungs verschwunden.37 Das erfolgreiche System Estlands war jedoch von der Europäischen Union schon im Rahmen der Beitrittsverhandlungen als europarechtswidrig angesehen worden, und zwar wegen einer Entscheidung des EuGH zur Mutter-Tochter-Richtlinie in der Sache „Athinaiki Zithopia“.38 Die Europäische Union hatte Estland bei der Aufnahme des Landes lediglich eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2008 gesetzt. Das europarechtliche Problem entstand alleine deswegen, weil das estnische Steuersystem erst dann auf die Unternehmenserträge zugreift, wenn sie aus dem Unternehmen ausgeschüttet werden. Auch wenn es sich hierbei eindeutig um in Estland entstandenes Steuersubstrat handelt, das ansonsten ohne weiteres dem Besteuerungsrecht Estlands zufällt, wollte man dem Land den nachgelagerten Steuerzugriff nach seinem innovativen Steuersystem verbieten. Die Mutter-Tochter-Richtlinie besagt nämlich aufbauend auf der konventionellen Unternehmensbesteuerung: Bei Ausschüttung an eine Mutter im EU-Raum darf im Sitzland der Tochter keine Quellensteuer anfallen. Und die latente estnische Unternehmenssteuer, die nach dem fortschrittlichen System Estlands erst bei Ausschüttung fällig wird, hat man eben als eine solche Quellensteuer interpretiert. 35 Vgl. dazu Michael Elicker, Fortentwicklung der Theorie vom Einkommen, Rudolf Wendt zum 60. Geburtstag, DStZ 2005, 564 (565 f.). 36 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Mobil in Europa, Estland, Bielefeld 2007, S. 3. 37 Das darf man auch nicht vergessen, nachdem das Baltikum durch die Weltfinanzkrise schwer getroffen worden ist. 38 C-294 / 94.
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Deswegen war fest damit gerechnet worden, dass Estland schon vor Ablauf des Jahres 2008 sein Steuersystem aufgeben würde. Dafür war es dann über die Jahre aber einfach zu erfolgreich geworden und gegen die Erwartungen der Europäischen Union haben sich die Esten auf die Hinterbeine gestellt und kämpften u. a. mit wissenschaftlichen Gutachten um ihr Steuersystem.39 Zum Steuersystem Estlands, für das sich das Land in dieser Weise rechtfertigen muss, heißt es in einer Broschüre der Auslandsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit, die deutschen Arbeitskräften eine Tätigkeit in Estland schmackhaft machen will: „. . . und auch das Steuersystem ist äußerst unternehmerfreundlich ausgestaltet“.40 Wenn man das auch vom deutschen Steuersystem sagen könnte, würden die deutschen Arbeitskräfte vielleicht auch im eigenen Land Arbeit finden und müssten nicht von der Agentur nach Estland verschickt werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis Deutschlands zur Schweiz: Die Schweiz ist heute das wichtigste Ziel für deutsche Auswanderer. 20.000 Deutsche ziehen jährlich in die Schweiz. Einige davon sind Unternehmer oder Erben von Unternehmern, die eben mit Wohnsitz und Steueransässigkeit in der Schweiz bessere Bedingungen für die Verwaltung ihrer weltweiten Einkommensquellen vorfinden. Die meisten der 20.000 Deutschen, die jedes Jahr in die Schweiz abwandern, sind aber einfach Menschen, die in ihrem eigenen Land keine adäquate Beschäftigung mehr gefunden haben. Sie gehören zu jenen Normalbürgern, von denen FDP-Chef Guido Westerwelle gesagt hat: „Für den normalen Bürger ist weniger die Oase das Problem, sondern die Wüste drumherum.“ Die Regierung (zu jenem Zeitpunkt noch der großen Koalition) solle lieber dafür sorgen, dass die deutsche Steuerwüste wieder fruchtbarer werde. Im Falle Estlands geht es mit der insoweit streitbefangenen Mutter-TochterRichtlinie nicht einmal um eine echte Harmonisierung, sondern lediglich um eine punktuelle Koordinierungsmaßnahme auf der Ebene des EU-Rechts. Schon solche punktuellen Koordinierungsmaßnahmen begründen aber, wie sich an diesem Beispiel zeigt, wegen der Vorrangigkeit des Europarechts große Gefahren für das wettbewerbliche Entdeckungsverfahren und die Reformfähigkeit im EU-Raum. Auch wenn die umfassende Harmonisierung in der Europäischen Union derzeit noch nicht unmittelbar Gestalt annimmt, wird an mehr oder weniger punktuellen Harmonisierungen weiter gearbeitet41, zu nennen ist in diesem Zusammenhang natürlich das Projekt der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Es ist aber gerade die Bemessungsgrundlage, die Ansatzpunkt für eine ökonomisch intelligente Umgestaltung des Steuersystems sein muss. In diesem Bereich sollten die Staaten also unbedingt offen und reformfähig bleiben. Mit 39 Vgl. Lasse Lehis / Inga Klauson / Helen Pahapill / Erki Uustalu, The Compatibility of the Estonian Corporate Income Tax System with Community Law, Juridica International XV / 2008, S. 14 ff. 40 Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Mobil in Europa, Estland, Bielefeld 2007, S. 3. 41 Vgl. Rodi, StuW 2008, 327 (332).
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einer europarechtlichen Fixierung auch nur von Teilbereichen würde die Reformfähigkeit wohl endgültig preisgegeben. 4. Steuerharmonisierung immer regional begrenzt Zum Argument für den Wettbewerb wird gerade in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Steuerharmonisierung notwendigerweise nur regional begrenzt realisierbar ist.42 Die intern harmonisierte Region steht aber weiter im globalen Standortwettbewerb43 und die Europäische Union ist nach wie vor der Wirtschaftsraum mit der weltweit höchsten Abgabenlast. Die niedriger besteuernden Neumitglieder haben an diesem zweifelhaften „Rekord“ nichts geändert. Nach einer Harmonisierung würde zwar der Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt entfallen, die Region als Ganzes könnte aber im nach wie vor bestehenden globalen Steuerwettbewerb weiter an Attraktivität verlieren.44
V. Fazit Abschließend kann man feststellen: Es gibt letztlich nur ein valides Argument für die Steuerharmonisierung: Die Einsparung der durch unterschiedliche Steuersysteme verursachten administrativen Kosten. Von seiner Tragweite her ist dieses Argument allerdings recht offensichtlich von begrenzter Bedeutung. Auf der anderen Seite können schon partielle Harmonisierungs- und Koordinierungsmaßnahmen die Vorteile des Steuerwettbewerbs beseitigen und eine konstitutionelle Reformunfähigkeit herbeiführen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie auf europarechtlicher Ebene erfolgen. Es werden dann nicht nur die mit der Möglichkeit von „exit and voice“ verbundenen Kontrollfunktionen ausgeschaltet. Es wird vor allem auch die Schaffung neuen Wissens über die optimale Steuer und über die Beschaffenheit der in den einzelnen Nationen gewünschten Steuer-Leistungs-Pakete durch das wettbewerbliche Entdeckungsverfahren verhindert. Und das muss von Wissenschaftlern schon aus der Natur ihrer Berufung heraus mit Leidenschaft abgelehnt werden.
Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, S. 223. Dümler, Steuersysteme im Standortwettbewerb, S. 223; Barbara Dluhosch, Strategische Fiskalpolitik in offenen Volkswirtschaften, Köln 1993, S. 59. 44 Siebert / Koop, Europa zwischen Wettbewerb und Harmonisierung, WiSt 1994, 611 (613). 42 43
Familienstiftungen in Liechtenstein als „Steuersparmodelle“? Von Christoph Gröpl* I. Außersteuerliche Grundlagen Rechtsfähige Stiftungen des privaten Rechts1 haben – wenn man den Statistiken glauben darf – „Konjunktur“. Wurden 1979 in Deutschland nur gut 4 000 und im Jahr 2000 lediglich rund 8 600 Stiftungen gezählt, sollen im Jahr 2007 über 15 000 solcher Stiftungen bestanden haben. Allein 2008 seien über 1 000 rechtsfähige Stiftungen neu hinzugekommen.2 Die zehn größten gemeinnützigen Stiftungen in Deutschland sollen ein Vermögen von über einer halben Milliarde Euro verwalten.3 Definieren lassen sich Stiftungen als verselbständigte Vermögensmassen, die ein Stifter zur dauerhaften Begünstigung bestimmter Bezugsberechtigter (Destinatäre) errichtet;4 charakteristisch ist also die „triadische Beziehung“ zwischen Stiftungsvermögen, Stifter und Stiftungsbegünstigten. Die Rechtsgrundlagen für Stiftungen des privaten Rechts finden sich in den §§ 80 bis 88 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Danach erlangt eine Stiftung die Rechtsfähigkeit durch Stiftungsgeschäft unter Lebenden (§ 80 Abs. 1, § 81 BGB) oder durch Verfügung von Todes wegen (§ 80 Abs. 1, § 82 BGB) sowie durch Anerkennung durch die zustän* Der Autor hat im August 2003 den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht von Wilfried Fiedler an der Universität des Saarlandes übernommen. Er dankt ihm herzlich für die reibungslose Übergabe sowie die freundliche Unterstützung und wünscht ihm und seiner Familie die beste Gesundheit. 1 Stiftungen des öffentlichen Rechts sind in das staatliche Verwaltungssystem eingegliedert und bilden einen organischen Bestandteil der staatlichen Ordnung; s. BVerfGE 15, 46 (66 f.); näher Gerald Totenhöfer-Just, Öffentliche Stiftungen, 1973, S. 19 f. 2 Nachw. unter http: //www.stiftungen.org/index.php?strg=82_89_230&baseID=615 (Recherche v. 30. 5. 2009). Vgl. auch bei Klaus Neuhoff / Ambros Schindler / Hans-Jürgen Zwingmann, Stiftungshandbuch, 1983, S. 14. 3 Hierzu: Bundesverband Deutscher Stiftungen unter: http: //www.stiftungen.org/index.php? strg=87_106_226&baseID=611 (Recherche v. 30. 5. 2009). Das Vermögen aller gemeinnützigen Stiftungen übersteigt 50 Mrd. Euro deutlich, vgl. Stephan Schauhoff, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2. Aufl. 2005, Einleitung, S. 2 (Angabe für das Jahr 2001). 4 Vgl. BayObLG, NJW 1973, 249 (ebd.); Carl Creifelds (Begr.), Rechtswörterbuch, 19. Aufl. 2007, S. 1099 f.
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dige Behörde.5 Die Beweggründe für die Errichtung von Stiftungen sind vielfältig; am Anfang stehen häufig gewisse mäzenatische Erwägungen einer vermögenden Person, die mit der Stiftung zugleich ihren Namen in Verbindung bringen und ihn – in der Regel auch über den Tod hinaus – in Erinnerung halten will. Zwei Fallgruppen lassen sich hervorheben:6 – Zum einen kann durch Stiftungen das Gemeinwohl selbstlos gefördert werden; dann handelt es sich um gemeinnützige Stiftungen, die auch als öffentliche Stiftungen bezeichnet werden.7 Neben gemeinnützigen Vereinen und Gesellschaften bilden solche Stiftungen einen wichtigen Bestandteil des sog. dritten Sektors,8 dem in Zeiten eines an seine finanziellen Grenzen stoßenden Sozialstaates eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Daseinsvorsorge und Daseinsfürsorge zukommt. Demgemäß gewährt ihnen der Steuergesetzgeber mannigfache Vergünstigungen durch das Gemeinnützigkeitsrecht der §§ 51 ff. der Abgabenordnung (AO), etwa bei der Errichtung (§ 13 Abs. 1 Nr. 16 lit. b und c des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes – ErbStG) oder beim laufenden Stiftungsbetrieb (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes – KStG). Auch für den Stifter wurden steuerliche Anreize geschaffen: Nach Maßgabe von § 10b Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kann er Spenden an eine gemeinnützige Stiftung bis zu 20% des Gesamtbetrags seiner Einkünfte als Sonderausgaben abziehen. Spenden in den Vermögensstock der Stiftung können darüber hinaus bis zu 1 Mio. Euro zusätzlich abgezogen werden (§ 10b Abs. 1a EStG). – Mit gemeinnützigen Stiftungen kontrastieren die privatnützigen Stiftungen, deren typische Ausprägung die Familienstiftung ist.9 Bei ihr steht für den Stifter grundsätzlich das Familienvermögen im Vordergrund, das er in seiner Gesamtheit erhalten, vor Zersplitterung schützen und auf diese Weise dauerhaft seiner Familie zugute kommen lassen will.10 Steuervergünstigungen werden solchen Stiftungen nicht gewährt. In Deutschland bestehen nach Schätzungen zwischen 500 und 700 Familienstiftungen; auch ihre Zahl soll zunehmen.11 5 Hierfür liegt die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz gem. Art. 30, 70, 74 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Art. 72 Abs. 1 sowie Art. 83, 84 Abs. 1 Satz 1 GG bei den Ländern. Zuständig im Saarland ist das Ministerium für Inneres und Sport (§ 3 i. V. m. § 2 des Saarländischen Stiftungsgesetzes i.d.F. der Bek. vom 9. 8. 2004, Amtsbl. S. 1825, mit spät. Änd.). 6 Andreas Schlüter / Stefan Stolte / Evelin Manteuffel, Stiftungsrecht, 2007, Kap. 2 Rn. 2 ff.; Christian v. Löwe, Familienstiftung und Nachfolgegestaltung, 1999, S. 9. 7 Öffentliche Stiftungen sind von öffentlich-rechtlichen Stiftungen zu unterscheiden (hierzu Fn. 1). 8 Zu den Stiftungen als Teil des dritten Sektors vgl. Schlüter / Stolte / Manteuffel (Fn. 6), S. 26. 9 Daneben sind die unternehmensbezogenen Stiftungen zu nennen, etwa die Carl-ZeissStiftung von 1889; hierzu v. Löwe (Fn. 6), S. 10. Auf diese Stiftungsform kann hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. 10 So bereits Adolf Weißler, DNotZ 1905, 497 (498 ff.); ähnlich BFH, BStBl. II 1998, 114 (116).
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Lange Zeit waren Familienstiftungen lediglich durch die Rechtspraxis anerkannt und gleichsam praeter legem geduldet – wenn auch nicht ohne Widerspruch.12 Dies änderte sich durch das Gesetz zur Modernisierung des Stiftungsrechts (Stiftungsmodernisierungsgesetz) vom 15. 7. 2002.13 Seither normiert § 80 Abs. 2 BGB das Prinzip der „gemeinwohlkonformen Allzweckstiftung“,14 nach dem auch für rein privatnützige Stiftungen – also insbesondere für Familienstiftungen – ein Anspruch auf staatliche Anerkennung besteht, soweit der Stiftungszweck das Gemeinwohl nicht gefährdet. Zudem wird in einigen Landesstiftungsgesetzen die Staatsaufsicht über Familienstiftungen weitgehend zurückgenommen, da deren Stiftungsvermögen nicht der Allgemeinheit dienen soll und Verfehlungen eines öffentlichen Zwecks insoweit nicht zu besorgen sind.15
II. Besteuerung von Familienstiftungen im Inland Mag die Errichtung und Verwaltung einer (begriffsnotwendig privatnützigen) Familienstiftung in zivilrechtlicher Hinsicht vergleichsweise unproblematisch und unspektakulär sein – auf steuerrechtlichem Gebiet lädt der Staat nicht gerade dazu ein. 1. Erbschaft- und Schenkungsteuer Die Übertragung des gewidmeten Vermögens durch den Stifter auf die Stiftung unterliegt der Erbschaft- oder Schenkungsbesteuerung mehr oder weniger so, als ob der Stifter entsprechende Zuwendungen unmittelbar an bestimmte Personen getätigt hätte. Erfolgt die Errichtung der Stiftung von Todes wegen (§ 83 BGB), gilt der Vermögensübergang auf die Stiftung gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ErbStG als vom Erblasser zugewendet. Die Erbschaftsteuer entsteht nach § 9 11 Vgl. Neuhoff / Schindler / Zwingmann (Fn. 2), S. 14; Maren Bianchini-Hartmann / Andreas Richter, Die Besteuerung von Familienstiftungen, in: Dieter Birk (Hrsg.), Transaktionen Vermögen pro bono, FS zum zehnjährigen Bestehen von Pöllath + Partners, 2008, S. 337 (ebd.). 12 Vgl. Helmut Heinrichs, in: Palandt (Begr.), Komm. z. BGB, 68. Aufl. 2009, § 80 Rn. 8. Kritisch Dieter Reuter, in: Kurt Rebmann / Franz Jürgen Säcker / Roland Rixecker (Hrsg.), Münch. Komm. z. BGB, Bd. 1, 5. Aufl. 2006, §§ 80, 81 Rn. 84 ff.; Peter Rawert, in: Julius v. Staudinger (Begr.), Komm. z. BGB, §§ 21–103, 13. Bearb. 1995, Vorbem. z. §§ 80 ff. Rn. 127 f. 13 BGBl. I S. 2634; in Kraft getreten am 1. 9. 2002. 14 BT-Drucks. 14 / 8765, S. 9; Hagen Hof, in: Werner Seifart / Axel Frh. v. Campenhausen (Hrsg.), Stiftungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2009, § 4 Rn. 46. Zur Gemeinwohlgefährdung s. etwa BVerwGE 106, 177 (181 f.) – „Republikaner-Stiftung“; Karlheinz Muscheler, NJW 2003, 3161 (3163 f.). 15 S. § 10 Abs. 3 Saarl. StiftG (Fn. 5), § 4 Abs. 3 Bbg. StiftG, § 21 Abs. 2 Hess. StiftG, § 19 Satz 2 StiftG Schl.-H. Vgl. auch Reuter, in: MüKo (Fn. 12), §§ 80, 81 Rn. 83.
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Abs. 1 Nr. 1 lit. c ErbStG bereits mit der staatlichen Anerkennung als rechtsfähig; Steuerschuldnerin ist die Familienstiftung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1, § 20 Abs. 1 Satz 1 ErbStG). Errichtet der Stifter die Stiftung hingegen zu seinen Lebzeiten, gründet sich die Schenkungsteuer auf § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 7 Abs. 1 Nr. 8, § 9 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG. Die Bewertung des steuerpflichtigen Erwerbs richtet sich nach §§ 10 ff. ErbStG. Eine Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 16 ErbStG scheidet wegen der Privatnützigkeit von Familienstiftungen aus; steuerfrei bleibt lediglich ein Freibetrag in Höhe von 20 000 Euro (§ 16 Abs. 1 Nr. 7 ErbStG). Der Steuersatz würde sich gem. § 19 Abs. 1 i. V. m. § 15 Abs. 1 ErbStG nach der ungünstigen Steuerklasse III richten, deren Satz bei einem steuerpflichtigen Erwerb von bis zu 6 Mio. Euro bei 30 %, darüber sogar bei 50% liegt. Allerdings greift hier das sog. Steuerklassenprivileg des § 15 Abs. 2 Satz 1 ErbStG: Danach ist für den Steuersatz das Verwandtschaftsverhältnis des nach der Stiftungsurkunde entferntest Berechtigten zum Stifter zugrunde zu legen. Dies kann die Erbschaft- oder Schenkungsteuer spürbar verringern (auf gestaffelte Steuersätze zwischen 7 % und höchstens 30%), wenn als Begünstigte nur der Ehegatte, Kinder oder Enkel bestimmt sind.
2. Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuer Für die laufende Verwaltung des Vermögens gelten keine Besonderheiten: Als juristische Person des privaten Rechts unterliegt die Familienstiftung gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 KStG der Körperschaftsbesteuerung, soweit sie Einkünfte im Sinne von § 7 Abs. 1 und 2, § 8 Abs. 1, 2 KStG i. V. m. § 2 Abs. 1 und 2 EStG erzielt. Unterhält die Familienstiftung einen stehenden Gewerbebetrieb oder einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, fällt zudem gem. § 2 Abs. 1 oder 3 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) Gewerbesteuer an. Betätigt sich die Familienstiftung unternehmerisch im Sinne von § 1 Abs. 1, § 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), sind ihre Lieferungen oder sonstigen Leistungen umsatzsteuerbar und umsatzsteuerpflichtig.
3. Besteuerung der Destinatäre Die Begünstigten einer Familienstiftung können vor allem in zweierlei Weise steuerpflichtig sein: Erwerben sie bereits bei der Errichtung der Stiftung kraft einer Auflage des Stifters einen unmittelbaren Anspruch auf eine Zuwendung aus dem Stiftungsvermögen, trifft sie eine eigene Erbschaft- oder Schenkungsteuerpflicht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 7 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG. Soweit ein solcher unmittelbarer Zuwendungsanspruch nicht besteht, werden die Ausschüttungen der Stiftung an die Destinatäre als Einkünfte aus Kapitalvermögen gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 9 EStG besteuert, und zwar seit 2009 mit der Abgeltungsteuer zu einem Satz von 25% (zzgl. Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchen-
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steuer).16 Die damit konkurrierende Steuerbarkeit der Zuwendungen als sonstige Einkünfte gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7, § 22 Nr. 1 Satz 2 Halbs. 2 lit. a EStG tritt wegen der Subsidiaritätsklausel in § 22 Nr. 1 Satz 1 Teils. 2 EStG zurück.17 4. Erbersatzsteuer (Ersatzerbschaftsteuer) Die bis hierher geschilderten Steuerpflichten mögen sich im Rahmen des üblichen Systems halten und zu eingehenderen Bemerkungen kaum Anlass geben. Allerdings enthält das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz in § 1 Abs. 1 Nr. 4 eine besondere Art von Steuer, die in dieser Weise bei keinem anderen Steuersubjekt zu finden ist. Dort wird bestimmt, dass das Vermögen einer Familienstiftung in Zeitabständen von 30 Jahren der sog. Erbersatzsteuer oder Ersatzerbschaftsteuer zu unterwerfen ist – und zwar ohne dass es zu einer Vermögensübertragung oder zu einem Vermögensanfall und damit zu einer Bereicherung gekommen ist, an die das Erbschaftsteuerrecht sonst anknüpft. Besteuert wird schlichtweg das ruhende Vermögen der Familienstiftung selbst, die gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 ErbStG Steuerschuldnerin der Erbersatzsteuer ist. Mit dieser Regelung verfolgte der Gesetzgeber der Erbschaftsteuerreform von 197418 das Ziel, die Familienstiftung, die ihr Vermögen aufgrund der Stiftungsbindung nicht von einer Generation auf die andere vererben muss, den „natürlichen Erbfällen“ gleichzustellen. 19 Dies wird dadurch erreicht, dass jeweils im Turnus einer Generation, die mit 30 Jahren angesetzt wird, das gesamte Vermögen der Familienstiftung einer Ersatzbesteuerung zugeführt wird (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG). § 10 Abs. 1 Satz 7 ErbStG regelt, dass bei der Erbersatzsteuer nicht nur der Vermögensanfall der vorausliegenden 30 Jahre, sondern das gesamte Vermögen der Familienstiftung zu versteuern ist; Leistungen an die nach der Stiftungssatzung Begünstigten sind nach § 10 Abs. 7 ErbStG nicht abzugsfähig.20 16 § 32d Abs. 1, § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7a, § 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Die Abgeltungsteuer ist als Kapitalertragsteuer gem. § 44 Abs. 1 EStG von der Stiftung einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen. 17 BMF-Schreiben v. 27. 6. 2006 (BStBl. I 2006, 417). So auch Christian v. Löwe, IStR 2005, 577 (583); Fabian Freundl, DStR 2004, 1509 (1513); Harald Jansen / Robert Gröning, StuW 2003, 140 (141); Arne Schnitger, ZEV 2001, 104 (105); a.A.: Christian Kirchhain, BB 2006, 2387. Eingehend dazu Christian Hallerbach, Besteuerung ausländischer Familienstiftungen, 2009, Diss. jur., S. 81 ff. 18 Gesetz vom 17. 4. 1974 (BGBl. I S. 933). 19 Insbesondere sollte unterbunden werden, dass bei der Nachfolgegestaltung lediglich aus steuerlichen Gründen die Rechtsform der Stiftung gewählt wird, s. BT-Drucks. 7 / 1333, S. 3; vgl. auch BFH, BStBl. II 1998, 114 (115). 20 Der Grund liegt darin, dass solche Leistungen als Vermögensverwendungen einzustufen sind, die aufgrund einer aus der Satzung resultierenden Pflicht getätigt werden; vgl. v. Löwe (Fn. 6), S. 40; Jens Peter Meincke, Komm. z. ErbStG, 15. Aufl. 2009, § 10 Rn. 58. Demgemäß sind solche nicht abzugsfähigen Leistungen für den Begünstigten nicht schenkungsteuerbar, sondern unterliegen bei ihm der Einkommensteuerpflicht, Stephan Schauhoff, DB 1996, 1693 (1695). Zum Ganzen auch Hallerbach (Fn. 17), S. 91 f.
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Eine gewisse Steuererleichterung erbringt der Freibetrag des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG, der nach § 15 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 ErbStG auf insgesamt 800 000 Euro verdoppelt wird.21 Zudem ist die Steuer gem. § 15 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 ErbStG nach dem hälftigen Satz der Steuerklasse I zu berechnen. Damit wird die Parallele zur „natürlichen Vererbung“ gezogen und fingiert, dass das betreffende Vermögen von einem Erblasser auf zwei Kinder übergeht.22 Im Wesentlichen wegen dieses fingierten Gleichlaufs mit „natürlichen“ Erbfällen wurde die Erbersatzsteuer vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 8. 3. 1983 für verfassungskonform erklärt.23
III. Besteuerung von Familienstiftungen mit Bezug zum Ausland, insbesondere zu Liechtenstein 1. Keine Erbersatzsteuer; beschränkte Steuerpflichten im Übrigen Gem. § 2 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG fällt die Erbersatzsteuer des § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG nur bei Familienstiftungen an, die ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz (§§ 10, 11 AO) im Inland, also in Deutschland, haben.24 Daher mag für einen potentiellen Stifter die Erwägung naheliegen, eine Familienstiftung im Ausland zu errichten. Zwar lässt sich dadurch die Erbschaft- oder Schenkungsteuer bei der Errichtung der Stiftung25 nicht vermeiden, weil diese Steuer gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG bereits dann in vollem Umfang entsteht, wenn der Stifter oder die Begünstigten Inländer sind. Viel gewonnen scheint aber schon damit, dass die alle 30 Jahre anfallende und daher periodisch belastende Erbersatzsteuer wegfällt. Auch bei der laufenden Besteuerung ergeben sich Vorteile: Hat die Familienstiftung ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz im Ausland, ist sie nach § 2 Nr. 1 KStG nur beschränkt mit ihren inländischen Einkünften körperschaftsteuerpflichtig (§ 7 Abs. 1 und 2, § 8 Abs. 1 KStG, §§ 49 ff. EStG). Eine Gewerbesteuerpflicht entsteht nur bei einem Gewerbebetrieb im Inland (§ 2 Abs. 1 GewStG). Auch die Besteuerung der Zuwendungen einer ausländischen Familienstiftung an ihre Destinatäre weicht vom reinen Inlandsfall ab: Sie richtet sich nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 9 EStG, da letztere Vorschrift wegen ihres Verweises auf § 1 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 KStG nur für inländische Familienstiftungen gilt. Stattdessen greift § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 i. V. m. § 22 Nr. 1 Satz 2 Halbs. 2 lit. a EStG ein. Die Einkommensteuer bemisst sich insoweit also nicht nach dem propor21 Die Freibeträge in § 16 Abs. 1 ErbStG wurden durch das Erbschaftsteuerreformgesetz v. 24. 12. 2008 (BGBl. I S. 3018) mit Wirkung zum 1. 1. 2009 erhöht. 22 v. Löwe (Fn. 6), S. 52 f.; Meincke (Fn. 20), § 15 Rn. 26. 23 BVerfGE 63, 312 ff., vertiefend dazu Hallerbach (Fn. 17), S. 108 ff. 24 Zum Inlandsbegriff s. § 2 Abs. 2 ErbStG. 25 Hierzu oben sub II 1.
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tionalen Abgeltungsteuersatz,26 sondern nach dem individuell-progressiven Einkommensteuertarif (§ 32a EStG). Dieser mag zwar über dem Abgeltungsteuersatz von 25% liegen; zum Ausgleich bleiben nach § 3 Nr. 40 Satz 1 lit. i EStG allerdings 40% der Bezüge der Destinatäre steuerfrei (sog. Teileinkünfteverfahren27). 2. Lukrative Konditionen in Liechtenstein Ein potentieller Stifter wird sich genau überlegen, in welchem ausländischen Staat er seine Familienstiftung gründen will. In nicht wenigen Ländern sind die steuerlichen Bedingungen insoweit nicht günstiger als die in Deutschland. Als Staat mit einem in dieser Hinsicht besonderen Charme mag Liechtenstein erscheinen – nicht nur wegen seiner geografischen Nähe und wegen geringer sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten. Liechtenstein bietet darüber hinaus auch handfeste Standortvorteile juristischer Art: – Zunächst verfolgt das liechtensteinische Zivilrecht das Ziel, das Fürstentum für ausländische Investoren als Anlageort interessant zu machen, namentlich durch große Gestaltungsfreiräume bei der Gründung von Gesellschaften und Stiftungen.28 Insbesondere bei Familienstiftungen darf der Stifter nach Art. 552 § 30 Abs. 1 Satz 1 des liechtensteinischen Personen- und Gesellschaftsrechts (Liecht. PGR)29 in der Stiftungssatzung bestimmen, dass er seine Stiftung jederzeit widerrufen und damit unbegrenzt die Rückführung des Stiftungsvermögens bewirken kann. Eine dauerhafte vermögensrechtliche Trennung zwischen Stiftung und Stifter – einer der tragenden Pfeiler des deutschen Stiftungsrechts30 – erfolgt damit nicht.31 – Hinzu tritt das liechtensteinische Steuerrecht, das mit weniger steuerbaren Tatbeständen und niedrigen Steuersätzen bewusst Anreize für eine Kapitalverlagerung nach Liechtenstein setzt.32 So findet namentlich bei der Stiftungserrichtung durch Ausländer prinzipiell kein Steuerzugriff statt.33 Denn FamilienstifVgl. oben sub II 3. Das Teileinkünfteverfahren trat ab 1. 1. 2009 an die Stelle des ehem. Halbeinkünfteverfahrens, s. § 52a Abs. 3 des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 v. 14. 8. 2007 (BGBl. I S. 1912). 28 Näher Hallerbach (Fn. 17), S. 252 ff., 262 ff., insb. auch zu den liecht. Rechtsformen der Anstalt und der Treuhand (des Trusts), auf die hier nicht eingegangen werden kann. 29 Gesetz v. 20. 1. 1926, Liechtensteinisches Landesgesetzblatt (LGBl.) 1926, Nr. 4 v. 19. 2. 1926. Das PGR wurde jüngst insb. durch das Gesetz v. 26. 6. 2008 (Liecht. LGBl. 2008, Nr. 220 v. 26. 8. 2008) modifiziert, das zum 1. 4. 2009 in Kraft trat. 30 So ist gem. § 81 Abs. 2 BGB vor allem der Widerruf des Stiftungsgeschäfts nur bis zur staatlichen Anerkennung der Stiftung (§ 80 Abs. 2 BGB) zulässig. 31 Hallerbach (Fn. 17), S. 255, 272 f. m. w. N. 32 Nach Art. 85 Abs. 1 Liecht. StG (Fn. 34) sinkt der Steuersatz der besonderen Kapitalsteuer mit steigendem zu versteuernden Vermögen. Im Übrigen Hallerbach (Fn. 17), S. 255 ff. 26 27
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tungen stellen nach liechtensteinischem Recht sog. Holdinggesellschaften dar, die – sofern sie ausschließlich oder vorwiegend vermögensverwaltende Zwecke verfolgen – gem. Art. 83 Abs. 1 Satz 1 des liechtensteinischen Gesetzes über die Landes- und Gemeindesteuern (Liecht. StG)34 von der Vermögen-, Erwerb- oder Ertragsteuer sowie der allgemeinen Kapitalsteuer befreit sind.35 Stattdessen unterliegen Familienstiftungen lediglich einer besonderen Kapitalsteuer in Höhe von nur 0,1 %, die sich ab einem Vermögen von 2 Mio. sFr auf 0,075 % und ab einem Vermögen von über 10 Mio. sFr gar auf 0,05% ermäßigt.36 Zudem werden Destinatäre einer Familienstiftung, die ihren Wohnsitz im Ausland (Deutschland usw.) haben, in Liechtenstein grundsätzlich nicht besteuert; insbesondere existiert keine Quellensteuer.37 Schließlich bleibt auch die Auflösung einer – aus liechtensteinischer Sicht – von Ausländern (Deutschen o.a.) beherrschten Familienstiftung steuerfrei, da insoweit eine Vermögen-, Erwerb-, Ertrag- oder Erbschaftsteuerpflicht nicht besteht. – Komplettiert werden diese „steuerparadiesischen Zustände“ mit einer strikt gewährleisteten Anonymität, die vor allem ausländische Investoren anzieht und (daher?) als einer der „tragenden Pfeiler der nationalen Identität“ bezeichnet wird.38 Namentlich dem Bankgeheimnis wird ein gerade im europäischen Vergleich hoher Stellenwert eingeräumt.39 Zwar haben Steuerbehörden gem. Art. 9 Abs. 1 Liecht. StG das Recht, von allen der liechtensteinischen Staatshoheit unterstehenden Personen Auskünfte zu verlangen und deren Geschäftsbücher und Belege einzusehen. Allerdings wird hiervon eine Ausnahme gemacht, wenn die zur Auskunft verpflichtete Person durch ein Amts- oder Berufsgeheimnis zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Damit unterliegen weder Banken noch Rechtsanwälte, die als Treuhänder auftreten, der Auskunftspflicht – auf diese Weise kann die Ausnahme des Auskunftsverweigerungsrechts zur Regel werden. 33 Zwar kennt auch das liecht. Recht eine Erbanfall- und Schenkungsteuer, die jedoch nach Art. 90 Abs. 1 lit. c Liecht. StG (Fn. 34) entfällt, wenn der Stifter Steuerausländer ist oder wenn der Vermögensübergang in einem anderen Staat mit einer gleichartigen Steuer belegt ist. Vgl. Annette Schneider, Unternehmensstiftungen – Formen, Rechnungslegung, steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten, 2004, S. 242; v. Löwe (Fn. 6) , S. 181. – Nach BFH, BStBl. II 2007, 669 (671), fällt die deutsche Erbschaft- und Schenkungsteuer bei der Errichtung einer ausl. Familienstiftung allerdings nur an, wenn ein tatsächlicher Vermögensübergang auf die Stiftung stattfindet, was mit Rücksicht auf das jederzeitige Widerrufsrecht bei liecht. Familienstiftungen zweifelhaft erscheint. 34 Liecht. StG i.d.F. v. 30. 1. 1961, Liecht. LGBl. 1961, Nr. 7 v. 30. 3. 1961 mit spät. Änd. 35 V. Löwe (Fn. 6), S. 182 f.; Karl Josef Hier, Die Unternehmensstiftung in Liechtenstein, 1995, S. 123. 36 Art. 83 Abs. 1 Satz 2 oder Art. 84 Abs. 1 Satz 2, Art. 85 Abs. 1 Liecht. StG (Fn. 34). 37 Näher Art. 31 Abs. 1 lit. a Liecht. StG (Fn. 34). 38 Jürgen Wagner, Praxis Steuerstrafrecht (Zeitschrift, abgek. PStR) 2001, 52 (ebd.); ähnlich auch Oberster Gerichtshof Liechtenstein, Urt. v. 26. 1. 1988, 3 C 96 / 86 – 36, Liechtensteinische Entscheidungssammlung (LES) 1990, 105 (115). 39 Hierzu Jürgen Wagner, IWB 2001, Fach 5 Gruppe 2, S. 27 (31, 35).
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Diese diskretionswahrende Rechtslage kommt selbstverständlich auch Ausländern zugute, die in Liechtenstein unerkannt, z. B. in Gestalt einer Familienstiftung, Finanzmittel anlegen möchten. Inwieweit die Bundesrepublik tatsächlich in der Lage sein wird, diesen Zustand auf der Grundlage des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes vom 29. 7. 200940 und der Steuerhinterziehungsbekämpfungsverordnung (SteuerHBekV) vom 18. 9. 200941 zu verändern, bleibt abzuwarten. – Sollte es trotz dieser Umstände zu Rechtsverstößen kommen, zeigt sich das liechtensteinische Strafrecht gnädig: Eine Steuerhinterziehung qualifiziert es nur als eine Art Ordnungswidrigkeit und sanktioniert auf diese Weise die Verschleierung von Vermögen und Einkünften nur als Verwaltungsunrecht.42 Eine Straftat i.e.S. stellt lediglich der Steuerbetrug dar, der allerdings tatbestandlich eine Urkundenfälschung voraussetzt.43 – Es liegt ganz auf dieser Linie, dass sich liechtensteinische Behörden bei ausländischen Rechtshilfeersuchen äußerst zurückhaltend zeigen. Wesentlicher Grund dafür ist, dass Liechtenstein kein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Doppelbesteuerungsabkommen) unterzeichnet hat, das eine Verpflichtung zur Informationsüberlassung begründet.44 Und nach Art. 50 Abs. 1 und 2 des liechtensteinischen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen45 ist eine Rechtshilfe nur in Strafsachen zulässig, zu der die Steuerhinterziehung nicht zählt, da sie nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist.46
Angesichts dieser Rechtslage nimmt es nicht wunder, dass bei rund 35 000 Einwohnern in Liechtenstein mindestens 45 000 Familienstiftungen bestehen sollen.47
40 Das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung (Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz) v. 29. 7. 2009 (BGBl. I S. 2302) fügt unter anderem in § 90 Abs. 2 AO einen neuen Satz 3 ein, wonach Steuerpflichtige mit dubiosen Beziehungen zum Ausland die Richtigkeit und Vollständigkeit ihrer Erklärungen an Eides statt zu versichern und das zuständige deutsche Finanzamt zu bevollmächtigen haben, in ihrem Namen Auskunftsansprüche gegenüber ausländischen Banken geltend zu machen. 41 SteuerHBekV v. 18. 9. 2009 (BGBl. I S. 3046); Ermächtigungsgrundlage ist insb. § 51 Abs. 1 Nr. 1 lit. f EStG, dort eingefügt durch Art. 1 des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes (Fn. 40). 42 Art. 145 i. V. m. 155 Abs. 2 Liecht. StG (Fn. 34); Hallerbach (Fn. 17), S. 250 f. 43 Art. 346 Liecht. StG (Fn. 34): Wer eine Steuerhinterziehung durch vorsätzlichen Gebrauch falscher, verfälschter, inhaltlich unwahrer Geschäftsbücher oder anderer Urkunden begeht, wird vom Landgericht wegen Vergehens mit einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder einer Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen bestraft. 44 Günter Dreßler, Gewinn- und Vermögensverlagerung in Niedrigsteuerländer und ihre steuerliche Überprüfung, 4. Aufl. 2007, S. 65. Eine Ausnahme bildet das DBA zwischen Liechtenstein und Österreich. 45 Gesetz v. 15. 9. 2000, Liecht. LGBl. 2000, Nr. 215 v. 6. 11. 2000. 46 Nachw. sub Fn. 42.
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3. Zurechnungsbesteuerung Wäre es bei diesem Rechtszustand geblieben, hätte die Prognose nicht ferngelegen, dass die Zahl der Familienstiftungen „deutscher Provenienz“ gerade in Liechtenstein noch weiter angestiegen wäre. Daher hat der deutsche Gesetzgeber bereits 1972 mit dem Erlass des Außensteuergesetzes (AStG) reagiert und versucht, in dessen § 15 Gegenmaßnahmen zu treffen.48 Nach dessen Strategie erfolgt der Steuerzugriff durch die ausländische Familienstiftung hindurch, die für Zwecke der Einkommens- und Vermögensbesteuerung negiert wird.49 Vermögen und Einkommen50 einer ausländischen, also auch liechtensteinischen Familienstiftung werden folglich dem Stifter oder, sofern dieser beschränkt steuerpflichtig ist, subsidiär den Bezugs- und Anfallsberechtigten anteilig zugerechnet.51 Für diese sog. Zurechnungsbesteuerung enthält § 15 Abs. 2 AStG eine spezielle Definition der Familienstiftung; sie liegt danach vor, wenn der Stifter, seine Angehörigen52 und deren Abkömmlinge zu mehr als der Hälfte bezugs- oder anfallberechtigt sind. Auf die Bereichsausnahmen der Zurechnungsbesteuerung für Familienstiftungen im europäischen Ausland, die durch das Jahressteuergesetz 2009 mit dem neuen Absatz 6 eingefügt wurden, wird noch zurückzukommen sein.53 IV. Verfassungsrechtliche Würdigung der Zurechnungsbesteuerung 1. Entfaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Steuerrecht Die absonderlich anmutende Konstruktion der Zurechnungsbesteuerung wirft verfassungsrechtliche Fragen auf. Hauptsächlicher Maßstab im Steuerrecht ist der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der wegen Art. 1 Abs. 3 GG 47 „Die Welt“ v. 20. 2. 2008, http: //www.welt.de/wirtschaft/article1701371/Ein_Paradies _mit_mehr_ Stiftungen_als_Einwohner.html (Recherche v. 30. 5. 2009); vgl. auch Dreßler (Fn. 44), S. 64. 48 Urspr. Fassung vom 8. 9. 1972 (BGBl. I S. 1713) in Kraft getreten am 13. 9. 1972. Zur Vorläuferregelung in § 12 des Steueranpassungsgesetzes v. 16. 10. 1934 s. Hallerbach (Fn. 17), S. 94 f., dort Fn. 476. 49 Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 AStG gilt die Zurechnung nicht für die Erbschaftsteuer, die wegen § 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG ohnehin unabhängig davon anfällt, ob die Familienstiftung im In- oder Ausland errichtet wird (s. II 1 und III 1). 50 Zur Qualifikation des Tatbestandsmerkmals „Einkommen“ i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 AStG s. zum einen § 15 Abs. 7 AStG, zum anderen Hallerbach (Fn. 17), S. 133 ff. 51 Hierzu ausführlich – gerade zur Familienstiftung nach liechtensteinischem Recht – BFH / NV 2001, 1457 ff. S. im Übrigen Tz. 15 der Verwaltungsgrundsätze zur Anwendung des Außensteuergesetzes, BMF-Schreiben v. 14. 5. 2004 (BStBl. I, Sondernr. 1 / 2004, S. 54 f.). 52 Zur Definition der Angehörigen s. § 15 AO. 53 Unten sub V 3.
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auch den Gesetzgeber bindet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet der allgemeine Gleichheitssatz, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.54 Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz fordert im Bereich des Steuerrechts allerdings nicht einen arithmetisch gleichen Beitrag von jedem Inländer zur Finanzierung der Gemeinlasten, sondern verlangt, dass jeder Inländer je nach seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gleichmäßig zur Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben herangezogen wird.55 Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber dabei einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstands als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes.56 Dieser Spielraum wird freilich vor allem durch die Ausrichtung der Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit begrenzt, die eine besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes in Form des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit darstellt.57 Danach muss der Gesetzgeber namentlich darauf abzielen, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Besteuerung niedrigerer Einkommen angemessen ausgestaltet werden muss (vertikale Steuergerechtigkeit).58 2. Gleichheitsprobleme der Zurechnungsbesteuerung Vor dem Hintergrund der horizontalen Steuergerechtigkeit wirft die Zurechnungsbesteuerung nach § 15 AStG ernste Gleichheitsprobleme auf.59 Denn sie weist dem Zurechnungsempfänger Einkommen und Vermögen zu, über das nicht er, sondern die Familienstiftung als von ihm getrenntes Rechtssubjekt die Verfügungsmacht hat. Auf diese Weise muss der Stifter einer ausländischen Familienstiftung Einkommen und Vermögen versteuern, das seine Leistungsfähigkeit – zumindest im Augenblick des Steuerzugriffs – gar nicht erhöht (hat). Zwar mag zu bedenken sein, dass der Stifter aufgrund der Stiftungssatzung neben den Destinatären in der Regel die einzige Person ist, der das Einkommen und Vermögen der Stiftung zugute kommt. Gleichwohl werden weder der Stifter noch die anderen BVerfGE 112, 268 (279) – Alleinerziehende; 117, 1 (30) – Erbschaftsteuer II. BVerfGE 93, 121 (135) – Vermögensteuer; 117, 1 (31) – Erbschaftsteuer II. 56 BVerfGE 93, 121 (135) – Vermögensteuer; 107, 27 (47) – doppelte Haushaltsführung. 57 BVerfGE 105, 73 (125) – Rentenbesteuerung III; 107, 27 (46 f.) – doppelte Haushaltsführung; 117, 1 (30) – Erbschaftsteuer II. 58 BVerfGE 107, 27 (47) – doppelte Haushaltsführung; 116, 164 (180) – Tarifbegünstigung. Im Einkommensteuerrecht erfährt der Leistungsfähigkeitsgrundsatz eine besondere Ausformung am objektiven und subjektiven Nettoprinzip, das für die vorliegende Fragestellung indes nicht von Bedeutung ist. 59 Hierzu und zum Folgenden auch Hallerbach (Fn. 17), S. 143 ff., der die Frage der Ungleichbehandlung allerdings – anders als es hier erfolgt (vgl. Fn. 58) – am objektiven und subjektiven Nettoprinzip misst. 54 55
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Begünstigten einen konkret durchsetzbaren Anspruch gegenüber der Familienstiftung haben.60 Wegen der Begründung einer Steuerpflicht für nicht verfügbares Einkommen und Vermögen beeinträchtigt die Zurechnungsbesteuerung daher den Grundsatz der Leistungsfähigkeit und – gerade im Vergleich zu den Beteiligten an inländischen Familienstiftungen – den allgemeinen Gleichheitssatz. 3. Rechtfertigung der Zurechnungsbesteuerung Art. 3 Abs. 1 GG verbietet dem Gesetzgeber jedoch nicht jede Ungleichbehandlung. Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.61 Die Abstufung der Anforderungen folgt aus dem Wortlaut und Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen: Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Das gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt. Demgegenüber hängt das Maß der Bindung bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen vor allem davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird.62 Überdies sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.63 Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht die abgestufte Dichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung: Bei Regelungen, die Personengruppen verschieden behandeln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, prüft das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (sog. neue Formel).64 Liegt keine dieser Voraussetzungen vor und kommt deshalb als Maßstab nur das Willkürverbot in Betracht, so kann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nur festgestellt werden, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist (sog. Willkürformel).65 60 Walter Martin, GmbHR 1972, 228 (229); vgl. auch Günther Felix, DB 1972, 2275 (2275). 61 BVerfGE 110, 274 (291) – Ökosteuer; 117, 1 (30) – Erbschaftsteuer II. 62 BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion. 63 BVerfGE 60, 123 (134) – Transsexuelle I; 82, 126 (146) – Kündigungsfristen; zum Ganzen BVerfGE 88, 87 (96 f.) – Transsexuelle II. 64 BVerfGE 88, 87 (96 f.) – Transsexuelle II, unter Bezugnahme auf BVerfGE 82, 126 (146) – Kündigungsfristen.
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Die Zurechnungsbesteuerung knüpft an die Tatsache, ob der mögliche Zurechnungsempfänger Stifter oder Begünstigter einer ausländischen Familienstiftung ist. Die Differenzierung erfolgt daher nicht anhand der vorgefundenen Individualität einer natürlichen Person, sondern stellt auf ein mehr oder weniger frei gestaltbares rechtliches Verhältnis zwischen einer natürlichen und einer juristischen Person ab. In der Folge liegt eine situationsbezogene, nicht aber eine personenbezogene Ungleichbehandlung vor. Damit bemisst sich die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zwischen inländischen und ausländischen Familienstiftungen nicht nach der sog. neuen Formel, sondern nach der sog. Willkürformel. Die Beeinträchtigung des Leistungsfähigkeitsprinzips durch die Zurechnungsbesteuerung ist damit nur dann verfassungswidrig, wenn sich kein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder ein sonstiger sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung finden lässt.66 Die Zurechnungsbesteuerung verfolgt das Ziel, die mit dem einschlägigen Kapitaltransfer ins Ausland einhergehende Gefahr der Steuerhinterziehung gem. § 370 AO einzudämmen, aber auch eine steuerliche Privilegierung der durch ausländische Familienstiftungen Begünstigten zu verhindern: Während das Einkommen einer inländischen Familienstiftung jährlich und deren Vermögen aufgrund der Erbersatzsteuer alle 30 Jahre einem Besteuerungszugriff unterliegt,67 sind ausländische Familienstiftungen in Deutschland nur beschränkt steuerpflichtig.68 Sofern eine ausländische Familienstiftung in einem Niedrigsteuerland wie etwa Liechtenstein errichtet wird, kann sie deutlich mehr Vermögen ansammeln und nach Maßgabe der Stiftungssatzung an ihre Destinatäre oder auch an den Stifter auszahlen. Die Zurechnungsbesteuerung verfolgt somit – auf mittlere bis längere Sicht gesehen – den Zweck einer gleichmäßigen Besteuerung von Stiftern und Begünstigten im In- und Ausland69 und einer Verhinderung der Steuerhinterziehung. Dies sind nachvollziehbare, jedenfalls nicht schlechterdings unsachliche Gründe, die einen Willkürvorwurf ausschließen. Eine verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt im Übrigen nicht. Denn die Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Familienstiftungen bewirkt nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres eine Ungleichbehandlung von fest gefügten Personengruppen. Potenzielle Stifter haben es durch entsprechende Steuergestaltung in der Hand, die Zurechnungsbesteuerung zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund hat die steuerrechtliche Differenzierung zwischen in- und ausländischen Familienstiftungen BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion; 89, 15 (22 f.) – § 3b EStG. So auch Hallerbach (Fn. 17), S. 145 f. 67 Hierzu oben sub II. 68 Eine Körperschaftsteuerpflicht besteht nur für inländische Einkünfte im Sinne des § 2 Nr. 1 KStG, vgl. Michael Streck in: ders. (Hrsg.), Komm. z. KStG, 6. Aufl. 2003, § 2 Rn. 3, 4. Eine Erbschaft- oder Schenkungsteuer entsteht lediglich unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG, d. h. bei inländischem Vermögen im Sinne des § 121 des Bewertungsgesetzes (BewG). 69 Zum Ziel des „Hochschleusens“ der ausländischen Steuerlast auf das inländische Steuerniveau vgl. Johanna Hey, IStR 2009, 181 (182). 65 66
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auch keine spürbaren oder unvermeidlichen Konsequenzen nachteiliger Art für die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten.70
V. Unionsrechtliche Würdigung der Zurechnungsbesteuerung § 15 AStG rechnet das Einkommen und Vermögen einer ausländischen, nicht aber einer inländischen Familienstiftung dem Stifter oder den Bezugs- oder Anfallberechtigten zu. Mit dieser Zurechnung entfaltet die Regelung Wirkung vor allem für die Einkommensteuer,71 die „klassische“ direkte Steuer.72 Zwar unterliegen die direkten Steuern – anders als die indirekten Steuern – nicht dem Harmonisierungsauftrag der Europäischen Union nach Art. 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),73 verbleiben also in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Allerdings müssen die nationalen Gesetzgeber diese Zuständigkeit in Wahrung des Unionsrechts – insbesondere unter Beachtung der Grundfreiheiten – ausüben. Namentlich ist jede offene oder versteckte Diskriminierung zu unterlassen.74 1. Beeinträchtigung der Kapitalverkehrsfreiheit Die Zurechnungsbesteuerung bei ausländischen Familienstiftungen beeinträchtigt insbesondere den Schutzbereich von Art. 63 Abs. 1 AEUV,75 wonach alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten der EU sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten sind.76 Denn die AusA.A. Hallerbach (Fn. 17), S. 147 f. Hierzu oben sub III 3. 72 Eine direkte Steuer zeichnet sich dadurch aus, dass der rechtliche Steuerschuldner die Steuerlast in aller Regel auch wirtschaftlich trägt, dass er also Steuerdestinatar ist, während bei den indirekten Steuern (z. B. bei der Umsatzsteuer) eine Überwälzung auf Dritte intendiert ist. S. Dieter Birk, Steuerrecht, 11. Aufl. 2008, Rn. 43. 73 Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vom 13. 12. 2007 (ABl. EG Nr. C 306 S. 1, 249) zum 1. 12. 2009 ging die bis dahin bestehende Europäische Gemeinschaft (EG) in der Europäischen Union (EU) auf; der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) wurde im Wesentlichen durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) – mit anderer Artikelzählung – ersetzt. Art. 113 AEUV entspricht dem ehem. Art. 93 EGV. 74 St. Rspr. des EuGH, s. nur Urt. v. 14. 2. 1995, Rs. C-279 / 93, Slg. 1995, I-225 – Schumacker. 75 Entspricht dem ehem. Art. 56 Abs. 1 EGV. 76 Ausführlich dazu Hallerbach (Fn. 17), S. 232 f. i. V. m. 190 ff. m. w. N.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 27. 1. 2009, Rs. C-318 / 07, NJW 2009, 823 ff. Rn. 23 ff. – Persche. – Zu den anderen durch die Zurechnungsbesteuerung berührten Grundfreiheiten, die hier nicht aufgezeigt werden können, sowie deren Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit s. Hallerbach, ebd., S. 235 ff. 70 71
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stattung einer Familienstiftung sowie deren Zustiftungen sind als Wertübertragungen im Rahmen des Kapitalverkehrs mit persönlichem Charakter im Sinne der Nummer XI der Nomenklatur des Anhangs I der Kapitalverkehrsrichtlinie geschützt.77 Die mit der Zurechnungsbesteuerung verbundenen nachteiligen steuerlichen Folgen sind geeignet, einen potentiellen inländischen Stifter bei der Verwendung seines Kapitals in der Weise zu beeinflussen, dass er von der Einrichtung einer Familienstiftung im Ausland absieht.78 2. Rechtfertigung Eingriffe in die Kapitalverkehrsfreiheit können unter den Voraussetzungen des Art. 65 Abs. 1 AEUV79 gerechtfertigt sein. Danach bleibt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Allerdings dürfen solche Maßnahmen und Verfahren nach Art. 65 Abs. 3 AEUV weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs sein. Genau diese verschleierte Kapitalverkehrsbeschränkung bringt die Zurechnungsbesteuerung jedoch mit sich, so dass Art. 65 AEUV als Rechtfertigungsgrundlage ausscheidet. Mithin kommen als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nur „ungeschriebene“ Schranken der Grundfreiheiten in Betracht, d. h. zwingende Gründe des Allgemeininteresses. Als solche zwingenden Gemeinwohlbelange hat der Gerichtshof der Europäischen Union auf steuerlichem Gebiet zum einen die Kohärenz der steuerrechtlichen Regelungen und zum anderen die Bekämpfung der Steuerhinterziehung bzw. die Wirksamkeit der Steueraufsicht anerkannt.80 a) Kohärenz Die Kohärenz steuerrechtlicher Regelungen setzt einen unmittelbaren sachlichen Zusammenhang zwischen einem konkreten Steuervorteil und einem konkreten Steuernachteil bei derselben Person voraus. Als Steuervorteil zum Ausgleich der 77 Richtlinie 88 / 361 / EWG des Rates v. 24. 6. 1988 (ABl. EG Nr. L 178, S. 5 ff.). – Nummer XI lit. B des Anhangs I der Richtlinie regelt, dass sowohl Schenkungen unter Lebenden und von Todes wegen als auch Stiftungen vom Begriff des Kapitalverkehrs umfasst werden. 78 Vgl. die ähnliche Argumentation zur grenzüberschreitenden Abzugsfähigkeit von Spenden in EuGH, Urt. v. 27. 1. 2009, Rs. C-318 / 07, NJW 2009, 823 ff. Rn. 38 – Persche. 79 Entspricht dem ehem. Art. 58 Abs. 1 EGV. 80 Vgl. EuGH, Urt. v. 6. 6. 2000, Rs. C-35 / 98, Slg. 2000, I-4071 Rn. 46 – Verkooijen; Urt. v. 15. 7. 2004, Rs. C-315 / 02, Slg. 2004, I-7063 Rn. 27 – Lenz; Urt. v. 15. 7. 2004, Rs. C-242 / 03, Slg. 2004, I-7379 Rn. 20 – Weidert; Urt. v. 27. 1. 2009, Rs. C-318 / 07, NJW 2009, 823 ff. Rn. 52 – Persche. S. auch Joachim Lang, in: Klaus Tipke / Joachim Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 2 Rn. 60.
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Zurechnungsbesteuerung könnte die Tatsache greifen, dass ausländische Familienstiftungen nicht der Erbersatzbesteuerung nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG unterliegen.81 Dieser „Vorteil“ begünstigt indes die ausländische Familienstiftung als juristische Person, nicht aber diejenigen, die durch die Zurechnungsbesteuerung belastet werden, nämlich die unbeschränkt steuerpflichtigen Stifter oder Bezugs- und Anfallberechtigten. Insofern greifen die Erbersatzbesteuerung der Familienstiftung und die Zurechnungsbesteuerung auf rechtlich wie wirtschaftlich unterschiedliche Steuerpflichtige zu, die zudem in verschiedenen Staaten zur Steuerzahlung herangezogen werden.82 Eine „Kohärenz“ zwischen § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG und § 15 Abs. 1 AStG ist folglich nicht gegeben, sodass eine Rechtfertigung der Zurechnungsbesteuerung insoweit ausscheidet. b) Verhinderung der Steuerflucht Grundsätzlich sieht der Gerichtshof der Europäischen Union auch die Bekämpfung der Steuerhinterziehung als einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses an, mit dem sich Eingriffe in die Kapitalverkehrsfreiheit rechtfertigen lassen. Dazu fordert der Gerichtshof freilich, dass die Bekämpfung der Steuerflucht durch die jeweilige Regelung gezielt verwirklicht wird. Stellt die betreffende Vorschrift indessen eine generelle Missbrauchsvermutung auf, wird eine Rechtfertigung abgelehnt.83 Der Zweck von § 15 AStG besteht darin, zur Wahrung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung84 und im Interesse der Realisierbarkeit deutscher Steueransprüche Kapitalabwanderungen zu verhindern, die durch die Gründung ausländischer Familienstiftungen erfolgen. Bekämpft wird damit jeglicher Kapitaltransfer, auch im Rahmen einer nicht strafbewehrten Steuervermeidung. Eine solche Gesetzeskonzeption, die auf „Kollateralschäden“ keinerlei Rücksicht nimmt, führt in Bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit zu einem Zielkonflikt, d. h. zu einer Situation, in der das Erreichen des eines Zwecks – die Bekämpfung der Kapitalflucht – zwangsläufig die Verhinderung des zweiten Zieles – die Freiheit des Kapitalverkehrs – nach sich zieht. Dies greift zu weit. Zu rechtfertigen wären lediglich solche Vorkehrungen, die ausschließlich auf die Verhinderung der Steuerhinterziehung gerichtet sind und allenfalls als untergeordnete, zwangsläufige Nebenfolge eine Beeinträchtigung einer Kapitalverkehrsfreiheit mit sich bringen könnten. Demgegenüber normiert § 15 AStG eine unmittelbare Einkommen- und Vermögensteuerpflicht nicht nur des inländischen Stifters einer ausländischen Familienstiftung, sondern z. B. auch eines Inländers, der von einem ausländischen Stifter als BegünsOben sub III 1 und II 4. Vgl. Gerhard Kraft / Katja Hause, DB 2006, 414 (418). 83 Vgl. EuGH, Urt v. 11. 3. 2004, Rs. C-9 / 02, Slg. 2004, I-2409 Rn. 50 – Lasteyrie du Saillant; Helmut Rehm / Jürgen Nagler, IStR 2008, 284 (286). 84 Vgl. Thomas Reith, Internationales Steuerrecht – Handbuch zum Doppelbesteuerungsund Außensteuerrecht und zu Gestaltungen grenzüberschreitender Investitionen, 2004, Rn. 1.28. 81 82
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tigter einer ausländischen Familienstiftung eingesetzt wird. Gleiches gilt, wenn ein im Ausland ansässiger Begünstigter einer ausländischen Familienstiftung seinen Wohnort nach Deutschland verlegt, d. h. erst nach Stiftungserrichtung unbeschränkt steuerpflichtig wird.85 Diese Beispiele zeigen, dass § 15 Abs. 1 AStG nicht nur über das Ziel der Hinterziehungsbekämpfung hinausschießt, sondern auch über das Ziel der Rückführung von Stiftungsvermögen aus dem Ausland.86 Zudem entfaltet die Vorschrift ihre nachteiligen Wirkungen – im Gegensatz zur Hinzurechnungsbesteuerung gem. §§ 7 bis 14 AStG – nicht nur gegenüber Staaten mit niedrigerer Besteuerung, sondern ganz unterschiedslos auch gegenüber Hochsteuerländern, bezüglich deren Steuerumgehungsgründe gar nicht ausschlaggebend sein können.87 Es spricht vieles dafür, dass diese Vorschrift vor dem Gerichtshof der Europäischen Union keinen Bestand hätte.88 3. Ergänzung des § 15 AStG: Abwendung der Zurechnungsbesteuerung a) Vermögenstrennung und Amtshilfe Angesichts der geschilderten Unionsrechtslage nimmt es nicht wunder, dass die Europäische Kommission bereits im Jahre 2003 ein Vertragsverletzungsverfahren nach dem jetzigen Art. 258 AEUV89 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet hat. Darin bemängelte sie, dass § 15 Abs. 1 AStG die Kapitalverkehrsfreiheit sowie die Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV90 verletze.91 Darauf reagierte der Bundesgesetzgeber im Jahressteuergesetz 2009, indem in § 15 AStG ein neuer Absatz 6 eingefügt wurde.92 Danach findet die Zurechnungsbesteuerung ab dem Veranlagungszeitraum 2009 keine Anwendung auf Familienstiftungen mehr, die ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen)93 haben. Voraussetzung ist allerdings der Nachweis, dass das StiftungsVgl. Harald Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl. 1998, Rn. 11.5. Vgl. Gerhard Laule / Carl-Heinz Heuer, DStZ 1987, 495 (497). 87 Rehm / Nagler (Fn. 83), IStR 2008, 284 (286). 88 Vgl. EuGH, Urt. v. 12. 9. 2006, Rs. C-196 / 04, Slg. 2006, I-7995 Rn. 50 f. – Cadbury / Schweppes. 89 Entspricht dem ehem. Art. 226 EGV. 90 Entspricht dem ehem. Art. 18 EGV. Diese Vorschrift soll hier nicht näher untersucht werden. 91 Az. 2003 / 4610, vgl. die Pressemitteilung der Europäischen Kommission IP / 07 / 1151 vom 23. 7. 2007 unter: http: //europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1151 &type=HATML&aged=0&language=de&guiLanguage=de (Recherche v. 30. 5. 2009). 92 Jahressteuergesetz v. 19. 12. 2008 (BGBl. I S. 2794). Danach ist § 15 Abs. 6 AStG gem. § 21 Abs. 18 Satz 1 AStG erstmals für den Veranlagungszeitraum 2009 anzuwenden. 93 Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-A) v. 2. 5. 1992 (ABl. EG Nr. L 1 S. 3) wurde zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassozia85 86
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vermögen der Verfügungsmacht des Stifters, seiner Angehörigen und Abkömmlinge oder der sonst Bezugs- oder Anfallberechtigten entzogen ist. Zudem müssen zwischen der Bundesrepublik und dem Sitzstaat der Familienstiftung Auskünfte zur Durchführung der Besteuerung im Rahmen einer Amtshilfe erteilt werden. Grundlage zwischen den EU-Mitgliedstaaten ist die EG-Amtshilfe-Richtlinie vom 19. 12. 197794 und die auf ihr beruhenden nationalen Umsetzungsakte.95 Als Alternative kommen die Vorschriften zur Auskunftserteilung in den jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen in Betracht.96 Die akuten Bedenken gegen die Zurechnungsbesteuerung dürften damit jedenfalls im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten entschärft sein, auch wenn der neue § 15 Abs. 6 AStG seinerseits in der Kritik steht.97 b) Defizite im Verhältnis zu Liechtenstein Nach wie vor virulent ist die Behandlung von Familienstiftungen in Liechtenstein, das – wie Norwegen und Island – Vertragstaat des EWR-Abkommens ist.98 Nach Art. 40 ff. dieses Abkommens gilt die Kapitalverkehrsfreiheit auch gegenüber Liechtenstein. Die Zurechnungsbesteuerung entfällt nach § 15 Abs. 6 AStG allerdings nur, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift kumulativ erfüllt sind: – Der tatsächliche und rechtliche Entzug des Stiftungsvermögens aus der Verfügungsmacht des Stifters nach § 15 Abs. 6 Nr. 1 AStG ist alles andere als selbstverständlich. Denn wie oben (sub III 2) gezeigt, kann sich der Stifter einer Familienstiftung nach liechtensteinischem Recht in der Stiftungssatzung das jederzeitige Widerrufsrecht vorbehalten. Tut er das, ist die vermögensrechtliche Trennung nicht gewährleistet; der Nachweis nach § 15 Abs. 6 Nr. 1 AStG wird nicht gelingen. Entscheidend für den Familienstifter ist hier also eine eindeutige, unwiderrufliche und transparente Vertragsgestaltung. – Abgesehen davon besteht zwischen Deutschland und Liechtenstein bislang weder ein Doppelbesteuerungsabkommen, noch ist die EG-Amtshilferichtlinie auf tion (EFTA) und denen der EU abgeschlossen (vgl. BGBl. 1993 II S. 267). Es trat am 1. 1. 1994 in Kraft. Derzeit dehnt es den EG-Binnenmarkt auf Island, Liechtenstein und Norwegen aus. 94 EG-Amtshilfe-Richtlinie 77 / 799 / EWG v. 19. 12. 1977 (ABl. EG Nr. L 336 S. 15) mit spät. Änd. 95 Für Deutschland s. das EG-Amtshilfe-Gesetz v. 19. 12. 1985 (BGBl. I S. 2436, 2441) mit spät. Änd. 96 Als Vorlage dient Art. 26 des Musterabkommens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development – OECD). 97 So Hallerbach (Fn. 17), S. 242 f., 276 ff. 98 Das EWR-Abkommen ist für Liechtenstein am 1. 5. 1995 in Kraft getreten. Vgl. im Übrigen Jan Sedemund, BB 2006, 2781 (2784).
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Liechtenstein entsprechend anwendbar.99 Allerdings haben die Regierungen beider Staaten am 2. 9. 2009 in Vaduz ein Abkommen über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen geschlossen.100 Nach dessen Art. 5 erteilt insb. die Regierung des Fürstentums dem deutschen Bundeszentralamt für Steuern auf dessen Ersuchen Auskünfte zu steuererheblichen Informationen. Freilich enthält Art. 7 des Abkommens die Möglichkeit, das Auskunftsersuchen unter bestimmten Voraussetzungen abzulehnen. Insbesondere der dort statuierte Vorbehalt der öffentlichen Ordnung (Ordre-public-Klausel) könnte angesichts der bisherigen liechtensteinischen Rechtsüberzeugung zu Schwierigkeiten führen, zumal § 15 Abs. 6 Nr. 2 AStG fordert, dass die Steuerauskünfte nicht nur aufgrund einer Vereinbarung erteilt werden können, sondern dass sie zur Durchführung der Besteuerung tatsächlich erteilt werden. Die von liechtensteinischer Seite im Jahr 2008 unilateral eingeleiteten Reformen bei der Rechtshilfe in Steuersachen gegenüber dem Ausland werden in dieser Hinsicht jedenfalls bislang als unzureichend eingestuft.101 Damit wird sich die Zurechnungsbesteuerung bei Familienstiftungen liechtensteinischen Rechts nur abwenden lassen, wenn der Nachweis der – dauerhaften – Vermögenstrennung gelingt und die steuerlich relevanten Auskünfte durch die liechtensteinische Regierung tatsächlich erteilt werden.102 Dieses Ergebnis mag bei Familienstiftungen, die von Deutschen ohne Steuerumgehungs- und Steuerhinterziehungsabsicht in Liechtenstein errichtet werden, bedenklich erscheinen; die Gründe für diese Bedenken sind die gleichen wie für Stiftungsbeziehungen innerhalb des EU-Binnenmarktes.103 Nach Ratifikation des Steuerabkommens vom 2. 9. 2009 wird die Zukunft weisen, ob die in Aussicht stehende Kooperation zwischen den Finanzverwaltungen in Deutschland und Liechtenstein dazu führt, die im Fürstentum bestehenden ausländischen Familienstiftungen nach deutschem Steuerrecht anzuerkennen.
99 So auch Rehm / Nagler (Fn. 83), IStR 2008, 284 (287). Nachw. zur EG-Amtshilfe-RL in Fn. 94. 100 Pressemitteilung des Bundesministeriums der Finanzen Nr. 42 / 2009 v. 2. 9. 2009; Abkommenstext abrufbar unter http: //www.bundesfinanzministerium.de/nn_85154/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Steuern/Internationales__Steuerrecht/Staatenbezogene__Informationen /Liechtenstein/001__1,templateId=raw,property=publicationFile.pdf (Zugriff v. 30. 10. 2009). Dieses Abkommen befand sich bei Redaktionsschluss (1. 12. 2009) noch im parlamentarischen Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. 101 Hallerbach (Fn. 17), S. 249 f. 102 Kritisch Jochen Ettinger / Dorthe Christina Bauer, RIW 2008, 445 (453 f.); Hallerbach (Fn. 17), S. 274 ff., allerdings zur Rechtslage vor der Unterzeichnung des deutsch-liechtensteinischen Abkommens. 103 Oben sub V 1 und 2; s. auch Hallerbach (Fn. 17), S. 282 ff.
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VI. Fazit Vor dem Hintergrund der gegenüber Liechtenstein jedenfalls bislang bestehenden Zurechnungsbesteuerung wird klar: Die von Deutschen bisher dort errichteten Familienstiftungen eignen sich nicht als „Steuersparmodelle“. Denn das Vermögen, vor allem aber das Einkommen der Familienstiftung – etwa Erträge aus Kapitalvermögen oder aus Vermietung und Verpachtung – werden nach § 15 Abs. 1 AStG grundsätzlich unmittelbar dem Stifter oder den Bezugs- und Anfallberechtigten zugeschlagen. Diese Zurechnungsadressaten werden so behandelt, als ob sie die Einkünfte, die bei der Familienstiftung anfallen, selbst erzielt hätten; der Effekt der Familienstiftung wird steuerrechtlich negiert. Zwar mögen an diesem Ergebnis wegen seiner Generalität und Pauschalität europarechtliche Zweifel gehegt werden; an der Rechtslage können sie aber einstweilen nichts ändern. Die Attraktivität des Finanzplatzes Liechtenstein war insoweit bis dato nur für solche deutschen Stifter gegeben, die ihre Anlagestrategie von vornherein auf die Anonymität des liechtensteinischen Finanzplatzes ausrichten. Einer derartigen Vermögens- und Nachfolgeplanung haftet freilich unweigerlich das Odium der Steuerhinterziehung an, einer Straftat, die nach § 370 AO immerhin mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Auf diese Weise kann der Stifter, wie der Fall des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post AG, Klaus Zumwinkel, im Jahr 2008 gezeigt hat, unversehens zum Brandstifter werden – und zwar im eigenen Haus.
Verbindliche Auskunft in Steuersachen – Bestandskraft und Korrektur Von Heike Jochum*
Bereits vor rund dreißig Jahren widmete sich der Jubilar Wilfried Fiedler der Schnittlinie zwischen allgemeinem Verwaltungsrecht und Steuerrecht. Er stellte dabei fest, dass alle Bemühungen um eine Harmonisierung der Verwaltungsverfahrensgesetze sowie der Abgabenordnung leerlaufen müssen, solange nicht Klarheit über den theoretischen wie praktischen Stellenwert der „Besonderheit“ des Steuerrechts geschaffen werde.1 Dieser Befund stand noch unter dem unmittelbaren Eindruck von dem Ringen um eine Kodifikation des Verwaltungsverfahrens des Bundes einerseits sowie des Verwaltungsverfahrens der Finanzbehörden andererseits, das im Jahr 1977 zur Schaffung des VwVfG sowie der AO 1977 geführt hatte. Die Wissenschaft scheint bis heute insoweit kaum vorangekommen zu sein. Dies zeigt insbesondere der Umgang mit einem Handlungsinstrument der öffentlichen Verwaltung an dieser Schnittstelle zwischen allgemeinem Verwaltungsrecht und Steuerrecht, dem ebenfalls bereits früh das besondere Interesse Wilfried Fiedlers galt: der verbindlichen Zusage.2
I. Von der verbindlichen Zusage zur verbindlichen Auskunft in Steuersachen Die Finanzbehörden haben keine Steuerberatungsfunktion.3 Aus diesem Grund lässt die Abgabenordnung eine deutliche Zurückhaltung hinsichtlich des Handlungsinstruments der verbindlichen Zusage erkennen. Allein in der besonderen Situation nach einer Außenprüfung ist diese seit jeher in den §§ 204 ff. Abgaben* Univ.-Prof. Dr. Heike Jochum, Mag. rer. publ. Die Verfasserin ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Osnabrück. Den Grundstein ihrer verwaltungsrechtlichen Ausbildung legte der Jubilar an der Universität des Saarlandes in einer beeindruckenden Vorlesung zum Allgemeinen Verwaltungsrecht; ihr Habilitationsverfahren begleitete er im Jahr 2004 als Zweitberichterstatter. 1 Wilfried Fiedler, Allgemeines Verwaltungsrecht und Steuerrecht, NJW 1981, 2093 ff. 2 Wilfried Fiedler, Funktion und Bedeutung verbindlicher Zusagen im Verwaltungsrecht, Habil., Heidelberg / Karlsruhe 1977 (passim). 3 Wolfgang Jakob, Abgabenordnung, 4. Aufl., München 2006, Rn. 101.
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ordnung (AO)4 gesetzlich vorgesehen. Der Sachverhalt ist dann für die Vergangenheit abschließend geprüft. Das Interesse des Steuerpflichtigen an einer endgültigen Klärung der rechtlichen Beurteilung desselben wird in dieser Situation vom Gesetzgeber anerkannt. Die Finanzbehörde soll ihm daher auf seinen Antrag hin verbindlich zusagen, wie der verwirklichte Sachverhalt steuerrechtlich behandelt werden wird (§ 204 AO). Anders als § 38 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG)5 trifft die Abgabenordnung jedoch keine generelle Regelung über Zusagen im Besteuerungsverfahren. Gleichwohl hat die Rechtsprechung praeter legem die Bindung der Finanzbehörde an eine Auskunft oder Zusage in bestimmten Fallkonstellationen anerkannt. In der Praxis kann ein großes Interesse daran bestehen, über die steuerliche Beurteilung eines konkreten Sachverhalts bereits vor dessen Verwirklichung Gewissheit zu erlangen. Beispielsweise wenn der Verkauf eines Grundstücks ansteht und nicht sicher ist, ob dies später als gewerblicher Grundstückshandel gewertet und der Veräußerungsgewinn der Einkommen- und Gewerbesteuer unterworfen wird.6 Verwirklicht ein Steuerpflichtiger im Vertrauen auf eine behördliche Auskunft den konkret dieser zugrundeliegenden Sachverhalt, so nimmt die Rechtsprechung unter Rückgriff auf das Gebot von Treu und Glauben die Behörde in die Pflicht. Die Zusage der Behörde soll zwar kein Verwaltungsakt im Sinne von § 118 AO sein und daher nicht schon als solche Bindungswirkung entfalten. Jedoch lasse sie zwischen dem Finanzamt und dem Steuerpflichtigen ein Rechtsverhältnis entstehen, das mit Rücksicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben eine Bindungswirkung entfalte, die der eines Verwaltungsakts praktisch in nichts nachstehe.7 Ein Großteil der Lehre hat die verbindliche Zusage einer Finanzbehörde anders als die Rechtsprechung als Verwaltungsakt eingeordnet. Diese enthalte eine einseitige Selbstverpflichtung der Behörde gegenüber dem Steuerpflichtigen zu einem bestimmten zukünftigen Tun, Dulden oder Unterlassen. Eines Rückgriffs auf den Grundsatz von Treu und Glauben bedürfe es daher nicht.8 Die Finanzverwaltung 4 Abgabenordnung (AO) vom 1. 10. 2002 (BGBl. I S. 3869), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. 7. 2009 (BGBl. I S. 2474). 5 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVfG) neugefasst durch Bekanntmachung vom 23. 1. 2003 (BGBl. I S. 1029), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. 8. 2009 (BGBl. I S. 2827). 6 Wolfgang Jakob, Abgabenordnung, 4. Aufl., München 2006, Rn. 101. 7 BFH BStBl. III 1961, 562 (564); BStBl. II 1981, 538; BStBl. II 1983, 459; BStBl. II 1990, 274 (276); BStBl. II 2002, 714 (718); 2004, 742 (746); 2006, 155 (158). 8 Klaus Tipke, StuW 1962, 697 (704); Tipke / Kruse / Seer, AO, § 89 Tz. 24 ff.; N. v. Bomhard, Auskunft und Zusage im Steuerrecht, Diss. Regensburg 1988, S. 113 f.; G. Mayer, Die Zusage nach der AO 1977, Diss. Tübingen 1991, S. 57; K. Buciek, DStZ 1999, 389 (394); B. Dalichau, Auskünfte und Zusagen der Finanzverwaltung, Bielefeld 2003, S. 222 ff.; Wolfgang Jakob, Abgabenordnung, 4. Aufl., München 2006, S. 43 Fn. 66; Roman Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 21 Rn. 14; a.A. J. Thiel, DB 1988, 1343 (1349); R. Ling, DStZ 1989, 424 (425); H. Schuhmann, DStZ 1992, 231 (234); Tiedke / Wälzholz, DStZ 1998, 819 (821 f.); H. Hahn, DStZ 2003, 69 (70).
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hat lange Zeit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung den Verwaltungsaktscharakter einer verbindlichen Auskunft verneint. Nur unter engen Voraussetzungen wurde eine Bindungswirkung der behördlichen Auskunft nach Treu und Glauben anerkannt.9 Durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. September 200610 sind § 89 Absätze 2 bis 5 AO in die Abgabenordnung eingefügt worden. Damit hat der Gesetzgeber zumindest eine rudimentäre Regelung des Handlungsinstruments der verbindlichen Auskunft in Steuersachen geschaffen und dieses damit im Grundsatz anerkannt. Die aus rechtsdogmatischer Sicht entscheidenden Fragen beantwortet der Gesetzgeber dabei – bezeichnenderweise anders als die Frage nach der Gebührenpflicht der Auskunft – jedoch nicht. Vielmehr delegiert er deren Behandlung in § 89 Abs. 2 Satz 4 AO an die Finanzverwaltung. Diese wird ermächtigt durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen zu Form, Inhalt und Voraussetzungen des Antrags auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft zu treffen und insbesondere die Reichweite der Bindungswirkung derselben festzulegen. Die Finanzverwaltung ist diesem gesetzgeberischen Auftrag durch den Erlass der Steuer-Auskunftsverordnung (StAuskV)11 nachgekommen. Auch diese Regelungen sind nur kursorisch. Detaillierte Vorschriften finden sich erst auf Ebene der Verwaltungsvorschriften: Der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) 200812 regelt im Einzelnen unter welchen Voraussetzungen eine verbindliche Auskunft im Sinne von § 89 Abs. 2 AO erteilt werden kann, welche Bindungswirkung diese entfaltet, unter welchen Voraussetzungen diese korrigiert werden kann und welche Rechtsschutzmöglichkeiten gegeben sind. Zweifel daran, ob dieses Vorgehen demokratischen Grundsätzen und namentlich den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG)13 genügt, sind berechtigt. Namentlich die spezifischen Korrekturvorschriften in § 2 StAuskV sind nur mit Mühe unter das Tatbestandsmerkmal „Reichweite der Bindungswirkung“ der Ermächtigungsnorm des § 89 Abs. 2 Satz 4 AO zu fassen.14 Allenfalls der Umstand, dass sich in der SteuerAuskunftsverordnung und dem Anwendungserlass im Kern lediglich der Inhalt des früheren BMF-Schreibens wiederfindet, mag versöhnlich stimmen. Nichts anderes hatte der parlamentarische Gesetzgeber mit der Schaffung des § 89 Abs. 2 Satz 4 AO im Sinn. Gleichwohl überzeugt die Auslagerung so zentraler Regelungsinhalte in den Bereich des Rechts unterhalb des förmlichen Parlamentsgesetzes nicht.
BMF Schreiben vom 29. 12. 2003, BStBl. I 2003, S. 742, Rz. 5.1. Art. 18 des Föderalismusreform-Begleitgesetzes vom 5. 9. 2006 (BGBl. I S. 2098). 11 Verordnung zur Durchführung von § 89 Abs. 2 der Abgabenordnung Steuer-Auskunftsverordnung (StAuskV) vom 30. 11. 2007 (BGBl. I S. 2783). 12 Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO), BMF-Schreiben vom 2. 1. 2008 (BStBl. I S. 26), zuletzt geändert durch BMF-Schreiben vom 30. 7. 2009. 13 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. 7. 2009 (BGBl. I 2247). 14 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (586), die jedenfalls § 2 Abs. 3 StAuskV nicht mehr von § 89 Abs. 2 Satz 4 AO gedeckt ansehen. 9
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II. Rechtsnatur der verbindlichen Auskunft in Steuersachen Seit der Schaffung des § 89 Abs. 2 AO wird die verbindliche Auskunft in Steuersachen als Verwaltungsakt im Sinne von § 118 AO eingeordnet.15 Die Finanzverwaltung bringt dies in Rz. 3.5.5 Satz 1 des AEAO 2008 explizit zum Ausdruck. Die Bindungswirkung soll sich nun nicht mehr aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben, sondern aus der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung in § 89 Abs. 2 AO folgen.16 Wenn es aber so ist, dass es sich bei der verbindlichen Auskunft in Steuersachen um einen Verwaltungsakt handelt, ergeben sich neue Konsequenzen namentlich hinsichtlich der Bestandskraft derselben.17 Insbesondere die Wirksamkeit auch rechtswidriger verbindlicher Auskünfte und ihre nachträgliche Korrektur durch die Finanzverwaltung erscheinen dann in einem anderen Licht. Es gelten für die verbindliche Auskunft grundsätzlich alle relevanten verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Abgabenordnung. Dies gilt auch für die Reichweite der materiellen Bestandskraft sowie für die Möglichkeiten ihrer Durchbrechung auf der Grundlage der steuerverfahrensrechtlichen Korrekturvorschriften (§§ 129 – 131 AO). Gestützt auf die gesetzgeberische Ermächtigung in § 89 Abs. 2 Satz 4 AO hat die Finanzverwaltung allerdings einige bedeutsame Modifikationen der allgemeinen steuerlichen Verfahrensregelungen normiert.
III. Bestandskraft und Korrektur der verbindlichen Auskunft in Steuersachen Grundsätzlich wird ein Verwaltungsakt mit seiner Bekanntgabe gegenüber dem Inhaltsadressaten wirksam. Mit der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes ist die erlassende Finanzbehörde grundsätzlich an diesen gebunden. Sie kann sich nur noch in den von den Korrekturvorschriften (§§ 129 – 132, 164 Abs. 2, 165 Abs. 2, 172 ff. AO) gezogenen Grenzen von diesem lösen. Diese inhaltliche Verbindlichkeit wird mit dem Begriff materielle Bestandskraft umschrieben.18 Hinsichtlich der materiellen Bestandskraft sowie den Möglichkeiten einer Korrektur einer verbindlichen Auskunft im Sinne von § 89 Abs. 2 AO ergeben sich aus der Steuer-Auskunftsverordnung bedeutsame Modifikationen.
15 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (584); Dieter Steinhauff, Steuer-Auskunftsverordnung gemäß § 89 Abs. 2 AO, jurisPR-SteuerR 8 / 2008, Anm. 4. 16 Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 3. 17 Vgl. Wilfried Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2007, § 12 Rn. 46. 18 Roman Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 21 Rn. 80 ff.; Dieter Birk, Steuerrecht, 11. Aufl., Heidelberg 2008, Rn. 365 m. w. N.
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1. Sachverhaltsidentität Die materielle Bestandskraft einer verbindlichen Auskunft im Sinne von § 89 Abs. 2 AO hängt davon ab, dass der später verwirklichte Sachverhalt von dem der Auskunft zugrunde gelegten Sachverhalt nicht oder nur unwesentlich abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StAuskV). Dieses Erfordernis der Sachverhaltsidentität ist in dem zukunftsgerichteten Handlungsinstrument der Auskunft angelegt und versteht sich im Grunde von selbst. Unterbreitet der Steuerpflichtige der Behörde einen konkreten Sachverhalt und gibt die Behörde Auskunft über die steuerrechtliche Behandlung desselben, kann die Behörde auch nur insoweit verpflichtet sein. Einer darüber hinaus gehenden Bindungswirkung fehlt jede Grundlage. Die materielle Bestandskraft der verbindlichen Auskunft steht damit unter einer Art auflösenden Bedingung, die in der späteren Verwirklichung eines Sachverhaltes liegt, der von dem angefragten Sachverhalt nicht unwesentlich abweicht.19 Schließt damit eine nachträgliche Änderung des Sachverhaltes per se eine inhaltliche Verbindlichkeit und damit die materielle Bestandskraft der verbindlichen Auskunft aus, bedarf die Bedeutung einer nachträglichen Änderung der Rechtslage genauerer Betrachtung. 2. Nachträgliche Änderung der Rechtslage § 2 Abs. 2 StAuskV bestimmt, dass die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft entfällt, soweit Rechtsvorschriften aufgehoben oder geändert werden, auf denen die Auskunft beruht. Die verbindliche Auskunft erledigt sich damit im Zeitpunkt der Rechtsänderung „automatisch“, d. h. ohne Aufhebung durch die Behörde. Diese steht von Anfang an auch insoweit unter einer auflösenden Bedingung bezüglich der für sie maßgeblichen Rechtsvorschriften.20 Beurteilt die Finanzbehörde einen vom Steuerpflichtigen unterbreiteten konkreten Sachverhalt, so kann sie dies nur auf der Grundlage des zu dieser Zeit geltenden Rechts tun. Damit ist der materiellen Bestandskraft der verbindlichen Auskunft eine zeitliche Begrenzung wesenseigen. Sie muss entfallen, sobald sich die rechtliche Grundlage ändert, auf der die Auskunft fußt. Soweit der Steuerpflichtige den der Auskunft zugrunde liegenden Sachverhalt noch nicht verwirklicht hat, ist sein Vertrauen in den Fortbestand der für ihn günstigen Rechtslage auch von Verfassungs wegen nicht schutzwürdig. Dies gilt auch angesichts der im Steuerrecht nicht seltenen kurzfristigen Rechtsänderungen.21 Soweit die Änderung des Rechts mit den verfassungsrecht19 Vgl. Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (587). 20 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (587). 21 Krit. Dieter Steinhauff, Steuer-Auskunftsverordnung gemäß § 89 Abs. 2 AO, jurisPRSteuerR 8 / 2008, Anm. 4.
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lichen Anforderungen des Rückwirkungsverbots in Einklang steht, entfällt die materielle Bestandskraft der verbindlichen Auskunft.22 Die Regelung des § 2 Abs. 2 StAuskV entspricht der Vorschrift des § 207 Abs. 1 AO bezüglich der Bestandskraft einer verbindlichen Zusage im Rahmen der Außenprüfung.23 Der hier zum Ausdruck gebrachte Rechtsgedanke ist allgemein anerkannt: Es handelt sich um den Grundsatz der clausula rebus sic stantibus, d. h. dem Grundsatz über den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Die Zukunftsorientierung des Handlungsinstruments der verbindlichen Auskunft macht es erforderlich, dieses Prinzip zu berücksichtigen. Aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht ist gleiches bekannt. Hier ist es § 38 Abs. 3 VwVfG, der die Zusicherung des späteren Erlasses eines konkreten Verwaltungsaktes mit der Fortgeltung des derzeitigen Rechts verknüpft. Hervorzuheben ist, dass diese Regelung allein die Änderung der Rechtslage betrifft und nicht etwa eine Möglichkeit zur nachträglichen Korrektur ursprünglich fehlerhafter Rechtsanwendung eröffnet.24 3. Anfängliche Rechtswidrigkeit zu Ungunsten des Steuerpflichtigen Die materielle Bestandskraft einer verbindlichen Auskunft wirkt allein zu Gunsten des Steuerpflichtigen. War die verbindliche Auskunft zu Ungunsten des Steuerpflichtigen rechtswidrig, entfaltet sie gemäß § 2 Abs 1 Satz 2 StAuskV keine Bindungswirkung.25 Rechtswidrig ist eine Auskunft, soweit sie ohne Rechtsgrundlage oder unter Verstoß gegen materielle Rechtsnormen erlassen wurde oder soweit sie ermessensfehlerhaft war. Für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der verbindlichen Auskunft abzustellen. Sie ist auch dann von Anfang an rechtswidrig, wenn sich später die Rechtsprechung oder die Verwaltungsauffassung ändert. Dabei wird nämlich nur die von Anfang bereits bestehende Rechtslage klargestellt; die Unrichtigkeit der erteilten verbindlichen Auskunft wird lediglich erst nachträglich bekannt (Rz. 3.6.6 AEAO). Die durch die verbindliche Auskunft zugesagte Behandlung ist mit der rechtmäßigen Behandlung des der Auskunft zugrunde liegenden Sachverhalts zu vergleichen. Ergibt sich, dass die Veranlagung unter Beachtung der zutreffenden Rechtsauffassung für den Steuerpflichtigen günstiger ist, entfällt die materielle Bestandskraft der verbindlichen Auskunft. Die Steuer ist nach Maßgabe der Gesetze festzusetzen (Rz. 3.63 AEAO). 22 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (587). 23 Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 5. 24 Heinrich Amadeus Wolff, in: Wolff / Decker, VwGO / VwVfG, 2. Aufl., München 2007, § 38 VwVfG Rn. 24 f. 25 Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 5.
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Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 2 StAuskV spiegelt den Grundsatz der freien Aufhebbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte26, wie er in § 130 Abs. 1 AO und allgemein in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG prominent zum Ausdruck kommt.27 Einschränkungen erfährt dieser Grundsatz im Kern allein aus Vertrauensschutzgründen, soweit rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte in Rede stehen (§ 130 Abs. 2 AO, § 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 VwVfG). Zwar wird es sich bei einer verbindlichen Auskunft in aller Regel um einen begünstigenden Verwaltungsakt handeln. Zu den begünstigenden Verwaltungsakten zählen auch die – wie eine verbindliche Auskunft – rechtsbestätigenden oder rechtsfeststellenden Verwaltungsakte (§ 130 Abs. 2 1. Halbs. AO, § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG).28 Dabei wirkt ein belastender Verwaltungsakt insoweit begünstigend als er die Verpflichtung des Bürgers umfangmäßig beschränkt.29 Sieht also eine verbindliche Auskunft eine bestimmte steuerliche Behandlung eines konkreten Sachverhaltes vor, wirkt diese zwar belastend, soweit sich daraus eine Steuerschuld ergibt. Darin liegt jedoch zugleich die – vom Steuerpflichtigen im Interesse seiner Planungs- und Dispositionssicherheit auch gerade gewollte – Begünstigung, dass diese Steuerschuld nicht überschritten werden wird. Zeigt nun der Vergleich, dass die rechtswidrig zugesagte steuerliche Behandlung im Vergleich zur rechtmäßigen Veranlagung ungünstiger ist, kann jedoch nicht mehr von einem begünstigenden Verwaltungsakt die Rede sein. Die Belastung durch die verbindliche Auskunft tritt dann in den Vordergrund und bedarf mit Blick auf die verfassungsrechtliche Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz der Korrektur, ohne dass Vertrauensschutzaspekte irgendeine Einschränkung fordern würden. 4. Anfängliche Rechtswidrigkeit zu Gunsten des Steuerpflichtigen Ist bei einer anfänglichen Rechtswidrigkeit zu Ungunsten des Steuerpflichtigen dem Grundsatz der freien Aufhebbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte zu folgen, so wie er in § 130 Abs. 1 AO und § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zum Ausdruck kommt, so muss der gebotene Vertrauensschutz gewährt werden, soweit sich eine verbindliche Auskunft als rechtswidrig erweist und dabei die zugesagte rechtliche Beurteilung für den Steuerpflichtigen günstiger ist als die zutreffende steuerliche Veranlagung. Diese Situation entspricht der Korrektur eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes, sodass § 130 Abs. 2 AO anzuwenden ist. § 2 Abs. 3 StAuskV enthält insoweit jedoch eine merkenswerte Modifikation: Danach kann 26 Vgl. Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVfG 1963), 2. Aufl., Köln / Berlin 1968, Einzelbegründung § 37 S. 164 ff. 27 Vgl. Rudolf Wendt, Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten in Spezialgesetzen und im Verwaltungsverfahrensgesetz, JA 1980, 85 ff. 28 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (585). 29 Str. vgl. Dieter Birk, Steuerrecht, 11. Aufl., Heidelberg 2008, Rn. 372 m. w. N.; wie hier Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., München 2006, § 9 Rn. 49.
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eine verbindliche Auskunft unbeschadet der §§ 129 – 131 AO mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden, wenn sich herausstellt, dass die erteilte Auskunft unrichtig war. Der Verordnungsgeber war der Meinung, dass es im Interesse der Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung möglich sein müsse, die Bindungswirkung rechtswidriger oder rechtswidrig gewordener verbindlicher Auskünfte zeitlich zu begrenzen. Dem Vertrauensschutz werde dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass die Aufhebung oder Änderung nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen dürfe.30 Anders als § 130 Abs. 2 AO kennt § 2 Abs. 3 StAuskV damit keine über die Rechtswidrigkeit hinausgehenden Voraussetzungen für die Rücknahme einer verbindlichen Auskunft. Im Vergleich zur bisherigen Verwaltungspraxis ergeben sich damit keine Änderungen.31 Auch dürfte in der Tat der gebotene Vertrauensschutz gewahrt sein. Die Korrektur darf nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen. Sofern sich der Steuerpflichtige gleichwohl in einer prekären Situation befindet, weil er sich nicht mehr ohne erheblichen Aufwand bzw. nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten von den im Vertrauen auf die Auskunft getroffenen Dispositionen oder eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen zu lösen vermag, sieht der Anwendungserlass zur Abgabenordnung in Rz. 3.6.8 für den Einzelfall vor, von einer Korrektur aus Billigkeitsgründen abzusehen oder diese zu einem späteren Zeitpunkt eintreten zu lassen. Diese Regelung erscheint sachgerecht; es bleibt zu hoffen, dass die Verwaltung diese in der Praxis ernst nimmt.32 IV. Die Korrekturvorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts in steuerrechtlichem Gewand Die Finanzverwaltung hat sich beim Erlass des § 2 Abs. 3 StAuskV und der Formulierung der Rz. 3.6.6 – 3.6.8 insbesondere an den §§ 205 – 207 AO sowie an den früher maßgeblichen Regelungen des BMF-Schreibens vom 29. 12. 2003 (Rz. 4.4 – 4.7) orientiert. Diese hätten sich in der Praxis bewährt.33 Dem ist nicht zu widersprechen. Es stellt sich jedoch die Frage, warum der Gesetzgeber trotz dieses positiven Befundes die gebotene Entschlossenheit zur Schaffung einer konsistenten Gesamtregelung vermissen lässt. Diese Frage ist zum einen bezogen auf das kooperative Handeln der Steuerverwaltung als solches zu stellen.34 Zum anderen drängt sich diese Frage jedoch noch nachdrücklicher hinsichtlich der Korrekturvorschriften der Abgabenordnung auf. Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 6. Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (586). 32 Verona Franke / Hans-Hinrich von Cölln, Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet – Zur Bindungswirkung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 AO, BB 2008, 584 (585). 33 Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 3 f. 34 Roman Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 21 Rn. 16. 30 31
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Betrachtet man die Regelungen zur Korrektur der rechtswidrigen verbindlichen Auskunft, die von der zutreffenden Rechtsauffassung zu Gunsten des Steuerpflichtigen abweicht, wird deutlich: Die Korrekturvorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts sind denen der Abgabenordnung überlegen. § 2 Abs. 3 StAuskV enthält im Kern nichts anderes als eine bereichsspezifische Ergänzung des § 130 Abs. 2 AO um Vorschriften, die § 48 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VwVfG entsprechen. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, der eine Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt, nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zurückgenommen werden. Die Einschränkung dient dem Vertrauensschutz: Soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist, hat die Rücknahme zu unterbleiben. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens ist dabei anzuerkennen, wenn der Begünstigte die gewährte Leistung verbraucht hat oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Die Parallelen insbesondere zu der Billigkeitslösung der Steuerverwaltung in Rz. 3.6.8 AEAO sind unübersehbar. Mit großem Aufwand wird damit § 130 Abs. 2 AO, der im Übrigen § 48 Abs. 2 VwVfG beinahe wörtlich entspricht, in der Sache um die beiden vom Gesetzgeber der Abgabenordnung nicht übernommenen Sätze 1 und 2 ergänzt, soweit es die Korrektur verbindlicher Auskünfte im Sinne von § 89 Abs. 2 AO betrifft. Nichts anderes gilt allerdings nach § 207 Abs. 2 AO für verbindliche Zusagen im Rahmen einer Außenprüfung. Anstelle dieser punktuellen und bereichsspezifischen Ergänzung des § 130 Abs. 2 AO wäre eine generelle Ausweitung der Norm wünschenswert gewesen. Auf diese Weise hätte sich eine weitere Verkomplizierung des steuerlichen Verfahrensrechts vermeiden lassen. Die versteckten Sonderkorrekturvorschriften, die sich erst durch die Zusammenschau von Abgabenordnung, Steuer-Auskunftsverordnung und Anwendungserlass in ihrer Bedeutung erschließen lassen, sind entbehrlich. Sie verdeutlichen einmal mehr, dass der historische Gesetzgeber bei Erlass der Abgabenordnung 1977 zu vorsichtig war. In der Begründung zum Gesetzentwurf der Abgabenordnung heißt es hierzu: „Besondere Beachtung bei der Erstellung des Entwurfs hat auch die Frage der Vereinheitlichung des allgemeinen Verwaltungsrechts gefunden, die durch den Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (vgl. Drucksache VI / 1173) eingeleitet worden ist. . . . Zahlreiche Vorschriften (sic. des Entwurfs einer Abgabenordnung) . . . stimmen sachlich, in großem Umfang auch wörtlich, mit den entsprechenden Vorschriften des Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes überein. Soweit Abweichungen vorliegen, sind sie auf die Besonderheiten des Steuerrechts und auf seine bisherige eigenständige Entwicklung zurückzuführen. Es soll vermieden werden, ohne Not in eine durch Rechtsprechung gesicherte langjährige Verwaltungspraxis einzugreifen. . . .“35
Allein diese Unsicherheit des Gesetzgebers vermag jedoch das Nebeneinander von Abgabenordnung und Verwaltungsverfahrensgesetz nicht auf Dauer zu recht35 Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung BT-Drucks. VI / 1982 vom 19. 3. 1971 zum Erlass einer Abgabenordnung, S. 94 (Hervorhebungen nicht im Original).
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fertigen. Vielmehr ist der Nachweis dafür zu fordern, dass die Besonderheiten des Steuerrechts ein eigenständiges Verfahrensrecht erfordern, das in spezifischer Weise vom allgemeinen Verwaltungsrecht abweicht. Dieser Nachweis ist bislang nicht gelungen.36 Durch die Kodifizierung des Handlungsinstruments „verbindliche Auskunft“ haben Steuergesetzgeber und Finanzverwaltung vielmehr den Gegenbeweis angetreten, indem sie einen der wenigen Unterschiede zwischen Abgabenordnung und allgemeinem Verwaltungsrecht durch Anpassung an letzteres beseitigt haben. V. Zusicherung nach § 38 VwVfG und verbindliche Auskunft in Steuersachen Zeigt die Betrachtung, dass die Korrekturvorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts denen der Abgabenordnung überlegen sind, und berücksichtigt man die Forderung nach einer grundlegenden normativen Ordnung kooperativer Handlungsformen der Finanzverwaltung,37 drängt sich eine weitere Frage auf: Sind vielleicht auch die – jedenfalls im Ansatz vorhandenen – Regelungen kooperativen Verwaltungshandelns im allgemeinen Verwaltungsrecht auch für den Bereich des steuerlichen Verfahrens geeignet? Oder anders gewendet: Was spricht dagegen, das steuerliche Verfahrensrecht nicht allein im Bereich der Korrekturvorschriften dem allgemeinen Verwaltungsrecht anzupassen, sondern darüber hinaus auch beispielsweise einen prüfenden Blick auf die Regelung des § 38 VwVfG zu werfen? Sind die Instrumente der Zusage und der Zusicherung vielleicht auch im Besteuerungsverfahren tauglich? 1. Zusage und Zusicherung gemäß § 38 VwVfG Das allgemeine Verwaltungsrecht versteht unter einer – gesetzlich nicht geregelten – Zusage eine einseitige, verbindliche Willenserklärung einer Behörde, in Zukunft eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder diese zu unterlassen.38 Umstritten ist die Rechtsnatur der Zusage. Teilweise wird sie als Verwaltungsakt im Sinne von § 35 VwVfG eingeordnet. Durch die Zusage werde eine Rechtsposition des Adressaten verbindlich verändert; sie begründe eine sichere Anwartschaft, die für die Annahme einer Regelung ausreiche. Nach anderer Auffassung fehlt der Zusage dagegen der regelnde Charakter, weil sie lediglich eine Selbstverpflichtung der Verwaltung beinhalte.39 Der Streit um die Rechtsnatur der Zusage hat an Brisanz 36 Heike Jochum, Empfiehlt es sich, die Abgabenordnung 1977 vom sogenannten „Korrekturdualismus“ zu befreien?, StW 2006, 91 (92 ff.). 37 Roman Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln 2008, § 21 Rn. 16. 38 BVerwG, NVwZ 1998, 1082 f.; BVerwGE 26, 31 (36). 39 Zum Meinungsstreit Wilfried Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., BadenBaden 2007, § 12 Rn. 46 m. w. N.
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verloren, seit im allgemeinen Verwaltungsrecht der wohl wichtigste Unterfall der Zusage – die Zusicherung – durch § 38 VwVfG gesetzlich geregelt wurde.40 Die Zusicherung beinhaltet die verbindliche Absichtserklärung, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen oder zu unterlassen (§ 38 Abs. 1 VwVfG). Auf die Zusicherung finden gemäß § 38 Abs. 2 VwVfG zahlreiche Vorschriften Anwendung, die im Übrigen allein für Verwaltungsakte gelten. Dazu zählen insbesondere die Vorschriften über die Wirksamkeit sowie die Korrektur von Verwaltungsakten (§§ 44, 48 sowie 49 VwVfG). Eine für das Instrument der Zusicherung spezifische Regelung findet sich lediglich in § 38 Abs. 3 VwVfG. Danach entfällt die Bindung der Behörde an die gegebene Zusicherung, sofern sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich in relevanter Weise ändert. Diese Regelung greift die Grundsätze vom Wegfall der Geschäftsgrundlage (clausula rebus sic stantibus) auf. 2. Verbindliche Auskunft in Steuersachen und § 38 VwVfG Die verbindliche Auskunft in Steuerangelegenheiten hat ungeachtet aller dogmatischen Streitfragen vor dem Hintergrund allgemeine Anerkennung gefunden, dass Bürger und Unternehmen gerade im Steuerbereich häufig komplizierten und unübersichtlichen Sachverhalten begegnen, deren Auswirkungen auf die Steuerfestsetzung nur schwer zu beurteilen sind. Um Unsicherheiten bei Nutzung von Gestaltungsmöglichkeiten und den daraus resultierenden steuerlichen Konsequenzen zu vermeiden, wurde mit § 89 Abs. 2 AO die Möglichkeit geschafften in bestimmten Fällen vorab eine verbindliche Auskunft über die künftige Besteuerung zu beantragen.41 Damit liegt auf der Hand, dass die verbindliche Auskunft in Steuersachen grundsätzlich auf einen später zu erlassenden Steuerverwaltungsakt zielt. Es sind also exakt die von § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG vorgegebenen Voraussetzungen der Legaldefinition einer Zusicherung gegeben. Es stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, wenn man anstelle des unübersichtlichen Regelungskonvoluts bestehend aus § 89 Abs. 2 AO, Steuerauskunftsverordnung sowie den entsprechenden Vorschriften des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung schlicht § 38 VwVfG für anwendbar erklärt hätte. Unklarheit bestünde dann zwar noch immer bezüglich der Rechtsnatur der verbindlichen Auskunft in Steuersachen. Wie bei der Zusage ist nämlich im allgemeinen Verwaltungsrecht noch immer umstritten, ob die Zusicherung nach § 38 VwVfG die Voraussetzungen des Verwaltungsaktsbegriffs erfüllt.42 Doch fehlt diesem Meinungsstreit jede Substanz, da § 38 Abs. 2 VwVfG die zentralen Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsrechts über Verwaltungsakte für entsprechend anwendbar erklärt.43 Gerade aus dieser gesetzgeberischen Anordnung lässt sich Ausführlich Erichsen, Jura 1991, 109. Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 3. 42 Wilfried Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2007, § 12 Rn. 48 m. w. N. 40 41
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folgern, dass der Gesetzgeber die Zusicherung nicht als Verwaltungsakt ansieht; wäre dies anders, hätte es der Regelung des § 38 Abs. 2 VwVfG nicht bedurft. Diese Gretchenfrage könnte jedoch für das steuerliche Verfahren ebenso ohne Schaden unbeantwortet bleiben. Hinsichtlich der materiellen Bestandskraft und insbesondere der Korrektur verbindlicher Auskünfte der Finanzbehörden ergäben sich inhaltlich jedenfalls keine Abweichungen von dem Regelungsmodell, das Gesetzgeber, Verordnungsgeber und Finanzverwaltung nun in mühsamer Kleinarbeit durch detaillierte Sonderregeln geschaffen haben. Wie oben gezeigt, ergänzen und modifizieren die jüngst geschaffenen Sondervorschriften die Abgabenordnung in einer Weise, die diese gerade dem allgemeinen Verwaltungsrecht anpasst. Erinnert sei nur an § 2 Abs. 2 StAuskV der § 38 Abs. 3 VwVfG entspricht oder an § 2 Abs. 3 StAuskV, der zusammen mit Rz. 3.6.6 AEAO die hergebrachte Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO in einer Weise ergänzt, das sie bereichsspezifisch dem § 48 Abs. 2 VwVfG entspricht; also das Manko des § 130 Abs. 2 AO beseitigt, dass dort das Pendant zu § 48 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VwVfG an sich fehlt. Gewonnen wäre damit jedenfalls ein gutes Stück an Übersichtlichkeit. Hinzu käme ein weiterer Vorteil. Dieser ergäbe sich im Zusammenhang mit der gebotenen Gewährung effektiven Rechtsschutzes.
VI. Einspruch gegen die erteilte verbindliche Auskunft in Steuersachen Dem Anwendungserlass zur Abgabenordnung ist neuerdings zu entnehmen, dass gegen die erteilte verbindliche Auskunft – wie auch gegen die Ablehnung der Erteilung einer verbindlichen Auskunft – der Einspruch gegeben sei (Rz. 3.7.). Die Steuerauskunftsverordnung schweigt zu dieser Frage. Gleichwohl muss auch der Verordnungsgeber den Einspruch nach § 347 Abs. 1 AO für statthaft halten, da er die verbindliche Auskunft als Verwaltungsakt im Sinne von § 118 AO ansieht.44 Dieser Befund erstaunt auf den ersten Blick. Hergebrachter Weise war lediglich bei Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft der Einspruch statthaft. Sonst wurden Rechtsbehelfsmöglichkeiten abgelehnt; dies galt insbesondere auch, soweit die begehrte Auskunft zwar erteilt wurde, die Behörde dabei jedoch einen anderen Rechtsstandpunkt einnahm als der Antragsteller. Rechtsschutz gegen diese – für den Steuerpflichtigen negative Auskunft – war nicht eröffnet. Der Antragsteller wurde vielmehr auf das Festsetzungs- oder Feststellungsverfahren verwiesen, wenn er mit einer Auskunft nicht einverstanden war. Es war ihm also freigestellt, das geplante Vorhaben in Kenntnis der Rechtsauf43 Ausführlich dazu Paul Stelkens / Ulrich Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl., München 2008, § 38 Rn. 29 ff. 44 Begründung zur Steuer-Auskunftsverordnung, BR-Drucks. 725 / 07, S. 3.
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fassung der Finanzbehörde zu verwirklichen und im Anschluss um die zutreffende Auffassung zu streiten. Eine weitergehende Planungs- und Dispositionssicherheit wurde ihm verwehrt.45 Auf den zweiten Blick leuchtet es natürlich ein, dass die Finanzverwaltung nun auch gegenüber der erteilten verbindlichen Auskunft den Rechtsbehelf des Einspruchs zulassen muss. Spricht man der verbindlichen Auskunft den Charakter eines Verwaltungsakts zu, bleibt auf dem Boden des § 347 Abs. 1 AO keine andere Wahl. Ob diese Konsequenz allerdings sachgerecht ist, darf bezweifelt werden. Sie wirft neue schwierige Fragen auf. Wie verhält es sich beispielsweise mit der materiellen Bestandskraft der Einspruchsentscheidung? Kann ein Einspruchsbescheid auf dem Boden der §§ 129 ff. AO korrigiert werden? Jedenfalls § 172 Abs. 1 Satz 2 AO dürfte keine Anwendung finden. Doch wie verhält es sich mit den in der Steuer-Auskunftsverordnung statuierten Sonderregeln? Ist es etwa so, dass auch die Einspruchsentscheidung, die eine verbindliche Auskunft im Sinne des § 89 Abs. 2 bestätigt oder geändert hat, unbeschadet der §§ 129 – 131 AO mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden kann, wenn sich herausstellt, dass die erteilte Auskunft – in der Gestalt, die sie durch die Einspruchsentscheidung gefunden hatte – unrichtig war? Viel spricht dafür, dass die Sonderregeln zur Korrektur der verbindlichen Auskunft auf die Einspruchsentscheidung „durchschlagen“. Namentlich die gesetzgeberische Entscheidung für eine Synchronisierung der Korrekturvorschriften in § 172 Abs. 1 Satz 2 AO deutet in diese Richtung. Diese explizite Anordnung kann jedoch ebenso gut als Ausnahme von einem Grundsatz begriffen werden, der die Einspruchsentscheidung in formalistischer Trennung von der ihr zugrunde liegenden Ausgangsentscheidung regelmäßig ausnahmslos den §§ 129 ff. AO unterstellt. Beschritte man diesen Weg, müsste man jedoch in Kauf nehmen, dass die materielle Bestandskraft einer Einspruchsentscheidung der Korrektur einer verbindlichen Auskunft nach § 2 Abs. 3 StAuskV entgegenstehen könnte. Um solche Verwerfungen zu vermeiden, empfiehlt es sich, die Sonderregeln der Steuer-Auskunftsordnung entsprechend auf die Einspruchsentscheidung anzuwenden, die eine verbindliche Auskunft bestätigt oder ändert. Damit dürfte der Verordnungsgeber den durch § 89 Abs. 2 Satz 4 AO erteilten Regelungsauftrag allerdings endgültig überschritten haben. All diese Probleme ließen sich vermeiden, würde man das Handlungsinstrument der verbindlichen Auskunft in Steuersachen entsprechend dem bewährten Modell des § 38 VwVfG als Zusicherung ausgestalten. So ließe sich die gebotene Rechtssicherheit erreichen und sachgerechte Korrekturvorschriften würden möglich, ohne die Rechtsform des Verwaltungsakts wählen zu müssen. Es würde genügen, ganz nach dem Vorbild des § 38 VwVfG die üblichen Korrekturnormen der §§ 48, 49 VwVfG für entsprechend anwendbar zu erklären. Mit Blick auf die Zukunftsorientierung des Instruments der Auskunft sollte darüber hinaus auf § 38 Abs. 3 VwVfG und die darin enthaltene Regelung zur Änderung der Sach- und Rechts45
BMF Schreiben vom 29. 12. 2003, BStBl. I 2003, S. 742, Rz. 5.
806
Heike Jochum
lage im Sinne des Wegfalls der Geschäftsgrundlage Bezug genommen werden. Nichts anderes gilt übrigens auch für die verbindliche Zusage im Rahmen der Außenprüfung, die bereits seit langem durch § 207 AO ein Eigenleben entwickelt hat.
VII. Fazit Der Gesetzgeber hat dem Bedürfnis nach Kodifikation des im steuerlichen Verfahren praktisch wichtigen Instruments der verbindlichen Auskunft nur sehr halbherzig Rechnung getragen. Anders als hinsichtlich der Gebührenpflicht der Auskunft überlässt er die Regelung der rechtsdogmatisch entscheidenden Kernfragen der Exekutive. Den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG wird der Gesetzgeber damit nicht gerecht. Die maßgeblichen Vorschriften über Rechtsnatur, Bestandskraft und Korrektur verbindlicher Auskünfte in Steuersachen finden sich auf der Ebene unterhalb des förmlichen Parlamentsgesetzes. Die Finanzverwaltung hat dabei – wohl ohne es selbst zu bemerken – die Korrekturvorschriften der Abgabenordnung bereichsspezifisch noch stärker dem allgemeinen Verwaltungsrecht angenähert. § 130 Abs. 2 AO wird durch § 2 Abs. 3 StAuskV um eine Regelung ergänzt, die § 48 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VwVfG entspricht. Und eine § 38 Abs. 3 VwVfG korrespondierende Regelung findet sich in § 2 Abs. 2 StAuskV. Die Komplexität des steuerlichen Verfahrensrechts wird dadurch erheblich gesteigert. Viel spricht dafür, einen grundsätzlich anderen Weg zu beschreiten: Die Harmonisierung von Abgabenordnung und allgemeinem Verwaltungsrecht ist nicht nur möglich, sondern im Interesse einer schlanken Rechtsordnung und einer Stärkung der Einheit der Verwaltung46 sogar geboten.
46
33 ff.
Vgl. Rudolf Wendt, Die Einheit der Verwaltung als Rechtsproblem, NRWVBl. 1987,
Das Moraldilemma der Marktwirtschaft. Ursachen und Wege zur Überwindung Von Dieter Schmidtchen*
Die Marktwirtschaft ist in Verruf geraten: Gierige Spekulanten und ein unmäßiges Streben nach Renditen ließen nach Ansicht der Kritiker nicht nur die Finanzmärkte kollabieren, sondern trieben – so der Vorwurf – auch die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Strafrechtlich relevantes Fehlverhalten von Managern, Meldungen über Umweltzerstörungen, Massenentlassungen, Standortverlagerungen, Entwürdigung der Menschen am Arbeitsplatz und die Frustration durch Arbeitslosigkeit vervollständigen das Bild von einem angeblichen Systemversagen. Auch die evangelische Kirche in Deutschland stimmt in den Chor der Kritiker ein. In der Unternehmerdenkschrift der EKD1 zum Beispiel finden sich deutliche Worte gegen den Turbo-Kapitalismus und die Habgier angestellter Manager: „Besonders beunruhigend“ sei oft „die Tatsache des Abbaus von Arbeitsplätzen in gut verdienenden Unternehmen“.2 Auch zerstörten – so die Denkschrift – „unverhältnismäßig hohe Gehälter von Managern ( . . . ) das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft“.3 In der „öffentlichen Wahrnehmung“ dominiere heute oft ein „Unternehmertyp, der die Grundwerte der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr repräsentiert: Es ist der Manager eines Großbetriebs, der nur eine möglichst hohe Dividende für die Anteilseigner im Blick hat, dabei wenig Rücksicht auf die Beschäftigten nimmt und beim eigenen Scheitern auch noch Abfindungen in Millionenhöhe kassieren kann“.4 Gewiss, kaum einer bestreitet – auch die EKD nicht in ihrer Denkschrift5 –, dass die Marktwirtschaft eine „höchst raffinierte Maschine“ ist, ein hohes Sozialprodukt zu erzeugen, aber eben um den Preis, dass die Moral auf der Strecke bleibt. Marktwirtschaft und Menschenwürde – das scheint nicht zusammen zu passen.
* Dieter Schmidtchen, Prof. (em.), Direktor Center for the Study of Law and Economics, Universität des Saarlandes. 1 EKD (2008), Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der EKD, http: //www.ekd.de/EKD-Texte/2013html. 2 EKD, Denkschrift, S. 30. 3 EKD, Denkschrift, S. 15. 4 EKD, Denkschrift, S. 26 f. 5 Siehe z. B. EKD, Denkschrift, S. 24.
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Dieter Schmidtchen
I. Das Grundproblem Der Antagonismus von Marktwirtschaft und Moral entspringt einem Dilemma, das man das Moraldilemma der Marktwirtschaft nennen kann. Es ist dies ein Dilemma, das im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft und dessen, was als biblische „Heuschreckenplage“ von einigen Politikern geächtet wurde, noch an Brisanz gewonnen hat. Große Denker – von Adam Smith über Karl Marx bis Max Weber – haben sich mit ihm beschäftigt, und es lautet in seiner ersten Erscheinungsform wie folgt: Moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen, die Kosten verursachen, können von weniger moralischen Konkurrenten gewinnbringend ausgebeutet werden. Diese haben geringere Kosten als die moralisch motivierten Unternehmen und so werden sich im Wettbewerb die unmoralischen Akteure durchsetzen. Die moralisch Motivierten dagegen fahren Verluste ein und müssen aus dem Markt ausscheiden. Unter solchen Bedingungen kann moralisches Verhalten – verstanden als ein Verhalten, das sich an Prinzipien wie Menschenwürde, Toleranz, Solidarität, Gerechtigkeit, Fairness, Nächstenliebe orientiert und mehr tut, als Gesetz und Recht es verlangen – keinen Bestand haben. Im Wettbewerb siegt die Grenzmoral. Dies gilt auch für die zweite Erscheinungsform des Moraldilemmas, die darauf beruht, dass sich Betrug auszahlt. Wir kennen dies vom Sport: Wenn einer dopt, zwingt er die anderen, wenn sie gewinnen wollen, auch zu dopen. Der saubere Sportler ist zwar moralisch überlegen aber faktisch der Dumme. So verhält es sich scheinbar auch mit der Moral in der Marktwirtschaft: Wenn es ums Überleben geht, gibt es keinen Platz für sie. Offensichtlich wird hier ein Dilemma angesprochen, dessen Struktur sich anhand des aus der Spieltheorie bekannten Gefangenendilemma-Spiels veranschaulichen lässt. Die Spieltheorie untersucht strategische Entscheidungssituationen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass das Ergebnis der Entscheidungen für die Akteure, die Spieler genannt werden, von den Entscheidungen (Strategiewahl) der anderen Spieler abhängt und die Spieler sich dieser Abhängigkeit bewusst sind. Man spricht von Interdependenz der Entscheidungen. In einer Entscheidungssituation, die die Dilemmastruktur eines Gefangenendilemmas aufweist, bewirken individuell rationale Entscheidungen, d. h. auf die Maximierung des eigenen Vorteils gerichtete Entscheidungen, dass alle Akteure ein schlechteres Ergebnis erzielen als bei einem Handeln im gemeinsamen Interesse. Allseitige individuelle Rationalität widerspricht der gemeinschaftlichen Rationalität. Die Spieler stecken in einer Rationalitätenfalle. Zur Illustration betrachten wir den Fall der Korruption (Zahlung von Schmiergeldern), der allgemein als moralisch verwerflich angesehen wird. Zur Vereinfachung seien lediglich zwei Spieler unterstellt, die mit A und B bezeichnet werden. Die Spieler besitzen zwei Strategien: Korruption (K) und Nicht-Korruption
Das Moraldilemma der Marktwirtschaft
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(NK). Das Spiel wird in der folgenden Matrix dargestellt. Die Handlungsmöglichkeiten des Spielers A sind in der Kopfspalte, die des Spielers B in der Kopfzeile aufgeführt. Die Symbole in den Zellen der Matrix geben die Ergebnisse für die Spieler – Auszahlungen genannt – bei den vier möglichen Strategiekombinationen an. Das in einer Zelle an erster Stelle stehende Symbol repräsentiert die Auszahlung für den Spieler B, das zweitgenannte steht für den Spieler A. Mögliche Auszahlungen sind: T,R,P und S. Es wird angenommen, dass T > R > P > S und dass 2R > T+S. A
NK
K
NK
R,R
S,T
K
T,S
P,P
B
Fig. 1: Gefangenendilemma-Spiel
Das Strategienpaar, das aus den autonomen Entscheidungen der Spieler resultiert, heißt Gleichgewicht des Spiels. Die Frage lautet nun: Gibt es ein Gleichgewicht und wie sieht es aus? Jeder Spieler weiß, dass seine Auszahlung bei gegebener Strategiewahl davon abhängt, wie sich der Gegenspieler verhält. Er wird sich für die Strategie entscheiden, die ihm die höchste Auszahlung liefert. Aus der unterstellten Reihung der Auszahlungen ergibt sich für jeden Spieler, dass die Strategie K eine höhere Auszahlung liefert als NK – egal, wie sich der Gegenspieler entscheidet. Man nennt eine Strategie mit dieser Eigenschaft eine dominante Strategie. Beide Spieler werden diese wählen. Das Gleichgewicht des Spiels lautet also (K,K). Beide Spieler werden Schmiergelder zahlen. Kein Spieler hat einen Anreiz, sich anders zu verhalten. Man erkennt sofort das Vorliegen einer Rationalitätenfalle. Beide Spieler erhalten die Auszahlung P. Mit der gemeinsamen Wahl von NK könnten sich beide besser stellen, wegen R > P. Das Korruptions-Spiel besitzt die Eigenschaft, dass die nicht-moralische Strategie höhere Kosten verursacht als die moralische. Die Logik eines Moraldilemmaspiels gilt aber auch für solche Interaktionstypen, bei denen die nicht-moralische Strategie niedrigere Kosten verursacht. Angenommen, A und B seien Konkurrenten und Kinderarbeit bewirke niedrigere Kosten und damit höhere Gewinne. Die Strategie K stehe nun für Kinderarbeit und die Strategie NK für den Verzicht darauf. Man ersetze in der obigen Matrix K durch NK und NK durch K sowie S durch T und T durch S. Es ist leicht zu erkennen, dass im Gleichgewicht des Spiels beide Unternehmen Kinderarbeit wählen werden.
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II. Lösungen Wir wollen im Folgenden zunächst fragen, ob das abgeleitete Ergebnis tatsächlich zwingend ist, oder ob eine Marktwirtschaft spontan – aus sich heraus – moralisches Verhalten erzeugen kann. Im Anschluss daran werden vier Therapien untersucht, die im Verlauf der menschlichen Geschichte zur Überwindung des Moraldilemmas vorgeschlagen wurden. Sie lassen sich folgendermaßen bezeichnen: Dr. Eisenbarth-Methode, Umerziehung des Menschen, „Corporate Social Responsibility“ und marktwirtschaftliche Ordnungspolitik.
1. Spontane Ordnung Die spieltheoretische Herleitung eines Moraldilemmas erfolgte auf der Grundlage einer Annahme, die nicht ausdrücklich genannt wurde. Es wurde unterstellt, dass es sich bei der Interaktion um eine einmalige Interaktion handelt und beide Spieler dies wissen (gemeinsames Wissen). Oft ist es aber so, dass diese Interaktion wiederholt wird, wodurch sich die Möglichkeit bedingter Strategien eröffnet. Dabei handelt es sich um Strategien, die die Geschichte (die Abfolge früherer Interaktionen) bei der Wahl eines gegenwärtigen Verhaltens in Rechnung stellen, mit der Folge, dass Spieler im gegenwärtigen Spiel Belohnungen und Bestrafungen vornehmen können. Dadurch kann eine fundamentale Veränderung des Spielverhaltens erzeugt werden. Der Schatten der Zukunft in Form des Verlusts langfristiger Gewinne aus dauerhaft moralischem Verhalten zähmt den Anreiz, durch nichtmoralisches Verhalten Geld zu verdienen. Zwei Arten der Wiederholung können unterschieden werden: Eine Interaktion – sie heißt jetzt Basisspiel – wird endlich mal, z. B. 10 mal, wiederholt oder sie hat einen unbegrenzten Zeithorizont. Zur letzteren Kategorie zählen auch Spiele, von denen die Spieler wissen, dass sie endlich sind, aber stets eine positive Wahrscheinlichkeit (von kleiner eins) für eine Wiederholung existiert. Für Spiele, bei denen die Spieler wissen, dass sie definitiv nach einer endlichen Zahl von Wiederholungen enden, gelten die oben abgeleiteten Ergebnisse: Das Dilemma tritt in jeder Wiederholung auf. Die Erklärung ist einfach. Man betrachte ein Spiel, das zehnmal wiederholt wird, was beide Spieler wissen. Das letzte, das zehnte Basisspiel, hat genau die strategischen Eigenschaften des Einmalspiels. Die Spieler wissen, dass nicht-moralisches Verhalten auf beiden Seiten resultieren wird. Durch eine Bestrafung oder Belohnung im neunten Spiel lässt sich dies nicht verhindern. Deshalb werden sich die Spieler im neunten Spiel so verhalten, als wäre dies das letzte Spiel, mit der Folge, dass das Moraldilemma fortbesteht. Dieselbe Art von Überlegung – man nennt sie Rückwärtsinduktion – gilt aber auch für das achte Spiel usw. bis zum ersten Spiel. Die Folge davon ist, dass das Moraldilemma in keiner der wiederholten Interaktionen überwunden wird.
Das Moraldilemma der Marktwirtschaft
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In Spielen mit nicht determiniertem Zeithorizont kann das Moraldilemma unter bestimmten Voraussetzungen überwunden werden. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. Wir bezeichnen moralisches Verhalten allgemein mit M und nicht-moralisches mit NM. Es sei U(M,M) die kumulierte Auszahlung eines Spielers über alle Spielrunden hinweg, wenn sich alle in jeder Spielrunde moralisch verhalten (die zuerst in der Klammer angeführte Strategie ist die des Spielers A). Die kumulierte Auszahlung als Strom der Auszahlungen über alle Spielrunden berechnet sich für beide Spieler wie folgt
1
U
M; M R wR w2 R w3 R :::
R 1
w
In (1) stellt w den Diskontierungsfaktor dar. Dieser enthält zum mindesten zwei Elemente: Erstens die Wahrscheinlichkeit, dass das Spiel wenigstens einmal wiederholt wird. Zweitens erfasst er, wie ein Spieler gegenwärtige Kosten und Nutzen gegenüber zukünftigen Kosten und Nutzen bewertet (Grad der Gegenwartsvorliebe oder Ungeduld). Für w wurde ein Wert von größer Null und kleiner eins unterstellt, sodass der Strom der diskontierten Auszahlungen auf einen endlichen Wert konvergiert. Unterstellen wir nun der Einfachheit halber, dass ein nicht-moralisches Verhalten eines Spielers in einer Spielrunde sofort vom anderen Spieler entdeckt wird und dass dieser in allen folgenden Runden ebenfalls nicht-moralisch spielt. Dies kann als Bestrafung des zuerst nicht-moralisch spielenden Spielers angesehen werden. Dessen Auszahlungen bestimmen sich jetzt wie folgt: In der Spielrunde, in der er erstmalig nicht-moralisch spielt, erhält er eine Auszahlung von T und in allen folgenden P. Sei U(NM,M) die kumulierte Auszahlung des Spielers, der zuerst nicht-moralisch spielt, hier ist es A. Diese berechnet sich wie folgt:
2
U
NM; M T wP w2 P w3 P ::: T
1
wP w
Eine ähnliche Formel lässt sich für den Spieler B ableiten, falls dieser als erster nicht-moralisch spielen sollte. Ein Spieler wird sich in jeder Wiederholung des Spiels moralisch verhalten, gegeben die andere Seite tut dies auch, wenn der Wert von (1) mindestens so groß ist wie der Wert von (2), also
3
R 1
w
T
1
wP w
Dies lässt sich umformen zu
4
w
T T
R P
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Der Zähler der Bruches T – R misst die Stärke des Anreizes, sich nicht-moralisch zu verhalten. Der Nenner T – P steht für die Summe aus Zusatzgewinn aus nicht-moralischem Verhalten und Zusatzgewinn (pro Periode), wenn alle sich moralisch verhalten, denn es gilt: T – P = (T – R) + (R – P). Etwas ungenau lässt sich Formel (4) folgendermaßen interpretieren: Bei gegebener Größe von w nimmt der Anreiz zu allseitigem moralischen Verhalten zu, je kleiner der Zusatzgewinn T – R aus nicht-moralischem Verhalten ist und je größer der Verlust in der Bestrafungsphase aus allseitigem nicht-moralischen Verhalten R – P ausfällt. Wenn T, R und P gegeben sind, dann ist der Anreiz zu allseitigem moralischen Verhalten umso höher je größer w ist. Die Größe von w nimmt zu mit steigender Wiederholungswahrscheinlichkeit der Interaktion und mit abnehmender Gegenwartsvorliebe (Ungeduld) der Spieler. Die obenstehenden Überlegungen zeigen, dass das Moraldilemma einer Marktwirtschaft nicht unausweichlich ist; es gibt aber auch keine Garantie, dass es spontan überwunden wird. Betrachten wir nun die anderen Vorschläge zur Überwindung des Moraldilemmas. 2. Dr. Eisenbarth-Methode Die Dr. Eisenbarth-Methode kann auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückgeführt werden. Diese haben zwar im Kommunistischen Manifest die in der Marktwirtschaft freigesetzte wirtschaftliche Dynamik in den höchsten Tönen gepriesen – Originalton Marx / Engels: sie habe „massenhaftere und kolossalere Produktivkräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“ –, aber das hinderte sie nicht, um der Humanität und der Solidarität der Menschen Willen, die Abschaffung des Wettbewerbs und die Ersetzung der Marktwirtschaft durch eine auf kollektivem Eigentum beruhende zentrale Planwirtschaft zu empfehlen. Dieses Experiment endete 1989. Und wie wir wissen, hat es weder die ökonomischen noch die moralischen Erwartungen erfüllt, die man in es gesetzt hatte. Es war ein grandioser Irrweg, der vielen Millionen Menschen Elend, Unterdrückung und Tod brachte. 3. Umerziehung des Menschen Definiert man moralisches Handeln als direkt auf das Gemeinwohl, das öffentliche Interesse, gerichtetes Handeln, dann eröffnet sich eine zweite Möglichkeit zur Überwindung des Dilemmas zwischen Moral und Marktwirtschaft: Ein Antagonismus besteht nur solange der Mensch eigensüchtig handelt, nur an sein Wohl denkt – so wie dies angeblich der homo oeconomicus tut. Deshalb muss man den „alten Adam“ umerziehen, den „Satan des Egoismus“ bändigen, aus Egoisten Altruisten formen, den sozialistischen Menschen schaffen. Aber wie sich herausgestellt hat, ist dies nicht so einfach. Weil der Mensch sich als widerborstig erwies,
Das Moraldilemma der Marktwirtschaft
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wurden Umerziehungsmaßnahmen ergriffen, die man alles andere als moralisch nennen kann. Auch war immer eine gewisse Heuchelei im Spiel, wenn man daran denkt, dass in sozialistischen Volkswirtschaften zugleich das Prinzip der „materiellen Interessiertheit“ verherrlicht wurde. 4. „Corporate Social Responsibility“ Hinter dem Schlagwort von der „sozialen Verantwortung“ verbergen sich drei unterschiedliche Vorstellungen, die man mit Viktor Vanberg als die „weiche Variante“, die „harte Variante“ und die „radikale Variante“ bezeichnen kann.6 Die weiche Variante stellt die am häufigsten anzutreffende Spielart der Vorstellung von der sozialen Verantwortung von Unternehmen dar. Kurz und knapp lässt sich diese Variante durch die englische Formulierung umschreiben: „Corporate Social Responsibility is good business“.7 Dahinter steckt die Idee, dass es dem langfristigen unternehmerischen Erfolg zuträglich ist, wenn bei unternehmerischen Entscheidungen nicht nur an den eigenen Gewinn, sondern direkt auf die Interessen der Kunden, Arbeitnehmer, Lieferanten und des politischen Gemeinwesens Rücksicht genommen wird. Eine derart verstandene „soziale Verantwortung“ ist aber schlicht eine Frage klugen Geschäftsgebarens.8 Dagegen ist nichts einzuwenden, aber um kluges Geschäftsgebaren durchzusetzen, benötigt man bei Wettbewerb keine Moralkampagne. Das leistet der Wettbewerbsmechanismus aus sich heraus, indem er Kurzsichtigkeit bestraft und Weitsichtigkeit des unternehmerischen Handelns belohnt.9 Spieltheoretisch gesprochen: Wenn „corporate social responsibility“ ein Gleichgewicht darstellt, dann werden die Unternehmen aus Eigeninteresse zum moralischen Verhalten angeleitet. Bei der zweiten, der starken, Variante des Schlagworts von der „corporate social responsibility“ geht es um Ansprüche an unternehmerisches Handeln, die auch mit einem weitsichtigen, auf den langfristigen Unternehmenserfolg abgestellten Gewinnstreben in Konflikt geraten.10 Unternehmensführer sollen danach weder an die kurzfristige noch an die langfristige Gewinnmaximierung denken, sondern Nachhaltigkeit im Sinne einer Versöhnung von Ökonomie, Ökologie und Sozialem zur Handlungsmaxime erheben. Solche Forderungen verlangen von den Unternehmen, sich in selbstschädigender, das heißt, ihre Erfolgsaussichten im Markt mindernder Weise zu verhalten. Abgesehen davon, dass noch zu zeigen wäre, wie bei 6 Viktor Vanberg, Die soziale Verantwortung von Unternehmen – Ordnungspolitische Überlegungen, Weikersheimer Blätter, N.F. Nr. 10, Januar 2007: 85 – 90. Viktor Vanberg, Corporate social responsibility and the „game of catalaxy“: the perspective of constitutional economics, in: Constitutional Political Economy, 2007, vol. 18: 199 – 222. 7 Vanberg, Soziale Verantwortung, S. 88. 8 Vanberg, Soziale Verantwortung, S. 88. 9 Vanberg, Soziale Verantwortung, S. 88. 10 Vanberg, Soziale Verantwortung, S. 88.
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einem derartigen Verhalten „Wohlstand für alle“ geschaffen werden kann, besteht die Gefahr des Moral-Dilemmas fort. Dies gilt auch für privatautonom vereinbarte Kodices moralischen Verhaltens, wenn diese keine hinreichenden Sanktionen für nicht-moralisches Verhalten vorsehen. Das unerwünschte spieltheoretische Gleichgewicht verändert sich dann nicht. Bei der dritten, der „radikalen Variante“ geht es explizit oder implizit um eine grundsätzliche Ablehnung von Gewinnen als Steuerungsgröße im Wirtschaftsprozess.11 Im Kern wird der Wechsel zu einer anderen Wirtschaftsordnung als der marktwirtschaftlichen Ordnung empfohlen – freilich ohne immer deutlich zu machen, wie die Alternative aussehen soll. Damit handelt es sich um eine subversive Doktrin (Vanberg), die auf der Verschleierung des eigentlichen Anliegens beruht. An dieser Stelle erscheint es nützlich, sich einmal die Funktion von Unternehmensgewinnen in einer Marktwirtschaft in Erinnerung zu rufen. In einer Marktwirtschaft erfolgt die Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten im Wege freiwilligen Tauschs und durch freiwillige vertragliche Vereinbarungen. Diese kommen im Rahmen bestimmter Spielregeln, vor allem der Regeln des Rechts und der Moral, zustande. Unternehmen sind umso erfolgreicher in diesem Marktspiel (v. Hayek), je attraktiver die Güter und Leistungen sind, die sie anbieten, und je kostengünstiger sie diese Güter und Leistungen herstellen können. Erfolgsindikator ist der Unternehmensgewinn, also die Differenz zwischen dem Unternehmenserlös und den Kosten. Seine soziale Funktion besteht darin, die Produktivkräfte einer Gesellschaft (Arbeit, Kapital und Boden) in solche Verwendungsrichtungen zu leiten, in denen sie den größten gesellschaftlichen Nutzen stiften. Im Wettbewerb erzielte Gewinne stellen also ein Signalsystem dar, ohne das die Marktwirtschaft so orientierungslos wäre wie ein Fußballspiel, in dem das Toreschießen verpönt wäre. Aus Sicht des marktwirtschaftlichen Signalsystems besteht die soziale Verantwortlichkeit der Unternehmen darin, nach möglichst hohen Gewinnen zu streben. Der bekannte liberale Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman hat dies in seinem 1962 erschienenen Buch „Capitalism and Freedom“ folgendermaßen formuliert: „In einem freien Wirtschaftssystem gibt es nur eine einzige Verantwortung für die Beteiligten: Sie besagt, dass die verfügbaren Mittel möglichst gewinnbringend eingesetzt und Unternehmungen unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Profitabilität geführt werden müssen, solange dies unter Berücksichtigung der festgelegten Regeln des Spiels geschieht, das heißt unter Beachtung der Regeln des offenen und freien Wettbewerbs und ohne Betrugs- und Täuschungsmanöver“.12 Mit dem Streben nach Gewinnen kommen die Unternehmen ihrer Verantwortung gegenüber den Kapitaleignern („share-holder“) nach. Die Interessen der übrigen „stakeholder“ sind in Form der vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen 11 12
Vanberg, Soziale Verantwortung, S. 89. Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart 1971, S. 175 f.
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der Unternehmen gewahrt. Die „soziale Verantwortung“ der Unternehmen besteht hier darin, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Eine darüber hinausgehende soziale Verpflichtung existiert nicht.13 Die Friedmansche Umschreibung der sozialen Verantwortung von Unternehmen impliziert eine Zielvorgabe für Manager, die hinreichend präzise ist, so dass Manager auch bei Versagen zur Rechenschaft gezogen werden können. Das ist völlig anders, wenn man Managern den Auftrag erteilen würde, die Interessen aller „stakeholder“ zu befriedigen. 5. Ordnungspolitik Wenn Wettbewerb unter gegebenen Rahmenbedingungen – den Spielregeln des Marktspiels – zu moralisch unerwünschten Ergebnissen führt, dann besteht Anlass, nach Möglichkeiten der Verbesserung der Rahmenbedingungen zu suchen. Es ist wenig realistisch und nicht zielführend, Mängel in der Rahmenordnung des Wettbewerbs dadurch korrigieren zu wollen, dass man die Marktteilnehmer auffordert, Selbstopferung zu betreiben. Vielmehr ist die so genannte Ordnungspolitik gefordert. Die Auflösung des Widerspruchs von Wettbewerb und Moral durch Ordnungspolitik, die man auch als „klassische Strategie“ bezeichnet, weil sie bereits von Adam Smith dem Urvater der modernen Nationalökonomie vorgeschlagen wurde, besteht darin, die Moral wettbewerbsneutral und damit ausbeutungsresistent in die Spielregeln, also die Wirtschaftsordnung, einzubauen. Es gilt, durch sanktionsbewehrte Regeln nicht-moralisches Verhalten so zu verteuern, dass es sich nicht mehr lohnt. Alle Konkurrenten werden denselben Spielregeln unterworfen. Keiner kann durch nicht-moralisches – also den Spielregeln widersprechendes – Handeln zu Kosten derjenigen einen Wettbewerbsvorteil erringen, die sich moralisch, also den Spielregeln gemäß, im Markt verhalten. Moral wird zu einer Ordnungsmoral und Wirtschaftsethik zur Ordnungsethik. Hören wir, was der Sozialphilosoph Karl Homann, der seit Jahren diese klassische Strategie vertritt, zu sagen hat: „Der Wettbewerb – in der Wirtschaft und auf dem Fußballplatz – bringt die erwünschten Wirkungen nur dann hervor, wenn die Moral beziehungsweise Fairness durch ein System von (Spiel-) Regeln garantiert wird. Wenn die Regeln und Durchsetzungsinstanzen verkommen, landen wir im ruinösen Wettbewerb des Kampfes aller gegen alle. Das Problem der Ausbeutbarkeit der Moral durch weniger moralische Konkurrenten – mit der Folge des Absin13 Falls die Verträge Leistungen und Gegenleistungen nicht präzise beschreiben sollten (unvollständige Verträge) und Verhaltensspielräume für rechtlich nicht zu verhindernden Missbrauch eröffnen, könnte eine moralisch motivierte „soziale Verantwortung“ ins Spiel kommen. Gerechtigkeitsvorstellungen spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle (siehe Dieter Schmidtchen, Ökonomie und Gerechtigkeit, in: Kai Horstmann u. a. (Hrsg.), Gerechtigkeit – eine Illusion?, Münster 2004, S. 43 – 71.
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kens der Grenzmoral – wird dadurch gelöst, dass die Konkurrenten denselben Marktstandards unterworfen werden, weil Regeln alle Teilnehmer am Spiel ,Markt‘ gleichermaßen binden. Sanktionsbewehrte Regeln verteuern unmoralisches Verhalten, sodass es sich nicht mehr lohnt. Damit ist die Stabilität der Moral unter Bedingungen des Wettbewerbs gewährleistet“.14 Moral wird zu einer Ordnungsmoral und Wirtschaftsethik zur Ordnungsethik. Der Grundgedanke dieses Konzepts kann mit Bezug auf das oben betrachtete Gefangenendilemmaspiel leicht verdeutlicht werden. Wenn die spontane Ordnung des Marktes bei der Etablierung von Moral versagt, dann sollte durch ordnungspolitisches Handeln dafür gesorgt werden, dass moralisches Spielen zu einem Gleichgewicht wird. Das Spiel muss verändert werden. Dies kann einmal dadurch geschehen, dass ein Einmalspiel in ein wiederholtes Spiel mit dem gewünschten Gleichgewicht verwandelt wird oder – falls es sich bereits um ein wiederholtes Spiel handelt –, dass Maßnahmen ergriffen werden, die zur Verwirklichung der Formel (4) beitragen. Man könnte versuchen, den Diskontierungsfaktor zu erhöhen. Erfolgsversprechender scheint jedoch eine Veränderung der Auszahlungsstruktur des Basisspiels im Wege der Bestrafung nicht-moralischen Verhaltens und der Belohnung moralischen Verhaltens zu sein. III. Erläuterungen zur Ordnungsmoral Einige Erläuterungen zur „klassischen Lösung“ erscheinen angebracht:15 1. Die Ethik in der Ordnungspolitik ist eine Anreizethik. Sie zielt nicht darauf ab, den Menschen zu verändern und eine bestimmte Gesinnung zu erzeugen. Vielmehr kommen die Fremdinteressen als Nebenprodukt der Verfolgung des eigenen Interesses zum Zuge.16 Moral, rein ergebnisorientiert, auf einen unternehmensstrategischen Kalkül zu reduzieren – als eine Investition, die sich durch künftige „returns“ rechnet –, wird gleichwohl aus zweierlei Gründen kritisiert: Zu anderen gut zu sein, nur weil sich dies auch für den Handelnden rechnet, ist angeblich keine Leistung. Moralischer Verdienst sollte nur denjenigen Handlungen zugesprochen werden, die etwas „kosten“ und ein Opfer verlangen.17 Das kann man allerdings auch anders sehen: Aus welchen Motiven z. B. Leute Geld spenden, 14 Homann, K. und Christoph, Lütge, Einführung in die Wirtschaftsethik, 2. Aufl., LIT Verlag, Münster, S. 53. 15 Homann / Lütge, Einführung, Fn. 14; Homann, Das ethische Programm der Marktwirtschaft, Vortragsreihe des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Nr. 4 / Februar 2007. 16 Homann / Lütge, Einführung (Fn. 14), S. 19. 17 Elmar Waibl, Vom Anreiz zum Guten und den Zwängen zum Bösen – Zur ethischen Bewertung von Wirtschaftsakteuren, in: Michael Fischer / Richard Hammer (Hrsg.), Wirtschafts- und Unternehmensethik, Frankfurt 2007, S. 88.
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kann den Hilfsbedürftigen doch egal sein. Hauptsache, das Geld wird für sie aufgebracht. Der zweite Kritikpunkt lautet: „Wenn das Sollen vom Wollen abhängig ist, d. h. wenn die Fremdinteressen nur aus Eigeninteresse berücksichtigt werden, dann ist die Berücksichtigung der Fremdinteressen auf ein labiles Fundament gestellt.18 Oder wie es Rousseau formuliert: „Wer nur um des Geldes willen Gutes tut, wartet nur darauf, besser bezahlt zu werden, um Schlechtes zu tun“.19 Das ist zweifellos ein schöner Spruch. Dass sich die darin erwähnten Erwartungen nicht erfüllen, dafür hat die Ordnungspolitik zu sorgen. 2. Eine Moral darf den Menschen nicht überfordern. In der heutigen anonymen Großgesellschaft kann Moral hauptsächlich nur über die Ordnungspolitik verwirklicht werden. In überschaubaren Gruppen gelten andere Gesetze. Die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe zu Gott in Verbindung mit der Eigen- und Nächstenliebe bilden dort einen Kompass für Entscheidungen in Konfliktsituationen. Keine Moral, auch keine christliche Moral, sollte vom Einzelnen verlangen, dass er dauerhaft und systematisch gegen seine Interessen verstößt. Karl Homann umschreibt dies wie folgt: „Der heilige Martin ist kein Modell für die moderne Gesellschaft, oder anders: Der heilige Martin würde unter modernen Bedingungen eine Mantelfabrik bauen, dem Bettler und anderen Arbeit geben, damit diese sich die Mäntel selber kaufen können.20 3. Moralisch bedenkliche Zustände der Welt dürfen aus ordnungspolitischer Sicht nicht auf den bösen Willen der Akteure zurückgeführt werden oder ihren Egoismus oder ihre Profitgier. Sie sind vielmehr Folge unzweckmäßiger oder fehlender Regeln zur Ordnung der Wirtschaft.21 Mittlerweile wird zunehmend anerkannt, dass auch die Ursachen der internationalen Finanzkrise in erster Linie mit Politikversagen und weniger mit Marktversagen zu tun haben. Der Markt als Informationsverarbeitungssystem hat dieses Politikversagen lediglich offen zum Ausdruck gebracht. Selbst Habermas konzediert, dass „die Spekulanten ( . . . ) sich im Rahmen der Gesetze konsequent nach der gesellschaftlich anerkannten Logik der Gewinnmaximierung verhalten (haben). Die Politik macht sich lächerlich, wenn sie moralisiert, statt sich auf das Zwangsrecht des demokratischen Gesetzgebers zu stützen. Sie und nicht der Kapitalismus ist für die Gemeinwohlorientierung zuständig“.22 Mit dem Finger auf die Sündenböcke zu zeigen, hält er für Heuchelei. Wenn man die Haftung für die Folgen eigenen Handelns beschränkt, darf man sich über übertriebene Risikovorliebe nicht wundern. Gehen die Dinge schief, 18 19 20 21 22
Waibl, Vom Anreiz, (Fn. 17), S. 89. Zitiert nach Waibl, Vom Anreiz, (Fn. 17), S. 89. Homann, Das ethische Programm, (Fn. 15). Homann, Das ethische Programm, (Fn. 15). Jürgen Habermas, Nach dem Bankrott, Die Zeit, 6. Nov. 2008, S. 53 f.
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dann haftet man nur beschränkt mit dem eingesetzten Eigenkapital. Erweist sich das Investment dagegen als erfolgreich, dann streicht man den vollen Gewinn ein. Diese Asymmetrie verleitet eindeutig zum Glücksrittertum und muss den Ansatzpunkt für Reformen darstellen. 4. Wettbewerb ist ein wohlstandsschaffendes Spiel. Auch die EKD hat dies mittlerweile in ihrer Denkschrift ausdrücklich anerkannt, und sie hat insofern ihren Frieden mit dem Kapital geschlossen. Der Wohlstand aller hängt aber von geeigneten Spielregeln, von der Wirtschaftsordnung, ab. Die Wirtschaftsordnung hat die Aufgabe, das eigeninteressierte Handeln der Einzelnen in eine Richtung so zu lenken, dass nur der am Markt erfolgreich ist, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat, was diese wünschen. Damit ist die Rücksicht auf andere qua Interaktionslogik im Marktsystem endogenisiert.23 Karl Homann umschreibt dies wie folgt: „Die Marktwirtschaft ist gewissermaßen die institutionalisierte Solidarität oder Nächstenliebe, insofern in der Marktwirtschaft mit geeigneter Rahmenordnung nur der individuelle Vorteile erzielen kann, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat, was diese wünschen“.24 Nur der ist im Wettbewerb erfolgreich, der ständig darüber nachdenkt, wie er die Bedürfnisse seiner Kunden besser befriedigen kann. Würde man von Marktteilnehmern im Wettbewerb verlangen, dass sie in ihren Entscheidungen bewusst darauf verzichten, das Spiel erfolgreich zu spielen, dann wäre das Analogon im Fußball, von den Spielern zu verlangen, nicht gewinnen zu wollen. Wenn man ein Spiel verbessern will, dann sollten nicht Appelle an die Spieler zur Selbstschädigung gerichtet werden, sondern dem Korrekturbedarf auf der Ebene der Spielregeln begegnet werden. 5. In der EKD-Denkschrift wird beklagt, dass Unternehmen trotz hoher Gewinne Arbeiter entlassen. Offensichtlich werden sie dies nur tun, wenn die Wertschöpfung der Arbeiter niedriger ist als die Löhne und dieses Defizit auf Dauer nicht beseitigt werden kann. Ohne Zweifel, Entlassungen sind hart für die Betroffenen. Es ist verständlich, dass sie sich dagegen wehren. Und Politiker unterstützen sie dabei aus guten Motiven. Aber wenn Politiker diese Entlassungen verhindern wollen, dann sollten sie bedenken, dass der, der „sozial“ Gutes schaffen will, häufig das Gegenteil erreicht. Zweierlei ist zu bedenken: Wie wirkt eine solche Politik auf die Anreize potentieller Investoren, neue Arbeitsplätze im Land zu schaffen? Diese müssen nämlich damit rechnen, in eine Mausefalle zu geraten, aus der sie nicht mehr herauskommen. Zweitens: Aus moralischen Gründen müssten sie fordern, dass überall dort, wo die Wertschöpfung dauerhaft niedriger ist als die Löhne, Entlassungen unterbleiben. Kann man das wirklich wollen? Kann man, um mit Kant zu sprechen, das direkte Hilfsmotiv zu einer allgemeinen Maxime des Handelns erheben? 23 24
Homann / Lütge, Einführung, (Fn. 14), S. 53. Homann, Das ethische Programm, (Fn. 15).
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6. Die Wettbewerbsordnung besitzt aus ihrer Natur heraus moralische Qualität aus mehreren Gründen: – Eine Wettbewerbsordnung beruht auf Tausch. Tausch aber impliziert Respekt vor den Rechten der potentiellen Tauschpartner. Menschen, die tauschen, unterscheiden sich fundamental von jenen, die anderen einfach das wegnehmen, was sie selbst haben wollen (auch wenn das Motiv nur darin besteht, es anderen zu geben). Ein Tausch beruht auf der Zustimmung aller Parteien, d. h. in ihm manifestiert sich Freiwilligkeit. Eine Wettbewerbsordnung ist deshalb das genaue Gegenteil einer Zwangs- oder Gewaltordnung. Recht statt Gewalt soll herrschen. Das ist die Grundforderung der Rechtsmoral. – Eine Wettbewerbsordnung ist Demokratie pur, besser als die politische Demokratie. Jeder Euro, der verausgabt wird, ist ein Stimmzettel, der die Unternehmen dazu zwingt, das zu tun, was die Kunden wünschen. In einer Wettbewerbsordnung wird jeden Tag millionenfach abgestimmt – und nicht nur alle vier oder fünf Jahre. Gewiss, der eine mag mehr Stimmen haben als der andere. Aber dann kommt es entscheidend darauf an, ob er sein Stimmpotential dadurch erworben hat, dass er der Gesellschaft gemäß den systemimmanenten Spielregeln einen Dienst erwiesen hat. – Wettbewerb ist – wie bereits erwähnt – ein wohlstandsschaffendes Spiel. Dieser Wohlstand ermöglicht es, den Armen in der Welt in höherem Maße zu helfen, als dies jede bekannte Wirtschaftsordnung ermöglichen würde. Jemand, der wie Mutter Theresa den Armen helfen möchte, profitiert vom Wettbewerb, weil dieser es ihm erlaubt, Nahrung, Kleidung und Medizin zu niedrigstmöglichen Preisen zu kaufen. – Wettbewerb ist ein Entmachtungsinstrument. Bei Wettbewerb hat kein Marktteilnehmer Marktmacht, die er zur Ausbeutung der Marktgegenseite ausnutzen kann. – Eine Wettbewerbsordnung ist eine Freiheitsordnung. Sie garantiert zwei Arten von Freiheit: Die Wettbewerbsfreiheit für die Unternehmen, d. h. die Freiheit zur Innovation (zur schöpferischen Zerstörung) und zur Imitation. Der Wettbewerbsfreiheit korrespondiert die Auswahlfreiheit der Nachfrager im Markt. – Der wettbewerbliche Markt ist farbenblind: Einem nach Gewinn strebenden Unternehmer ist es egal, ob eine Arbeit von einem Weißen oder einem Farbigen verrichtet wird. Ihn interessiert allein die Wertschöpfung. Wer diskriminiert, wird im Wettbewerb bestraft. Auf der anderen Seite sollte man aber auch nicht das vergessen, was Hannah Arendt, die große Kämpferin gegen totalitäre Tendenzen, gesagt hat: „Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist“. Gemeint ist aber Gleichheit vor dem Gesetz und nicht Gleichbehandlung im privaten oder geschäftlichen Umgang.
7. Eine Reform der Wirtschaft hat weder bei den Motiven noch bei den Handlungen der Akteure anzusetzen, sondern bei ihren Handlungsbedingungen, den Spielregeln.
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Was man hier falsch machen kann, sei am Beispiel der Mindestlohngesetzgebung erläutert: „Guter Lohn für gute Arbeit“ – so lautet ein Slogan. Aber was heißt das? Das Maß für die Güte der Arbeit ist der Wert des Produktes der Arbeit, also deren Wertschöpfung. Diese wird in einer Wettbewerbswirtschaft demokratisch bestimmt. Gewinnmaximierende Unternehmen werden Arbeiter einstellen oder weiterbeschäftigen, solange der Lohn die Wertschöpfung der Arbeiter nicht übersteigt. Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze, solange diese Bedingung nicht verletzt ist (etwa im Falle von Nachfragemacht am Arbeitsmarkt). Bei Wettbewerb am Arbeitsmarkt aber entspricht im Gewinnmaximum der Lohn der Wertschöpfung. Führt man Mindestlöhne ein, die den Marktgleichgewichtslohn übersteigen, werden Arbeitsplätze vernichtet. Das ist ein ehernes Gesetz der Marktwirtschaft. Ein abschreckendes Beispiel stellen die Mindestlöhne dar, die auf Betreiben von Zumwinkel im Briefverkehr eingeführt wurden. Sie hatten den Zweck, und erfüllten ihn auch, Konkurrenten der Post AG vom Markt zu verdrängen und der Post Marktmachtgewinne zuzuschanzen. Damit einher ging die Vernichtung vieler Arbeitsplätze. 8. Ein Plädoyer für Ordnungsmoral ist kein Plädoyer für die Abschaffung von Individualmoral. Ordnungsmoral ist eine Antwort auf ein Moraldilemma in der Marktwirtschaft. Wo ein solches Dilemma nicht existiert, benötigt man die Ordnungsmoral nicht. Die Individualmoral kann sich entfalten; Unternehmen sind frei, Gutes zu tun. Aber selbst da, wo das Dilemma vorhanden ist, ist jedermann frei, sein Handeln an moralischen Prinzipien auszurichten. Das ist nicht verboten. Man muss nur zusehen, dass die Nachhaltigkeit eines moralischen Handelns nicht gefährdet ist. 9. Die klassische, die ordnungspolitische, Strategie zur Versöhnung von Marktwirtschaft und Moral begegnet zwei Einwänden, von denen der erste berechtigt ist, der zweite aber nicht. Der erste Einwand lautet: Die Strategie funktioniert nicht im globalen Wettbewerb, da eine Rahmenordnung für die globale Wirtschaft, die die Ausbeutung von Moralität verhindert, bestenfalls in Bruchstücken existiert. Zwar wird an einer Weltrahmenordnung auf der Grundlage der „klassischen Strategie“ gearbeitet. Aber eine solche Ordnung, wie wir sie von den modernen Industriestaaten wie etwa Deutschland kennen, wird es auf Jahrzehnte hinaus nicht geben. Was könnte man in der Zwischenzeit tun? Zwei Strategien stehen zur Verfügung: Die Nationalstaaten schützen ihre Wirtschaft vor ausbeuterischer Konkurrenz, vor Moral-Dumping. Diese Strategie ist jedoch wenig empfehlenswert, weil sie zum Missbrauch einlädt. Das, was in Deutschland z. B. Lohndumping genannt wird und zur Beschränkung des Zuzugs von Arbeitskräften aus dem Ausland per Gesetz führte, ist kein Dumping, sondern Ausdruck eines natürlichen Wettbewerbsvorteils. Die Beschränkungen des Zuzugs diskriminieren ausländische Arbeiter und sind – nebenbei bemerkt – kein Beitrag zur internationalen Solidarität
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der Arbeiterklasse. Und wer eine Beschränkung von Importen durch Zölle und ähnliche Maßnahmen fordert, sollte bedenken, dass dadurch insbesondere die Armen geschädigt werden, weil diese einen besonders großen Teil ihres Geldes für importierte Waren ausgeben. Als Alternative bietet sich an, Moral im globalen Wettbewerb ohne staatliche Rahmenordnung dadurch zu etablieren, dass sie zum wirtschaftlichen Erfolgsfaktor wird. Moralische Vor- und Mehrleistungen sind dann als Investitionen in Reputation zu interpretieren, die sich wirtschaftlich auszahlen. Hier ist die Phantasie kluger Unternehmensführer gefragt. Der unberechtigte Einwand gegen die „klassische Strategie“ der Versöhnung von Wettbewerb und Moral durch Ordnungspolitik wird mit der folgenden Frage angesprochen: Was geschieht mit den „Mühselig und Beladenen“, den Zu-kurzGekommenen, denjenigen, die unverschuldet oder verschuldet zu Wettbewerbsbedingungen kein menschenwürdiges Einkommen verdienen können? Die Antwort wurde – in Deutschland jedenfalls – 1949 gegeben, und sie heißt Soziale Marktwirtschaft. Deren Leitidee ist es, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt, mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Das Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verwirklichen, ist die Aufgabe der Sozialpolitik. Einige Erläuterungen hierzu: Eine Marktwirtschaft erzeugt ein Durchschnittseinkommen, das höher ist als das jeder bekannten alternativen Wirtschaftsordnung. Aber möglicherweise ist auch die Ungleichheit des Einkommens größer – die so genannte Schere zwischen Arm und Reich, die angeblich zu „sozialen Schieflagen“ führt. Wer die ungleiche Einkommensverteilung als unmoralisch verdammt, sollte Dreierlei bedenken: Erstens: Die Ungleichheit kann erforderlich sein, damit der Durchschnitt steigt. Zweitens: Wer sich am unteren Ende der Einkommensskala befindet, mag immer noch ein höheres Einkommen erzielen als es bei jeder anderen Wirtschaftsordnung der Fall wäre. Drittens: Falls aber dieses Einkommen für ein menschenwürdiges Leben nicht reichen sollte, dann kann dem durch eine Umverteilungspolitik entgegengewirkt werden. Was sagt die Statistik? Ein Viertel der Steuerpflichtigen zahlt vier Fünftel der Lohn- und Einkommensteuer. Die Umverteilung über das Steuersystem funktioniert. Wer monatlich mehr als 3125 Euro verdient, zählt zur besser verdienenden Minderheit. Die Gefahr besteht, dass dieser überschaubare Kreis der Leistungsempfänger am Ende eines jeden Monats feststellt, dass sich Leistung in diesem Land kaum noch lohnt. 10. Die Ordnungsethik ist eine Ethik ohne Individual-Moral. Es kommt ihr nicht auf die Motive des Handelns – die Gesinnung – an: „Die Moral der Marktwirtschaft liegt nicht in moralischen oder altruistischen Motiven, sie fußt auf den Ergebnissen des marktwirtschaftlichen Prozesses: Der Wohlstand aller hängt nicht vom Wohlwollen der Akteure ab, sondern von der Rahmenordnung, die unter Benutzung des Eigeninteresses die allseits gewünschten Ergebnisse hervorbringt“.25
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Deshalb wird das Sollen mit dem Wollen durch ein ordnungspolitisch ausgestaltetes Anreizsystem verkoppelt.26 Aber wenn an Stelle der Individuen die Wirtschaftsordnung zum Ort der Moral wird, „dann sind die Politiker, denen die Gestaltung der Rahmenordnung obliegt, der letzte Hort der Moral“.27 Treibt man dann nicht Teufel mit Beelzebub aus? Oder anders formuliert: Macht man nicht den Bock zum Gärtner?
25 26 27
Homann, Das ethische Programm, (Fn. 15). Waibl, Vom Anreiz, (Fn. 17), S. 93. Waibl, Vom Anreiz, (Fn. 17), S. 94.
Zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen Von Rudolf Wendt* I. Die steuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen Unter Sanierungsgewinnen im steuerlichen Sinne werden Erhöhungen des Betriebsvermögens verstanden, die durch den vollständigen oder teilweisen Erlass von Schulden zum Zwecke der Sanierung entstehen. Eine Sanierung wird dabei als Maßnahme verstanden, „die darauf gerichtet ist, ein Unternehmen oder einen Unternehmensträger (juristische oder natürliche Person) vor dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren und wieder ertragsfähig zu machen (= unternehmensbezogene Sanierung)“.1 Der Erlass von Schulden kann insbesondere durch den Verzicht auf Forderungen (Erlassvertrag nach § 397 Abs. 1 BGB) erfolgen.2 Bis zum Veranlagungszeitraum 1997 (einschließlich) waren diese Sanierungsgewinne unter bestimmten Voraussetzungen nach § 3 Nr. 66 EStG a.F. steuerfrei gestellt. Für die nachfolgenden Veranlagungszeiträume wurde diese Steuerfreiheit aufgehoben. Dies wurde vor dem Hintergrund der neuen Insolvenzrechtsordnung ab dem Jahre 1999 als eine Behinderung von Sanierungsbemühungen im Vergleich zur vorher geltenden großzügigen Regelung interpretiert.3 Die Insolvenzrechtsordnung rückt nämlich die Sanierung von Unternehmen stark in den Vordergrund. Sie verfolgt als wesentliche Ziele die bessere Abstimmung von Liquidations- und Sanierungsverfahren, die Förderung der außergerichtlichen Sanierung sowie die Stärkung der Gläubigerautonomie. Es soll dem redlichen Schuldner Gelegenheit gegeben werde, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien.4 Eine * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrecht an der Universität des Saarlandes und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes. Er ist dem Fakultäts- und Fachkollegen Wilfried Fiedler in langer und tiefer Freundschaft verbunden. 1 BMF, Schreiben „Ertragsteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen; Steuerstundung und Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen (§§ 163, 222, 227 AO)“ vom 27. März 2003 – IV A 6 – S 2140 – 8 / 03, BStBl. I 2003, 240 Tz.1; BFH vom 6. 3. 1997 – IV R 47 / 95 –, BStBl. II 1997, 509; vom 14. 7. 2010 – X R 34 / 08 –, http: //juris.bundesfinanzhof.de Rdnr. 31; FG Mecklenburg-Vorpommern vom 3. 3. 2004 – 1 K 15 / 02 –, beck-online – BeckRS 2004 26016097. 2 BMF, BStBl. I 2003, 240 Tz. 3. 3 Bernhard Janssen, Erlass von Steuern auf Sanierungsgewinne, DStR 2003, 1055 (1056). 4 Anna M. Nolte, Ertragsteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen, NWB Nr. 46 vom 14. 11. 2005, Fach 3, S. 13735.
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Besteuerung von Sanierungsgewinnen kann eine beabsichtigte Sanierung dagegen gefährden. Mit Schreiben vom 27. März 2003 reagierte das Bundesministerium der Finanzen auf Kritik und praktische Verfahrensvorschläge zur Abmilderung der neuen Gesetzeslage. Dabei zielt es im Kern auf den Erlass von Steuern auf Sanierungsgewinne, um so den auch von ihm anerkannten Zielkonflikt mit der Insolvenzordnung zu lösen. Nach dem Schreiben sind entstehende Sanierungsgewinne zunächst separat festzustellen. Nach der Ermittlung von deren Höhe erfolgt eine Verrechnung mit allen aufgelaufenen Verlusten unbeschadet bestehender Ausgleichs- und Verrechungsbeschränkungen im Sinne der §§ 2 Abs. 3, 2a, 2b, 10d, 15 Abs. 4, 15a, 23 Abs. 3 EStG. Soweit nach Durchführung der Verrechnungen ein Sanierungsgewinn verbleibt, wäre dieser an sich der regulären Ertragsbesteuerung zu unterwerfen. Angesichts des Liquiditätsabflusses gerade in Zeiten einer beginnenden Gewinnphase, der damit verbunden wäre, sowie der Reduzierung des Eigenkapitals um den Betrag der entrichteten Steuer wird eine solche Besteuerung vom Bundesministerium der Finanzen als eine erhebliche Härte für den Steuerpflichtigen gewertet. Daher kann aus sachlichen Billigkeitsgründen auf Antrag des Steuerpflichtigen die Steuer auf den verbleibenden Sanierungsgewinn nach § 163 AO abweichend festgesetzt und nach § 222 AO mit dem Ziel eines späteren Erlasses (§ 227) zunächst unter Widerrufsvorbehalt ab Fälligkeit gestundet werden.5 Voraussetzung für diese Billigkeitsmaßnahmen ist die Einordnung der anfallenden Betriebsvermögensmehrung als Sanierungsgewinn. Im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 27. März 2003 werden als Voraussetzung für das Vorliegen eines Sanierungsgewinns die Sanierungsbedürftigkeit und Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, die Sanierungseignung des Schulderlasses und die Sanierungsabsicht der Gläubiger genannt. Damit wird auf die Kriterien abgestellt, die für die Anwendung der früheren Vorschrift des § 3 Nr. 66 EStG a.F. Voraussetzung waren.6 Es liegt auf der Hand, dass in einer Zeit wie der heutigen, in der Deutschland dabei ist, eine der größten wirtschaftlichen Krisen der Nachkriegszeit zu überwinden, die Frage der steuerlichen Belastung von Sanierungsgewinnen von hoher Bedeutung für den Erfolg von Unternehmenssanierungen bzw. -restrukturierungen, ja schon für die Inangriffnahme effizienter Sanierungsbemühungen ist. Daher soll den aufgeführten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Erlass von Ertragsteuern auf Sanierungsgewinne aus sachlichen Billigkeitsgründen näher nachgegangen werden. Eine Präzisierung dieser Voraussetzungen ist zum einen vonnöten, um die in der Verwaltungspraxis zu beobachtenden Tendenzen zu einem restriktiven Verständnis dieser Voraussetzungen auf ihre Berechtigung hin zu 5 BMF, BStBl. I 2003, 240 Tz. 7 ff.; Verfügung der OFD Hannover vom 11. 2. 2009 – S 2140 – 8 – StO 241. 6 BFH vom 7. 2. 1995 – IV R 177 / 83 –, BStBl. II 1985, 504; FG Mecklenburg-Vorpommern vom 3. 3. 2004 – 1 K 15 / 02 –, beck-online – BeckRS 2004 26016097; Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2661 ff.).
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überprüfen. Sie ist zum anderen auch im Blick auf die mit derartigen Billigkeitsmaßnahmen verbundenen Einnahmeausfälle für die öffentliche Hand und nicht zuletzt zur Vermeidung missbräuchlicher Gestaltungen geboten.
II. Rechtfertigung der steuerlichen Behandlung von Sanierungsgewinnen Entgegen der vom FG München vertretenen Auffassung7 ist die Besteuerung eines Gewinns aus dem Erlass einer Betriebsschuld sachlich unbillig, wenn und soweit nach der Verrechnung mit aufgelaufenen Verlusten ein an sich steuerpflichtiger Sanierungsgewinn verbleibt.8 Es fehlt nach der heutigen Rechtslage an einer Doppelbegünstigung durch Steuerfreiheit und Verlustvortrag. Diese Doppelbegünstigung hatte unter der Geltung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. darin bestanden, dass Sanierungsgewinne unabhängig von dem Umstand steuerfrei blieben, ob ein Verlustvortrag bestand oder nicht. War ein solcher vorhanden, konnte das Unternehmen zunächst die Steuerfreiheit des Sanierungsgewinns genießen und danach durch den Verlustvortrag auch die ersten laufenden Gewinne noch steuerfrei vereinnahmen.9 Diese Lage bewog den Gesetzgeber zur Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. Die Doppelbegünstigung aufgrund der Steuerbefreiung und der unbeschränkten Nutzung der Verlustvorträge sollte zukünftig vermieden werden.10 Damit ist im Hinblick auf die steuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen gerade die Steuerrechtslage nicht mehr gegeben, die man im Laufe der Zeit als zu „großzügig“ empfunden hatte. Das hat zur Folge, dass heute die Besteuerung eines nach der Verrechnung mit aufgelaufenen Verlusten verbleibenden Sanierungsgewinns – mangels einer Doppelbegünstigung durch Steuerfreiheit und Verlustvortrag – den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderliefe.11 Die Finanzverwaltung geht daher entsprechend § 3 Nr. 66 EStG a.F. zu Recht von einem allgemeinen Erlassgrund aus. Es ist u. a. darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber selbst in seiner Begründung zum Unternehmensteuerreformgesetz 2008 im Jahre 2007 von einer Anwendbarkeit des BMF-Schreibens vom 27. März 2003 ausgeht, d. h. davon, dass 7 FG München vom 12. 12. 2007 – 1 K 4487 / 06 –, DStR 2008, 1687 f.; zur Kritik bereits etwa Heinz-Günter Gondert / Benjamin Büttner, Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen – Anmerkung zum Urteil des Finanzgerichts München vom 12. 12. 2007, DStR 2008, 1676 ff. 8 Joachim Lang, in: Klaus Tipke / Joachim Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, S. 278 m. w. N. 9 Bernhard Janssen, Erlass von Steuern auf Sanierungsgewinne, DStR 2003, 1055 (1056). 10 Stephan Eilers / Franziska Bühring, Sanierungssteuerrecht – Selbst ein Sanierungsfall?, StuW 2009, 246 (252); Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2659). 11 BFH vom 14. 7. 2010 – X R 34 / 08 –, http: //juris.bundesfinanzhof.de Rdnr. 29; bereits FG Köln vom 24. 4. 2008 – 6 K 2488 / 06 –, BB 2008, 2666 ff.
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entsprechend diesem Schreiben von der Besteuerung von Sanierungsgewinnen, die nicht mit Verlustvorträgen verrechnet werden können, ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung im Billigkeitswege abgesehen werden könne.12 In seiner Stellungnahme zum Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) vom 3. April 200913 hat der Bundesrat seinen Änderungsantrag zu § 34 Abs. 7b Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes damit begründet, die Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen durch Verwaltungsanweisung (Sanierungserlass) sei nicht ausreichend, negative Effekte zu verhindern. Hinzu kommt, dass nach dem Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22. Dezember 200314 Verluste, die weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des Verlustrücktrags ausgeglichen werden können, ab dem Veranlagungszeitraum 2004 (vgl. § 52 Abs. 25 EStG 2004) im Rahmen des Verlustvortrags nur noch begrenzt verrechnungsfähig sind. Angesichts der Verknüpfung der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit einem unbeschränkten Verlustabzug kommt möglichen Billigkeitsmaßnahmen nach dem BMF-Schreiben vom 27. März 2003 daher eine besondere Bedeutung zu.15 Im Übrigen hat die Rechtsprechung bereits vor Einführung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. durch das Körperschaftsteuerreformgesetz vom 31. August 197616 erkannt, dass der durch eine Sanierung herbeigeführte Gewinn unter bestimmten Voraussetzungen einkommensteuerrechtlich außer Betracht zu bleiben habe17 bzw. die Besteuerung eines Sanierungsgewinns sachlich unbillig sein könne.18 Aus den genannten Gründen weist der Bundesfinanzhof in einem soeben ergangenen Urteil19 die vom Finanzgericht München im Urteil vom 12. Dezember 200720 vertretene Auffassung, die Finanzverwaltung habe mit dem BMF-Schreiben vom 27. März 2003 eine Verwaltungspraxis contra legem eingeführt und damit gegen das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoßen, zu Recht zurück. Hinzu kommt schließlich, dass das BMF-Schreiben den § 3 Nr. 66 EStG a.F. gerade nicht einfach wieder in neuem Kleid in Kraft gesetzt hat, sondern im BMF12 Vgl. die Gesetzesbegründung zu § 8c KStG (Mantelkauf, BT-Drucks. 16 / 4841, S. 75 f.), der anders als die Vorgängerregelung in § 8 Abs. 4 S. 2 KStG a.F. zunächst keine Sanierungsklausel mehr enthielt. Der Gesetzgeber verwies dabei ausdrücklich auf die Möglichkeit des BMF-Schreibens, soweit nach einer Verrechnung von Verlustvorträgen noch „überschießende Beträge“ verbleiben; vgl. bereits Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2660). 13 BR-Drucks. 168 / 09, S. 30. 14 BGBl. I 2003, 2840. 15 BFH vom 14. 7. 2010 – X R 34 / 08 –, http: //juris.bundesfinanzhof.de Rdnr. 29. 16 BGBl. I 1976, 2597, BStBl. I 1976, 445. 17 RFH vom 21. 10. 1931 – VI A 968 / 31 –, RFHE 29, 315, RStBl 1932, 160. 18 Senatsurteil in BFHE 176, 3, BStBl. II 1995, 297. 19 BFH vom 14. 7. 2010 – X R 34 / 08 –, http: //juris.bundesfinanzhof.de Rdnr. 29. 20 FG München vom 12. 12. 2007 – 1 K 4487 / 06 –, DStR 2008, 1687 f.
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Schreiben vielmehr eine Subsidiarität von Steuerbefreiungen und ein Vorrang von möglichen Verlustabzügen vorgesehen sind.21
III. Vorliegen eines Sanierungsgewinns 1. Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens Für das Vorliegen der Sanierungsbedürftigkeit ist nach objektiven Gesichtspunkten zu prüfen, ob es ohne Sanierungsmaßnahme möglich gewesen wäre, das Unternehmen auf Dauer nach kaufmännischen Gesichtspunkten rentabel und ertragsfähig fortzuführen.22 Die Sanierungsbedürftigkeit hängt dabei insbesondere von der Liquidität, dem Verhältnis der flüssigen Mittel zur Höhe der Schuldenlast, der Fälligkeit der Verbindlichkeiten, der Zusammensetzung des Betriebsvermögens, der Ertragslage und der Verzinsung sowie der Gesamtleistungsfähigkeit des Unternehmens ab.23 Ein Unternehmen ist als sanierungsbedürftig zu klassifizieren, wenn ohne die Sanierung die Betriebssubstanz, die für eine erfolgreiche Weiterführung des Betriebs sowie für die Abdeckung von bestehenden Verpflichtungen notwendig ist, nicht erhalten werden könnte.24 Indizien für eine Sanierungsbedürftigkeit können daher sein ein hoher nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag, eine zur Abwendung einer Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne von einem Gesellschafter gegenüber dem Unternehmen abgegebene Patronatserklärung, eine durch eine Überschuldungssituation veranlasste Neustrukturierung des Unternehmens, z. B. die Beendigung des Joint Ventures der bisherigen Gesellschafter, und namentlich eine im Rahmen einer Umstrukturierung getroffene Vereinbarung dahingehend, dass für die Beseitigung der gegebenen Überschuldung geeignete Sanierungsmaßnahmen ergriffen werden sollen, wie z. B. die zur Sicherung der Unternehmensfortführung erfolgende Zuführung neuen Betriebsvermögens. An der Sanierungsbedürftigkeit eines Unternehmens bestehen keine Zweifel, wenn es ohne die Zuführung beträchtlicher liquider Mittel an den Unternehmensträger und den Verzicht von Gesellschaftern – und gegebenenfalls der mit ihnen 21 Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2660). 22 BFH vom 25. 10. 1963 – I 359 / 60 S –, BStBl. III 1964, 122; vom 27. 1. 1998 – VIII R 64 / 96 –, BStBl. II 1998, 537; Eichhorn / Lawall, Sanierungssteuerrecht. Steuerliche Konsequenzen der Unternehmenssanierung, in: Ulrich Hommel / Thomas C. Knecht / Holger Wohlenberg, Handbuch Unternehmensrestrukturierung, 2006, S. 981 (989). 23 BFH vom 22. 11. 1983 – VIII R 14 / 81 –, BStBl. II 1984, 472; BFH vom 14. 3. 1990 – I R 129 / 85 –, BStBl. II 1990, 955; vom 27. 1. 1998 – VIII R 64 / 96 –, BStBl. II 1998, 537. 24 BFH vom 10. 4. 2003 – IV R 63 / 01 –, BStBl. II 2004, 9; Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMFSchreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2661).
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verbundenen Unternehmen – auf Forderungen gegenüber dem Unternehmensträger von erheblichem Umfang nicht weiterbetrieben werden könnte. Die Sanierungsbedürftigkeit ergibt sich in diesem Fall aus der Höhe der Überschuldung und dem Umstand, dass angesichts des Ausmaßes der Überschuldung eine Sanierung nur durch Maßnahmen des laufenden Geschäftsverkehrs nicht erwartet werden kann.25 2. Sanierungsfähigkeit des Unternehmens Die Sanierungsfähigkeit eines Unternehmens kann aus steuerlicher Sicht bejaht werden, wenn es im Zeitpunkt der Sanierungsmaßnahme nach objektiven Maßstäben als lebensfähig anzusehen ist. Kann das Unternehmen – trotz der Sanierungsmaßnahme – auf keinen Fall weiterbestehen, ist es nicht sanierungsfähig. Auch insoweit verweist der Bundesfinanzhof auf die Ertragslage, die Höhe des Betriebsvermögens vor und nach der Sanierung, die Kapitalverzinsung sowie das Verhältnis der flüssigen Mittel zur Schuldenlast und zur Gesamtleistung.26 Kann durch die für Zwecke der Sanierung ins Auge gefassten, verbindlich in den Sanierungs- bzw. Geschäftsplan aufgenommenen Maßnahmen, etwa Umstrukturierungsmaßnahmen, weitgehende Forderungsverzichte und die Zuführung erheblichen neuen Betriebsvermögens, die Schuldenlast des Unternehmens deutlich verringert, die Ertragsfähigkeit in erheblichem Umfang erhöht und die Unternehmensfortführung gesichert werden, ist die Lebensfähigkeit des Unternehmens gegeben. Das Vorliegen eines Sanierungsgewinns scheitert in diesem Fall nicht an mangelnder Sanierungsfähigkeit des Unternehmens. 3. Sanierungseignung der Sanierungsmaßnahme Die Überprüfung der Sanierungseignung der konkreten Sanierungsmaßnahme bzw. -maßnahmen hat sich daran zu orientieren, ob die Maßnahmen geeignet erscheinen, das Unternehmen vor dem Zusammenbruch zu bewahren und seine Ertragsfähigkeit wiederherzustellen, um es als Wirtschaftsfaktor zu erhalten.27 Erreichen die Zuführung liquider Mittel an eine Gesellschaft und der Verzicht der Gesellschafter und der mit ihnen verbundenen Unternehmen auf Forderungen gegenüber der Gesellschaft einen solchen Umfang, dass sie geeignet sind, die BFH vom 15. 10. 1997 – I R 103 / 93 –, http //www.juris.de Rdnr. 20. BFH vom 13. 11. 1963 – GrS 1 / 63 S – , BStBl. III 1964, 124; Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2662). 27 Sog. unternehmensbezogene Sanierung im Sinne des BFH vom 12. 3. 1970 – IV R 39 / 69 –, BStBl. II 1970, 518; BFH vom 22. 11. 1983 – VIII R 14 / 81 –, BStBl. II 1984, 472 m. w. N.; vom 22. 1. 1985 – VIII R 37 / 84 –, BStBl. II 1985, 501; vom 20. 2. 1986 – IV R 172 / 84 –, BFH / NV 1987, 493; vom 26. 2. 1988 – III R 257 / 84 –, BFH / NV 1989, 436; vom 16. 5. 2002 – IV R 11 / 01 –, BStBl. II 2002, 854. 25 26
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Überschuldung abzuwenden und die drohende Insolvenz der Gesellschaft zu vermeiden,28 weisen Forderungserlass und Mittelzuführung die erforderliche Sanierungseignung auf. 4. Sanierungsabsicht der Gläubiger a) Allgemeines Sanierungsabsicht der auf Forderungen verzichtenden und liquide Mittel zuführenden Gläubiger liegt vor, wenn die Sanierungsmaßnahmen nach den subjektiven Vorstellungen der Gläubiger erfolgen, um den Zusammenbruch des notleidenden Unternehmens zu verhindern und um, auf Dauer gesehen, seine finanzielle Gesundung zu erreichen.29 Das Unternehmen soll als Faktor des Wirtschaftslebens erhalten bleiben.30 Davon ist im Besonderen auszugehen, wenn unter der Mitwirkung der verzichtenden Gläubiger ein (mehrjähriger) Plan zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit aufgestellt wird, in den die Forderungsverzichte einfließen.31 Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs wird die Finanzverwaltung in den Fällen, in denen der eine Forderung erlassende Gläubiger ein Gesellschafter der sanierungsbedürftigen Gesellschaft ist, nicht selten versucht sein, das Vorliegen eines steuerfreien Sanierungsgewinns unter Hinweis darauf in Frage zu stellen, dass als Grundlage für den Schuldenerlass auch das Gesellschaftsverhältnis zu dieser in Betracht komme. Ein gesellschaftsrechtlich veranlasster Erlass führe aber weder zu einem Sanierungsgewinn bei der Gesellschaft noch zu einem entsprechenden Sanierungsaufwand beim Gesellschafter, sondern sei in Höhe des werthaltigen Teils der Forderung als verdeckte Einlage des Gesellschafters in das Gesellschaftsvermögen der Schuldnergesellschaft zu beurteilen.32 Dementsprechend sei die Abgrenzung zwischen einem Forderungsverzicht als gesellschaftlich veranlasster verdeckter Einlage und einem Verzicht als betrieblich veranlasster Sanierungsmaßnahme nach den für Zuwendungen eines Gesellschafters an „seine“ Gesellschaft allgemein geltenden Grundsätzen vorzunehmen. Eine gesellschaftliche Veranlassung liege danach vor, wenn ein Nichtgesellschafter bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns der Gesellschaft den Vermögensvorteil nicht eingeräumt hätte. Daher sei ein Forderungsverzicht dann Vgl. auch BFH vom 15. 10. 1997 – I R 103 / 93 –, http //www.juris.de Rdnr. 23. RFH vom 30. 3. 1938 – VI 630 / 37 –, RStBl. 1938, 629; BFH vom 26. 2. 1988 – III R 257 / 84, BFH / NV 1989, 436; vom 19. 3. 1993 – III R 79 / 91 –, BFH / NV 1993, 536. 30 Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2665). 31 BFH vom 10. 4. 2003 – IV R 63 / 01 –, BStBl. II 2004, 9. 32 Vgl. hierzu BFH vom 29. 5. 1968 – I 187 / 65 –, BStBl. II 1968, 722 f.; vom 29. 7. 1997 – VIII R 57 / 94 –, BStBl. II 1998, 652 (653). 28 29
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gesellschaftlich und nicht betrieblich veranlasst, wenn der Gesellschafter bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns aus der Sicht des ordentlichen Kaufmanns die Schulden nicht erlassen hätte.33 Dieser von der Rechtsprechung entwickelten Abgrenzung ist zuzustimmen. Der Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze durch die Finanzverwaltung kann allerdings nicht durchweg gefolgt werden. b) Regelvermutung für Sanierungsabsicht Die Finanzverwaltung darf nicht außer Acht lassen, dass die Rechtsprechung an die bei der Bestimmung der Sanierungsabsicht herangezogenen objektiven Kriterien keine besonders hohen Anforderungen stellt.34 Nach dieser Rechtsprechung wird eine Schuld in der Regel zum Zwecke der Sanierung erlassen, wenn der Schuldner sanierungsbedürftig und der Erlass geeignet ist, die Sanierung herbeizuführen.35 Es besteht also eine entsprechende Regelvermutung.36 Es ist in einem solchen Fall allein zu fragen, ob die Regelvermutung für die Sanierungsabsicht der Forderungen erlassenden Gesellschafter – und anderen Gläubiger – durch entgegenstehende Umstände erschüttert wird. c) Verdeckte Einlage? Im Falle der Neustrukturierung einer Gesellschaft kann sich aus den Gesamtumständen ergeben, dass es sich bei dem ausgesprochenen Forderungsverzicht um eine betrieblich veranlasste Sanierungsmaßnahme handelte. Der Forderungsverzicht kann etwa dann nicht als gesellschaftlich veranlasste verdeckte Einlage beurteilt werden, wenn der Gesellschafter zum Zeitpunkt des Verzichts aus der Gesellschaft ausscheidet. Das „Überleben“ der Gesellschaft wird in diesem Fall vom Gesellschafter gerade nicht durch eine Investition in Form einer verdeckten Einlage in eine fortbestehende eigene Gesellschaft angestrebt, sondern durch einen Forderungsverzicht, der als Sanierungsmaßnahme zugunsten der in die Hand eines Dritten gegebenen Gesellschaft, von der man sich gesellschaftsrechtlich gerade lösen will, gewollt ist. Bestreitet die Finanzverwaltung in einem Verzichtsfall die Vgl. hierzu BFH vom 29. 7. 1997 – VIII R 57 / 94 –, BStBl. II 1998, 652 (654). Vgl. BFH vom 12. 10. 2005 – X R 20 / 03 –, BFH / NV 2006, 713, unter Verweis auf BFH vom 26. 11. 1980 – I R 52 / 77 –, BB 1981, 414 f., und BFH vom 27. 1. 1998 – VIII R 64 / 96, BB 1998, 1626; ferner BFH vom 26. 6. 2003 – X B 42 / 03 –, BFH / NV 2003, 1183; Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2662). 35 BFH vom 12. 10. 2005 – X R 20 / 03 –, BFH / NV 2006, 713; BFH vom 10. 4. 2003 – VI R 63 / 01 –, BB 2003, 2214 f.; BFH vom 16. 5. 2002 – IV R 11 / 01 –, BB 2002, 2315. 36 Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2662). 33 34
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Werthaltigkeit der Forderungen, steht dies der Annahme einer Einlage erst recht entgegen.37 d) Bedeutung des Sanierungsplans Dafür, dass nach den Gesamtumständen die Gesellschafter – bei einer Neustrukturierung der Gesellschaft gegebenenfalls einschließlich ausscheidender Altgesellschafter – und die mit ihnen verbundenen Unternehmen bei ihren gebündelten Sanierungsmaßnahmen mit dem Ziel, den Zusammenbruch des notleidenden Unternehmens zu verhindern, seine Ertragsfähigkeit wiederherzustellen und seine dauerhafte finanzielle Gesundung zu erreichen, also mit Sanierungsabsicht, handeln, spricht, dass die für die Zwecke der Sanierung im Rahmen eines Gesamtkonzepts beschlossenen Maßnahmen in einen für die nächsten Jahre erstellten Sanierungs- bzw. Geschäftsplan eingehen. Ist Ergebnis dieser Planrechnung, dass die Unternehmensfortführung u. a. durch die Zuführung neuen Betriebsvermögens gesichert erscheint, ist mit der Aufstellung dieses mehrjährigen Plans zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens, in den die beschlossenen Sanierungsmaßnahmen einfließen, das von der Rechtsprechung für das Vorhandensein einer Sanierungsabsicht entwickelte zentrale Kriterium38 erfüllt. Die Aufstellung des Sanierungsplans erfolgt dann gerade unter der Mitwirkung der verzichtenden Gläubiger. Im konkreten Fall wird es auf die ausreichende Aussagekraft und Verlässlichkeit der in die Planrechung eingegangenen Plandaten ankommen. In der Praxis liegt für die Finanzverwaltung das Argument nahe, auf Grund der geringen Aussagekraft der Planzahlen, die in dem zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit von der Gesellschaft aufgestellten und vorgelegten Plan enthalten seien, und daher auch der zu geringen Aussagekraft des Sanierungsplans selbst sei die Sanierungsabsicht nicht überzeugend belegt. Es wird also um die Validität der Prognose, das Unternehmen werde dauerhaft aus der Verlustzone herausgeführt werden, zu streiten sein. e) Mehrheit von Gläubigern Für die betriebliche Veranlassung des Forderungsverzichts eines Gesellschafters ist gegebenenfalls Indiz, dass der Verzicht auf Forderungen gegenüber der GesellVgl. BFH vom 15. 10. 1997 – I R 103 / 93 –, http //www.juris.de Rdnr. 18. BFH vom 10. 4. 2003 – IV R 63 / 01 –, FR 2003, 1126; FG Mecklenburg-Vorpommern vom 3. 3. 2004 – 1 K 15 / 02 –, beck-online – BeckRS 2004 26016097; dementsprechend heißt es in Tz. 4 S. 2 des BMF-Schreibens vom 27. März 2003 – IV A 6 – S 2140 – 8 / 03, BStBl. I 2003, 240, dass dann, wenn ein Sanierungsplan vorliege, davon ausgegangen werden könne, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer Sanierungsmaßnahme erfüllt seien. 37 38
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schaft sich nicht auf den Gesellschafter beschränkt, sondern auf weitere Gläubiger erstreckt.39 So mögen Verpächterunternehmen gegenüber der Gesellschaft auf Pachteinnahmen verzichten. Hier ist die Konstellation denkbar, dass es sich bei den betreffenden Verpächtern mehrheitlich um Unternehmen handelt, die mit dem verzichtenden Gesellschafter in einer Unternehmensgruppe verbunden sind. In einem solchen Fall hat die Finanzverwaltung sich auf den Standpunkt gestellt, der durch den Verzicht auf Pachteinnahmen geleistete Beitrag der betreffenden Verpächterunternehmen zu den Sanierungsmaßnahmen habe lediglich zu einer gruppeninternen Umverteilung von Erträgen und Aufwendungen geführt. Die Unternehmen hätten nicht über die Eigenschaft eines fremden Dritten verfügt. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Entscheidend für die Indizwirkung der Beteiligung sonstiger Gläubiger an einer Sanierung für die betriebliche Veranlassung des Forderungsverzichts des Gesellschaftsgläubigers ist, dass sich eben weitere Gläubiger an der Maßnahme beteiligen. Dass diese weiteren Gläubiger der zu sanierenden Gesellschaft nicht nahestehen, kann kein zwingendes Erfordernis sein. Denn schon der Gläubiger, der selbst Gesellschafter der Schuldnergesellschaft ist, kann bei einem Forderungsverzicht gegenüber der Gesellschaft sehr wohl in Sanierungsabsicht handeln.40 Dann können erst recht der zu sanierenden Gesellschaft nahestehende Gläubigerunternehmen in Sanierungsabsicht handeln bzw. sich an einer Sanierung beteiligen. Im Übrigen ist die Beteiligung mehrerer Gläubiger an der Restrukturierung eines Unternehmens nicht mehr als ein bloßes Indiz für die betriebliche Veranlassung eines Forderungsverzichts, eine notwendige Voraussetzung ist sie nicht. Dementsprechend stellt die Rechtsprechung zu Recht fest, dass auch im Falle des Erlasses einer Schuld durch nur einen Gläubiger dieser durchaus in Sanierungsabsicht handeln kann. In diesem Fall ist eben an Hand anderer Indizien zu prüfen, ob dem Schulderlass die Absicht zugrunde gelegen hat, den Schuldner vor dem Zusammenbruch zu bewahren.41 f) Höhe des Forderungsverzichts Ein Beleg für die Absicht nachhaltiger Sanierung und damit die betriebliche Veranlassung des Forderungsverzichts eines Gesellschafters liegt weiter etwa vor, wenn er auf Rückzahlungsansprüche gegenüber der Gesellschaft in einer Höhe ver39 Vgl. allgemein Kanzler, Herrmann / Heuer / Raupach, Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz, Aktuelles zu § 3 Nr. 66 EStG (1998) Rdnr. G 5. 40 Dies wird etwa vorausgesetzt von FG Mecklenburg-Vorpommern vom 3. 3. 2004 – 1 K 15 / 02 –, beck-online – BeckRS 2004 26016097. 41 BFH vom 26. 11. 1980 – I R 52 / 77 –, BStBl. II 1981, 181; BFH vom 15. 10. 1997 – I R 103 / 93 –, http //www.juris.de Rdnr. 21; BFH vom 10. 4. 2003 – IV R 63 / 01, BStBl. II 2004, 9; BFH vom 12. 10. 2005 – X R 42 / 03 –, BFH / NV 2006, 347; Anna M. Nolte, Ertragsteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen, NWB Nr. 46 vom 14. 11. 2005, Fach 3, S. 13735 (13738).
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zichtet, die den in der Bilanz ausgewiesenen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag der Gesellschaft übersteigt. Bereits nach seinem Umfang soll dann mit dem Erlass ein wesentlicher Beitrag zur Gesundung des Unternehmens geleistet werden. g) Zuführung neuer Mittel und Franchisevertrag Die zusätzliche Zuführung liquider Mittel in beachtlicher Höhe ist ein weiteres Indiz für das Vorhandensein der Absicht nachhaltiger Sanierung. Dazu kann etwa kommen, dass im Rahmen einer Umstrukturierung ein neues Betriebsführungskonzept entwickelt wird. So mag von dem auf wesentliche Forderungen verzichtenden (und womöglich ausscheidenden) Gesellschafter für die Zukunft ein neuer Franchisevertrag zwischen diesem und der zu sanierenden Gesellschaft abgeschlossen werden. Der Abschluss eines solchen Vertrages ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Gläubiger von einem „Überleben“ der Gesellschaft infolge der beschlossenen Sanierungsmaßnahmen ausgehen und der Forderungserlass damit betrieblich veranlasst ist. Gegenüber dieser Wertung könnte die Finanzverwaltung einwenden, dass nach der Rechtsprechung ein „eigennütziges Motiv“, wie dasjenige des Abschlusses und der Aufrechterhaltung eines Franchisevertrages durch einen Gesellschafter, eine Sanierungsabsicht zwar nicht ausschließe. Es sei aber nur unschädlich, soweit eine Sanierungsabsicht klar auf der Hand liege. Die nähere Betrachtung der Rechtsprechung ergibt, dass der Abschluss eines Franchisevertrages sehr wohl ein gewichtiges Indiz dafür ist, dass getätigte Forderungserlässe von einer Sanierungsabsicht getragen und damit betrieblich veranlasst waren. Nach der Rechtsprechung wird die Regelvermutung zugunsten einer Sanierungsabsicht und betrieblichen Veranlassung eines Forderungsverzichts nicht dadurch erschüttert, dass eigennützige Motive des Gläubigers bei dem Schulderlass eine Rolle spielen. Es wäre z. B. unschädlich, wenn der Forderungen erlassende Gläubiger einen Teil seiner Restforderung retten oder sich eine Geschäftsverbindung erhalten wollte. Denkbar ist etwa auch die Überlegung des Forderungen erlassenden Gläubigers, der Schuldner solle die Insolvenz vermeiden und sich Mittel erwirtschaften, mit denen er den nicht erlassenen Teil einer Forderung erfüllen könne.42 Der Bundesfinanzhof sogar erklärt ausdrücklich, es liege auf der Hand, dass regelmäßig auch eigennützige Motive eine Rolle spielten.43 Maßgeblich ist allein, ob die Sanierungsabsicht für den Forderungserlass mitentscheidend war, sie brauchte nicht alleinentscheidend zu sein.44 Erforderlich, aber auch ausreichend ist 42 BFH vom 12. 10. 2005 – X R 42 / 03 –, BFH / NV 2006, 374; ähnlich auch BFH vom 19. 3. 1993 – III R 79 / 91 –, BFH / NV 1993, 536; insgesamt Andreas Geist, Die Besteuerung von Sanierungsgewinnen – Zur Anwendbarkeit, Systematik und Auslegung des BMF-Schreibens vom 27. 3. 2003, BB 2008, 2658 (2662). 43 BFH vom 26. 6. 2003 – X B 42 / 03 –, BFH / NV 2003, 1183.
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dabei lediglich, dass der Gläubiger seine eigenen Interessen auf dem Wege der Sanierung verwirklichen will.45 Dass der Forderungen gegenüber einer Gesellschaft erlassende Gesellschafter ein manifestes Interesse daran hat, mit der Gesellschaft über einen geschlossenen Franchisevertrag weiter in geschäftlicher Verbindung zu bleiben, schließt daher keineswegs aus, dass die Sanierungsabsicht beim Forderungserlass mitentscheidend bleibt. Es kommt darauf an, dass der Gesellschafter seine Interessen gerade auf dem Wege der Sanierung der Gesellschaft verwirklichen will. Eine besondere Situation mag bei einer engen zeitlichen Begrenzung des Franchisevertrages gegeben sein; hier mag sich das Argument, eine gegenüber der vorher innegehabten alternative wirtschaftliche Position des Gesellschafters im Verhältnis zur Gesellschaft werde in Wahrheit nicht dauerhaft angestrebt und der Forderungserlass seitens des (ausscheidenden) Gesellschafters sei nicht betrieblich veranlasst, nicht entkräften lassen. h) Bedeutung einer Patronatserklärung Weist eine Gesellschaft einen erheblichen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag aus, kann ein Gesellschafter zur Abwendung der Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne gegenüber der Gesellschaft eine Patronatserklärung abgegeben. Diese kann z. B. die Verpflichtung des Gesellschafters beinhalten, dafür Sorge zu tragen, dass die Gesellschaft zur Aufrechterhaltung ihrer Kreditwürdigkeit stets über Vermögen in einem Umfang verfügen könne, der ihr die Erfüllung ihrer Verpflichtungen erlauben werde. Wird, nachdem zunächst von einem Gesellschafter eine derartige Patronatserklärung abgegeben worden ist, später gegenüber der betreffenden Gesellschaft von dem Gesellschafter ein Forderungserlass ausgesprochen, besteht die Gefahr, dass die Finanzverwaltung zu dem Schluss gelangt, dass der Forderungserlass „gesellschaftlich veranlasst“ gewesen sei. Es liegt für sie nahe zu argumentieren: Weil die von dem Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft ursprünglich abgegebene Patronatserklärung als „gesellschaftlich veranlasst“ anzusehen und der spätere Forderungserlass seitens des Gesellschafters „letztlich durch die Patronatserklärung vorgegeben“ gewesen sei, sei er ebenfalls als gesellschaftlich veranlasst zu werten. Bei dieser Argumentation würde jedoch der rechtliche Stellenwert einer solchen Patronatserklärung falsch eingeschätzt. Wenn ein Gesellschafter gegenüber seiner 44 BFH vom 15. 10. 1997 – I R 103 / 93 –, http //www.juris.de Rdnr. 21; BFH vom 10. 4. 2003 – VI R 63 / 01 –, BB 2003, 2214; BFH vom 26. 6. 2003 – X B 42 / 03 –, BFH / NV 2003, 1183; BFH vom 12. 10. 2005 – X R 42 / 03 –, BFH / NV 2006, 374; ebenso BFH vom 27. 1. 1998 – VIII R 64 / 96 –, BB 1998, 1626; BFH vom 14. 3. 1990 – I R 64 / 85 –, BB 1990, 1954. 45 FG Münster vom 3. 7. 2003 – VII 275 / 1999 –, Information StW 2003, 925.
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in prekärer finanzieller Situation befindlichen Gesellschaft an Stelle eines sonst gewährten Darlehens eine Patronatserklärung der geschilderten Art abgibt, kann diese Erklärung ohne weiteres als funktionales Äquivalent zu einem sonst gewährten Gesellschafterdarlehen angesehen werden. Dies lässt sich auch nicht etwa deshalb in Abrede stellen, weil die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt womöglich zweifelhaft ist und die Gewährung eines Darlehens sich aus diesem Grund verboten hätte. Denn ein Gesellschafter, etwa ein solcher mit einer Mehrheitsbeteiligung, kann sehr wohl gerade aus gesellschaftlichen Gründen der Gesellschaft ein Darlehen auch dann gewähren und wird dies tatsächlich auch nicht selten tun, wenn diese sich in einer prekären finanziellen Situation befindet und ihre Kreditwürdigkeit zweifelhaft ist. Er wird also bei einer Darlehensvergabe nicht selten anders als ein fremder Dritter handeln, der nicht an der das Darlehen empfangenden Gesellschaft beteiligt ist. Die ein Gesellschafterdarlehen „ersetzende“, einem solchen Darlehen äquivalente Funktion kann die Patronatserklärung über mehrere Jahre hin behalten. Sie „erschöpft“ sich im Wesentlichen in dieser Funktion. Kommt es dann – womöglich viele Jahre – später auf Grund einer verschärften Überschuldungssituation zu einem Forderungsverzicht des Gesellschafters, etwa im Rahmen einer Neustrukturierung der Gesellschaft, stellt dieser Forderungsverzicht nicht einen schlichten Vollzug der Patronatserklärung dar. Soweit im konkreten Fall überhaupt vom Vorliegen einer sog. harten Patronatserklärung46 ausgegangen werden kann, geht diese in ihrer Kapital ersetzenden Funktion nicht über die Erklärung hinaus, dass man für Verbindlichkeiten des Schuldnerunternehmens rechtlich einstehen bzw. es zur Wahrung der Zahlungsfähigkeit hinreichend ausstatten wolle. Das weitergehende Ziel der künftigen Sanierung des begünstigten Unternehmens ist von diesem Erklärungsinhalt nicht mit umfasst. Der später, etwa im Zuge einer Neustrukturierung der Gesellschaft, mit dem Ziel der Sanierung ausgesprochene Forderungsverzicht des „Patrons“ ist damit nicht bloßer Vollzug der Patronatserklärung bzw. „letztlich durch die Patronatserklärung vorgegeben“. Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen historisch neuen Vorgang, der im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen einem Forderungsverzicht als gesellschaftlich veranlasster verdeckter Einlage und einem Schulderlass als betrieblich veranlasster Sanierungsmaßnahme eigenständig, das heißt losgelöst von der Patronatserklärung, zu werten ist. Aus einer gesellschaftlichen Veranlassung der von einem Gesellschafter in der Vergangenheit gegenüber der Gesellschaft abgegebenen Patronatserklärung kann daher nicht auf die gesellschaftliche Veranlassung eines späteren Forderungserlasses durch den Gesellschafter geschlossen werden. Bei einem später ausgesprochenen Forderungserlass kann es sich daher sehr wohl um eine – steuerbegünstigte – betrieblich veranlasste Sanierungsmaßnahme handeln. 46 Zur Systematisierung der verschiedenen Formen von Patronatserklärungen vgl. Jens Koch, Die Patronatserklärung, 2005; zur „harten“ Patronatserklärung ebd., S. 75 ff.
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Selbst wenn man einer Patronatserklärung eine weitergehende Bedeutung beimessen wollte, ihre bloße Kapital ersetzende Funktion also außer Betracht ließe und – für den Fall, dass man sie tatsächlich als sog. harte Patronatserklärung begriffe – isoliert auf den Erklärungsinhalt abstellte, dass man für Verbindlichkeiten des Schuldnerunternehmens rechtlich einstehen bzw. es zur Wahrung der Zahlungsfähigkeit hinreichend ausstatten wolle, würde sich nichts anderes ergeben. Auch die Finanzverwaltung erkennt an, dass es der freien Entscheidung des Patrons unterliegt, auf welche Weise er seiner Ausstattungspflicht nachkommt. Denn er schuldet nicht eine nach Art und Umfang genau beschriebene Leistung, sondern nur den Erfolg, den Schuldner mit einer ausreichenden Finanzausstattung zu versehen.47 Gerade einen Forderungsverzicht kann auf Grund der Patronatserklärung daher niemand vom Gesellschafter verlangen. Kommt es zu einem solchen Verzicht, ist er daher losgelöst von der Patronatserklärung daraufhin zu beurteilen, ob es sich bei ihm um eine betrieblich veranlasste Sanierungsmaßnahme handelt. Erst recht kann es sich bei dem Forderungsverzicht eines Gesellschafters nicht um die Erfüllung einer in einer früher abgegebenen Patronatserklärung enthaltenen Verpflichtung handeln, wenn sich der den Verzicht erklärende Gesellschafter im selben Zuge von seinem gesellschaftlichen Engagement löst und etwa seine Beteiligung auf einen Dritten überträgt. Bei einer solchen Konstellation der Trennung von der Gesellschaft hat der (Alt-)Gesellschafter keine Veranlassung mehr, für Verbindlichkeiten des Schuldnerunternehmens rechtlich einstehen bzw. seiner auf die vorherigen Gesellschafts- bzw. Eigentumsverhältnisse bezogenen Ausstattungsverpflichtung nachzukommen. Die Patronatserklärung wird nicht erfüllt, sie erledigt sich vielmehr. Die im Zuge der Neustrukturierung der Gesellschaft erfolgende Lösung der gesellschaftsrechtlichen Verbindung von Gesellschafter und Gesellschaft lässt die Geschäftsgrundlage für die Einstandspflicht entfallen. Auch bei dieser Konstellation kann von der gesellschaftlichen Veranlassung der von dem Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft abgegebenen Patronatserklärung daher nicht auf die gesellschaftliche Veranlassung des späteren Forderungserlasses geschlossen werden. Gerade bei diesem Forderungsverzicht handelt es sich um einen historisch neuen Vorgang, der im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen einem Forderungsverzicht als gesellschaftlich veranlasster verdeckter Einlage und einem Schulderlass als betrieblich veranlasster Sanierungsmaßnahme eigenständig, das heißt losgelöst von der Patronatserklärung, zu werten ist. 5. Ergebnis Sind im konkreten Fall die erörterten Anforderungen hinsichtlich der Sanierungsbedürftigkeit des Unternehmens, der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, der Sanierungseignung der Sanierungsmaßnahme und der Sanierungsabsicht der 47
Vgl. BFH vom 25. 10. 2006 – I R 6 / 05 –, BStBl. II 2007, 384, BFH / NV 2007, 549.
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Gläubiger zu bejahen, sind die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Sanierungsgewinns gegeben.
IV. Abweichende Festsetzung der Steuer nach § 163 AO, Steuerstundung und Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen (§§ 222, 227 AO) Die Besteuerung eines nach dem Ausschöpfen der ertragsteuerlichen Verrechnungsmöglichkeiten verbleibenden Sanierungsgewinns würde für die zu sanierende Gesellschaft eine erhebliche Härte bedeuten. Sie wäre sachlich unbillig. Daher ist es geboten, die nach Verrechnung mit aufgelaufenen Verlusten auf den Sanierungsgewinn entfallende Steuer auf Antrag des Steuerpflichtigen aus sachlichen Billigkeitsgründen nach § 163 AO abweichend festzusetzen und nach § 222 AO mit dem Ziel des späteren Erlasses (§ 227 AO) zunächst unter Widerrufsvorbehalt ab Fälligkeit zu stunden.48
48 Für die Stundung und den Erlass der Gewerbesteuer sind nicht die Finanzbehörden, sondern ist die jeweilige Gemeinde zuständig. Daher ist hinsichtlich des Erlasses von Gewerbesteuer auf Sanierungsgewinne regelmäßig eine Abstimmung mit der dafür zuständigen Gemeinde zu suchen.
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Privatautonomie oder Schutz des Schwächeren? Zu den Grenzen der Bürgenhaftung Von Tiziana J. Chiusi* I. In einem vor einigen Jahren erschienenen Aufsatz überlegte Dieter Medicus1, ob die in den neunziger Jahren erfolgte Entwicklung des Bürgschaftsrechts die Bürgschaft als Mittel der Kreditsicherung in Frage zu stellen drohte. Tatsächlich hat der Bürgschaftsvertrag seit der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993, nach der unter bestimmten Umständen die Bürgschaft naher Angehöriger verfassungswidrig ist, zum Teil andere Konturen angenommen.2 Am Grundsatz „Vertrag ist Vertrag“, an dem insbesondere der IX. Zivilsenat des BGH3, der damals für das Bürgschaftsrecht zuständig war, so lange festhielt, ist aufgrund von Überlegungen materialrechtlicher Natur gerüttelt worden. Den Schutz des Schwächeren gegenüber einem übermächtigen Vertragspartner zu gewährleisten war das vom Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung angestrebte Ziel, wobei es damit beiden Parteien echte Privatautonomie garantieren wollte: Sie sei gewährleistet, wenn keine der Parteien sich in einer Situation struktureller Unterlegenheit gegenüber der anderen befinde.4 Diese Perspektive führte dazu, dass aus dem Gegensatz „Privatautonomie – Schutz des Schwächeren“ eine funktionelle Einheit gemacht wurde: Der Schutz des Schwächeren findet statt, um die Privatautonomie zu garantieren. Da – vereinfacht gesagt – traditionell Privat* Dem lieben Kollegen Wilfried Fiedler, der als Verfassungsrechtler auch immer die privatrechtlichen Aspekte des Rechts im Blick hat, seien diese Seiten gewidmet, die sich ebenso zwischen Verfassungs- und Privatrecht bewegen. Einige der Gedanken, die Gegenstand des folgenden Beitrags sind, wurden von mir zwar bereits in einem Vortrag an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes im Februar 2000 geäußert, aber nicht weiterverfolgt. Die geplante Novellierung des Kreditwesengesetzes gibt mir jetzt Anlass, den damaligen Ansatz – der mir seinerzeit noch „unreif“ erschien – doch wieder aufzunehmen und weiterzuführen. 1 Dieter Medicus, Entwicklungen im Bürgschaftsrecht – Gefahren für die Bürgschaft als Mittel der Kreditsicherung, in: JuS 1999, 833 – 839. 2 BVerfG, NJW 1994, 36 ff. 3 Vgl. nur die Entscheidungen des IX. Zivilsenats, BGHZ 106, 269 (272); BGHZ 107, 92 (102 ff.); BGH NJW 1989, 1605 f.; BGH NJW 1991, 2015 ff.; BGH NJW 1992, 896 (898 f.). 4 BVerfG, NJW 1994, 36 (38).
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autonomie für formale und Schutz des Schwächeren für materiale Gerechtigkeit steht, lohnt es sich – vor dem Hintergrund der aktuellen Bank- und Finanzkrise – nochmals, von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgehend, einige Überlegungen über diese spezifische Problematik anzustellen.
II. Trivial gesprochen: Bei jeder Kreditvergabe ist immer ein gewisses Risiko dabei. Dieses Risiko zu verringern, ist bekanntlich der Zweck der Bürgschaft; ihr institutioneller Sinn liegt in der Gewinnung einer werthaltigen Sicherheit. Doch auch beim Vertragsabschluss mit einem Bürgen geht der Kreditgeber ein Risiko ein: dessen finanzielle Situation nämlich kann sich verschlechtern oder nicht so entwickeln, wie der Kreditgeber es vorausgesehen hatte. Deswegen sollte er die Leistungsfähigkeit des Bürgen bzw. seines Vermögens sorgfältig überprüfen, um sich vor unangenehmen Überraschungen zu schützen. Auf der anderen Seite trifft den Bürgen eine Einstandspflicht für die übernommene Garantie. Gerade diese Einstandspflicht für die übernommene Garantie ist der Grundpfeiler, auf dem die Bürgschaft als Mittel der personalen Kreditsicherung beruht. Demgegenüber hat sich in der Rechtsprechung im Hinblick auf die Praxis der Banken, bei der Darlehensvergabe die Bürgschaft naher Angehöriger des Schuldners zu verlangen, langsam die Meinung durchgesetzt, dass in einer Situation krasser finanzieller Überforderung des Bürgen der Bürgschaftsvertrag regelmäßig gemäß § 138 I BGB nichtig sei.5 Der Weg hierzu begann mit einer an dem oben genannten Prinzip „Vertrag ist Vertrag“ festhaltenden Position des IX. Zivilsenats des BGH6, der in den letzten zehn Jahren seiner Zuständigkeit für das Bürgschaftsrecht unter dem Druck der abweichenden Judikatur des XI. Zivilsenates, später auch des Bundesverfassungsgerichts, nach und nach verschiedene Kriterien herausgearbeitet hat, die zu einer prinzipiellen Anerkennung der Sittenwidrigkeit der Angehörigenbürgschaft führen. Noch im Jahr 1989 hatte sich der IX. Zivilsenat mehrmals zur Sache geäußert und stets die Anwendung von § 138 I BGB verneint. Einmal war der Gesichtspunkt maßgeblich, dass den Gläubiger (die Bank) keine Aufklärungspflicht über das Bürgschaftsrisiko gegenüber dem Bürgen trifft, „wenn er (also der Gläubiger) selbst nicht eine Erhöhung des Bürgenrisikos veranlasst hat“.7 In einer anderen Sache – dem berühmten „Zu den Akten-Fall“, der dann Anlass für das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben sollte – vertrat der Zivilsenat die Auffassung, dass die Einschätzung des Bürgenrisikos durch die BGH, NJW 1999, 58 ff. BGHZ 106, 269 (272); BGHZ 107, 92 (102 ff.); BGH NJW 1989, 1605 f.; BGH NJW 1991, 2015 (2016); BGH NJW 1992, 896 (898). 7 BGHZ 106, 269 (272 f.). Ebenso auch BGHZ 107, 92 (102 ff.); BGH NJW 1989, 1605 (1606). 5 6
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Bank, obwohl sie „auf Dauer zu günstig“ gewesen sein mag, nicht einen „besonderen Vertrauenstatbestand“ für die Bürgin geschaffen habe; die Bürgin hätte die Geschäfte ihres Vaters kontrollieren und gegebenenfalls die Bürgschaft kündigen müssen.8 Nachdem aber das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 2 I GG verstößt, war der IX. Zivilsenat dazu übergegangen, nahe Angehörige besser zu schützen.9 Dabei differenzierte er allerdings zwischen Kindern und anderen Angehörigen.10 Bei Kindern reichte die krasse finanzielle Überforderung für sich genommen bereits zur Sittenwidrigkeit aus. Bei anderen Angehörigen, insbesondere Ehefrauen, war das Sittenwidrigkeitsurteil auch von anderen Umständen abhängig: So musste der Gläubiger das Risiko bagatellisiert oder geschwiegen haben, als der Hauptschuldner in seiner Gegenwart die Gefahren der Bürgschaft heruntergespielt hatte, oder anderweitig die geschäftliche Unerfahrenheit der Bürgin oder eine seelische Zwangslage ausgenutzt haben.11 Schließlich hatte die Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 8. Oktober 1998 für Ehegattenbürgschaften zwei Voraussetzungen aufgestellt: einerseits musste ein krasses Missverhältnis zwischen dem Umfang der Haftung und der voraussichtlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des bürgenden Ehegatten oder Lebenspartners bestehen, andererseits durfte sich der Verpflichtungsumfang des Bürgen weder im Hinblick auf den Schutz des Gläubigers vor Vermögensverlagerungen vom Hauptschuldner auf den Bürgen noch wegen der Erwartung einer Erbschaft rechtfertigen lassen12. Für nach dem 1. 1. 1999 abgeschlossene Verträge schlossen allerdings die Vermögensverschiebungsgefahr sowie die Erbschaftserwartung13 die Sittenwidrigkeit nur dann aus, wenn diese Umstände im Vertrag ausdrücklich erwähnt wurden, mit den Worten des Zivilsenats: wenn „dieser beschränkte Haftungszweck vertraglich geregelt ist“.14 Im Jahre 2002 dehnte der XI. Zivilsenat diese Beschränkung auch auf vor diesem Zeitpunkt geschlossene Verträge aus.15 Demgegenüber war der XI. Zivilsenat schon immer davon ausgegangen, dass bei den Kriterien, nach denen sich die Sittenwidrigkeit bemisst, keine Unterschiede 8 BGH, NJW 1989, 1605 f.: Die 21jährige Tochter des Hauptschuldners übernahm eine selbstschuldnerische Bürgschaft in Höhe von 100.000 DM. Im Rahmen der Unterzeichnung hatte der damalige Filialleiter der Bank erklärt, es handele sich um „keine große Verpflichtung“, sie werde „für seine Akten“ benötigt. 9 So zunächst nach der Aufhebung und Zurückverweisung in dem „Zu-den-Akten-Fall“ durch das BVerfG: BGH, NJW 1994, 1341 ff. 10 BGHZ 128, 230 (232 ff.). 11 BGHZ 136, 347 (350 f.), BGHZ 132, 328 (329 f.). 12 BGH, NJW 1999, 58 ff. 13 Nach Michael Tiedemann, Zur Nichtigkeit einer Beschränkung der Bürgschaft auf künftige Erbschaft nach § 312 I 1 BGB, in: NJW 2000, 192 f. soll dieser Regelungszweck in Widerspruch zu § 312 BGB stehen. 14 BGH, NJW 1999, 58 (60). 15 BGHZ 151, 34 (40 f.).
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zwischen Kindern und anderen Angehörigen gemacht werden durften.16 Auch hatte er das Interesse der Bank am Schutz vor Vermögensverlagerungen nicht als einen die Sittenwidrigkeit ausschließenden Umstand anerkannt.17
III. Die skizzierten Differenzen in der Rechtsauffassung hatten den XI. Zivilsenat dazu bewogen, mit Beschluss vom 29. 6. 199918 dem Großen Senat drei Fragen im Wege der Divergenzvorlage gemäß § 132 IV GVG zur Entscheidung vorzulegen. Sie fassten das Spektrum der Diskussion zusammen und zeichnen – obwohl es nie zu einer Entscheidung des Großen Senats kam, weil seit dem 1. 1. 2001 die Zuständigkeit für das Bürgschaftsrecht bei dem XI. Zivilsenat liegt – den Rahmen der mittlerweile konsolidierten Rechtssprechung des XI. Zivilsenats ab. Deswegen bietet es sich an, sie zu referieren und dazu Stellung zu nehmen. Im zugrundeliegenden Sachverhalt hatte die (inzwischen geschiedene) Ehefrau 1981 die gesamtschuldnerische Mithaftung – was aber zur Bürgschaft wertungsmäßig keinen Unterschied macht – für ein ihrem Ehemann gewährtes Darlehen in Höhe von 360.000,– DM zur Sanierung von dessen Wohn- und Geschäftshaus übernommen. Sie verdiente etwa 1650 DM netto. Ferner war sie Eigentümerin eines bebauten und eines unbebauten Grundstücks. Beide Grundstücke waren mit den Verkehrswert übersteigenden Grundschulden belastet und warfen geringe Mieterträge ab (350 bzw. 180 DM pro Monat). Das Darlehen war durch eine Grundschuld am Haus des Ehemannes gesichert, der eine vorrangige Grundschuld vorausging. Als der Ehemann in Konkurs fiel, fiel die Bank bei der Versteigerung dieses Grundstücks mit 420.000 DM aus. Zu klären war die Mithaftung der ExEhefrau. Die erste Frage des Vorlagebeschlusses betraf die oben angesprochene, vom XI. Zivilsenat abgelehnte Differenzierung hinsichtlich der Sittenwidrigkeit zwischen mittellosen Kindern einerseits und Ehegatten oder sonstigen Lebenspartnern sowie nahen Verwandten andererseits.19 Dieser Ablehnung ist insoweit zuzustimmen, als die unterschiedliche Behandlung von Kindern und anderen Angehörigen zu Wertungswidersprüchen und Rechtsunsicherheit führt. Dass ein Ehegatte die Bürgschaft im Zweifel in freier Selbstbestimmung übernimmt, während ein volljähriges Kind im Zweifel von den Eltern dazu veranlasst wird, überzeugt nicht recht – zumal die betroffenen Ehefrauen und Kinder oft keine so großen Altersunterschiede aufweisen. Die Ehefrau kann unter seelischem Druck genauso „maniVgl. schon BGHZ 120, 272 ff. und später dann BGH, NJW 1994, 1726 (1727). BGHZ 134, 42 (49). 18 BGH, NJW 1999, 2584 ff. 19 BGH, NJW 1999, 2584 f. Vgl. zur Position des XI. Zivilsenats BGH, NJW 1994, 1726 (1727). 16 17
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pulierbar“ wie die Kinder sein.20 Überhaupt fragwürdig ist es, Ehegatten, Geschwister, Partner einer Lebensgemeinschaft, Vettern und Basen und sonstige mit dem Hauptschuldner persönlich Verbundene auf die eine Seite und die Kinder auf die andere Seite zu stellen.21 Das gilt nicht nur für das „Ausnutzungs“-Argument, sondern ebenso für den Aspekt der Vermeidung von Vermögensverschiebungen, die sicher in gleicher Weise Kinder, Ehegatten, Geschwister etc. betreffen können. Doch war der hinter dem Anliegen des IX. Zivilsenats stehende dogmatische Ansatz klar. Er neigte zu einer zurückhaltenden Anwendung des § 138 I BGB und versuchte deswegen, das Sachproblem der krassen finanziellen Überforderung des Bürgen auch mit Hilfe anderer zivilrechtlicher Instrumente zu lösen, wie etwa der Vertragsauslegung, des Grundsatzes von Treu und Glauben, der Konstruktion eines Leistungsverweigerungsrechts für den nicht in eine Vermögensverschiebung verstrickten Ehegatten, das an die Rechtsfigur des pactum de non petendo angelehnt wurde, und schließlich mit der Heranziehung der Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage im Fall der Auflösung der Ehe zwischen Darlehensempfänger und Bürgen.22 Bei diesem Ausgangspunkt war es sicher kein Zufall, dass der IX. Zivilsenat gerade bei Kindern zu einer großzügigeren Anwendung des § 138 I BGB tendierte. Hier nämlich konnte sich die Annahme von Sittenwidrigkeit auf ein seit 1979 im Gesetz verankertes Argument stützen, und zwar auf den Verstoß gegen das Gebot der familiären Rücksichtnahme i. S. des § 1618 a BGB.23 Dieser Verstoß musste den Banken typischerweise bekannt sein. Auch bei der zweiten Frage des Vorlagebeschlusses zeigte sich die eher restriktive Haltung des IX. Zivilsenats. Zwar waren die beiden Senate einig, dass die Bürgschaft gegen die guten Sitten verstößt, wenn eine krasse finanzielle Überforderung des Mithaftenden vorliegt, der kein eigenes persönliches oder wirtschaftliches Interesse an der Kreditaufnahme hat.24 Doch versuchte der IX. Zivilsenat, rechnerische Kriterien aufzustellen, nach denen sich die finanzielle Überforderung bemessen konnte.25 Hingegen gab sich der XI. Zivilsenat mit einer allgemeineren Formel zufrieden: Krasse Überforderung sei schon dann anzunehmen, wenn der Bürge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht einmal in der Lage sein werde, die vertraglich geschuldeten Zinsen aufzubringen.26 Auf die Frage der Kapitaltilgung ging der Senat dabei konsequenterweise gar nicht ein. Er bediente sich hierzu eines Arguments aus § 367 I BGB, wonach die Leistung zunächst auf Kosten und Zinsen und erst dann auf die Hauptschuld anzurechnen ist. Diese Formel scheint dem offenbar erstrebten Zweck der großzügigeren Anwendung von 20 21 22 23 24 25 26
So auch später der IX. Zivilsenat, BGH, NJW 1999, 58 (59 f.). BGH, NJW 1999, 2584 (2585). BGHZ 128, 230 (234 ff.); BGHZ 132, 328 (331 ff.). BGHZ 125, 206 (213 ff.); BGH NJW 1994, 1341 (1342 f.); BGH NJW 1997, 52 (53 f.). So BGH, NJW 1999, 2584 (2586). BGHZ 136, 347 (351 f.); BGHZ 132, 328 (338); BGHZ 137, 329 (337 f.). BGH, NJW 1994, 1726 (1727); BGH NJW 1999, 2584 (2586 f.).
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§ 138 I BGB besser zu dienen als die empirisch nicht leicht zu bestätigende 25%-Formel des IX. Zivilsenates in Verbindung mit der Fünfjahresfrist.27 Einig waren sich die beiden Senate auch darüber, dass alleine die Vermögensund Einkommensverhältnisse des Bürgen maßgeblich sein sollten für die Frage der krassen finanziellen Überforderung sowie dass die Bank sich die objektiven Tatsachen als bekannt entgegenhalten lassen musste, wenn sie von einer sorgfältigen Prüfung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse vor Abschluss des Bürgschaftsvertrags abgesehen hatte. Allerdings waren sie unterschiedlicher Ansicht hinsichtlich des Zeitpunkts, der für das Vorliegen krasser finanzieller Überforderung entscheidend sein sollte. Für den XI. Zivilsenat war der Vertragsabschluss maßgebend28, während der IX. Zivilsenat grundsätzlich auf den Eintritt der Fälligkeit der Bürgschaftsschuld abstellte.29 Er erwog, dass die Leistungsfähigkeit des Bürgen bei Fälligkeit der Bürgschaft eine tatsächliche Vermutung dafür begründet, dass diese bereits bei der Bestellung der Bürgschaft voraussehbar war.30 Der XI. Zivilsenat argumentierte dagegen, dass man nicht der Bank zu Lasten eines wirtschaftlich Schwächeren eine Erleichterung beim Beweis ihrer Vorstellungen zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im Hinblick auf eine zu erwartende Verbesserung der finanziellen Lage des Bürgen gewähren sollte.31 Allgemein sei zu dieser Frage angemerkt, dass zwar regelmäßig die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts nach dem Zeitpunkt seiner Vornahme zu beurteilen ist.32 D. h., dass auch die Sittenwidrigkeit nach denjenigen tatsächlichen Verhältnissen und Werturteilen zu bemessen ist, die bei der Vornahme des Geschäfts galten. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Das Urteil über die Geschäftswirksamkeit darf nicht zunächst in der Schwebe bleiben. Doch gibt es Fälle, z. B Testamente – der berühmte Fall der Erbeinsetzung der Geliebten, die der Erblasser später geheiratet hat –, in denen sich die Frage nach der Wirksamkeit erst später überhaupt stellt. Hier sollte das Sittenwidrigkeitsurteil erst auf diesen Zeitpunkt bezogen werden.33 Auch für die Bürgschaft stellt sich die Frage nach der Sittenwidrigkeit notwendigerweise erst bei Fälligkeit der Bürgenverpflichtung. Das ergibt sich gleichermaßen aus dem „spekulativen“ Charakter der Bürgschaft – die finanzielle Lage des Bürgen kann sich verbessern wie verschlechtern – und dem Wortlaut des Gesetzes: der Bürge verpflichtet sich eben gerade „für die Erfüllung der Verbindlichkeit des Dritten“ einzustehen, d. h. der Bürge muss in dem Moment 27 So BGH NJW 1999, 2584 (2586 f.). S. dazu BGHZ 136, 347 (351); BGHZ 132, 328 (338): Der IX. Zivilsenat hielt die Ehegattenbürgschaft bekanntlich dann für sittenwidrig, wenn die pfändbaren Einkünfte des Bürgen voraussichtlich nicht ausreichten, um innerhalb von 5 Jahren ein Viertel der Hauptschuld abzudecken. 28 BGHZ 120, 272 (276); BGH NJW 1999, 2584 (2587). 29 BGHZ 125, 206 (212 f.); BGHZ 132, 328 (334 ff.). 30 BGHZ 136, 347 (351); BGH NJW 1997, 52 (54); BGHZ 132, 328 (335 f.). 31 BGH, NJW 1999, 2584 (2588). 32 Vgl. MünchKomm / Christian Armbrüster, 5. Aufl. München 2006, § 138 Rn. 133. 33 Vgl. dazu Armbrüster, (Fn. 32), Rn. 134 ff. m. w. N.
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zahlen, in dem die Schuld fällig wird. Das schließt aber nicht aus, dass, wenn der Bürge zu dieser Zeit mittellos ist, im Hinblick auf das Sittenwidrigkeitsurteil auch die Situation bei Vertragsschluss heranzuziehen ist. Andererseits ist die finanzielle Lage des Bürgen beim Vertragsabschluss irrelevant, wenn er im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht mehr finanziell schwach ist. Spielte man dagegen die Meinung des XI. Zivilsenats konsequent durch, könnte der Fall eintreten, dass sich ein Bürge, der zwar beim Abschluss des Vertrags mittellos war, aber bei Fälligkeit der Bürgenschuld zu Vermögen gekommen ist, auf die Sittenwidrigkeit der Bürgschaft berufen könnte. Sogar der etwa dank einer unerwarteten Erbschaft nunmehr zum Millionär Gewordene könnte dann die Inanspruchnahme verweigern. Daher wäre der Meinung des IX. Zivilsenats im Ergebnis zu folgen gewesen, wenn auch seine Argumentation nicht überzeugte. Derselbe Senat hatte allerdings gerade im Hinblick auf das Vermutungsargument seine Rechtsprechung zum Teil modifiziert in dem Sinne, dass ein später eintretender Vermögenserwerb nicht als vorhergesehen vermutet wurde, sondern – ebenso wie der Schutz vor Vermögensverschiebungen – vertraglich geregelt werden musste.34 Ob ein eigenes persönliches oder wirtschaftliches Interesse des Bürgen an der Kreditaufnahme einen Ausgleich schafft, der das Sittenwidrigkeitsurteil ausschließt, war Gegenstand der dritten Frage des Vorlagebeschlusses. Beide Senate waren im Grundsatz dieser Auffassung.35 Unklar blieb, ob nur unmittelbare Vorteile in Geld die Sittenwidrigkeit ausschließen konnten, wie nach der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats36, oder auch mittelbare Vorteile wie etwa zu erwartende höhere Unterhaltsleistungen des Kreditnehmers an die bürgende Ehefrau, so die Judikatur des IX. Zivilsenats.37 Diese letztere Auffassung entsprach der Ansicht, dass im Fall von Ehegatten die krasse finanzielle Überforderung durch eine Gesamtbetrachtung des Vermögens des Hauptschuldners und des Bürgen gemäß dem Gedanken der Wirtschafts- und Schicksalsgemeinschaft zu ermitteln sei. Die Gesamtbetrachtung wurde jedoch aufgegeben; vielleicht werden die „mittelbaren Vorteile“ deswegen in der Entscheidung vom 8. 10. 1998 nicht mehr erwähnt.38 Der XI. Zivilsenat vertrat die Meinung, dass die Einbeziehung mittelbarer Vorteile in das Urteil über die Sittenwidrigkeit zu einer Benachteiligung von Ehegatten selbständiger Unternehmer ohne Rücksicht auf ihre Leistungsfähigkeit führen würde.39 Die Unterhaltsbedürftigkeit des Ehegatten sei kein Grund, ihn ohne Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit in das unternehmerische Risiko des anderen einzubinden, zumal im Regelfall nicht er, sondern der Unterhaltspflichtige entscheidet, mit welchen Mitteln er seine Unterhaltspflicht erfüllen will. Die Abhängigkeit BGH, NJW 1999, 58 (60). BGH, NJW 1999, 2584 (2588). 36 BGH, NJW 1994, 1726 (1727); BGH NJW 1999, 2584 (2588). Vgl. allerdings BGH, NJW 1999, 135. 37 BGHZ 137, 329 (337 f.); BGHZ 132, 328 (340 f.). 38 BGH, NJW 1999, 2584 (2588). 39 BGH, NJW 1999, 2584 (2588). 34 35
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von Leistungsvermögen des Unterhaltspflichtigen sei kein Grund, dem Abhängigen die wirtschaftliche Mitverantwortung für diese nicht von ihm getroffene Entscheidung aufzubürden. Diese Argumentation überzeugt nicht ganz: Zum einen kommen bei Unselbständigen in der Regel keine Geschäftskredite vor, deswegen werden Ehegatten eo ipso weder in das Geschäftsrisiko involviert, noch können sie von mittelbaren Vorteilen profitieren. Zum anderen muss zwar grundsätzlich bei der Annahme von Bürgschaften auf die Leistungsfähigkeit des Bürgen abgestellt werden, doch liegt ziemlich nahe, dass der Ehegatte eines durch Kreditaufnahme zum sprunghaften Erfolg gekommenen selbständigen Unternehmers an den besseren Vermögensverhältnissen teilhaben wird. Und es ist nicht einzusehen, warum in solchen Fällen grundsätzlich davon ausgegangen werden soll, dass sich z. B. die Ehefrau infolge psychischen Drucks verbürgt hat, ohne es wirklich zu wollen. Der Ehegatte mag wohl bewusst – obwohl mittellos – versucht haben, durch die Bürgschaftsübernahme Abhilfe zu schaffen, um die gemeinsame wirtschaftliche Lage zu verbessern, und zwar auch im eigenen Interesse. Sind dann die erhofften Vorteile eingetreten, ist nicht einzusehen, warum die Bürgschaft mit dem Unwerturteil der Sittenwidrigkeit belegt werden soll. Letztlich waren beide Senate der Auffassung, dass „der Grundsatz der Vertragsfreiheit . . . es jedem erlaubt, sich zur Erfüllung eigener Wünsche auch weit über seine finanzielle Leistungsfähigkeit hinaus zu verschulden.“40 Auch im Hinblick auf diese Frage also wäre eine Einzelfallbetrachtung, die nicht alleine das starre Unmittelbarkeitskriterium berücksichtigt, vielleicht zweckmäßiger gewesen.
IV. Aus dem Gesagten dürfte zweierlei klar geworden sein: zum einen die Probleme, mit denen sich die Rechtsprechung auseinandersetzte. Nachdem, wie gesagt, der Konflikt durch die Kompetenzenverlagerung auf den XI. Zivilsenat gelöst wurde und es daher nicht mehr einer Entscheidung des Großen Senats bedurfte, wendet man die Kriterien für die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft an, die den Ansichten des XI. Zivilsenat entsprechen. Trotzdem besteht die Gefahr – damals wie heute –, dass für die Praxis Unsicherheiten verbleiben. Zum anderen dürfte deutlich geworden sein, dass die Divergenzen zwischen den Senaten sich auf eine unterschiedliche Grundhaltung im Hinblick auf die Anwendbarkeit des § 138 BGB für die Bürgschaft zurückführen ließen, wobei der XI. Zivilsenat eher der Argumentationsweise des Bundesverfassungsgerichts zuzuneigen schien als der IX. Zivilsenat. Nachdem die Praxis der Banken, routinemäßig von Familienangehörigen eine Bürgschaft bei der Kreditvergabe zu verlangen, oft meist junge Menschen in die hoffnungslose Überschuldung getrieben hatte, musste die Rechtsordnung für eine 40
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Lösung sorgen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die mit am materialen Recht orientierten Argumenten der Frage nachgegangen ist, zeigt, dass dies als Gebot der Gerechtigkeit empfunden wurde. Allerdings ist in dieser Hinsicht der Spielraum des Bundesverfassungsgerichts beschränkt: Bekanntlich wirken die Grundrechte – wie die Wertordnung des Grundgesetzes insgesamt – nach der Theorie der mittelbaren Drittwirkung nur über die Generalklauseln auf das Zivilrecht ein, das heißt, dass das Bundesverfassungsgericht nur in diesem Rahmen bei seiner verfassungsrechtlichen Prüfung auf die Auslegung des Privatrechts Einfluss nehmen kann.41 Doch könnte es nicht auch an dieser Applikation des spezifisch verfassungsrechtlichen Instrumentariums auf das Privatrecht liegen, dass eine eher von Wertungswidersprüchen und Unsicherheiten gekennzeichnete Situation entstanden ist, die in der Praxis gerade diejenigen, die geschützt werden sollen, zu benachteiligen in der Lage wäre?42 Oder pointierter ausgedrückt: hätte man das Problem auch ohne „verfassungsrechtlichen Anstoß“ im Rahmen einer dogmatisch präzisen privatrechtlichen Perspektive erkennen können? Der Versuchung, diese Frage hier zu stellen, kann man kaum widerstehen. Richtigerweise hatte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den IX. Zivilsenat damals dazu bewogen, seine enge formalistische Rechtsprechung, wie sie die eindeutig falsche Entscheidung des „Zu den Akten“-Falls zeigt, zu modifizieren.43 Zu diesem Zweck hatte der Senat neben § 138 I BGB verschiedene zivilrechtliche Instrumente benutzt. Die Anwendung der Überraschungsklausel des § 3 AGBG (jetzt 305c I BGB) und der Generalklausel des § 9 AGBG (jetzt § 307 BGB)44 überzeugte. Auch der Rückgriff auf die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage im Fall der Ehescheidung45 war vertretbar, sofern die Gefahr von Vermögensverschiebungen ein Argument für die grundsätzliche Wirksamkeit von Ehegattenbürgschaften darstellt. Die Anwendung des Haustürgeschäftewiderrufgesetzes und des Verbraucherkreditgesetzes wurde vom Senat eher abgelehnt, zu Recht. Mag sich auch in Bezug auf das erste Gesetz der Bürge unter die Definition des Verbrauchers (§ 24 a AGBG; § 6 HaustürWG; § 1 VerbrKrG, jetzt § 13 BGB, § 414 IV HGB) subsumieren lassen, so war jedoch nicht einzusehen, dass in der eigenen Wohnung gerade der finanziell überforderte Bürge mehr überrumpelt 41 Vgl. dazu nur MünchKomm / Franz Jürgen Säcker, 5. Aufl. München 2006, Einl. BGB Rn. 59 ff. Annette Guckelberger, Die Drittwirkung der Grundrechte, in: JuS 2003, 1151 – 1157. 42 Kritik an dieser konsolidierten Rechtsprechung des BGH üben u. a. Medicus, (Fn. 1); MünchKomm / Mathias Habersack, 5. Aufl. 2009, § 765 BGB Rn. 22 ff. S. mit Fokus auf eine veränderte Gesetzeslage: Daniel Schnabl, Kehrtwende der Rechtsprechung zu sittenwidrigen Bürgschaften, in: WM 2006, 706 (709 ff.). Vgl. aus denselben Gründen im allgemeinen kritisch zur mittelbaren Drittwirkung Staudinger / Helmut Coing / Heinrich Honsell, Neubearb. München 2004, Einl. zum BGB Rn. 193 ff. 43 BGH, NJW 1994, 1341 ff. 44 BGHZ 136, 347 (354 ff.). 45 BGHZ 128, 230 (236 ff.).
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wird als in den Räumen der Bank; im Hinblick auf das Verbraucherkreditgesetz hätte man sich mit Medicus fragen können, wie die Bürgschaft überhaupt als „Kreditgeschäft“ des Bürgen i. S. von § 1 II des Gesetzes angesehen werden kann.46 Auch eine Vertragsauslegung nach Treu und Glauben wurde vom BGH vorgenommen, wenn der Gläubiger die Bürgschaft akzeptiert hatte, um sich vor Vermögensverschiebungen zu schützen oder um künftigen Erbschaftserwerb des Bürgen zu erfassen. Dann sollte sich die Haftung des Bürgen auf den Eintritt dieser Fälle beschränken. Insofern hatte der IX. Zivilsenat aber, wie schon erwähnt, im Oktober 1998 entschieden, dass solche Zwecke ab 1. 1. 1999 nur dann berücksichtigt werden konnten, wenn es vertraglich geregelt war.47 Zivilrechtlich reizvoller und weiterführend schien es mir, die Figur des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (jetzt § 311 II BGB) fruchtbar zu machen, mit der nach herrschender, in dem eingangs zitierten Beitrag von Medicus bekräftigter Ansicht die Aufhebung eines pflichtwidrig herbeigeführten Vertrags verlangt werden kann. Nach dieser Ansicht war auf das Verhalten des Gläubigers abzustellen: Hatte er eine Pflicht verletzt, so schuldete er als Schadensersatz die Befreiung des Bürgen. Eine Pflichtverletzung liegt, so zu Recht Medicus, regelmäßig in der Bagatellisierung des Bürgenrisikos oder in anderer unredlicher Beeinflussung des Bürgen, etwa durch den Appell an seinen Familiensinn.48 Bestätigt in dieser schon damals geäußerten Ansicht49 durch die zwischenzeitlich leichsinnige Kreditpraxis der Banken, die für die Finanz- und Wirtschaftskrise mitverantwortlich ist, frage ich mich, ob nicht die in der Praxis übliche Bonitätsprüfung von der Rechtsprechung auch im Hinblick auf den Bürgen als Pflicht anerkannt werden sollte. Die Bonitätsprüfung wurde bisher – das soll sich bis zum 11. Juni 2010 ändern50 – nur als öffentlich-rechtliche Pflicht angesehen, die zwar die Kreditinstitute und ihre Einleger, nicht aber die Bankkunden und ihre Sicherungsgeber im Sinne eines Schutzgesetzes schützt.51 Zumindest bei großvolumigen Medicus, (Fn. 1), 836 f. Vgl. o. Fn. 14. 48 Medicus (Fn. 1), 836 f. Vgl. aus der Rechtsprechung BGH, NJW 1999, 2814 f. S. aus letzter Zeit auch BGHZ 165, 363 (370 f.) bei der Pfandrechtsbestellung und Stephan Wagner, Die Sittenwidrigkeit der Angehörigenbürgschaften nach Einführung der Restschuldbefreiung und Kodifizierung der c.i.c., in: NJW 2005, 2956 – 2959. 49 Im Rahmen des eingangs erwähnten Vortrags an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes am 6. 2. 2000. 50 Vgl. dazu zustimmend Peter Rott, Die neue Verbraucherkredit-Richtlinie 2008 / 48 / EG und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht, in: WM 2008, 1104 (1108 ff., insb. 1110) und ablehnend Carsten Herresthal, Die Verpflichtung zur Bewertung der Kreditwürdigkeit und zur angemessenen Erläuterung unter der neuen Verbraucherkreditrichtlinie, in: WM 2009, 1104 (1177 ff.). 51 Vgl. dazu Boos / Fischer / Schulte-Mattler / Hellmuth Bock, Kommentar zum Kreditwesengesetz, 3. Aufl. München 2008, § 18 KWG, Rn. 1, 3, 95 und Jochen Richrath, Aufklärungs- und Beratungspflichten – Grundlagen und Grenzen, in: WM 2004, 653 (657 ff.). 46 47
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Kreditvergaben52 ist die Bank jedoch verpflichtet, sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners offenlegen zu lassen nach § 18 S. 1 des KWG, das der Sicherheit des Kreditverkehrs (übrigens auch im Interesse der Bankkunden) dient. Ebenso deutet § 18 S. 2 KWG in Richtung einer effektiven Prüfung der Leistungsfähigkeit. Nach dieser Vorschrift kann nämlich von der Offenlegung dann abgesehen werden, wenn ausreichende Sicherheiten vorliegen. Diese Prüfungspflicht passt sich gut ein in den hinter dem Kreditwesengesetz stehenden Gedanken und entspricht der tragenden öffentlichen Rolle der Banken für das Funktionieren der Gesamtwirtschaft. Das Kreditwesengesetz verdankt nämlich seine Entstehung einer schon seit 1874 diskutierten Idee, der zunächst schrankenlosen Gewerbefreiheit im Bankwesen eine effektive Bankenaufsicht entgegenzusetzen. Dieser Gedanke begann sich im Zuge von Inflation und internationaler Bankenkrise in den zwanziger und dreißiger Jahren durchzusetzen und wurde durch die Inflation von 1948 bekräftigt.53 Konsequent bezeichnet § 6 II KWG es als Aufgabe des Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen, den Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen entgegenzuwirken, welche die Sicherheit der den Instituten anvertrauten Vermögenswerte gefährden, die ordnungsmäßige Durchführung der Bankgeschäfte beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können. Es ist rechtspolitisch überaus interessant, die Aktualität dieser Gesetzesvorgabe festzustellen. Unter rechtshistorischen Gesichtspunkten ist es geradezu sensationell zu konstatieren, dass – wiederum aufgrund einer Bankenkrise, die viele Ähnlichkeiten mit der am Anfang des 20. Jahrhunderts hat und die auch von der Missachtung der damals gewonnenen, im Gesetzestext niedergeschriebenen Lehre mitverschuldet wurde – der Gesetzgeber gerade den § 18 KWG und zwar in dem hier befürworteten Sinne revidierte. Nachdem Art. 8 der Richtlinie 2008 / 48 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87 / 102 / EWG des Rates vorgegeben hat, die Verpflichtung zur Bonitätsprüfung bei der Vergabe jedes Verbraucherkredits einzuführen, hat der Bundestag beschlossen, in Anbetracht des Zusammenhanges zwischen der bereits in § 18 normierten Pflicht und der Verpflichtung aus Art. 8 der Verbraucherkreditrichtlinie, diese durch die entsprechende Ergänzung des § 18 KWG umzusetzen.54 Der IX. Zivilsenat des BGH hatte im Jahre 198955 eine Bonitätsprüfungspflicht der Banken verneint. Dort ging der Senat davon aus, dass die Bürgschaft „ein risi52 Die Grenze liegt aktuell bei 750.000 A oder 10 von 100 des haftenden Eigenkapitals des Instituts. 53 Vgl. zur Entstehung und historischen Entwicklung des Kreditwesengesetzes Boos / Fischer / Schulte-Mattler / Reinfried Fischer, Kommentar zum Kreditwesengesetz, 3. Aufl. München 2008, Einf. KWG Rn. 1 ff. 54 Vgl. Art. 7 Nr. 1 lit. b des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht, BGBl. I Nr. 49, S. 2385 f. S. umfassend dazu Rott (Fn. 50) und Herresthal (Fn. 50). 55 BGHZ 106, 269 (271 ff.).
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koreicher, einseitig den Bürgen verpflichtender Vertrag“ ist und dass „die Freiheit der Vertragsgestaltung als Teil der Privatautonomie . . . für jeden voll Geschäftsfähigen auch die Rechtsmacht (umfaßt), sich zu Leistungen zu verpflichten, die er nur unter besonders günstigen Bedingungen erbringen kann. Solange die Leistung überhaupt möglich ist, berührt das Unvermögen eines Schuldners die Wirksamkeit eines von ihm abgeschlossenen Vertrages nicht.“ Deswegen müsse die Bank sich nicht über die Vermögensverhältnisse des Bürgen vergewissern. Es ist fraglich, ob diese Argumentation nach dem Inkrafttreten des ergänzten § 18 des KWG so aufrecht erhalten werden kann. Die Verneinung der Bonitätsprüfungspflicht beruht nach Ansicht des Senats darauf, dass die Bank keine Aufklärungspflicht gegenüber dem Bürgen hat: „Es ist grundsätzlich nicht Sache des Gläubigers, einen Bürgen auf sein Risiko hinzuweisen, wenn er nicht selbst eine Erhöhung des Bürgenrisikos veranlaßt hat.“56 Daher wollte der Senat die Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäfts nicht daraus herleiten, dass die Bank auf die Bonitätsprüfung wenig Wert legte. Hier ging es also vor allem darum, die fehlende Bonitätsprüfung nicht als sittenwidrigkeitsbegründendes Element zu betrachten. Diese von der klassischen Natur der Bürgschaft bestimmte Rechtsprechung hätte auf jeden Fall selbst der IX. Zivilsenat nicht mehr aufrecht erhalten können. Wenn es in dem Urteil heißt, dass der Gläubiger davon ausgehen kann, „daß derjenige, der eine Bürgschaftsverpflichtung übernimmt, sich über die Tragweite seines Handelns im klaren ist und sein Risiko abschätzt“57, dann war gerade diese Argumentationsbasis durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts obsolet geworden. Einen Schritt in Richtung Anerkennung der Bonitätsprüfungspflicht war der IX. Zivilsenat – mit Zustimmung des XI. – schon gegangen, wenn er der Bank die objektive Tatsache der fehlenden finanziellen Leistungsfähigkeit des Bürgen als bekannt entgegenhält, und zwar mit der Begründung, dass sie von diesbezüglichen Nachforschungen abgesehen und damit eine eigene Obliegenheit verletzt hat.58 In einem anderen Zusammenhang hat die Rechtsprechung die Bonitätsprüfung längst anerkannt. Im Rahmen der von § 254 BGB vorgesehenen Beschränkung der Verpflichtung des Schädigers zum Schadensersatz, wenn der Geschädigte bei der Entstehung des Schadens mitgewirkt hat, hat der BGH eine schuldhafte Mitverantwortung der Bank darin begründet gesehen, dass sie einen Kredit ohne hinreichende Prüfung der Bonität des Kreditnehmers bzw. der von ihm gestellten Sicherheiten gewährt hat.59 Bei § 254 BGB handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung um eine Pflicht des Geschädigten gegen sich selbst, um eine Obliegenheit, sich selbst vor Schaden zu bewahren, um die Pflicht gegenüber dem Schädiger, den durch zurechenbares eigenes Verschulden verursachten Teil des Schadens BGHZ 106, 269 (273); BGH, NJW 1991, 2015 (2016); BGH NJW 1992, 896 (898). BGHZ 106, 269 (272); ähnlich auch BGHZ 107, 92 (102). 58 BGHZ 128, 230 (236 ff.); BGH NJW 1999, 58 (60). 59 BGH, WM 1970, 1270 (1271 f.); vgl. dazu auch OLG München, NJW 1970, 1924 (1926 f.). 56 57
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selbst zu übernehmen.60 Die Unterlassung der Bonitätsprüfung stellt ein Verschulden in diesem Sinne dar. Die bereits damals von mir geäußerte Ansicht, die Bonitätsprüfung als Pflicht der Bank im Rahmen der Vertragsverhandlungen anzuerkennen61, gewinnt vor dem Hintergrund der oben erwähnten bevorstehenden Reform des § 18 KWG an Überzeugungskraft62, trotz der mittlerweile konsolidierten Nichtigkeitsrechtsprechung des (XI. Zivilsenats des) Bundesgerichtshofs. Die Bank soll eine allgemeine Bonitätsprüfungspflicht treffen, die sich – ähnlich wie die deliktischen Verkehrssicherungspflichten – gegenüber dem jeweiligen Kreditnehmer oder Sicherungsgeber konkretisiert. Damit würden neue Gedanken in das Bürgschaftsrecht eingefügt, die in gewissem Maße auch durch die Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Entscheidung von 1993 bedingt sind. Eine hoffnungslos finanziell überforderte Person als Bürgen für einen sehr hohen Betrag zu akzeptieren, hat nicht nur keinen großen wirtschaftlichen Sinn, es lässt auch den Gedanken an ein venire contra factum proprium aufkommen: Einerseits verlangt die Bank eine Sicherheit, andererseits scheint sie auf deren Tauglichkeit keinen Wert zu legen, wenn sie von einer Bonitätsprüfung absieht. Gerade beim „Zu den Akten“-Fall ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass die Hereinnahme einer Angehörigenbürgschaft eine solche Routineangelegenheit geworden war, dass die Bankangestellten weder wussten, noch darüber nachdachten, warum sie das überhaupt taten. Eine Bank, die einen finanziell überforderten Angehörigen als Bürgen annimmt, handelt entweder im Widerspruch zu ihrem eigenen ökonomischen Interesse oder verfolgt einen anderen Zweck. Hier kommt die von den Banken selbst vorgetragene Vermeidung der Gefahr von Vermögensverschiebung vom Hauptschuldner auf den Bürgen in Betracht. Dieses Phänomen mag in der Praxis tatsächlich oft auftreten, vor allem zwischen Ehegatten. Doch drängt sich der Verdacht des „Institutionenmissbrauchs“ auf, da der Sinn einer Bürgschaft eben gerade darin liegt, neben dem Vermögen des Hauptschuldners dem Gläubiger eine werthaltige Sicherheit zu verschaffen.63 Hilfe gegen das Vermögensverschiebungsrisiko bietet die von Canaris schon 1994 vorgeschlagene vertragliche Beschränkung der Bürgenhaftung auf das vorhandene Vermögen des Bürgen bei Fälligkeit des Kredits.64 Die Gefahr, dass seinerseits der Bürge sein Vermögen auf einen anderen verschiebt, besteht selbstverständlich theoretisch weiter. Eine solche Gefahr existiert aber für jeden beliebigen Gläubiger, und das Anfechtungsgesetz sieht Regeln vor, die dies verhindern sollen. Nach ihm können „Rechtshandlungen eines Schuldners, die seine Gläubiger benachteiligen, . . . außerhalb des Insolvenzverfahrens“ (§ 1 AnfG) bei vorsätzBGH, NJW 1961, 20 (22); vgl. auch BGHZ 3, 46 (49 ff.). s. Fn. 49. 62 In diesem Sinne auch Rott (Fn. 50), 1108 ff., insb. 1110; ablehnend dagegen Herresthal (Fn. 50), 1177 ff. 63 Vgl. dazu die Überlegungen des BGH, BGHZ 128, 230 (236 ff.); BGH NJW 1999, 58 (59). 64 Karl Larenz / Claus Wilhelm Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II / 2, 13. Aufl. München 1994, S. 10. 60 61
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licher Benachteiligung (§ 3 AnfG) oder unentgeltlicher Leistung (§ 4 AnfG) innerhalb der entsprechenden Fristen (10 bzw. 4 Jahre) angefochten werden. Mit der Beschränkung auf das vorhandene Vermögen des Bürgen kann man nicht nur gegen das Vermögensverlagerungsrisiko Abhilfe schaffen, zugleich könnte man damit verhindern, dass ein Bürge sich seine finanzielle Zukunft hoffnungslos ruiniert. Erkennt man daneben die Bonitätsprüfung als Pflicht der Bank an – wobei die erwähnte Ergänzung des § 18 KWG diese Interpretation stützen würde –, ergeben sich zwei Konstellationen. Zum einen: Unterlässt die Bank die Prüfung der Leistungsfähigkeit oder führt sie sie fehlerhaft durch (eine Tatsache, die gegebenenfalls anhand der Kreditunterlagen vom Gericht kontrolliert werden könnte), ist sie zum Schadensersatz wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen, d. h. zur Befreiung des Bürgen, verpflichtet. Zum anderen: Zur Annahme von Sittenwidrigkeit bleibt nur der Fall, dass die Bank die Bürgschaft angenommen hat, obwohl die Bonitätsprüfung negativ ausgefallen ist, und sie die oben beschriebene Beschränkung der Bürgenhaftung im Vertrag nicht geregelt hat. Denn die bewusste Hereinnahme eines zahlungsunfähigen Schuldners stellt, wenn nicht durch die vertragliche Regelung der Zweck gerade dieses Handelns erkennbar wird, ein Indiz für den Willen der Bank dar, die Zwangslage und die Unerfahrenheit auszubeuten. In diesem Fall ist die Anwendung von § 138 I BGB gerechtfertigt. Wenn es bei der Bürgschaft nicht an dem Element der Gegenleistung fehlen würde, könnte man sogar § 138 II BGB heranziehen. Grundsätzlich bei der culpa in contrahendo anzusetzen ist schon deswegen vorzugswürdig, weil damit auch Fälle berücksichtigt werden können, in denen dem Bürgen nicht unbedingt der „Schuldturm“ droht. Ferner erlaubt es, gegebenenfalls auf den flexiblen § 254 BGB zurückzugreifen und den Ersatzanspruch wegen Mitverschuldens des Bürgen zu mindern.65 Vor allem methodisch aber scheint der Griff zu den Regeln über das Verschulden bei Vertragsverhandlungen zweckmäßiger. Dadurch wird die Wirksamkeit der Bürgschaft vom konkreten, nach subjektiven Kriterien zu beurteilenden Verhalten der Parteien abhängig.66 V. Nach der hier vorgetragenen Ansicht soll die Bank nach wirtschaftlichen Kriterien die Leistungsfähigkeit des Bürgen prüfen und entsprechend der Werthaltigkeit der Sicherung entscheiden, ob sie die Bürgschaft akzeptieren will. Falls die Bürgschaft der Gefahr von Vermögensverschiebungen vorbeugen soll, wird die Bank in dem ohnehin in aller Regel von ihr selbst zur Verfügung gestellten Formular für die oben erwähnte vertragliche Abrede Vorsorge treffen. So Medicus (Fn. 1), 838 f. S. dazu im Allgemeinen auch Wagner (Fn. 48). Wenn die Wirksamkeit der Bürgschaft von diesen Kriterien abhängig ist, fällt auch das Argument des logischen Vorrangs der Sittenwidrigkeit als die Verbindlichkeit aufhebenden Instrumentes weg. Vgl. Medicus, (Fn. 1), 838 mit Beispiel für die berühmten „Doppelwirkungen im Recht“. 65 66
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Diese Perspektive ist an der Bewahrung der Bürgschaft in ihrer Bedeutung als Kreditsicherungsmittel orientiert, ohne dass die Bürgenverpflichtung gleich zu einem abgrundtiefen Verhängnis für den Bürgen wird. Wird damit der damaligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ungenügend Rechnung getragen? Das Gericht argumentiert: Privatautonomie setzt die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit voraus. Ist eine der Parteien offensichtlich unterlegen und zu schwach im Vergleich zu der anderen, führt dies bei dem schwächeren Teil zu Fremdbestimmung. Die Gerichte müssen in diesem Fall intervenieren und mit Hilfe der Generalklauseln der §§ 138 und 242 BGB Inhaltskontrolle ausüben, wodurch die Situation wieder ins Gleichgewicht gebracht werden soll. Um eine häufig gebrauchte Terminologie zu verwenden: dem materialen Recht soll Priorität vor dem formalen zukommen. Explizit merkt das Urteil an: „Die Schöpfer des BGB gingen zwar, auch wenn sie verschiedene Schutznormen für den im Rechtsverkehr Schwächeren getroffen haben, von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr aus, aber schon das Reichsgericht hat diese Betrachtungsweise aufgegeben und in eine ,materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt‘“.67 Ziel der Intervention ist die Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 I GG) und des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 I, 28 I GG).68 Nun ist die Privatautonomie Ausdruck der Handlungsfähigkeit, die wiederum einen Aspekt der Entfaltung der Persönlichkeit darstellt. Fraglich ist aber, ob der Schutz, der a posteriori durch einen Eingriff in den geschlossenen Vertrag realisiert wird, tatsächlich dem Schwächeren am effektivsten ermöglicht, seine Handlungsfreiheit auszuüben und damit seine Persönlichkeit zu entfalten. Wohl wahr ist das, was sich in der Praxis, verstärkt durch die Finanzkrise, immer wieder gerade im Hinblick auf kleine bis mittelständische Unternehmer oder einfache Private bestätigt, und zwar, dass Banken und Sparkassen bei der Annahme von Angehörigenbürgschaften und damit auch bei der Vergabe der entsprechenden Kredite zögern – d. h. faktisch eher eine Begrenzung der Handlungsfreiheit. Dass dies das Bundesverfassungsgericht bewirken wollte, wenn es auf das Zusammenspiel von Privatautonomie, Vertrags- und Handlungsfreiheit aufmerksam machte, ist zweifelhaft. Somit wird die Diskussion über Sittenwidrigkeit und Bürgschaft ein Teil der – alten – Querele zwischen Verfechtern des Formalismus und Verfechtern der Materialisierung, wobei das zweite für „sozial“, das erste für „liberal“ stehen soll, wie es Canaris pointiert formuliert hat.69 Auf diese Diskussion kann hier nicht vertieft eingegangen werden. Wenn man den Begriff „formales“ Recht in der Weise interpretiert, dass ex ante klare und sichere Regeln aufgestellt werden und gegebe67 BVerfG, NJW 1994, 36 (38) mit Zitat von Franz Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, Frankfurt a. M. 1974, S. 24. 68 BVerfG, NJW 1994, 36 (38). 69 Claus-Wilhelm Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu einer „Materialisierung“, in: AcP 200 (2000), 273 (289 ff.).
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nenfalls dem strukturell Stärkeren Informationspflichten auferlegt werden – gerade dies ist in der oben erwähnten EU-Richtlinie vorgesehen70, deren Umsetzung bis Juni 2010 Gesetz werden soll – zu dem Zweck, dass nicht nur im Prozess, sondern auch beim Vertragsschluss ein faires Verfahren für alle gewährleistet wird, dann dient meines Erachtens ein solches „formales Recht“ dem Zweck des Sozialstaats auf Dauer besser als die Materialisierung des Vertragsrechts. Die Problematik der Wirkungen von juristisch und politisch veranlasstem Schutz des Schwächeren ist – wie könnte es anders sein – nicht neu. Das SC Velleianum aus der Mitte des 1. Jh. n. Chr. verbietet Frauen das intercedere, also das „Dazwischentreten“, dadurch, dass sie im Interesse Dritter Verbindlichkeiten eingehen, cum eas virilibus officiis fungi et eius generis obligationibus obstringi non sit aequum (da es nicht gerecht ist, dass sie männliche Aufgaben verrichten und durch derartige Verpflichtungen gebunden werden).71 Unter das Verbot fallen Bürgschaft, Gesamtschuld, Verpfändung etc. Offiziell steht hinter dem SC der Schutzgedanke, die unerfahrene und schnell unter den Druck vor allem ihres Ehemannes geratende Frau von deswegen ungerecht belastenden Rechtsgeschäften zu befreien. Diese waren zwar gültig, konnten aber durch eine von der Frau geltend zu machende exceptio senatusconsulti Velleiani entkräftet werden, d. h. im Ergebnis zu Fall gebracht werden. Konsequenz dieses Schutzes des Schwächeren war, dass Frauen zunehmend der Gefahr ausgesetzt waren, vom Rechtsverkehr ausgeschlossen zu werden: Wer will schon ein Rechtsgeschäft abschließen mit einer potentiell so unzuverlässigen Partnerin?72 Das rechtshistorische Beispiel soll zeigen, dass von materialrechtlichen Überlegungen inspirierte Maßnahmen unter Umständen das Gegenteil von dem bewirken können, was sie erreichen wollen. Eine genauere Verfahrensregelung, das „formale“ Recht, das das Zustandekommen des Vertrages normiert, nicht aber seinen Inhalt vorschreibt, bietet dagegen oft Schutz gegen vom Zeitgeist abhängige Interventionen in die Privatsphäre. So ist die Dichotomie „Privatautonomie oder Schutz des Schwächeren“ eine eher provokante Fragestellung, die in verschiedener Weise interpretiert werden kann. Man kann sie so verstehen, als ob die Privatautonomie im rein „formalen“ Sinn den Gegensatz zum Schutz des Schwächeren im „materialen“ Sinn bildet. 70 Vgl. Erwägungsgründe 24. ff., insb. den 26. der Richtlinie 2008 / 48 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4. 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87 / 102 / EWG des Rates. Zu den Auswirkungen im deutschen Recht s. divergierend Rott (Fn. 50), 110 und Herresthal (Fn. 50), 1177 ff. 71 Vgl. dazu Dieter Medicus, Zur Geschichte des Senatus Consultum Velleianum, Köln 1957; Ulrike Mönnich, Frauenschutz vor riskanten Geschäften. Interzessionsverbote nach dem Velleianischen Senatsbeschluss, Köln 1999; Berthold Kupisch, Die römische Frau im Geschäftsleben. Ein Anwendungsbeispiel Ulpian / Julian / Marcellus D. 16,1,8,2, in: Hübner (Hrsg.), Festschrift für Bernhard Großfeld zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1999, S. 659 – 670. 72 D. 16. 1. 11 Paul. 30 ad ed.
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Oder man kann meinen, die Frage sei in dieser Form falsch gestellt, weil nur durch einen effektiven materialrechtlichen Schutz des Schwächeren die „echte“ Privatautonomie gewährleistet werden kann, so in etwa das Bundesverfassungsgericht. Oder man kann denken – wohin ich tendiere –, dass eine durch gerechte und genauere Verfahrensregeln funktionierende Privatautonomie eine effektive Entscheidungsfreiheit garantiert und deswegen dem Ideal des Schutzes des Schwächeren letztlich am besten dient.73
73 Damit wird freilich das Problem der Rolle des Privatrechts im Verhältnis zum Verfassungsrecht im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt angedeutet. Dazu s. Tiziana J. Chiusi, Die umfassende Dimension des römischen Privatrechts. Systemtheoretische Bemerkungen über eine Rechtsordnung, die keine Grundrechte kennt, in J. Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, Tübingen 2007, 3 – 25.
GEMA, VG WORT, VG BILD-KUNST: Anfänge, Entwicklungen, Herausforderungen Von Thomas Gergen* I. Verwertungsgesellschaften und ihre Rechtsgrundlagen 1. Einführung GEMA, VG WORT und VG BILD-KUNST sind die wichtigsten der gegenwärtig in Deutschland auf zwölf angewachsenen Verwertungsgesellschaften, die die Urheberrechte und Ansprüche ihrer Vertragspartner gegenüber den Nutzern der Werke und Leistungen treuhänderisch wahrnehmen. Der inhaltliche Kern des Urheberrechts besteht darin, dass allein der geistige Urheber entscheiden soll, in welcher Form die von ihm geschaffenen Werke genutzt oder bearbeitet werden dürfen. Dieses Recht ist allerdings nur von theoretischer Bedeutung, wenn er es nicht effizient durchsetzen kann. Kein Autor, kein Komponist, kein Lichtbildner ist – insbesondere angesichts der Schaffung neuer Nutzungsarten durch die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte – in der Lage, die Vielzahl der erlaubten und unerlaubten Benutzungshandlungen seiner Werke festzustellen und die ihm dafür nach dem Urheberrecht zustehende Vergütung einzufordern.1 Die Geschichte der GEMA begann in Deutschland im 19. Jahrhundert und ist durch sehr unterschiedliche Faktoren geprägt worden. Schon seit dem Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, an Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken von 1870 / 71 (Norddeutscher Bund / Deutsches Reich) war den deutschen Komponisten und Musikverlegern das Recht eingeräumt, sich beim Verkauf der Noten ihrer musikalischen Werke das Recht der * Der Autor ist Mitarbeiter bei der DFG-Forschungsstelle zum Geistigen Eigentum am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes. Diese Forschungsstelle ist der Forschungsstelle Internationaler Kulturgüterschutz von Professor Fiedler seit vielen Jahren in guter Nachbarschaft verbunden. 1 R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, in: Jacobshagen / Reininghaus (Hg.), Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert (Band 10: Musik und Kulturbetrieb), Laaber 2006, S. 181 ff., 191; Keiderling, Geist, Recht und Geld. Die VG Wort 1958 – 2008, Berlin 2008, S. 134; Mauhs, Der Wahrnehmungsvertrag, Baden-Baden 1991, S. 10; Senger, Wahrnehmung digitaler Urheberrechte, Wien / Graz 2002, S. 44; Bock, AFMA – STAGMA – GEMA, in: GEMA (Hg.), Musik und Dichtung – 50 Jahre Deutsche Urheberrechtsgesellschaft, München 1953, S. 32.
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öffentlichen Aufführung durch den Aufdruck des Vermerks „Aufführungsrecht vorbehalten“ zu sichern. Das 20. Jahrhundert war sodann die große Zeit technologischer Innovationen. Die Verwertungsgesellschaften waren angehalten, laufend auf neue Vervielfältigungs- und Verbreitungsmethoden zu reagieren, um urheberrechtlich geschützte Werke vor massenhafter Verbreitung und unentgeltlicher Nutzung in der „Informationsgesellschaft“ zu schützen, in der infolge fortschreitender Entwicklung von Standards und Techniken digitaler Kompression große Datenmengen zu Zwecken sowohl der Speicherung als auch der Übertragung produziert werden.2 Die Herausforderungen wie etwa das ungezähmte Herunterladen von Musik- und Bildwerken oder das Digitalisieren vergriffener oder verwaister Schriftwerke (Stichwort: Google Book Settlement3) beschäftigen die Verwertungsgesellschaften und lassen sie zu weltweiten Fürsprechern der ihnen anvertrauten Werkschöpfer werden. In diesem „Kulturkampf“ im Internet schält sich heraus, dass eine starke Position der Verwertungsgesellschaften einen Glücksfall für die Werkschöpfer darstellt; dies war nicht immer so, doch zeigt die geschichtliche Entwicklung, die im Folgenden an einigen Wegmarken ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizziert werden soll, den Weg zu dieser herausragenden Position der drei wichtigsten Verwertungsgesellschaften, von der es im 21. Jahrhundert keine Rückschritte geben sollte. 2. Die Wahrnehmung der Urheberrechte Die Rechte und Pflichten der Verwertungsgesellschaften sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Urheberrechtswahrnehmungsgesetz (UrhWG), in kraft seit 1. Januar 1966, geregelt. Gem. § 1 Abs. 1 UrhWG ist eine Verwertungsgesellschaft eine natürliche oder juristische Person, die Nutzungsrechte, Einwilligungsrechte oder Vergütungsansprüche, die sich aus dem UrhG ergeben, für Rechnung mehrerer Urheber oder Inhaber verwandter Schutzrechte zur gemeinsamen Auswertung treuhänderisch wahrnimmt. Dazu gehören die Aufführungsrechte, Senderechte, Rechte zu mechanischer Vervielfältigung und andere urheberrecht2 Kreile / Becker, Verwertungsgesellschaften in der Informationsgesellschaft, in: Immenga / Möschel / Reuter (Hg.), Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, Baden-Baden 1996, S. 77 ff., 81. 3 Statt vieler: Flechsig, Aus der Zukunft an die Gegenwart – Zu den Erfordernissen einer angemessenen Vergütung für die Nutzung im Internet: Kulturflatrate, in: Hilty / Drexl / W. Nordemann (Hg.), Schutz von Kreativität und Wettbewerb, FS U. Loewenheim zum 75. Geburtstag, München 2009, S. 97 – 101. Auch die Tagespresse ist gefüllt mit Berichten darüber, vgl. etwa Hintermeier, F.A.Z. v. 22. 9. 2009, S. 29, „Pfade nach Utopia. Das Google Book Settlement wird neu verhandelt.“ Über die Internetpiraten in der Musikindustrie, vgl. Wieduwilt, F.A.Z. v. 20. 10. 2009, S. 17, „Legale Konkurrenz für illegale Tauschbörsen“. Als die Frankfurter Buchmesse im Oktober 2009 veranstaltet wurde, war das Thema viel diskutiert, denn es ging auch um die Zukunft des gedruckten Buches, siehe beispielhaft F.A.Z. v. 17. 10. 2009, S. 18, „Frankfurter Buchmesse: Die Nebel über der Zukunft des gedruckten Buches lichten sich. Konkurrenz für Amazon und Sony. Das hochwertige Buch überlebt.“
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liche Befugnisse. Diese Interessenwahrnehmung setzt eine entsprechende Überwachung durch eine Organisation voraus, die eine möglichst flächendeckende und kostengünstige Kontrolle ermöglicht. Die Verwertungsgesellschaften verfügen gerade über diese Kontakte und Kontrollmöglichkeiten, die den individuellen Rechtsträgern fehlen.4 Sie schließen Nutzungsverträge mit Verwertern und verfolgen Rechtsverletzungen durch unautorisierte Nutzungen geschützter Werke. Ihre Legitimation beziehen sie aus dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz des geistigen Eigentums und aus der modernen Urheberrechtsgesetzgebung, die dem Urheber eine Reihe von Nutzungsrechten einräumt. Im Wahrnehmungsvertrag übertragen die Urheber die Nutzungsrechte und Vergütungsansprüche auf ihre Verwertungsgesellschaften, die nach Maßgabe ihres Verteilungsplans die Vergütungen an die Berechtigten ausschütten (§ 7 UrhWG).5 Eine beträchtliche Anzahl von Rechten kann auf Grund zwingender Vorschriften des UrhG nur kollektiv von Verwertungsgesellschaften wahrgenommen werden (sog. Verwertungsgesellschaftenpflicht). Die Verwertungsgesellschaften in Deutschland (außer im Bereich des Films) haben insofern eine „faktische Monopolstellung“ inne, als gem. § 2 UrhWG eine Erlaubnis zum Betreiben einer Verwertungsgesellschaft notwendig ist. Diese wird versagt, wenn „die wirtschaftliche Grundlage der Verwertungsgesellschaften eine wirksame Wahrnehmung der ihr anvertrauten Rechte oder Ansprüche nicht erwarten lässt“ (§ 3 Abs. 1 Ziff. 3 UrhWG).6 Obwohl diese Voraussetzungen praktisch nicht erfüllt werden können, akzeptiert der Gesetzgeber das Monopol der Verwertungsgesellschaften. Das „faktische Monopol“ findet in der von der Rechtsprechung entwickelten tatsächlichen Vermutung gem. § 13 c UrhWG Ausdruck. Danach wird vermutet, dass eine Verwertungsgesellschaft bei der Geltendmachung eines der in § 13 c UrhWG aufgeführten Rechte die Rechte aller Berechtigten wahrnimmt. Die Verwertungsgesellschaften unterliegen dem doppelten Kontrahierungszwang: einerseits gegenüber den Berechtigten, denen nach § 6 Abs. 1 UrhWG 4 Wirtz, Die Kontrolle von Verwertungsgesellschaften: eine rechtsvergleichende Studie des deutschen, britischen und europäischen Rechts, Frankfurt a.M. 2002, S. 18; Amtl. Begr. zum WahrnG, UFITA (= Archiv für Urheber- und Medienrecht) 46 (1966), 271, 277; Senger, Wahrnehmung digitaler Urheberrechte, S. 44. 5 Paschke, Medienrecht, 3. Aufl. 2009, Rn. 669, 670; Zapf, Kollektive Wahrnehmung von Urheberrechten im Online-Bereich, Diss. Münster 2002, S. 7; J. Becker, Verwertungsgesellschaften als Träger öffentlicher und privater Aufgaben, in: J. Becker (Hg.), Wanderer zwischen Musik, Politik und Recht, Festschrift für Reinhold Kreile zu seinem 65. Geburtstag, Baden-Baden 1994, S. 27 ff., 28; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, 2. Aufl. Wilhelmshaven 1995, S. 281; Ulmer / Bußmann / Weber, Das Recht der Verwertungsgesellschaften, Weinheim 1955, S. 5; Mauhs, Wahrnehmungsvertrag, S. 10; Augenstein, Rechtliche Grundlagen des Verteilungsplans urheberrechtlicher Verwertungsgesellschaften, 2004. 6 Püschel, Urheberrecht im Überblick, Freiburg i.Br. 1991, S. 145; Dreier / Schulze, Urheberrechtsgesetz, 2. Aufl. München 2006, Vor § 31, Rn. 4; Kreile / Becker, Aufgabe und Arbeitsweisen von Verwertungsgesellschaften, in: Handbuch der Musikwirtschaft, 6. Aufl. Starnberg / München 2003, S. 593 ff., 613.
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gegenüber ein Wahrnehmungszwang besteht, andererseits verpflichtet § 11 UrhWG dazu, jedem auf dessen Verlangen Nutzungsrechte zu angemessenen Bedingungen zu konzedieren. Da die Wahrnehmung der Rechte und Ansprüche zu angemessenen Bedingungen erfolgen soll (§ 12 UrhWG), schließen Verwertungsgesellschaft und Nutzer(vereinigungen) Gesamtverträge bzw. Einzelverträge, die ihrerseits auf Tarifen beruhen, die von den Gesellschaften aufgestellt und im Bundesanzeiger veröffentlicht werden (§ 13 Abs. 1 und 2 UrhWG). Streitigkeiten über die Angemessenheit der Tarife werden vor der Schiedsstelle beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) ausgetragen (§ 14 UrhWG). Die Ausschüttung der von den Verwertungsgesellschaften erzielten Überschüsse an die Wahrnehmungsberechtigten erfolgt aufgrund eines Verteilungsplanes (§ 7 UrhWG), der individuelle Verteilungsgerechtigkeit anstrebt und auf einem pauschalierenden Bewertungssystem fußt. Bestimmte Beträge fließen auch in soziale Einrichtungen (§ 8 UrhWG). Für den Nutzer hat das Monopol den Vorteil, dass er zum Beispiel das musikalische Weltrepertoire aus einer Hand schnell, unbürokratisch und zu kalkulierbaren Kosten erhält. Weiterhin werden auf diese Weise Konkurrenz und Wettbewerb vermieden, die für die Urheber sinkende Einkünfte zur Folge haben könnten. Um jedoch zu verhindern, dass die Verwertungsgesellschaften ihre Monopolstellung missbrauchen, unterliegen sie in Deutschland einer strengen Aufsicht und Kontrolle, welche konkurrierend, parallel durch das DPMA durchgeführt wird (§§ 18 ff. UrhWG). Ergänzt wird diese nationale Aufsicht durch das europäische Wettbewerbsrecht.7 Infolge der weltweiten Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke besteht auf Seiten der Urheber zudem ein Bedürfnis nach weitergehendem, also weltweitem Schutz. Denn urheberrechtlichen Schutz kann ein Staat nur in seinem Hoheitsgebiet gewährleisten.8 Zu diesem Zweck wurden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst einzelne zwischenstaatliche Vereinbarungen getroffen. 1886 kam es zu einem Zusammenschluss von zehn Staaten, darunter auch Deutschland, in der Berner Übereinkunft. Wegen mehrerer Revisionen in der Folgezeit, spricht man seit 1908 von der „Revidierten Berner Übereinkunft“ (RBÜ). Sie sichert den Angehörigen eines Verbandsstaates die Gleichbehandlung mit den Angehörigen eines anderen Verbandsstaates. Die UNESCO initiierte 1952 das Welturheberrechtsabkommen, das in Deutschland seit 1955 gilt. Seit dem Beitritt der USA und anderen Staaten hat die RBÜ an Bedeutung verloren. Durch diese Maßnahmen und durch das Rom-Abkommen, das TRIPS-Übereinkommen und den WIPO Copyright-Treaty (WCT) wird ein umfassender, weltweiter Schutz urheberrechtlich geschützter Werke gewährleistet.
7 Becker, FS Kreile, S. 29; Steden, Das Monopol der GEMA: zur Frage der kollektiven Wahrnehmung von Musikverwertungsrechten im 21. Jahrhundert, Diss. Baden-Baden 2003, S. 56; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 614; Püschel, Urheberrecht, S. 147 f.; Rehbinder, Urheberrecht, 15. Aufl. München 2008, § 64, Rn. 881; Menzel, Die Aufsicht über die GEMA durch das Deutsche Patentamt, Heidelberg 1986, S. 90 ff. 8 Vgl. www.vgwort.de/geschichte_01.php [19. 03. 2010].
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3. Die Satzung der GEMA Die GEMA („Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte“) nimmt als älteste und wirtschaftlich bedeutendste deutsche Verwertungsgesellschaft im Einzelnen die Rechte der Komponisten, Textdichter und Musikverleger an Werken der Musik wahr. Dies sind die Aufführungs- und Senderechte und die mechanischen Vervielfältigungsrechte (von CD, DVD etc.) und damit verbundene weitere Nutzungsrechte. Sie gehören zu den sog. „Kleinen Rechten“ – im Gegensatz zum „Großen Recht“ für musikalische Bühnenwerke, deren Tantiemen zwischen Autor und Verleger bzw. dem Theater direkt abgerechnet werden.9 Gem. § 2 S. 1 der Satzung der GEMA10 ist ihr Zweck der Schutz des Urhebers und die Wahrnehmung seiner Rechte. Demnach ist die Einrichtung der GEMA uneigennützig und nicht auf die Erzielung von Gewinn gerichtet. Die GEMA ist ein Verein, dem gem. § 2 S. 2 GEMA-Satzung die treuhänderische Verwaltung der ihm übertragenen Rechte obliegt, sodass sie alle Maßnahmen ergreifen darf, die zur Wahrung der Rechte der Urheber erforderlich sind. Wer also in Deutschland Musik nutzen möchte, muss die erforderlichen Rechte bei der GEMA erwerben und an sie eine Lizenzvergütung entrichten.11 Die GEMA hat mit mehr als 100 Ländern sog. „Gegenseitigkeitsverträge“ abgeschlossen bzw. in „einseitigen Verträgen“ Urheberrechte übertragen bekommen, sodass sie für den nationalen Bereich das Weltmonopol hat. Aber es ist nicht nur die Monopolstellung, sondern es sind vor allem die immer noch steigenden Mitgliedszahlen, die sie zu einer Institution von Macht und Einfluss machen.12 4. Die Satzung der VG WORT Die „Verwertungsgesellschaft WORT“, ein rechtsfähiger Verein kraft Verleihung gemäß § 1 ihrer Satzung i. V. m. § 22 BGB, nimmt in Deutschland die Rechte der Autoren und Verleger im literarischen Bereich wahr. Sie lässt sich vor allem das Recht der Wiedergabe durch Bild- und Tonträger sowie von Hörfunk- und Fernsehsendungen, Bild- und Tonaufzeichnungen, die Pressespiegelvergütung, die Fotoko9 Siebert, Die Auslegung der Wahrnehmungsverträge unter Berücksichtigung der digitalen Technik, München 2002, S. 7; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 296 f.; Wahren, Wenn bei uns der Groschen fällt. . . , in: Neue Musikzeitung (NMZ) 6 / 1999, S. 52 ff., 55; Melichar, Die Wahrnehmung von Urheberrechten durch Verwertungsgesellschaften, München 1983, S. 67. 10 Fassung vom 24. / 25. Juni 2009, siehe www.gema.de/der-verein-gema/satzung/ [19. 03. 2010]. 11 Spieckermann, Urheberrecht und GEMA, Potsdam 2001, S. 11 f. 12 Spieckermann, Urheberrecht und GEMA, S. 13 ff.; Huber, GEMA Handbuch für Musiker, Berlin 2003, S. 16; Kreile / Becker, Rechtedurchsetzung und Rechteverwaltung durch Verwertungsgesellschaften in der Informationsgesellschaft, in: GEMA Jahrbuch 2000 / 2001, Berlin 2000, S. 84 ff., 87; R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 191 / 193.
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pievergütung, die Vergütung für die Übernahme von Originaltexten in Schulbüchern, die Ausleihtantieme, das Recht an vertonten Sprachwerken, das Vortragsrecht, das kleine Senderecht (im Unterschied zum sog. großen Senderecht, das die bühnenmäßige Sendung dramatisch musikalischer Werke erfasst) und das Recht zur integralen Kabeleinspeisung einräumen. Auch gehören Vergütungsrechte aus dem Bereich der Bibliothekstantieme und der Ablichtung von Werken zu den der VG WORT durch die Urheber eingeräumten Rechte. Ihr Zweck ist gem. § 1 Abs. 3 der Satzung die treuhänderische Wahrnehmung der urheberrechtlichen Befugnisse ihrer Mitglieder, ohne dass sie auf Erzielung von Gewinn gerichtet ist (§ 1 Abs. 4). Wahrnehmungsberechtigt sind Wortautoren, Journalisten, Übersetzer und Verleger, wobei letztere nicht als Verwerter, sondern als Inhaber abgeleiteter Nutzungsrechte beteiligt sind.13 Die Zuordnung erfolgt nach den entsprechenden Werkkategorien14, in denen die Berechtigten tätig sind und durch das Kuriensystem in sechs Berufsgruppen (§ 2 Abs. 2 VG WORT-Satzung).15 5. VG BILD-KUNST Die Verwertungsgesellschaft VG BILD-KUNST wurde in der Gründungsversammlung der „BILD-KUNST-Gesellschaft zur Wahrnehmung und Verwertung der Rechte und Ansprüche bildender Künstler“ in Frankfurt am Main als rechtsfähiger Verein kraft Verleihung am 10. Mai 1968 gegründet. Am 1. Oktober 1968 wurde ihr die Rechtsfähigkeit durch den Regierungspräsidenten in Darmstadt verliehen. Am 29. August 1969 folgte die Erteilung der Erlaubnis nach dem UrhWG (Urheberrechtswahrnehmungsgesetz) durch den Präsidenten des DPMA; schon am 14. November trafen sich die Mitglieder zur ersten Versammlung. Am 31. Dezember 1969 belief sich die Mitgliederzahl auf 26.16 Am 1. Januar 1973 schloss die VG BILD-KUNST einen Gegenseitigkeitsvertrag mit der französischen Verwertungsgesellschaft SPADEM. 1974 wurde nach vorbereitenden Gesprächen der beteiligten Organisationen die Satzung geändert und die „Verwertungsgesellschaft BILD-KUNST“ als Rechtsnachfolgerin der „BILD-KUNST-Gesellschaft zur Wahrnehmung und Verwertung der Rechte und Ansprüche bildender Künstler“ und der „Interessentengruppe VG BILD“, bestehend aus Bundesverband Deutscher Pressebildagenturen und dem Deutschen Journalistenverband, gegründet. Es wurden zwei Berufsgruppen eingerichtet. Die Berufsgruppe I umfasste bildende Künstler, Berufsgruppe II Fotografen, Bildjournalisten, Bildagenturen und Grafikdesigner.17 13 Mauhs, Wahrnehmungsvertrag, S. 14; Siebert, Die Auslegung der Wahrnehmungsverträge, S. 9 f.; Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 81. 14 Unterschieden wird in § 2 WV der VG Wort nach schöngeistiger, dramatischer, wissenschaftlicher und Fachliteratur. 15 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 81. 16 VG BILD-KUNST Chronik 1968 – 2004, 2. Aufl., hg. v. Vorstand 2005. 17 Vgl. Chronik.
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II. Die Geschichte der GEMA 1. Französische Vorbilder: SACD und SACEM Vielfach wird die 1777 in Frankreich gegründete Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques (SACD) als erste Verwertungsgesellschaft der Welt angesehen. Diese kämpfte primär um angemessene Vertragsbedingungen ihrer Mitglieder gegenüber Theaterunternehmen und übte daher noch keine typische Verwertungsgesellschaften-Tätigkeit aus.18 Die Entstehungsgeschichte der ersten musikalischen Verwertungsgesellschaft im nichtdramatischen Bereich wird anhand der Kaffeehausanekdote aus dem März 1847 sehr anschaulich dargestellt: Der französische Komponist Ernest Bourget verweigerte in einem Pariser Konzert-Café die Bezahlung der Rechnung für die von ihm konsumierten Getränke. Dies begründete er damit, dass er für das Spielen seiner Stücke in dem Café auch keine Vergütung erhalten habe. Im folgenden Rechtsstreit wurde der Kaffeehausbesitzer zur Zahlung von Schadensersatz an Bourget verurteilt. Seither bedurfte es zur Aufführung eines Stückes der Erlaubnis des Komponisten. Durch dieses Urteil im Jahre 1847 wurde das Aufführungsrecht des Komponisten zum ersten Mal als ausschließliches Recht des Komponisten anerkannt. Bourget und zwei Kollegen gründeten daraufhin zusammen mit einem Verleger im März 1850 eine Agence Centrale zur Verwaltung ihrer musikalischen Aufführungsrechte. Denn fortan war es ihnen unmöglich geworden zu überprüfen, wo unerlaubt ihre Musik gespielt wurde und sie keine Bezahlung dafür erhielten.19 So wurde im Februar 1851 in Paris die Société des Auteurs, Compositeurs et Editeurs de Musique (SACEM) gegründet, die Textdichter, Komponisten und Verleger von nichtdramatischer Musik unter einem Dach vereinte. Sie war damit die erste musikalische Verwertungsgesellschaft der Welt im heutigen Sinne. Zu den Zielen der Gesellschaft gehörten die Interessenwahrung für Textdichter, Komponisten und Musikverleger wie ihrer Rechtsnachfolger gegenüber denjenigen, die ihre Werke öffentlich aufführten; dazu durfte sie Gebühren in Frankreich, seinen Kolonien und im Ausland erheben. Es wurden auch zahlreiche deutsche Komponisten aufgenommen, die jedoch von der Leitung der Gesellschaft ausgeschlossen waren und nicht an der Verteilung der Einnahmen beteiligt wurden, weil es in Deutschland in jener Zeit keine entsprechende Tantiemenanstalt gab. Gravierende Mängel des französischen Systems führten jedoch dazu, dass in Deutschland auch 18 Loewenheim-Melichar, Handbuch des Urheberrechts, München 2003, § 45, Rn. 9; R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 182. 19 Schmid / Wirth / Seifert-Seifert, UrhG und UrhWG, Handkommentar, 2. Aufl. 2009, Einleitung UrhWG, Rn. 2; Riesenhuber, Die Auslegung und Kontrolle des Wahrnehmungsvertrages, Berlin 2004, S. 3; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 282 f.; Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 1; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 621 f.; E. Schulze, Urheberrecht in der Musik, 5. Aufl. Berlin / New York 1981, S. 41 f.; Loewenheim-Melichar, Handbuch, § 45, Rn. 9.
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eine Gesellschaft zum Schutz der Urheber von Musikwerken gegründet werden sollte, wobei man das Modell der SACEM nicht einfach übernehmen wollte. Die rein wirtschaftliche Arbeitsweise dieser Société passe zur dortigen Vorherrschaft der Unterhaltungsmusik, aber entspreche nicht der Priorität ernster Musik im deutschen Konzertleben.20 Vor diesem historischen Hintergrund sind Verwertungsgesellschaften ihrer Idee nach Autorenkollektive, die zwischen Urhebern und Verwertern vermitteln und die Gewähr für eine wirksame Kontrolle und Wahrnehmung der ihnen anvertrauten Rechte bieten.21 2. Vielfältige Pfade auf dem Weg zur heutigen GEMA Seit der Renaissance hatte es in Deutschland vielfältige, aber vereinzelte Versuche gegeben, Werke von Komponisten abzusichern und deren Einnahmesituation zu verbessern. In Deutschland kam die Entwicklung der Verwertungsgesellschaften allerdings erst im Anschluss an die im Jahre 1901 erfolgte Neuregelung des Urheberrechts in Fahrt, obwohl es zuvor zwei Versuche, eine Verwertungsgesellschaft zu errichten, gegeben hatte.22 Das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst gewährte dem Urheber gem. § 11 LUG einen umfassenden Schutz der öffentlichen Aufführung, womit der Weg für die Gründung der ersten deutschen Verwertungsgesellschaft geebnet war. Das Bestehen eines Aufführungsrechts war nun nicht mehr von einem Vorbehalt auf die Noten abhängig, denn dem Urheber wurde die ausschließliche Befugnis zur Aufführung seines Werkes eingeräumt.23 Diese Regelung machte die individuelle Rechtewahrneh20 Dümling, Musik hat ihren Wert, in: Kreile (Hg.), 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaften in Deutschland, Regensburg 2003, S. 24 – 26; Wahren, NMZ, S. 54. 21 Schricker / Reinbothe, Urheberrecht, Kommentar, 3. neubearb. Aufl., München 2006, Vor §§ 1 ff. WahrnG, Rn. 1. 22 R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 183; Ulmer / Bußmann / Weber, Verwertungsgesellschaften, S. 5; Plugge / Roeber, Das musikalische Tantiemenrecht in Deutschland, Berlin 1930, S. 10; Sandberger / Treeck, Fachaufsicht und Kartellaufsicht nach dem Gesetz über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten, in: UFITA 47 (1966), S. 165 ff., 166; Vogel, Wahrnehmungsrecht und Verwertungsgesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland, in: GRUR 1993, S. 513 ff.; Fuchs, Mechanisch-musikalische Urheberrechte und die Zwangslizenz, Diss. Berlin 1933, S. 74. Ausführlich: M. Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland. Eine Studie über den langen Weg bis zur Errichtung der Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (GDT) im Jahre 1903 und zum Wirken des Komponisten Richard Strauss (1864 – 1949) für Verbesserungen des Urheberrechts, Berlin 2006. 23 Schricker / Reinbothe, Vor §§ 1 ff. WahrnG, Rn. 2; Staats, Aufführungsrecht und kollektive Wahrnehmung bei Werken der Musik, Diss. Baden-Baden, 2004, S. 11; Arnold / Rehbinder, Zur Rechtsnatur der Staatsaufsicht über die deutschen Verwertungsgesellschaften, UFITA 118 (1992), S. 203 ff.; E. Schulze, Die GEMA – Gestern und heute, in: Musik und Dichtung – 50 Jahre Deutsche Urheberrechtsgesellschaft, München 1953, S. 17 ff., 18; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 79, 283.
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mung aus tatsächlichen Gründen unmöglich, weil der einzelne Urheber nicht mehr in der Lage war, die Nutzungen seiner Werke zu kontrollieren.24 a) GDT / AFMA Am 14. Januar 1903 wurde in Berlin die Genossenschaft Deutscher Komponisten in die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (GDT) umgewandelt. Der GDT schlossen sich bald fast alle deutschen Komponisten der ernsten Richtung und eine Reihe bedeutender Musikverlage an. Die Vereinigung gab sich an diesem Tag eine neue Geschäftsordnung, worin sie ihre Ziele erweiterte und genauer bestimmte. Gem. § 3 der neuen Satzung sollten die Förderung von Standes- und Berufsinteressen der Mitglieder, die Einrichtung einer Anstalt musikalischer Urheberrechte und die soziale Absicherung der Mitglieder und Hinterbliebenen Zweck der Genossenschaft sein.25 Somit machte es sich die GDT erstmals ausdrücklich zur Aufgabe, eine Verwertungsgesellschaft zu gründen. Der Genossenschaft konnten nur Komponisten angehören, die erst nach einem langen Aufnahmeprozess ordentliche Mitglieder wurden, was die Professionalität sowie das langfristige Engagement der Mitgliedschaft sichern sollte. Unter wesentlicher Mitwirkung der GDT wurde am 1. Juli 1903 die „Anstalt für musikalische Aufführungsrechte“ (AFMA) gegründet, die nunmehr als von der GDT betriebene Anstalt die Rechte der Urheber und Verleger wahrnehmen sollte. Prinzipien und Philosophie der AFMA als erste deutsche Verwertungsgesellschaft haben bis heute für die GEMA ihre Gültigkeit behalten.26 Es wird in einer von der AFMA 1904 herausgegebenen Denkschrift27 erklärt, dass sie keine privatwirtschaftlichen Zwecke verfolge, sondern die Einnahmen, abzüglich Verwaltungskosten und einem Betrag für die Unterstützungskasse der Genossenschaft, den Urhebern auszahle. Der Zweck der AFMA lag gem. § 2 der Grundordnung in der Verwaltung musikalischer Aufführungsrechte, der Verfolgung von Aufführungen urheberrechtlich geschützter Werke und der Vermittlung von Aufführungsgenehmigungen. Die Urheber mussten sich in einem auf die Dauer von fünf Jahren geschlossenen Berechtigungsvertrag verpflichten, der Anstalt ihre gegenwärtigen und zukünftigen Aufführungsrechte zu übertragen. Die AFMA übernahm damit dauerhaft die Rechte der Autoren, in deren Auftrag sie fortan handelte.28 24 Riesenhuber / Rosenkranz, Das deutsche Wahrnehmungsrecht 1903 – 1933, Ein Streifzug durch Rechtsprechung und Literatur, in: UFITA 2005, S. 467 ff., 470. 25 Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 64; Ulmer / Bußmann / Weber, Verwertungsgesellschaften, S. 5; Mauhs, Wahrnehmungsvertrag, S. 13; Kreile / Becker / Riesenhuber, Recht und Praxis der GEMA, Handbuch und Kommentar, Berlin 2005, S. 12, Rn. 19; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 284; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 10. 26 Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 65; Staats, Aufführungsrecht, S. 11; Wahren, NMZ, S. 54; Huber, GEMA Handbuch Musiker, S. 11. 27 Zitiert nach Dümling: GDT Denkschrift, Berlin 1904, S. 46.
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Es gab 1903 allerdings noch keine spezialgesetzlichen Regelungen für die Arbeit von Verwertungsgesellschaften. Beim Erlass des LUG 1901 war dem Gesetzgeber zwar klar, dass aufgrund des künftighin unbedingt gewährten Aufführungsrechts, Verwertungsgesellschaften entstehen würden, aber er sah bewusst von Regelungen bezüglich ihrer Gründung und Tätigkeit ab.29 In der Gesetzesbegründung30 heißt es, dass für eine befriedigende Gestaltung der Verhältnisse zwischen allen Gruppen eine Verwertungsgesellschaft gegründet werden solle. Sie solle die Einnahmen vor Aufführungen einnehmen und später an die Mitglieder auszahlen. Dafür, dass die Interessen der Konzertunternehmer und der ausübenden Musiker Beachtung fänden, bürge schon der Umstand, dass die beteiligten Verleger allem entgegenwirkten, was zur Verminderung der öffentlichen Aufführung beitragen könnte. Es sollte folglich den beteiligten Kreisen überlassen sein, eine Verwertungsgesellschaft zu gründen und sie sich als private und damit staatsferne Organisationen der Berechtigten entwickeln zu lassen. Auch eine Staatsaufsicht gab es nicht.31 Die GDT / AFMA wies dennoch in einem Rechtsstreit darauf hin, dass „ihre Grundordnung und die Berechtigungsverträge unter ständiger Mitwirkung der höchsten Staatsbehörden zustande gekommen“ seien.32 An ihrer privatrechtlichen Ausgestaltung und Beurteilung änderte dies aber nichts. Wegen fehlender spezialgesetzlicher Regelungen unterlagen die Verwertungsgesellschaften zu dieser Zeit den allgemeinen Gesetzen, aus denen sich zahlreiche Bindungen für sie ergaben. Sie sind Teil des Hintergrundes, vor dem die spätere Wahrnehmungsgesetzgebung erst richtig zu verstehen ist.33 b) Schwere Zeiten der AFMA und die Gründung der alten GEMA Im Jahre 1911 hatten sich die Differenzen zwischen den Komponisten und den Musikverlegern im Bezug auf die Beteiligung an den sog. „Kleinen Rechten“, d. h. an den Konzertaufführungsrechten und den mechanischen Rechten, so sehr zugespitzt, dass eine Spaltung unvermeidlich wurde. Schon von Anfang an verweigerten die bedeutenden Leipziger Musikverleger ihre Mitarbeit in der AFMA, weil ihnen die Beteiligung an den Werken der Komponisten unzureichend erschien. Auch die bedeutenden deutschen Komponisten und Textdichter jener Zeit konnten nicht als Mitglieder gewonnen werden. Manche Verleger waren zunächst mit ihrem Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 66 – 68. Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 467. 30 M. Schulze, Materialien zum Urheberrechtsgesetz, Weinheim 1997, S. 106, 137 f. 31 Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 469; Riesenhuber, Die Auslegung und Kontrolle des Wahrnehmungsvertrages, S. 159 f. 32 RGZ 87, 215, 217. Es ist jedoch nicht erkennbar, ob damit eine weitergehende als die vereinsrechtliche Kontrolle nach § 22 BGB i. V. m. Landesrecht gemeint war (Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 469). 33 RGZ 87, 215, 218; Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 469. 28 29
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Anteil einverstanden, erklärten aber der AFMA im Jahre 1910, dass es ihnen nicht möglich sei, die niedrige Beteiligung anzuerkennen, die die Komponisten den Musikverlegern für die neu einzurichtende Abteilung der AFMA zur Wahrnehmung der mechanischen Rechte anboten. Diese zahlreichen Unstimmigkeiten führten schließlich dazu, dass sich die Leipziger Musikverleger, populäre Komponisten und Textdichter und die bisherigen AFMA-Mitglieder-Musikverleger unter der Mitwirkung der Anstalt für mechanisch-musikalische Rechte GmbH (AMMRE) 1915 zur Gründung eines Konkurrenzunternehmens gegen die AFMA unter dem Namen „Genossenschaft für musikalische Aufführungsrechte GEMA“ zusammenschlossen. Sie besaß somit ein sehr umfangreiches und vor allem stark gespieltes Repertoire, wobei sie trotz der Namensidentität nicht mit der heutigen GEMA identisch ist. In den folgenden Jahren bestand eine dauernde, unerfreuliche Gegnerschaft zwischen diesen beiden Gesellschaften, die auch die sonst freundschaftliche Beziehung zwischen vielen Komponisten und ihren deutschen Musikverlegern negativ beeinflusste.34 c) Weitere musikalische Verwertungsgesellschaften zu dieser Zeit Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden noch weitere musikalische Verwertungsgesellschaften in Deutschland gegründet, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. 1909 wurde die „Anstalt für mechanisch-musikalische Rechte GmbH“ (AMMRE) vom Verein Deutscher Musikalienhändler und der Société Générale Internationale de l’Edition Phonographique et Cinématographique, kurz: EDIFO, gegründet. Ihre Aufgabe lag in der Verwertung sog. mechanischer Vervielfältigungsrechte für Schallplatten in einer gesonderten Gesellschaft. Das war seit 1908 durch die RBÜ möglich, denn zum ersten Male wurde der mechanisch-musikalische Urheberrechtsschutz ausgesprochen, sodass die Notwendigkeit der Errichtung einer Gesellschaft für die Verwertung dieser Rechte bestand.35 Die DGT sah die Tätigkeit der AMMRE allerdings als Eingriff in ihre Rechte. Sie vertrat die Auffassung, die Aufführungsbefugnis eines Tonwerkes mittels mechanischer Musikinstrumente sei Bestandteil des allgemeinen Aufführungsrechts. Die AMMRE sah das anders und ließ es auf eine jahrelange Konkurrenzsituation ankommen. Sie kontrollierte die Rechte in Deutschland, während die mechanische Rechtsabteilung der AFMA nur sehr geringe Umsätze erzielen konnte. Später 34 Bock, Musik und Dichtung, S. 32; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596; Plugge / Roeber, Das musikalische Tantiemenrecht in Deutschland, S. 25; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 204. 35 Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 474; Kreile / Becker / Riesenhuber, S. 13, Rn. 23; Fuchs, Mechanisch-musikalische Urheberrechte und Zwangslizenz, S. 75 – 76; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596.
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arbeitete sie eng mit der alten GEMA zusammen, der im Wesentlichen die gleichen Mitglieder angehörten.36 Weiterhin trat 1913 in Deutschland eine eigenständige Niederlassung der AKM (Österreichische Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger) auf, die 1897 in Wien gegründet wurde. Zunächst hatte die AKM mit der GDT / AFMA ein Gegenseitigkeits-Abkommen geschlossen, kündigte dies aber 1911 und übte ab 1913 ihre selbstständige Wahrnehmungstätigkeit in Deutschland aus.37 Der 1928 gegründete Verein zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte (VEVA) ist als Tochtergründung der GEMA zu verstehen. Ihm konnten diejenigen Berechtigten beitreten, die wirtschaftlich nicht so leistungsfähig waren und daher in der GEMA keinen vollen Mitgliedsstatus erlangt hätten. Er überließ der GEMA wiederum die ihm übertragenen Wahrnehmungsrechte.38 d) Konkurrenz unter den Verwertungsgesellschaften und deren Zusammenschlüsse Die Konkurrenz führte zur Zersplitterung der Aufführungsrechte und somit zur Gebührenzahlung an verschiedene Gesellschaften, zur wachsenden Rechtsunsicherheit, aber auch zu einer willkürlichen Anhebung der Gebühren, Musiksperre und höheren Verwaltungskosten durch getrennte Verwaltungsapparate39; Zusammenschlüsse boten hierfür eine Lösung. 1916 vereinigte sich die alte GEMA mit der deutschen Niederlassung der AKM zum „Verband zum Schutze musikalischer Aufführungsrechte für Deutschland“ (Musikschutzverband). Hierbei handelte es sich jedoch nicht um einen echten Zusammenschluss, sondern um eine Vereinbarung, die die Organisation der einzelnen Gesellschaften im Innenverhältnis beibehielt.40 Durch diese praktische Maßnahme sind die Zustände zwar verbessert, aber nicht beseitigt worden. Weder konnte die Neubildung von weiteren Verwertungsgesellschaften verhindert werden, noch brachte das kostspielige Nebeneinander der Verwaltungsapparate finanzielle Vor36 G. Müller, Die GEMA und die Urheberrechtsreform, Diss. Berlin 1956, S. 25; Fuchs, Mechanisch-musikalische Urheberrechte und Zwangslizenz, S. 75 f.; Bock, Musik und Dichtung, S. 32; Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 474. 37 Kreile / Becker / Riesenhuber, S. 12, Rn. 21; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 204; Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 472 f. 38 Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 475; Kreile / Becker / Riesenhuber, S. 13, Rn. 25. 39 Plugge / Roeber, Das musikalische Tantiemenrecht in Deutschland, S. 27 f.; Nipperdey, Marktbeherrschende Unternehmen beim musikalischen Urheberrecht, in: NJW 1953, S. 881 ff., 883; Wirtz, Die Kontrolle von Verwertungsgesellschaften, S. 28; Kreile / Becker / Riesenhuber, S. 14, Rn. 26. 40 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596; Mauhs, Wahrnehmungsvertrag, S. 13; Vogel, GRUR 1993, S. 513.
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teile für die Urheber. Der Musikschutzverband konnte seine neu gewonnene Monopolstellung sogar dazu missbrauchen, die Vergütungs- und Tantiemensätze einseitig zu bestimmen und Verbote für Aufführungen urheberrechtlich geschützter Werke zu erlassen.41 Die Konkurrenz zwischen der GDT und dem Musikschutzverband war wenig sinnvoll, sodass sie sich 1930 unter Beibehaltung des Namens „Verband zum Schutze musikalischer Aufführungsrechte für Deutschland“ zusammenschlossen. Dies war jedoch keine echte Fusion, denn im Innenverhältnis blieben die Einrichtungen beider Aufführungsgesellschaften unberührt. Bis 1933 konnte diese einheitliche deutsche Verwertungsgesellschaft ohne nationalsozialistischen Einfluss arbeiten und ein gutes Einvernehmen mit dem Reichskartell der Musikveranstalter Deutschlands herstellen.42 Ein weiterer Schritt zu einer einheitlichen Verwertung von musikalischen Urheberrechten wurde durch ein Abkommen der alten GEMA, der AKM und der AFMA vor 1933 gemacht. Die alte GEMA hatte sich mit der AKM zum gemeinsamen Inkasso in Deutschland verbunden, woran sich auch die AFMA beteiligte. Dadurch kam ein gemeinsames Inkasso dieser drei Gesellschaften zustande.43 e) Die Weiterentwicklung der Konkurrenzsituation bis 1933 Das Reichskartell der Musikveranstalter Deutschlands e.V. forderte schon im Jahre 1930 eine einheitliche Organisation der Verwertungsgesellschaften.44 Das Verhältnis zwischen GDT / AFMA und GEMA / AMMRE war über die Jahre ihrer Parallel-Existenz dauernden Schwankungen unterworfen. Schon früh gab es erste Verhandlungen über eine Vereinigung, doch immer wieder stockten die Gespräche, rissen die Kontakte ab, bevor alsbald neue Konflikte ausbrachen. Gleichwohl existierten GEMA und GDT trotz aller Schwierigkeiten und Krisen als konkurrierende Unternehmen bis 1933 weiter, obschon sich die politischen Veränderungen auch auf das Urheberrecht und somit auf die Verwertungsgesellschaften auswirkten.
41 G. Müller, Die GEMA und die Urheberrechtsreform, Diss. Berlin 1956, S. 27; Klauer, Die Vermittlung von Musikaufführungsrechten nach dem Gesetz vom 4. Juli 1933, in: UFITA 6 (1933), S. 291 ff., 292. 42 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596; E. Schulze, Die GEMA – Gestern und heute, S. 17. 43 Bock, Musik und Dichtung, S. 32. 44 Nipperdey, NJW 1953, S. 883.
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3. Die Verwertungsgesellschaften zwischen 1933 und 1945 a) Erste Reaktionen auf die Machtübernahme Die Machtübernahme 1933 löste auch bei den Verwertungsgesellschaften heftige Reaktionen und Veränderungen aus. Anstatt Widerstand zu leisten, nutzten sie die Situation, um unterdrückter Frustration Luft zu verschaffen. Die alte GEMA entmachtete nach einer außerordentlichen Generalversammlung im März 1933 unliebsame Kollegen, plädierte für die Gründung einer einzigen reichsdeutschen Aufführungsgesellschaft und erklärte ihre Loyalität gegenüber Hitler-Deutschland. Anträge bezüglich der Abberufung nicht-deutschstämmiger Mitglieder der Verwaltung und die Besetzung der Posten mit deutschstämmigen Mitgliedern wurden angenommen. Die dadurch verursachten gesunkenen Mitgliederzahlen wurden aber durch den Beitritt national gesinnter Köpfe ausgeglichen. Auch die GDT nahm kurze Zeit später eine Gleichschaltung dadurch vor, dass die Sozialdemokraten aus dem Vorstand abberufen und drei NSDAP-Mitglieder in das Organ eingesetzt wurden.45 b) Das Gesetz vom 4. Juli 1933 und seine Folgen Das Gesetz über die Vermittlung von Aufführungsrechten vom 4. Juli 1933 (Reichsgesetzblatt I, S. 452) führte eine Genehmigungspflicht für Verwertungsgesellschaften im musikalischen Bereich ein.46 Ziel war es, eine Monopol-Verwertungsgesellschaft für die Verwertung von Musikaufführungsrechten zu schaffen, um die lange Spaltung der Verwertungsgesellschaften zu überwinden. Um diese Monopolstellung einzunehmen, vereinigten sich GEMA und GDT im September 1933 zur STAGMA (Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte). Das aus fünf Paragraphen bestehende STAGMA-Gesetz beinhaltete die erste, wenn auch rudimentäre spezialgesetzliche Grundlage für die Existenz und die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften.47 Die Verordnung zur Durchführung des „STAGMA-Gesetzes“ vom 15. Februar 1934 hatte zur Folge, dass der STAGMA am 28. September 1934 die Rechtsfähigkeit und das Monopol zur Wahrnehmung von Aufführungsrechten verliehen wurden. Die österreichische AKM durfte fortan ihre Rechte in Deutschland nur noch über die STAGMA wahrR. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 186 – 188. Vogt, Die urheberrechtlichen Reformdiskussionen in Deutschland während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. u. a. 2004, S. 157 f. 47 Schricker / Reinbothe, Vor § 1 ff. WahrnG, Rn. 3; Ulmer / Bußmann / Weber, Verwertungsgesellschaften, S. 5; G. Müller, Die GEMA und die Urheberrechtsreform, Diss. Berlin 1956, S. 27 – 28; Wirtz, Die Kontrolle von Verwertungsgesellschaften, S. 28; Staats, Aufführungsrecht, S. 41; Vogel, GRUR 1993, S. 514; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 284; Riesenhuber, Die Auslegung und Kontrolle des Wahrnehmungsvertrages, S. 4 f., 11. 45 46
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nehmen. 1938 wurde der STAGMA noch die AMMRE angegliedert, weil die STAGMA nun auch die mechanischen Rechte wahrnahm.48 4. Die GEMA nach dem Zweiten Weltkrieg a) Die STAGMA wird zur GEMA Nach dem Krieg wurde die STAGMA 1947 durch alliierten Kontrollratsbeschluss zur Weiterführung ihrer Tätigkeit ermächtigt. Die Gesellschaft stand seitdem unter alliierter Treuhandschaft, die von der Schaffung einer neuen Satzung im Sinne demokratischer Grund- und Ordnungsprinzipien des Vereinsrechts abhängig war.49 Ihr Name wurde in GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungsund mechanische Vervielfältigungsrechte) umbenannt, ohne dass etwas an der rechtlichen Struktur verändert wurde. 1950 trat eine geänderte Satzung in Kraft, die in Grundzügen der heute von der GEMA angewendeten Satzung entspricht.50 Die STAGMA-Gesetzgebung galt zunächst weiter, da sie vom BGH ausdrücklich als politisch neutral bezeichnet wurde.51 Eine zur Zeit einer Diktatur gesetzte Rechtsnorm könne nicht schon deshalb ungültig sein, weil die Art des Zustandekommens den Grundsätzen einer Diktatur entspreche. Das Gesetz regelt im Wesentlichen die Schaffung einer einheitlichen Verwertungsgesellschaft, was nicht typisch nationalsozialistisch ist. Seine Geltung verlor es erst durch das neue Urheberrechtswahrnehmungsgesetz von 1965 (§ 26 UrhWG).52 b) Die Vereinbarung mit dem Bundesministerium der Justiz von 1952 1952 schloss die GEMA mit dem Bundesjustizministerium eine Vereinbarung, wonach sie sich freiwillig einer Art staatlicher Aufsicht unterstellte. Es wurde einem Vertreter des Ministeriums Zugang zu den Aufsichtsratssitzungen gewährt und sämtliche Unterlagen zugänglich gemacht. Unabhängig davon hat das Bundeskartellamt 1960 durch Verfügung die GEMA als marktbeherrschendes Unterneh48 Schricker / Reinbothe, Vor §§ 1 ff. WahrnG, Rn. 3; Staats, Aufführungsrecht, S. 42; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 204; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 11; Bock, Musik und Dichtung, S. 32; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 596; Riesenhuber / Rosenkranz, UFITA 2005, S. 474. 49 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 621, 624; Staats, Aufführungsrecht, S. 42; E. Schulze, Urheberrecht in der Musik, S. 90. 50 E. Schulze, Die GEMA – Gestern und heute, S. 19; ders., Urheberrecht in der Musik, S. 93; G. Müller, Die GEMA und die Urheberrechtsreform, Diss. Berlin 1956, S. 30; R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 190. 51 BGHZ, 15, 338, 350 ff. 52 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 597.
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men i. S. v. § 19 GWB qualifiziert, da sie in ihrer Tätigkeit keinem Wettbewerb ausgesetzt war, und damit ebenfalls seiner Aufsicht unterstellt.53 c) Die Urheberrechtsnovellen seit 1965 Das LUG von 1901 wurde im Laufe der Zeit nicht mehr der rasch fortschreitenden technischen Entwicklung gerecht und entsprach nicht der Weiterentwicklung des Rechtsbewusstseins, das einen intensiveren Urheberrechtsschutz verlangte und möglich machte. 1965 wurde das Gesetz über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten im Zuge der Urheberrechtsreform vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Es bildet bis heute die Grundlage für die Arbeit der GEMA.54 Gem. § 7 UrhWG war die GEMA zur besonderen Förderung kulturell bedeutender Werke und Leistungen verpflichtet, und die Schutzfrist ist von 50 auf 70 Jahre verlängert worden. Mit der Reform wurde weltweit erstmals eine pauschalierte Vergütungspflicht für Spulenbandgeräte und Xerographie-Kopierer, die sog. Geräteabgabe (§ 53 Abs. 5 UrhG) eingeführt, wodurch Deutschland eine Vorreiterrolle in diesem Bereich übernahm.55 Im UrhWG hat der deutsche Gesetzgeber die Aufsicht über die Verwertungsgesellschaften institutionalisiert und mit dieser im internationalen Vergleich wohl umfassendsten staatlichen Kontrolle das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) betraut (§ 18 ff. UrhWG). Die Zielrichtung des Gesetzes war es, staatliche Kontrolle über die Verwertungsgesellschaften zu gewährleisten, um den Missbrauch der „faktischen Monopolstellung“ zu verhindern. Die neuen Regelungen des UrhWG (z. B. die Abschaffung des Monopols) stießen jedoch nicht auf Zustimmung bei den Verwertungsgesellschaften, nachdem von 1945 bis 1965 praktisch liberale Jahre vorausgegangen waren.56 Mit dieser Reform wurde der erste Fall der Verwertungsgesellschaftenpflicht geschaffen. Dies statu53 Riesenhuber, Die Auslegung und Kontrolle des Wahrnehmungsvertrages, S. 12; Möhring, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes über Verwertungsgesellschaften auf dem Gebiet des Urheberrechts, in: UFITA 36 (1962), S. 407 ff., 409; Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 615; Hübner / Stern, Zur Zulässigkeit der Aufsicht des Deutschen Patentamtes über die Verwertungsgesellschaften nach dem Gesetz über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten vom 9. 9. 1965, in: GEMA-Nachrichten, Heft 108 (1978), S. 86. 54 Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 80; M. Schulze, Materialien, 1091 ff.; Schmid / Wirth / Seifert-Schmid / Wirth, Einleitung UrhG, Rn. 87; Maracke, Die Entstehung des Urheberrechtsgesetzes von 1965, Diss. Berlin 2003, S. 529 ff. 55 Dietz, Das Urheberrecht in Spanien und Portugal, Baden-Baden 1990, S. 136; Movsessian / Seifert, Einführung in das Urheberrecht der Musik, S. 81. 56 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 614; Schricker / Reinbothe, Vor §§ 1 ff. WahrnG, Rn. 9; Vogel, GRUR 1993, S. 529; Herschel, Die Verwertungsgesellschaften als Träger staatsentlastender Tätigkeit, in: UFITA 50 (1967), S. 22 ff.; Hubmann, Das Verwertungsgesellschaftengesetz und die Berner Übereinkunft, in: UFITA 48 (1966), S. 22 ff.; Sandberger / Treeck, UFITA 1966, S. 184.
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ierte den Anfang einer Entwicklung der Verwertungsgesellschaften hin zu einer vom Gesetzgeber noch stärker anerkannten Institution, ging der Gesetzgeber doch ursprünglich davon aus, jeder Urheber könne seine Rechte selbst wahrnehmen. Die Reform war geprägt vom Bewusstsein des Gesetzgebers, dass die Verwertungsgesellschaften eine marktbeherrschende Stellung innehaben, die einer gesetzlichen Regelung zur Verhinderung von Missbrauch bedarf. Ebenfalls wurde ihre nützliche Tätigkeit anerkannt und ihnen somit eine Schlüsselstellung im System des Urheberrechts zuerkannt.57 Durch die Novellierung des Urheberrechts 1985 wurden die Schwachpunkte des Urheberrechts von 1965 beseitigt, indem man die insgesamt bewährten Regelungen ergänzte und verbesserte. Es wurde eine Vergütungspflicht für Leerkassetten eingeführt, weil mit der fortschreitenden technischen Entwicklung die Preise der Geräte (Kassettenrekorder, Videorekorder etc.) drastisch sanken und gleichzeitig der Absatz der Leermedien stark zunahm. Außerdem wurde 1985 die Verwertungsgesellschaftenpflicht neuerlich erweitert, nachdem sie 1972 schon ergänzt worden war. Seither unterfallen ihr auch die Pressespiegelvergütung und die neu geregelten Vergütungsansprüche aus der Vervielfältigung zum privaten und sonstigen Eigengebrauch. Die Entwicklung der Verwertungsgesellschaftenpflicht über die Novellen von 1965, 1972 und 1985 zeigt die zunehmende Bedeutung der Verwertungsgesellschaften bei der Durchsetzung gesetzlicher Vergütungsansprüche. Der Gesetzgeber statuiert keine allgemeine Verwertungsgesellschaftenpflicht, obwohl die Verwertungsgesellschaften für die Berechtigten in fast allen Bereichen tätig werden.58 Die Urheberrechtsreform von 2003 (Korb 1), die die Richtlinie zur Harmonisierung des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte in der Informationsgesellschaft von 2001 umsetzte, hat das Recht zur digitalen Kopie neu geregelt und es gegen Zahlung einer Vergütung ermöglicht, gewisse Werke oder Werkteile in abgegrenzte, geschlossene Netzwerke (Intranets) zu stellen. Korb 2 (Reform von 2007, basierend auf der Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums von 2004) passte das Urheberrecht weiter an die neuen technologischen Möglichkeiten im digitalen Zeitalter an. Eine pauschale Vergütung, die auf Geräte und Speichermedien erhoben und über die Verwertungsgesellschaften an die Urheber ausgeschüttet wird, soll einen Ausgleich für die erlaubte Privatkopie eröffnen. Über unbekannte Nutzungsarten kann der Urheber nunmehr vertraglich verfügen und überdies eine gesonderte angemessene Vergütung beanspruchen.
57 Rossbach, Die Vergütungsansprüche im deutschen Urheberrecht, Diss. München 1988, Baden-Baden 1990, S. 212; Becker, FS Kreile, S. 29; Schricker / Reinbothe, Vor §§ 1 ff. WahrnG, Rn. 5 ff.; Wirtz, Die Kontrolle von Verwertungsgesellschaften, S. 29 f. 58 R. Müller, Die GEMA in Geschichte und Gegenwart, S. 191; Rossbach, Vergütungsansprüche, S. 212.
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d) Die musikalische Verwertungsgesellschaft in der DDR – AWA Nach der Gründung der Bundesrepublik und der Konstituierung der DDR im Jahre 1949 hielten die Komponisten und Verleger zunächst an der einheitlichen Verwertungsgesellschaft STAGMA-GEMA fest. Die sich in Deutschland immer weiter entwickelnde Spaltung führte allerdings dazu, dass es schon im Dezember 1950 erste Gespräche zur Gründung einer Verwertungsgesellschaft für alle Komponisten in der DDR gab. Am 5. April 1951 wurde schließlich durch Verordnung die „Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiet der Musik“ (AWA) geschaffen und der GEMA jede weitere Tätigkeit in der DDR untersagt. Im Gegensatz zur GEMA war die AWA eine unter der Aufsicht der Regierung (Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten) stehende Anstalt öffentlichen Rechts. Sie arbeitete gemäß dem 1965 verkündeten neuen Urheberrechtsgesetz der DDR.59 Das Nebeneinander von AWA und GEMA war zunächst nicht frei von Problemen und Spannungen. Verständigung wurde aber 1953 durch einen Kooperationsvertrag geschaffen. Er hatte zum Inhalt, die von der anderen Gesellschaft vertretenen Rechte im jeweiligen Zuständigkeitsbereich auszuüben. Durch weitere zahlreiche Vereinbarungen zwischen der AWA und der GEMA entwickelte sich ein über die Jahre reguliertes Nebeneinander.60 Nach der Wende galt aufgrund des Einigungsvertrages zwischen der BRD und der DDR auch auf dem Gebiet der AWA das Urheberrecht der BRD, sodass die AWA ihre Rechtsgrundlage verlor. Den Berechtigten der AWA wurde mitgeteilt, dass die Gesellschaft zum 3. Oktober 1990 ihre Tätigkeit einstellen werde. Zugleich wurden sie dazu eingeladen, ihre Rechte durch die GEMA nach Abschluss des Berechtigungsvertrages wahrzunehmen zu lassen.61
III. Die Geschichte der VG WORT 1. Vorformen Anders als im musikalischen Bereich blieb die Tätigkeit der Verleger von Sprachwerken lange Zeit auf das Vervielfältigen von Sprachwerken und Verbreiten von Druckwerken, also die ureigenste verlegerische Tätigkeit, beschränkt. Dies än59 Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 270 – 271; Ulmer / Bußmann / Weber, Verwertungsgesellschaften, S. 8; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 11; Wandtke, Zur Entwicklung der Urheberrechtsgesellschaften in der DDR bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, in: FS für Reinhold Kreile zu seinem 65. Geburtstag, Baden-Baden 1994, S. 789 ff.; E. Schulze, Die ersten Erfahrungen mit der neuen deutschen Urheberrechtsgesetzgebung, in: UFITA 50 (1967), S. 476 ff. 60 Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 273, 295. 61 Dümling, Musik hat ihren Wert, S. 296; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 11; Wandtke, FS Kreile, S. 797.
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derte sich erst mit der Zunahme der öffentlichen Wiedergabe von Hörfunk- und vor allem Fernsehsendungen, wo in vermehrtem Umfang auch Sprachwerke genutzt wurden. Die erste literarische Verwertungsgesellschaft in Deutschland war die 1926 entstandene „Gesellschaft für Senderechte mbH“. Anlass für ihre Gründung war eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 12. Mai 1926, wonach die Sendung eines Sprachwerkes ohne Genehmigung gegen das ausschließliche Recht des Autors zur gewerbsmäßigen Verbreitung seines Werkes verstößt. Autoren und Verleger von Sprachwerken brachten daraufhin die Senderechte in diese gemeinsam gegründete Gesellschaft ein und erteilten der Reichsrundfunkgesellschaft „Generallizenz“ zur Sendung der von ihnen vertretenen Sprachwerke gegen Bezahlung einer vereinbarten Vergütung.62 1937 wurde diese Gesellschaft aufgelöst und durch den „Deutschen Verein zur Verwertung von Urheberrechten an Werken des Schrifttums“ ersetzt.63 Dessen Aufgabe übernahm 1947 die „Zentralstelle für Senderechte GmbH“. Zweck war, Tarifverträge mit dem Rundfunk zu bekommen. Als erste hatte sie mit der Sendegruppe der Ostzone einen Vertrag geschlossen, wodurch ihr besondere praktische Bedeutung zukam.64 Nach einer lange Pause ohne aktive Verwertungsgesellschaft auf literarischem Gebiet in der westlichen Zone wurden 1955 dann allerdings gleich zwei solcher Gesellschaften gegründet: die „Gesellschaft zur Wahrung literarischer Urheberrechte mbH“ (GELU) und – in ausdrücklich erklärter Konkurrenz zu ihr – die „Verwertungsgesellschaft für literarische Urheberrechte“ (VLU). Anders als bei der Vorkriegsgesellschaft für Senderechte waren an den Gründungen nur Autoren und keine Verleger beteiligt. Die GELU, ein rechtsfähiger Verein kraft Verleihung, fiel, noch ehe sie wirksam Tätigkeit entfalten konnte, am 15. September 1958 in Konkurs, was nicht zuletzt an der schlechten Geschäftsführung des Unternehmens lag. Die VLU, ebenfalls ein rechtsfähiger Verein kraft Verleihung, löste sich nach jahrelangen Verhandlungen mit der inzwischen gegründeten VG WORT auf, wobei die Geschäftsführung ihren Mitgliedern empfahl, der VG WORT beizutreten.65
62 Melichar, Verleger und Verwertungsgesellschaften, in: UFITA 117 (1991), S. 5 ff., S. 6; Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 72; Vogel, Zur Geschichte kollektiver Verwertung von Sprachwerken, in: Symposium für Ferdinand Melichar zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1999, S. 17 ff., 27; Goldbaum, Urheberrecht und Urhebervertragsrecht, 3. Aufl. Baden-Baden 1961, S. 111. 63 Kron, Schriftsteller und Schriftstellerverbände, Stuttgart 1976, S. 426. 64 Kron, Schriftsteller, S. 196, 213. 65 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 72 f.; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 205; GELU-Satzung in GEMA-Nachrichten Heft 33, Januar 1957, S. 30 ff.; Kron, Schriftsteller, S. 58; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 13.; Haertel, Verwertungsgesellschaften und Verwertungsgesellschaftengesetz, UFITA 50 (1967), S. 7 ff., 11.
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2. Entstehung und Entwicklung der VG WORT a) Gründung Die „Verwertungsgesellschaft WORT“ mit Sitz in München wurde am 17. Februar 1958 gegründet, wobei nicht zuletzt die Schwierigkeiten zwischen der GELU und der VLU diese Neugründung beflügelten. In einer vorbereitenden Sitzung wurde ein Beschluss gefasst, der die Zusammenfassung der widerstrebenden Gruppen durch die Gründung einer neuen Gesellschaft erzielen sollte. Von Anfang an war dabei den Beteiligten klar, dass der Mitwirkung von Verlegern an dieser Verwertungsgesellschaft entscheidende Bedeutung zukommen würde. Die bei der Gründungsversammlung beschlossene Satzung trug bereits Grundzüge in sich, die die VG WORT noch heute beherrschen.66 Seither nimmt sie die Rechte der Wortautoren und ihrer Verleger wahr, wobei sie 1959 vereinbarungsgemäß die Mitglieder der aufgelösten VLU übernahm. Dabei stand die VG WORT von Anfang an auf sicherer rechtlicher, wenngleich noch nicht sicherer finanzieller Grundlage.67 Nachdem der VG WORT die Rechtsfähigkeit als Verein verliehen worden war68, fand am 6. November 1959 die erste Mitgliederversammlung statt. Hauptthemen waren die Vorbereitungen zur Übernahme der Mitglieder der VLU (die GELU hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Konkurs angemeldet) sowie die Aufstellung eines Verteilungsplanes und eines Wahrnehmungsvertrages. Vorgesehen war die Wahrnehmung folgender Rechte: die öffentliche Wiedergabe (Rundfunk); Vervielfältigung durch privates Überspielen von Tonträgern oder durch Aufnahme von Rundfunksendungen auf Tonträger; die Filmvorführung; die Leihbücherei-Tantieme und der öffentliche Vortrag.69 b) Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der durch die VG WORT wahrgenommenen Rechte Die Rechtsdurchsetzung war aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen erschwert, wobei die rechtlichen Schwierigkeiten in der mangelnden gesetzlichen Grundlage bestanden, da das LUG von 1901 den technischen Neuerungen nicht mehr gewachsen war. So wurde aus rechtlichen Gründen der VG WORT das Bestehen eines Rechts der öffentlichen Wiedergabe, d. h. das sog. „Kneipenrecht“ bestritten.70 Ein 1959 von der VG WORT begonnener Prozess wurde 1962 auch in 66 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 73 f.; Mauhs, Wahrnehmungsvertrag, S. 14; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 13. 67 Kreile / Becker, Handbuch der Musikwirtschaft, S. 597; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 205; Vogel, Symposium Melichar, S. 30. 68 Bayerischer Staatsanzeiger vom 14. 11. 1958 Nr. 46 S. 4. 69 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 74. 70 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 74; Loewenheim-Melichar, § 45, Rn. 13.
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der dritten Instanz vom BGH zu ihren Gunsten entschieden.71 Erst mit diesem Urteil war klargestellt, dass die öffentliche Wiedergabe von Sprachwerken über Fernsehempfangsgeräte in der Öffentlichkeit (d. h. vor allem in Gaststätten) der Erlaubnis der Urheber dieser Werke bedarf und dass nicht etwa nur Theaterstücke, sondern auch Vorträge zu wissenschaftlichen Themen sowie Quizsendungen als sog. „kleine Münze“ Urheberrechtsschutz genießen.72 Die tatsächlichen Schwierigkeiten lagen in der mangelnden Aktivlegitimation der VG WORT, die 1962 ihrem Geschäftsbericht zufolge gerade einmal 430 Wahrnehmungsberechtigte hatte. Diese Umstände führten dazu, dass die VG WORT große finanzielle und damit existenzielle Probleme hatte. Die Lage konnte nur durch Mitgliedsbeiträge, Zuschüsse der öffentlichen Hand und Darlehen der Berufsverbände der Journalisten, Schriftsteller und Verleger überwunden werden.73 c) Die Auswirkungen des neuen Urheberrechtsgesetzes und des Wahrnehmungsgesetzes von 1965 Durch das neue Urheberrechtsgesetz und das Wahrnehmungsgesetz von 1965 änderte sich die Lage der VG WORT von Grund auf. Es bescherte den Urhebern nicht nur umfassende Verwertungsrechte, sondern überdies in mehreren Fällen teils rechtlich, teils faktisch nur kollektiv wahrnehmbare Vergütungsansprüche. Gleichzeitig unterwarf das neue Wahrnehmungsgesetz die Gründung und fortlaufende Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften staatlicher Kontrolle (§ 18 ff. UrhWG).74 Noch vor der notwendigen Genehmigung der VG WORT zum Betrieb als Verwertungsgesellschaft 196775 war sie bereits 1963 Mitgesellschafterin der ZPÜ (= Zentralstelle für private Überspielungsrechte) geworden, die von GEMA und GVL zum Zwecke des Inkassos der Gebühren für die private Überspielung mittels Tonbandgeräten geschaffen worden war. Nach Inkrafttreten der sog. Geräteabgabe in § 53 Abs. 5 UrhG konnte von der ZPÜ bereits 1966 mit der deutschen Tonbandgeräteindustrie ein Pauschalvergleich abgeschlossen werden. Mit den daraus resultierenden Einnahmen war erstmals ein wirtschaftlicher Betrieb der VG WORT möglich.76
71 BGH vom 18. 12. 1962 „Öffentlicher Fernsehempfang von Sprachwerken“ abgedruckt in: UFITA 43 (1964), S. 104. 72 UFITA 43 (1964), S. 106. 73 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 74 – 75. 74 Vogel, Symposium Melichar, S. 31. 75 Bundesanzeiger Nr. 244 vom 30. 12. 1967. 76 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 76.
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d) Verpflichtung der Gaststätten Am 27. Februar 1967 wurde mit der Vereinigung der Musikveranstalter e.V. ein Gesamtvertrag über die Abgeltung des Rechts der öffentlichen Wiedergabe geschlossen. Danach verpflichteten sich die Gaststättenbetriebe, zur Abgeltung der Ansprüche der VG WORT, einen Pauschalsatz von 20 % der an die GEMA zu bezahlenden Vergütung zu entrichten. Darüber wurde mit der GEMA ein Inkassovertrag geschlossen. Bis zum Inkrafttreten der Reform zur Bibliothekstantieme 1973 blieb die Geräte- und Gaststättenabgabe die Haupteinnahmequelle der VG WORT. Das Einkommen hieraus entwickelte sich langsam, aber stetig aufwärts. e) Die sog. kleine Urheberrechtsreform 1972 Die sog. kleine Urheberrechtsreform 1972 brachte für die VG WORT insbesondere die Bibliothekstantieme in § 27 UrhG. Seither waren nicht mehr nur Leihbüchereien tantiemepflichtig, sondern auch sämtliche öffentliche Büchereien usw. Der mit Bund und Ländern hierüber geschlossene Pauschalvertrag bedeutete für die VG WORT mehr als eine Verdoppelung ihres bisherigen Aufkommens.77 f) Die Vereinigung der VG WORT mit der VG WISSENSCHAFT Nahezu gleichzeitig mit der VG WORT nahm unter dem Dach des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels die „Inkassostelle für Fotokopiergebühren“ ihre Arbeit auf.78 Der BGH stellte im Jahre 1955 klar, dass das Fotokopieren urheberrechtlich geschützter Texte durch Angestellte eines Erwerbsunternehmens im Interesse dieses Unternehmens über den Rahmen der privaten Zwecke gem. § 15 Abs. 2 LUG hinausgeht und ohne Einwilligung des Rechteinhabers urheberrechtlich nicht zulässig ist. Daraufhin schloss 1958 der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein „Rahmenabkommen über die Herstellung von fotomechanischen Vervielfältigungen (Fotokopien, Mikrokopien) in gewerblichen Unternehmen zum innerbetrieblichen Gebrauch“ ab. Dadurch wurde die Vergütungspflicht für die in gewerblichen Unternehmen aus wissenschaftlichen und Fachzeitschriften hergestellten Kopien geregelt. Im Hinblick auf dieses Rahmenabkommen fanden sich fast 300 wahrnehmungsberechtigte Verlage zu einer „Inkassostelle für Fotokopiengebühren“ beim Börsenverein zusammen, um das Rahmenabkommen zu realisieren.79 Bis 1965 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 76. Vogel, Symposium Melichar, S. 32. 79 BGH vom 24. 6. 1955 „Fotokopie“ in: BGHZ 18,44 = NJW 1955, 1433 = E. Schulze BGHZ 18; Rahmenabkommen über die Herstellung von fotomechanischen Vervielfältigungen in gewerblichen Unternehmen zum innerbetrieblichen Gebrauch; abgedruckt in GRUR 1959, S. 20 ff. 77 78
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war diese Inkassostelle eine Abteilung des Börsenvereins, die aber mit Inkrafttreten des Wahrnehmungsgesetzes von 1965 nach den Anforderungen dieses Gesetzes in eine Verwertungsgesellschaft umgewandelt werden musste. So entstand die selbstständige „Inkassostelle für urheberrechtliche Vervielfältigungsgebühren GmbH“. Sie weitete ihre Tätigkeit in der Folgezeit aus und schloss weitere Verträge mit dem Bundesverband Deutscher Banken, dem Verband der Deutschen Sparkassen, dem Gesamtverband der Versicherungswirtschaft und ähnlichen Organisationen. Nach der Einführung der Bibliothekstantieme mit der Urheberrechtsnovelle 1972 erweiterte sie ihre Tätigkeiten hierauf und firmierte von nun an „Verwertungsgesellschaft Wissenschaft GmbH“.80 Nach der Einführung der Bibliothekstantieme und insbesondere nach dem Abschluss eines Pauschalvertrages über die Abgeltung derselben zwischen Bund und Ländern einerseits und betroffenen Verwertungsgesellschaften (VG WORT, VG WISSENSCHAFT, GEMA und VG BILD / KUNST) andererseits, kam es zu Verhandlungen zwischen der VG WORT und der VG WISSENSCHAFT. Es ging dabei um die Aufteilung des Anteils zwischen diesen beiden für Sprachwerke tätigen Verwertungsgesellschaften.81 Spätestens seit der Verteilung der Bibliothekstantieme wurde den Beteiligten klar, dass sich angesichts im Wesentlichen gleichgelagerter Interessen der doppelte Verwertungsaufwand nicht lohnt.82 1975 kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Aufteilung zwischen VG WORT und VG WISSENSCHAFT nicht nach Werkkategorien, sondern nach Wirkungsbereichen erfolgen sollte. Danach erfasste die VG WORT die allgemeinen öffentlichen Bibliotheken und die VG WISSENSCHAFT wissenschaftliche und Spezialbibliotheken. Die Aufteilung der Bibliothekstantieme auf verschiedene Bibliotheksbereiche machte ein Zusammenrücken notwendig und weckte den Wunsch nach einer Fusion. Nach vielen Verhandlungsrunden beschlossen die Jahreshauptversammlungen beider Gesellschaften die Verschmelzung der Verwertungsgesellschaften. Die VG WORT übernahm 1978 die VG WISSENSCHAFT mit allen Aktiva und Passiva und insbesondere die Wahrnehmungsverträge. Die VG WISSENSCHAFT GmbH wurde als Mantel von der VG WORT übernommen und in die „Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT GmbH“ umgewandelt. Formalrechtlich hat also keine Fusion stattgefunden. Die VG WISSENSCHAFT ist vielmehr in der VG WORT aufgegangen. Voraussetzung war eine Satzungsänderung der VG WORT bezüglich der Erweiterung um zwei Berufsgruppen: die wissenschaftlichen Autoren und Fachverleger. Ihnen wurde durch weitere Bestimmungen im Hinblick auf deren besondere Interessenlage auch für die Zukunft eine gewisse Eigenständigkeit garantiert. Die VG WORT führte fortan die Bezeichnung „VG WORT vereinigt mit der VG WISSENSCHAFT“. Durch die Vereinigung der bei80 Bundesanzeiger vom 7. 1. 1969 S. 3; Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 78. 81 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 78. 82 Vogel, Symposium Melichar, S. 33.
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den im Bereich von Sprachwerken tätigen Verwertungsgesellschaften wurde auf diesem Gebiet das Idealziel des faktischen Monopols erreicht.83 1985 kam die „Betreiberabgabe“ (§ 54a Abs. 2 UrhG) für Kopiergeräte hinzu. Darin lag eine Anpassung an den aufkommenden Trend der Fotokopien. Es sollte die Vervielfältigung und Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke ohne Zahlung einer Vergütung an den Urheber verhindert werden.84
IV. VG BILD-KUNST 1. Entwicklung und Zusammenarbeit mit anderen Verwertungsgesellschaften Am 18. Dezember 1974 schlossen die VG WORT, die Bundesrepublik und die Bundesländer einen Vertrag über die pauschale Abgeltung der Bibliothekstantieme für die Jahre 1973 – 1975 mit einer jährlichen Pauschalzahlung von 9 Mio. DM. Der Kooperationsvertrag der VG BILD-KUNST mit der VG WORT vom 6. März 1975 zur Aufteilung der Bibliothekstantieme sah vor, dass der Anteil der VG BILD-KUNST bei 10% lag. Ferner wurden erstmals Auskunftsansprüche gegen Kunsthändler (Folgerecht) geltend gemacht. Am 27. Juli 1977 wurden das „Sozialwerk Bildende Kunst GmbH“ sowie der „Sozialfonds e.V.“ gegründet. Der erste war für die Berufsgruppe I, der zweite für die Berufsgruppe II zuständig. Im selben Jahr war die VG BILD-KUNST erstmals auf der Frankfurter Buchmesse im Zentrum des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vertreten. Am 4. Juni 1978 konnte das positive Urteil des LG München gefeiert werden, wonach Zeitungen und Zeitschriften fortan gebührenpflichtig waren. Am 25. Juni 1978 entschied der BGH im „Jeannot-Prozess“, dass französische Urheber in Deutschland Folgerechte geltend machen können. Überdies wurde der Kooperationsvertrag mit der VG WORT zur Verteilung der Bibliothekstantieme beendet. Fortan vertritt die VG BILD-KUNST neben der VG WORT und der GEMA ihre eigenen Interessen in der Verhandlungsrunde mit den Bundesländern. Die Neuverhandlung der Anteile der Bibliothekstantieme zwischen VG WORT, GEMA und VG BILD-KUNST ergab eine Senkung des Anteils der VG BILD-KUNST auf 6,35%. Im November 1978 wurde der CIAGP gegründet (Conseil International des Auteurs des Arts Graphiques et Plastiques et des Photographes) als Fachorganisation der CISAC, d. h. des internationalen Dachverbandes aller Verwertungsgesellschaften, für Verwertungsgesellschaften für bildende Kunst und Fotografie unter Beteiligung der VG BILDKUNST als Beobachter.
83 Melichar, Wahrnehmung von Urheberrechten, S. 78 – 79; Arnold / Rehbinder, UFITA 1992, S. 205. 84 Keiderling, Geist, Recht und Geld, S. 107 ff.
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2. Einschlägige Rechtsprechung Am 22. März 1979 erging das rechtskräftige Urteil des OLG München, wonach das Auslegen von Zeitungen und Zeitschriften bei Friseuren gem. § 27 vergütungspflichtig ist. Im April 1979 kam es zur Mitgliedschaft der VG BILD-KUNST in der CISAC. Noch im selben Jahr folgten zahlreiche neue Gegenseitigkeitsverträge mit ausländischen Bildverwertungsgesellschaften.85 Am 8. Mai 1980 erging eine Entscheidung des OLG Frankfurt / M. im Rechtsstreit gegen den Kunsthändler Radke, wonach die Kunsthändler verurteilt wurden, der VG BILD-KUNST Auskunft über Verkäufe der von der VG BILD-KUNST vertretenen Künstler zu erteilen. Am 15. Juni 1982 wurde nach Abschluss der im Jahr 1981 begonnenen Verhandlungen mit der Arbeitsgemeinschaft Neuer Deutscher Spielfilmproduzenten, dem Bundesverband der Film- und Fernsehregisseure der RFFU (Rundfunk-Fernseh-Film-Union) und anderen Filmurheberverbänden über eine Zusammenarbeit insbesondere auf dem Feld der Privatkopie-Videogeräteabgabe die Satzung geändert und die „Filmemacher“ als Berufsgruppe III durch die Mitgliederversammlung aufgenommen. Ferner wurde die rechtliche Zusammenlegung der Sozialeinrichtungen vorbereitet. Am 2. Juli 1983 wurden die Sozialwerke der Berufsgruppen neu strukturiert und in den eingetragenen Verein „Sozialwerk der VG BILD-KUNST“ geführt, dessen Mitglieder vom Verwaltungsrat der VG BILD-KUNST ernannt und dessen Vorstand personenidentisch mit dem Vorstand der VG BILD-KUNST ist. Am 28. Juni 1984 entschied der BGH im Sprungrevisionsverfahren, dass der VG BILD-KUNST bzw. den Bildurhebern kein Anspruch auf Vergütung gem. § 27 UrhG wegen des Auslegens von Zeitungen und Zeitschriften in Warteräumen zustehe. Am 6. November 1986 wurde die ZFS, die Zentralstelle für das Fotokopieren in Schulen, bestehend aus VG WORT, VG Musikedition und VG BILD-KUNST gegründet. Am 4. November 1987 räumte das BVerfG der VG BILD-KUNST zwar das Recht ein, Verfassungsbeschwerde gegen das abweisende Urteil des BGH zum Auslegen von Zeitungen und Zeitschriften einzulegen, bestätigte jedoch das Urteil des BGH vom 28. Juni 1984. Am 11. Juli 1998 wurde die Satzung erneut geändert, wonach die Lichtbildner und deren Rechtsnachfolger als Urhebergruppe in den Wahrnehmungsbereich der Berufsgruppe II fielen. Vom 6. März 1999 datiert der Vertrag zwischen Verwertungsgesellschaften und Sendeunternehmen betreffend die Umsetzung des § 20 b Abs. 2 UrhG, der Beteiligung der Urheber an den Erlösen der Sendeunternehmen aus Kabelweiterleitung. Ferner wurde das „Kulturwerk der VG BILD-KUNST GmbH“ gegründet. Während der wirtschaftliche Verein BILD-KUNST seit 1968 seine Aufmerksamkeit ganz auf die Wahrnehmung des Folgerechts, d. h. einer 1965 eingeführten 85
Vgl. Chronik (Fn. 16).
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gesetzlichen Regelung, die Galerien und Versteigerer verpflichtete, 1 % des Verkaufserlöses bei Weiterverkäufen von Kunstwerken an die Künstler oder Erben zu zahlen, konzentrierte, ging es seit 1974 der sodann arbeitenden und heute noch bestehenden VG BILD-KUNST um die Interessen der Fotografen und Designer, vor allem auf die 1972 eingeführte Bibliothekstantieme. Erst Ende 1974 fanden sich die abgabeverpflichteten Bundesländer bereit, mit der VG WORT eine Vereinbarung über die Entrichtung der Vergütungen für das Entleihen von Büchern in öffentlichen Bibliotheken zu schließen.86 Und erst 1975 flossen aus der Bibliothekstantieme 10% für Bildurheber in die leeren Kassen der VG BILD-KUNST, die dadurch wesentlich entlastet wurde. Die Anfänge der Tätigkeit der VG BILDKUNST gestalteten sich anfangs sehr schwierig, insbesondere deshalb, weil es keine Tradition der organisierten Wahrnehmung von Bildrechten gab. Im Unterschied etwa zu Frankreich wurde vor dem Zweiten Weltkrieg, wenn überhaupt, nur auf individualvertraglicher Basis zwischen Künstler, Fotografen und Verlegern die Rechtewahrnehmung verfolgt. Im Jahre 1982 vergrößerte sich die Mitgliederbasis der VG BILD-KUNST um die Urheber und Produzenten des deutschen Films, die auf die ansteigenden Einnahmen aus der Videogerätevergütung aufmerksam geworden waren und sich daher für ihre Urheberrechte zu interessieren begannen.87 Die Musterprozesse, die die VG BILD-KUNST bis zum BGH führte, um die klare Interpretation bestimmter Vorschriften des UrhG zu erreichen, drehten sich neben der Auslegung des Vermietparagraphen im Hinblick auf Friseursalons und Zahnarztwartezimmer auch um Rechtsfragen um die Interpretation des Folgerechts und Reproduktionsrechtsfragen. Immer wieder ging es um die Auslegung der Ausnahmevorschriften des Urheberrechts, die aktuelle Berichterstattung, das wissenschaftliche Bildzitat und die Katalogbild-Freiheit. Es gelang, einzelnen Bildurhebern Schutz vor ungenehmigter Inanspruchnahme ihrer Werke zu geben, die zunehmend im Bereich der Werbung festzustellen war.88 Die VG BILD-KUNST stellte bzw. stellt sich der Aufgabe, Honorar- und Vertragssysteme zu entwickeln, die es Betreibern von Datenbanken und Bildinformationssystemen ermöglichen, auf legale Weise Werke zu erfassen und zur Nutzung freizugeben, ohne die Autorenidentität, die Werkintegrität und die wirtschaftlichen Interessen der Betroffenen zu verletzen. Dabei wurde die Erfahrung gemacht, dass die Nutzer im Prinzip zu derartigen Vereinbarungen bereit sind, sofern die dazu notwendigen Vertragswerke angeboten werden.89
86 Pfennig, Die Funktionärsclique aus Frankfurt. Die Geschichte der Wahrnehmung visueller Urheberrechte am Beispiel der VG BILD-KUNST, in: Pfennig / VG BILD-KUNST / Schwarz (Hg.), Die Zukunft der Bilder, Medienentwicklung und Recht – 25 Jahre VG BILDKUNST, Göttingen 1993, S. 12 – 29, S. 12 – 14. 87 Pfennig, Fn. 86, S. 19; ders., Die Wahrnehmung der Urheberrechte bildender Künstler in Deutschland, FS für Peter Raue, 2006, S. 593 ff. 88 Pfennig, S. 20 – 21. 89 Pfennig, S. 26.
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3. Die VG BILD-KUNST nach der Deutschen Einheit von 1990 Mit der Erstreckung des bundesdeutschen UrhG auf die neuen Bundesländer seit dem 3. Oktober 1990 erweiterte sich auch die Zuständigkeit der VG BILDKUNST. Art. 35 des Einigungsvertrages spricht von schützenswerten Kulturgütern im vereinten Deutschland.90 Seit 1954 war es Aufgabe des Ministeriums für Kultur, eine einheitliche Kulturpolitik in der DDR zu sichern, wozu auch die Filmkunst mit ihrer erzieherischen Bedeutung gehörte.91 Dem Ministerium unterstand die DEFA, die Deutsche Film AG als volkseigener Betrieb. Hier waren die Spielfilme abgedeckt. Während die DEFA-Unternehmen dem vom Ministerium für Kultur geleiteten Bereich unterstanden, hatte sich für das Fernsehen ein anderer Weg in der Entwicklung der DDR abgezeichnet. Der Deutsche Fernsehfunk (DFF) unterstand bis 1989 dem Ministerrat der DDR, welcher ihn auch staatlich leitete. Erst mit dem Beschluss der Volkskammer über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit vom 5. Februar 1990 war das Fernsehen fortan nicht mehr der Regierung unterstellt. Der DFF übte wie die DEFA eine Monopolstellung aus, die Programmgestaltung wurde politisch von der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der SED geleitet. Zu den DEFA-Unternehmen gehörten neben dem DEFA-Studio für Spielfilme in Babelsberg das DEFA-Dokumentarfilmstudio in Berlin, das DEFA-Trickfilmstudio in Dresden, das DEFA-Studio für Synchronisation in Berlin-Johannisthal als auch das DEFA-Kopierwerk in Köpenick.92 DEFA und Fernsehen der DDR wie DFF erlitten nach der Wende ihr eigenes Schicksal. So wurde der bedeutendste Teil des DEFA-Imperiums (die Spielfilmstudios) nach dem Vermögensgesetz vom 17. Juni 1990 mit Wirkung zum 1. Juli 1990 in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt. Die Rechte am Filmstock gingen in eine Stiftung über. Der DFF wurde in eine öffentlich-rechtliche Anstalt umgewandelt. Die Rundfunkgesetze der Länder regelten die sich aus Art. 36 Abs. 6 des Einigungsvertrages ergebende Aufteilung des Aktiv- und Passivvermögens.93 Mit der Auflösung des DFF am 31. Dezember 1991 fielen auch die Nutzungsrechte an die Urheber zurück.94 Im Ergebnis brachte die Wende der VG BILDKUNST zahlreiche neue Aufgaben.
90 Wandtke, Film und Fernsehen in der DDR und Probleme der Urheberrechtsentwicklung nach der staatlichen Einheit, in: Die Zukunft der Bilder, S. 154 – 168, hier S. 163. 91 Wandtke, S. 157. 92 Wandtke, S. 158 – 159. 93 Wandtke, S. 160. 94 Wandtke, S. 168.
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V. Fazit und Ausblick Im letzten Jahrhundert ist eine stabile gesetzliche Grundlage für die Arbeit von Verwertungsgesellschaften geschaffen worden, die eine umfassende Rechtewahrnehmung im In-und Ausland ermöglicht. Dennoch ist das Urheberrecht ständigen Schwankungen unterworfen. Der Gesetzgeber ist angehalten, sich auf neue Bedingungen, v.a. neue Verwertungsmöglichkeiten, einzustellen und neue Regelungen zu schaffen, um die Grundlage für wirksamen Urheberrechtsschutz zu gewährleisten. Das LUG von 1901 als erste gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Verwertungsgesellschaften wurde in seiner Geltungsdauer von über 100 Jahren laufend modifiziert und somit angepasst. Denn durch die Weiterentwicklung von Verwertungstechniken und Organisation stellen sich immer wieder neue Aufgaben, die einer Regelung bedürfen und somit der wesentliche, tatsächliche Wachstumsfaktor des Verwertungsrechts sind. Das Verwertungsrecht ist vom faktisch anfallenden Regelungsbedarf bestimmt und hinkt daher prinzipiell hinter dem Stand der technisch möglichen und praktizierten Werknutzung her.95 Somit ist auch in Zukunft davon auszugehen, dass die gesetzlichen Grundlagen wieder verändert werden, um einen der jeweiligen Zeit entsprechenden, optimalen Urheberrechtsschutz zu gewährleisten. Herausforderungen stellen sich bei der Zweitverwertung (§§ 21, 22 UrhG), den neuen und vor allem unbekannten Nutzungsarten, die zu Verteilungsproblemen bei der angemessenen Beteiligung der Urheber und Leistungsschutzträger führen. Die gegenwärtig größte Herausforderung liegt wohl in der sog. „Informationsgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts. Die Schnelllebigkeit der heutigen Innovationen schafft immer neue Verwertungsmöglichkeiten, die GEMA, VG WORT und VG BILD-KUNST auch in der Zukunft vor neue Herausforderungen stellen werden. Dies hat die Reform des UrhG von 2007, in Kraft seit 2008, eindrucksvoll gezeigt. Auch die Open Access-Bewegung, d. h. die Strömung, die sich stark macht für die rechtliche Verankerung des Prinzips des freien Zugangs zu veröffentlichten Werken, muss ihnen angemessene Lösungen entlocken.96 In der modernen Informationsgesellschaft wird das System der kollektiven Wahrnehmung in der Wissenschaft seine Berechtigung keinesfalls einbüßen. Verwertungsgesellschaften werden des Näheren nicht ersetzt durch die digitale Rechtewahrnehmung (Digital Rights Management, DRM), d. h. Systeme zur elektronischen Lieferung, Rechtevergabe, Verwaltung und automatischen Abrechnung (Vergütung) von geschützten Werken in digitaler Form aus dem Server des Rechteinhabers in den Server des Empfängers. Obgleich der Rechteinhaber selbst elektronische Lizenzen vergibt und damit klassische Aufgaben der Verwertungsgesellschaften ausführt, kann er diese nicht vollständig ersetzen, denn die elektronischen Lizenzierungssysteme haben zu viele 95 Brinkmann, Urheberschutz und wirtschaftliche Verwertung, Neuwied / Frankfurt 1989, S. 55; Kreile, FS Roeber, S. 245; Rehbinder, Urheberrecht, § 4, Rn. 37. 96 Hirschfelder, Anforderungen an eine rechtliche Verankerung des Open Access Prinzips, Diss. Saarbrücken, 2008.
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Schwächen. Ferner sind die Gesellschaften mehr als bloße Inkassobüros oder Rechtsverwalter, weil sie Vertragspartner für die Verwerter sind, um alle Rechte einer Werkart zu erlangen, und kraft ihrer Organisation auch in der Öffentlichkeit wirksamer auftreten können als ein einzelner Rechteinhaber. Und so ist gerade die Stellung des faktischen Monopols respektive die Verwertungsgesellschaftenpflichtigkeit erforderlich, um eine optimale Rechtewahrnehmung gewährleisten zu können97 – man denke nur an die Gefahr für die Autoren durch die Digitalisierung des Google-Konzerns, die in Europa große Wellen geschlagen hat. Sie verschafft den Verwertungsgesellschaften umfassende Befugnisse, die notwendig sind, um im digitalen Zeitalter der unbefugten Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke entgegenzuwirken. Anders gesagt: Die Verwertungsgesellschaften gewährleisten den von Art. 14 GG garantierten Urheberschutz und sind auch hier wieder als „Träger staatsentlastender Tätigkeit“ zu sehen.98
97 Becker, FS Kreile, S. 29; Flechsig, FS Loewenheim, S. 100 f., plädiert für eine „Kulturflatrate“ nach französischem Diskussionsentwurf einer licence globale. Die Unmöglichkeit der Durchsetzung urheberrechtlicher Nutzungsentgelte könnte durch eine sichere Grundlage in Form dieser Flatrate zwecks Erlangung angemessener Nutzungsentgelte ausgeglichen werden. 98 Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 4. Aufl. 2007, Rdnr. 1162; Schmid / Wirth / Seifert-Seifert, Einleitung UrhWG, Rdnr. 55.
Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis Von Detlev Joost*
Ein besonderes Forschungsgebiet des Jubilars ist das Recht der Kulturgüter, die in ausländischen Besitz verbracht worden sind (häufig als so genanntes Beutegut). Der jüngst aufgeflammte Streit, wem die Büste der Nofretete zusteht, ist für die Aktualität dieser Problematik nur ein, aber ein besonders berühmtes Beispiel. Es geht dabei um Eigentum und Verfügungsmacht und vielfach außerrechtlich nur um Macht. Auch wenn bei diesen Vorgängen zumeist das öffentliche Recht und das Völkerrecht und damit das Interessengebiet des Jubilars im Vordergrund stehen, die dem Zivilrechtler nicht vertraut sind, kann vielleicht doch die Darstellung einiger zivilrechtlicher Zusammenhänge zwischen Eigentum und Verfügungsbefugnis auf das Interesse des Jubilars stoßen.
I. Die Ausgangslage Im Recht der beweglichen Sachen – darauf ist die folgende Darstellung beschränkt – ist der Eigentumserwerb in einer den Beteiligten verbindlich vorgegebenen Weise geregelt (§§ 929 ff. BGB). Im Gegensatz zu dem logischen Satz nemo plus juris transferre potest quam ipse habet wird in den §§ 932 ff. BGB der gutgläubige Erwerb zugelassen. Das hat seinen guten Sinn. Die Bestimmungen dienen dem allgemeinen Verkehrsschutz und sind in einer entwickelten Gesellschaft unverzichtbar. Die Regelung betrifft das fehlende Eigentum des Veräußerers, also die fehlende Rechtsinhaberschaft. Sie ist gegründet auf den Rechtsschein, den der Besitz der beweglichen Sache im Hinblick auf das Eigentum erzeugt.1 Der Besitz steht dem Eigentümer zu und der Eigentümer übt den Besitz gewöhnlich auch aus; die Möglichkeit der Vindikation verhindert das dauernde Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz. * Der Autor ist Direktor des Seminars für Arbeitsrecht an der Universität Hamburg. Die Verbindung zum Jubilar geht zurück auf die gemeinsame Zeit an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes. 1 Die Regelung ist freilich alles andere als konsistent, insbesondere im Hinblick auf den so genannten mittelbaren Besitz; dies ist für die Problematik der Verfügungsbefugnis aber ohne Belang.
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Der gute Glaube des Erwerbers überwindet das fehlende Eigentum des Veräußerers. Aber, so wird allgemein gelehrt, er überwindet nicht die fehlende Verfügungsbefugnis des Veräußerers; es gibt also keinen Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis.2 Wenn man wissen will, weshalb dieser auffällige Unterschied zwischen dem Eigentum und der Verfügungsbefugnis gemacht wird, erhält man zumeist keine nähere Aufklärung.3 Eine seit langem bestehende allgemeine Ansicht erscheint offenbar nicht (mehr) begründungsbedürftig. Ältere Stellungnahmen geben etwas mehr Aufschluss: Der Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis „ist nicht Bedürfnis“.4 Nicht gerade eine opulente Begründung. Einen empirischen Beleg gibt es für sie nicht. Davon abgesehen ist ein fehlender praktischer Bedarf kaum geeignet, den angesprochenen Unterschied sachlich zu erklären. Die Problematik des Schutzes des guten Glaubens des Erwerbers an die Verfügungsbefugnis des Veräußerers ist zuvörderst eine Systemfrage, die einer theoretisch stimmigen Beantwortung bedarf. Denn möglich ist und bleibt ein Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis durchaus, wie schon § 366 HGB zeigt. Danach wird der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis im kaufmännischen Warenverkehr allgemein geschützt. Die Bestimmung wird aber als Ausnahme angesehen und damit als Bestätigung der Auffassung benutzt, dass die Rechtslage im allgemeinen Zivilrecht eben gegenteilig sei.5 Die Möglichkeit des Gutglaubensschutzes im kaufmännischen Warenverkehr macht aber dessen Ablehnung im allgemeinen Zivilrecht eher sachlich begründungsbedürftig im Sinne eines normativ beachtlichen Unterschiedes für eine sachlich ungleiche Regelung.
II. Das Verhältnis von Rechtsinhaberschaft und Verfügungsbefugnis Der gutgläubige Erwerb nach §§ 932 ff. BGB wird allgemein damit erklärt, dass der Besitz des Veräußerers den Rechtsschein der Rechtsinhaberschaft erzeuge und dies die Grundlage für die Wirksamkeit der Verfügung sei.6 Dieses Verständnis wird durch die textliche Fassung von § 932 BGB durchaus nahe gelegt, indem in 2 Pars pro toto Baur / Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 52 C. IV.; Lettl in Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, 2. Aufl. 2009, § 366 Rn. 2; Wolff / Raiser, Sachenrecht, Zehnte Bearbeitung 1957, S. 254; Westermann / Gursky, Sachenrecht, 7. Aufl. 1998, S. 375. 3 Pars pro toto Baur / Stürner, Fn. 2, § 52 C. IV.; Westermann / Gursky, Fn. 2, S. 375. 4 So Wolff / Raiser, Fn. 2, S. 254. Die Stellungnahme stammt bereits von Martin Wolff, s. Das Sachenrecht, Neunte Bearbeitung 1932, S. 220. Auf den Ausnahmecharakter der Gestaltung weist Planck / Greiff, Bürgerliches Gesetzbuch, Dritter Band, Erste und zweite Aufl. 1902, vor §§ 932 – 935 Anm. 2. hin. 5 Baur / Stürner, Fn. 2, § 52 C. IV.; Wolff / Raiser, Fn. 2, S. 254. 6 BGH Urt. v. 11. Juni 1953, IV ZR 181 / 52, BGHZ 10, 81, 86; Baur / Stürner, Fn. 2, § 52 A. I. 1. a); Wolff / Raiser, Fn. 2, S. 250.
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Absatz 1 Satz 1 davon die Rede ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört, er also nicht der Eigentümer ist, und in Absatz 2 das Fehlen des guten Glaubens mit der Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis des Erwerbers davon begründet wird, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört; die fehlende Verfügungsbefugnis wird demgegenüber nicht angesprochen. Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen Rechtsinhaberschaft und Verfügungsbefugnis hinsichtlich der Wirksamkeit einer Verfügung anders zu bestimmen. Denn die Voraussetzung für den Rechtserwerb bezieht sich auf die Verfügungsbefugnis, nicht aber auf die Rechtsinhaberschaft. Im Regelfall tritt dies nicht deutlich in Erscheinung, weil mit der Rechtsinhaberschaft (Eigentum) die Verfügungsbefugnis verbunden ist und die Rechtsinhaberschaft als subjektives Recht im Vordergrund steht, die Verfügungsbefugnis aber nur als davon abgeleitet erscheint. Sobald diese Verbindung nicht besteht, zeigt sich indessen die dominante Stellung der Verfügungsbefugnis. Ist über das Vermögen des Rechtsinhabers (Eigentümers) das Insolvenzverfahren eröffnet worden, so ändert sich an der Stellung als Rechtsinhaber dadurch nichts. Der Schuldner bleibt Inhaber seines Vermögens und damit Eigentümer der dazugehörigen beweglichen Sachen. Die Verfügungsbefugnis geht auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO), der aber nicht Rechtsinhaber wird, so dass seine Verfügungsbefugnis ohne seine Rechtsinhaberschaft besteht. Der Schuldner verliert seine Verfügungsbefugnis (§ 81 Abs. 1 Satz 1 InsO), so dass in seiner Person eine Rechtsinhaberschaft ohne Verfügungsbefugnis besteht. Die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Verfügung über eine zur Insolvenzmasse gehörige bewegliche Sache richtet sich also nicht nach einer Rechtsinhaberschaft, sondern nach der bestehenden oder nicht bestehenden Verfügungsbefugnis. Übertragen auf die Regelung in § 932 Abs. 1 Satz 1 BGB bedeutet dies: Notwendige Voraussetzung des gutgläubigen Erwerbs ist nicht (allein) der gute Glaube an das Eigentum des Veräußerers, sondern der gute Glaube an eine mit dem vermeintlichen Eigentum verbundene, sich aus ihm ergebende Verfügungsbefugnis. Bemerkenswerter Weise heißt es in der Darstellung des gutgläubigen Erwerbs vom Nichtberechtigten von Philipp Heck, die „Beglaubigung“ beziehe sich auf die „Verfügungsbefugnis“.7 Es lässt sich schon an dieser Stelle sagen: Die These, der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis werde im Zivilrecht nicht geschützt, wird der systematischen Stellung der Verfügungsbefugnis nicht gerecht.
7 Heck, Grundriß des Sachenrechts, 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1930, 1970, § 58 a) II. 1., S. 247. Weitere Schlüsse im hier behandelten Zusammenhang zieht Heck daraus aber nicht.
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III. Der gesetzliche Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis Die soeben erwähnte These geht in ihrer Undifferenziertheit ohnehin zu weit und ist damit unrichtig, zumindest arg missverständlich. Es gibt durchaus gesetzlich geregelte Fälle des Schutzes des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis im allgemeinen Zivilrecht. 1. Bedingte Verfügung Wird von dem Rechtsinhaber über einen Gegenstand unter einer aufschiebenden Bedingung verfügt, so tritt die Wirkung der Verfügung erst mit dem Eintritt der Bedingung ein (§ 158 Abs. 1 BGB). Der Veräußerer bleibt deshalb zunächst weiterhin Rechtsinhaber.8 Er unterliegt aber einer Verfügungsbeschränkung9 dergestalt, dass im Falle des Eintritts der aufschiebenden Bedingung Zwischenverfügungen insoweit unwirksam sind, als sie die von der Bedingung abhängige Wirkung vereiteln oder beeinträchtigen würden (§ 161 Abs. 1 Satz 1 BGB). Veräußert also der Eigentümer seine bewegliche Sache unter einer aufschiebenden Bedingung, z. B. bei einem Verkauf der Sache unter Eigentumsvorbehalt, so bleibt er zwar bis zum Eintritt der Bedingung Eigentümer der Sache (Rechtsinhaber), verliert aber seine Verfügungsbefugnis in dem dargestellten Sinne. Bei einer anderweitigen Veräußerung der bereits bedingt übereigneten Sache durch den Eigentümer in der Schwebezeit an einen Dritten fehlt dem Eigentümer deshalb die Verfügungsbefugnis, so dass der Dritte das Eigentum nicht regulär erwirbt. Aber: Die Vorschriften zugunsten derjenigen, welche Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, finden entsprechende Anwendung (§ 161 Abs. 3 BGB), also die Bestimmungen für den gutgläubigen Erwerb. Die entsprechende Anwendung bezieht sich, da der bedingt Veräußernde Rechtsinhaber bleibt, nicht auf das fehlende Eigentum, sondern auf die fehlende Verfügungsbefugnis trotz gegebenen Eigentums. Bei einer Zwischenveräußerung des Vorbehaltsverkäufers glaubt der Dritte (Zwischenerwerber) nicht daran, dass der Vorbehaltsverkäufer ein in Wahrheit nicht bestehendes Eigentum an der Sache hat, sondern daran, dass der Vorbehaltsverkäufer als wirklicher Eigentümer (noch) keine anderweitige bedingte Verfügung vorgenommen und damit seine Verfügungsbefugnis nicht verloren hat. Die Regelung zeigt auf, dass es durchaus Gründe geben kann, den guten Glauben an die Verfügungsbefugnis zu schützen, hier die Interessen des Zwischenerwerbers, der die bedingte Verfügung nicht ohne weiteres erkennen kann. Zugleich wird deutlich, dass keineswegs davon auszugehen ist, dass ganz allgemein kein „Bedürfnis“ für den Gutglaubensschutz besteht. 8 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band, Das Rechtsgeschäft, 2. Aufl. 1975, § 39, 3b). 9 Flume, Fn. 8, § 39, 3a).
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2. Relative Verfügungsbeschränkungen Die Regelung über die aufschiebende Bedingung ist kein Einzelfall. Gesetzliche oder behördliche Veräußerungsverbote zugunsten bestimmter Personen (§§ 135, 136 BGB) führen zu einer Verfügungsbeschränkung und insoweit zum Verlust der Verfügungsbefugnis des Rechtsinhabers. In beiden Fällen wird der gutgläubige Erwerber vor der fehlenden Verfügungsbefugnis des Veräußerers geschützt (§§ 135 Abs. 2, 136 BGB). In gleicher Weise bezieht sich der öffentliche Glaube des Grundbuchs auf das Nichtbestehen relativer Verfügungsbeschränkungen, die aus dem Grundbuch nicht ersichtlich sind (§ 892 Abs. 1 Satz 2 BGB). Wiederum die gleiche Regelung gilt für Verfügungen des Schuldners nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen (§ 81 Abs. 1 Satz 2 InsO). Der gute Glaube bezieht sich dabei negativ auf das Fehlen einer Verfügungsbeschränkung, positiv auf das Bestehen der Verfügungsbefugnis; die Rechtsinhaberschaft ist jeweils tatsächlich gegeben, kann also nicht Bezugspunkt des guten Glaubens sein. Auf weitere gesetzliche Regelungen (z. B. § 2113 Abs. 3 BGB) soll hier nicht eingegangen werden. Festzustellen ist jedenfalls, dass es differenzierte Regelungen über den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis gibt. Es besteht daher kein Grund, dem Gutglaubensschutz außerhalb dieser Regelungen eine pauschale generelle Absage zu erteilen.
IV. Die Anscheinsermächtigung Unser Zivilrecht stellt, wenn eine Verfügungshandlung durch eine andere Person als den Rechtsinhaber vorgenommen werden soll, zwei verschiedene Gestaltungsformen zur Verfügung. Im Regelfall handelt die Person als Stellvertreter des Rechtsinhabers in dessen Namen mit Vertretungsmacht (Vollmacht; §§ 164 ff. BGB). Die Person kann aber auch im eigenen Namen die Verfügung vornehmen. Diese Verfügung ist wirksam, wenn sie mit einer Ermächtigung (Einwilligung) des Rechtsinhabers erfolgt (§ 185 Abs. 1 BGB). Die Ermächtigung verleiht eine Verfügungsbefugnis hinsichtlich des entsprechenden Rechtsgegenstandes des Rechtsinhabers. Fehlt die Vollmacht bzw. die Ermächtigung, so ist die Verfügung nicht wirksam. Damit stellt sich die Frage, ob dem Erwerber sein guter Glaube an die Vollmacht bzw. die Ermächtigung über deren Fehlen hinweghilft. Im Recht der Stellvertretung wird der gute Glaube an das Bestehen der Vollmacht in weitem Umfang geschützt. Im Gesetz sind drei Gestaltungen normiert, in denen der Gutglaubensschutz gewährt wird. Ist eine Vollmacht durch Erklärung gegenüber einem Dritten erteilt worden (Außenvollmacht), so bleibt sie dem Dritten gegenüber in Kraft, bis ihm das Erlöschen von dem Vollmachtgeber angezeigt wird (§ 170 BGB). Ist eine Bevollmächtigung durch eine besondere Mitteilung an einen Dritten oder durch öffentliche Bekanntmachung kundgegeben worden, so besteht eine Vertretungsbefugnis, bis die Kundgebung in derselben Weise, wie sie
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erfolgt war, widerrufen wird (§ 171 BGB). Hat der Vollmachtgeber dem Vertreter eine Vollmachtsurkunde ausgehändigt und hat der Vertreter sie dem Dritten, dem gegenüber die Vertretererklärung abgegeben wird, vorgelegt, so bleibt die Vertretungsmacht bestehen, bis die Vollmachtsurkunde dem Vollmachtgeber zurückgegeben oder für kraftlos erklärt wird (§ 172 BGB). In allen drei Fällen ist es trotz der nicht ganz genauen textlichen Fassung der Bestimmungen nicht so, dass die Vertretungsmacht bis zum jeweiligen Erlöschensereignis einfach wirksam bestehen bliebe. Die Vertretungsmacht erlischt vielmehr auch in den genannten Fällen auf die gewöhnliche Weise durch Widerruf (§ 168 BGB). Geschützt wird lediglich der gute Glaube des Dritten an das (weitere) Bestehen der Vollmacht, da nach § 173 BGB die Bestimmungen über das Weiterbestehen keine Anwendung finden, wenn der Dritte das Erlöschen der Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts kennt oder kennen muss.10 Dies setzt folgerichtig voraus, dass das Erlöschen der Vertretungsmacht bereits vorher eingetreten ist. Obwohl § 173 BGB nur das Erlöschen der Vertretungsmacht behandelt, sind die §§ 170 bis 173 BGB auch anwendbar, wenn die Vertretungsmacht von vornherein nicht entstanden ist.11 Der Dritte ist unter den Voraussetzungen der Bestimmungen in gleicher Weise schutzwürdig. Geschützt werden also der gute Glaube an das Entstandensein der Vollmacht und der gute Glaube an das Nichterlöschen einer entstandenen Vollmacht. Die gesetzliche Regelung in §§ 170 bis 173 BGB ist seit langem als für die praktischen Bedürfnisse unzureichend erkannt und durch die Anerkennung der Rechtsscheinvollmacht (Anscheinsvollmacht) ergänzt worden.12 Danach kann sich der Vertretene ganz allgemein auf den Mangel der Vertretungsmacht nicht berufen, wenn er in zurechenbarer Weise den Rechtsschein einer Bevollmächtigung gesetzt hat und der Dritte auf das Bestehen der Vollmacht vertrauen durfte. Insgesamt ergibt sich damit ein umfassender Schutz des guten Glaubens an das Bestehen der Vertretungsmacht. Die Regelung über die durch eine Ermächtigung des Rechtsinhabers entstehende Verfügungsbefugnis in § 185 Abs. 1 BGB enthält keine Bestimmungen über einen Schutz des guten Glaubens. Überhaupt ist die gesetzliche Regelung über die Verfügungsbefugnis im Vergleich zur Regelung über die Stellvertretung arg stiefmütterlich behandelt worden. Es liegt auf der Hand, dass sich die Fragen, die in §§ 170 bis 173 BGB beantwortet werden, auch für die Verfügungsbefugnis stellen (von den anderen im Stellvertretungsrecht geregelten Problemkreisen einmal ganz abgesehen). Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein Rechtsinhaber eine Urkunde ausstellt, die keine Vollmachtsurkunde ist (sodass § 172 BGB nicht unmittelbar anwendbar ist), sondern eine Einwilligung nach § 185 Abs. 1 BGB (Verfügungs10 Die gegenüber § 932 Abs. 2 BGB andere Definition des guten Glaubens in § 173 BGB ist für die Einordnung als Regel des Gutglaubensschutzes ohne Bedeutung. 11 Schramm in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2006, § 173 Rn. 9. 12 Näher dazu Schramm in Münchener Kommentar zum BGB, Fn. 11, § 167 Rn. 57 ff. m. w. N.
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ermächtigung) enthält, die Einwilligung später widerrufen worden ist (§ 183 BGB), die zurückbehaltene Urkunde aber dem gutgläubigen Dritten anlässlich der Verfügung vom Veräußerer vorgelegt wurde. Geht man davon aus, dass der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis außerhalb von § 366 HGB nicht geschützt wird, müsste die Verfügung über die Sache (Eigentumsübertragung) unter den genannten Voraussetzungen als unwirksam angesehen werden, da die Verfügungsbefugnis infolge des wirksamen Widerrufs der Ermächtigung fehlt. Dies würde zu einer Regelung führen, die derjenigen des Rechts der Stellvertretung diametral entgegengesetzt ist. Dafür gibt es indessen keinen plausiblen Grund. Die §§ 170 bis 173 BGB dienen als spezielle Vertrauensschutztatbestände dem allgemeinen Verkehrsschutz und weisen das Risiko, dass von einer nicht bestehenden Vollmacht Gebrauch gemacht wird, demjenigen zu, der es beherrschen kann. Geht es nicht um eine Vollmacht, sondern um eine durch Ermächtigung begründete Verfügungsbefugnis, so ist die Interessenlage hinsichtlich der Tragung des Risikos keine andere als bei der Stellvertretung. Der Rechtsinhaber setzt den Rechtsschein einer (weiter) bestehenden Verfügungsbefugnis, solange er nicht die Urkunde aus dem Verkehr zieht. Der Dritte, demgegenüber die Verfügung vorgenommen wird, hat keine anderen Erkenntnismöglichkeiten als wie bei einer Stellvertretung. Der Unterschied beider Gestaltungen liegt darin, dass der Stellvertreter im fremden Namen handelt, der Verfügende aber im eigenen Namen. Dies ist ein rechtstechnisch bedeutender Unterschied; für die Interessenbewertung ist er aber belanglos. Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis ist demzufolge in gleicher Weise wie im Recht der Stellvertretung zu schützen durch eine analoge Anwendung der Bestimmungen in §§ 170 bis 173 BGB. Dies wird im Schrifttum fast13 durchweg so gesehen,14 auch wenn dieser Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis in den Darstellungen des gutgläubigen Erwerbs nach §§ 932 ff. BGB nicht hinreichend behandelt wird. Neu ist die Erkenntnis ohnehin nicht. In § 127 Abs. 3 des Ersten Entwurfs zum BGB15 war noch ausdrücklich die entsprechende 13 Anderer Meinung war früher v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band, Zweite Hälfte, 1918, S. 224 in Anm. 94. Seine Stellungnahme ist aber unklar und wenig begründet. 14 Z. B. Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Halbband, 15. Aufl. 1960, S. 1239 (die dort zitierte Entscheidung RG JW 1928, 1367 besagt über die Thematik nichts); Flume, Fn. 8, § 55; Larenz / Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, S. 934; Schramm in Münchener Kommentar zum BGB, Fn. 11, § 182 Rn. 12 (die dort und auch sonst im Schrifttum vielfach zitierte Entscheidung BGH WM 1964, 224, 225 besagt zum Thema nichts); Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 70 f.; Doris, Die rechtsgeschäftliche Ermächtigung bei Vornahme von Verfügungs-, Verpflichtungs- und Erwerbsgeschäften, 1974, S. 185; Köhler, BGB, Allgemeiner Teil, 32. Aufl. 2008, S. 193; Staudinger / Gursky, BGB, Neubearbeitung 2004, § 182 Rn. 20 f. m. w. N. 15 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (erste Lesung), Amtliche Ausgabe 1888, S. 30. Siehe dazu die Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Band I, Amtliche Ausgabe 1888, S. 246.
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Anwendung der Vertretungsregeln auf das Erlöschen der Einwilligung vorgesehen worden. Gesetz ist dies nicht geworden, wohl infolge eines Versehens des Gesetzgebers.16 Man hat die entstandene Lücke daher schon früh durch die Analogie zu §§ 170 bis 173 BGB geschlossen.17 Die Grundsätze der später entwickelten Lehre von der Rechtsscheinvollmacht sind aus den gleichen Gründen ebenfalls auf die durch eine Ermächtigung begründete Verfügungsbefugnis anzuwenden18 (Anscheinsermächtigung). Es lässt sich daher feststellen: Der Satz, der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis werde im allgemeinen Zivilrecht im Gegensatz zum guten Glauben an das Eigentum nicht geschützt, ist nicht richtig, auch nicht im Bereich des gutgläubigen Erwerbs beweglicher Sachen. Auf der Grundlage eines relevanten Rechtsscheins findet der Schutz durchaus statt. Allenfalls lässt sich sagen, dass der Schutz nicht in der gleichen Weise besteht wie nach §§ 932 ff. BGB der Schutz des guten Glaubens an das Eigentum.19 Das ist aber inhaltlich eine ganz andere Aussage.
V. Der Rechtsschein Der Schutz des guten Glaubens setzt regelmäßig einen Rechtsschein voraus, auf den eine Person vertraut und vertrauen darf. Die Anscheinsermächtigung basiert nicht wie der gute Glaube an das Eigentum des Besitzers der Sache auf einem bestimmten gesetzlich festgelegten und damit vorgegebenen Rechtsschein. Notwendig, aber auch ausreichend ist lediglich, dass überhaupt ein zurechenbarer Rechtsschein gesetzt wurde. Es ist dabei zunächst bedeutungslos, welcher Art der Rechtsschein ist, d. h. woraus er sich ergibt. Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis wird daher nach Rechtsscheingrundsätzen in einem sehr allgemeinen Sinne geschützt. Für den Erwerb des Eigentums an beweglichen Sachen stellt sich die Frage, ob und wie die Konkretisierung des Rechtsscheins im Hinblick auf den Besitz (§ 932 BGB) und die Veräußerung im kaufmännischen Betrieb (§ 366 HGB) erfolgen kann.
16 Die im Entwurf vorgesehene Regelung sollte beibehalten werden: Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band I., 1897, S. 178. 17 Merten, Einwilligung beim unwirksamen Rechtsgeschäft, Diss. Jena 1913, S. 82. 18 Canaris, Fn. 14, S. 71 f.; Staudinger / Gursky, Fn. 14, § 182 Rn. 21 mwN; Doris, Fn. 14, S. 185 f.; Köhler, Fn. 14, S. 193; Schramm in Münchener Kommentar zum BGB, Fn. 11, § 182 Rn. 12. 19 So Canaris, Fn. 14, S. 72.
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1. Der Besitz Im Bereich des gutgläubigen Eigentumserwerbs nach §§ 932 ff. BGB bewirkt der Besitz der Sache den Rechtsschein, auf dem der gutgläubige Erwerb beruht. Soweit die Ablehnung des Gutglaubensschutzes bezüglich einer Verfügungsbefugnis überhaupt sachlich begründet wird, stellt man darauf ab, dass der Besitz über eine Ermächtigung nichts aussage und deshalb insoweit keinen Rechtsschein entstehen lasse.20 In der Tat wird man nicht allgemein davon ausgehen können, dass ein Besitzer der Sache, bei dem bekannt ist, dass er kein Eigentümer ist, eine Verfügungsbefugnis von dem Eigentümer erhalten hat. Schließlich besagt der Besitz der Sache auch nichts darüber, ob der Besitzer eine Vollmacht des Eigentümers hat, über die Sache als Stellvertreter zu verfügen. Daraus folgt aber nicht, dass der Besitz der Sache für den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis ohne Bedeutung ist. Eine tatsächlich bestehende Verfügungsbefugnis muss auf den Rechtsinhaber (oder eine Person, die für den Rechtsinhaber oder statt des Rechtsinhabers handlungsbefugt ist) rückführbar sein, bei beweglichen Sachen auf den Eigentümer als originär Verfügungsbefugten. Es geht also, wie bereits bemerkt (oben II.), primär nicht um das Eigentum, sondern um die aus dem Eigentum abgeleitete Verfügungsbefugnis. Dies hat Auswirkungen für die Gestaltung, dass der Erwerber zwar weiß, dass der Veräußerer kein Eigentümer ist, er aber darauf vertraut, dass ein die Sache besitzender Dritter, der seine Einwilligung zur Veräußerung erteilt hat, Eigentümer der Sache ist. Einen solchen Fall hatte der Bundesgerichtshof zu entscheiden.21 Ein Verkäufer hatte seinen Bagger unter Eigentumsvorbehalt bis zur vollständigen Zahlung des Kaufpreises an den Käufer geliefert. Der Käufer übertrug sein durch die bedingte Übereignung entstandenes Anwartschaftsrecht auf Erwerb des Eigentums sicherungshalber an einen seiner Gläubiger (Fiskus). Danach schloss er mit einer Bank einen Sicherungsübereignungs- und Verwahrungsvertrag über den Bagger ab. Die Bank zahlte abredegemäß den restlichen Kaufpreis an den Verkäufer und ließ sich von ihm das Eigentum übertragen.22 Der Bundesgerichtshof nimmt an, dass durch die Zahlung des Restkaufpreises und den damit verbundenen Bedingungseintritt der Gläubiger des Käufers infolge des von ihm erworbenen Anwartschaftsrechts Eigentümer des Baggers geworden war. Der Verkäufer habe daher als Nichtberechtigter verfügt, als er den Bagger an die Bank übereignete. Dies könne aber grundsätzlich wirksam sein, da die §§ 932 ff. BGB auch zur Anwendung gelangten, wenn der Erwerber gutgläubig einen der Veräußerung zustimmenden Dritten (vorliegend den Käufer) für den Eigentümer hält.23 20 Heck, Fn. 7, § 58a) II. 2., S. 247, der sich dafür auf eine fehlende Verkehrsanschauung beruft. 21 BGH, Urt. v. 5. Mai 1971, VIII ZR 217 / 69, BGHZ 56, 123 ff. 22 So jedenfalls das Verständnis des Sachverhalts durch den Bundesgerichtshof. Ob dies den Vereinbarungen der Parteien entsprach, sei hier offen gelassen.
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Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Indessen geht es in erster Linie nicht um den guten Glauben an das Eigentum des Dritten. Der Erwerber will und soll das Eigentum durch die Verfügung des Veräußerers erwerben, die der Veräußerer im eigenen Namen vornimmt, also für sich selbst. Damit dies wirksam geschehen kann, bedarf es einer Verfügungsbefugnis des Veräußerers. Wenn der Erwerber den Veräußerer nicht gutgläubig für den Eigentümer hält, ergibt sich eine Verfügungsbefugnis nicht, wie im Regelfall, aus dem angenommenen Eigentum des Veräußerers. Sie ergibt sich erst aus einer Rückführung auf eine andere Person unter zwei weiteren Voraussetzungen, dass nämlich diese andere Person gutgläubig als Rechtsinhaber angesehen wird und sie durch ihre Einwilligung die Verfügungsbefugnis des Veräußerers scheinbar begründet. Für diesen Rechtsschein bedarf es des Besitzes des Dritten,24 weil erst damit ein Rechtsschein für dessen Eigentum und damit auch ein Rechtsschein für die von ihm erteilte Verfügungsbefugnis besteht. Der Besitz des Dritten entfaltet also einen zweifachen Rechtsschein: für sein Eigentum und für die Wirksamkeit der von ihm erteilten Verfügungsbefugnis. Hierauf bezieht sich der gute Glaube des Erwerbers. Man könnte hiergegen einwenden, dass der Rechtsschein einer wirksamen Ermächtigung durch die Tatsache der Einwilligung des besitzenden Nichteigentümers hervorgerufen wird und dieser Rechtsschein dem wahren Eigentümer nicht zurechenbar ist. Darauf kommt es indessen nicht an. Ein Eigentümer der Sache, der den unmittelbaren Besitz nicht ausübt, ist stets der Gefahr des Verlustes seines Eigentums durch einen gutgläubigen Erwerb ausgesetzt, auch wenn er keinen weiteren Rechtsschein setzt. Dies liegt an der etwas rigorosen Regelung in § 932 BGB, wonach der schlichte Besitz – vorbehaltlich des § 935 BGB – eine ausreichende Legitimationsgrundlage für den gutgläubigen Erwerb darstellt. Zugunsten des gutgläubigen Erwerbers wird der Besitzer wie ein Eigentümer behandelt. Dies ermöglicht außer einer Veräußerung durch ihn selbst die Veräußerung durch einen Dritten im Wege der Ermächtigung nach § 185 Abs. 1 BGB. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, dass nicht auf den Besitz des Veräußerers abzustellen ist, sondern auf den Besitz des Dritten, obwohl der Veräußerer in einem viel engeren rechtsgeschäftlichen Kontakt zu dem Erwerber steht als der Dritte. In der Tat ist im Schrifttum die Ansicht vertreten worden, auch der Besitz des Veräußerers „und seine Verweisung auf den Dritten“ sei ein ausreichender Vertrauenstatbestand.25 Indessen erzeugt die Verweisung eines die Sache besitzenden Nichteigentümers auf einen beliebigen Dritten keinerlei Rechtsschein, weder bezüglich des Veräußerers noch bezüglich des Dritten. Ist der der Verfügung zustimmende nichtberechtigte Dritte kein Besitzer, fehlt es daher an jedem Rechts23 BGH BGHZ 56, 123, 129. Ebenso schon Heck, Fn. 7, § 58a) II. 2., S. 47, der sich aber nicht zum Erfordernis des Besitzes äußert. 24 So auch BGH BGHZ 56, 123, 129. 25 Harry Westermann, Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, S. 226. Die Ansicht ist später aufgegeben worden: Westermann / Gursky, Fn. 2, S. 375 m. w. N.
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schein für eine von ihm wirksam erteilte Verfügungsbefugnis. Die Tatsache der Einwilligung in die Verfügung begründet allein keinen Rechtsschein für deren rechtliche Wirksamkeit. Ein beliebiger Dritter kann keine wirksame Einwilligung nach § 185 Abs. 1 BGB erteilen, so dass sich der Erwerber allein auf eine derartige Einwilligung nicht verlassen kann und darf. Die der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde liegende Gestaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Ermächtigung durch den besitzenden Nichteigentümer tatsächlich erteilt worden war und sich daran bis zum Eigentumserwerb nichts geändert hatte. Möglich, wenn auch nicht sonderlich wahrscheinlich, ist aber auch eine Gestaltung, bei der die Ermächtigung fehlt, der Erwerber sie aber gutgläubig annimmt. Zu denken ist etwa an den Fall, dass der die Sache besitzende Nichteigentümer dem Veräußerer eine Urkunde über die Ermächtigung aushändigt und die Ermächtigung später widerruft, der Veräußerer aber die zurückbehaltene Urkunde dem gutgläubigen Erwerber vorlegt. Wäre der Besitzer in diesem Falle Eigentümer, so stünde dem gutgläubigen Erwerb nichts im Wege. Es liegt eine Anscheinsermächtigung vor. Der gute Glaube des Erwerbers an das (weitere) Bestehen der widerrufenen Ermächtigung wird analog §§ 172, 173 BGB geschützt. Ist der Besitzer nicht Eigentümer, muss der gutgläubige Erwerb ebenfalls anerkannt werden. Es liegt wiederum ein zweifacher guter Glaube vor: Der gute Glaube an das Eigentum des Besitzers wird nach §§ 932 ff. BGB geschützt, der gute Glaube an die Ermächtigung analog §§ 172, 173 BGB. Durch die Zulassung des gutgläubigen Erwerbs werden die Interessen des Rechtsinhabers stark zurückgesetzt. Der gute Glaube bedarf deshalb im einzelnen Fall einer genauen Prüfung. Im privaten Rechtsverkehr ist die Verfügung im eigenen Namen über eine fremde Sache mit Einwilligung des Eigentümers nicht gerade der Regelfall. Es besteht daher im Allgemeinen kein Anlass für den Erwerber, eine derartige Verfügungsbefugnis anzunehmen. Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um von einer solchen Gestaltung des guten Glaubens ausgehen zu können. 2. Die Veräußerung im kaufmännischen Gewerbebetrieb Nach § 366 Abs. 1 HGB wird der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis eines Kaufmanns geschützt, wenn der Kaufmann eine bewegliche Sache im Betriebe seines Handelsgewerbes veräußert. Die gesetzliche Regelung betrifft insbesondere26 das Kommissionsgeschäft, bei dem der Kommissionär die Ware im eigenen Namen veräußert, das Geschäft aber auf fremde Rechnung geht (§ 383 Abs. 1 HGB). Infolge des Fehlens des das Stellvertretungsrecht prägenden Offenkundigkeitsprinzips (§ 164 Abs. 1 BGB) kann der Kommittent beim Kommissionsgeschäft weitgehend unerkannt bleiben, indem der Kommissionär bei der Verkaufskommission 26 Die Regelung findet nach § 406 Abs. 1 HGB auch Anwendung, wenn ein Kommissionär ein anderes als ein Kommissionsgeschäft vornimmt oder ein Nichtkommissionär ein Kommissionsgeschäft tätigt.
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die Sache dem Käufer im eigenen Namen wirksam übereignet (§§ 929 Abs. 1, 185 Abs. 1 BGB). Ist der Kommittent nicht der Eigentümer und konnte er deshalb dem Kommissionär keine wirksame Einwilligung in die Veräußerung erteilen, hilft dem Käufer sein guter Glaube an das Bestehen der Einwilligung und damit die Verfügungsbefugnis des Kommissionärs. Es ist nicht der Besitz der verkauften Sache, der hier den Gutglaubensschutz bei der Übereignung legitimiert. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass der Kommittent Besitzer der Sache ist und der Käufer ihn kennt und gutgläubig für den Eigentümer hält, so dass die oben IV. 1. behandelte Gestaltung vorliegt. Im Regelfall wird aber dem Käufer die Person des Kommittenten unbekannt bleiben, weil die Lieferung der Sache durch den Kommissionär erfolgt, dieser also selbst Besitzer der Ware ist. Dieser Besitz begründet allein keinen Rechtsschein für eine Verfügungsbefugnis des Kommissionärs (oben IV. 1.) und kann daher den Gutglaubensschutz nicht legitimieren. Der Unterschied zwischen der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und derjenigen in § 366 HGB liegt darin, dass die Veräußerung im letzteren Falle im Betriebe des Handelsgewerbes erfolgt. Hierin ist mithin die Legitimation für den Gutglaubensschutz zu suchen. Dabei kommt es nicht einmal darauf an, dass gerade ein Handelsgewerbe vorliegt, also ein kaufmännischer Gewerbebetrieb. Nach § 383 Abs. 2 Satz 2 HGB gilt § 366 HGB auch dann, wenn ein Kleingewerbetreibender handelt, der weder nach § 1 HGB noch nach § 2 HGB Kaufmann ist. Als Legitimationsgrundlage bleibt daher nur die Veräußerung im Rahmen eines Gewerbebetriebes übrig. Die Gesetzesverfasser sahen den entscheidenden Aspekt in der Häufigkeit der mit einem handelsrechtlichen Vertragsverhältnis begründeten Verfügungsbefugnis.27 Die Pauschalität dieser Annahme ist zwar im Schrifttum mit Recht kritisiert worden,28 da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Gewerbetreibenden unabhängig von dem Gegenstand ihres Gewerbes eine Verfügungsbefugnis über fremde Sachen haben. Jedenfalls ist aber festzustellen, dass die Legitimationsgrundlage für den Gutglaubensschutz in § 366 HGB wesentlich schwächer ist als bei den anderen Gestaltungen. Im Rahmen der §§ 170 bis 173 BGB, bei der Anscheinsermächtigung und bei der Zustimmung eines besitzenden Dritten bezieht sich der Rechtsschein jeweils konkret auf eine bestimmte Sache dergestalt, dass gerade für diese Sache ein besonderer Zusammenhang mit einem Rechtsschein besteht (Kundbarmachung; Urkunde; zurechenbares Verhalten; Besitz des Dritten), ein Rechtsschein mithin, der konkret feststellbar ist. Daran fehlt es bei § 366 HGB: Der Rechtsschein besteht lediglich in der Erwartung, es werde im Gewerbetrieb schon alles mit rechten Dingen zugehen. Eine so begründete Regelung ist alles andere als geeignet, den Umkehrschluss zu rechtfertigen, dass der Gutglaubensschutz im allgemeinen Zivilrecht nicht zu gewährleisten sei. Allenfalls lässt sich sagen, dass eine private Veräußerung außerhalb eines Gewerbe27 28
Denkschrift zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs, 1896, S. 207 f. Staub / Canaris, HGB, 4. Aufl. 2004, § 366 Rn. 3 ff. m. w. N.
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betriebes infolge fehlender Häufigkeit kein Bedürfnis für einen pauschalen Gutglaubensschutz weckt. Ein solcher wird eben auch nicht gewährt. Er setzt vielmehr einen weit über § 366 HGB hinausgehenden Rechtsschein voraus. Hierin findet er seine unangreifbare Legitimation und erweist sich als sogar stärker legitimiert als der Schutz nach § 366 HGB.
VI. Zusammenfassung 1. Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis bei der Veräußerung einer beweglichen Sache wird in erheblichem Ausmaß von der Rechtsordnung geschützt. 2. Bei einem Erwerb vom Nichtberechtigten bezieht sich der gute Glaube des Erwerbers weniger auf die Rechtsinhaberschaft des Veräußerers als solche als vielmehr auf die daraus abzuleitende Verfügungsbefugnis. 3. Über die gesetzlich geregelten Fälle des Schutzes des guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis des Veräußerers hinaus besteht ein allgemeiner Schutz entsprechend den für die Rechtsscheinvollmacht bestehenden Regeln. 4. Bezieht sich der gute Glaube des Erwerbers darauf, dass ein der Verfügung des Veräußerers zustimmender Dritter Eigentümer ist, so bedarf es für den Schutz des guten Glaubens des durch den Besitz des Dritten vermittelten Rechtsscheins. 5. Auch der gute Glaube an eine tatsächlich nicht bestehende Zustimmung des die Sache besitzenden Dritten kann zu einem wirksamen Erwerb der Sache führen, wenn der Rechtsschein einer Zustimmung erzeugt wird. 6. Das künftige Schicksal der Büste der Nofretete wird durch die beschriebenen Regeln nicht beeinflusst.
Die ganze Wahrheit?* Von Heike Jung I. Einleitung Wahrheit ist mehr als nur ein Leitprinzip im Recht und im Verfahren, in der Wissenschaft, in der Politik und im sozialen Alltag, Wahrheit ist ein wesentlicher, für viele der wesentliche moralische Wert für die Menschheit.1 Wir verbinden Wahrheit mit Anständigkeit und Verlässlichkeit, aber auch mit Fortschritt. In vielen Zusammenhängen ist „wahr“ der ultimative (Qualitäts-)Test. In diesem Sinne sprechen wir auch von wahrer Kunst oder auch der Wahrheit in der Kunst. Nun ist der Rang der Wahrheit in der moralischen Werteskala nicht unangefochten. Hobbes’ berühmte Feststellung „auctoritas, non veritas facit legem“ zeigt, dass es Rivalen für diese Position und damit auch für die mit der Wahrheitsfrage unmittelbar verknüpfte Legitimationsfrage gibt. Jedenfalls müssen wir auf Abwägungsprozesse vorbereitet sein. Es mag gute, besser vielleicht, nachvollziehbare Gründe dafür geben, sich nicht an die Wahrheit zu halten. Die Wahrheit kann im Einzelfall zerstörerisch wirken.2 Der deutsche Jurist verweist in diesem Zusammenhang gerne zusammenfassend auf die vom Bundesgerichtshof geprägte Formel, wonach die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muss.3 Man merkt: Hier ist nicht der Rechtsphilosoph der Wahrheit im Recht4 auf der Spur, sondern der Prozessualist fragt nach der Wahrheit im Prozess. Dies soll nicht heißen, dass wir theoretischen „Ballast“ abwerfen können oder wollen. Die * Ich widme den Beitrag Wilfried Fiedler, der für mich nicht nur ein überaus anregender Gesprächspartner in fachlichen Fragen, sondern vor allem ein wahrer Freund ist. Der Beitrag knüpft an frühere Überlegungen an (Nothing But the Truth? Some Facts, Impressions and Confessions about Truth in Criminal Procedure, in: A. Duff et al. (Hrsg.), The Trial on Trial, Vol I, Truth and Due Process, Hart, Oxford / Portland 2004, S. 147) und führt diese fort. Insofern lässt einen dieses Thema – und dies gilt nicht nur für mich – nicht los. Vgl. auch neuerdings Jung, Über die Wahrheit und ihre institutionellen Garanten, JZ 2009, S. 1129. 1 Erhellend hierzu Frankfurt, Über die Wahrheit, Hanser, München 2006. 2 Hieraus erklärt sich auch die medizinethische Diskussion über „Wahrheit am Krankenbett“, vgl. den gleichnamigen Beitrag von von Lutterotti / Sporken, in: Eser / von Lutterotti / Sporken (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Herder, Freiburg 1989, S. 1235. 3 BGHSt 14, 358 (365). 4 Beispielhaft hierfür Neumann, Wahrheit im Recht, Nomos, Baden-Baden 2004; vgl. auch J. Schmidt, Noch einmal: Wahrheitsbegriff und Rechtswissenschaft, JuS 1973, S. 204.
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(rechts)philosophische Auseinandersetzung um den Wahrheitsbegriff kann man nicht einfach ausklammern.5 Es geht einzig darum, deutlich zu machen, dass der Fokus der Betrachtung auf die Feststellung der Wahrheit über ein tatsächliches Geschehen gerichtet ist. Wir wissen längst, dass die Wahrheit nicht „gefunden“, sondern (re)konstruiert, überspitzt könnte man sagen, „erfunden“ wird.6 Diese Erkenntnis sollte uns von vornherein vor Frustrationen bewahren. Absolute Korrespondenz zwischen dem historischen Faktum und seiner Rekonstruktion ist nicht zu erreichen, womit noch nicht gesagt ist, dass wir Korrespondenz als Zielprojektion für diesen Prozess abschreiben müssten. Das Modell der (Re-)Konstruktion impliziert jedenfalls ein reduziertes Programm, was möglicherweise den Umgang mit inhärenten Grenzen und gegenläufigen Interessen erträglicher macht. Wahrheitsfindung im Prozess verweist uns darüber hinaus auf die verschiedenen Verfahrenstypen mit ihrer konzeptionellen Ausrichtung. Zugespitzt geht es dabei – um mit Hassemer zu sprechen – um Prozeduren und nicht um die Wahrheit an sich.7
II. Wahrheit und Verfahrensziele Die Emanzipation des Prozessrechts gegenüber dem materiellen Recht zählt zu den bedeutsamsten rechtstheoretischen Entwicklungen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten.8 Der weltweite Siegeszug des Fairness-Begriffs dürfte hier als Motor gewirkt haben.9 Damit einher geht eine Debatte um die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs. Nachdem nunmehr die Verständigung im Strafprozess hoffähig geworden ist, hat diese Auseinandersetzung insofern noch eine Zuspitzung erfahren, als nicht mehr die Instrumentalisierung der Wahrheit, sondern deren Verabschiedung als Voraussetzung einer gerechten Entscheidung in Rede zu stehen scheint. 5 Vgl. z. B. die entsprechende Dramaturgie der Beiträge von Grasnick, Wahres über die Wahrheit – auch im Strafprozeß, in: 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, R. v. Decker Verlag, G. Schenk, Heidelberg 1993, S. 55 und Hilgendorf, Der Wahrheitsbegriff im Strafrecht am Beispiel der Aussagetheorien (§§ 153 ff. StPO), GA 1993, S. 547. 6 Abschließend: Volk, Diverse Wahrheiten, in: Festschrift für Salger, Heymanns, Köln 1995, S. 411, 415: „Es ist heute nicht weiter zweifelhaft, daß es „nicht nur eine ,gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ gibt, sondern auch eine juristische“. 7 Hassemer, Prozeduralisierung, Wahrheit und Gerechtigkeit, in: M. Pieth / K. Seelmann (Hrsg.), Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht. Kolloquium zum 70. Geburtstag von Detlef Krauß, Helbing & Lichtenhahn, Basel 2006, S. 9, 18 f. 8 Neumann, Materiale und prozedurale Gerechtigkeit, ZStW 101 (1989), S. 52; vgl. auch dens., Funktionale Wahrheit im Strafverfahren, in: L. Philipps / H. Scholler (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, Müller, Heidelberg 1989, S. 72. 9 Vgl. auch Hörnles Variation über dieses Thema: „Justice as Fairness“. Ein Modell auch für das Strafverfahren?, Rechtstheorie 2004, S. 175.
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Nun hat Neumann eingangs seiner Saarbrücker Antrittsvorlesung die objektive Wahrheit als Voraussetzung einer gerechten Entscheidung verteidigt.10 Diesem Modell der „Legitimation durch Wahrheit“ stellt Luhmann sein Modell der „Legitimation durch Verfahren“11 gegenüber. Neumann hält prompt gegen die damit verbundene Entkopplung des prozeduralen Programms vom materialen Recht. Allerdings räumt er ein, dass das Verfahrensmodell der Systemtheorie für die Rechtswissenschaft Anlass sein könnte, den Stellenwert von Regeln prozeduraler Gerechtigkeit neu zu bestimmen. In der Tat läuft dies auf die Frage hinaus, ob die moralische Rückversicherung des Rechts von der Bestätigung der objektiven Wahrheit, also davon abhängt, dass das Ergebnis mit dem materiellen Recht übereinstimmt, oder davon, dass die Verfahrensregeln eingehalten worden sind, oder von beidem.12 Jackson optiert für das legitimatorische Eigengewicht der Verfahrensregeln und umschreibt dies wie folgt: „. . . Verdicts cannot be publicly sanctioned by the legal system unless they have been constituted in a lawful manner . . . But the system cannot condone gross violations of its own rules of process as it is only through compliance with them that it is able to pronounce that a verdict is both lawful and enforceable“. Der Anthropologe Rosen hat dies ins Institutionelle gewendet, wenn er von der kreativen Gestaltungsmacht der Gerichte spricht und von der Macht des Rechts, „to make things by declaring them so.“13 Er fährt dann fort, als ob er Neumanns und Luhmanns Positionen miteinander versöhnen wollte: „There always remains this curious relationship between the ability of the law to make things so by saying they are so and the evident need to perform this task in a way that remains broadly consonant with the sources of the judiciary’s own legitimacy.“14 Rosens ethnologischen Forschungen über die Kadijustiz mag man auch entnehmen, dass das Konzept der „Legitimation durch Verfahren“ nur eine spezifische Variante des allgemeineren Paradigmas darstellt, wonach die Relevanz der Wahrheit im Verfahren von dessen Zielen, näherhin von der Rolle des Verfahrens selbst bei der Regelung von Konflikten abhängt. Z. B.: Wenn das Verfahren, wie dies Rosen für den Fall der Kadijustiz postuliert, darauf zielt, die zerbrochenen Beziehungen wenigstens soweit wiederherzustellen, dass die Beteiligten wieder miteinander reden, dann kann die Erforschung der Wahrheit hinter dem Beziehungsaspekt zurücktreten Neumann, Materiale und prozedurale Gerechtigkeit (Fn. 8), S. 53 ff. Erstmals publiziert 1969. Vgl. auch die Kritik von Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: Festschrift für Schaffstein, Schwartz, Göttingen 1975, S. 411, 420. 12 Jackson, Managing Uncertainty and Finality: The Function of the Criminal Trial in Legal Inquiry, in: A. Duff et al. (Hrsg.), The Trial on Trial, Vol I, Truth and Due Process, Hart, Oxford / Portland 2004, S. 121, 124. Ähnlich schon Arenella, Rethinking the Functions of Criminal Procedure: the Warren and Burger Courts’ Competing Ideologies, Georgetown Law Journal 72 (1983), No. 2, S. 185, 200. 13 Rosen, The Anthropology of Justice, Cambridge University Press, Cambridge 1989, S. 20. 14 Rosen ebenda. 10 11
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bzw. kann dieser nach einer bestimmten Vorgehensweise verlangen. Dies gilt gleichermaßen für mediative Verfahrensformen. Nicht von ungefähr führt auch die prozessuale Umsetzung des Resozialisierungsmodells zu Friktionen in dem tendenziell retrospektiv orientierten Strafprozess.15 Das Wirken der südafrikanischen Commission for Truth and Reconciliation, die zwischen einer „factual and forensic“, „social“, „personal and narrative“ und einer „healing and restorative truth“ unterscheidet,16 hat diesen Umstand besonders deutlich hervortreten lassen. Verfahren werden nicht am Reißbrett entworfen und dann mechanisch abgewickelt. Sie betreffen Menschen, belasten Menschen. Wir erwarten, dass sie ergebnisoffen ablaufen. Es gelten Regeln des fairen Umgangs mit allen Beteiligten, Beschuldigten, Verletzten, Zeugen. Die Prozessmodelle müssen dem Rechnung tragen. Insbesondere Fragen des Persönlichkeitsschutzes, mit dem Nachdruck der Art. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK versehen, fließen in die Modellierung des Verfahrens ein, was sich nicht ohne Abstriche am Programm der Wahrheitsfindung bewerkstelligen lässt. Das Beweisrecht ist das klassische Exerzierfeld für die hier erforderlichen Abwägungsprozesse. Beweisverbote, „nullité“, „exclusionary rules“ lauten die begrifflichen Umschreibungen für jene Zurückhaltung der staatlichen Strafrechtspflege, die dieser – mehr als schnelle Erfolge – erst Glaubwürdigkeit verleiht. Das anglo-amerikanische Prozessrecht hat sich zwar traditionell leichter getan im Umgang mit solchen tendenziell der Wahrheitsfindung zuwiderlaufenden Interessen, aber speziell die Beweisverbote konnten sich auch in inquisitorisch angelegten Verfahren schlussendlich durchsetzen.17 Gezielte Anfechtungen – wie etwa die derzeit zu beobachtende Erosion des Folterverbots – zeigen freilich, dass wir nicht nachlassen dürfen, für die Richtigkeit der Hassemer’schen These zu werben, wonach es sich dabei nicht um lästige Fesseln für den Prozess der Wahrheitsfindung handelt, vielmehr dessen normative Formalisierung eine sozialpsychologisch wohl begründete Notwendigkeit ist.18 Damit sind wir mitten in dem klassischen Antagonismus zwischen „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ und „schützenden Formen“ oder zwischen – so Packers vergleichbare Gegenüberstellung – „crime control“ und „due pro15 Näher dazu Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1971, S. 257. 16 Truth and Reconciliation Commission of South Africa, Report, Juta, Cape Town 1998, Bd. 1, S. 111 – 114. 17 Dazu Weigend, Is the Criminal Process About the Truth?, Harvard Journal of Law and Public Policy 26 (2003), S. 157, 168. Als Meilenstein für die Entwicklung Deutschlands kann hier die Entscheidung BGHSt 38, 214 gelten, mit der der BGH die Verletzung von Belehrungspflichten mit einem Beweisverbot belegt hat. 18 Hassemer, Konstanten kriminalpolitischer Theorie, in: Festschrift für Lange, de Gruyter, Berlin / New York 1976, S. 501. Die sozialpsychologische Absicherung liefert Tyler, Why People Obey the Law?, Princeton University Press, Princeton / Oxford 2006. Mehr dazu bei Jung, Der sozialpsychologische Gehalt des Formalisierungskonzepts, in: Festschrift für Hassemer, Müller, Heidelberg 2010, S. 73.
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cess“.19 Während „crime control“ dahin tendiert, die Anklage wie auch immer „wasserdicht“ zu machen, will „due process“ bewusst Hindernisse für den Prozess der Wahrheitsfindung errichten.20 Manche Hindernisse können sich dabei als unüberwindbar erweisen mit der Folge, dass am Ende eine ganz andere Wahrheit steht. Es macht eine rechtsstaatliche Strafprozesskultur aus, dass wir auch diese Wahrheit oder vielleicht gar die Tatsache, dass wir dadurch nicht zu der „eigentlichen“ Wahrheit vorstoßen, akzeptieren.21 Insofern könnte man, rechtlich verdichtet, von einem „right to be tried on evidence not obtained by the violation of fundamental rights“ sprechen.22 Zugegeben: Damit sind wir weder des Streits darüber enthoben, was ein „fundamental right“ in diesem Sinne ist. Noch kann dieser Grundsatz als rechtlich gesichert gelten, wenn man bedenkt, dass selbst eine due process-freundliche Judikatur wie die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Verwertung eines menschenrechtswidrig erhobenen Beweises nicht automatisch als Verstoß gegen das Fairnessgebot qualifiziert.23 Trotzdem können wir festhalten, dass sich das prozedurale Regelwerk unter dem Rubrum der prozeduralen Gerechtigkeit zu einer eigenen moralischen Größe emanzipiert hat.24
III. Korrespondenz vs. Konsens Jener eben beschriebene „procedural turn“ trägt zusätzliche Spannung in die klassische Kontroverse über den theoretischen Ansatz für die Erforschung der Wahrheit im Prozess. Die breitere Palette der Wahrheitstheorien25 spitzt sich für die Frage nach der Wahrheit im Prozess auf die Auseinandersetzung zwischen der Korrespondenztheorie und der Konsenstheorie zu. Man könnte meinen, jener „procedural turn“ begünstige konsensorientierte Ansätze. Weit gefehlt. Damaška z. B. hat sich für die Vereinbarkeit von Korrespondenztheorien mit sozialem Konstruktivismus stark gemacht.26 Seines Erachtens verwechselt die Konsenstheorie Wahrheit mit der erfolgreichen „justification of knowledge claims“. Er fragt sich zudem, wie weit das Konsensmodell denn getrieben werden soll: „Should it encompass the Packer, The Limits of the Criminal Sanction, Stanford University Press, Stanford 1968. Salas, Etat et droit pénal, Droits 15 (1992), S. 77, 78. 21 Deutlich Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl., Müller, Heidelberg 2010, S. 532: „Dieser Mangel macht freilich den größten Wert unserer Strafverfahrensordnung aus.“ 22 Diskutiert von Ashworth, Serious Crime, Human Rights and Criminal Procedure, Sweet and Maxwell, London 2002, S. 35 ff. 23 Vgl. neuerdings Bykov v. Russia, Urt. v. 21. 1. 2009, Beschw. Nr. 4378 / 02; dazu Jung, Faires Verfahren und menschenrechtswidrige Beweiserhebung, GA 2009, S. 651. 24 In diese Richtung tendiert auch Neumann (Fn. 8). 25 Näheres bei Neumann (Fn. 8); Hörnle (Fn. 9); Krimphove, Was ist Wahrheit?, Rechtstheorie 2008, S. 105. 26 Damaška, Truth in Adjudication, Hastings Law Journal 49 (1998), S. 289. 19 20
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criminal defendant? Should witnesses be permitted to confer with one another to establish whether they can reach an agreement on what they witnessed?“27 Natürlich verliert der Korrespondenzansatz an Überzeugungskraft, wenn man die Dynamik und Unwägbarkeit des Rekonstruktionsprozesses bedenkt. Die Attraktivität des Konsensus-Modells beruht freilich nicht nur auf den evidenten Schwächen des Korrespondenzmodells und dessen angreifbarer erkenntnistheoretischer Grundlage, sondern auch auf eigenen Qualitäten, nämlich einem gesellschaftstheoretischen „Plan“. Denn wir werden nicht einfach auf das insofern inhaltsleere Konzept der „Legitimation durch Verfahren“ zurückgeworfen, sondern hier geht es um eine Art partizipatorische Steuerung des Prozesses der Wahrheitsfindung nach Art des Habermas’schen Diskurs-Modells.28 Dieses besagt, dass Wahrheit im Diskurs entsteht, dass der in einem repressionsfreien Rahmen nach Austausch von Argumenten erreichte Konsens über die Gegenstände Wahrheit verbürgt. Nur: Wie soll das denn im Strafprozess funktionieren, in dem sich ja unweigerlich die Macht- oder Zwangsfrage stellt? Bei allem Bemühen, Ungleichgewichtigkeiten im Verfahren auszubalancieren – hierfür steht etwa der Grundsatz der Waffengleichheit –, kommt man nicht daran vorbei, dass Strafurteile letztlich ein Zwangsdiktat des Staates sind. In den meisten Fällen wird der Angeklagte das Urteil bestenfalls nolens volens hinnehmen. Hassemer will gewissermaßen den Grundgedanken „retten“, wenn er dem „institutionellen Diskurs“ kommunikative Entfaltungsmöglichkeiten attestiert.29 Zugegeben: Je mehr Partizipation, desto eher sind die Beteiligten bereit, die Entscheidung zu akzeptieren. Insofern verschränkt sich hier eine emanzipatorische Prozesstheorie mit den Wahrheitsmodellen. Das sog. adversatorische Verfahren, in dem sich die Wahrheit in der Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien „herausmendeln“ soll, wird uns sogleich noch beschäftigen. Hier sei im Hinblick auf die Gegenüberstellung von „Korrespondenz und Konsens“ nur vorausgeschickt, dass dieser Ansatz nicht in Widerspruch zum Korrespondenzmodell steht. Denn er beruht auf der Annahme, dass man der Wahrheit so am nächsten komme, weil diese Methode den optimalen Ertrag an Informationen produziere. Das heißt also, dass nicht der Wahrheitsbegriff die Modelle unterscheidet, sondern die Methode, mit der man die Wahrheit erforscht.30
Damaška (Fn. 26), S. 296. Ausf. diskutiert mit Bezug auf das Strafverfahren von Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., Beck, München 1990, S. 130 ff. und von Radtke, Das Strafverfahren als Diskurs, in: Festschrift für H.L. Schreiber, C.F. Müller, Heidelberg 2003, S. 375; vgl. auch Ellscheid, Zur Kritik der diskurstheoretischen Begründung von Demokratie, in: Festschrift für Baratta, Pensa, Lecce 2002, S. 75. 29 Hassemer (Fn. 28), S. 135. 30 So namentlich Weigend (Fn. 17), S. 159 ff. Ganz ähnlich schon mit Blick auf die Gegenüberstellung von inquisitorischem und accusatorischem Verfahren: Zachariä, Die Gebrechen und die Reform des Strafverfahrens, Dieterich, Göttingen 1846, S. 27. 27 28
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IV. Strategische Optionen: Inquisitorisch vs. Adversatorisch Jacksons und Dorans Beitrag zu dem Jerusalemer Kolloquium „Rights of the Accused, Crime Control and Protection of Victims“ stand unter dem Motto „Addressing the Adversarial Deficit in Non-Jury Trials“.31 Zugegebenermaßen hatte dieser Titel einen Hauch von Provokation für mich, der ich immer versucht bin, das inquisitorische Defizit in Jury-Verfahren zu thematisieren. Letztlich zögere ich freilich, in diesem „Dauerbrenner“ der Strafprozessrechtsvergleichung eindeutig Stellung zu beziehen. Stattdessen setze ich auf den Kompromiss. Mir fällt immer wieder an mir selbst auf, dass meine Einstellung zu dieser Frage davon abhängt, wo ich mich gerade befinde. Bei uns verweise ich gerne auf die Notwendigkeit, die partizipatorischen Elemente im Sinne des Grundsatzes der Waffengleichheit weiter zur Entfaltung zu bringen. Die Europäische Menschenrechtskonvention hat hier ja ohnehin eine gewisse Annäherung der Modelle gebracht, was sich z. B. an der Figur des Konfrontationsrechts belegen lässt (Art. 6 III d EMRK).32 In einem anglo-amerikanischen und schottischen Kontext pflege ich auf die Nachteile des adversatorischen Verfahrens mit einem mehr oder weniger passiven Richter zu verweisen. Ein Besuch bei dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag hinwiederum hat mir die Ineffizienz einer Verfahrensstruktur, die es nicht zulässt, dass der Richter sich in den Prozess der Wahrheitsfindung einmischt, wieder einmal schlaglichtartig deutlich gemacht. Ich folgte dort längere Zeit der Verteidigung geduldig und aufmerksam. Erst als der Vorsitzende Richter Schomburg von der Richterbank aus intervenierte, wurde mir klar, worum es denn genau ging.33 Nun kann man dieses Beispiel auch so verstehen, dass der adversatorische Verfahrenstyp eben doch untrennbar mit dem Jury-Verfahren verbunden ist.34 Freilich stellt sich auch dann die Frage nach der kompensatorischen Mitverantwortung des Richters für die Wahrheitsfindung. Umgekehrt betrachtet konstatiert Weigend zu Recht, dass „the end result of the search for the truth in inquisitorial systems will often be strikingly similar to that of the adversarial process – a half truth based on what the defendant and more or less interested third parties are willing to disclose.“35 Israel Law Review 31 (1997), S. 645. Dazu z. B. Jung, Neues zum Konfrontationsrecht?, GA 2009, S. 235. 33 Näher zu den Verfahren vor internationalen Strafgerichten: Ambos, International Criminal Procedure: „Adversarial“, „Inquisitorial“ or „Mixed“?, International Criminal Law Review 3 (2003), S. 1; Kreß, The Procedural Law of the International Criminal Court in Outline. Anatomy of a Unique Compromise, Journal of International Criminal Justice 1 (2003), S. 603; Eser, Vorzugswürdigkeit des adversatorischen Prozesssystems in der internationalen Strafjustiz?, in: Festschrift für Jung, Nomos, Baden-Baden 2007, S. 167. 34 So etwa die These von Lagodny, Die Ungeeignetheit von reinen Geschworenengerichten im kontinentalen Strafverfahren, in: Festschrift für Jung, Nomos, Baden-Baden 2007, S. 499, 510. 31 32
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Mir scheint, dass man die Debatte nur allzu gerne mit Schlagwörtern und Klischees bestreitet. Die traditionelle Dichotomisierung lebt von Bildern des Verfahrens, die längst der Vergangenheit angehören. Für die Benennung und Beantwortung der eigentlichen Fragen muss man hinter die oberflächlichen Klassifikationen nach den prozeduralen Meta-Prinzipien greifen, als da sind Fairness, Checks and Balances, Transparenz und Demokratie vs. Professionalität. Hier kommen auch die Menschenrechte – und damit die EMRK – ins Spiel. Natürlich sind unterschiedliche Gestaltungsformen und Mischungsverhältnisse im Verfahren denkbar. Von der soziokulturellen Tiefenschicht mögen unterschiedliche Signale ausgehen, wenn es darum geht, wem man bei dem Prozess der Wahrheitsfindung trauen soll: Die namentlich vom französischen Code d’instruction criminelle von 1808 ausgehenden Verfahrensordnungen setzen weitgehend auf ein Arrangement professioneller Rationalität oder doch zumindest ein System, bei dem das Gericht beide Fäden, Verhandlung und Entscheidung, in der Hand hält. Das Stichwort „rationale Professionalität“ wird verdeutlicht durch die Rolle, die dem Sachverständigen in diesen Systemen zukommt. Sachverständige haben nämlich eine gegenüber dem anglo-amerikanischen und schottischen Strafprozess herausgehobene Rolle, die es ihnen vielfach erlaubt, die Wahrheit fast im Alleingang zu „produzieren“.36 Das anglo-amerikanische und schottische Verfahren knüpft hinwiederum an die Idee des Wettkampfes an. Man könnte auch sagen zwei Geschichten(erzähler) rivalisieren miteinander und ein ausgewähltes Publikum entscheidet, welches die bessere Geschichte ist, während das Gericht nur dafür sorgt, dass eine Seite sich keine unlauteren Vorteile bei der Präsentation verschafft.37 Damit ist aber doch ein begrenztes Interventionsrecht verbunden. Mehr Partizipation der Parteien auf der einen Seite, mehr richterliche Interventionen auf der anderen Seite, dies scheint mir daher die reformpolitische Konvergenzlinie zu sein. So wie es einerseits sinnvoll ist, wenn die Beteiligten dem Gericht durch ihre Anträge „auf die Sprünge helfen“, so ist es andererseits illusionär zu glauben, dass sich im adversatorischen
Weigend (Fn. 17), S. 161. Krit. dazu Salas, „L’expert crée la vérité“, in: Le Monde vom 21. / 22. 9. 2008, S. 3; zu den Einsichten aus dem Verhältnis Richter / Sachverständiger für die Wahrheitsdiskussion ähnlich knapp aber prägnant Volk (Fn. 6), S. 418. Es überrascht daher nicht, dass gerade der Beitrag des Sachverständigen unter dem Blickwinkel der Wahrheitsfindung eine viel traktierte Fragestellung darstellt; vgl. z. B. Hetzer, Wahrheitsfindung im Strafprozeß unter Mitwirkung psychiatrisch / psychologischer Sachverständiger, Duncker & Humblot, Berlin 1982; Eicker, Die Prinzipien der „materiellen Wahrheit“ und der „freien Beweiswürdigung“ im Strafprozess – Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Sachverständigenbeweises und der Sachgebundenheit richterlicher Überzeugungsbildung bei der Schuldfähigkeitsfeststellung und der Feststellung subjektiver Deliktsmerkmale, Centaurus, Herbolzheim 2001. 37 Zum Konzept der Trial Narratives Burns, The Distinctiveness of Trial Narrative, in: A. Duff et al. (Fn. 12), S. 157. 35 36
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Verfahren die Beteiligten stets auf Augenhöhe begegnen und man ihnen daher die Wahrheitsfindung ruhigen Gewissens ganz allein überlassen kann.
V. Impossibilium nulla est obligatio Im Prozess wird also nicht einfach die Vergangenheit rekapituliert. Es ist unmöglich, Handlungen und Äußerungen, die zu dem aktuellen Fall Veranlassung gaben, genau zu rekonstruieren. Kein Zeuge vermag sich genau daran zu erinnern, was damals geschah, was gesagt wurde, was er gehört oder gesehen hat. Die Höhenflüge der Wahrheitsdiskussion verlangen geradezu danach, dass man sich der Mühsal in der Ebene bewusst bleibt. Eine kleine Geschichte, die mir ein Verteidiger in einer Sitzungspause anvertraut hat, vermag die Schwierigkeiten der Aufgabe zu illustrieren: Eine ältere Frau, die auf dem Feld Kartoffeln ausgemacht hatte, war als Zeugin zu dem genauen Hergang eines Verkehrunfalls an einer nahen Kreuzung geladen worden. Auf die Frage, was sie denn damals gesehen habe, meinte sie: „Herr Richter, ich habe da Kartoffeln ausgemacht. Als ich hoch geschaut habe, sah ich zwei Autos aufeinander zurasen. Da habe ich mir gesagt: „Huijuijui“. Herr Richter, das ist die Wahrheit!“ Angesichts derartiger Unsicherheit muss jedes Rechtssystem irgendwie mit dem Problem umgehen, wie es die Fakten definiert und wie es sie „entdeckt“. Die Historiker, an die wir uns wenden, weil sie gewissermaßen berufsmäßig damit befasst sind, die Wahrheit über vergangene Ereignisse zu Tage zu fördern, sind uns keine Hilfe. Viele, allen voran der Frankfurter Historiker Fried, stellen nicht nur die Verlässlichkeit der Erinnerung, sondern auch die von Urkunden in Frage. Wir könnten nie sicher sein, dass sie vergangene Ereignisse wahrheitsgetreu wiedergeben.38 Zudem: „Erinnerung ist pure Gegenwart! Erinnerte Vergangenheit ist stets gegenwärtige Zeit, wenn auch im Modus der Vergangenheit . . .“.39 Was auch immer wir betrachten, wir werden es stets aus dem Blickwinkel unserer Tage betrachten. Manchmal braucht es auch Zeit, bis die Gesellschaft und deren Institutionen bereit sind, die Wahrheit zu akzeptieren und zuzulassen, wie der Prozess gegen Galileo Galilei gezeigt hat. Hier spricht die Geschichte der Zensur Bände. Es kommt hinzu, dass sich auch noch Effizienzgesichtspunkte einschleichen. So sind wir zunehmend bereit, uns im Prozess mit einer Wahrheit der mittleren Reichweite zu begnügen, einer Art Kernwahrheit, weil es zu kostspielig wäre, die Erforschung der Wahrheit weiter voranzutreiben. Strafverfahren sind eine teure Angelegenheit. Sie sind zugleich auf Finalität angelegt.40 Da ist die Versuchung schon 38 Z. B. Fried, Recht und Verfassung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und kollektiver Erinnerung, Eheschluss und Königserhebung Heinrich II, in: Festschrift für G. Dilcher, Erich Schmidt, Berlin 2003, S. 293. 39 Fried (Fn. 38), S. 301. 40 Zu diesem Punkt auch Jackson (Fn. 9), S. 127 f.
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stark, sie irgendwie abzukürzen: In Deutschland kommt es in nur 20% aller anklagefähigen Fälle zu einer Hauptverhandlung.41 In den USA ist die Durchführung eines jury-Verfahrens eine Rarität. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht daran interessiert seien, die Wahrheit zu erfahren. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass das ganze Modell des plea bargaining die Grundidee, wonach wir nämlich im Prozess der Erforschung der Wahrheit verpflichtet sind, in Frage stellt. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit droht damit ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Aber auch zur Stützung der Konsenstheorie lässt sich das Phänomen des plea bargaining schwerlich heranziehen, weil der Druck der Umstände den partizipatorischen Grundgedanken zumindest stark deformiert.42 Hier findet mit den Worten von Kühne eine „Mediation der Wahrheit“ statt, die nicht eigentlich von der Suche nach der Wahrheit, sondern von den Erledigungsinteressen der Justiz und den Risikominimierungsinteressen des Beschuldigten diktiert wird.43 Man wird eine solche „Mediation der Wahrheit“ nicht rundheraus ablehnen können. Nur: So wie man Mediation nicht als „justice light“ verstehen darf, muss man dem Eindruck entgegentreten, die Vereinbarungen zielten auf die „Wahrheit light“. Wenn erst der Eindruck entstanden ist, dass die Wahrheit beliebig manipulierbar ist, dann ist es um die Glaubwürdigkeit des Strafverfahrens und des Strafrechts insgesamt geschehen.
VI. Die Rekonstruktion nach der Dekonstruktion Die Synthese, die nun auf die Desillusionierung folgen wird, ist nicht sonderlich originell. Zunächst einmal benötigen wir mehr transkulturelle Forschung über Entscheidungsprozesse, namentlich in Strafsachen. Dies dürfte auf eine Bestätigung der Wichtigkeit der institutionellen Perspektive beim Prozess der Wahrheitsfindung, heißt also der Rolle der Entscheidungsträger, hinauslaufen.44 Diese Diskussion über die „Deutungshoheit“45 ist untrennbar verbunden mit der Erkenntnis, dass das Verfahren letztlich doch eine Art Forum zur Präsentation von Geschichten mit mehr oder weniger großer Plausibilität ist.46 41 Heinz, Der Strafbefehl in der Rechtswirklichkeit, in: Festschrift für Müller-Dietz, Beck, München 2001, S. 271, 300. 42 Mehr dazu bei Weigend, The Decay of the Inquisitional Ideal: Plea Bargaining Invades German Criminal Procedure, in: Essays in Honour of Mirjan Damaška Hart, Oxford / Portland 2008, S. 39, 56 ff. (Truth or Consent). 43 Kühne, Die Instrumentalisierung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren, GA 2008, S. 261, 365, spricht deshalb von einem neuen Paradigma, der Annahme nämlich, „dass es eine bestimmte Art von Fällen gibt, bei denen das Beweisrecht der StPO bestenfalls irrelevant, schlechtestenfalls schädlich ist und daher keine Anwendung finden sollte.“ 44 Vgl. etwa Jung, Richterbilder – Ein interkultureller Vergleich, Nomos, Baden-Baden 2006, S. 89 ff. 45 Gössel, Wahrheitsermittlung und Eröffnungszuständigkeit, in: Festschrift für MeyerGoßner, Beck, München 2001, S. 187, 200, spricht davon, dass die StPO das „Wahrheitsbild“ des Richters privilegiere.
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Der institutionelle Aspekt begünstigt einen konstruktivistischen Ansatz. Hierfür spricht auch, dass Prozesse sich nicht endlos hinziehen können, dass die Erkenntnismittel begrenzt sind, dass Zeugen sich irren können, dass Geständnisse falsch sein können, dass Dokumente gefälscht sein können usw. Unter solchen Umständen fällt es schwer, am Korrespondenzmodell festzuhalten. Oder, wie Lagarde festgestellt hat, die Idee der Wahrheit überlebt die Behandlung, die man ihr im Rahmen eines Rechtsstreits angedeihen lässt, nur mühsam.47 Mit der Konsenstheorie würden wir jedoch vom Regen in die Traufe geraten. Ganz abgesehen davon, dass Habermas als ihr Begründer sie für deskriptive Aussagen ohnehin aufgegeben hat.48 Beide Modelle sind schließlich nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse, sondern von ihnen hängt die Rechtfertigung für das Urteil ab. Der Aspekt der Rechtfertigung spricht aber – auch im Zeitalter der „Verständigung“ – für die Korrespondenztheorie. Denn wer würde schon den Prozess der Entscheidungsfindung akzeptieren, wenn man ihm bedeutete, dass es darin auf die historische Wahrheit überhaupt nicht ankomme.49 Dies gilt auch für die Entscheidungsträger selbst. Die Optimierung des Diskurses bleibt gleichwohl erstrebenswert, auch wenn es schwer fällt, mit diesem Begriff „im Schatten des Leviathan“ zu operieren.50 Schlussendlich orientieren sich Verfahren an einem vorgegebenen Satz von normativen Prämissen und Erwartungen, wie staatliche Institutionen mit der Klärung und Regelung von Konflikten umgehen sollten. Die Erforschung der Wahrheit nimmt hier sicher eine prominente Stelle ein. Es kommt uns aber auch darauf an, wie man im Verfahren den Beteiligten begegnet. Fairness im Umgang mit den Beteiligten ist, was die Entwicklung von Verfahrensstandards anbetrifft, sicher eine eher späte Kulturleistung, aber gerade deswegen sollten wir sorgsam damit umgehen.
46 Ein Beispiel aus der Schatzkiste von Recht und Literatur: Ohler, Wahrheit als Geschichte. Eine prozessuale Alternative zum Aufschrei des Richters Wildermuth, in: Jung (Hrsg.), Das Recht und die schönen Künste, Nomos, Baden-Baden 1998, S. 63. Zur Rolle der „Story“ auch Volk (Fn. 6), S. 413, 415. 47 Lagarde, Vers une légitimité dans le droit de la preuve, Droits 31 (1996), S. 31, 32. 48 Nachweise bei Ellscheid, Strukturen naturrechtlichen Denkens, in: Kaufmann / Hassemer / Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Müller, Heidelberg 2004, S. 148, 164. 49 Mit vielen anderen halten z. B. auch Weigend, Unverzichtbares im Strafprozeß, ZStW 113 (2001), S. 271, 303 ff. und Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Nomos, Baden-Baden 1998 am Leitbild der objektiven Wahrheit fest. 50 Vgl. auch A. Kaufmann, Läßt sich die Hauptverhandlung in Strafsachen als rationaler Diskurs auffassen?, in: Jung / Müller-Dietz (Hrsg.), Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, Heymanns, Köln u. a. 1989, S. 15.
Einbeziehung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen in den Versicherungsvertrag nach der VVG-Reform Von Annemarie Matusche-Beckmann / Roland Michael Beckmann* I. Einleitung Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) haben für die Versicherungspraxis enorme wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen anderen Vertragstypen handelt es sich bei Versicherungen um ein „nicht greifbares“1, „unsichtbares“2 Produkt. Eine Versicherung wird erst durch die rechtliche Ausgestaltung des Vertrages und die Beschreibung der gegenseitigen Leistungspflichten fassbar, weshalb auch von „Versicherung als Rechtsprodukt“3 die Rede ist. Gerade AVB geben dabei dem Versicherungsvertrag in den meisten Fällen erst sein rechtlich ausgestaltetes Gerüst und konstituieren die vertraglichen Rechte und Pflichten.4 AVB bestimmen und konkretisieren damit den Vertragsinhalt. Dies setzt indes zum einen die Einbeziehung der AVB in den Vertrag sowie deren inhaltliche Wirksamkeit voraus. Die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Refom des Versicherungsvertragsrechts5 sollte unter anderem den Schutz des Versicherungsnehmers bei Vertragsschluss verbessern und hat dementsprechend die Rahmenbedingungen für den Vertragsschluss neu geregelt.6 Es versteht sich, dass die Einbeziehung von AVB – abgesehen von Anpassungen in laufenden Verträgen – bei Vertragsschluss relevant wird. Deshalb soll im Folgenden der praxisrelevanten * Der Beitrag ist Herrn Professor Dr. Wilfried Fiedler herzlich und in kollegialer Verbundenheit gewidmet von Prof. Dr. Annemarie Matusche-Beckmann und Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes. 1 Werber, VersR 1986, 1, 2; Farny, ZVersWiss 1975, 168. 2 Vgl. Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 148; Kieninger, AcP 199 (1999), 191, 208 f.; R. Schmidt, ZVersWiss 1973, 529, 539; Schimikowski, RuS 1998, 353. 3 Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 145 ff.; Dreher / Kling, Kartellund Wettbewerbsrecht der Versicherungsunternehmen, 2007, S. 106. 4 Vgl. auch Terno, RuS 2004, 45. 5 Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts v. 23. 11. 2007, BGBl. I 2007, S. 2631. 6 Beckmann / Matusche-Beckmann / W.-T. Schneider, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 1a Rn. 11, 12 ff.
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Frage nachgegangen werden, wie sich die VVG-Reform auf die Einbeziehung von AVB in den Versicherungsvertrag ausgewirkt hat. Nähert man sich dieser Frage, ist zunächst festzustellen, dass abhängig von den Umständen unterschiedliche Rahmenbedingungen im Raum stehen: Ausgangspunkt sind die allgemeinen AGB-rechtlichen Regelungen über die Einbeziehung von AGB. Die Einbeziehungsvoraussetzungen ergeben sich grundsätzlich aus § 305 Abs. 2 BGB.7 Die Vorschrift findet indes gem. § 310 Abs. 1 S. 1 BGB keine Anwendung, wenn AGB gegenüber einem Unternehmer verwendet werden (dazu unter III 4). Eine ausdrückliche Spezialregelung zur Einbeziehung von AVB in Versicherungsverträgen enthält wiederum § 49 Abs. 1, 2 VVG für den Vertrag über die vorläufige Deckung (dazu unter III 3 b). Zu beachten ist darüber hinaus die mit der VVG-Reform neu eingeführte Regelung des § 7 Abs. 1 S. 1 VVG. Danach ist grundsätzlich erforderlich, dass der Versicherer dem Versicherungsnehmer rechtzeitig vor Abgabe von dessen Vertragserklärung seine Vertragsbestimmungen einschließlich der AVB sowie die in einer Rechtsverordnung nach Absatz 28 bestimmten Informationen in Textform mitteilt.9 § 7 Abs. 1 VVG bezweckt die Information des Versicherungsnehmers über den Vertragsinhalt; ihm sollen alle Informationen zur Verfügung stehen, die für seine Entscheidung, einen Versicherungsvertrag abzuschließen, von Bedeutung sind. Die Einhaltung der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 VVG wirkt sich auf den Beginn der Frist zur Ausübung des Widerrufsrechts aus, das dem Versicherungsnehmer gem. § 8 Abs. 1 VVG grundsätzlich zusteht. Nach dieser Vorschrift kann der Versicherungsnehmer seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen widerrufen. Die Widerrufsfrist beginnt gem. § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VVG zu dem Zeitpunkt, zu dem dem Versicherungsnehmer u. a. der Versicherungsschein und die Vertragsbestimmungen einschließlich der AVB sowie die weiteren Informationen nach § 7 Abs. 1 und 2 VVG in Textform zugegangen sind.10 Hält sich der Versicherer an die Vorgaben des § 7 Abs. 1 S. 1 VVG dürften in der Regel auch die Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB erfüllt sein.11 Problematische und im Schrifttum umstrittene Konstellationen können sich aber ergeben, wenn der Versicherer die Vorgaben des § 7 Abs. 1 S. 1 VVG nicht einhält, also die erforderlichen Informationen nicht rechtzeitig vor der Willenser7 Außer Betracht bleibt im Folgenden die Behandlung überraschender Klauseln gem. § 305c Abs. 1 BGB und der Vorrang von Individualabreden gem. § 305b BGB. 8 Verordnung über Informationspflichten bei Versicherungsverträgen v. 18. 12. 2007, BGBl. I 2007, S. 3004 (VVG-InfoV). 9 Gem. § 7 Abs. 5 VVG finden die Abs. 1 bis 4 auf Versicherungsverträge über ein Großrisiko i. S. d. § 210 Abs. 2 VVG keine Anwendung. 10 Die Verletzung des § 7 Abs. 1, 2 VVG kann zudem Schadensersatzansprüche des Versicherungsnehmers auslösen; diese Möglichkeit bleibt hier indes außer Betracht. 11 Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 56 sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einführung C Rn. 56; ebenso Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB Rn. 26; Schimikowski, RuS 2007, 309, 310.
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klärung des Versicherungsnehmers erfolgen. Es geht um Konstellationen, in denen der Versicherungsnehmer zunächst seine Willenserklärung zum Vertragsschluss abgibt und erst danach die AVB erhält. Können in solchen Konstellationen die AVB Vertragsbestandteil werden? Diese Frage stellt sich gerade vor dem Hintergrund, dass es vor der VVG-Reform solche Schwierigkeiten nicht gab, weil das frühere VVG mit § 5a VVG a.F. noch eine Vorschrift enthielt, die einen ausdrücklichen Vorrang gegenüber § 305 Abs. 2 BGB aussprach. Deshalb ist zunächst auf die frühere Rechtslage einzugehen und sodann die aktuelle Rechtslage nach der VVG-Reform zu beleuchten. II. Frühere Rechtslage Unter Geltung des § 5a VVG a.F. wurde die allgemeine bürgerlichrechtliche Regel über die Einbeziehung von AGB, namentlich § 305 Abs. 2 BGB, durch die Ermöglichung des Vertragsabschlusses im Wege des sog. Policenmodells weitgehend zurückgedrängt. § 5a Abs. 1 S. 1 VVG a.F. hatte folgenden Wortlaut: „Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer bei Antragstellung die Versicherungsbedingungen nicht übergeben oder eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes unterlassen, so gilt der Vertrag auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von vierzehn Tagen nach Überlassung der Unterlagen in Textform widerspricht.“
Versicherungsverträge konnten danach auch dann unter Geltung der vom Versicherer verwendeten AVB zustande kommen, wenn diese dem Versicherungsnehmer erst mit dem Versicherungsschein bzw. mit der Annahme durch den Versicherer zugänglich gemacht wurden; auch wenn der Versicherungsnehmer bei Abgabe seiner Willenserklärung (Angebot) die AVB noch nicht in Händen hatte, konnten diese also über § 5a VVG a.F. praktisch problemlos noch Vertragsinhalt werden.12 Zudem sah § 5a Abs. 2 S. 4 VVG a.F. eine Jahresfrist vor, mit deren Ablauf das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers erlosch, selbst wenn ihm die nach § 10a VAG a.F. erforderlichen Informationen einschließlich der AVB zu keinem Zeitpunkt zugänglich gemacht wurden. Auch in diesem Fall sah die wohl h. M. den Versicherungsvertrag mit Fortfall des Widerspruchsrechts als auf Grundlage der vom Versicherer verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen geschlossen an.13 § 5a VVG a.F. wurde daher als Modifikation des § 305 BGB14 mit weit12 Etwa Bruck / Möller / Sieg / Johannsen, 8. Aufl. 2002, Bd. III Anm. D 20; Schimikowski, RuS 2007, 309; Baumann, RuS 2005, 315. 13 OLG Koblenz v. 24. 1. 2003, NJW-RR 2003, 749, 751; OLG Köln v. 25. 6. 2002, NVersZ 2002, 507, 508; Bruck / Möller / Sieg / Johannsen, 8. Aufl. 2002, Bd. III Anm. D 20; Berliner Kommentar / Schwintowski, 1999, § 5a Rn. 74; Prölss / Martin / Prölss, 27. Aufl. 2004, § 5a Rn. 56; Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch,
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gehender „Reparaturmöglichkeit“15 mangelhafter Einbeziehung angesehen. Nach diesem Standpunkt kam der Versicherungsvertrag auf der Grundlage der AVB zustande, die entweder in dem Antragsformular bezeichnet waren, oder bei Fehlen einer solchen Angabe auf der Grundlage derjenigen AVB, die der Versicherer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses üblicherweise einem vergleichbaren Vertrag zugrunde zu legen pflegte.16 III. Geltende Rahmenbedingungen Von dieser früheren Rechtslage weicht das jetzige VVG in erheblichem Maße ab. Ein ausdrücklicher spezieller Vorrang gegenüber § 305 Abs. 2 BGB kommt nur noch im Hinblick auf den Vertrag über die vorläufige Deckung in § 49 Abs. 2 VVG zum Ausdruck (dazu noch III 3 b). Mangels einer dem § 5a VVG a.F. entsprechenden Regel hat demgemäß im Versicherungsvertragsrecht § 305 Abs. 2 BGB nunmehr eine ganz andere Bedeutung als vor der VVG-Reform. Insbesondere lässt sich nicht pauschal sagen, dass § 7 Abs. 1 S. 1 VVG gegenüber § 305 Abs. 2 BGB eine speziellere Regelung darstellt und die allgemeine AGB-rechtliche Vorschrift verdrängt. § 305 Abs. 2 BGB einerseits und § 7 Abs. 1 S. 1 VVG andererseits sind grundsätzlich eigenständige Regelungen, die in ihrem Anwendungsbereich nebeneinander Geltung haben.17 Hierüber ist sich die ganz h. M. einig, denn § 305 Abs. 2 BGB und § 7 Abs. 1 VVG verfolgen grundsätzlich unterschiedliche Zwecke, weisen unterschiedliche Rechtsfolgen auf und unterliegen unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Für die Frage der Einbeziehung der AVB in den Versicherungsvertrag kommt es mithin grundsätzlich auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB an. 1. Die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB Anders als nach früherer Rechtslage kommt es damit für die Einbeziehung von AVB grundsätzlich auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB an. Erforderlich ist deshalb, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 158; Römer / Langheid, 2. Aufl. 2003, § 5a Rn. 46; Schimikowski, RuS 2007, 309; a. A. Wandt, Verbraucherinformation und Vertragsschluss nach neuem Recht, 1995, S. 27 ff.; Dörner / Hoffmann, NJW 1996, 153, 158. 14 Prölss / Martin / Prölss, 27. Aufl. 2004, Vorbem. I Rn. 22. 15 Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 158. 16 Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 158; Prölss / Martin / Prölss, 27. Aufl. 2004, Vorbem. I Rn. 22. 17 Beckmann / Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 56 sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 56; Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB Rn. 26.
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– dass der Versicherer den Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss auf die Verwendung der AVB hinweist (§ 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB), – dass der Versicherungsnehmer in zumutbarer Weise Kenntnis von ihrem Inhalt nehmen kann (§ 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB) und – dass der Versicherungsnehmer mit der Verwendung der AVB zumindest stillschweigend einverstanden ist (§ 305 Abs. 2 letzter Hs. BGB).
Diese Einbeziehungsvoraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Die Voraussetzungen dieser Tatbestandselemente brauchen hier nicht im Einzelnen vertieft zu werden; auf einschlägige Kommentierungen kann verwiesen werden.18 Lediglich auf einige Aspekte ist in diesem Rahmen einzugehen, insbesondere auf das erforderliche Einverständnis des Versicherungsnehmers gem. § 305 Abs. 2 letzter Hs. BGB. Danach ist das Einverständnis der anderen Vertragspartei, d. h. des Versicherungsnehmers, mit der Geltung der Vertragsbedingungen als Einbeziehungsvoraussetzung erforderlich. Das Einverständnis kann dabei auf die AVB in ihrer Gesamtheit bezogen sein. Das Einverständnis kann nicht nur ausdrücklich, sondern auch konkludent erklärt werden.19 Es ist anzunehmen, wenn das Verhalten des Vertragspartners den Umständen nach als Einverständnis mit der Geltung der AGB angesehen werden kann. Nach h. M. ist es in der Regel zu bejahen, wenn nach vorheriger Erfüllung von § 305 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB der Vertrag zustande kommt.20 An das Einverständnis werden keine hohen Anforderungen gestellt; deshalb reicht es nach wohl h. M. aus, dass der Vertragspartner des Klauselverwenders der Einbeziehung der AGB nicht ausdrücklich widerspricht.21 Auf Versicherungsverträge bezogen bedeutet dies, dass ein Versicherungsnehmer, der mit der Geltung der AVB nicht einverstanden ist, dies im Regelfall erklären und deren Einbeziehung ausdrücklich widersprechen muss. Für diesen Standpunkt der h. M. spricht sicherlich dessen Praktikabilität, auch wenn das Tatbestandsmerkmal („einverstanden“) damit schon sehr weit ausgelegt wird und in anderen Bereichen an ein konkludent erklärtes Einverständnis wohl höhere Anforderungen gestellt werden. Die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB müssen „bei Vertragsschluss“ vorliegen. Grundsätzlich müssen deshalb die Erfordernisse erfüllt sein, bevor der Ver18 Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 57 ff. sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 57 ff.; Looschelders / Pohlmann / Pohlmann, VVG, 2010, § 7 Rn. 42 ff.; Münchener KommentarVVG / Reiff, 2010, AVB Rn. 28 ff. 19 BGH v. 1. 3. 1982, BB 1983, 15; OLG Köln v. 21. 11. 1997, VersR 1998, 725; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 161; Wolf / Horn / Lindacher / Wolf, 4. Aufl. 1999, § 2 Rn. 43. 20 Palandt / Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 305 Rn. 43; AnwK-BGB / Kollmann, Schuldrecht Bd. 2, 2005, § 305 Rn. 69; Erman / Roloff, 12. Aufl. 2008, § 305 Rn. 41; Schimikowski, RuS 2007, 309, 310. 21 Bamberger / Roth / J. Becker, 2. Aufl. 2007, § 305 Rn. 66; Wolf / Horn / Lindacher / Wolf, 4. Aufl. 1999, § 2 Rn. 43; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 161.
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sicherungsnehmer seine ihn bindende Willenserklärung abgibt.22 Auch das Einverständnis des Kunden gem. § 305 Abs. 2 letzter Hs. BGB muss zu diesem Zeitpunkt vorliegen.23 2. Behandlung einer gem. § 305 Abs. 2 BGB misslungenen Einbeziehung Sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB nicht erfüllt, so hindert dies gem. § 306 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht das Zustandekommen des Vertrags; gem. § 306 Abs. 2 BGB treten an die Stelle der vorgesehenen AGB grundsätzlich die Vorschriften des dispositiven Rechts. Im Folgenden wird deshalb grundsätzlich vom Zustandekommen des Vertrages ausgegangen. Denkbar ist es allerdings auch, dass ein Vertragsschluss an einer mangelnden Einigung scheitert: Gibt der Versicherungsnehmer das Angebot auf Vertragsschluss ab und zwar ohne Bezug auf die AVB des Versicherers und nimmt der Versicherer bei seiner Annahme auf die AVB Bezug, so handelt es sich bei der Erklärung des Versicherers gem. § 150 Abs. 2 BGB um eine Ablehnung des Angebots des Versicherungsnehmers verbunden mit einem neuen Angebot gegenüber dem Versicherungsnehmer.24 Lässt sich wiederum die Reaktion des Versicherungsnehmers nicht als Annahme verstehen, scheitert ein Vertragsschluss. Denkbar ist auch, dass es ohne Einbeziehung der AVB an der erforderlichen Einigung über die wesentlichen Vertragsbestandteile fehlt, so dass daran der Vertragsschluss scheitert. Diese durchaus möglichen Konstellationen sollen an dieser Stelle indes außer Acht bleiben. Primär geht es hier um die Frage, unter welchen Voraussetzungen die AVB in den Vertrag einbezogen werden; vom Zustandekommen eines Vertrages wird deshalb ausgegangen. a) Geltung dispositiven Rechts / ergänzende Vertragsauslegung Im Versicherungsrecht stehen vielfach keine gesetzlichen Vorschriften zur Verfügung, da das VVG die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien jedenfalls nicht vollständig regelt, die gem. § 306 Abs. 2 BGB an die Stelle nicht einbezogener AVB treten könnten, denn bestimmte Versicherungsarten sind überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Wie eingangs zum Ausdruck gebracht, erfolgt die inhaltliche Ausgestaltung der jeweiligen Versicherungsprodukte gerade mittels AVB. Eine 22 Im Einzelnen Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 77 f. sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 77 f.; Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB Rn. 41 ff. 23 Schimikowski, RuS 2007, 309, 310. 24 Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 92 sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 92; wohl auch Münchener Kommentar-VVG / Armbrüster, 2010, § 5 Rn. 19.
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gewisse Abhilfe kann daher das Rechtsinstitut der ergänzenden Vertragsauslegung schaffen.25 Indes ist dieses Instrument mit Rechtsunsicherheiten verbunden und kann gerade für das Massengeschäft keine allgemeine und klare Lösung darstellen. b) Ausnahmsweise Gesamtunwirksamkeit, § 306 Abs. 3 BGB Sind die AVB nicht Vertragsbestandteil geworden, so kommt gem. § 306 Abs. 3 BGB als Ausnahme zu Abs. 1 die Gesamtunwirksamkeit des Vertrages in Betracht, wenn einem Vertragsteil das Festhalten als unzumutbare Härte nicht abverlangt werden kann. c) Nachträgliche Einbeziehung nach allgemeinen rechtsgeschäftlichen Grundsätzen Ist die Einbeziehung der AVB an § 305 Abs. 2 BGB gescheitert, so bleibt die Möglichkeit, eine hierauf gerichtete gesonderte, nachträgliche Vereinbarung zu treffen.26 Es müssen hierfür die allgemeinen Voraussetzungen einer Vertragsänderung vorliegen. Insbesondere kommt es auf ein eindeutiges Einverständnis des Kunden an. Dabei sind an ein solches Einverständnis zur Vertragsänderung strengere Anforderungen zu stellen als an das Einverständnis im Rahmen von § 305 Abs. 2, letzter Hs. BGB; anders als bei der anfänglichen Einbeziehung gem. § 305 Abs. 2 BGB kann nicht ohne Weiteres auf ein Einverständnis des Kunden geschlossen werden.27 Deshalb wird man in diesem Fall grundsätzlich ein ausdrückliches Einverständnis des Kunden verlangen müssen.28 3. Versicherungsvertragsrechtliche Besonderheiten a) Rechtzeitigkeitserfordernis gem. § 7 Abs. 1 S. 1 VVG und § 305 Abs. 2 VVG Nach § 7 Abs. 1 S. 1 VVG hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer die erforderlichen Informationen – einschließlich der AVB – „rechtzeitig“ zu übermitteln. Die Auslegung dieses Begriffs und die damit verbundenen Konsequenzen 25 Grundlegend BGH v. 1. 2. 1984, BGHZ 90, 69, 75 = NJW 1984, 1177, 1178; BGH v. 22. 1. 1992 , BGHZ 117, 92 = NJW 1992, 1164, 1165. 26 Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 157; Münchener Kommentar-BGB / Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305 Rn. 75. 27 Münchener Kommentar-BGB / Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305 Rn. 75. 28 BGH v. 22. 9. 1983, NJW 1984, 1112; Münchener Kommentar-BGB / Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305 Rn. 75; Bamberger / Roth / J. Becker, 2. Aufl. 2007, § 305 Rn. 65.
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werden im Schrifttum kontrovers diskutiert.29. Unabhängig von den Erfordernissen dieser Voraussetzung stellt sich die Frage, ob dieses Tatbestandsmerkmal Bedeutung für die rechtsgeschäftliche Einbeziehung der AVB hat. Im Rahmen des § 305 Abs. 2 BGB kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen bei Vertragsschluss an (oben III 1), ein zusätzliches Rechtzeitigkeitserfordernis enthält § 305 Abs. 2 BGB nicht. Sieht man § 305 Abs. 2 BGB und § 7 Abs. 1 S. 1 VVG als jeweils eigenständige Regelungskomplexe an (oben III), so kommt es für die Frage der Einbeziehung der AVB in den Vertrag nicht auf das Rechtzeitigkeitserfordernis an; dieses hat lediglich Bedeutung im Rahmen von § 7 Abs. 1 S. 1 VVG. b) Einbeziehung von AVB beim Vertrag über eine vorläufige Deckung Eine ausdrückliche Sonderregel gegenüber § 305 Abs. 2 BGB enthält § 49 Abs. 1, 2 VVG für den Vertrag über die vorläufige Deckung. Um den Bedürfnissen der Praxis nach Gewährung eines raschen vorläufigen Versicherungsschutzes Rechnung zu tragen, kann in diesen Fällen vereinbart werden, dass AVB sowie die sonstigen Informationen nach § 7 VVG nur auf Anforderung und spätestens mit dem Versicherungsschein in Textform zur Verfügung zu stellen sind. Eine entsprechende Vereinbarung kann auch stillschweigend zustande kommen und entspricht dem Interesse des Versicherungsnehmers an frühzeitiger Deckungszusage.30 So bestimmt § 49 Abs. 2 VVG ausdrücklich, dass AVB des Versicherers auch dann Vertragsbestandteil werden, wenn diese nicht bei Vertragsschluss übermittelt wurden. Ein Hinweis auf die Versicherungsbedingungen ist dabei nicht erforderlich.31 In erster Linie werden dabei die vom Versicherer für den vorläufigen Deckungsschutz verwendeten Bedingungen Inhalt des geschlossenen Vertrages. Fehlen solche speziellen Bedingungen, gelten die Bedingungen des Versicherers für den angestrebten Hauptvertrag, § 49 Abs. 2 S. 1 VVG.32 Verwendet der Versicherer unterschiedliche AVB und wird die maßgebliche Variante für die vorläufige Deckungszusage nicht ausreichend genau bezeichnet, ist den dadurch aufgeworfenen Zweifeln zunächst durch Auslegung der Texte zu begegnen. Führt dies zu keinem Ergebnis, so gelten gem. § 49 Abs. 2 S. 2 VVG die für den Versicherungsnehmer im konkreten Fall günstigsten Bedingungen. Auch wenn insbesondere die zuletzt genannte Regelung Auslegungsschwierigkeiten mit sich bringen kann, ist § 49 Abs. 1, 2 VVG als Ausnahme von den Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 29 Vgl. Bruck / Möller / Herrmann, 9. Aufl. 2008, § 7 Rn. 60; Beckmann / Matusche-Beckmann / Schwintowski, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 18 Rn. 22. 30 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts, BTDrucks. 16 / 3945, S. 73. Beckmann / Matusche-Beckmann / Hermanns, VersicherungsrechtsHandbuch, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 20. 31 Regierungsentwurf (o. Fn. 30) BT-Drucks. 16 / 3945, S. 74. 32 Regierungsentwurf (o. Fn. 30) BT-Drucks. 16 / 3945, S. 74.
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Abs. 2 BGB sowie den Informationspflichten nach § 7 VVG insbesondere in der Kfz-Haftpflichtversicherung im Rahmen des Deckungskartenverfahrens von praktischer Bedeutung. Keine Anwendung findet die Möglichkeit einer Vereinbarung nach § 49 Abs. 1 S. 1 VVG allerdings für Fernabsatzverträge, § 49 Abs. 1 S. 2 VVG i. V. m. § 312b Abs. 1 und 2 BGB. Der Vorrang des § 49 Abs. 1, 2 VVG gegenüber § 305 Abs. 2 BGB steht angesichts des Wortlauts außer Frage und modifiziert damit das allgemeine AGBRecht. c) Einbeziehung von AGB nach Wegfall des § 5a VVG a.F. (1) Grundsätzlicher Vorrang des Versicherungsvertragsrechts gegenüber § 305 Abs. 2 BGB? Wie schon zum Ausdruck gebracht, hatte § 305 Abs. 2 BGB vor der VVG-Reform für das Versicherungsvertragsrechts keine allzu große Bedeutung, da eine Vielzahl von Versicherungsverträgen über das Policenmodell gem. § 5a VVG a.F. zustande gekommen sind und diese Vorschrift gegenüber § 305 Abs. 2 BGB spezieller war und Vorrang hatte. Eine dem § 5a VVG a.F. vergleichbare Regelung enthält das VVG nach der Reform nicht mehr. Der Gesetzgeber wollte das Policenmodell vielmehr ausdrücklich aufgeben.33 Nichtsdestotrotz werden die Auswirkungen für die Frage nach der Einbeziehung von AVB unterschiedlich beurteilt: Teilweise wird konsequent gefolgert, dass sich die Beantwortung dieser Frage nach neuer Rechtslage „ausschließlich nach den allgemeinen Regeln des AGB-Rechts“ ergibt.34 Gleichwohl findet sich im Schrifttum der Standpunkt, nach dem auch nach dem Wegfall des § 5a VVG a.F. der Vertragsschluss nach dem Policenmodell weiterhin möglich sei.35 Aufgrund der konstitutiven Funktion der Versicherungsbedingungen für den Vertragsinhalt könne – selbst bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB – entsprechend § 49 Abs. 2 VVG eine Einbeziehung der AVB bejaht werden.36 Zur Begründung für diese Ansicht wird zum einen die Regelung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 VVG angeführt, die die Möglichkeit eines Vertragsschlusses ohne Aushändigung der Versicherungsbedingungen voraussetze; des Weiteren wird die Verzichtslösung nach § 7 Abs. 1 S. 3 VVG ins Feld geführt. Insbesondere mit dieser Regelung sei „ein materiell-rechtliches Tor für die Beibehaltung des PoliRegierungsentwurf (o. Fn. 30) BT-Drucks. 16 / 3945, S. 60; Baumann, VW 2007, 1955. Schimikowski, RuS 2007, 309; ebenso Grote / C. Schneider, BB 2007, 2689, 2691. 35 So Marlow / Spuhl, Das neue VVG, 3. Aufl. 2008, S. 14. 36 So Marlow / Spuhl, Das neue VVG, 3. Aufl. 2008, S. 15; im Ergebnis ähnlich Schimikowski, RuS 2007, 309, 310 f., wonach vom Einverständnis des Versicherungsnehmers mit der Geltung der AVB auszugehen sei, wenn er den verspäteten Erhalt der AVB widerspruchslos akzeptiere. 33 34
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cenmodells“ geöffnet.37 Letztlich läuft diese Ansicht darauf hinaus, die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB zurückzudrängen und eine Einbeziehung der AVB auch zu ermöglichen, wenn dem Versicherungsnehmer diese erst nach Abgabe der eigenen Vertragserklärung ausgehändigt werden. Dieser Standpunkt ist indes mit der nunmehr wohl herrschenden Ansicht im Schrifttum abzulehnen. Jedenfalls § 7 Abs. 1 S. 1 VVG und § 305 Abs. 2 BGB stellen selbständige, nebeneinander anwendbare Regelungskomplexe dar (siehe bereits oben III). Aus der offensichtlichen Spezialregelung des § 49 Abs. 2 VVG für den Vertrag über die vorläufige Deckung (dazu III 3 b) kann man keine so weitreichenden Folgerungen für sämtliche Vertragsabschlüsse ziehen; vielmehr wollte der Gesetzgeber bewusst vom Policenmodell Abstand nehmen.38 Zwar knüpft der Fristbeginn des 14-tägigen Widerspruchsrechts des Versicherungsnehmers gem. § 8 Abs. 2 VVG ebenso wie § 5a Abs. 2 S. 1 VVG a.F. an den Zugang der AVB an; hieraus lässt sich aber keine generelle Abweichung von den Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB ableiten. Im Gegensatz zu § 5a Abs. 1 S. 1 VVG a.F. enthält § 8 VVG keine Bestimmung, wonach der Versicherungsvertrag mit Ablauf der Widerspruchsfrist als auf Grundlage der Versicherungsbedingungen geschlossen gilt. Eine von § 305 Abs. 2 BGB abweichende (nachträgliche) Einbeziehung von AVB ist somit nicht vorgesehen. Im Ergebnis verbleibt es dabei, dass es für die Einbeziehung der AVB auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB ankommt; weder aus § 49 Abs. 2 VVG noch aus § 8 VVG lässt sich ein genereller Vorrang gegenüber § 305 Abs. 2 BGB herleiten. (2) § 7 Abs. 1 S. 3 VVG als Sondernorm gegenüber § 305 Abs. 2 BGB Etwas anderes soll aber für das Verhältnis zwischen § 7 Abs. 1 S. 3 VVG zu § 305 Abs. 2 BGB gelten. So wird im Schrifttum der Standpunkt vertreten, jedenfalls § 7 Abs. 1 S. 3 VVG stelle eine den § 305 Abs. 2 BGB verdrängende Spezialregelung dar.39 Teilweise wird insoweit pauschal vom Vorrang des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG ausgegangen, teilweise wird weiter differenziert zwischen dessen Abs. 1 S. 3, 1. Hs. einerseits und Abs. 1 S. 3, 2. Hs. andererseits.40 § 7 Abs. 1 S. 3 VVG ermöglicht dem Versicherer, die nach S. 1 notwenige Information in zwei Ausnahmefällen nachzuholen: Wird der Vertrag auf Verlangen des Versicherungsnehmers telefonisch oder unter Verwendung eines anderen Kommunikationsmittels geschlossen, das die Information in Textform vor der VertragsSo Marlow / Spuhl, Das neue VVG, 3. Aufl. 2008, S. 15. Vgl. bereits oben Fn. 33. 39 So zunächst Gaul, VersR 2007, 21, 24; Funck, VersR 2008, 163, 165; Leverenz, Vertragsschluss nach der VVG-Reform, 2008, S. 76; Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB, Rn. 65 (betr. § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG). 40 So soll nach Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB, Rn. 65, lediglich § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG Vorrang vor § 305 Abs. 2 BGB haben (vgl. bereits Fn. 39). 37 38
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erklärung des Versicherungsnehmers nicht gestattet, muss die Information unverzüglich nach Vertragsschluss nachgeholt werden (1. Hs.); dies gilt auch, wenn der Versicherungsnehmer durch eine gesonderte schriftliche Erklärung auf eine Information vor Abgabe seiner Vertragserklärung ausdrücklich verzichtet (2. Hs.). Für einen solchen Vorrang des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG wird u. a. ins Feld geführt, ein Beharren „auf den strengen Anforderungen“ des § 305 Abs. 2 BGB bedeute, dass insbesondere ein wirksamer Verzicht auf die vorvertraglichen Informationen dem Versicherungsnehmer, der ein Interesse am sofortigen Versicherungsschutz hat, nichts nützen würde. Denn regelmäßig verlange § 305 Abs. 2 BGB, dass er die AVB vollständig erhält, bevor er die Vertragserklärung abgebe. Auch wenn der Gesetzgeber dies – anders als im Rahmen des Vertrages über die vorläufige Deckung gem. § 49 Abs. 1, 2 VVG – im Gesetz nicht klar zum Ausdruck gebracht habe, handele es sich bei § 7 Abs. 1 S. 3 VVG um eine Spezialregelung gegenüber § 305 Abs. 2 BGB.41 Indes bestehen gegenüber diesem Standpunkt Bedenken. Bereits die Prämisse, wonach § 305 Abs. 2 BGB strenge Anforderungen aufstelle, erscheint diskussionswürdig. Darüber hinaus zeigt die Regelung in § 49 Abs. 1, 2 VVG, dass für den Vertrag über die vorläufige Deckung expressis verbis eine Sonderregelung gegenüber § 305 Abs. 2 BGB gewollt war, die mit dieser Vorschrift ja gerade auch umgesetzt worden ist. Für § 7 Abs. 1 S. 3 VVG ist dies aber nicht der Fall; eine Verdrängung des § 305 Abs. 2 BGB durch § 7 Abs. 1 S. 3 VVG wäre mit einer Aufrechterhaltung des Policenmodells verbunden, was aber gerade nicht gewollt war. Zu Recht weist Wandt darauf hin, dass sich weder der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG noch der Gesetzesbegründung ein Vorrang gegenüber § 305 Abs. 2 BGB entnehmen lasse; zudem enthalte § 7 VVG (anders als § 5a VVG a.F.) gerade keine Regelung, wonach der Vertrag auf der Grundlage verspätet übersandter AVB als abgeschlossen gelte.42 § 7 Abs. 1 VVG soll den Schutz des Versicherungsnehmers im Vergleich zur früheren Rechtslage letztlich erhöhen; sollten indes durch § 7 Abs. 1 S. 3 gänzlich die Einbeziehungsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB verdrängt werden, würde man diesem Zweck aber nicht gerecht werden. Im Rahmen der Frage nach einem Vorrang des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG gegenüber § 305 Abs. 2 BGB sollte des Weiteren nicht außer Acht bleiben, dass Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG mit EG-rechtlichen Vorgaben erhoben worden sind.43 Nach Art. 12 Abs. 1 Fernabsatzrichtlinie II44 kann der Ver41 Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB, Rn. 65 (betr. § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG). 42 Wandt, Versicherungsrecht, 5. Aufl. 2010, Rn. 292; ebenso Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 90 sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 90. 43 Looschelders / Pohlmann / Pohlmann, VVG, 2010, § 7 Rn. 32. 44 Richtlinie 2002 / 65 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 9. 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richt-
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braucher auf die Rechte, die ihm durch diese Richtlinie eingeräumt werden, nicht verzichten. Ob der Vorschrift vor diesem Hintergrund der in Rede stehende Vorrang eingeräumt werden kann, erscheint eher fraglich. Des Weiteren wird für eine Einordnung des § 7 Abs. 1 S. 3 VVG als vorrangige Spezialregelung argumentiert, anderenfalls wäre eine Verzichtslösung sinnlos.45 Es stellt sich also die Frage, ob ein Nebeneinander von § 7 Abs. 1 S. 3 VVG und § 305 Abs. 2 BGB überhaupt Sinn macht. Schaut man sich zunächst die Ausnahme des § 7 Abs. 1 S. 3, 1. Hs. VVG an (Vertragsschlüsse mittels Telefon oder eines anderen Kommunikationsmittels, das die Information in Textform vor der Vertragserklärung des Versicherungsnehmers nicht gestattet) lässt sich ein Nebeneinander zwischen § 7 Abs. 1 S. 3 VVG und § 305 Abs. 2 BGB bejahen.46 Zum einen ist denkbar, dass der Versicherungsnehmer vor dem Vertragsschluss (mittels Telefon oder einem anderen Kommunikationsmittel) z. B. infolge von Vorgesprächen bereits die AVB in Händen hält. Dann ergeben sich ohnehin keine Probleme, weil die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB erfüllt sind. Ist dies nicht der Fall, ist es naturgemäß – jedenfalls bei telefonischem Abschluss – praktisch schwierig, dass sämtliche Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB erfüllt werden. Indes geht die h. M. zu Recht davon aus, dass schon beim telefonischen Abschluss ein individualvertraglich vereinbarter Verzicht auf die Einhaltung der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB möglich ist.47 Dies gilt insbesondere für § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB und ist letztlich keine versicherungsrechtliche Besonderheit, sondern eine Frage des allgemeinen AGB-Rechts. Damit besteht im Hinblick auf § 7 Abs. 1 S. 3, 1. Hs. VVG gar kein Erfordernis, von einer Sonderregel gegenüber § 305 Abs. 2 BGB auszugehen.48 Bleibt die Frage nach dem Verhältnis zwischen § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG zu § 305 Abs. 2 BGB. Zum einen ist auch hier möglich, dass dem Versicherungsnehmer die AVB vor seiner Vertragserklärung vorliegen und er damit lediglich auf die weitere notwendige Informationen verzichtet. Dann können ohne Weiteres die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB erfüllt sein. linie 90 / 619 / EWG des Rates und der Richtlinien 97 / 7 / EG und 98 / 27 / EG, ABl. 2002 I L 271, S. 16. 45 Leverenz, Vertragsschluss nach der VVG-Reform, 2008, S. 76. 46 So offenbar auch Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB, Rn. 62. 47 Vgl. Beckmann / Matusche-Beckmann / Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 68 sowie Bruck / Möller / Beckmann, 9. Aufl. 2008, Einleitung C Rn. 68; allgemein für das AGB-Recht: LG Braunschweig v. 17. 10. 1985, NJW-RR 1986 639; Münchener Kommentar-BGB / Basedow, 5. Aufl. 2007, § 305 Rn. 63; Palandt / Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 305 Rn. 37; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 149; a. A. AG Krefeld v. 1. 4. 1996, NJW-RR 1997 245. Ein formularmäßiger Verzicht ist nach h. M. allerdings unwirksam, BGH v. 24. 3. 1988 NJW 1988, 2106, 2108; Wolf / Lindacher / Pfeiffer / Pfeiffer, 5. Aufl. 2009, § 305 Rn. 110; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, a. a. O. § 305 Rn. 149 Fn. 397. 48 Im Ergebnis wohl auch Münchener Kommentar-VVG / Reiff, 2010, AVB, Rn. 62.
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Selbst wenn der Versicherungsnehmer auf die Information gem. § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG wirksam verzichtet, ist es darüber hinaus in einer Reihe von Fällen praktisch möglich, dass der Versicherer die AVB aushändigt und auf die Geltung der AVB hinweist. Im Rahmen dieser Tatbestandsvariante (2. Hs.) liegt ja gerade kein telefonischer Abschluss bzw. kein Vertragsschluss unter Verwendung eines anderen Kommunikationsmittels vor; vielmehr besteht unmittelbarer Kontakt zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer. In dieser Situation müsste es in aller Regel möglich bleiben, den Versicherungsnehmer auf die AVB hinzuweisen und ihm die Möglichkeit der Kenntnisnahme zu gewähren. Dies liegt zudem im eigenen Interesse des Versicherers, um von vorneherein klarzustellen, mit welchem konkreten Inhalt der Versicherungsvertrag zustande kommen soll. Selbst im Rahmen der Tatbestandsvariante von § 7 Abs. 1, S. 3, 2. Hs. VVG ist es deshalb keineswegs sinnlos, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB eingehalten werden. Man kann aus diesem Grunde nicht davon ausgehen, dass § 7 Abs. 1 S. 3, 2. Hs. VVG sämtliche Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB verdrängen soll. Zweifelsohne gilt dies für § 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB, wonach der Klauselverwender auf die AVB hinweisen muss. Aber auch für die weiteren Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB wird man dies annehmen müssen. Kommt es ausnahmsweise zu einer Situation, in der eine Möglichkeit zur Kenntnisverschaffung (§ 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB) nicht bestehen sollte, lässt sich die genannte, für den telefonischen Vertragsschluss akzeptierte, Verzichtslösung heranziehen. Dabei muss sich der Verzicht aber auf § 305 Abs. 2 BGB beziehen und die Wirksamkeit des Verzichts ist an § 305 Abs. 2 BGB zu orientieren, so dass die eigenständige Prüfung des § 305 Abs. 2 BGB erhalten bleibt. Insgesamt verbleibt es also bei dem Ausgangsbefund, wonach sich die Einbeziehung der AVB nach § 305 Abs. 2 BGB richtet und nicht durch § 7 Abs. 1 S. 3 VVG verdrängt wird. Eine Sonderregelung stellt lediglich § 49 Abs. 1, 2 VVG für den Vertrag über die vorläufige Deckung dar. d) Einbeziehung über die Genehmigungsfiktion gem. § 5 Abs. 1, 2 VVG? Für das Zustandekommen von Versicherungsverträgen enthält § 5 Abs. 1, 2 VVG eine weitere wesentliche Besonderheit im Vergleich zu den allgemeinen bürgerlichrechtlichen Regeln. Abweichend von den Grundregeln der Rechtsgeschäftslehre gilt gem. § 5 Abs. 1 VVG: „Weicht der Inhalt des Versicherungsscheins von dem Antrag des Versicherungsnehmers oder den getroffenen Vereinbarungen ab, gilt die Abweichung als genehmigt, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sind und der Versicherungsnehmer nicht innerhalb eines Monats nach Zugang des Versicherungsscheins in Textform widerspricht.“49 49 Weiter heißt es in § 5 Abs. 2 VVG: „Der Versicherer hat den Versicherungsnehmer bei Übermittlung des Versicherungsscheins darauf hinzuweisen, dass Abweichungen als geneh-
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Es fragt sich, ob diese Genehmigungsfiktion gem. § 5 Abs. 1, 2 VVG auch die Einbeziehung der AVB in den Vertrag erfassen kann und AVB, die dem Versicherungsnehmer bei Abgabe seiner Vertragserklärung noch nicht ausgehändigt waren, auf diese Weise praktisch nachträglich Vertragsinhalt werden können. Diese Möglichkeit wird im Schrifttum bejaht. So erachtet es Schimikowski für möglich, eine Änderungsvereinbarung zur Einbeziehung von AVB über § 5 VVG zustande kommen zu lassen:50 Der Versicherer könne die AVB mit dem Versicherungsschein übersenden, er müsse den Kunden auf die AVB hinweisen und ihn über das Widerspruchsrecht belehren; nutze der Kunde das Widerspruchsrecht nicht, seien die AVB Bestandteil des Vertrages. Dieser Ansatz erscheint indes fraglich. So betrifft § 5 VVG den Inhalt des Versicherungsscheins; die AVB sind grundsätzlich aber nicht Inhalt des Versicherungsscheins. Die pauschale Einbeziehung von AVB ist deshalb nicht vom Anwendungsbereich des § 5 VVG erfasst.51 Selbst wenn man ein Eingreifen des § 5 VVG für möglich hielte, wäre eine Einbeziehung der gesamten AVB praktisch kaum durchführbar. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass dann gem. § 5 Abs. 2 S. 2 VVG auf jede einzelne Abweichung hingewiesen werden müsste.52 Aus rechtlichen, aber auch aus praktischen Gründen spielt die Genehmigungsfiktion gem. § 5 VVG als Möglichkeit einer nachträglichen Einbeziehung der gesamten AVB in den Versicherungsvertrag damit keine Rolle. 4. Einbeziehung von AVB bei Verträgen mit Unternehmen Gem. § 310 Abs. 1 BGB findet die Grundregel des § 305 Abs. 2 BGB keine Anwendung im geschäftlichen Verkehr gegenüber Unternehmern (§ 14 BGB) oder juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Hierdurch soll den Bedürfnissen des Geschäftsverkehrs und der in diesem Bereich notwendigen Flexibilität entsprochen werden; zudem wird im Unterschied zu Privatpersonen eine eingeschränktere Schutzbedürftigkeit unternehmerisch handelnder Personen angenommen.53 migt gelten, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb eines Monats nach Zugang des Versicherungsscheins in Textform widerspricht. Auf jede Abweichung und die hiermit verbundenen Rechtsfolgen ist der Versicherungsnehmer durch einen auffälligen Hinweis im Versicherungsschein aufmerksam zu machen.“ 50 Schimikowski, RuS 2007, 309, 311; ebenso Rüfter / Halbach / Schimikowski / Brömmelmeyer, 2009, § 5 Rn. 11; Looschelders / Pohlmann / C. Schneider, VVG, 2010, § 5 Rn. 24. 51 Münchener Kommentar-VVG / Armbrüster, 2010, § 5 Rn. 20; Schwintowski / Brömmelmeyer / Ebers, 2008, § 5 Rn. 8; Bruck / Möller / Knops, 9. Aufl. 2008, § 5 Rn. 17; wohl auch Prölss / Martin / Prölss, 27. Aufl. 2004, § 5 Rn. 3a, wonach § 5a VVG a.F. gelte. Eine andere Frage ist, ob einzelne Bestimmungen der AVB über § 5 VVG Vertragsbestandteil werden können (so Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 135; a. A. Armbrüster a. a. O.). 52 Münchener Kommentar-VVG / Armbrüster, 2010, § 5 Rn. 20. 53 Vgl. BT-Drucks. 7 / 3919 S. 43; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 310 Rn. 8.
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Allgemeine Geschäftsbedingungen und damit auch AVB werden allerdings auch im Verkehr zwischen Unternehmern grundsätzlich nur unter der Voraussetzung rechtsgeschäftlicher Einbeziehung Vertragsbestandteil. Ausschlaggebend sind dabei die allgemeinen Vorschriften des BGB und HGB, die hier im Einzelnen nicht weiter vertieft werden sollen. Vielmehr sei der Vollständigkeit halber lediglich festgehalten, dass grundsätzlich eine ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Vertragspartner über die Geltung der Vertragsbedingungen erforderlich ist.54 Dabei muss die Absicht des Verwenders, Geschäftsbedingungen zum Vertragsinhalt machen zu wollen, hinreichend zum Ausdruck kommen. Hierfür kann ein stillschweigender, konkludenter Hinweis auf die Vertragsbedingungen genügen.55 Etwas anderes kann gelten, wenn es sich bei dem Vertragspartner um einen Kleinunternehmer handelt, da diese zumeist nur über geringere Geschäftserfahrung verfügen.56 Zudem ist auch im Geschäftsverkehr mit Unternehmern dem Vertragspartner die Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme vom Inhalt der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu gewähren. Eine Aushändigung der Vertragsbedingungen ist dabei jedoch grundsätzlich nicht erforderlich.57 Ein klarer und eindeutiger Hinweis auf die AGB sowie die Möglichkeit, sich ohne weiteres – z. B. durch Anforderung beim Verwender – Kenntnis verschaffen zu können, genügt jedenfalls.58 Selbst ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Hinweis gelten Geschäftsbedingungen als in den Vertrag einbezogen, wenn deren Verwendung branchenüblich ist.59 Von einer Branchenüblichkeit wird dabei auch hinsichtlich AVB ausgegangen.60 Bereits dieser Blick auf die Grundsätze der Einbeziehung von AGB gegenüber Unternehmern zeigt, dass in diesem Bereich die Einbeziehungsvoraussetzungen ohne große Schwierigkeiten erfüllt werden können. Hierüber besteht – soweit ersichtlich – im versicherungsrechtlichen Schrifttum auch Einigkeit, so dass die rechtlichen Anforderungen auch den praktischen Erfordernissen genügen. 54 BGH v. 28. 6. 1990, NJW-RR 1991, 357; BGH v. 3. 12. 1987, NJW 1988, 1210, 1212; BGH v. 20. 3. 1985, NJW 1985, 1838, 1839; OLG Karlsruhe v. 1. 8. 1997, VersR 1998, 1127; Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 144; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 170; Prütting / Wegen / Weinreich / Berger, 2006, § 305 Rn. 36. 55 BGH v. 6. 12. 1990, NJW-RR 1991, 570; Beckmann / Matusche-Beckmann / Präve, Versicherungsrechts-Handbuch, 1. Aufl. 2004, § 10 Rn. 144; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 170; Palandt / Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 310 Rn. 4. 56 BGH v. 11. 11. 1979, WM 1980, 164, 165. 57 BGH v. 11. 5. 1989, NJW-RR 1989, 1104; BGH v. 3. 12. 1987, BGHZ 102, 293 = NJW 1988, 1210, 1212; BGH v. 30. 6. 1976, NJW 1976, 1886; Palandt / Grüneberg, 69. Aufl. 2010, § 305 Rn. 54; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 169. 58 BGH v. 31. 10. 2001, NJW 2002, 370, 372, allerdings für Übersendung der AGB bei einem dem CISG unterliegenden Vertrag (Übersendung oder sonstige Zugangsverschaffung hier jedenfalls erforderlich); BGH v. 3. 12. 1987, BGHZ 102, 293 = NJW 1988, 1210, 1212. 59 BGH v. 3. 2. 1953, BGHZ 9, 1; BGH v. 8. 3. 1955, BGHZ 17, 1 = WM 1955, 839. 60 OLG Koblenz v. 24. 1. 2003, NJW-RR 2003, 749, 750; Ulmer / Brandner / Hensen / Ulmer, 10. Aufl. 2006, § 305 Rn. 175.
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Überlagert wird diese vereinfachte Form der Einbeziehung vorformulierter Vertragsklauseln auch im geschäftlichen Verkehr in Bezug auf AVB durch die Neuregelung der Informationspflichten des § 7 VVG. Die Pflicht des Versicherers nach § 7 Abs. 1 VVG, dem Versicherungsnehmer die in § 7 Abs. 2 VVG in Verbindung mit der VVG-InfoV61 bestimmten Informationen und die Versicherungsbedingungen in Textform mitzuteilen, ist grundsätzlich nicht auf Verbraucher oder natürliche Personen als Adressaten beschränkt.62 Wie sich aus § 7 Abs. 5 S. 1 VVG ergibt, finden die Informationspflichten lediglich auf sog. Großrisiken gem. § 210 Abs. 2 VVG keine Anwendung; außerhalb von solchen Großrisiken greifen die Informationspflichten also auch gegenüber unternehmerisch tätigen Versicherungsnehmern. Indes sind die AGB-rechtliche Einbeziehung und die versicherungsvertraglichen Informationspflichten gem. § 7 VVG grundsätzlich voneinander unabhängig (oben 3). Deshalb führt die Verletzung der Informationspflichten im unternehmerischen Bereich grundsätzlich nicht zum Scheitern der Einbeziehung der AVB.63 IV. Schlussbetrachtung Wie der abschließende Blick auf den unternehmerischen Rechtsverkehr gezeigt hat, ergeben sich für die Einbeziehung von AVB in diesem Bereich kaum Schwierigkeiten. Die Rechtspraxis kommt – wie immer wieder zu hören ist – mit diesen langjährig geltenden Rahmenbedingungen gut zurecht. Im Massengeschäft insbesondere mit Verbrauchern hat die VVG-Reform bewusst einige Neuerungen auch im Hinblick auf die Einbeziehung von AVB mit sich gebracht. Anders als nach früherer Rechtslage spielt nunmehr die Grundregel über die Einbeziehung von AGB gem. § 305 Abs. 2 BGB auch im Versicherungsvertragsrecht wieder eine deutlich größere Rolle. Insbesondere steht diese Vorschrift selbständig neben § 7 Abs. 1 VVG, der die Informationspflichten regelt. Auch wenn dies im Schrifttum im Einzelnen teilweise in Frage gestellt wird, kommt es demnach für die wirksame Einbeziehung von AVB grundsätzlich auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 305 Abs. 2 BGB an. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das VVG ausdrücklich vorrangige Regeln vorsieht, wie im Hinblick auf den Vertrag über die vorläufige Deckung gem. § 49 Abs. 1, 2 VVG. Diese neue Konzeption stimmt auch mit dem Standort des Versicherungsvertrags überein: Er ist und bleibt schuldrechtlicher Vertrag, der aufgrund der Besonderheiten der Versicherungsleistung wichtigen Modifikationen durch das VVG unterliegt. Im Hinblick auf die Einbeziehung von AVB gelten aber – wie aufgezeigt – dieselben Einbeziehungsvoraussetzungen wie für andere Verträge. Insoweit gelten nach der VVG-Reform keine versicherungsvertraglichen Besonderheiten mehr. 61 62 63
Oben Fn. 8. Regierungsentwurf (o. Fn. 30) BT-Drucks. 16 / 3945, S. 59. Im Ergebnis wohl auch Schimikowski, RuS 2007, 309, 310.
Eine Begegnung mit dem Common Law an der Universität Göttingen Mitte des 18. Jahrhunderts. Zur „Commentatio iuris exotici historica de iure communi Angliae. Of the Common Law of England“ von Christian Hartmann Samuel Gatzert Von Filippo Ranieri* I. Einleitung Im Zentrum dieses Beitrags steht eine kleine Druckschrift, die ein heute weitgehend vergessener Publizist und Germanist, damals außerordentlicher Professor des „Ius Germanicum“ an der Universität Göttingen – Christian Hartmann Samuel Gatzert – im Jahre 1765 veröffentlichte1. Sie ist dem englischen Common Law gewidmet und ist in mehrfacher Hinsicht beachtenswert. Sie stellt, soweit ich sehe, eines der ersten Werke dar, in welchem ein kontinentaler Jurist sich speziell mit dem damaligen Common Law befasst. Sie ordnet sich zugleich in das Interesse für das englische Recht ein, das offenbar die damalige Frühgermanistik kennzeichnet. Der Verfasser dieser Zeilen hat anderenorts2 die These aufgestellt, dass die Vertreter des „Ius germanicum“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals das englische Recht geradezu „entdeckt“ und darin eine quellenmäßige Absicherung der Autonomie des „Deutschen Privatrechts“ gesucht haben. Dieser Beitrag ordnet sich insoweit in einen weit größeren Forschungskontext ein. In dessen Rahmen sollen eine systematische und genaue Überprüfung des damaligen frühgermanistischen Schrifttums und spezifische bibliographische Recherchen im Einzelnen * Der Autor war bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Europäisches Zivilrecht und Neuere Europäische Rechtsgeschichte an der Universität des Saarlands. Er leitet dort zur Zeit die Forschungsstelle für Europäisches Zivilrecht und das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Zur Instrumentalisierung des englischen Rechts in der deutschen Germanistik“. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen dieses Projektes entstanden. Er sei dem Jubilar in Dankbarkeit für die zahlreichen freundschaftlichen und kollegialen Gespräche gewidmet. 1 Siehe Christian Hartmann Samuel Gatzert (1740 – 1807), Commentatio iuris exotici historico-litteraria de iure communi Angliae. Of the Common Law of England, Göttingen (: Barmeier) 1765, S. 103. 2 Vgl. im Einzelnen F. Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung der „Commentaries on the Law of England“ von William Blackstone. Zugleich ein Beitrag zur Instrumentalisierung des Common law in der deutschen Germanistik des 19. Jahrhunderts, in: T. Chiusi / Th. Gergen / H. Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 875 – 899, zu Gatzert, S. 892 – 893.
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diese Arbeitshypothese konkretisieren und bestätigen. Die folgende Untersuchung, die eine kleine Episode dieses rechts- und verfassungspolitischen Rezeptionsvorgangs beleuchten will, sei dem Jubilar gewidmet, der stets ein großes Verständnis für die europäische Einbettung der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte gezeigt hat.
II. Christian Hartmann Samuel Gatzert. Biographie und Werk eines Göttinger Vertreters des Jus Germanicum 1. Studium und akademischer Aufstieg Christian Hartmann Samuel Gatzert (1740 – 1807) war zu seiner Zeit kein Unbekannter. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte er zu den aktivsten Reichspublizisten und Reformpolitikern aus den letzten Jahrzehnten des Alten Reichs.3 Persönlich stammte er aus einfachen kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater war Mädchenschulmeister und Kantor in der kleinen thüringischen Residenzstadt Meiningen. Der Großvater väterlicherseits war dort Kammerdiener am Herzoglichen Hof gewesen. Die Mutter stammte aus einer evangelischen Pfarrersfamilie ebenfalls aus Meinigen. Er kam allerdings offenbar keineswegs aus einem bildungsfernen Milieu. Eine entscheidende Unterstützung für sein Universitätsstudium erhielt Gatzert nämlich durch einen älteren entfernten Verwandten mütterlicherseits, den seinerzeit berühmten Professor der Rechte Georg Heinrich Ayrer.4 Dieser, der in Jena studiert hatte, wurde 1736 in Göttingen zum Doktor beider Rechte promoviert, noch im selben Jahr Professor Extraordinarius und ein Jahr 3 Siehe zu ihm J. St. Pütter, Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg Augustus Universität zu Göttingen, Göttingen (: Vandenhoek) 1765, § 95, S. 188; L. v. Lehsten, Die hessischen Reichstagsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 137 / 2), Bd. II, Anhang: Listen und biographischgenealogische Blätter, Darmstadt Marburg 2003, S. 451 – 453; W. Huschke, Die Herkunft des hessen-darmstädtischen Staatsmanns Christan Hartmann Samuel von Gatzert (1739 – 1807), in: Archiv für Familienforschung 2001, Heft 3; U. Joost, Mehr als ein Erratum in den Errata. Nachträge zur Edition von Lichtenbergs Briefwechsel, in: Lichtenberg Jahrbuch 2007, S. 20; grundlegend, zuletzt, S. Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 26), Teil II: Biographien, Bd. 2, Köln Weimar Wien 2003, S. 1304 – 1312, mit ausführlichen Angaben zum Scheitern seiner Reichskammergericht-Präsentation; hier, S. 1304, weitere bibl. Nachweise. 4 Georg Heinrich Ayrer (1702 – 1774) stammte ebenfalls aus Meiningen; nach dem Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie an den Universitäten Jena, Leipzig und Straßburg seit 1721 wurde er im Jahre 1736 in Göttingen juristisch promoviert; im selben Jahr wurde er als außerordentlicher und ein Jahr später als ordentlicher Professor der Rechte an der Göttinger Universität berufen; zwischen 1755 – 1774 war er Senior der dortigen juristischen Fakultät; zu ihm und seinem Werk vgl. F. L. Schäfer, Juristische Germanistik (Fn. 96), S. 95 Anm. 16, S. 203, Anm. 15 ff.
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später ordentlicher Professor der Rechte. Ayrer, seit 1755 Senior der Göttinger Juristischen Fakultät, ermöglichte Gatzert überhaupt den Aufenthalt und das Studium in Göttingen. Seiner Empfehlung verdankte Gatzert insbesondere die kostenlose Immatrikulation an der dortigen Universität im Jahre 1757. Sieben Jahre später, 1764, war es wiederum Ayrer, der als Göttinger Prodekan Gatzert promovierte.5 In seinen Göttinger Jahren hatte Gatzert Gelegenheit, die damals führende Universität des Alten Reichs zu erleben. Zu seinen akademischen Lehrern gehörten neben Ayrer prominente Reichspublizisten wie Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter. Vor seiner Promotion finden wir ihn in Göttingen als studentischen Repetitor und, ab dem Wintersemester 1761 bis 1763, ebenfalls in Göttingen, als Hauslehrer des jungen kurbraunschweigischen Adligen Johann v. Uslar. Nach der Promotion im März 1764 wurde er wenige Monate später als außerordentlicher Professor des „Ius germanicum“ an der selbigen Göttinger Fakultät ernannt. In diesen Jahren scheint er auch eine längere Reise über die Niederlande nach England unternommen zu haben, wohl als Begleitung des erwähnten Johann v. Uslar auf der damals üblichen Kavalierstour. Ende des Jahres 1762 war er nachweislich in London.6 Gerade in diese Zeit fällt offenbar die Verfassung und Veröffentlichung der Schrift zum englischen Recht. In Göttingen blieb Gatzert schließlich bis 1767, als er auf eine ordentliche Professur für Reichsstaatsrecht an der Universität Gießen berufen wurde.7
5 Siehe [Ayrer, Georg Heinrich], Ordinis Iuridici Prodecanus Georg. Henricus Ayrer ( . . . ) Christiani Hartmanni Samuelis Gatzert ( . . . ) nec non ( . . . ) futura solemnia inauguralis indicit simulque disserit I. De impuberibus etiam pubertati proximis ad nullum iusiurandum admittendis. II. De puberibus a sacramento feudali haud exclusis, Gottingae (: typis PockwitzBarmeierianis), [1765]. Die Druckschrift ist datiert 28. Februar 1765 und sie enthält ein lesenwertes, lateinisch verfasstes Curriculum vitae von Christian Hartmann Samuel Gatzert (S. XX–XXIV), der seine Inauguraldissertation, De mutuo nummario post pecuniae mutationem ad mentem legum peregrinarum pariter atque domesticarum restituendo, Gottingae (: typis Pockwitz-Barmeierianis), [1764], S. 18, am 10. März 1765 zu verteidigen hatte. [Ein Exemplar der Druckschrift ist in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vorh.]. 6 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 94, wo er in der Fußnote, unter anderem, den damaligen Londoner Aufenthalt ausdrücklich erwähnt, „memini in diurnis Londinensibus circa finem anni 1762 ( . . . ) “. 7 Neben zahlreichen Universitätsschriften zum deutschen Lehnrecht, zum deutschen Privatrecht und zur Reichsgeschichte und Diplomatik (dazu siehe Fn. 39) ist aus der Giessener Zeit von ihm auch die Schrift Tractatus iuris germanici de Juribus Iudaeorum eorumque obligationibus praecipue parochialibus, Gießen 1771, bekannt geworden; zu seinem späteren Wirken bei der Emanzipation der Juden in Hessen Darmstadt, vgl. im Einzelnen F. Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen Bd. 8), Wiesbaden (: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen) 1987; hier ein Abdruck der zahlreichen von ihm dazu veranlassten Verordnungen.
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2. Die spätere politische Karriere Zwischen den Jahren 1767 – 1782 wirkte Gatzert an der Universität Gießen, ab 1772 war er auch Syndikus dieser Universität. Im Jahre 1778 wurde er von den Grafen des Obersächsischen Kreises als Assessor am Wetzlarer Reichskammergericht „präsentiert“. Er genoss hier bereits ein hohes Ansehen, da er seit langem für verschiedene Reichsstände und Privatparteien deren am Reichskammergericht und am Reichshofrat anhängige Prozesse besorgte. Obwohl das Kameralkollegium Gatzerts Proberelation 1779 als meisterhaft bewertet hatte, scheiterte die Präsentation damals an einem zwischen den Grafen des Obersächsischen Kreises und Kursachsen / Querfurt erbittert ausgefochtenen Konflikt um das Nominations- und Präsentationsrecht im Obersächsischen Kreis. Zwei Jahre nach der gescheiterten Präsentation in Wetzlar wurde er wegen seiner besonderen Kompetenz im deutschen Lehns- und Staatsrecht nach Darmstadt berufen, wo er als hessisch-darmstädtischer Gerichtsrat am Appellationsgericht und zugleich als Geheimrat im hessischdarmstädtischen Ministerium wirkte. Sein politischer Einfluss, vor allem bei den damaligen hessischen Finanz- und Verwaltungsreformen, war in jenen Jahren beträchtlich, was ihm nicht wenige Anfeindungen der lokalen Honoratioren einbrachte. Seit 1792 leitete er selbständig die auswärtigen Angelegenheiten von Hessen Darmstadt.8 In den Wirren der Revolutionskriege, verbunden mit den Territorialverlusten auf dem linken Rheinufer, unterstützte er den Wiener Hof und die reichspatriotische Seite. 1797 finden wir ihn als Teilnehmer des Kongress in Rastatt. Gerade in diesen Monaten vollzog sich der von Gatzerts Gegnern durchgesetzte Kurswechsel des Darmstädter Hofes hin zu einer Verständigung mit der französischen Seite, was im Frühjahr 1799 sein Abschiedsgesuch und seine Entlassung zur Folge hatte. Gatzert bildete, wie in einer Geschichte der Universität Gießen geschrieben worden ist, „den Abschluß und in gewisser Weise die Krönung der Reihe der großen Gießener Juristen des 18. Jahrhunderts“ und brachte „am Ende des Alten Europa die traditionelle Gießener Treue zu Kaiser und Reich noch einmal zur Geltung“.9
8 Zu dieser Zeit und zu seinem politischen Wirken siehe im Einzelnen J. R. Dietrich, Ein Giessener Professor als hessischer Staatsminister: Christian Hartmann Samuel Gatzert, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, NF 5 (1907), S. 462 – 514. 9 So P. Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Gießen 1990, S. 87.
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III. Die Schrift aus dem Jahre 1765 „Commentatio iuris exotici historica de iure communi Angliae, of the common Law of England“ 1. Die Universität Göttingen und die deutsche England-Rezeption Zahlreiche Studien haben bereits die vielfältigen Kontakte umfassend erhellt, die im 17. und 18. Jahrhundert kontinentale Schriftsteller, Philosophen sowie Staats- und Naturwissenschaftler nach England unterhielten. Eine herausragende Rolle als bevorzugter Umschlagplatz für die englische Kultur in Deutschland nahm in diesem Zusammenhang die 1734 vom englischen König Georg II von Hannover als Zentrum der Aufklärung eröffnete Universität Göttingen ein. Verwiesen sei hier allein auf die neue grundlegende Untersuchung von Hans-Christof Kraus, die deutlich gemacht hat, in welchem Umfang die englische Verfassung während des 18. Jahrhunderts ein zentrales Thema des kontinentalen politischen Denkens war und die entsprechenden Debatten in Frankreich und in Deutschland bestimmte.10 In diesen Rahmen ordnet sich wohl auch das erwähnte Druckwerk von Gatzert ein. Dass dieses gerade von einem Mitglied der Göttinger Universität verfasst wurde, ist wohl kein Zufall. Die „Göttingische Gelehrte Anzeigen“ veröffentlichten in jenen Jahren juristische Informationen aus England.11 „Auch der ( . . . ) eher abseitigen und sehr speziellen Materie des englischen Rechts ( . . . )“ – bemerkt Hans Christof Kraus in der erwähnten Untersuchung12 – „haben die Göttinger Anzeigen von Anfang an ihre Aufmerksamkeit gewidmet“. „So wurde bereits seit den frühen 1740er Jahren“ – schreibt er fort13 – „neue englische Rechtsliteratur angezeigt, und so ist einige Jahre später ebenfalls die Einrichtung des nachmals berühmten „Vinerian Chair“, des Oxforder Stiftungslehrstuhls für englisches Recht, in einem eigenen Artikel mitgeteilt worden, nicht ohne anzufügen, dass „der erste Vinerische Professor, Wilhelm Blackstone14, ( . . . ) seine erste Vorlesung am 25. Okt. 10 Vgl. H.-C. Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689 bis 1789 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Institut London, Bd. 60), München 2006, insb. S. 10 – 17 zum Forschungsstand; S. 401 – 422, Staatskunde und Völkerrecht vor 1750 und vor allem S. 542 ff. zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1739 – 1789; siehe auch, aber nur aus staatsrechtlicher Sicht, W. Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748 – 1914 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 16), Berlin 1995. 11 Siehe hier vorläufig H.-C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 542 ff. zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen in den Jahren 1739 – 1789, hier insb. S. 552 – 553 zur Übersetzung der Analysis of the Law of England von W. Blackstone durch Justus Clapproth. 12 So H.-C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 552 – 554. 13 So H.-C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), ebd. 14 Blackstone, William (1723 – 1780): Er lehrte seit 1758 englisches Recht in Oxford und hatte ein Richteramt am Court of Common Pleas inne. In seinen berühmten „Commentaries on the Laws of England“, unternahm er nach naturrechtlichen Vorbildern den Versuch, eine
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1758 gehalten habe“. Auch das Druckwerk von 1765 ordnet sich in dieses universitäre Umfeld ein, das Gatzert in seinen Göttingern Jahren umgab. Wenigstens zwei weitere Göttinger Rechtsgelehrte haben in jenen Jahrzehnten das Interesse für das englische Recht geteilt und haben, möglicherweise, unseren Autor zu dieser Schrift motiviert. An erster Stelle ist hier der bereits erwähnte Georg Heinrich Ayrer zu nennen, der, wie wir bereits gesehen haben, damals die Studien und die akademische Karriere Gatzerts in vielfältiger Weise förderte.15 Ayrer hatte zwei Jahrzehnte zuvor bereits eine kleine akademische Schrift zu einem Thema der englischen Gerichtsverfassung publiziert.16 Noch wichtiger scheint der Einfluss eines gleichaltrigen damaligen Göttinger Kollegen gewesen zu sein, dem Gatzert in einer Fußnote ausdrücklich dankt. Es handelt sich um Justus Clapproth,17 der seit 1759 Beschreibung der undurchsichtigen englischen Rechtspraxis (Common Law, Equity und Statute Law) zu geben. Siehe aus dem immensen Schrifttum zu ihm und seinem Werk, W. S. Holdsworth, Some Aspects of Blackstone and his Commentaries, in: Cambridge Law Journal 4 (1930 – 1932), S. 261 ff.; D. Kennedy, The Structure of Blackstone’s Commentaries, in: Buffalo Law Review 28 (1979), S. 205 ff.; S. F. C. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, in: Oxford Journal of Legal Studies (1981), S. 1 – 12 sowie in: ders., Studies in the History of the Common Law, London Ronceverte 1985, S. 197 – 208; M. Lobban, Blackstone and the Science of Law, in: Historical Journal 30 (1987), S. 311 – 335; A. Watson, The Structure of Blackstone’s Commentaries, in: Yale Law Journal 97 (1987 – 1988), S. 795 ff.; J. W. Cairns, Blackstone, an english institutist: Legal literature and the rise of the nation state, in: Oxford Journal of Legal Studies, Bd. 4 (1984), S. 318 ff., insb. S. 339 – 360; J. H. Baker, An Introduction to English Legal History, 3rd ed., London 1990 [4th ed. 2002], S. 219 – 222; R. D. Stacey, Sir William Blackstone and the Common Law. Blackstone’s Legacy to America, (ACW) 2003; A. Braun, Giudici e Accademia nell’esperienza inglese. Storia di un dialogo (Istituto italiano di scienze umane), Bologna 2006, S. 150 – 162; W. Prest, William Blackstone, Law and Letters in the Eighteenth Century, Oxford 2008; H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 178 – 185; F. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, Ein Handbuch mit Texten und Materialien, 3. Aufl., Wien New York 2009, insb. S. 74, Anm. 133. 15 Siehe oben, S. 2. 16 Siehe Georg Heinrich Ayrer (1702 – 1774), Orationes binae, altera De Georgio Augusto m. b. rege augustissimo heroe in toga et sago aeque magno, altera De serenissimo Cumbriae duce Guilielmo Augusto rebellium Scotiae domitore patrisque et patriae defensore felicissimo ( . . . ); iuncta est De sublimi sacri cognationis tribunali Anglis, The court of the Lord High Stewart dicto, prolusio inauguralis, Göttingen (: Vandenhoeck) 1744 [Eingesehen wurde das Exemplar vorh. im Frankfurter MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Sign.: FFMSL00120]. Zum Autor und seinem Werk vgl. oben (Fn. 4). 17 Justus Clapproth (1728 – 1805), promovierte 1754 in Göttingen und war dort seit 1759 Professor; vgl. von ihm insbes. Rechtswissenschaft von richtiger und vorsichtiger Eingehung der Verträge und Contracte (Iurisprudentia heurematica), dritte und ins teutsche übersetzte verbesserte Auflage, Göttingen 1786; 4. Aufl. Göttingen 1798; Die Einleitung in sämtliche summarische Processe zum Gebrauch der practischen Vorlesungen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von Fr. Chr. Willich, Göttingen 1807; zu Person und Werk siehe W. Henckel, Justus Clapproth (1728 – 1805): Göttinger Lehrer des Konkursrechts im 18. Jahrhundert, in: F. Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1987, S. 100 – 122, allerdings ohne Erwähnung dieser Übersetzung; St. Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19. Jahrhundert (Rechtsprechung. Materialien und Studien Bd. 17), Frankfurt a. M. 2002, S. 88 zu seiner Gegnerschaft der Veröffentlichung
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als Professor an der Göttinger Juristischen Fakultät tätig war und der in jenen Jahren an der Übersetzung des „An analysis of the Laws of England, to which is prefixed an introductory Discourse on the Study of Law“ von William Blackstone arbeitete.18 Die Übersetzung erfolgte auf der Grundlage der 4. Auflage von 1759.19 „So sehr ich“ – schreibt Clapproth in der Einleitung – „auch wünschte, denen deutschen Rechtsgelehrten aus diesem Buche einen kurzen Abriss von denen englischen Rechten vorzulegen, so groß sind doch die Schwierigkeiten, die sich bei Uebersetzung dieses Buches finden. Lauter Terminologien der englischen Rechtsgelehrsamkeit machen dieses Buch, welches nur einen Grundriß in sich enthält, aus. In die Gefahr“ schreibt er fort – „mag ich mich aber nicht stürzen, ein Buch zu übersetzen, welches ganz von ausländischen Kunstwörtern zusammengesetzt ist ( . . . ). Indessen will ich“ – kündigt er an – „meinen Landsleuten wenigstens einen Begriff machen, wie die Engländer die Rechtsgelehrsamkeit erlernen, wie sie von dem römischen Recht denken, und was selbiges für Schicksale dort gehabt. Dies ist theils aus der Vorrede, theils aus der diesem Werk vorgedruckten Rede am kürzesten abzunehmen.“ Die Schrift von Clapproth besteht in der Tat im Wesentlivon Urteilsgründen; zuletzt B. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. Theorie und Praxis der Gesetzgebungstechnik aus historisch-vergleichender Sicht (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 98), Tübingen 2004, insb. S. 288 – 290, S. 337 – 339 und S. 387 ff. 18 Siehe W. Blackstone, An Analysis of the Laws of England, 1st ed. Oxford (: Claredon Press) 1756; 2nd ed. Oxford 1757; 3rd ed. zusammen mit An Introductory Discourse on the Study of the Laws of England, Oxford 1758; 4th ed. Oxford 1759; 5th und 6th ed. Oxford 1762. Es handelt sich um den Syllabus der Oxforder Vorlesungen von Blackstone und um seine „inaugural lecture as Vinerian Professor of the Laws of England“; das Werk gilt insoweit als Vorläufer der „Commentaries“; siehe dazu R. Thomas, Sir William Blackstone, in: Notes and Queries, Oxford, 4th Ser. II, v. 6 June 1968, S. 528; W. Prest, William Blackstone (n. 14), insb. S. 142 – 144. Erwähnt sei es hier, dass der „Discourse on the Study of the Laws of England“ in Deutschland anonym angezeigt wurde in: Brittische Bibliothek, Bd. 4, Leipzig 1759, S. 523 – 530; Gatzert zitiert häufig daraus (vgl., etwa, Commentatio (Fn. 1), 94) benutzt jedoch offenbar nicht „An Analysis“ (vgl. Commentatio, S. 99 in der Anm.). Zu den „Commentaries“, die Gatzert noch nicht kennen konnte, erschien in: Litterarische Nachrichten von den Werken der besten Schriftsteller, Wien, v. 5. 4. 1775, S. 23 – 30 eine anonyme Anzeige der französischen Übersetzung, [A. P. Damiens de Gomicourt (1723 – 1790)], Commentaires sur les loix angloises de M. Blackstone. Traduits de l’Anglois par M. D. G., sur la quatrième Edition d’Oxford, I–VI, Bruxelles (: J. L. de Boubers) 1774. 19 Siehe J.[ustus] Clapproth, Der neueste Zustand der Rechtsgelehrsamkeit in Engelland. Aus dem Englischen übersetzt von ( . . . ), Göttingen (: Johann Albrecht Barmeier) 1767 und die anonyme Rezension dazu in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, v. 25. 07. 1767, S. 705 – 708. Ein Exemplar dieser seltenen Schrift ist vorh. in der Universitätsbibliothek Tübingen (Sign.: Hm VIII 31); vorh. ebenfalls in der Niedersächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign.: HG–FB / 8 HLU III, 2570; eine Übersetzung derselben Schrift erschien auch in: W. Blackstone, Vermischte Abhandlungen über verschiedene Rechtsmaterien. Aus dem Engländischen übersetzt von Johann Christoph Macher (y 1779), Bremen (: Försters) 1779 [vorh. Niedersächsische Landes- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign: 8 J Stat XIV / 754; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: M: Ra 39] Die Übersetzung von Clapproth wird erwähnt, allerdings ungenau, bei H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 553 Anm. 62.
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chen aus diesen zwei Übersetzungen, die ohne weitere Kommentare veröffentlicht werden. Wie erwähnt, zitiert Gatzert dankbar ausdrücklich diese Arbeit, dessen Manuskript der Kollege ihm offenbar bereits vor Drucklegung überlassen hatte.20 Es ist plausibel anzunehmen, dass gerade Clapproth dem jüngeren Kollegen eine solche Beschäftigung mit dem englischen Recht empfohlen hatte. Göttingen bot damals auch bibliothekarisch günstige Arbeitsbedingungen für eine solche Untersuchung. Die Universitätsbibliothek der neu gegründeten Universität legte offenbar von Anfang an großen Wert auf die systematische Anschaffung englischer Bücher, so dass sie mit solchen rasch anwachsenden Sammlungen schnell sehr bekannt wurde.21 Davon berichtet Gatzert selbst im Vorwort zu seiner Schrift. So erwähnt er dankbar, dass der Gründer und Kurator der Universität Gerlach Adolph von Münchhausen22 seine Studien zum englischen Recht wohlwollend befürwortet und durch den raschen Ankauf englischer Rechtsliteratur für die Universitätsbibliothek unterstützt habe.23 Der Verfasser, der sich als ein typischer Vertreter der damaligen deutschen Spätaufklärung auszeichnet, hatte offenbar auch Kontakte zu englischsprachigen Korrespondenten. So existiert ein Exemplar unserer Schrift mit einer handschriftlichen Widmung Gatzerts aus dem Juli 1766 für Benjamin Franklin.24 Einige Jahre zuvor war Gatzert nachweislich, wie bereits oben erwähnt, in England gewesen und hatte anscheinend Gelegenheit gehabt, sich umfassend mit der damaligen englischen Rechtsliteratur zu befassen.25 Es ist nicht ganz einfach, eindeutig die Bücher zu ermitteln, die Gatzert bei der Anfertigung seiner Studie in Händen gehabt hat. Seine umfangreichen bibliographischen Nachweise scheinen zum Teil aus zweiter Hand zu sein. Etliche Werke, die er zutreffend zitiert und beschreibt, hat er jedoch zweifellos selbst in der Hand gehalten. Man wird in diesem Beitrag deshalb versuchen, seine Angaben im Einzelnen zu analysieren und bibliographisch zu kontrollieren, da sie einen wertvollen Einblick
Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 59 Anm. (**). Dazu H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 544. 22 Dazu H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 426 Anm. 159. 23 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 5, wo er, unter anderem, die Unterstützung durch Gerlach Adolph von Münchhausen erwähnt, „Vix enim cognoverat comprobaratque de Iure Anglicano exponendi consilium meum, quum clementissime statim, quotquot ex eo genere libros praestantiores in loculamentis Bibliothecae publicae adhuc desiderarem, ultra mare arcessi sumtuque satis grandi comparari juberet ( . . . )“; siehe ebda., S. 88, wo Gatzert in der Anm. die damals erworbenen Sammlungen der englischen Statutes auflistet; siehe ebenso Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 4 – 5, wo in der Anm. die in Göttingen vorhandene Werke zum schottischen Recht erwähnt werden. 24 Von Kontakten zu Benjamin Franklin zeugt der Nachweis eines Exemplars unserer Schrift in dessen Bibliothek, mit handschriftlicher Widmung Gatzerts (Göttingen July 1766); siehe The Library of Benjamin Franklin, E. Wolf / K. J. Hayes, (eds.), Philadelphia (: American Philosophical Society) 2006, S. 332, Nr. 1262. 25 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 94, wo er in der Anmerkung, unter anderem, den damaligen Londoner Aufenthalt erwähnt, „memini in diurnis Londinensibus circa finem anni 1762 ( . . . )“. 20 21
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darin bieten, wie sich das damalige englische Common Law einem kontinentalen Beobachter präsentierte. Eine systematische Auswertung der Zitate verdeutlicht, dass Gatzert sich bei der Darstellung der Geschichte und des Systems des englischen Rechts im Wesentlichen auf drei damals recht bekannte Werke stützt. Es handelt sich zuerst um die in jenen Jahrzehnten in England sehr verbreitete enzyklopädische Darstellung „The common law common-plac’d“ von Jacob Giles,26 ferner um die 1713 postum erschienene „History of the Common Law of England“ von Matthew Hale27 sowie schließlich um das auch auf dem Kontinent sehr bekannte Buch von Arthur Duck, „De usu et authoritate juris civilis“.28 Gerade dieses Werk wird von Gatzert bei der historischen Beschreibung des Common Law ständig zitiert, etwa bei der Darstellung des mittelalterlichen englischen Gerichtssystems,29 bei den Hinweisen zur Verwendung des „Law French“ im älteren Common
26 Vgl. Jacob Giles (1686 – 1744), The common law common-plac’d: containing, the substance and effect of all the common law cases, dispersed in the Body of the Law, collected as from Abridgments as Reports, in a perfect new Method ( . . . ), 2nd ed., [London], (: R. Nutt and R. Gosling) 1733 [es handelt sich um die von Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (n. 1), S. 7, herangezogene Ausgabe]; zum Verfasser und seinen zahlreichen Werken vgl. M. Kilburn, Giles Jacob, in: H. G. G. Matthew / Brian Harrison (eds.), The Oxford Dictionary of National Biography, London 2004, Bd. 29, S. 546 – 547. 27 Vgl. Matthew Hale (1609 – 1676), The History and Analysis of the Common Law of England, London 1713 [es handelt sich um die von Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 4, herangezogene Ausgabe]; 2nd ed. London 1716; als: History of the Common Law of England. Divided into Twelve Chapters. [With:] The Analysis of the Law ( . . . ), 3rd ed., London (: E. and R. Nutt, and R. Gosling, for T. Waller) 1739; [ed. by Ch. M. Gray, (Classics of British Historical Literature), Chicago 1971]. Der Verfasser war Richter am Court of Common Pleas (1654), Chief Baron of the Exchequer (1660) und zuletzt Chief justice of the Court of King’s Bench (1671); zu Person und Werk dieses berühmten englischen Juristen des 17. Jhs. vgl. A. Cromartie, Sir Matthew Hale, 1609 – 1676. Law, Religion and Natural Philosophy (Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 1995; zu dessen Einfluss auf William Blackstone vgl. H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 182 – 183. Zu dessen Werk The Analysis of the Law, siehe Fn. 89. 28 Siehe Arthur Duck (1580 – 1648), De usu et authoritate Juris Civilis Romanorum in dominiis principum Christianorum Libri duo, London (: R. Hodgkin) 1653, Kap. VIII, „De usu et Authoritate Juris civilis Romanorum in Regno Angliae“; Lugduni Bat. (: Elsevir) 1654; London (: Th. Dring) 1689 [Nachdruck Bologna (: Forni) 1971]; Leipzig (: Lüderwald) 1668 [Nachdruck Köln / Wien 1990; dt. Übers.: Über Gebrauch und Geltung des ius civile der Römer in den Staaten der christlichen Fürsten, F. T. Hinrichs (Hrsg.) (Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte, Bd. 1), Göttingen 1993]. Arthur Duck (1580 – 1648), führender Vertreter der Civilians seiner Zeit, war Kanzler der Diözese London und Fellow of All Souls an der Universität Oxford sowie King’s Advocate im Court of the Constable; siehe zu Autor und Werk N. Horn, Römisches Recht als gemein europäisches Recht bei Arthur Duck, in: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Helmut Coing zum 28. Februar 1972, W. Wilhelm (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1972, S. 170 – 180; H. Coing, Das Schrifttum der englischen Civilians (Fn. 52), S. 11 – 12; A. Wijffels, Arthur Duck et le jus commune européen, in: Revue d’histoire des Facultés de droit et de la science juridique 1990, S. 193 – 221; D. R. Coquillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 161 – 166. 29 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 27 in der Anm; siehe ferner die Ausführungen, ebda., S. 1 – 52.
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Law30 sowie, schließlich, bei der Beschreibung der gegenwärtigen englischen Gerichtsverfassung und der damaligen Geltung des kanonischen und des römischen Rechts als Rechtsquellen in England.31 Die unmittelbare Lektüre von englischen Werken zum Common Law stellte für den Verfasser offenbar auch sprachlich eine keinesfalls zu unterschätzende Herausforderung dar. Wie wir sehen werden, sah Gatzert gerade darin eines der größten Hindernisse eines Zugangs zum englischen Recht.32 Er griff daher systematisch auf Rechtswörterbücher und Enzyklopädien zurück, die in jenen Jahren auch in England bei Studenten und Rechtspraktikern weit verbreitet waren.33 Unter den von ihm häufig zitierten Werken seien hier etwa das „A Law Dictionary Or, the interpreter of words and terms used either in the common or statute laws“ von John Cowell,34 das „A New Law-Dictionary“ von Jacob Giles35 sowie das „A New and Complete Law Dictionary“ von Timothy Cunningham36 genannt. 30 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 28 ; zur Verdrängung des Law French zugunsten des Englischen während des 17. Jhs., vgl. J. W. Cairns, Blackstone, An English Institutist (Fn. 14), insb. S. 327 – 331. 31 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 49 in der Anm. und S. 53 – 54. 32 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 91, wo zu den Schwierigkeiten des Studiums des Common Law bemerkt wird, „Vehementer porro augetur haec difficultas alia non minoris momenti, quam alibi jam proprius indicavi, nefanda nimirum linguae anglicanae juridicae barbarie“; vgl. ebenfalls die abwertenden Bemerkungen zur Rechtsprache des Common Law, in: Commentatio, S. 45 – 46 in der Anm. 33 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 95, wo er ausführlich auf die hier nachfolgenden Werke hinweist. 34 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 71 – 72 in der Anm.; vgl. [Cowell, John] (1554 – 1611), The Interpreter; Containing the genuine signification of such obscure words and terms used either in the common or statute laws of this realm; First compiled ( . . . ) and now enlarged from the collections of all others who have written in this kind ( . . . ) very necessary for the use of all young students, who intend to converse with old records, deeds or charters, by Thomas Manley, London (: J. Streater for H. Twyford, et al.), 1672; London (: J. Place, et al), 1701; als: A Law Dictionary Or, the interpreter of words and terms used either in the common or statute laws of that part of Great Britain, called England; ( . . . ) London (: D. Browne, et al), 1708; London (: E. and R. Nutt for F. Walthoe, et al.), 1727. Zur Geschichte des Werkes und zur Person des Autors vgl. infra Fn. 53 und Fn. 59. 35 Vgl. Giles, Jacob (1686 – 1744), A New Law Dictionary; Containing the interpretation and definition of words and terms used in the law; And also the whole law, and the practice thereof, under all the heads and titles of the same; Together with such informations relating thereto, as explain the history and antiquity of the law, and our manners, customs, and original government; Collected and abstracted from all the dictionaries, abridgements, institutes, reports, year-books, charters, registers, chronicles, and histories, published to this time; And fitted for the use of barristers, students, and practicers of the law ( . . . ) , London (: E. & R. Nutt, and R. Gosling) 1736; 4th ed., London (: E. and R. Nutt, and R. Gosling) 1739; 5th ed. London (: H. Lintot for R. Ware) 1744; 7th ed. London (: Henry Lintot for R. Ware, T. Osborn) 1756 [es handelt sich um die von Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 4, herangezogene Ausgabe]; 9th ed. by Owen Ruffhead and J. Morgan, London (: W. Strahan and M. Woodfall) 1772; 10th ed. by J. Morgan, London (: W. Strahan and W. Woodfall), 1782. 36 Vgl. [Cunningham, Timothy] (y 1789), A New and Complete Law Dictionary, or general abridgment of the law; On a more extensive plan than any law-dictionary hitherto published;
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2. Inhalt und Struktur der Schrift Bei der „Commentatio iuris exotici historica de iure communi Angliae“ handelt es sich um eine typische Universitätsschrift jener Zeit. Das Werk, das mehrfach in bibliothekarischen Altbeständen nachgewiesen ist,37 umfasst 103 Seiten nebst einer „Introductio“ von weiteren 7 Seiten. Über die Entstehungsgeschichte unserer Schrift existiert, soweit ich sehe, keine verwertbare Dokumentation. Spezifische Forschungen zum Verfasser und dessen Werk im Göttinger und im Gießener Universitätsarchiv sowie in den Handschriften-Abteilungen der dortigen Universitätsbibliotheken und im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt waren in dieser spezifischen Hinsicht ganz unergiebig.38 Gatzert selbst kehrte nie mehr zu Themen des englischen Common Law zurück. Bibliographische Untersuchungen, insbesondere eine systematische Auswertung der zahlreichen juristischen Dissertationen und Programmata, die er während seiner Gießener Universitätszeit betreute und veröffentlichte,39 haben ergeben, dass das englische Recht dort in keinerlei Weise mehr als Thema oder Referenz erscheint. In der „Introductio“ zu unserer Schrift schildert der Verfasser den Anlass und die Zielsetzung seiner Untersuchung. Diese geht offenbar auf ein privates Kolleg zum englischen und schottischen Recht zurück, das Gatzert als außerordentlicher Professor im Wintersemester 1764, in englischer Containing not only the explanation of the terms, but also the law itself, both with regard to theory and practice; Very useful to barristers, justices of the peace, attornies, solicitors, ( . . . ), I–II, London, (: S. Crowder), 1764 – 65; 2nd ed. London (: W. Flexney, et al.), 1771; 3rd ed., London (: J. F. and C. Rivington, et al.), 1783. 37 Herangezogen wurde ein Exemplar aus der Bibliothek des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, wo zwei Exemplare desselben in der Sammlung Lehnemann vorhanden sind (Sign.: FFMSL 16488; FFMSL 05268). Vorhanden ist das Werk auch in folgenden Altbeständen: UB Göttingen (Sign.: 4 HLP IV, 26 / 5: 1765 [23]); UB Erfurt-Gotha (Sign.: Jur. 4. 00110 / 05); UB Halle (Sign.: Ku 2319); UB Hamburg (Sign.: IPR Gr VIII 301); UB Rostock (Sign.: Jk-1056); UB Bonn (Sign.: Sav 2561); UB Tübingen (drei Exemplare: Sign.: Ka I 600 – 223 / 21; Ka I 600 – 391 / 5; Hm VIII 10.4); Württ. LB (Sign.: Jur. Diss. 18254). Nachgewiesen ist die Schrift ferner in den Universitätsbibliotheken von Coburg, Erlangen-Nürnberg, Bamberg, München und in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Im Ausland ist die Schrift vorhanden in den Universitätsbibliotheken von Oxford und Aberdeen sowie in der Lillian Goldman Law Library der Yale University (Rare Book Collection: T G2299 1765). 38 Aus der Tätigkeit von Gatzert von 1764 – 1767 als außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät Göttingen besitzt das dortige Universitätsarchiv über ihn lediglich eine Personalakte des Kuratoriums (Sign.: Kur. 4462), die einen Umfang von 14 Blättern besitzt und ausschließlich seine Ernennung zum a.o. Professor sowie regelmäßige Geldzuwendungen (Pensionen) behandelt. Korrespondenzen oder Unterlagen über seine damalige Forschungstätigkeit, insbesondere zu diesem englischen Projekt sind dort nicht vorhanden. Auch in Gießen existieren nur einige wenige Schriftstücke zu Gatzert, die sämtlich seine Giessener Professur betreffen. Die reichhaltige Dokumentation zu ihm im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt betrifft ausschließlich seine Tätigkeit bei der Darmstädter Regierung. 39 Vgl. Biographisches Repertorium der Juristen im Alten Reich. 16.–18. Jahrhundert, A–E, Hg. von F. Ranieri / K. Härter (Ius Commune CD-ROM. Informationssysteme zur Rechtsgeschichte 1), Frankfurt (Main) (: Klostermann / Lars GmbH) 1997.
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Sprache („anglicano sermone“), für einen englischen und einen schottischen Zuhörer in Göttingen angeboten hatte.40 Die Schrift stammt wohl aus der Ausarbeitung der Vorlesungsunterlagen. „Pro more praemiseram historici et litterarii argumenti Prolegomena,“ – berichtet Gatzert – „ex quorum particulis succrescendo enatus est, quem tenes, libellus“.41 Ursprünglich sei die Schrift erheblich breiter angelegt gewesen, auf die Darstellung des schottischen Rechts sei allerdings schließlich verzichtet worden.42 Wenden wir uns nun Inhalt und Struktur der Druckschrift zu. In einem ersten Abschnitt werden das englische Common Law allgemein und vor allem dessen Rechtsquellen vorgestellt.43 Es folgt ein zweiter Abschnitt („Historia ejus“) über die Geschichte des englischen Rechts.44 Neben den oben erwähnten Werken stützt sich der Verfasser hier in seiner Darstellung vor allem auf „The Doctor and Student“ von Christopher von St. Germain45 und auf „De laudibus legum Angliae“ 40 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 3 – 4; darüber berichtet Gatzert auch in seinem Curriculum vitae (Fn. 5), S. XXIV. 41 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 4 – 5; zu seinem damaligen Kolleg berichtet Gatzert ferner, dass er als dessen Grundlage Heineccius, mit Ergänzungen zu den englischen und den schottischen Rechtsquellen, genommen habe („Ea autem in re ita processi, ut ad Heineccii Institutionum librum, ( . . . ) scholas meas instituerem, iisque semper in locis, ubi ipse doctrinae cujusuis usum Germanicum subjunxit, Anglicanum ego et Scoticum substituerem“); gemeint ist, wohl, Johann Gottlieb Heineccius (1681 – 1741), Elementa iuris germanici tum veteris, tum hodierni, I–II, 1. Aufl. Halle 1735 – 1736, [2. Aufl. 1736 – 1743; 3. Aufl. 1746]; neben der deutschen Rechtsquellen bezieht Heineccius bezeichnenderweise in größerem Umfang auch ältere englische Rechtsquellen ein; dazu F. L. Schäfer, Juristische Germanistik (Fn. 96), S. 108. 42 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 5 – 6. 43 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 1 – 9. 44 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 12 – 56. 45 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 9 in der Anm.; vgl. [Saint Germain [German], Christopher] (ca. 1460 – 1540 / 41), Dialogus de fundamentis legum Angliae et de conscientia; engl.: The Doctor and Student or Dialogues Between a Doctor of Divinity and a Student in the Laws of England Containing the Grounds of Those Laws Together with Questions and Cases Concerning the Equity, [1531]; Gatzert hat die englische Ausgabe, London [: John Streater, Eliz. Flesher, and Henry Twyford] 1673 und die lateinische Ausgabe, London [: Printed by A. Islip?, in aedibus Thomae Wight], 1604 herangezogen; siehe ferner: 15th ed. (: H. Lintot) 1751; zuletzt ed. by T. F. T. Plucknett / J. L. Barton, (Publications of the Selden Society), London 1974. Bei diesem Werk handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Einführung in das englische Common Law, geschrieben etwa zwischen 1528 und 1531; sie wollte vor allem über das Verhältnis zwischen Recht und Moral aufklären und ordnet sich deshalb in die Literatur der Reformationszeit ein. Sie wurde auch von den Lehrlingen der Inns of Court herangezogen. Verfasser derselben war Christopher St. Germain (y 1540), Barrister des Middle Temple, Zeitgenosse und Widersacher von Thomas Morus; dazu S. E. Thorne, St. Germain’s „Doctor and Student“, in: The Library. The Transactions of the Bibliographical Society, 1930, S. 421 – 426 sowie in: S. E. Thorne, Essays in English Legal History, London 1985, S. 211 – 216; J. H. Baker, An Introduction to English Legal History, 3rd ed. London 1990 [4th ed. 2002], S. 126 und S. 154; zum Werk S. 216 – 217; J. Guy, Thomas More and St. German: the Battle of the Books, in: A. Fox and J. Guy (eds.), Reassessing the Henrician Age. Humanism, Politics and Reform 1500 – 1550, Oxford 1986, S. 95 – 120; D. R. Co-
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von John Fortescue.46 Beide Werke hat Gatzert, der laufend daraus zitiert, offenbar selbst in Händen gehabt. Aus der Lektüre seiner Ausführungen gewinnt man zudem den Eindruck, dass er die wesentlichen Merkmale des englischen Rechtssystems genau verstanden hat. So schildert Gatzert besonders präzise die gewohnheitsrechtlichen Grundlagen des englischen Rechts und das Verhältnis zwischen Common Law und Statute Law. „Sub adpellatione Iuris Communis (Common Law of England) ( . . . ) nomine isto“ – schreibt er47 – „indicat priorem, generalem nempe illam normam consuetudinariam tam communi populi sponsione quam Regis sacramento comprobatam ( . . . ) haec est Lex Terrae et Patriae et in sensu proprio Lex Angliae Communis“. „Lex communis quidem“ – bemerkt er fort48 – „non potest mutari nisi per statutum, quod in genere supplere debet eius defectus; quoties autem collidunt inter se jura statutaria et vetera non scripta, consuetudo vincit legem scriptam hacque est potior. ( . . . ) Lex Parliamentaria iuris communis abrogatoria restrictive exponenda est, nisi in casu publicae utilitatis; confirmatoria vero extendi potest ultra verba“. Ebenso deutlich wird die bindende Präjudizienwirkung des „Case Law“ herausgestellt. „Sine enim secundum claram legem, ( . . . )“ – schreibt Gatzert49 – „factam ibi esse controversiae decisionem appareat, sine ad ductum sanae alicujuus analogiae; utroque tamen casu“ – fährt er fort – „judicata haec Curiarum tamquam receptacula jurium et consuetudinem praeterlapsi temporis atque veluti documenta probantia considerari statuunt debere“.50 quillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 48 – 58; J. J. Baker, St. German Christopher (ca. 1460 – 1540 / 41), in: H. G. G. Matthew / Brian Harrison (eds.), The Oxford Dictionary of National Biography, London 2004. 46 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 8 und S. 64 – 65; vgl. John Fortescue, [1397?–1479?], De Laudibus Legum Angliae, ( . . . ) [1st ed. 1567]; Gatzert kennt folgende drei Ausgaben: London (: Thomas Wight, and Bonham Norton), 1599; ( . . . ) ed. by J. Selden (1584 – 1654), 1st ed. London (: for the Companie of Stationers) 1616; Fortescutus illustratus, or, A commentary on that nervous treatise De laudibus legum Angliae, written by Sir John Fortescue Knight by Edward Waterhouse, London (: by Tho. Roycroft for Thomas Dicas), 1663; siehe ferner: ( . . . ) translated into English, Illustrated with the Notes ( . . . ), London (: Henry Lintot for Daniel Browne), 1741; zuletzt, John Fortescue, De Laudibus Legum Angliae. Latin text, with Translation, Introduction and Notes by S. B. Cheimes, (Cambridge Studies in English Legal History), Cambridge 1942 [Nachdruck New York 1979]. Sir John Fortescue (ca. 1397 – 1479) entstammte einer Adelsfamilie aus Devonshire und war seit 1442 Chief Justice of King’s Bench; unter Heinrich VI wurde er Chancellor of England. Er gilt als herausragender Vertreter des Common Law seiner Zeit. Er lebte während des Krieges der Zwei Rosen und musste zeitweilig nach Schottland und nach Frankreich fliehen. Die Schrift „De laudibus legum Angliae“ (ca. 1470) gilt als ein zentrales Werk in der englischen Rechtsund Verfassungsgeschichte bei der Grundlegung der englischen königlichen Verfassung als einer eingeschränkten, auf die Herrschaft des Rechts gegründeten Herrschaft und in der Stärkung des Parlaments und spielt auch in den darauffolgenden Jahrhunderten eine zentrale Rolle; vgl. H. C. Kraus, Englische Verfassung (Fn. 10), S. 100 mit weiteren bibliographischen Nachweisen. 47 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 5. 48 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 7, unter Verweis auf Jacob Giles, The common law common-plac’d (Fn. 26), Stichwort „Statute Law“. 49 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 41.
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Ausführlich befasst sich Gatzert ferner mit der Frage der eingeschränkten Autorität des Römischen Rechts in England. „Juris Romani in Anglia“ – stellt er fest51 – „nullum omnino esse usum, nullam penitus auctoritatem“. Auch hier scheint er vorzüglich informiert zu sein. Er kennt die in der Berufzunft des Doctor’s Commons organisierten Anwälte, die in den Prozessen auf dem Gebiet des Civil Law plädieren dürften.52 Erwähnt werden in diesem Zusammenhang auch die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Civilians und Common Lawyers, sowie die Verfolgung John Cowells, Regius Professor of Civil Law in Cambridge, und die Verbrennung seines Werkes Anfang des 17. Jahrhunderts.53 „Hanc autem recentiorum saeculorum eruditi juris Anglici“ – berichtet hier Gatzert – „mirum quantum neglexerunt eaque propter aliter plane fieri non potuit, quam ut facile et ipsi crediderint et aliis ita persuaderi passi sunt, penitus superfluum esse Romanae jurisprudentiae apud ipsos studium; jura patria e contrario, ( . . . ) in Anglia inventa suis solummodo constare praeceptis, suis crevisse viribus nec foris arcessere interpretationis suae debere subsidia, quae domi quaerenda sint et habeantur“.54 „Hinc origo repetenda est odii,“ – fügt er hinzu – „quo juris communis periti prosecuti sunt legum civilium cultores; hinc derivandae duae illae familiae, in quas divisi sunt Iureconsulti in Anglia omnes, Civilians and Common Lawyers“.55 Die Perspektive 50 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 41, wobei er in der Anmerkung, unter Verweis auf Matthew Hale, The History and Analysis of the Common Law of England (Fn. 27), Kap. IV, als Rechtsquellen aufzählt: „Usum nempe aliquem ubique regni receptum; statuta pristini aevi atque judicum decisiones“. 51 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 41 – 42. 52 Siehe zur Rolle der Civilians in der englischen Rechtsgeschichte B. L. Lewack, The Civil Lawyers in England 1603 – 1641, Oxford 1973; H. Coing, Das Schrifttum der englischen Civilians und die kontinentale Rechtsliteratur in der Zeit zwischen 1550 und 1800, in: Ius Commune, Bd. V, 1975, S. 1 – 55; B. L. Lewack, The English Civilians, 1500 – 1750, in: W. Prest (ed.), Lawyers in early modern Europe and America, London 1981, S. 108 – 127; grundlegend zuletzt D. R. Coquillette, The Civilian Writers of Doctor’s Commons, London. Three Centuries of Juristic Innovation in Comparative, Commercial and International Law (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 3), Berlin 1988. 53 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 45 – 47. Zur Verfolgung von John Cowell und Verbrennung seines Werkes auf Veranlassung des Parlaments, siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 71 – 73; bei dem Werk von Cowell, indem er sich nach Ansicht von Edward Coke allzu königfreundlich geäußert hatte, handelt es sich um John Cowell (1554 – 1611), The interpreter: or Booke containing the signification of words: wherein is set foorth the true meaning of all, or the most part of such words and ( . . . ), Cambridge (: Iohn Legate), 1607 [Nachdruck Bd. 279 – 285 English linguistics 1500 – 1800, 1974]; das Werk ist ein Lexikon der Rechtsprache des Common Law; die Worte werden in der Regel mit den Termini der römischen Rechtsquellen erläutert; dazu und zum Verfasser H. Coing, Das Schrifttum (Fn. 52), S. 52 – 53; D. R. Coquillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 79 – 94; C. S. Clegg, Press Censorship in Jacobean England, Cambridge 2001, S. 137 – 141. Zu den späteren, zahlreichen Auflagen des Werks vgl. Fn. 34. 54 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 45. 55 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 45; in einer Anmerkung vergleicht hier Gatzert diese Kontraste mit der auch im damaligen Deutschland zu beobachtenden Animosität zwischen Germanisten und Romanisten.
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Gatzerts bleibt hier ganz offenkundig diejenige eines kontinentalen Juristen. Seine Sympathie gilt ausdrücklich John Cowell und den Civilians. Bezeichnend ist, etwa, wie er sich hier abwertend über die inhaltliche und sprachliche Unverständlichkeit der Regeln des Common Law äußert. Die Auseinandersetzungen mit den Common Lawyers seien, erklärt er, „maximam partem horrendae illius nefandaeque barbarici atque incredibilis obscuritatis, qua involuuntur juris Anglici praecepta“.56 „Ut soli enim sapere nec ullo modo cedere locum vel minimum Iureconsultis Romanis viderentur Communistae,“ – fügt er hinzu – „ex infelicissima miscela vocabulorum Latinae, Normannicae, Saxonicae aliusque porro incognitae originis linguam juris patrii ita tenebrosam et incultam composuerunt, ut olim in vulgatum proverbium abiisse legamus, Iurisconsultum Anglicanum extra Angliam eo ipso desinere esse in numero eruditorum“.57 Ebenso bezeichnend bleibt die Ansicht von Gatzert, dass die römischen Quellen auch in England aus rechtswissenschaftlicher Sicht unverzichtbar bleiben. Er räumt zwar ein, „Ex his itaque, quae hunc in modum hactenus proposui, dilucide patebit, in explicandis legibus Anglicis auctoritatem Iuris Romani minime quidem esse ejusmodi, quae vinciat obligetve; sed“ – fügt er hinzu – „usum praecipue hermeneuticum, quem dicimus, et qui eximie adjuvet in interpretatione et applicatione Consultos juris communis“. Das Römische Recht sei insoweit zu Recht zu den Quellen des englischen Rechts zu zählen: „Meque proinde non citra causam“ – hält Gatzert fest – „ius Romanum fontibus anglicanae jurisprudentiae adnumerasse“.58 Zur Stützung seiner Ansicht beruft sich Gatzert hier auf zwei englische Autoren: den Civilian John Cowell,59 der im Widmungsbrief zu seinen „Institutiones Juris Anglicani“, in welchen er das englische Recht nach dem System der Justinianischen Institutionen darstellte, das Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 45 – 46 in der Anm. Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), ebda. 58 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 47. 59 Vgl. John Cowell (1554 – 1611), Institutiones Juris Anglicani: Ad Methodum et seriem Institutionum Imperialium compositae et digestae; Opus non solum Juris Anglicani Romanique in hoc Regno studiosis, sed omnibus ( . . . ) utile et accomodatum, Cantabrigiae (: Iohn Legate), [1605]; Oxford (: Oxlad et Forrest) 1664; Oxford (: Hen. Hall) 1676; [die beiden letzten Ausgaben lagen Gatzert vor, Commentatio, S. 72]; siehe ferner als Übers.: The institutes of the lawes of England: digested into the method of the civill or imperiall institutions: useful for all gentleman who are studious, and desire to understand the customes of this nation, ( . . . ); translated into English, ( . . . ) by W.G., Esquire, London 1651. John Cowell (1554 – 1611) war Regius Professor of Civil Law an der Universität Cambridge, seit 1598 Master of Trinity Hall, Generalvikar des Erzbischofs von Canterbury und ein führender Civilian; zu Werk und Person siehe H. Coing, Das Schrifttum (Fn. 52), S. 11; D. J. Seipp, The Structure of English Common Law in the Seventeenth Century, in: Legal History in the Making: Proceedings of the Ninth British Legal History Conference, William M. Gordon (ed.), Glasgow, 1991, S. 61 ff., insb. S. 64 – 72; D. R. Coquillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 79 – 94; P. Raffield, Images and Cultures of Law in Early Modern England, Justice and Political Power, 1558 – 1660 (Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 2004, S. 40; A. Lewis, „What Marcellus says is against you“: Roman law and Common Law, in: A. D. E. E. Lewis / D. J. Ibbetson (eds.), The Roman Law Tradition, Cambridge 2006, S. 199 ff., insb. S. 204 – 206. 56 57
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Common Law als ein durch lehnsrechtliche Grundsätze modifiziertes Civil Law bezeichnet hatte,60 und Thomas Wood, „A New Institute of the Imperial or, Civil Law“, der ein Jahrhundert später eine ähnliche Auffassung vertreten hatte („jus commune ( . . . ) nihil aliud esse, quam compositionem ex jure feudali, civili et canonico confectam“). 61 Mit vielen Details werden anschließend die Gerichtshöfe aufgelistet, an denen die Civilians tätig sind und wo das Römische Recht ausnahmsweise noch Anwendung erfährt.62 Schließlich befasst sich Gatzert mit der Stellung des Kanonischen Rechts bei den kirchlichen Gerichten und bei den Courts of Equity.63 Die drei letzten Abschnitte seiner Schrift widmet Gatzert einer bibliographischen Dokumentation zur englischen Rechtsliteratur, („Historia litteraria Iuris Communis Angliae“64 und „Biographiae et Bibliographiae Iuris Anglici primae linae“)65 sowie dem gegenwärtigen Stand des englischen Rechts („Historia Iurisprudentiae Anglicanae“).66 Zahlreiche seiner Angaben sind hier zwar wohl aus 60 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 48, mit der wörtlichen Wiedergabe der Ausführungen von John Cowell, „Postquam enim aliquot annos in harum scientiarum comparatione posuissem: eadem utriusque fundamenta, easdem rerum definitiones divisionesque, consentaneas plane regulas, similia fere scita, sola idiomatis atque methodi varietate disparata animadverti: et legem nostram communem, quam dicimus, nihil aliud esse, quam Romani et feudalis mixtionem“; siehe zu dieser Tendenz der Civilians, das englische mit dem römischen Recht in Verbindung zu bringen, H. Coing, Das Schrifttum (Fn. 52), S. 49. Siehe die scharfe Ablehnung der Ansicht Cowells bei E. Coke, The Fourth Part of the Reports, London 1738 (dazu Fn. 71), Introductio, S. XI: „Quod vero ad reductionem Juris Communis in commodiorem Methodum attinet, de illius laboris fructu plurimum dubito“. 61 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 48; vgl. Thomas Wood (1661 – 1722), A New Institute of the Imperial or, Civil Law. With Notes Shewing in Some Principal Cases Amongst Other Observations, How the Canon Law, The Laws of England, And the Laws and Customs of Other Nations Differ From It, ( . . . ), 1st ed., London 1704; 3rd ed., London (: W.B. for Richard Sare), 1721; Gatzert (Commentatio, S. 75) hat die 4th ed., (London 1730) benutzt; das Zitat liest man hier auf S. 85. Siehe ferner Thomas Wood, An institute of the laws of England; or, The laws of England in their natural order, according to common use. Published for the direction of young beginners, or students in the law; and of others that desire to have a general knowledge in our common and statute laws, ( . . . ), London (: Eliz. Nutt and R. Gosling) 1720; Gatzert, der sehr ausführlich über beide Werke berichtet (Commentatio, S. 75 – 76 in der Anm.), hat folgende Ausgabe benutzt: ( . . . ) 8th ed., with great additions from the new reports and the statutes, ( . . . ), London (: Henry Lintot et al.) 1754. Thomas Wood (1661 – 1722) war Doktor der Rechte an der Universität Oxford, Assessor dort am Vice-chancellor’s Court und zugleich Barrister at Gray’s Inn; zu Werk und Person siehe D. R. Coquillette, The Civilian Writers (n. 52), S. 198 – 203; R. B. Robinson, The two Institutes of Thomas Wood: a study in eighteenth-century legal scholarship, in: American Journal of Legal History, 35 (1991), S. 432 – 458; M. H. Hoeflich, Wood, Thomas (1661 – 1722), in: H. G. G. Matthew / Brian Harrison (eds.), The Oxford Dictionary of National Biography, London 2004; W. Prest, William Blackstone (Fn. 14), insb. S. 68. 62 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 51 – 54. 63 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 56. 64 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 56 – 59. 65 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 60 – 77.
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zweiter Hand,67 einiges hat er allerdings zweifelsfrei selbst in Händen gehabt. In umfänglichen Anmerkungen werden biographische und bibliographische Angaben zu den jeweiligen Autoren gegeben. Damit liefert die Schrift hier eine kurze, aber wohl gut dokumentierte Geschichte des englischen Rechts. So defilieren vor dem Leser die große Namen und die berühmten Werke des älteren Common Law, seit seinen mittelalterlichen Anfängen, etwa Ranulf de Glanwill,68 Heinrich Brachton,69 Thomas Littleton,70 Edward Coke,71 Matthew Hale,72 wobei Gatzert zu dieVgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 77 – 102. Zurückgegriffen hat Gatzert hier (Commentatio, S. 59 Anm.) auf das Katalog von John Worrall (y 1771), Bibliotheca legum: or, a new and compleat list of the common and statute law books of this realm, and others relating thereunto ( . . . ) compil’d by ( . . . ), London (: J. Worrall), 1732. 68 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 61; vgl. Ranulf de Glanvill (1110 – 1190), Schüler des italienischen Juristen Vacarius, der damals Römisches Recht in England lehrte, schrieb (ca. 1180) eine der frühesten Darstellungen des mittelalterlichen Common Law; vgl. The treatise on the laws and customs of the realm of England commonly called Glanvill, ed. by G. D. G. Hall, London 1965, mit englischer Übersetzung; zu ihm und seinem Werk vgl. W. S. Holdsworth, Sources and Literature of English Law, Oxford 1925, Bd. II, S. 148 und S. 188 ff. 69 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 61; vgl. Henricus de Bracton (1210 – 1268), De legibus et consuetudinibus Angliae libri quinque, in varios tractatus distincti, ad diversorum et vetustissimorum codicum collationem . . . , London 1569 [lat. ed. G. E. Woodbine, I–IV, New Haven 1915 – 1942; engl. ed. S. Thorne, (: Selden Society edition), Harvard 1968]; das Werk steht unter dem Einfluss der Praxis kirchlicher Gerichte; allgemein zu beiden Autoren G. Kleinheyer / J. Schröder, (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl., Heidelberg 2008, S. 80 – 84 und S. 158 – 161 mit umfassenden bibliographischen Nachweisen. 70 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 66 – 67; vgl. Thomas Littleton (1422 – 1481), On Tenures [1st ed. 1481; 3rd ed. Rouen 1490]; das Werk, ursprünglich in law French geschrieben und später auf Englisch übersetzt, gilt als Grundlagewerk zum englischen Feudalrecht [zuletzt ( . . . ) a new ed., to which are added the Ancient Treatise of The Olde Tenures, and The Customs of Rent, by T. E. Tomlins, from the ed. of 1841, New York 1970]. Berühmt wurden dazu die Kommentare von Edward Coke; vgl. Edward Coke (1552 – 1634), The First Institute of the Laws of England, or a Commentary upon Littleton, 1st ed. London (: A. Islip for the Stationers) 1628; Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 67, hat die 12th ed., London (: R. Gosling and H. Lintot) 1738, eingesehen. 71 Siehe Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 68 – 69; Sir Edward Coke (1552 – 1634); Parlamentsmitglied und Richter, er wurde als die höchste Autorität des Common Law Anfang des 17. Jhs. angesehen; zitiert, aber wohl nicht eingesehen, werden von Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 69 seine Reports; vgl. Edward Coke (1552 – 1634), Les reports de Edward Coke L’attorney generall le Roigne de divers resolutions & iudgements donnés avec graund deliberation, per les tresreverendes iudges, & sages de la ley, de cases & matters en ley queux ne fueront vnques resolue, ou aiuges par devant, & les raisons, & causes des dits resolutions & iudgements, ( . . . ), London (: Thomas Wight), 1602 – 1615; zuletzt, ( . . . ) The Reports ( . . . ) A New Edition, with Additional Notes and References, and with Abstracts ( . . . ) by J. H. Thomas, London (: Joseph Butterworth) 1826 [Reprinted 2002]. Zu dieser Gründerfigur des Common Law vgl. S. E. Thorne, Sir Edward Coke: 1552 – 1952 (Selden Society lecture, March 17, 1952), London 1957; J. Beauté, Un grand juriste anglais, Sir Edward Coke, 1552 –1634: ses idées politiques et constitutionnelles ou aux origines de la 66 67
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sen Autoren auch einige damalige Civilians zählt, wie etwa John Cowell,73 Thomas Wood74 und, schließlich, Robert Eden.75 Auch über die Ausbildung des Nachwuchses der Common Lawyers wird ausführlich berichtet.76 Gatzert beschreibt hier mit einem bemerkenswerten Reichtum an Einzelheiten die Londoner Inns of Court, die dort veranstalteten „Moots“,77 aber auch den damals in England breit publizistisch diskutierten Niedergang dieser Ausbildungstradition.78 So zitiert er die zahlreichen Stimmen, die in jenen Jahrzehnten bereits einen Rechtsunterricht auf dem Gebiet des Common Law an beiden englischen Universitäten forderten.79 Ebenso ausführlich wird über die Einrichtung des Oxforder „Vinerian Chair“ und über die Antrittsvorlesung von William Blackstone dort im Oktober 1758 berichtet.80 Die Perspektive des Verfassers bleibt allerdings auch hier diejenige eines kontinentalen Beobachters. Ihm fehlt es wohl an einem echten Verständnis für die Eigentümlichkeiten des englischen Common Law. So bedauert Gatzert die unüberwindlichen Schwierigkeiten des Studiums des englischen Rechts („immensi, . . . ac desperati operis hodie res erit, ad cognitionem ejus interiorem pervenire“),81 die démocratie occidentale moderne (Travaux et recherches de l’Université de Droit, d’Économie et des Sciences Sociales de Paris. Série science politique, vol. 5), Paris 1975; J. H. Baker, An Introduction (Fn. 14), S. 217 – 218; C. S. Clegg, Press Censorship in Jacobean England, Cambridge 2001, S. 144 ff.; grundlegend A. D. Boyer, Sir Edward Coke and the Elizabethan age (Jurists: Profiles in legal theory), Stanford 2003; U. Müßig, Coke Edward, in: HRG, 2. Aufl., I (Heft 4), Berlin 2006, S. 871 – 875 mit umfassender Bibliographie. 72 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 73 – 74. Zu ihm siehe oben Fn. 27. 73 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 70 – 73. Zu ihm siehe oben Fn. 59. 74 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 74 – 75. Zu ihm siehe oben Fn. 61. 75 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 76; siehe Robert Eden (1701 – 1759), Iurisprudentia philologica, sive elementa iuris civilis, secundum methodum et seriem institutionum Iustiniani, parallelis iuris Anglici locis illustrata, Oxford (: E Theatro Sheldoniano), 1744. Es handelt sich um eine Adaptation der Institutionen des Heineccius [Elementa iuris civilis secundum ordinem Institutionum, 1. ed. Amsterdam 1725]; zu ihm H. Coing, Das Schrifttum (Fn. 52), S. 31. 76 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 77 ff. 77 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 82. 78 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 86 ff. 79 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 94; Gatzert zitiert hier, ohne den Verfasser zu erwähnen, Thomas Wood (1661 – 1722), Some thoughts concerning the study of the laws of England: Particularly in the two universities. In a letter to the ( . . . ) Head of College in Oxford ( . . . ), 1st ed., London 1708; 2nd ed., London (: J. Stagg; and D. Browne) 1727; dazu H. Coing, Das Schrifttum (Fn. 52), S. 18; D. Lieberman, The Province of Legislation Determined. Legal Theory in Eighteenth Century Britain (Ideas in Context, vol 14), Cambridge 2009, S. 65 ff.; die Schrift ist zum Teil abgedruckt bei M. H. Hoeflich (ed.), The Gladsome Light of Jurisprudence. Learning the Law in England and the United States in the 18th and 19th Centuries (Contributions in Legal Studies), 1988; zu den damaligen Debatten über die Einführung eines universitären Rechtsunterrichts im England des 18. Jhs., vgl. A. Braun, Giudici e Accademia (Fn. 14), S. 64 – 73, insb. S. 67 zum Werk von Wood; W. Prest, William Blackstone (Fn. 14), insb. S. 109. 80 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 79. 81 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (n. 1), S. 87.
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Unverständlichkeit von dessen Sprache82 und die Unübersichtlichkeit des Fallrechts aus der riesigen Anzahl der damaligen Reports.83 Es ist deshalb nicht überraschend, dass seine offene Sympathie denjenigen Autoren gilt, die damals in England eine Reform und eine Systematisierung des Common Law forderten, also – wie Gatzert schreibt – ein „Iuris Municipalis Systema aliquod sapienter digestum, et ad immutabilis justitiae constantes regulas formatum legum Corpus“.84 Eine Forderung, die sich in die damalige gesamteuropäische Kodifikationsdebatte einordnete und die in England bei der erfolglosen Befürwortung einer Kodifikation durch Jeremy Bentham Anfang des 19. Jahrhunderts kulminieren sollte.85 Bezeichnenderweise werden von Gatzert bei den bibliographischen Nachweisen auch hier die zahlreichen Digests bevorzugt, die damals zum Druck gelangten,86 und vor allem die große Anzahl systematischer Institutionen zum englischen Recht, insbesondere aus der Hand von Civilians, die zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert publiziert wurden,87 etwa die bereits oben erwähnten Werke von John Cowells,88 Matthew Hale,89 Thomas Wood90 bis zu der damals soeben veröffentlichten „An Analysis of the Laws of England“ von William Blackstone.91 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 90 – 91. Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 89 – 91 mit ausführlichen bibliographischen Angaben zu den damaligen Reports; bezeichnenderweise schreibt Gatzert hier, S. 89 – 90, „Ex his sane jura discere aeque inconcinnum ac molestissimum esse videtur, ac foret, si jurisprudentia civilis apud nos haurienda esset ex denso agmine scriptorum, quae res judicatas, consilia, responsa, decisiones ac definitiones exhibent“. 84 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 92 – 94. Gatzert zitiert hier [Christopher Tancred (1689 – 1754)], An essay for a general regulation of the law, and the more easy and speedy advancement of justice. Address’d to ( . . . ) Peter Lord King, ( . . . ) by a gentleman of the West Riding of the county of York, London (: Stephen Austen) 1727; dazu J. Hoppit, A Land of Liberty? England 1689 – 1727 (New Oxford History of England), Oxford 2002, S. 461. 85 Siehe Jeremy Bentham (1748 – 1832), Papers relative to codification and public instruction; including correspondence with the Russian emperor, and divers constituted authorities in the American United States, London (: J. M’Creery) 1817; dazu, zuletzt, B. Mertens, Gesetzgebungskunst (n. 17), insb. S. 497 ff.; D. Lieberman, The Province of Legislation (Fn. 79), Kap. 11 – 12. 86 Vgl. Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 92 – 94; Gatzert erwähnt hier die eigene Anschaffung des ersten Bandes des damals postum neu erschienenen Werks von John Comyns (1667 – 1740), A Digest of the Laws of England, London (: H. Woodfall and W. Strahan) 1762 – 1767; [5th ed. by A. Hammond, London (: Strahan) 1822]. 87 Siehe die Nachweise bei Chr. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 95 – 101. Auch die englische Rechtsgeschichte kennt zwischen dem 17. und 18. Jh. die Literaturgattung der Institutionen-Darstellungen; darin spiegelt sich die damalige gesamteuropäische Nationalisierung des staatlichen Rechts wider; siehe dazu J. W. Cairns, Blackstone, an english institutist: Legal literature and the rise of the nation state, in: Oxford Journal of Legal Studies, Bd. 4 (1984), S. 318 ff., insb. S. 321 – 339; S. P. Donlan, Our Laws are as Mixed as Our Language: Commentaries on the Laws of England and Ireland, 1704 – 1804, in: Journal of Comparative Law, Bd. 3, No. 178, 2008. 88 Dazu oben Fn. 59. 89 Dazu oben Fn. 27. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), S. 98, zitiert hier Matthew Hale (1609 – 1676), The Analysis of the Law: being a scheme, or, abstract, of the several titles and 82 83
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3. Einordnung des Werks in die damalige Frühgermanistik Die Schrift von Gatzert ist bis heute in der rechts- und verfassungshistorischen Literatur ganz unbeachtet geblieben. Selbst die grundlegende Untersuchung von Hans Christof Kraus zur kontinentalen Rezeption des englischen Verfassungs- und politischen Denkens erwähnt sie nicht. Ein kurzer Kongressvortrag dazu von Thomas Rüfner scheint unveröffentlicht geblieben zu sein.92 Die Ausführungen von partitions of the Law of England, digested into method ( . . . ), 1st ed., London 1713 [Reprint, New York 1978]; 2nd ed., London (: Nutt), 1716; 3rd ed., London 1739. 90 Dazu oben Fn. 61. 91 Dazu oben Fn. 18. Gatzert erwähnt bevorzugt Werke zum Civil Law mit Hinweisen und Vergleichen zum Common Law; zitiert werden, etwa, William Fulbeck (1560 – 1603?), A parallele or conference of the civil law, the canon law, and the common law of this realme of England: Wherein the agreement and disagreement of these three lawes, and the causes and reasons of the said agreement and disagreement, are opened and discussed. Digested in sundry dialogues ( . . . ), [1st ed., London 1601 – 1602]; London (: [by Adam Islip] for the Company of Stationers), 1618; John Ayliffe (1676 – 1732), A new pandect of Roman civil law, as anciently established in that empire; and now received and practised in most European nations (. . . ), London (: Tho. Osborne), 1734; [zu Autor und Werk vgl. D. R. Coquillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 209 – 214; A. Wijffels, Ayliffe, John (1676 – 1732), in: H. G. G. Matthew / Brian Harrison (eds.), The Oxford Dictionary of National Biography, London 2004]; erwähnt von Gatzert wird sogar die englische Übersetzung von Jean Domat (1625 – 1696), Les Loix Civiles dans leur ordre naturel ( . . . ), [1. Aufl. 1689 – 1695]; zitiert wird die einflussreiche Übersetzung ( . . . ), The Civil Law in its Natural Order ( . . . ) translated into English by William Strahan, ( . . . ) with Additional Remarks on Some Material Differences between the Civil Law and the Law of England, London (: J. Bettenham for E. Bell) 1722; 2nd ed. London 1737 [Nachdruck 2008]; zum Einfluss dieses Werks in England vgl. W. S. Holdsworth, A History of English Law, 17th ed., London 1972, Bd. XII, S. 428, der auf die große Bedeutung der Anmerkungen zum englischen Recht hinweist sowie D. R. Coquillette, The Civilian Writers (Fn. 52), S. 203 – 209; eine Teilübersetzung durch Thomas Wood (1661 – 1722) war bereits als Einführung zu dessen Werk A New Institute of the Imperial or Civil Law, London 1704 (anonym 1705) erschienen (zu diesem Werk und zu seinem Verfasser vgl. oben Fn. 61). Zur europäischen Bedeutung von Jean Domat (1625 – 1696) und seinem Werk vgl. F. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (Fn. 14), S. 1135 – 1136 mit weiteren bibliographischen Nachweisen. 92 Siehe den unveröffentlichten Beitrag von Th. Rüfner, Inimicitia et aemulatio quae perpetuo inter Communistas et Civilistas viguisse dicitur – Christian H. S. Gatzert (1739 – 1807) on the Common Law of England, bei der Socio Legal Studies Association Conference 2005 (Liverpool 30th March–1st April 2005). Bei der Tagung lag folgende Zusammenfassung vor (www.liv.ac.uk / law / slsa / index.htm): „If it is true that English law developed in splendid isolation from the Ius Commune practiced in Continental Europe, it is equally true that continental lawyers hardly ever noticed the existence of a legal system so different from their own. For many centuries English law is at best the object of a few dismissive remarks in continental legal treatises. One of the first examples of a changed attitude towards the laws of England is the „Commentatio Iuris Exotici Historico-Litteraria De Jure Communi Angliae“ by Christian Hartmann Samuel Gatzert, which was published in 1765. At the time of the publication of his treatise, Gatzert was a professor at the University of Goettingen, founded roughly 30 years before by King George II. of Great Britain with the express goal of promoting the
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Gatzert zur Rechtfertigung der Wahl seines Themas ordnen sich in den typischen Argumentationshaushalt der damaligen frühen Germanistik ein. Die Beschäftigung mit dem englischen Recht solle vor allem dem besseren Verständnis des „Ius germanicum“ dienen. „Neque enim utilitas argumenti illustrationi juris Germanici plane aut ex toto adversatur,“ – schreibt bezeichnenderweise Gatzert in der Introductio zu seiner Schrift93 – „si quidem sequimur eos, qui inter praecipuas jurisprudentiae patriae auxiliares scientias Anglorum legitimam, veterum inprimis, collocant“. Er zitiert hier den Kieler Germanisten Johann Carl Heinrich Dreyer,94 der, nach seinen Worten, „in quo solus e Germanis de juris Anglici historiae partibus aliquibus praeclare meruit“.95 Die Frage nach den Rechtsquellen war in jenen Jahrzehnten in der Tat die Hauptfrage der Vertreter des „Ius Germanicum“. „Spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte Einigkeit darüber“ – schreibt Diethelm Klippel96 –, „dass das ius germanicum privatum anhand einheimischer ideas of the enlightenment. His treatise is but the most accomplished product of the particular scientific interest in English legal institutions which seems to have been widespread among the members of the Goettingen law faculty. Gatzert gives a detailed overview of English legal history and the English legal system. He also points to the primary and secondary material available to him at Goettingen. His work shows a deep interest in and considerable sympathy for the ius exoticum of England. However, Gatzert cannot conceal his incomprehension of some features of the Common Law nor his bewilderment at the hatred with which civilian lawyers like John Cowell had been prosecuted in England by their common law counterparts. My analysis of Gatzert’s work aims at discovering what it teaches us both about the attitude of an 18th century civil lawyer towards a non-civilian legal tradition and about the possibility of comparative law as a scientific subject before the dawning of the „age of comparisons”. 93 So Ch. H. S. Gatzert, Commentatio (Fn. 1), Introductio, S. 1. 94 Vgl. Johann Carl Heinrich Dreyer, De usu genuino iuris Anglo-Saxonici in explicando iure cimbrico et saxonico, liber singularis Kiel (:Bartsch) Kiel 1747 [vorh. UB Tübingen; UB Leibzig; MPI für Europäische Rechtsgeschichte FFMSL 21553]. Dreyer (1723 – 1802), nahm 1738 sein juristisches Studium an der Universität Kiel auf, wo sein Onkel Ernst Joachim Westphal bis 1750 Minister der Herzöge von Holstein-Gottorf war; nach der Promotion 1744 erhielt er im gleichen Jahr eine Professur für „Ius germanicum“ an der Kieler Universität. Im Jahre 1753 wurde er Syndicus des Rates in der Hansestadt Lübeck. Er gilt als entschiedener Gegner des Römischen Rechts, Ziel seiner zahlreichen Schriften war die Suche nach einer umfassenden und tragfähigen Quellenabsicherung für das „Ius germanicum“; zu ihm F. Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung (Fn. 2), S. 891, Anm. 48; F. L. Schäfer, Juristische Germanistik (Fn. 96), S. 291 – 292 und S. 489, der allerdings nur dessen Heranziehung skandinavischer Rechtsquellen herausstellt und ihn als Vorläufer von Karl v. Amira und Georg Ludwig v. Maurer ansieht. 95 Zitiert von Gatzert wird auch Johann Peter von Ludewig (1668 – 1743), Oratio solennis de emendanda Germaniae Iurisprudentia, Halle (: C. A. Zeitler) 1713, S. 10: „plurima in Anglicanis latere, unde Germanica jura temporum aerugine vel obscura vel oblitterata mutuantur lumen. Sic enim Iureconsulti Anglici, Cokus, Littletonius, Cragius, Zouchaeus, Covellus, in Saxonici juris interpretatione adeo utiles imo et necessari sunt“. Diese wohl sehr seltene Druckschrift ist in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Sign.: M: QuN 299.25 / 19) nachweisbar; zum Verfasser F. L. Schäfer, Juristische Germanistik (Fn. 96), S. 204 und S. 212. 96 So D. Klippel, Das deutsche Privatrecht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der
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Rechtsquellen darzustellen war. Fraglich war jedoch nach wie vor, anhand welcher Quellen dies geschehen sollte. Luig hatte die von ihm herangezogenen Lehrbücher sorgfältig auf die zitierten Quellen untersucht und festgestellt, dass insbesondere bei Heineccius der Schwerpunkt auf den älteren sog. deutschen rechtlichen Quellen lag, also u. a. bei den Germanenrechten und den Rechtsbüchern des Mittelalters, obwohl auch partikulare Gesetze erwähnt wurden.“97 Dass man damals auch die Quellen des englischen Rechts zur Kenntnis genommen hat und dass die Anfänge der juristischen Germanistik auch mit einer kontinentalen „Entdeckung“ des Common Law verbunden waren, scheint – so weit ich sehe – bis heute in der rechts- und verfassungshistorischen Literatur nicht gesehen und erörtert worden zu sein.98 Die Schrift von Gatzert wurde allerdings zugleich kaum rezipiert. Einige Jahrzehnte später scheint sie fast vergessen worden zu sein. Im Vorwort von Nikolaus Falck zu der deutschen Teilübersetzung der „Commentaries“ von William Blackstone im Jahre 182299 wurde sie zunächst übersehen. Erst in der Einleitung zum zweiten Band fügt Falck hinzu, „Eben bey Abfassung dieser Vorrede kommt mir die mit vielem Fleiße ausgearbeitete Schrift von Gatzert, de jure communi Angliae ( . . . ) in die Hände, die besonders ihrer reichhaltigen literarischen Nachweisungen wegen empfohlen zu werden verdient“.100 Spätere deutsche rechtshistorische Werke erwähnen das Werk von Gatzert – soweit ich sehe – überhaupt nicht mehr.101 Dennoch bleibt die Schrift von Gatzert für den modernen Leser heute noch mehr als beachtenswert. Sie vermittelt uns, in welcher Weise ein kontinentaler BeobachFrühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, H. P. Haferkamp / T. Repgen (Eds.), Köln / Weimar / Wien 2007, S. 63 ff., insb. S. 69; ebenso D. Klippel, Grundfragen des Deutschen Privatrechts am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, G. Kohl / Chr. Neschwara / Th. Simon (Eds.), Wien 2008, S. 191 ff., insb. S0.198 – 200. Zu der Frühgermanistik siehe zuletzt, grundlegend, F. L. Schäfer, Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht (Juristische Abhandlungen, Bd. 51), Frankfurt a. M. 2008, S. 77 – 293. 97 Siehe hier K. Luig, Die Anfänge der Wissenschaft vom deutschen Privatrecht, in: Ius Commune, Bd. 1, 1967, S. 195 – 222, insb. S. 220 ff. Siehe Johann Gottlieb Heineccius, Elementa iuris germanici (Fn. 41). 98 Siehe im Einzelnen dazu F. Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung (Fn. 2), S. 882 ff. 99 Siehe W. Blackstone’s Handbuch des englischen Rechts, im Auszuge und mit Hinzufügungen der neueren Gesetze und Entscheidungen von J. Gifford [i. e. E. Foss]. Aus dem Englischen von H. F. C. v. Colditz. Mit einer Vorrede von N. Falck, I–II, Schleswig (:Das königliche Taubstummen-Institut), I–II, 1822 – 1823; [Nachdruck Frankfurt a. M. (: Vico) 2009]; dazu F. Ranieri, Eine frühe deutsche Übersetzung (Fn. 2), S. 886 – 887. 100 Vgl. N. Falck, Bd. II, Vorrede, S. IX. 101 Exemplarisch, etwa, G. Phillips, Ueber die Reception und das Studium des Römischen Rechts in England, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, Bd. 1 (1829), S. 400 – 415, wo sonst relativ präzise bibliographische Angaben zum englischen Schrifttum zu finden sind aber kein Hinweis zur älteren Untersuchung von Gatzert.
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ter Mitte des 18. Jahrhunderts das englische Common Law jener Zeit rezipieren, verstehen, aber auch missverstehen konnte. Gatzert beschreibt das englische Recht allerdings nur äußerlich, vor allem literarisch. Seine kontinentale Prägung kann er bei der eigenen Sichtweise nicht ablegen, so dass er bei seinen bibliographischen Nachweisen bezeichnenderweise vor allem die englischen Civilians privilegiert und die zeitgenössische Forderung nach einer Kompilation und Kodifikation des Common Law teilt. Zum eigentlichen materiellen englischen Recht seiner Zeit ist Gatzert wohl nicht durchgedrungen. Unzugänglich und unverständlich bleibt ihm insbesondere die judizielle Kasuistik aus dem Case Law jener Jahrzehnte. Erwähnt und gelobt wird von ihm also ein Universitätslehrer und Civilian wie William Blackstone nicht aber, etwa, ein Richter wie Lord Mansfield. Mit seiner Schrift beginnt allerdings zugleich der lange Weg einer Konfrontation und einer Begegnung zwischen Civil und Common Law, die bis heute andauert und das gegenwärtige Europäische Zivilrecht beherrscht.
Der Grundschiedsspruch und das Aufhebungsverfahren Von Helmut Rüßmann* Das Verfahren vor den staatlichen Gerichten kennt in § 304 Abs. 1 ZPO das (Zwischen-)Urteil über den Grund eines nach Grund und Betrag streitigen Anspruchs. Dieses Urteil wird in Abs. 2 in Betreff der Rechtsmittel einem Endurteil gleichgestellt. Das ermöglicht die Anfechtung des Grundurteils mit den normalen Rechtsmitteln und gewährt den Parteien Rechtsgewissheit über den Grund, wenn der Rechtszug erschöpft ist oder nicht in Anspruch genommen wird. Das anschließende Verfahren über den Betrag und die Höhe des Anspruchs ist nicht mehr mit Zweifeln über den Grund des Anspruchs belastet. Soweit die Theorie. In der Praxis macht das Grundurteil immer wieder Schwierigkeiten. In vielen Fällen ist es gar nicht klar, welche Bindungswirkungen von einem Grundurteil ausgehen. Ich bin in den letzten Jahren mehrfach um Gutachten zu den Bindungswirkungen nicht mehr angreifbarer Grundurteile gebeten worden. Da ist man geneigt, mit Schellhammer, einem erfahrenen richterlichen Praktiker, zu sagen: „Nach § 304 I darf das Gericht ein Grundurteil fällen, muss es aber nicht. Der kluge Richter beherrscht sich, denn das Grundurteil steckt voller Fußangeln. Der BGH muss sich nicht deshalb so oft mit dem Grundurteil befassen, weil der Bedarf so groß wäre, sondern weil die Instanzgerichte damit nicht umgehen können. Nur selten ist der Beweis über die streitige Höhe des Anspruchs so langwierig und teuer, dass man ihn zweckmäßig auf die lange Bank schiebt und vorab nur den Anspruchsgrund klärt.“1 Mit meinem Beitrag zur Festschrift für Wilfried Fiedler will ich indessen nicht die Probleme der für das staatliche Gerichtsverfahren gesetzlich vorgesehenen Trennung von Grundund Betragsverfahren behandeln, sondern mich mit dieser Trennung im privaten Schiedsverfahren auseinandersetzen. I. Einführung und Fragestellung Das deutsche Schiedsverfahrensrecht kennt keine dem § 304 ZPO entsprechende Regelung über einen Grundschiedsspruch bei einem nach Grund und Betrag strei* Richter am Oberlandesgericht a.D.; seit 1987 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität des Saarlandes und dem Jubilar kollegial verbunden. 1 Schellhammer, Zivilprozess, 12. Aufl. 2007, Rn. 918.
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tigen Anspruch. Es kennt auch keine internen Rechtsmittel, mit dem man einen Schiedsspruch über den Grund zur Überprüfung stellen könnte. Schiedssprüche werden durch § 1055 ZPO rechtskräftigen Entscheidungen staatlicher Gerichte gleichgestellt.2 Sie unterliegen einer sehr begrenzten inhaltlichen Prüfung durch die staatlichen Gerichte in einem Aufhebungsverfahren (§ 1059 ZPO), das einem Wiederaufnahmeverfahren gegen rechtskräftige staatliche Gerichtsurteile gleicht. Rechtsprechung und Literatur lehnen die selbständige Angreifbarkeit eines Schiedsspruchs über den Grund im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens ab.3 Dann gibt es eigentlich keinen vernünftigen Grund für ein Schiedsgericht, einen Grundschiedsspruch zu erlassen. Man darf allenfalls einen Abschichtungseffekt erwarten, mit dem die streitige Auseinandersetzung auf die Betragsfragen konzentriert wird. Dies mag der Grund dafür sein, dass Schiedsgerichte immer wieder zum Grundschiedsspruch greifen. Für die unterlegene Partei stellt sich dann die Frage, ob sie den Grundschiedsspruch mit einem Aufhebungsantrag nach § 1059 ZPO entgegen der herrschenden Meinung zur Überprüfung stellen kann oder aber den Schlussschiedsspruch über den Betrag abwarten muss. Mein Beitrag für den Jubilar beruht auf einem Rechtsgutachten, um das mich die in einem Grundschiedsspruch unterlegene Partei mit den Fragen gebeten hat, ob das Verfahren und der Schiedsspruch Aufhebungsgründe erkennen lassen und ob der Schiedsspruch über den Grund des Anspruchs mit einem Aufhebungsverfahren erfolgreich angegriffen werden könne. Gegen die Schiedsbeklagte waren in einem deutschen Schiedsverfahren mit Englisch als Verfahrenssprache unter den Schiedsregeln der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) Schadensersatzansprüche in beträchtlicher Höhe für vergebliche Investitionen und entgangenen Gewinn wegen angeblich unbegründeter Vertragskündigung eines Kooperationsvertrages erhoben worden. Die Parteien des Schiedsverfahrens produzierten Berge von Papier. Das Schiedsgericht hielt in einem Grundschiedsspruch die Haftung der Schiedsbeklagten dem Grund nach fest. Die Schiedsbeklagte suchte nach Angriffsmöglichkeiten für den Grundschiedsspruch.
2 Frank Spohnheimer nennt die auf diesem Wege erfolgende Integration einer privatgerichtlichen Entscheidung in die staatliche Rechtsordnung antezipiertes Legalanerkenntnis; Frank Spohnheimer, Das Schiedsverfahren zwischen antezipierten Legalanerkenntnis des Schiedsspruchs und prozessualer Gestaltungsfreiheit, Saarbrücker Dissertation 2010. 3 Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rn. 1708; Münch in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 3, 3. Aufl. 2008, § 1056 Rn. 9; Reichold, in: Thomas / Putzo, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 30. Auflage 2009, § 1054 Rn. 3; Geimer, in: Zöller, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 28. Aufl. 2010, § 1059 Rn. 13; Voit, in: Musielak, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 7. Aufl. 2009; § 1055 Rn. 4; Schwab / Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 18 Rn. 12, Kap. 25 Rn. 5 für das Verfahren der Vollstreckbarerklärung; Walter, Neuere Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts zur Schiedsgerichtsbarkeit, SchiedsVZ 2005, 129, 135.
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II. Rechtliche Bewertung Das Schiedsgericht hatte den Rechtsstreit nach meiner Einschätzung falsch entschieden. Doch ist das für ein Aufhebungsverfahren nicht relevant. Das Aufhebungsverfahren kann nach § 1059 Abs. 1 ZPO nur Erfolg haben, wenn die besonderen Aufhebungsgründe nach § 1059 Abs. 2 und 3 ZPO greifen. Als ein solcher Aufhebungsgrund kommt namentlich eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör in Betracht. Die Grundlage für die Berücksichtigung einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör sieht man in der Literatur einmal in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 b) und d) ZPO und zum anderen in § 1059 Abs. 2 Nr. 2 b) ZPO.4 Wie Spohnheimer in seiner Dissertation zeigt, ist die Verletzung des rechtlichen Gehörs als Aufhebungsgrund ausschließlich in § 1059 Abs. 2 Nr. 1 b) geregelt.5 Doch kommt es darauf für unsere Fragestellung nicht an. Hier geht es um Gehörsverletzungen schlechthin. Bevor man aber nach Beispielen für eine Gehörsverletzung sucht, muss man zunächst darüber befinden, ob ein Schiedsspruch über den Grund eines Anspruchs überhaupt in einem Aufhebungsverfahren angegriffen werden kann. 1. Aufhebungsantrag gegen einen Grundschiedsspruch § 1059 Abs. 1 ZPO spricht nur davon, dass gegen einen Schiedsspruch der Antrag auf gerichtliche Aufhebung nach den Absätzen 2 und 3 gestellt werden kann. Eine nähere Bestimmung über die Art des Schiedsspruchs fehlt. Man ist sich allerdings einig, dass es um einen endgültigen und die Parteien bindenden Schiedsspruch im Sinne des § 1055 ZPO gehen muss.6 Der Schiedsspruch über den Grund eines Schadensersatzanspruchs ist in diesem Sinne nicht endgültig, weil er auf den ersten Blick nicht der Rechtskraft fähig ist und deshalb nicht die Parteien, sondern nur das Schiedsgericht bindet. Aus diesem Grunde lehnen Wissenschaftler und Kommentatoren die selbständige Angreifbarkeit eines Grundschiedsspruchs in einem Aufhebungsverfahren ab.7 Auch bei Schlosser, dem Vater des deutschen Schiedsverfahrensrechts, kann man lesen: „Schiedsspruch ist aber nur, was eine Bindung beansprucht, die über die Selbstbindung des Schiedsgerichts hinausgeht“.8
4 Lachmann (Fn. 3), Rn. 2307; Rosenberg / Schwab / Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Auf. 2004, § 180 Rn. 17. 5 Spohnheimer (Fn. 2), § 22. 6 BGH, Beschluss vom 6. Juni 2002, III ZB 44 / 01, BGHZ 151, 79; BGH, Beschluss vom 27. Mai 2004, III ZB 53 / 03, NJW 2004, 2226; Münch (Fn. 3), § 1059 Rn. 2. 7 Lachmann, (Fn. 3), Rn. 1708; Münch (Fn. 3), § 1056 Rdnr. 9; Reichold (Fn. 3), § 1054 Rn. 3; Geimer (Fn. 3), § 1059 Rdnr. 13; Voit (Fn. 3), § 1055 Rn. 4; Schwab / Walter (Fn. 3), 129, 135. 8 Schlosser, in: Stein / Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Bd. 9, 2002, § 1059 Rn. 11.
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a) Bewertung Die Differenzierung von endgültigen und nicht endgültigen Schiedssprüchen ist formal korrekt. Auch die Zuordnung eines Schiedsspruchs über den Grund zu den nicht endgültigen Schiedssprüchen, wenn das Schiedsgericht noch über den Betrag entscheiden muss, erweist sich auf den ersten Blick als unangreifbar. Die daraus gezogene Konsequenz, das Aufhebungsverfahren für einen Schiedsspruch über den Grund auszuschließen, ist jedoch wenig überzeugend und in der Sache unangemessen. Letztlich bindet auch der Schiedsspruch über den Grund die Parteien des Schiedsverfahrens. Unzweifelhaft bindet er das Schiedsgericht. Das Schiedsgericht kann in dem Verfahren über den Betrag nicht mehr von den Festlegungen über den Grund abweichen. Auch sind den Parteien alle Angriffsmöglichkeiten über die Feststellungen zum Grund des Anspruchs im Betragsverfahren genommen. Damit bindet der Schiedsspruch über den Grund über die Bindung des Schiedsgerichts mittelbar auch die Parteien. Ihnen sollte schon allein deshalb die Möglichkeit gegeben werden, auch den Schiedsspruch über den Grund in einem Aufhebungsverfahren anzugreifen, um die Bindung zu beseitigen, wenn der Schiedsspruch über den Grund mit einem Aufhebungsgrund infiziert ist. Im Ergebnis sehen das auch einige der Kommentatoren so, die auf der Grundlage der Differenzierung zwischen endgültigen und nicht endgültigen Schiedssprüchen die nicht endgültigen Schiedssprüche vom Aufhebungsverfahren ausnehmen wollen. Sie versuchen, aus dem Schiedsspruch über den Grund einen Teilschiedsspruch über ein präjudizielles Rechtsverhältnis zu machen.9 Der Teilschiedsspruch über ein präjudizielles Rechtsverhältnis ist in Anlehnung an § 256 Abs. 2 ZPO der Rechtskraft fähig und damit auch in einem Aufhebungsverfahren selbstständig angreifbar. Vor diesem Hintergrund ist es nur ein kleiner, aber konsequenter Schritt, alle Schiedssprüche über den Grund für im Aufhebungsverfahren angreifbar zu halten. Die Gefahr war allerdings nicht gering zu achten, dass das für das Aufhebungsverfahren zuständige Oberlandesgericht die Rechtsfrage anders beurteilte, weil es für die gerade entwickelte Position keinen Beleg in Rechtsprechung und Literatur gab.10 Da lag es nahe, dass der Aufhebungsantrag ohne Prüfung der Aufhebungsgründe als unzulässig zurückgewiesen würde. Natürlich wäre eine solche Abwei9 Münch (Fn. 3), § 1056 Rn. 12; Geimer (Fn. 3), § 1059 Rn. 18; Voit (Fn. 3), § 1055 Rn. 4; Schwab / Walter (Fn. 3), Kap. 18 Rn. 11, für das Verfahren der Vollstreckbarerklärung; Walter (Fn. 3), 129, 135. 10 Erst nach der Erstellung des Gutachtens hat sich die Situation geändert. Im Anschluss an die sogleich vorzustellende Entscheidung des OLG Frankfurt haben sich Kremer / Weimann, Die Aufhebbarkeit von Schiedssprüchen, insbesondere Zwischen- oder Teilschiedssprüchen über den Anspruchsgrund. Widerspruch zu Prinzipien der Prozessökonomie? SchiedsVZ 2007, 238, für den Angreifbarkeit von Grundschiedssprüchen im Aufhebungsverfahren ausgesprochen. Auch Spohnheimer (Fn. 2), § 23, legt die Aufhebbarkeit überzeugend dar.
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sung mit einer erheblichen Kostenbelastung für die unterlegene Partei verbunden. Allein die Gerichtsgebühren und die Anwaltsgebühren für beide Seiten würden sich bei einem auf 30 Millionen gekappten Streitwert (ohne Mehrwertsteuer) auf etwa A 640.000,00 belaufen. Bei einer Befassung auch des Bundesgerichtshofs mit der Angelegenheit wäre man leicht auf einen Gesamtbetrag für beide Instanzen von A 1.610.000,00 gekommen. Aber die Entscheidung, mit dem Aufhebungsantrag bis zum das Betragsverfahren abschließenden Schiedsspruch zu warten, war ebenfalls nicht risikolos. Auch wenn das bei dem gegebenen Diskussionsstand in der Literatur nicht sehr wahrscheinlich gewesen wäre, so konnte man es doch nicht ausschließen, dass das Oberlandesgericht oder im Rechtsbeschwerdeverfahren der Bundesgerichtshof sich später auf den hier für richtig gehaltenen Standpunkt stellen und das Aufhebungsverfahren schon gegen einen Schiedsspruch über den Grund des Anspruchs für zulässig halten würde. In einer solchen Situation liefe man Gefahr, mit den Aufhebungsgründen, die sich gegen den Schiedsspruch über den Grund ergeben, wegen Zeitablaufs (Geltendmachung der Aufhebungsgründe in drei Monaten nach Empfang des Schiedsspruchs, § 1059 Abs. 3 Satz 1 ZPO) ausgeschlossen zu werden, wenn man sich erst gegen den das Verfahren insgesamt abschließenden Schiedsspruch wendet. b) Die Entscheidung des OLG Frankfurt Das OLG Frankfurt hat in einem Beschluss vom 10. Mai 2007 (26 Sch 20 / 06) als erstes Gericht zu der Frage der Angreifbarkeit eines Grundschiedsspruchs im Wege des Aufhebungsverfahrens nach dem Schiedsverfahrensrecht von 1998 Stellung genommen, die Angreifbarkeit in Übereinstimmung mit der Literatur verneint und einen entsprechenden Aufhebungsantrag als unzulässig verworfen. Da das OLG Frankfurt das zuständige Gericht für das von mir begutachtete Verfahren war, erübrigten sich Spekulationen darüber, wie das Gericht einen Aufhebungsantrag der Schiedsbeklagten bescheiden würde. Es konnte allenfalls darum gehen, nach dem OLG Frankfurt den Bundesgerichtshof mit der Sache zu befassen und von ihm eine abweichende Entscheidung zu erbitten. Über die Erfolgsaussichten konnte und kann man nur spekulieren. Die Literaturlage sprach und spricht immer noch gegen einen Erfolg. Die Rechtsprechung selbst ist aber entgegen der Einschätzung des OLG Frankfurt nicht festgelegt. Die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 7. Oktober 1953 in BGHZ 10, 325 (II ZR 170 / 52) betrifft kein Aufhebungsverfahren, sondern das Verfahren der Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs. Und das ist eine andere Sachlage. Zwar scheitert die Vollstreckbarerklärung, wenn der Schiedsspruch mit einem Aufhebungsgrund behaftet ist; das aber bedeutet keineswegs, dass die Gründe, die gegen eine Vollstreckbarerklärung sprechen, auch gegen ein Aufhebungsverfahren greifen müssten. Es liegt auf der Hand, dass die Vollstreckbarerklärung einen endgültigen Schiedsspruch verlangt und versagt werden muss, wenn das Schiedsgericht selbst den Schieds-
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spruch im vollstreckbaren Inhalt noch ändern kann. Für das Aufhebungsverfahren gilt das aber nicht. Im Gegenteil: Gerade weil der Grundschiedsspruch das Schiedsgericht und mit ihm mittelbar auch die Parteien bindet, bietet das Aufhebungsverfahren die einzige Möglichkeit, diese Bindungswirkung zu zerstören. Während es für das Verfahren der Vollstreckbarerklärung durchaus Sinn ergibt, den endgültigen Schiedsspruch mit seinem vollstreckungsfähigen Inhalt abzuwarten, erweist sich das Abwarten mit einem Aufhebungsverfahren gegen einen Grundschiedsspruch als sinnlos. Das Schiedsgericht wird unter Umständen zu umfänglichen Beweisaufnahmen und Entscheidungen zur Höhe des Schadens angehalten, während schon die (das Schiedsgericht bindende) Grundentscheidung mit einem Aufhebungsgrund behaftet ist. Die Entscheidung des Reichsgerichts vom 27. März 1942 in RGZ 169, 52 (VII 113 / 41) weist durchaus in diese Richtung. Dort hat das Reichsgericht im Rahmen eines Vollstreckbarerklärungsverfahrens, das an der fehlenden Endgültigkeit des Schiedsspruchs scheiterte, auch das als Gegenantrag geltend gemachte Aufhebungsgesuch gegen eine Zwischenentscheidung des Schiedsgerichts über einen für den Erfolg der Schiedsklage erheblichen Umstand verworfen, weil das Schiedsgericht an eine Zwischenentscheidung nicht gebunden sei. An die Zwischenentscheidung über den Grund ist aber das Schiedsgericht gebunden, und so liegt es in der Konsequenz der Argumentation des Reichsgerichts, in einem solchen Fall der Bindung auch das Aufhebungsverfahren zuzulassen. Dass das Reichsgericht dies nicht ausdrücklich gesagt hat (so das OLG Frankfurt), ist zwar formal korrekt, hindert aber die Rechtsprechung nicht, den geäußerten Gedanken aufzunehmen und konsequent weiter zu entwickeln. 2. Verletzungen des Rechts auf rechtliches Gehör Das Verfahren dokumentiert eine Reihe von Vorgängen, die als Verletzungen des Rechts der Schiedsbeklagten auf rechtliches Gehör gewertet werden können. a) Übergehen eines Beweisangebots Die Schiedsbeklagte hat in dem Schiedsverfahren mehrfach Partei- und Zeugenbeweis dafür angeboten, dass der Vertrag zwischen den Parteien durch eine spätere Vereinbarung einvernehmlich aufgehoben worden sei und damit die Grundlage für den auf ungerechtfertigte einseitige Beendigung des Vertrages durch die Schiedsbeklagte gestützte Schadensersatzforderung der Schiedsklägerin entfalle. Das Schiedsgericht hat entschieden, dass es eine solche Vereinbarung nicht gegeben habe, ohne den angebotenen Partei- und Zeugenbeweis zu erheben. Damit könnte es das Recht der Schiedsbeklagten auf rechtliches Gehör verletzt haben. Allerdings wird die Annahme einer einen Aufhebungsgrund begründenden Gehörsverletzung für das Übergehen eines Beweisangebots in der deutschen Dis-
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kussion sehr zurückhaltend gehandhabt. Bei Schwab / Walter können wir gleich zweifach lesen: „Bei der Nichtberücksichtigung von Beweismitteln (Urkunden, Einvernahme von angebotenen Zeugen) handelt es sich . . . lediglich um nicht rügefähige Mängel der Sachverhaltsfeststellung bzw. der Beweiswürdigung“.11 Und der Bundesgerichtshof stellt in einer Entscheidung vom 8. Dezember 196512 lapidar fest: „(D)as Übergehen eines Beweisantrags [ist] . . . kein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs“. Doch dürften diese radikalen Positionen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht werden, wonach Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der ZPO die Berücksichtigung erheblicher Beweisantritte gebietet.13 Ein durch die verfahrensrechtlichen Regeln nicht gedecktes Übergehen eines Beweisangebots kann daher sehr wohl eine Verletzung des Gehörsgebots darstellen.14 Entscheidend dürfte deshalb sein, ob das Schiedsgericht die weiteren Bestandteile des Gehörsgebots, Vorbringen der Parteien (einschließlich ihrer Beweisangebote) zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen15, beachtet hat. Auf den ersten Blick hat das Schiedsgericht das in der Tat getan, weil es in drei Randnummern des Schiedsspruchs das Beweisangebot erwähnt und Gründe nennt, aus denen es von einer Beweisaufnahme absehen zu können glaubt. Damit hat das Schiedsgericht das Beweisangebot formal zur Kenntnis genommen und auch in Erwägung gezogen. Die Gründe, aus denen das Schiedsgericht annimmt, von einer Beweisaufnahme absehen zu können, sind indessen abenteuerlich und finden keinen Rückhalt in den Grundsätzen des deutschen Rechts für die Durchführung einer Beweisaufnahme und die Würdigung gegebener Beweise. Das Schiedsgericht stützt seine Überzeugung vom Nichtvorliegen einer Vereinbarung einseitig auf Schreiben der Schiedsklägerseite nach der angeblichen Vereinbarung und übergeht das unmittelbar nach der behaupteten Vereinbarung gefertigte Bestätigungsschreiben der Schiedsbeklagten mit gegenteiligem Inhalt. Die Schreiben beider Seiten haben die Frage nach dem Bestehen einer Vereinbarung mindestens offen gelassen, so dass das Beweisangebot der Schiedsbeklagten nicht nur eine rechtlich relevante, sondern nach der Urkundenlage auch für das Schiedsgericht offene Tatsachenfrage betraf und deshalb nach den Regeln der Zivilprozessordnung offensichtlich nicht übergangen werden durfte. Dass es dennoch übergangen worden ist, ist unter keinen Umständen vertretbar16, bedeutet eine unmotivierte Zurückweisung eines Beweisantrags17, verletzt das Recht auf Beweis und ein faires Schwab / Walter (Fn. 3), Kap. 24 Rn. 14 und Kap. 57 Rn. 11. BGH VII ZR 149 / 63, NJW 1966, 549. 13 BVerfG Beschluss vom 30. Januar 1985, 1 BvR 393 / 84, NJW 1986, 833. 14 Schlosser (Fn. 8), Anhang § 1061 Rn. 98; Voit (Fn. 3), § 1059 Rn. 13; Sandrock, „Gewöhnliche“ Fehler in Schiedssprüchen: Wann können sie zur Aufhebung des Schiedsspruchs führen? BB 2001, 2173, 2177 und detailliert Spohnheimer (Fn. 2), § 17. 15 BGH, Urteil vom 14. Mai 1992, III ZR 169 / 90, NJW 1992, 2299. 16 Kriterium nach Schlosser (a.a.O Fn. 8), Anhang § 1061 Rn. 98. 11 12
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Beweisaufnahmeverfahren18 und muss letztendlich als willkürlich19 bezeichnet werden. Willkür aber schließt das verfassungsrechtlich gebotene In-Erwägung-ziehen auf jeden Fall aus. Damit hat das Schiedsgericht das Gebot des rechtlichen Gehörs verletzt und einen Aufhebungsgrund für seinen Schiedsspruch gesetzt. Die Kausalität dieses Verstoßes für das Ergebnis des Schiedsverfahrens kann ohne Weiteres angenommen werden. Für das Aufhebungsverfahren ist davon auszugehen, dass die von der Schiedsbeklagten benannten Zeugen die fragliche Vereinbarung bekundet hätten. Dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Schiedsgericht die Überzeugung gewonnen hätte, dass es tatsächlich die behauptete Vereinbarung gegeben hat. Das reicht für die Kausalitätsannahme aus, weil mit der Vereinbarung die Grundlage für den geltend gemachten Schadensersatzanspruch entfällt. b) Fehlender Vorbehalt für die Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren Das Schiedsgericht hat den Schiedsspruch über den Grund des Schadensersatzanspruchs gefällt, obwohl die Schiedsbeklagte ein mitwirkendes Verschulden der Schiedsklägerin geltend gemacht hatte. Es hat dazu in seiner Mehrheit angenommen, dass auch unter der Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens der Schiedsklägerin jedenfalls noch ein Schadensersatzanspruch der Schiedsklägerin verbleibe. Die Möglichkeit, unter diesen Bedingungen eine Entscheidung über den Grund zu treffen, entspricht dem geltenden Recht.20 Um allerdings den Einwand des mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren berücksichtigen zu können, muss der Schiedsspruch einen entsprechenden Vorbehalt enthalten, sei es im Tenor, sei es in den Entscheidungsgründen.21 Der Vorbehalt muss ausdrücklich sein.22 Der vorliegende Schiedsspruch enthält keinen ausdrücklichen Vorbehalt für die Berücksichtigung des mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren. Ohne Vorbehalt aber ist die Berücksichtigung des mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren ausgeschlossen. Der Ausschluss brächte die Schiedsbeklagte um eine ihrer zentralen Verteidigungsmöglichkeiten und begründete damit einen klaren Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Kriterium nach Münch (Fn. 3), § 1059 Rn. 27. Kriterium nach Geimer (Fn. 3), § 1059 Rn. 32; siehe auch Geimer, Schiedsgerichtsbarkeit und Verfassung (aus deutscher Sicht), in: Schlosser (Hrsg.), Integritätsprobleme im Umfeld der Justiz, 1994, S. 113, 124 und 136 f. 19 Kriterium nach Voit (Fn. 3), § 1059 Rn. 13. 20 Musielak, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 304 Rn. 23. 21 BGH, Urteil vom 18. Februar 2004, XII ZR 224 / 01, juris Rn. 10; Rosenberg / Schwab / Gottwald (Fn. 4), § 59 Rn. 58; Musielak (Fn. 20), § 304 Rn. 23; Musielak (Fn. 3), § 304 Rn. 24. 22 BGH, Urteil vom 31. Januar 1996, VIII ZR 243 / 94, NJW-RR 1996, 700. 17 18
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Die Schiedsbeklagte hat das Schiedsgericht in einem Antrag auf Interpretation und Ergänzung des Schiedsspruchs darum ersucht, den Vorbehalt nachträglich auszusprechen oder doch mindestens zu erklären, dass der Vorbehalt in einer bestimmten Randnummer des Schiedsspruchs enthalten sei. Ein solches Ersuchen muss nach § 1058 Abs. 5 ZPO durch einen Schiedsspruch beschieden werden. Das hat das Schiedsgericht nicht getan und damit die Schiedsbeklagte rechtlos gestellt. Zwar bringt der Vorsitzende des Schiedsgerichts im Namen des Schiedsgerichts in einer Verfügung (Procedural Order) zum Ausdruck, dass die Berücksichtigung eines mitwirkenden Verschuldens der Schiedsklägerin im Betragsverfahren vorbehalten sei; das aber ist zur Wahrung der Rechte der Schiedsbeklagten nicht ausreichend. Die Verfügung bindet das Schiedsgericht anders als ein Schiedsspruch über eine Interpretation oder eine Ergänzung nicht.23 Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass das Schiedsgericht von der in der Verfügung zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung abweicht und den Einwand des mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren doch nicht berücksichtigt. Darüber hinaus könnte das Schiedsgericht ohne ausdrücklichen Vorbehalt in dem Schiedsspruch sogar gehindert sein, das mitwirkende Verschulden der Schiedsklägerin im Betragsverfahren zu berücksichtigen, selbst wenn es das wollte. Walter24 berichtet über die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, die es als Verstoß gegen den prozessualen ordre public ansieht, wenn das Schiedsgericht im Betragsverfahren die Bindung an den Grundschiedsspruch missachtet. Genau das würde das Schiedsgericht tun, wenn es ohne entsprechenden Vorbehalt im Grundschiedsspruch später im Betragsverfahren das mitwirkende Verschulden prüfen und berücksichtigen würde. Mit der Verweigerung einer Entscheidung in der gebotenen Form wird die Verletzung des Gebots des rechtlichen Gehörs durch den fehlenden Vorbehalt der Berücksichtigung des mitwirkenden Verschuldens im Betragsverfahren noch verschärft. Man könnte vielleicht zweifeln, ob die Verletzung sich am Ende für die Schiedsbeklagte nachteilig auswirken würde. Wenn das Schiedsgericht das mitwirkende Verschulden im Betragsverfahren berücksichtigt, fehlte es an der Kausalität. Es ist indessen keineswegs sicher, dass das Schiedsgericht das mitwirkende Verschulden im Betragsverfahren berücksichtigt. Allein die Möglichkeit und der eventuell sogar gegebene Zwang, das wegen des fehlenden Vorbehalts im Grundschiedsspruch nicht zu tun, reichen zur Annahme der Kausalität der Gehörsverletzung aus. c) Ausschluss der Aufrechnung im Betragsverfahren Die Schiedsbeklagte hat in dem Schiedsverfahren mehrfach angekündigt, dass für den Fall, dass sich ein Schadensersatzanspruch der Schiedsklägerin in einer 23 24
Schlosser (Fn. 8), § 1054 Rn. 3. Walter (Fn. 3), 129, 134.
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bestimmten Höhe abzeichne, die Schiedsbeklagte mit Gegenansprüchen aufrechnen werde. Sie hat davon abgesehen, das Verfahren schon frühzeitig mit einem entsprechenden Gegenanspruch zu belasten. Mit dem Erlass des Schiedsspruchs über den Grund des Anspruchs hat das Schiedsgericht, möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne es zu wollen, die Aufrechnung mit Gegenansprüchen im Betragsverfahren ausgeschlossen. Das bedeutet abermals, dass die Schiedsbeklagte durch den Erlass des Schiedsspruchs über den Grund um eine wesentliche Verteidigungsmöglichkeit gebracht worden ist. Denn es ist anerkannten Rechts, dass eine Aufrechnungsmöglichkeit, die schon vor dem Erlass eines Grundurteils bestanden hat, durch den Erlass eines Grundurteils ausgeschlossen wird.25 Diese Folge könnte nur vermieden werden, wenn die Aufrechnung für das Betragsverfahren ausdrücklich vorbehalten wird.26 Die Schiedsbeklagte hat um die Ergänzung des Schiedsspruchs um einen solchen Vorbehalt beim Schiedsgericht nachgesucht. Die Ergänzung ist verweigert worden. Das ist nicht in der gebotenen Form eines Beschlusses des Schiedsgerichts, sondern in einer Verfügung durch den Vorsitzenden des Schiedsgerichts geschehen. Man darf allerdings davon ausgehen, dass auch dann, wenn die vorgesehene Form des Beschlusses für die Bescheidung des Gesuchs der Schiedsbeklagten gewählt worden wäre, die Entscheidung auf Verweigerung der Ergänzung gelautet hätte. Denn der Vorsitzende des Schiedsgerichts geht für das Schiedsgericht in seiner Verfügung davon aus, dass das Schiedsgericht im Betragsverfahren frei sei, über die Zulassung einer dann geltend gemachten Aufrechnung mit Gegenforderungen zu entscheiden. Diese Auffassung verkennt die Bindungswirkungen, die von einer Entscheidung über den Grund eines Schadensersatzanspruchs ausgehen. Die Aufrechnung mit Forderungen, die schon vor Erlass des Grundurteils hätten zur Aufrechnung gestellt werden können, ist im Betragsverfahren ausgeschlossen.27 Das dokumentiert die Fallstricke einer Entscheidung über den Grund. Nicht ohne Grund kann man bei Schellhammer, einem erfahrenen richterlichen Praktiker, folgende Warnung nachlesen: „Nach § 304 I darf das Gericht ein Grundurteil fällen, muss es aber nicht. Der kluge Richter beherrscht sich, denn das Grundurteil steckt voller Fußangeln. Der BGH muss sich nicht deshalb so oft mit dem Grundurteil befassen, weil der Bedarf so groß wäre, sondern weil die Instanzgerichte damit nicht umgehen können. Nur selten ist der Beweis über die streitige Höhe des Anspruchs so langwierig und teuer, dass man ihn zweckmäßig auf die lange Bank schiebt und vorab nur den Anspruchsgrund klärt.“28 Da das Schiedsverfahren keinen Instanzenzug kennt, gilt die Warnung für Schiedsrichter und Schiedsgerichte umso mehr. Nur ein Vorbehalt der Aufrechnung für das Betragsverfahren hätte die Wirkung der Entscheidung über den Grund verhindern können. Mit der Verweigerung des 25 Reichold (Fn. 3), § 304 Rn. 23; Leipold, in: Stein / Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 4, 22. Aufl. 2007, § 304 Rn. 31 und 64. 26 Musielak (Fn. 3), § 304 Rn. 19. 27 Reichold (Fn. 3), § 304 Rn. 23; Leipold (Fn. 25), § 304 Rn. 31 und 64. 28 Schellhammer (Fn. 1), Rn. 918.
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Vorbehalts stellt sich die Entscheidung über den Grund als Ausschluss eines wesentlichen Verteidigungsmittels dar. Sie verletzt die Schiedsbeklagte ein weiteres Mal in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör. Auch mit Blick auf diese Verletzung mag die Kausalitätsfrage aufgeworfen werden. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das Schiedsgericht eine Aufrechnung im Betragsverfahren zulassen wird. Doch würde es damit die Bindungswirkungen seines eigenen Grundschiedsspruchs und nach Auffassung des Schweizer Bundesgerichts auch den prozessualen ordre public verletzen. Die Kausalitätsfrage darf aber nicht von einer die erste Rechtsverletzung überholenden zweiten Rechtsverletzung abhängig gemacht werden. d) Ausschluss von Angriffen, die den Anspruch auf entgangenen Gewinn insgesamt in Frage stellen Das Schiedsgericht hat in mehreren Verfügungen seiner Rechtsauffassung Ausdruck gegeben, dass ein Anspruch auf entgangenen Gewinn aus Rechtsgründen ausgeschlossen sei. Da der Schadensersatzanspruch auf entgangenen Gewinn klar von dem Schadensersatzanspruch auf Ersatz vergeblicher Investitionen getrennt werden kann, hätte das bei einer korrekten Handhabung der Regeln für eine Entscheidung über den Grund des Anspruchs bedeutet, dass der Schadensersatzanspruch wegen entgangenen Gewinns durch einen Teilschiedsspruch hätte abgewiesen werden müssen und die Entscheidung über den Grund lediglich für den Schadensersatzanspruch auf Ersatz vergeblicher Investitionen hätte getroffen werden dürfen.29 Dass das Schiedsgericht das nicht getan hat, belegt einmal mehr seine Schwierigkeiten im Umgang mit den in der Tat nicht einfachen Regeln für eine Entscheidung über den Grund des Anspruchs. Die Tatsache, dass über den Grund des Anspruchs einheitlich für die vergeblichen Investitionen und den entgangenen Gewinn entschieden worden ist, nimmt der Schiedsbeklagten und dem Schiedsgericht die Möglichkeit, im Betragsverfahren den Anspruch auf entgangenen Gewinn insgesamt in Frage zu stellen. Für die Schiedsbeklagte bedeutet das eine weitere Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör, weil ihr zum einen diese Angriffsmöglichkeit genommen wird und sie zum anderen mit dieser Entscheidung überrascht worden ist. Denn die jetzt ausgeschlossene Möglichkeit, den Schadensersatzanspruch wegen entgangenen Gewinns aus Rechtsgründen insgesamt zu verneinen, steht in einem klaren Widerspruch zu der in den Verfügungen des Schiedsgerichts zum Ausdruck gebrachten Rechtsansicht des Schiedsgerichts.30 Das Schiedsgericht hätte die Möglichkeit gehabt, diese Wirkung seiner Entscheidung über den Grund des Anspruchs durch einen klarstellenden SchiedsLeipold (Fn. 25), § 304 Rn. 14. Vgl. zum Verbot überraschender Entscheidungen im schiedsrichterlichen Verfahren OLG Stuttgart, Beschluss vom 18. August 2006, 1 Sch 1 / 06, BeckRS 2006, 11581. 29 30
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spruch zu verhindern. Die Schiedsbeklagte hat um eine solche Klarstellung nachgesucht. Die Bescheidung ihres Gesuchs ist nicht in der gehörigen Form erfolgt. Im Übrigen kommt in der Verfügung des Vorsitzenden eindeutig zum Ausdruck, dass im Betragsverfahren nur noch über die Höhe des entgangenen Gewinns, nicht aber über die Berechtigung eines Schadensersatzanspruchs auf entgangenen Gewinn entschieden werden wird. Das bestätigt und verfestigt die Verletzung des Rechts der Schiedsbeklagten auf rechtliches Gehör. e) Überraschender Meinungswechsel von der Annahme überlappender Pflichtverletzungen zur alleinigen Pflichtverletzung der Schiedsbeklagten Ein weiteres Überraschungsmoment kann in der Abkehr des Schiedsgerichts von der Annahme überlappender Pflichtverletzungen zur Annahme einer alleinigen Pflichtverletzung der Schiedsbeklagten gesehen werden. Die Vergleichsgespräche vor dem Schiedsgericht waren durch die Annahme des Schiedsgerichts von überlappenden Pflichtverletzungen der Schiedsklägerin und der Schiedsbeklagten geprägt. Ohne vorherigen Hinweis auf einen Meinungswechsel des Schiedsgerichts verwirft das Schiedsgericht in seinem Schiedsspruch über den Grund des Anspruchs in den unterschiedlichsten Zusammenhängen alle Pflichtverletzungen der Schiedsklägerin und nimmt lediglich Pflichtverletzungen der Schiedsbeklagten an. Das ist eine für die Schiedsbeklagte böse Überraschung, läuft die Schiedsbeklagte doch nun Gefahr, dass auf derselben Linie ihre Verteidigungsmöglichkeiten wegen mitwirkenden Verschuldens der Schiedsklägerin und aus der Aufrechnung mit Gegenansprüchen gegen die Schiedsklägerin verworfen werden. Bei dieser Argumentation verkenne ich nicht, dass es keinen solchen Zwang aus Rechtsgründen gibt. Die Zusammenhänge und Probleme, in denen bislang Pflichtverletzungen der Schiedsklägerin verneint worden sind, wirken nicht präjudiziell für das mitwirkende Verschulden oder die Begründung eventueller Gegenansprüche. Doch ist zu befürchten, dass das Schiedsgericht aus Gründen einer in sich geschlossenen, konsistenten Begründung sich über eine rechtliche Bindung hinaus auch beim mitwirkenden Verschulden und bei der Begründung von Gegenansprüchen an das halten wird, was es anderenorts zu den Vertragspflichtverletzungen der Schiedsklägerin festgehalten hat. In der logischen Konsequenz müsste das zur Verwerfung von Gegenansprüchen und zur Verneinung eines mitwirkenden Verschuldens führen. Das komplettiert die Überraschung und macht den Schiedsspruch aus einem weiteren Grunde angreifbar. f) Nichtbescheidung von Anträgen auf Berichtigung, Interpretation und Ergänzung des Schiedsspruchs Die Schiedsbeklagte hatte in zwei Anträgen das Schiedsgericht um Berichtigung des Schiedsspruchs einerseits und um Interpretation und Ergänzung des Schieds-
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spruchs andererseits gebeten. Keiner dieser Anträge ist in der korrekten Form beschieden worden. Die korrekte Form wäre bei der Stattgabe ein Schiedsspruch nach § 1054 ZPO gewesen (§ 1058 Abs. 5 ZPO). Die Ablehnung der Anträge hätte in Form eines Beschlusses erfolgen müssen.31 Stattdessen gibt es zum ersten Antrag lediglich ein Schreiben des Vorsitzenden des Schiedsgerichts und zum zweiten Antrag eine Verfügung des Vorsitzenden im Namen des Schiedsgerichts. Die Verfügung gibt in der Einleitung („Taking into consideration“) vor, auch den Antrag auf Berichtigung zu behandeln. Man findet jedoch in ihr kein Wort zu den mit dem Berichtigungsantrag verfolgten Anliegen. Die nicht gehörige Bescheidung von Anträgen der Schiedsbeklagten verletzt die Schiedsbeklagte abermals in ihren prozessualen Grundrechten. Allerdings berührt diese Verletzung den Schiedsspruch über den Grund des Anspruchs nicht über das hinaus, was in den zuvor behandelten Aufhebungsgründen erwähnt worden ist. Ein selbstständiger Aufhebungsgrund ergibt sich aus der Art und Weise, wie das Schiedsgericht mit den Anträgen der Schiedsbeklagten auf Berichtigung, Interpretation und Ergänzung des Schiedsspruchs umgegangen ist, nicht. Als für die Parteien des Schiedsverfahrens vertrauensfördernd wird man diesen Umgang allerdings auch nicht bezeichnen können.
III. Ergebnis und Schlussbemerkung Die vorstehende Analyse hat fünf Verletzungen des Grundrechts der Schiedsbeklagten auf rechtliches Gehör ergeben, die jede für sich einen Aufhebungsgrund darstellen. Das Risiko eines Aufhebungsverfahrens lag weniger in der Feststellung von Aufhebungsgründen als in der Frage, ob ein Schiedsspruch über den Grund eines Schadensersatzanspruchs überhaupt dem Aufhebungsverfahren nach § 1059 ZPO unterliegt. Die Schiedsbeklagte hat das immense Kostenrisiko eines scheiternden Aufhebungsverfahrens gescheut und von der Stellung eines Aufhebungsantrags abgesehen. Wir müssen deshalb weiter auf eine höchstrichterliche Stellungnahme zur selbständigen Angreifbarkeit eines Grundschiedsspruchs im Aufhebungsverfahren warten.
31 Reichold (Fn. 3), § 1058 Rn. 5; für Schlosser (Fn. 8), § 1058 Rn. 9 ist auch die Ablehnung der beantragten Berichtigung oder Änderung ihrerseits Schiedsspruch.
Der badische Entwurf eines „Gesetzes über den Schutz des Eigenthums an Werken der Literatur und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung“ von 1840 / 41 – Ein zweiter Ansatz zur Reform des Urheberrechts im Großherzogtum Von Elmar Wadle
Wer sich für das Urheberrecht interessiert, kommt gelegentlich nicht umhin, sich mit Problemen des Kulturgüterschutzes zu befassen.1 Man kann diesen Satz auch umkehren: wer sich – wie Wilfried Fiedler – mit dem Schutz von Kulturgütern beschäftigt,2 begegnet hier und da auch urheberrechtlichen Problemen. Deshalb darf man hoffen, dass dem Jubilar ein kleiner „Ausflug“ in die Geschichte des Urheberrechts gefallen wird, zumal es sich um eine bislang unbekannte Episode der Rechtsgeschichte in Baden handelt, mithin jene Region betrifft, die dem Jubilar seit Studienzeiten besonders vertraut ist.
I. Die Tatsache, dass das Großherzogtum Baden schon bald nach seiner Gründung Regeln zum Schutz gegen den Nachdruck erlassen hat, ist bekannt und vielfach beschrieben worden.3 Die jahrelange Diskussion, die im Deutschen Bund um den 1 Adolf Dietz, Der Einbruch der kulturellen Vielfalt im Urheberrecht, in: Tiziana J. Chiusi / Thomas Gergen / Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag (Schriften zur Rechtsgeschichte H. 139), Berlin 2008, S. 91 – 110; ders., Der Einbruch der kulturellen Vielfalt auf das Urheberrecht, in: Medien und Recht International, H. 3 / 4 (2008) S. 59 – 63. 2 Hier muss ein Hinweis genügen auf: Wilfried Fiedler, Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland über die Rückführung der während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 56 (2008) S. 217 – 227; ders., Historische und rechtshistorische Argumente in den Verhandlungen über die Restitution von Kulturgütern zwischen Deutschland und Rußland, in: Chiusi / Gergen / Jung, Das Recht und seine historischen Grundlagen (Fn. 1), S. 229 – 238 (mit zahlreichen weiterführenden Angaben). 3 Zur älteren Forschung: Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland, Baden-Baden 1995, S. 190 – 194; Elmar Wadle, Rezeption durch Anpassung: Der Code Civil und das Badische Landrecht. Erinnerung an eine
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Schutz von Urhebern geführt worden ist, hat in mehreren Mitgliedsstaaten zu neuen Schutzgesetzen geführt, nicht aber in Baden. Das Großherzogtum behielt die urheberrechtlichen Regeln bei, die in der Verordnung vom 8. September 1806 erstmals angesprochen und kurz darauf im Badischen Landrecht von 1809 / 1810 entfaltet worden waren.4 Im Übrigen begnügte sich Karlsruhe im Wesentlichen mit der Übernahme der Bundesbeschlüsse. In späteren Ausgaben des Badischen Landrechts kann man die Folgen dieser Entscheidung erkennen; so etwa in der amtlichen Ausgabe, die 1854 in Karlsruhe erschienen ist.5 In dieser für die Praxis gedachten Edition ist das ganze Kapitel „Vom Schrifteigenthum“ (Landrecht Satz 577 da bis 577 dh) noch enthalten; ebenso wie in früheren Drucken 6 zeigt auch hier der veränderte Drucksatz an, dass dieses Kapitel Gegenstände behandelt, die nicht in den französischen Code civil eingegangen sind. Noch wichtiger ist in unserem Zusammenhang die Tatsache, dass eine Fußnote zahlreiche Hinweise auf ergänzende Bestimmungen enthält; sie verweisen nämlich auf die Verordnung von 1806, auf die Bundesbeschlüsse von 1832, 1835, 1837, 1841 und 1845, sowie auf eine badische Vollzugsordnung von 1854 und den Staatsvertrag mit Frankreich aus dem Jahre 1854. Alle diese Dokumente, die im Anhang abgedruckt sind, hat man als zusätzlich geltendes Recht, als ergänzende Normen verstanden, nach denen die Sätze des Landrechts zu modifizieren und zu ergänzen waren. Es gab allerdings auch in Baden Projekte zur ausdrücklichen Reform des landrechtlichen Urheberschutzes. Über einen ersten Gesetzentwurf aus dem Jahre 1828 konnte vor kurzem berichtet werden.7 Ein zweiter Vorschlag wurde in den Jahren 1840 / 41 entwickelt; er soll in diesem Beitrag vorgestellt werden. Erfolgsgeschichte, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2004 S. 947 – 960; zuletzt: Martin Löhnig, „Vom Schrift-Eigenthum“. Das erste deutsche Urheberrecht in Art. 577da – 577dh des Badischen Landrechts, in: UFITA 2007 III S. 783 – 793. 4 Die einschlägigen Texte sind zusammengestellt bei: Hermann Theodor Schletter (Hrsg.), Handbuch der deutschen Preß-Gesetzgebung. Sammlung der gesetzlichen Bestimmungen über das literarische Eigenthum und die Presse in allen deutschen Bundesstaaten nebst geschichtlicher Einleitung. Leipzig 1846, S. 60 ff.; sowie bei: Ch. F.M. Eisenlohr (Hrsg.), Sammlung der Gesetze und der internationalen Verträge zum Schutze des literarisch-artistischen Eigenthum in Deutschland, Frankreich und England. Heidelberg 1856, S. 9 ff. 5 Landrecht für das Großherzogthum Baden nebst Handelsgesetzen. Amtliche Ausgabe, Karlsruhe 1854, S. 143 – 144. – Entsprechendes gilt schon für die amtliche Ausgabe von 1846, deren Untertitel lautet: „Mit den beiden Einführungsedikten und der Bezugnahme auf alle das Landrecht abändernde oder erläuternde Gesetze . . .“. 6 Die Kennzeichnung durch veränderten Druck ist bereits in den beiden Ausgaben des Jahres 1809 zu finden. Die Edition der C.F. Müller’schen Hofbuchdruckerei weist die Zusätze durch kleineren Druck aus; die konkurrierende Firma Macklot verwendet in ihrer Ausgabe einen kleineren Zeilenabstand. Entsprechendes gilt für die Ausgabe „Das Badische Landrecht nebst Handelsgesetzen. Karlsruhe 1836“, S. 142 – 143. 7 Elmar Wadle, Ein Projekt zur Reform des badischen Rechtsschutzes gegen den Nachdruck, in: Ulrich Wackenbarth / Thomas Vormbaum / Hans-Peter Marutschke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Eisenhardt zum 70. Geburtstag, München 2007, S. 171 – 182.
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Zunächst ist auf die Debatten auf Bundesebene einzugehen, die in den badischen Ministerien eine neue Diskussion über ein eigenes Landesgesetz angeregt haben (II). Im Anschluss daran ist der konkrete Anlass für die Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs zu erörtern (III). Sodann soll der Text des Entwurfes, sein wesentlicher Inhalt und sein Vorbild vorgestellt werden (IV). Ein letzter Abschnitt gilt dem weiteren Schicksal des Entwurfs und insbesondere der Frage, warum Baden den Entwurf nicht im Wege der eigenen Gesetzgebung zum geltenden Recht erhoben hat (V). II. Die zweite Diskussion um die Reform des landrechtlichen Schutzes gegen den Nachdruck hat andere Ursachen als jene, die in den späten zwanziger Jahren stattfand. Damals ging es vor allem darum, auf die immer lästiger werdende Privilegierungspraxis zu reagieren; durch eine Erweiterung des gesetzlichen Rechtsschutzes sollte der weiterhin zulässige Rückgriff auf Privilegien eingedämmt werden.8 Runde fünf Jahre später führten die Verhandlungen im Deutschen Bund dazu, erneut über eine Reform des badischen Rechtsschutzes gegen den Nachdruck nachzudenken. Als die Bundesversammlung entschieden hatte, die an sie weitergeleiteten Aufträge der Wiener Geheimen Konferenz von 1834 getrennt zu diskutieren,9 befasste sich die für die Nachdruckfrage etablierte Kommission des Bundestages wieder eingehender mit den seit Jahren ungelösten Problemen eines bundeseinheitlichen Schutzes. Freiherr von Blittersdorff, der badische Gesandte am Bundestag,10 war Vorsitzender dieser Kommission und berichtete ausführlich über die immer noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten. 8 Näheres zur badischen Privilegienpraxis bei: Elmar Wadle, Privilegien für Autoren oder für Verleger? Eine Grundfrage des Geistigen Eigentums in historischer Perspektive, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 124. Bd. (2007) S. 144 – 166, bes. S. 156 ff.; ders., Der badische Privilegienschutz gegen den Nachdruck der Werke Goethes, in: Harald Derschka / Rainer Hausmann / Martin Löhnig (Hrsg.), Festschrift für Hans-Wolfgang Strätz zum 70. Geburtstag, 2009, S. 551 – 563. 9 Dazu: Elmar Wadle, Schutz gegen Nachdruck als Aufgabe einer bundesweiten Organisation des deutschen Buchhandels. Metternichs zweiter Plan einer „Bundeszunft“ und sein Scheitern, in: Bernd-Rüdiger Kern / Elmar Wadle / Klaus-Peter Schoeder / Christian Katzenmeier (Hrsg.), Humaniora. Medizin – Recht – Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag. Berlin / Heidelberg / New York 2005, S. 431 – 457, bes. S. 438 ff. 10 Von Blittersdorff war badischer Bundestagsgesandter von 1820 bis 1835 und von 1843 bis 1848; von Ende 1835 bis Oktober 1843 amtierte v.B. als badischer Außenminister. Zur Person und ihrer Politik eingehend: Wolfgang von Hippel, Friedrich Karl von Blittersdorff. 1792 – 1861. Ein Beitrag zur badischen Landtags- und Bundespolitik im Vormärz (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B Forschungen Bd. 38), Stuttgart 1967; zusätzliche Hinweise bei Annette Jasmin Baldes, Die
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Der Sache nach ging es um die Umsetzung des Artikels 36 des Wiener Protokolls; dieser besagt:11 „Die Regierenden vereinbaren sich dahin, daß der Nachdruck im Umfange des ganzen Bundesgebietes zu verbieten und das schriftstellerische Eigenthum nach gleichförmigen Grundsätzen festzustellen und zu schützen sei“.
Die Beschlussvorlage12 übernahm den Wortlaut des Art. 36 als Satz 1 und ergänzte ihn in folgender Weise: „2) Die höchsten und hohen Regierungen werden aufgefordert, der Bundesversammlung binnen zwei Monaten anzuzeigen, was sie zur Ausführung des durch vorstehenden Beschluß angesprochenen Verbots des Nachdrucks bereits verfügt haben oder noch zu verfügen beabsichtigen.“
In der Sitzung der Bundesversammlung vom 2. April 1835 wurden die beiden Artikel zum Bundesbeschluss („Maaßregeln zum Schutz des schriftstellerischen Eigenthums betreffend“) erhoben13. Blittersdorff hatte diesen Antrag schon in seinem Bericht vom 3. April unterstützt;14 er argumentierte, ein solcher Beschluss sei „. . . der einzig richtige und praktische . . . , insofern er in dem Sinne zu nehmen sey, daß alle Regierungen, ohne Rücksicht auf die von dem Bunde in Berathung zu nehmende Gleichförmigkeit der Grundsätze zum Behuf des Schutzes des schriftstellerischen Eigenthums, auf dem Wege der Partikulargesetzgebung Verbote gegen den Nachdruck zu erlassen hätten. Seit dem Beschlusse vom 6ten 7br 1832 § 361 fänden Verletzungen des schriftstellerischen Eigenthums von größerem Belange nur noch in den Bundesstaaten statt, wo das Privilegiensystem bestehe, und mithin der Nachdruck als Regel gelte: die Hauptsache sey daher, daß in allen Bundesstaaten Gesetze gegen den Nachdruck erlassen und das Privilegiensystem allerwärts aufgehoben werde. Sey dies einmal bewirkt, sey insofern Gleichförmigkeit unter allen Bundesstaaten hergestellt, so werde das Prinzip der Reziprozität, wie es durch den Beschluß vom 6ten 7br 1832 ausgesprochen sey, in den meisten Fällen seine Anwendung finden könne, und das schriftstellerische Eigenthum werde des billigen und gerechten Schutzes nicht entbehren.“
Der am 2. April gefasste Beschluss der Bundesversammlung löste nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in Karlsruhe eine vielschichtige Debatte aus. Entstehung des Strafgesetzbuches für das Großherzogtum Baden von 1845. Mit Blick auf die Badische Verfassungsgeschichte und die an der Strafgesetzgebung beteiligten Personen (Studien zur Rechtswissenschaft Bd. 28), Hamburg 1999, S. 116 ff. 11 Die sechzig Artikel (Schlußprotokoll der Wiener Ministerkonferenzen vom 12. Juni 1834) Art. 36; Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 3. Aufl. 1978, S. 143. 12 Protokolle der deutschen Bundesversammlung (künftig: Prot.BV) 1835 (§ 140), S. 270. 13 Ebenda. 14 Die folgenden Angaben und Zitate zum internen Meinungsaustausch zwischen den Karlsruher Ministerien und Behörden beruhen auf folgenden Akten des Landesarchivs Baden-Württemberg / Generallandesarchivs Karlsruhe (künftig: GLA): Abteilung 49 (Haus-
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Noch im April, mithin kurz nach der Verabschiedung, griff die badische Regierung die Frage nach den getroffenen „Verfügungen“ auf. Das „Ministerium des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten“ forderte am 10. April das „Ministerium des Innern“ auf, „sich hierüber äußern zu wollen, ob es eine Erweiterung der landesrechtlichen Bestimmungen gegen den Nachdruck dortseits auf Fortdauer für zweckmäßig erachtet werde und ob sich dieselbe schon in nahe Aussicht stellen lasse.“
Noch bevor die Antwort eintraf, beauftragte man (21. Mai) den badischen Gesandten im Bundestag, „. . . sich im Namen der Großherzoglichen Regierung auf die Landrechtssätze . . . zu beziehen . . . und noch beizufügen, daß man das Schrifteigenthum auch noch für eine Reihe von Jahren nach dem Tode des Schriftstellers zu sichern gedenke und deshalb der künftigen Ständeversammlung im Großherzogthum einen Gesetzentwurf vorlegen werde, wenn und insofern die übrigen Bundesregierungen ähnliche Maßregeln ergreifen dürften.“
Am 25. Juni gab von Blittersdorff in Frankfurt eine entsprechende Erklärung ab.15 Kurz vor diesem Termin, nämlich am 22. Mai, hatte sich auch das Innenministerium geäußert: „Bei dem gegenwärtigen Landtag kann jedenfalls keine Änderung der bestehenden Gesetzgebung über den Büchernachdruck herbeigeführt werden; wir werden aber darauf antragen, dem Landtage von 1837 einen Gesetzentwurf, wodurch das Recht des Schriftstellers noch auf 20 Jahre nach dessen Tod gesichert würde, vorzulegen, wenn die übrigen Bundesstaaten nach dem Bundeschlusse vom 2. vor. M. zu ähnlichen Maaßregeln für den Schutz des Schrifteigenthums sich herbeilassen.“
Daraufhin ermächtigte das Außenministerium (9. Juni) den Bundestagsgesandten bezüglich des zweiten Teils des Beschlusses „. . . zu der vorläufigen Erklärung . . . , daß die Großh. Regierung das im Landrecht Satz 577 da bis 577 dh bereits enthaltene Verbot künftig noch, über die Lebensdauer des Schrifteigenthümers hinaus, erweitern dürfte, wenn andere Bundes-Regierungen sich zu einer ähnlichen Bestimmung herbeilassen sollten.“
In seiner Vorlage an Großherzog und Staatsministerium (9. Juni) fügte das Außenministerium hinzu: „Inzwischen scheint uns räthlich zu seyn, daß man den ersten Teil des obgedachten Beschlusses schon jetzt publicirt und wir tragen daher ehrerbietigst darauf an, Euer Königl. Hoheit mögten uns dazu gnädigst zu legitimiren geruhen“. und Staatsarchiv IV. Gesandtschaften) Nr. 367; Abteilung 233 (Staatsministerium bzw. „Ministerium des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten“) Nr. 3157, 3158 und 27608; Abteilung 234 (Justizministerium) Nr. 7309; Abteilung 236 (Innenministerium) Nr. 5745 und 5746. 15 Prot. BV 1835 (§ 224) S. 479.
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Nach „höchster Entschließung“ vom 12. Juni wurde der Bundesbeschluss „mit dem Bemerken“ versehen, „daß die von den einzelnen Bundes-Regierungen zur Ausführung des Verbots getroffenen Verfügungen, nach den hierüber der BundesVersammlung zu machenden Anzeigen, seiner Zeit ebenfalls öffentlich verkündet werden sollen“, und am 15. Juni zur Veröffentlichung im „Großherzoglich Badischen Staats- und Regierungsblatt“ freigegeben.16 Im Spätjahr 1835 kam es zu einer neuen Diskussion, nachdem Württemberg im Bundestag um eine Erläuterung des im Bundesbeschluss vom 2. April enthaltenen allgemeinen Nachdrucksverbots gebeten hatte.17 Während das badische Justizministerium am 8. Dezember ein „positives Verbot“ bejahte und die aufzustellenden „gleichförmigen Grundsätze“ der „künftigen Beratung und Vereinbarung“ vorbehalten wollte, befürwortete das Innenministerium (4. Dezember) ein förmliches Bundesgesetz; allerdings war es auch mit der Aufstellung gleichförmiger Grundsätze, wie sie die Bundeskommission vorgeschlagen hatte, grundsätzlich einverstanden. Das Außenministerium gab am 17. Dezember diese Wünsche an die Frankfurter Kommission weiter. Inzwischen hatte das badische Innenministerium allerdings seine Stellungnahme modifiziert; es wollte nun (14. Dezember) im Bundesbeschluss vom 2. April nicht „ein eigentliches Bundesgesetz“ erblicken, sondern nur „eine Vereinbarung, wodurch sich die Regierungen zum Verbote des Nachdruckes im Wege der Bundesgesetzgebung gegenseitig verpflichten,. . .und in dieser Beziehung haben die Regierungen, da mit der bloßen Verkündung nichts gethan ist, nach dem membrum Nr. 2 desselben binnen 2 Monaten anzuzeigen was sie zur Ausführung des verabredeten Nachdruckverbots gethan haben, oder noch thun werden.“
Die hier angesprochene Grundsatzfrage wurde in diesem Zusammenhang zwar nicht weiter diskutiert. Der Vorgang lässt jedoch erkennen, dass man in Baden den Rückgriff auf ein eigenes Gesetz nicht grundsätzlich ausgeschlossen hat. In dieselbe Richtung weist eine Stellungnahme des Justizministeriums im Frühjahr 1837. Als Preußen in der Debatte um die gemeinsam erstrebten „Grundsätze“ verlangte, die zunächst vorgesehene Schutzfrist von insgesamt 10 Jahren auf 15 Jahre nach dem Tod des Autors zu verlängern, verwies man in Baden auf den eigenen Gesetzentwurf von 1828. Das Justizministerium gab (10. März) folgende Stellungnahme ab: „Im Jahre 1828 haben wir einen abschriftlich beigeschlossenen Gesetzesvorschlag entworfen, der hinsichtlich der Zeitdauer, für welche der Nachdruck hierlands verbothen werden sollte, mit dem, was die Königl. Preußische Regierung nunmehr allgemein zu erzielen strebt, vollkommen übereinstimmt und dessen Inhalt sich uns noch immer als legislativ Nr. XXVIII. S. 177. Prot. BV 1835 (§ 448) S. 945 ff.; Näheres dazu bei: Thomas Gergen, Die Nachdruckprivilegienpraxis Württembergs im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für das Urheberrecht im Deutschen Bund (Schriften zur Rechtsgeschichte H. 137) Berlin 2007, S. 66 f. 16 17
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zweckmäßig zu empfehlen scheint. Wir nehmen daher überall keinen Anstand, uns mit der . . . dortigen Ansicht einverstanden zu erklären und würden uns schon früher dafür ausgesprochen haben, wenn uns nicht die Befürchtung, daß die Zustimmung sämmtlicher Bundesstaaten auf eine so lange Zeitdauer nicht zu erreichen seyn dürfte, dem Commissionsantrag beizutreten vermocht hätte.“
Die grundsätzliche Bereitschaft Badens, unter bestimmten Bedingungen ein neues Landesgesetz zu erlassen, lebte wieder auf, als man in Karlsruhe daran ging, den im Bundesbeschluss vom 9. November 1837 („Die Aufstellung gleichförmiger Grundsätze gegen den Nachdruck betreffend“)18 enthaltenen Regeln in Baden Geltung zu verschaffen. Bevor man in der badischen Regierung über ein neues Gesetz nachdenken konnte, musste zunächst die Frage beantwortet werden, ob und wie bereits der Bundesbeschluss selbst die Rechtslage in Baden verändert haben könnte. Das Außenministerium bewertete am 27. November die rechtliche Situation in einer ausführlichen Vorlage. Darin heißt es: Der Bundesbeschluss „mußte sich . . . , um nicht an den divergirenden Ansichten und Interessen zu scheitern, auf die Grundzüge und Festsetzung eines Minimum für die Schutzfrist beschränken, das Detail aber und die beliebige Ausdehnung der Eigenthums-Rechte der Schriftsteller auf einen längeren Zeitraum, den Particular-Gesetzgebungen überlassen. Von diesem Gesichtspuncte aus wird man den gedachten Bundesbeschluß, obwohl er manche Lücke enthält, dennoch, insofern er die Sicherstellung gegen den Nachdruck im gesammten Bundes-Gebiete verbürgt, als eine wünschenwerthe Erscheinung betrachten. Es frägt sich nunmehr, in welcher Weise die Gr. Regierung die darin enthaltenen Normen hierlands zum Vollzug bringen will: Nach dem Eingang des Beschlusses und den Anfangsworten des Art. 6 muß es als in dem Belieben der einzelnen Bundesstaaten stehend angesehen werden, ob sie jene Normen sofort durch Verkündigung innerhalb ihrer Territorien für verbindlich erklären wollen, oder ob sie es vorziehen, dieselben nur einer erschöpfenden Particular-Gesetzgebung zu Grund zu legen, und erst nach Verschmelzung mit derselben zu vollziehen. Nach unserer Ansicht dürfen dießerorts der alsbaldigen Verkündigung des Beschlußes vom 9ten Novembr., vorbehaltlich dessen späterer Ergänzung auf dem Wege der Gesetzgebung, der Vorzug gegeben werden; einmal, weil hiedurch, nach § 2 der Verfassungsurkunde, gegenüber den Ständen eine festere Basis für die an sie seiner Zeit zu machende Vorlage gewonnen würde, weil dessen Inhalt eines Theils mit der bestehenden Gesetzgebung im Einklange steht, andern Theils dieselbe auf entsprechende Weise ergänzen würde.“
Das Verhältnis des neuen Bundesrechts zum älteren badischen Landesrecht wird folgendermaßen beschrieben: „Unser Gesetzbuch sanctioniert das Schrift-Eigenthum und steht insofern mit dem Art. 1 des Beschlusses im Einklange; letzterer dehnt dasselbe zudem – wie billig – auf Werke der 18 Prot. BV 1837 S. 846 g – 846 h; Schletter, Handbuch (Fn. 4) S. 4 f. – Dazu: Elmar Wadle, Der Bundesbeschluß vom 9. November 1837 gegen den Nachdruck, in: Ders., Geistiges Eigentum. Bausteine zur Rechtsgeschichte, Weinheim / München 1996, S. 222 – 267.
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Kunst aus. Das Landrecht läßt jenes Eigenthum mit dem Tode des Verfassers erlöschen, nach Art. 2 geht es auf dessen Erben über und soll mindestens während zehn Jahren geschützt werden. Diese scheinbar widersprechenden Vorschriften könnten jedoch sehr wohl neben einander bestehen: die Worte „mindestens während eines Zeitraums von zehn Jahren“ schließen nemlich eine deßfallsige erweiternde Bestimmung nicht aus, sind daher eben so wenig geeignet, einer solchen schon bestehenden Bestimmung zu derogiren; in Zukunft würde daher das Schrift-Eigenthum landrechtlich stetshin während der Lebensdauer des Autors geschüzt bleiben: nebstem aber dasselbe, insoweit das Decennium nicht abgelaufen ist, für die noch übrige Frist, nach dem Bundes-Gesetze, auf die Erben übergehen. Hinsichtlich der Werke der Kunst dagegen würde einzig der Bundesbeschluß entscheiden. Der Art. 3 enthält eine mit unserer Particular-Gesetzgebung nicht collidirende Bestimmung. Die Art. 4 und 5 stehen mit unserer Gesetzgebung und allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Übereinstimmung. Der Art. 6 enthält keine Gesetzes-Vorschrift, sondern nur eine Auflage an die Bundes-Regierungen.“
Auf die Frage, ob es genügen würde, zunächst den dispositiven Artikeln 1 bis 5 des Bundesbeschlusses formal durch Verkündung im Gesetzblatt zur Geltung zu verhelfen, oder ob es notwendig sei, sie im Rahmen eines besonderen Landesgesetzes als geltendes Recht zu etablieren, gaben die beiden übrigen Ministerien unterschiedliche Antworten. Das Justizministerium teilte am 22. Dezember mit, dass es zwar der ersten Variante zustimme, man aber nicht gehindert sei, später diese Grundsätze in ein umfassenderes Landesgesetz aufzunehmen. Das Innenministerium hingegen bezweifelte am 29. Dezember, dass es – jedenfalls in Beziehung auf die Artikel 1 bis 5 – genüge, den Bundesbeschluss im Gesetzblatt zu verkünden. Zur Begründung verwies man darauf, dass auf Grund des Art. 15 der Wiener Schlußakte19 und des Art. 2 der badischen Verfassung20 Bedenken gegen die Rechtsverbindlichkeit erhoben werden könnten; man sei nicht sicher, „daß unser Richterstand sich durch den fraglichen Bundesbeschluß gebunden erachte; bei einer Mißachtung desselben aber ein Zustand der Rechtsverwirrung entstünde, den man in dem vorliegenden Fall um so leichter vermeiden kann, als der Bundesbeschluß selbst den 19 Dieser Artikel lautet: „In Fällen, wo die Bundes-Glieder nicht in ihrer vertragsmäßigen Einheit, sondern als einzelne, selbstständige Staaten erscheinen, folglich jura singulorum obwalten, oder wo einzelnen Bundegliedern eine besondere, nicht in den gemeinsamen Verpflichtungen Aller begriffene Leistung oder Verwilligung für den Bund zugemuthet werden sollte, kann ohne freie Zustimmung sämmtlicher Betheiligten kein dieselben verbindender Beschluß gefaßt werden.“ Vgl. Huber, Dokumente (Fn. 11) S. 93. 20 § 2 der badischen Verfassung vom 22. 8. 1818 bestimmt: „Alle organischen Beschlüsse der Bundes-Versammlung, welche die verfassungsmäßigen Verhältnisse Deutschlands oder die Verhältnisse deutscher Staatsbürger im Allgemeinen betreffen, machen einen Theil des badischen Staatsrechts aus, und werden für alle Classen von Landesangehörigen verbindlich, nachdem sie vom Staatsoberhaupt verkündet worden sind.“ Vgl. Huber, Dokumente (Fn. 11) S. 172.
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einzelnen Regierungen die Verschmelzung seiner Grundzüge mit der Particulargesetzgebung überläßt“.
Im Übrigen sei es „räthlich“, dem Beispiel Bayerns und Württembergs zu folgen, die ebenfalls über eine „constitutionelle“ Verfassung verfügten. Schließlich sei zu bedenken, dass „bei unseren Ständen durchaus ein Entgegenstreben in der vorliegenden Sache nicht, vielmehr eine dem Geiste des preußischen Gesetzes über den Nachdruck sich annähernde Ansicht zu gewärtigen ist“.
Der Dissens zwischen den beiden Ministerien veranlasste das Außenministerium zu einer außergewöhnlich langen Stellungnahme. In der an „Seine(r) Königliche(n) Hoheit zum Großherzoglichen Staatsministerium“ adressierten Vorlage vom 15. Januar 1838 heißt es, man könne der Meinung des Innenministeriums nicht zustimmen, wonach sich aus den genannten Bestimmungen Zweifel gegen die Rechtsverbindlichkeit des Bundesbeschlusses ergeben könnten; solche Zweifel entbehrten jeglichen rechtlichen Fundaments. Die ausführliche Begründung dazu lautet folgendermaßen: „Der Artikel 18 d der Bundes-Acte bestimmt nemlich, daß sich die Bundesversammlung mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck beschäftigen werde. Durch das Grundgesetz des Bundes war also diese Sicherstellung, in der Voraussicht, daß hier nur gemeinsame Maßregeln, zum Zwecke führen dürften, ausdrücklich der Bundesversammlung zugewiesen, und es war, wie ihr Recht, so ihre Pflicht, dieselbe zum Gegenstand ihrer Berathungen zu machen und wo möglich ein allseitiges Einverständnis zu erzielen. Es kann daher sowohl als nach dem Art. 9 und 10 der Wiener Schlußakte durchaus keinem Bedenken unterliegen, daß die Bundes-Versammlung den fraglichen Beschluß innerhalb der Grenzen ihrer Competenz gefaßt hat und er darum schon durch dessen Publication im Großherzogtum amtliche Gültigkeit erlangte. Gegen diese klaren Bestimmungen . . . kann einmal Art. 15 der Wiener Schlußakte nicht angerufen werden, weil es sich hier augenscheinlich nicht um jura singulorum, nicht um einen Fall handelt, wo die Bundesglieder als einzelne, unabhängige Staaten erscheinen, oder wo einzelnen eine besondere Leistung zugemuthet wird, sondern gerade um eine gemeinsame Verpflichtung, welche im Interesse des Ganzen alle Bundesglieder als solche gleichmäßig und zwar auf dem Grund des Bundes-Vertrags übernehmen; und dem steht auch unsere Verfassungs-Urkunde nicht entgegen, da hier zwar nicht eine organische Einrichtung im Sinne des Art. 13 der Wiener Schlußakte, wohl aber ein organischer, die Verhältnisse der deutschen Staatsbürger im Allgemeinen betreffender Bundesbeschluß im Sinne der Verfassungs-Urkunde in Frage stehen dürfte. Zudem erfolgt die Gesetzmäßigkeit des fraglichen Beschlusses aus den Grundgesetzen des Bundes und insofern schon aus dem § 1 unserer Verfassung, welcher das Großherzogtum für einen Bestandtheil des deutschen Bundes erklärt und schon hier durch jene Grundgesetze für verbindlich erklärt.“
Im Übrigen verwies das Ministerium auf die Reaktionen anderer Bundesstaaten, die, wie Österreich und Preußen, den Bundesbeschluss sofort zur Publikation gebracht hätten. Zum Abschluss gibt das Ministerium zu bedenken:
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„Für die Befolgung eines gleichen Verfahrens scheint uns endlich der Umstand zu sprechen, daß Bundes- wie Landes-Gesetz auf verschiedenem Fundament ruht, dieses den jeweils im Innern beliebten Modificationen unterworfen ist, jenes dagegen auf der gemeinsamen Übereinkunft sämmtlicher Bundesglieder ruht, beide daher wohl auch passender in der Form getrennt gehalten werden.“
Das Außenministerium konnte seine Interpretation durchsetzen: Am 26. Januar 1838 wurde der Bundesbeschluss im badischen Gesetzblatt21 abgedruckt und zwar mit folgender zusätzlicher Formel: „In Folge höchster Entschließung aus Großherzoglichem Staats-Ministerium vom 25. d. M. Nr. 156. wird dieser Bundesbeschluß hiermit zur allgemeinen Nachachtung öffentlich verkündet.“
Damit stand fest, dass das Bundesrecht ohne eigenes Landesgesetz zur Geltung gebracht werden sollte; gleichwohl war dadurch ein eigenes badisches Landesgesetz, das die Grenzen des Schutzes weiter ziehen würde, nicht ausgeschlossen. Nur wenige Monate vergingen, bis die Gelegenheit, ein solches Gesetz zu formulieren, aufgegriffen wurde. III. Noch im Laufe des Jahres 1838 erbat der Münchener Buchhändler Franz bei der badischen Regierung die Erteilung eines Nachdruckprivilegs für vier Stahlstiche. Daraufhin wandte sich das Ministerium des Innern an das Justizministerium, um zu klären, wie sich der Bundesbeschluss vom 9. November 1837 auf die Rechtslage ausgewirkt hatte; in der Vorlage vom 20. September heißt es: „Wenn die Bestimmungen des Bundesbeschlusses vom 9. November v. J. durch dessen Verkündigung im Regierungsblatte unmittelbar gesetzliche Wirksamkeit für das Großherzogthum erhalten sollten und erlangt haben, so bedarf der Buchhändler Franz für seine Stahlstiche kein besonderes Schutzprivilegium. Dagegen würde ihm allerdings wenigsten für einige Zeit ein solches Privilegium von Werth sein können, wenn man jene Bestimmungen nur als leitenden Grundsatz betrachten wollte, nach welchem die einzelnen Bundesstaaten besondere Landesgesetze unter angemessener Entwicklung der verabredeten Grundlage zu erlassen sich verpflichtet haben; denn in diesem Falle wäre, um den Bundesbeschluß zur Ausführung zu bringen, noch ein solches specielles Gesetz zu veranlassen. Für die erste Annahme spricht die Verkündung zur Nachachtung; für die zweite, die aus der Fassung des Bundesbeschlusses hervorgehende ursprüngliche Absicht der Bundesversammlung und der Umstand, daß jene Grundsätze in der That, noch einer nähern Entwicklung zu bedürfen scheinen. Wir glauben, das in der Verkündungsformel liegende Gebot der Nachachtung als für uns entscheidend betrachten zu müssen. Wir wünschen die dortseitige Ansicht hierüber und auch davon unterrichtet zu werden, ob Großherzogliches Justizministerium die Vorlage eines besonderen Gesetzes beabsichtigt respve den Auftrag dazu erhalten hat.“ 21
Badisches Staats- und Regierungsblatt 36 (1838) S. 67 f.
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Das Justizministerium wies in seiner Antwort vom 8. Oktober darauf hin, dass der Bundesbeschluss durch die Verkündung im Regierungsblatt Gesetzeskraft erlangt habe und nach Art. 1 dieses Beschlusses die Nachbildung der Stahlstiche „auch hierlands als verboten betrachtet werden muß“. Das Ministerium fügte hinzu, dass ein Verstoß gegen das Verbot in Baden zur Zeit nur eine Entschädigungsklage begründen könne, nicht aber eine Strafe; insoweit könne ein Privileg hilfreich sein. Das Schreiben schließt mit dem Bemerken, „daß es unsere Absicht ist, ein Gesetz über den Nachdruck unter Zugrundlegung des gedachten Bundesbeschlusses zur Vorlage auf den nächsten Landtag vorzubereiten.“
Die Vorlage des hier in Aussicht gestellten Entwurfs erfolgte erst nach Monaten. Unter Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 8. Oktober 1838 übersandte das Justizministerium am 12. Juni 1840 den Entwurf an das Innenministerium mit der Bitte, der „dortige Respicient“ möge sich mit dem „diesseitigen, Geh. Referendär Picot, über die allgemeinen Grundsätze, auf denen der Entwurf beruht, . . . verständigen, um vor der collegialischen Berathung derselben wo möglich eine Vereinbarung der beiderseitigen Rescipienten zu erzielen.“
Die beiliegende Fassung des Entwurfs ist von Picot22 unterzeichnet. Sie besteht aus 37 Paragraphen, umfasst fünf Teile und ist am linken Rand mit Gliederungshinweisen versehen. Dadurch wird der Aufbau des Gesetzes deutlich markiert. Diese Hinweise lauten: „1. Schriften 2. Geographische etc. etc. Zeichnungen 3. Kunstwerke und bildliche Darstellungen 4. Öffentliche Aufführung dramatischer und musikalischer Werke 5. Allgemeine Bestimmungen“.
Der erste Teil ist der umfangreichste und umfasst 19 Paragraphen, der zweite und der vierte Teil jeweils drei Paragraphen, der dritte und der fünfte Teil jeweils 4 Paragraphen. Allein der erste Teil („Schriften“) ist durch eine weitere Reihe von Hinweisen aufgeteilt, die freilich nicht konsequent durchgehalten werden. Es handelt sich um folgende Angaben: „a) Ausschließendes Vervielfältigungsrecht der Schriftsteller b) Abtretung desselben c) Verbot des Nachdrucks d) Was nicht als Nachdruck anzusehen e) ? (nicht angezeigt) f) Untersuchungsverfahren“.
22 Zu Philipp Picot (1792 – 1848) nähere Angaben bei: Baldes, Entstehung (Fn. 10), S. 232. Zu seiner Tätigkeit als badischer „Diener“: GLA 76 Nr. 5892 und 5893.
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Im vierten Teil ist noch ein weiterer Hinweis (nämlich: „Strafen und Untersuchungsverfahren“) vorhanden, der sich nicht ohne weiteres in die sonstige Gliederung einfügen lässt. Allerdings gehören die so hervorgehobenen Paragraphen ihrem Inhalt nach zu diesem vierten Teil, da sie einige Vorschriften des dritten Teils auch auf die Gegenstände des vierten Teils für anwendbar erklären. Die weiteren Schritte sind schnell beschrieben. Der vom Ministerium des Innern am 27. Juni 1840 ernannte Referent, der „Geheime Referendär“ Eichroth23 sollte den Entwurf „durchgehen“ und sich „nach dem Abschlusse des Landtags“ mit dem Referenten Picot „über die allgemeinen Grundsätzen, auf denen der Entwurf beruht, verständigen“. Für das Justizministerium wurde hinzugefügt, man habe dem „diesseitigen Rescipienten wegen vieler anderer Geschäfte nicht zumuten können, sich alsbald und noch vor dem Abschluß des Landtags mit fraglichem Gesetzentwurf zu beschäftigen“. Im Oktober stellte das Innenministerium fest, dass Eichroth mit anderen Geschäften „überhäuft“ war und gab den Auftrag an den Ministerialrat Brunner24 weiter. In dieser Arbeitsphase wurde die von Picot vorgelegte Fassung des Gesetzes mit Anmerkungen und Korrekturwünschen versehen. Am Ende lag eine neue Fassung des Gesetzestextes vor; sie wurde dem Innenminister von Brunner am 23. April 1841 als Ergebnis einer „kommissarischen Unterredung“ mit Picot präsentiert. Wenig früher, nämlich am 9. März 1841, hatte das Justizministerium die neue Fassung dem Außenministerium mitgeteilt. Unterzeichnet war diese Verfügung von Justizminister Jolly25 und dessen Berichterstatter Picot. Diese zweite Fassung des Gesetzentwurfs unterscheidet sich in einigen Elementen von der ersten Fassung Picots. Es fehlen zunächst die begleitenden Überschriften; einige Paragraphen sind verändert, andere sind hinzugefügt oder wenigstens in einer anderen Reihenfolge wiedergegeben. Sieht man von den wenigen zusätzlichen Paragraphen ab, so muss man festhalten, dass es sich letztlich um eher unwesentliche Veränderungen handelt. IV. Der Gesetzestext, der dem Schreiben vom 23. April 1841 beigelegt war, hat folgenden Wortlaut: „Leopold p.p. Um dem Eigenthum an den Werken der Literatur und Kunst den erforderlichen Schutz gegen Nachdruck und Nachbildung zu sichern, haben Wir mit Zustimmung Unserer getreuen Stände beschlossen und verordnen wie folgt: 23 Zu Ludwig Friedrich Eichroth, badischer „Diener“ 1818 – 1845: GLA Abt.76 Nr. 1922 und 1923. 24 Zu Carl Brunner, badischer „Diener“ seit 1826: GLA Abt. 76 Nr. 1152 und 1153. 25 Zu Isaak Jolly (1785 – 1852) Näheres bei: Baldes, Entstehung (Fn. 10), S. 21 f.; auch Wadle, Projekt (Anm. 7), S. 171.
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§.1. Der Verfasser einer herausgegebenen Schrift genießt zeitlebens das ausschließende Recht, dieselbe durch Wiederabdruck, Lithographie oder auf ähnlichem mechanischem Wege vervielfältigen zu lassen. §.2. Nach dem Tode des Verfassers besteht das ausschließende Recht der Vervielfältigung noch dreißig Jahre lang zum Vortheil der Erben und Erbfolger desselben. §.3. Bei Werken, die erst nach dem Tode des Verfasser herausgegeben werden, fängt die dreißigjährige Frist (§.2.) mit dem Erscheinen des Werks zu laufen an. §.4. Herausgeber von Werken, auf welchen der Verfasser nicht oder nicht mit seinem wahren Namen genannt ist, genießen das ausschließende Recht der Vervielfältigung dreißig Jahre lang, vom Erscheinen der ersten Auflage an gerechnet. Geben sich jedoch vor Ablauf der dreißigjährigen Frist der wahre Verfasser oder seine Erben auf dem Titelblatt oder unter der Zueignung der Vorrede zu erkennen, so treten sie in die in den §§. 1. und 2. bestimmten Rechte ein. §.5. Akademien, Universitäten, öffentliche Unterrichtsanstalten, gelehrte Gesellschaften und andere Vereine bewahren das ausschließende Recht zur neuen Herausgabe ihrer Werke dreißig Jahre lang, vom Erscheinen an; ebenso die Staats-Regierung hinsichtlich der auf ihre Anordnung erschienenen Werke, mit Ausnahme bekannt gemachter Gesetze, Verordnungen und sonstiger offizieller Acte. §.6. Die Zeit des Erscheinens (§§ 3. 4. u. 5.) wird a) bei Werken, die aus mehreren eine einzige Aufgabe zusammenhängend behandelnden Bänden bestehen, in sofern zwischen der Herausgabe einzelner dieser Bände nicht mehr als drei Jahre verfloßen sind, von der Herausgabe des letzten Bandes; b) bei Werken hingegen, welche fortlaufende Sammlungen von Aufsätzen und Abhandlungen bilden, von der Herausgabe eines jeden Bandes an gerechnet. §.7. Das ausschließende Vervielfältigungsrecht, welches Urheber und dessen Erbfolgern zusteht, kann von denselben ganz oder theilweise auf andere übertragen werden. §.8. Ist nicht ausdrücklich eine andere Übereinkunft getroffen, so beschränkt sich das Verlagsrecht auf eine einzige Auflage. §.9. Jede Vervielfältigung eines herausgegebenen Werks, wenn sie die in den §§ 1. bis 8. gewährten Rechte verletzt, wird als Nachdruck bestraft.
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§.10. Der Abdruck von Manuskripten, nachgeschriebenen Predigten und Vorlesungen, wenn er ohne Genehmigung des Urhebers, seiner Erben oder sonstigen Rechtsnachfolger geschieht, wird dem Nachdruck gleich geachtet. Ebenso wird es dem Nachdruck gleich geachtet, wenn in einem Verlagsvertrag bestimmt ist, wie viele Exemplare des betreffenden Werkes gedruckt werden sollen und gleichwohl mehr Exemplare als die bedungene Zahl derselben abgezogen sind. §.11. Als Nachdruck ist nicht anzusehen: a) das wörtliche Anführen einzelner Stellen eines bereits gedruckten Werks; b) die Aufnahme einzelner Aufsätze und Gedichte in kritische und literaturhistorische Werke und in Sammlungen zum Schulgebrauch; desgleichen c) in Journale und periodische Schriften aus anderen Journalen und periodischen Schriften, insofern deren Quelle angegeben wird und der Aufsatz oder das Gedicht nicht einen halben Druckbogen der ersten Veröffentlichung überschreitet; d) die Herausgabe von Uebersetzungen bereits gedruckter Werke. §.12. Wer sich des Nachdrucks oder unerlaubten Abdrucks schuldig macht (§§.9. und 10.), ist den Beeinträchtigungen vollständig zu entschädigen verpflichtet, und hat außer der Consfiscation der noch vorräthigen Exemplare eine Geldbuße von fünfzig bis tausend Gulden verwirkt. §.13. Vermag der Beeinträchtigte einen höheren Schaden nachzuweisen, so ist der Betrag der Entschädigung auf eine dem Verkaufswerth von fünfzig bis tausend Exemplare der rechtmäßigen Ausgabe gleichkommende Summe festzusetzen. Bei widerrechtlich vervielfältigten Manuskripten oder Nachschriften (§.10.) ist der Preis, welcher im Falle der Herausgabe für das einzelne Exemplar billigerweise hätte angesetzt werden können, der Entschädigungsberechnung zu Grund zu legen. §.14. Die confiscirten Exemplare der unrechtmäßigen Ausgabe sollen vernichtet oder dem Beeinträchtigten auf sein Verlangen überlassen werden. Im letzten Fall muß sich jedoch der Beeinträchtigte die von dem Verurtheilte auf dies Exemplare verwendeten Auslagen auf die Entschädigung anrechnen lassen. §.15. Wer widerrechtlich vervielfältigte Werke wissentlich zum Verkaufe hält, ist dem Beeinträchtigten, mit dem unbefugten Vervielfältiger solidarisch zur Entschädigung verpflichtet, und hat, außer der Consfication, eine nach Vorschrift des §.12. zu bestimmende Geldbuße verwirkt. Ob die Vervielfältigung im deutschen Bundesgebiet oder außerhalb desselben zu Stande kommen, soll keinen Unterschied machen.
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§.16. Das Vergehen des Nachdrucks, §§ 9. und 10., besteht unabhängig von der Frage, ob von dem Nachgedruckten bereits in den Handel gekommen und abgesetzt ist oder nicht. §.17. Die Untersuchung wegen Nachdrucks ist nur auf den Antrag der Verletzten einzuleiten. Will der Verleger der Schrift den Antrag nicht machen, so kann dieses vom Verfasser oder dessen Erben geschehen, insofern dieselben noch ein von dem Verleger unabhängiges Interesse haben. §.18. Ist die Untersuchung bereits eingeleitet, so kann die Zurücknahme des Antrags zwar in Beziehung auf die Entschädigung statt finden, nicht aber in Beziehung auf die Confiscation und Geldbuße. §.19. Scheint es zweifelhaft, ob eine Druckschrift als Nachdruck oder unerlaubter Abdruck zu betrachten, und wird der Betrag der Entschädigung bestritten, so hat der Richter Sachverständige zu Rathe zu ziehen. §.20. Was in den §§. 1. bis 8. und 12. bis 17. über das ausschließende Recht zu Vervielfältigung von Schriften verordnet ist, findet auch Anwendung auf geographische, topographische, hydrographische, naturwissenschaftliche, architektonische und ähnliche Zeichnungen und Abbildungen, welche nach ihrem Hauptzwecke nicht als Kunstwerke (§. 23.) zu betrachten sind. §.21. Dieselben Vorschriften gelten hinsichtlich der ausschließenden Befugniß zu Vervielfältigung musikalischer Compositionen. §.22. Einem verbotenen Nachdruck ist gleich zu achten, wenn Jemand von musikalischen Compositionen, Auszüge, Arrangements für einzelne Instrumente oder sonstige Bearbeitungen, die nicht als eigenthümliche Compositionen betrachtet werden können, ohne Genehmigung des Verfassers herausgibt. §.23. Zeichnungen oder Gemälde dürfen während eines Zeitraums von zehn Jahren, von ihrer Vollendung an, ohne Genehmigung des Urhebers des Originalkunstwerks, seiner Erben oder seiner sonstigen Rechtsnachfolger, durch Nachstich, Holzschnitt, Lithographie, Farbendruck, Uebertragung u.s.w. nicht vervielfältigt werden. §.24. In derselben Weise ist die Vervielfältigung von Sculpturen aller Art durch Abgüsse, Abformungen u.s.w. verboten. §.25. Hinsichtlich dieser Verbote (§§. 23. und 24.) macht es keinen Unterschied, ob die Nachbildung in einer anderen Größe, als das nachgebildete Werk, oder auch mit anderen Ab-
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weichungen von demselben vorgenommen worden ist; es seien denn diese Veränderungen so überwiegend, daß die Arbeit nicht als eine bloße Nachbildung, sondern als ein eigenthümliches Kunstwerk betrachtet werden könne. §.26. Als eine verbotene Nachbildung ist es nicht zu betrachten, wenn ein Kunstwerk, das durch die Malerei oder eine der zeichnenden Künste hervorgebracht worden ist, mittelst der plastischen Kunst, oder umgekehrt, dargestellt wird. §.27. Die Benutzung von Kunstwerken als Muster zu den Erzeugnissen der Manufakturen, Fabriken und Handwerke ist erlaubt. §.28. Begeben sich der Urheber, seine Erben oder sonstige Rechtsnachfolger des Eigenthums des Kunstwerks, ohne sich das ausschließliche Vervielfältigungsrecht (§§. 23. und 24.) ausdrücklich vorzubehalten, so geht dasselbe auf den Erwerber über. §.29. Die Vorschriften der §§. 12. bis 19. sollen auch in Beziehung auf Kunstwerke und bildliche Darstellungen aller Art in Anwendung kommen; die in §.12. vorgeschriebene Confiscation ist auch auf die zur Nachbildung gemachten Vorrichtungen, als Platten, Formen, Steine u.s.w. auszudehnen. §.30. Der Richter hat, wenn Zweifel entsteht, ob eine Abbildung unter die Fälle des §.20. oder unter die des §.23. gehören, ob im Falle des §.22. ein Musikstück als eigenthümliche Composition oder als Nachdruck, in den Fällen der §§.23. bis 28. eine Nachbildung als unerlaubt zu betrachten, oder wie hoch der Betrag der dem Verletzten zustehenden Entschädigung zu bestimmen sei u.s.w., in gleicher Weise wie in §.19. verordnet ist, Gutachten von Sachverständigen einzuholen. §.31. Die öffentliche Aufführung eines dramatischen oder musikalischen Werks im Ganzen oder mit unwesentlichen Abkürzungen darf nur mit Erlaubnis des Verfassers, seiner Erben oder sonstigen Rechtsnachfolger stattfinden, solange das Werk nicht durch Druck veröffentlicht worden ist. Das ausschließende Recht diese Erlaubnis zu ertheilen, steht dem Verfasser lebenslänglich und seinen Erben oder Rechtsnachfolgern noch zehn Jahr nach seinem Tode zu. §.32. Hat der Verfasser jedoch irgend einer Bühne gestattet, das Werk ohne Nennung seines Namens aufzuführen, so findet auch gegen andere Bühnen kein ausschließliches Recht statt. §.33. Wer dem ausschließenden Rechte des Verfassers oder seiner Rechtsnachfolger zuwider, ein noch nicht durch den Druck veröffentlichtes dramatisches oder musikalisches Werk öffentlich aufführt, hat eine Geldbuße von zehn bis hundert Gulden verwirkt.
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Findet die unbefugte Aufführung eines dramatischen Werkes auf einer stehenden Bühne statt, so ist der ganze Betrag der Einnahme von jeder Aufführung, ohne Abzug der auf dieselbe verwendeten Kosten und ohne Unterschied, ob das Stück allein, oder verbunden mit einem anderen, den Gegenstand der Aufführung gemacht hat, zu Strafe zu entrichten. Von den vorstehenden Geldbußen fallen zwei Drittheile dem Verfasser oder seinen Erben und ein Drittheil der Armenkasse des Orts zu. §.34. Die Rechte, welche den Gegenstand dieses Gesetzes ausmachen, können nie im Wege der Erbschaft (L.R.S. 33. und 768.) an den Fiskus fallen. §.35. Ist durch Heirathsvertrag keine andere Bestimmung getroffen, so wird der Ertrag, welchen das ausschließliche Vervielfältigungsrecht des einen oder des anderen Ehegatten abgeworfen hat und, im Fall die Ehe durch den Tod desselben aufgelöst ist, das Recht selbst als Gemeinschaftsgut behandelt. §.36. Das ausschließende Vervielfältigungsrecht ist, solange der Urheber eines literarischen oder artistischen Erzeugnisses lebt und sich im Besitze desselben befindet, dem gerichtlichen Zugriff nicht unterworfen. §.37. Die Verordnung vom 8. September 1806, Regierungsblatt Nr. 20 Seite 63. und die Landrechts-Sätze 577 d.a. bis d. h. sind aufgehoben. §.38. Den in fremden Staaten erschienenen Erzeugnissen der Literatur und Kunst soll der Schutz des gegenwärtigen Gesetzes in demselben Maaße gewährt werden, als die Gesetze jener Staaten gleichen Schutz den in Baden erschienenen Werken gewähren. §.39. Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tag der Verkündung auch in Ansehung aller bereits herausgegebenen Werke der Wissenschaft und Kunst in Wirksamkeit. Den Inhabern früher ertheilter Privilegien ist jedoch freigestellt, entweder von diesen Privilegien Gebrauch zu machen, oder den Schutz des gegenwärtigen Gesetzes anzurufen. Das Ministerium der Justiz ist mit dem Vollzuge beauftragt. Gegeben Carlsruhe“
Die Frage nach dem Vorbild des neuen Entwurfs wird bereits durch das Schreiben des Justizministeriums vom 9. März 1841 eindeutig beantwortet. Hier heißt es: „Überzeugt, wie wünschenswerth es sei, daß auch in dem, was Gesetzgebungen der einzelnen Staaten zur Ausführung des Bundesbeschlusses verordnen, möglichste Übereinstimmung herrsche, glaubten wir und bei Bearbeitung des Entwurfs dem Königlich Preußischen Gesetz über den Nachdruck vom 11. Juni 1837 um so mehr anschließen zu müssen, je mehr wir dasselbe in vieler Beziehung als ein sehr gelungenes betrachten.“
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Vergleicht man die beiden Texte – den badischen Entwurf einerseits und das preußische Gesetz26 andererseits – so ergeben sich eine ganze Reihe von Abweichungen; gleichwohl ist unverkennbar, dass sich der badische Entwurf weitgehend an das Vorbild anlehnt, indem er einige Passagen und sogar ganze Paragraphen übernimmt. Zunächst ist festzuhalten, dass der Umfang der beiden Texte nahezu identisch ist. Das preußische Gesetz umfaßt 38 Paragraphen, die erste vorgelegte Fassung des badischen Entwurfs, also jene von Picot, weist 37, die Endfassung des Entwurfs 39 Paragraphen auf. Auch die Gliederung folgt dem preußischen Gesetz. Dieser Rückgriff auf das Vorbild ist besonders leicht zu erkennen in der ersten Fassung, die Picot alleine formuliert hat: sie übernimmt im wesentlichen die Überschriften der preußischen Vorlage. Das preußische Gesetz enthält zwar einen Gliederungspunkt mehr, nämlich den Abschnitt 3 mit dem Titel „Musikalische Composition“. Der Unterschied ist indes nicht groß, wenn man berücksichtigt, dass der badische Entwurf den Nachdruck von Musikwerken zum Abschnitt “ Zeichnungen“ rechnete, da es ja letztlich um die Vervielfältigung von Notenblättern ging. Die Tatsache, dass die endgültige Fassung die Überschriften nicht übernommen hat, hat die Gliederung selbst nicht verändert. Schaut man genauer auf den Inhalt der beiden Texte, so ergibt sich, dass die allermeisten Paragraphen mehr oder weniger dem preußischen Vorbild folgen. Eine erste Gruppe übernimmt den Text wortwörtlich; dies gilt etwa für die §§ 7, 14, 15, 17, 21, 22, 24 bis 27 und 30 bis 33. Besonders auffällig ist § 27 des badischen Entwurfs: Er stimmt wörtlich mit dem später hart umkämpften § 25 des preußischen Gesetzes27 überein: „Die Benutzung von Kunstwerken als Muster zu den Erzeugnissen der Manufakturen, Fabriken und Handwerke ist erlaubt.“
Eine zweite Gruppe folgt dem preußischen Reglement nur teilweise beziehungsweise mit Modifikationen. Dies gilt für die §§ 5, 7, 11 bis 13, 19, 20, 23, 28, 29, 38 und 39. Die dritte Gruppe ist die kleinste: ihr kann man jene Paragraphen zuordnen, die im preußischen Gesetz nicht vorkommen können, weil es sich um spezifisch badische Probleme handelt. Besonders markant sind jene Bestimmungen, die sich auf das badische Erb- oder Ehegüterrecht (§§ 34, 35)28 oder auf den „gerichtlichen Zugriff“ (§ 36) auf das Urheberrecht beziehen. Schletter, Handbuch (Anm. 4) S. 18 ff. Dazu: Elmar Wadle, Der Streit um die „Kunstindustrie“, in: ders., Geistiges Eigentum I Weinheim / München 1996, S. 542 – 561, hier: bes. S. 545 ff. 28 Dazu: Fritz Sturm, Le Code civil du Grand-Duché de Bade, in: Festschrift Wadle (Fn. 1) S. 1147 – 1161, hier: S. 1155 f. 26 27
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V. Zum weiteren Schicksal des badischen Entwurfs enthalten die durchgesehenen Akten nur wenige Hinweise. Schon während der Schlussredaktion mag der Entwurf eingesetzt worden sein, um die badische Bereitschaft zu dokumentieren, den Nachdruckschutz auf Bundesebene im Sinne der preußischen (und badischen) Forderungen fortzuentwickeln. Der Bundesbeschluss „Den Schutz musikalischer und dramatischer Werke gegen unbefugte Aufführung und Darstellung betreffend“ wurde am 22. April 1841 gefasst,29 mithin kurz nach der Fertigstellung des neuen Gesetzentwurfes. Die badische Regierung hat diesen Beschluss danach am 3. Juni verkündet 30. Bei diesen Aktivitäten könnte auch der damals schon vorhandene Entwurf wie eine Art Zielmarke gewirkt haben. Deutlicher ist die Verwendung des badischen Gesetzentwurfs im Zusammenhang mit dem Bundesbeschluss vom 19. Juni 1845 („Allgemeine Grundsätze in Betreff des Schutzes von Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und unbefugte Nachbildung . . . betr.“)31, der im wesentlichen die Verlängerung der Schutzfristen vorsah. Der interne Gedankenaustausch zwischen den Karlsruher Ministerien wurde durch den Bundestagsgesandten ausgelöst. In seinem Bericht vom 30. Juni 1842 bewertete er die neuerliche Initiative Preußens sehr positiv: „Die Bemerkungen der königl. Preußischen Regierung scheinen mir aller Beachtung werth.“
Das Innenministerium regte am 1. August das Justizministerium an, sich nochmals über „die bei der Berathung eines Gesetz-Entwurfs über den Nachdruck dortigen Wahrnehmungen und Bedenken hinsichtlich des Bundesbeschlusses vom 9. Nov. 1837“ zu äußern. Das Justizministerium bekräftigte in seiner Antwort vom 12. August an den Außenminister, man solle den preußischen Vorstellungen „im Allgemeinen“ beitreten; zugleich schlug es vor, die Bestimmungen des preußischen Gesetzes zu unterstützen. Gleichzeitig bemerkte man gegenüber dem Innenministerium, „daß die Berathung des diesseitigen Gesetzentwurfs über den Nachdruck wegen der bei der Bundesversammlung anhängigen Verhandlungen über den gleichen Gegenstand bisher ausgesetzt worden“ sei. Das Außenministerium reichte den badischen Gesetzentwurf im Dezember 1842 an den Vertreter im Bundestag weiter; er sollte an das zuständige Gremium weitergeleitet werden. Baden unterstützte auf diese Weise die Verhandlungen in der Bundesversammlung. Mit dem Ergebnis war man in Karlsruhe offenbar zufrieden. 29 30 31
Prot. BV 1841 (§ 131) S. 234 ff.; Schletter, Handbuch (Fn. 4) S. 6. Badisches Staats- und Regierungsblatt 1841 S. 162. Prot. BV 1845 (§ 228) S. 538 f.; Schletter, Handbuch (Fn. 4) S. 7 f.
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Wie der Bundesbeschluss von 1841 wurde auch der neue Beschluss von 1845 in Baden durch Verkündung im Staats- und Regierungsblatt in Kraft gesetzt.32 Danach hat man in Karlsruhe offenbar auf den eigenen Gesetzentwurf nicht mehr zurückgegriffen. Infolgedessen blieben die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung von 1806 und des Badischen Landrechts in Kraft; eine formelle Aufhebung, wie sie § 37 des Entwurfs vorsah, war überflüssig geworden. Angesichts dieser Entwicklung erscheint es sinnvoll zu fragen, ob und welche Bedeutung dem vorgestellten badischen Gesetzentwurf von 1840 / 41 zugeschrieben werden kann. Zunächst ist festzuhalten, dass der Schutz gegen den Nachdruck im Gesetzentwurf viel weiter reicht als die Bestimmungen des noch immer geltenden Badischen Landrechts von 1809 / 10. Die einschlägigen Sätze der zu Recht vielgerühmten Kodifikation hatten enge Grenzen, da sie sich lediglich auf „Schriften“ beziehen. Diese Einschränkung konnte zwar mit Hilfe der noch älteren Verordnung von 1806 und der in beiden Texten angesprochenen Möglichkeit der Vergabe von Privilegien durchbrochen werden. Allerdings erfasste diese Aushilfe nur den jeweiligen Einzelfall. Ein allgemeines Gesetz, das jedem Werk nach generell geltenden Bedingungen Schutz gewährte, fehlte. Wer einen Schutz außerhalb des Bereichs der „Schriften“ anstrebte, blieb auf ein Privileg angewiesen. Hier setzte schon der eingangs erwähnte Gesetzentwurf von 1828 an. Im zweiten Reformversuch von 1840 / 41, sollte der gesetzliche Schutz gegen den Nachdruck auf jedes bedrohte Werk, das den Schutz verdiente, generell eingeführt werden. Man wollte ein Regelwerk, das den Bundesbeschlüssen der 30er Jahre entsprach; insbesondere sollten die Erweiterungen, die im Bundesbeschluss vom November 1837 enthalten waren, ins badische Recht in der Form eines allgemeinen Gesetzes eingebaut werden. Dieses Ziel verfolgte schon die Picot’sche Fassung des Gesetzentwurfs. Allerdings enthielt das neue Projekt auch Regeln, die noch gar nicht durch die Bundesversammlung verabschiedet waren. Der Beschluss zum Schutz musikalischer Kompositionen und dramatischer Werke gegen unbefugte Aufführung und Darstellung kam erst im April 1841 zustande und der Beschluss über die Mindestdauer der Schutzfrist, nämlich dreißig Jahre nach dem Tod des Autors, erging erst im Juni 1845. Baden hatte, wie der Gesetzentwurf zeigt, diese Ziele schon 1840 / 41 avisiert; später hat man sie aufgegeben. Noch ein zweiter Aspekt soll hervorgehoben werden. Der badische Gesetzentwurf war ohne Zweifel ein Mittel zur Unterstützung des Berliner Bestrebens, den Schutz gegen den Nachdruck im ganzen Bundesgebiet nach preußischem Vorbild zu erweitern und zu vereinheitlichen. Angesichts solcher Zusammenhänge stellt sich schließlich die Frage, warum Baden dem eigenen Entwurf die Geltung in der Form eines Landesgesetzes versagt hat. 32
Badisches Staats- und Regierungsblatt 1845, S. 202.
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Einen ersten Anhaltpunkt bietet die Tatsache, dass das Bundesrecht die badischen Landesgesetze überlagert und ergänzt hat. Soweit in den Bundesbeschlüssen zentrale Grundsätze des zweiten badischen Entwurfs zum Nachdruckschutz erfasst und diese durch die Verkündung zum Bestandteil des in Baden geltenden Bundesrechts geworden waren, brauchte man die Zusammenfassung aller einschlägigen Rechtsnormen in einem eigenen Landesgesetz gar nicht mehr: Überkommenes badisches Recht wurde durch Bundesrecht verbessert und ergänzt, so dass ein eigenes neues Gesetz nicht notwendig war. Nur für eine gewisse Zeitspanne – nämlich bis zur Publikation der Bundesbeschlüsse von 1841 und 1845 im badischen Gesetzblatt – wäre ein eigenes Gesetz erforderlich gewesen. Danach waren das Recht zur Aufführung und Darstellung von Kompositionen und dramatischen Werken sowie die dreißigjährige Frist nach dem Tod überall in Deutschland garantiert, auch in Baden. Für längere Schutzfristen oder andere Ausnahmen von den Regeln der Jahre 1806 und 1809 / 10 konnte man weiterhin auf Privilegien zurückgreifen. Durch die Verkündung der Bundesbeschlüsse im Gesetzblatt waren jedenfalls die beiden wichtigsten in die Zukunft reichenden Reformideen des badischen Gesetzentwurfs hinreichend abgesichert. Man kann nun darüber nachdenken, warum Baden auf jene Rechtsnormen verzichtet hat, die dem preußischen Gesetz entnommen waren, die aber nicht in die Bundesbeschlüsse eingegangen sind. Man denke zum Beispiel an den oben zitierten § 27, wonach ein Kunstwerk als Modell für industrielle Produkte verwendet werden durfte. Eine klare Antwort auf diese Frage ist noch nicht möglich. Bislang wurde noch kein Dokument entdeckt, das eine genaue Antwort erlauben würde. Gleichwohl kann man einige Vermutungen anstellen. Zum einen ist festzuhalten, dass die badische Regierung trotz aller Reformbereitschaft nicht aus dem Kreis der übrigen Bundesstaaten heraustreten wollte, die das preußische Vorbild nicht vollständig übernehmen konnten oder wollten.33 Zum anderen erscheint es nicht abwegig, noch an einen ganz anderen Grund zu denken: Jedes Landesgesetz musste von den Landständen mitbeschlossen werden. Die Risiken auf dem Weg der Landesgesetzgebung waren wesentlich höher als der bloße Rückgriff auf die Beschlüsse der Bundesversammlung, deren Umsetzung durch den Rückgriff auf Art. 18 d der deutschen Bundesakte begründet werden konnte. Gegen diesen Weg der Reform konnte der eigene Landtag keine Hindernisse aufbauen. Dieser Aspekt ist zwar nicht durch entsprechende Dokumente zu belegen. Die Haltung der maßgeblichen badischen Politiker weist freilich in diese Richtung. Ins33 Einen Überblick über die Forschung bietet: Thomas Gergen, Zum Urheberrecht Hannovers im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 125. Band (2008), S. 181 – 198, hier: S. 182 f.
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besondere von Blittersdorff, der in diesen Monaten das innenpolitische Geschehen in Baden stark geprägt hat, dürfte die Mitwirkung des von liberalen Abgeordneten beherrschten Landtages nicht geschätzt haben.34 Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass er den Weg der Landesgesetzgebung möglichst zu vermeiden suchte. Im Ergebnis wird man festhalten können, dass der zweite Entwurf zur Reform des Landrechts für die Bereitschaft Badens steht, den Schutz gegen Nachdruck auf Bundesebene im Sinne der preußischen Forderungen zu erweitern. Karlsruhe bestand freilich darauf, daß möglichst alle Staaten im Deutschen Bund mit diesem Ziel einverstanden waren. Auf ein eigenes Gesetz, das weiter vorpreschte als die Gesetzgebung vieler anderer Bundesstaaten, hat das Großherzogtum verzichtet.
34 Dazu: Hippel, Blittersdorff (Fn. 10), bes. S. 98 ff. und 112 ff.; Frank Engehausen, Kleine Geschichte des Großherzugtums Baden 1806 – 1918, Karlsruhe 2005, S. 74 ff.
Die Sorge um den rechten Text des Gesetzes Das Beispiel von § 120 Abs. 2 GWB Von Maximilian Herberger / Stephan Weth I. Vorbemerkung Die Sorge um den rechten Text des Gesetzes treibt die deutsche Rechtspraxis und Rechtswissenschaft nicht gerade um. In aller Regel greift man bei der Suche nach dem anwendbaren Gesetzestext auf irgendeine Gesetzessammlung – sei es gedruckt, sei es in Datenbanken, sei es im Internet – zurück in der Annahme, der jeweils geltende Gesetzestext werde sich überall in derselben Gestalt präsentieren. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass wir dem Zitat eines Gesetzestextes keine Fußnote über die relevante Fundstelle beifügen. Das hier zu behandelnde Beispiel zeigt, dass diese verbreitete Haltung methodisch nicht zu rechtfertigen und praktisch gefährlich ist. Deshalb müssen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis überprüfen, ob sie so weiterverfahren können, wie dies bisher gängige Praxis ist. Dieses vorausgeschickt präsentiert sich unser Beweisstück wie folgt.
II. Der geltende Text des § 120 Abs. 2 GWB Im Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird in den §§ 97 bis 129 b die Vergabe öffentlicher Aufträge geregelt. Der Zweite Abschnitt dort befasst sich in den §§ 102 bis 129 b mit dem Nachprüfungsverfahren. Darin kommt § 120 Abs. 2 die Bedeutung zu, diejenigen Verfahrensvorschriften zu benennen, die im Verfahren der sofortigen Beschwerde nach §§ 116 ff. entsprechend Anwendung finden. § 71a GWB gibt das Recht der Rüge für den Fall der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Diese Norm steht im Dritten Teil des GWB, der das Verfahren in Kartellsachen festlegt. Daraus folgt, dass § 71a GWB direkt im Nachprüfungsverfahren keine Anwendung findet. Ob man in diesem Verfahren die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs erheben kann (und demgemäß als Anwalt bei Vorliegen einer entsprechenden Situation auch erheben muss) hängt also davon ab, ob § 71a GWB in § 120 Abs. 2 GWB für entsprechend anwendbar erklärt wird.
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In dieser Situation ist der Gesetzestext zu konsultieren. „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“, pflegt die juristische Zunft etwas salopp zu sagen. In vielen Fällen ist – sieht man es realistisch – der „Blick ins Gesetz“ ein Blick in „den“ Schönfelder. Dort findet sich in der aktuellen Ausgabe folgende Version von § 120 Abs. 2 GWB: „Die §§ 69, 70 Abs. 1 bis 3, § 71 Abs. 1 und 6, §§ 72, 73 mit Ausnahme der Verweisung auf § 227 Abs. 3 der Zivilprozessordnung, die §§ 78, 111 und 113 Abs. 2 Satz 1 finden entsprechende Anwendung.“1
Damit scheint die Antwort klar zu sein: § 71a GWB wird – nach Schönfelder – in § 120 Abs. 2 GWB nicht für entsprechend anwendbar erklärt. Es sieht also so aus, als gäbe es die Rüge für den Fall der Verletzung des rechtlichen Gehörs im Verfahren der sofortigen Beschwerde nicht. Allerdings ist das Gegenteil wahr: § 120 Abs. 2 GWB erklärt § 71a GWB für entsprechend anwendbar. Der heute seit dem 1. Januar 20052 geltende Text von § 120 Abs. 2 GWB lautet: „Die §§ 69, 70 Abs. 1 bis 3, § 71 Abs. 1 und 6, §§ 71a, 72, 73 mit Ausnahme der Verweisung auf § 227 Abs. 3 der Zivilprozessordnung, die §§ 78, 111 und 113 Abs. 2 Satz 1 finden entsprechende Anwendung.“
Dieser Gesetzeswortlaut ist das Ergebnis einer methodisch korrekten Konsolidierung.
III. Die Konsolidierung von § 120 Abs. 2 GWB Wie kann man nun den Beweis führen, dass der eben angeführte Text mit der Erwähnung von § 71 a GWB richtig ist und nicht der im Schönfelder veröffentlichte Text ohne die Erwähnung von § 71 a GWB? Die Antwort lautet schlicht und einfach: Aus dem Bundesgesetzblatt, der einzigen amtlichen Quelle für den geltenden Gesetzestext. Dort stellt sich die Versionsgeschichte von § 120 Abs. 2 GWB wie folgt dar. Der Ausgangspunkt für die Konsolidierung findet sich 1998 im Bundesgesetzblatt.3 Dort wird das „Gesetz zur Änderung der Rechtsgrundlagen für die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergaberechtsänderungsgesetz – VgRÄG)“ verkündet.4 1 Stand: 28. September 2009 (142. Ergänzungslieferung). Was die (fehlerhafte) Nichterwähnung von § 71 a GWB angeht, folgt die dtv-Ausgabe dem Schönfelder (Wettbewerbsrecht, Markenrecht und Kartellrecht, 29. neubearbeitete Auflage, Stand 1. Januar 2009, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 312). 2 Vgl. Art. 22 des „Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz)“, BGBl. I 2004, S. 3230. 3 BGBl. I 1998, S. 2509 – 2580. 4 BGBl. I 1998, S. 2512 ff.
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Der im vorliegenden Kontext einschlägige § 130 hat in seinen Absätzen 1 und 2 folgenden Wortlaut: „(1) Vor dem Beschwerdegericht müssen sich die Beteiligten durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen. (2) Die §§ 68, 69, 70 Abs. 1 und 6, §§ 71, 72 mit Ausnahme der Verweisung auf § 227 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung, die §§ 121 und 123 Abs. 2 Satz 1 finden entsprechende Anwendung.“
Zum Verständnis des weiteren Fortgangs muss man nun noch einen Blick auf das „Sechste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“5 werfen. Einschlägig für die Konsolidierung sind dort Art. 1 § 68 und Art. 3. „§ 68 Anwaltszwang Vor dem Beschwerdegericht müssen die Beteiligten sich durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigte vertreten lassen. Die Kartellbehörde kann sich durch ein Mitglied der Behörde vertreten lassen.“6 „Art. 3 Neufassung des Gesetzes Das Bundesministerium für Wirtschaft kann den Wortlaut des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an geltenden Fassung im Bundesgesetzblatt neubekanntmachen. Dabei sind der durch das Vergaberechtsänderungsgesetz eingefügte Sechste Teil (§§ 106 bis 138) als Vierter Teil umzunumerieren und die Paragraphennumerierungen entsprechend anzupassen. Der bisherige Vierte und Fünfte Teil werden Fünfter und Sechster Teil. Die im neuen Vierten Teil enthaltenen Verweisungen auf Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen werden nach der Umnumerierung auf die Vorschriften umgestellt, die nach ihrem Wortlaut den gemeinten Vorschriften entsprechen.“7
Man erkennt auf Grund dieser Anweisung, wie durch Umnummerierung aus § 130 der § 120 zu werden hatte. Und der Verweis auf § 68 in Abs. 2 erweist sich deswegen als gegenstandslos, weil in Abs. 1 bereits eine den Anwaltszwang betreffende bereichsspezifische Regelung enthalten ist. Somit lautet § 120 GWB als Ergebnis dieser gesetzgeberischen Bestimmungen mit Wirkung vom 1. Januar 1999 wie folgt: „§ 120 Verfahrensvorschriften (1) Vor dem Beschwerdegericht müssen sich die Beteiligten durch einen bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristi5 6 7
BGBl. I 1998, S. 2521 – 2545. BGBl. I 1998, S. 2537. BGBl. I 1998, S. 2545.
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sche Personen des öffentlichen Rechts können sich durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen. (2) Die §§ 69, 70 Abs. 1 bis 3, § 71 Abs. 1 und 6, §§ 72, 73 mit Ausnahme der Verweisung auf § 227 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung, die §§ 111 und 113 Abs. 2 Satz 1 finden entsprechende Anwendung.“8
Die für das hier behandelte Thema entscheidende Änderung bringt das „Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz)“ vom 9. Dezember 2004.9 Dort heißt es: „In § 120 Abs. 2 wird die Angabe „§§ 72, 73“ durch die Angabe „§§ 71 a, 72, 73“ ersetzt.“10
Damit ist § 71a mit Wirkung vom 1. Januar 200511 in § 120 Abs. 2 GWB „angekommen“: Es gibt jetzt die Anhörungsrüge im Verfahren der sofortigen Beschwerde nach §§ 116 ff. GWB.
IV. Der Störfaktor: Eine fehlerhafte Neubekanntmachung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Der geltende Gesetzestext „gilt“ (wahrnehmungsmäßig) aber natürlich nur, wenn die juristische Öffentlichkeit über den richtigen Text verfügt und diese neue Rechtslage wahrnimmt. Dieser Wahrnehmung der korrekten Rechtslage stand jedoch ein fehlerhafter Text im Wege, der auf einer fehlerhaften Neubekanntmachung des Gesetzes durch den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit beruhte. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt in seinem Kammerbeschluss vom 26. 2. 2008 diesen Fehler (und seine Konsequenzen) wie folgt: „Allerdings veröffentlichte der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit im Bundesgesetzblatt Teil I vom 20. Juli 2005, S. 2114 ff., eine „Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“. Ausweislich ihrer Präambel, dort Nr. 14, berücksichtigt diese Neubekanntmachung auch das Anhörungsrügengesetz. Jedoch fehlt in § 120 Abs. 2 dieser Neubekanntmachung die Verweisung auf § 71a GWB. Dieser Fehler hatte zur Folge, dass in den verbreiteten Gesetzestexten und auch in der Kommentarliteratur die Verweisung des § 120 GWB auf die Vorschrift über die Anhörungsrüge nicht enthalten ist.“12
So auch bekanntgemacht BGBl. I 1998, S. 2573. BGBl. I 2004, S. 3220. 10 BGBl. I 2004, S. 3230. 11 Vgl. Fn. 2. 12 BVerfG, 1 BvR 2327 / 07 vom 26. 2. 2008, Absatz-Nr. 6 (http: //www.bundesverfassungs gericht.de/entscheidungen/rk20080226_1bvr232707.html #abs6). 8 9
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Seit diesem Beschluss musste man – spätestens – diesen Fehler kennen. Die Mehrzahl der Gesetzestextveröffentlicher hat aber die nötigen Konsequenzen nicht gezogen und weiter den fehlerhaften Text verbreitet. Daher rührt also der eingangs zitierte Fehler im Schönfelder – und nicht nur dort. Er fand sich im relevanten Zeitraum auch in der Sammlung „Nomos Gesetze – Zivilrecht Wirtschaftsrecht“13 und in der dtv-Ausgabe „Wettbewerbsrecht“.14 Gleichfalls anzutreffen war der Fehler in der Bundesrechtsdatenbank bei juris und bei „Gesetze im Internet“.15 Behoben wurde der Fehler in der Neubekanntmachung erst mit der „Berichtigung der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ vom 4. Dezember 200916, also erst mehr als anderthalb Jahre (!) nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2008, der den Fehler offenkundig gemacht hatte. Seitdem propagiert sich in den sekundären abgeleiteten Gesetzestexten die korrekte Version von § 120 Abs. 2 GWB. Im Schönfelder ist sie aber bis heute17 nicht angekommen. V. Der Fehler in der Kommentarliteratur und die Konsequenzen 1. Die Kommentierung von Stockmann Es ist so, wie das Bundesverfassungsgericht es konstatiert: In den verbreiteten „Gesetzestexten“ und auch in der Kommentarliteratur überdauert die durch die irrige Neubekanntmachung hervorgerufene Fehleinschätzung. Ein Beispiel findet sich in der Kommentierung von Stockmann zu § 120 GWB: „Eine der Bestimmungen des Beschwerdeverfahrens im allgemeinen Kartellrecht, auf die § 120 Abs. 2 nicht verweist, ist § 71a, der durch Art. 20 des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 dem GWB eingefügt wurde. . . . Die Begründung zu Art. 20 Nr. 2 Anhörungsrügengesetz weist darauf hin, dass es sich bei dem neuen § 71a GWB um eine Parallelregelung zu dem weitgehend wortgleichen neuen § 152a VwGO handele, der seinerseits wiederum, soweit nicht die Besonderheiten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens Abweichungen erforderlich machten, eng an den durch das Zivilprozessreformgesetz mit Wirkung zum 1. Januar 2002 eingeführten § 321a ZPO angelehnt sei. . . . Bei der Übernahme der Rechtschutzregel in das GWB wäre auch, um den Rechtsschutzanforderungen des BVerfG zu entsprechen, eine ausdrückliche Ver13 Nomos Gesetze Zivilrecht Wirtschaftsrecht, 18. Aufl., Stand: 1. September 2009, Baden-Baden 2009, S. 1069. 14 Vgl. oben in Fn. 1. 15 Beide abgerufen am 11. 11. 2009. 16 BGBl. I 2009, S. 3850. 17 19. 2. 2010.
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weisung auf § 71a in § 120 Abs. 2 angebracht gewesen. Dass diese unterblieben ist, beruht offensichtlich auf einem gesetzgeberischen Versehen. Bis zu dessen Korrektur ist diese unbeabsichtigte Gesetzeslücke durch eine analoge Anwendung dieser Norm zu füllen.“18
Diese Kommentierung beruht insgesamt auf der irrigen Annahme, dass § 71a GWB in § 120 Abs. 2 GWB nicht in Bezug genommen sei. Da das Gegenteil – wie gezeigt – wahr ist, sind die gesamten Ausführungen im strengen Sinne gegenstandslos, und der Gesetzgeber muss sich in diesem Fall nicht wegen eines Versehens schelten lassen. Nichtsdestotrotz bringen diese Ausführungen den Anwalt, der dem Prinzip des sicheren Weges folgen will, in Schwierigkeiten. Er müsste zunächst in Befolgung des Ratschlags des Kommentators, die Anhörungsrüge beim OLG erheben. Gleichzeitig müsste er – für den Fall, dass das OLG auf der Grundlage der im Kommentar angenommenen Gesetzeslage der Kommentarmeinung nicht folgt und eine analogiegestützte Anhörungsrüge nicht für statthaft hält – vorsorglich fristgerecht Verfassungsbeschwerde erheben. Es entstünde jedenfalls unnützer Aufwand. 2. Die Kommentierung von Storr Sofern ein Kommentar den fehlerhaften Text von § 120 Abs. 2 GWB ohne Erwähnung von § 71 a GWB enthält und Lösungsvorschläge für eine dennoch mögliche Anhörungsrüge macht (so das Beispiel von eben), besteht trotz praktischer Unzuträglichkeiten eine echte Gefahr nicht. Anders liegt es dann, wenn eine Kommentierung den fehlerhaften Text enthält und zur Thematik der Anhörungsrüge keine expliziten Ausführungen macht, sondern sich auf allgemeinere Erwägungen beschränkt. Denn dann muss man bei Benutzung dieser Kommentierung in der Breite der angedeuteten Möglichkeiten erst auf den Gedanken kommen, auch die Anhörungsrüge in Erwägung zu ziehen. Eine solche Konstellation gibt es ebenfalls, und zwar im GWB-Kommentar von Loewenheim / Meessen / Riesenkampff. Dort führt Storr aus: „Die aufzählende Verweisung des § 120 Abs. 2 auf §§ 69, 70 Abs. 1 bis 3, § 71 Abs. 1 und 6, §§ 72, 73 (mit Ausnahme § 227 Abs. 3 ZPO) und die §§ 111 und 113 Abs. 2 S. 1 ist missglückt. Generell führen Verweisungen und Weiterverweisungen zu einer Unübersichtlichkeit des geltenden Rechtsrahmens. Außerdem ist einer enumerativen Aufzählung die Gefahr immanent, nicht alle Fälle geregelt zu haben. Die Frage, wie Rechtslücken im Vergabe-Nachprüfungsrecht zu schließen sind, ist in Lit. und Rspr. noch kaum beantwortet. Grundsätzlich ist wegen der Nähe zum Kartellverfahrensrecht auf diese Bestimmungen zurückzugreifen. Insbesondere darf aus dem fehlenden Verweis in § 120 auf andere Normen des kartellrechtlichen Beschwerdeverfahrens nicht auf die Nichtanwendbarkeit dieser Normen geschlos18 Stockmann in: Immenga / Mestmäcker, Wettbewerbsrecht: GWB, 4. Auflage 2007, § 120 Rn 26 (beck-online, konsultiert 20. 2. 2010).
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sen werden. Subsidiär kommen eine analoge Anwendung der VwGO und der ZPO in Betracht.“19 Da sich jedoch in einer Fußnote ein Verweis auf die eben besprochene Kommentierung von Stockmann20 findet, besteht praktisch noch die Chance, dass die dort beschriebene Handlungsmöglichkeit in den Blick kommt. VI. Einige Konsequenzen aus der hier erzählten Fehlergeschichte 1. Die Notwendigkeit schnellen Handelns Bei folgenreichen Fehlern im Gesetzestext ist schnelles Handeln angezeigt. Betrachten wir mit Blick auf dieses Postulat noch einmal die Chronologie der Ereignisse in Sachen des hier besprochenen Fehlers. 01. 01. 2005: § 120 Abs. 2 GWB tritt mit der Verweisung auf § 71 a GWB in Kraft.21 20. 07. 2005: § 120 Abs. 2 GWB wird fehlerhaft so neu bekanntgemacht, dass die Verweisung auf § 71 a BGB fehlt.22 26. 02. 2008: Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Kammerbeschluss fest, dass die Neubekanntmachung fehlerhaft war.23 28. 09. 2009: Der Fehler ist im Schönfelder immer noch anzutreffen.24 11. 11. 2009: Der Fehler existiert immer noch in der Bundesrechtsdatenbank bei juris und in der Sammlung „Gesetze im Internet“.25 04. 12. 2009: Berichtigung der fehlerhaften Neubekanntmachung.26 Dass das zuständige Ministerium nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2008, der den Fehler offenkundig gemacht hat, bis zum 4. 12. 2009 mit der Korrektur der fehlerhaften Neubekanntmachung zuwartete, ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen. Gleiches gilt für die anderen Akteure auf dem Feld der Gesetzestextproduktion. Der lange Verzug deutet daraufhin, dass ein adäquates zeitnahes Risikomanagement bezogen auf schwerwiegende Fehler im Gesetzestext nicht zu existieren scheint. 19 Storr in: Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht, 2. Auflage 2009, § 120 GWB Rn. 5 (beck-online, konsultiert am 20. 2. 2010). 20 S.o. Fn. 18. 21 S.o. Fn. 2. 22 BGBl. I 2005, S. 2114 ff. 23 S.o. Fn. 12. 24 S.o. Fn. 1, 17. 25 S.o. Fn. 15. 26 S.o. Fn. 16.
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2. Das Problem der ministeriellen Neubekanntmachungen Kausal für den Fehler an den genannten Publikationsorten waren zum einen der Fehler in der ministeriellen Neubekanntmachung und zum anderen das Aufsetzen auf dieser fehlerhaften Neubekanntmachung. Man sollte das zum Anlass nehmen, daran zu erinnern, was das Bundesverfassungsgericht bereits im 18. Band zum Status einer ministeriellen Neubekanntmachung gesagt hat: „Auf das geltende Recht ist sie (sc. die Neubekanntmachung) ohne Einfluß.“27
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der vorliegend behandelten Thematik bestätigt diese Rechtsprechung. Denn das Gericht stellt klar: Man kann aus der Änderungshistorie eines Gesetzes beweisen, dass eine ministerielle Neubekanntmachung einen Fehler enthält. Daraus folgt: Die sich aus der Summe der Änderungsgesetze ergebende konsolidierte Fassung ist der geltende Gesetzestext, nicht das, was (im Abweichungsfall) die Neubekanntmachung verlautbart. Dies müsste für alle Gesetzessammlungen, die ministerielle Neubekanntmachungen als maßgebliche Textgrundlage verwenden, Anlass sein, diese Praxis zu korrigieren. Davon betroffen ist die methodische Grundlage des Schönfelders. Da auch die Bundesrechtsdatenbank den Fehler aufwies, ist sie offensichtlich von derselben methodischen Problematik betroffen. 3. Pflichten bei fehlerhaften gedruckten Gesetzestexten Es stellt sich die Frage, ob mit dem Veröffentlichen von Gesetzestexten nicht Warnpflichten verbunden sind, sobald man von einem relevanten Fehler Kenntnis hat oder bei Anwendung verkehrsüblicher Sorgfalt haben kann. Akzeptiert man eine solche Pflicht, so wäre alles Nötige zu unternehmen, um die Nutzer des Gesetzestextes schnellstmöglich in geeigneter Weise über den Fehler zu informieren. Besonders im Rahmen von Abonnement-Verträgen, wie sie etwa den SchönfelderNachlieferungen zugrunde liegen, erscheint es als naheliegend, eine entsprechende Verpflichtung anzunehmen. Im Ergebnis sollte also für Gesetzestexte mit Fehlern das gelten, was für Autos mit Fehlern anerkannt ist: „Rückrufaktionen“ sind unabweisbar.
27 BVerfGE 18, 391; vgl. zur Problematik der Neubekanntmachungen Maximilian Herberger, Noch einmal: Die Sorge um den rechten Text des Gesetzes, JurPC 1993 (H. 9), S. 2256 – 2262; online im JurPC-Archiv unter http: //www.makrolog.de/jurpc/jurpc_faksimile.nsf) und jetzt umfassend und gründlich Hanjo Hamann / Christoph Schwalb, Die Straße zur Freiheit? Oder: Kritische Bemerkungen zur Neubekanntmachung von Gesetzen?, DöV 2009, S. 1121 – 1129.
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4. Pflichten bei fehlerhaften Online-Gesetzestexten Unser Beispiel zeigt, dass gedruckte Gesetzestexte mit Fehlern sich als „wandelndes Gefahrgut“ darstellen. Man kann zwar, wie eben vorgeschlagen, durch nachgehende Mitteilungen versuchen, die Käufer oder Abonnenten über solche Fehler zu informieren. Aber es ist offensichtlich, dass man auf diese Weise nicht sicher damit rechnen kann, alle Betroffenen zu erreichen. Ganz anders sieht das in der Online-Welt aus. Hier kann man an der Stelle, an der sich die fehlerhafte Information befindet, die entsprechende Korrektur vornehmen mit der Folge, dass ab da (notwendigerweise) alle, die die betreffende Quelle konsultieren, Kenntnis von der wahren Sachlage haben. Anders ausgedrückt: In der Online-Welt ist die Quelle, anders als bei einem in Umlauf gesetzten Werkstück, veränderbar. Da das möglich ist, erscheint es angesichts der Gefahrenlage bei fehlerhaften Online-Gesetzestexten als angezeigt, eine entsprechende Verpflichtung anzunehmen. Das hätte dann die Konsequenz, dass in den Online-Kommentierungen, die den fehlerhaften Gesetzestext erläutern28, entsprechende Warnhinweise anzubringen sind. 5. Die notwendige Nutzung des Rechtsinformatik-Potentials In Fehlerszenarien der hier behandelten Art kommt der Frage eine besondere Bedeutung zu, ob ein Rechtsinformatik-basierter Workflow Entscheidendes zur Fehlerminimierung beitragen kann. Um zu erkennen, ob dies in concreto der Fall ist, muss man noch einmal einen Blick auf die Situation bei der vorliegend kausalen fehlerhaften ministeriellen Neubekanntmachung werfen. Dort war es so, dass der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit eine „Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ veröffentlicht hatte, die ausweislich ihrer Präambel vorgab, auch das Anhörungsrügengesetz berücksichtigt zu haben. Trotzdem fehlte in § 120 Abs. 2 dieser Neubekanntmachung die Verweisung auf § 71a GWB.29 Ein lege artis konzipierter und implementierter Rechtsinformatik-Workflow ist in der Lage, Fehler dieser Art zu vermeiden. Um dies zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf die in Sachen § 120 Abs. 2 GWB gegebene Situation. In der Präambel zur „Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ war unter Nr. 14 festgehalten worden, dass das Anhörungsrügengesetz berücksichtigt sei. Dies bedeutet, dass behauptet wird, die Gesamtheit der im Anhörungsrügengesetz enthaltenen Änderungsanweisungen sei umgesetzt worden. Die vorliegend einschlägige Änderungsanweisung lautet: „In § 120 Abs. 2 wird die Angabe „§§ 72, 73“ durch die Angabe „§§ 71 a, 72, 73“ ersetzt.“ 28 29
Vgl. zu den betroffenen Kommentaren oben bei Fn. 18 und Fn. 19. Vgl. oben bei Fn. 12.
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Diese Änderungsanweisung kann in einem geeigneten Programm automatisch umgesetzt werden: Der Bezugspunkt (§ 120 Abs. 2) ist präzise angegeben. Der zu ersetzende String („§§ 72, 73“) wird ebenso wie der Ersatzstring („§§ 71 a, 72, 73“) genau benannt. Auch ohne Betrachtung der gesamten Komplexität dieser Aufgabe kann man übrigens unschwer (sozusagen mit normalen Rechtsinformatik-“Bordmitteln“) eines erkennen: Aus der Änderungsanweisung folgt, dass im konsolidierten Text am Ende der String „§§ 71 a, 72, 73“ enthalten sein muss. Ob dies der Fall ist, lässt sich (im Sinne eines Kontrollmechanismus, man ist fast geneigt zu sagen „ohne weiteres“) mit Hilfe geeigneter Programm-Routinen erkennen. Der Workflow bei der Herstellung der Neubekanntmachung scheint nicht so ausgelegt gewesen zu sein, dass (mindestens) ein entsprechender Kontrollmechanismus eingebaut gewesen wäre. Denn sonst wäre es zu dem Fehler nicht gekommen. Daraus folgt: Der Einsatz notwendiger Rechtsinformatik-Technologien tut dort Not, wo man Gesetze konsolidiert.
VII. Ausblick Zwei Gedanken liegen nahe, wenn man ein Fazit aus den vorliegenden Beobachtungen ziehen will. Erstens ist ein Nachdenken über die Produktionsweisen rund um Gesetzestexte notwendig. Denn der hier behandelte Fehler ist nicht der einzige seiner Art. Mag man den Fehler im Text von § 11 in der Neufassung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes („Mit Freiheitsstraße bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer . . .“) noch für vergleichsweise harmlos halten, die anderen von Hamann und Schwalb zusammengetragenen Beispiele sind es mitnichten.30 Und sollte zweitens nicht vielleicht auch die Rechtswissenschaft mehr Neigung zeigen, bei der Arbeit mit dem Gesetzestext den Primärquellen stärkere Beachtung zu schenken? „Mehr Ehre für’s Primäre“ wäre diesbezüglich kein schlechtes Motto.
30 Hanjo Hamann / Christoph Schwalb, Die Straße zur Freiheit? Oder: Kritische Bemerkungen zur Neubekanntmachung von Gesetzen?, DöV 2009, S. 1121 – 1129.
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Die letzten Kriegsgefangenen. Die New Yorker Debatte über Kulturschätze, die im Weltkrieg verschwanden und geraubt wurden und wieder aufgetaucht sind, FAZ 23 vom 21. 1. 1995, S. 37. Die deutsche Revolution von 1989: Ursache, Verlauf, Folgen, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Die Einheit Deutschlands, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, Die Einheit Deutschlands – Entwicklungen und Grundlagen, 1995, S. 3 – 33. Die Kulturgüter der Sudetendeutschen als Rechtsproblem, in: Jahrbuch der sudetendeutschen Museen und Archive 1933 – 1994, 1995, S. 11 – 29. Die Wirklichkeit des Staates als menschliche Wirksamkeit – Über Hermann Heller (Teschen 1891 – Madrid 1933), in: Oberschlesisches Jahrbuch 11, 1995, S. 149 – 167. Der internationale Schutz der Kulturgüter autochthoner Bevölkerungsgruppen, Pazifik-Forum 5 (1995), S. 217 – 232. Kulturgüterschutz – eine neue Dimension des internationalen Rechts, Sammelrezension folgender Werke: Frank Fechner: Rechtlicher Schutz archäologischen Kulturguts, Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 24, Berlin 1991, Martin Philipp Wyss: Kultur als eine Dimension der Völkerrechtsordnung. Vom Kulturgüterschutz zur internationalen Kooperation, Schweizer Studien zum internationalen Recht 79, Zürich 1992, Sabine von Schorlemer: Internationaler Kulturgüterschutz. Ansätze zur Prävention im Frieden sowie im bewaffneten Konflikt, Schriften zum Völkerrecht 102, Berlin 1992, AVR 34 (1996), S. 237 – 244. Vom territorialen zum humanitären Kulturgüterschutz. Zur Entwicklung des Kulturgüterschutzes nach kriegerischen Konflikten, Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht 37, 1996, S. 159 – 173. Hermann Heller, in: Ostschlesische Porträts. Biographisch-bibliographisches Lexikon von Österreichisch-Ostschlesien, Teil 2, E-H, Schriftenreihe der Stiftung Haus Oberschlesien. Landeskundliche Reihe II / 2, 1996, S. 179 – 183. Internationaler Kulturgüterschutz – völkerrechtlich betrachtet, Spektrum der Wissenschaft 8 (1996), S. 106 – 114. Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz des Eigentums, EuGRZ 1996, S. 354 – 357. Die Kulturgüter von Volksgruppen und Minderheiten am Beispiel der Sudetendeutschen, in: Vorträge u. Abhandlungen aus geisteswissenschaftlichen Bereichen, Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 17, 1996, S. 207 – 232. Sieg des Rechts. Zur Bücher-Rückgabe aus Georgien, FAZ vom 31. Oktober 1996, S. 37. Safeguarding of Cultural Property during Occupation – Modifications of the Hague Convention of 1907 by World War II?, in: Martine Briat / Judith A. Freedberg (Hrsg.), Legal Aspects of International Trade in Art, 1996, S. 175 – 183. Legal Issues Bearing on the Restitution of German Cultural Property in Russia, in: Elizabeth Simpson (Ed.), The Spoils of War, New York 1997, S. 175 – 178.
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Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
Kulturgüter als Kriegsbeute, völkerrechtliche Probleme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, NZZ 34 (1997), S. 34. Der Zeitfaktor im Recht der Staatensukzession, in: Helmut Haller / Christian Kopetzki / Richard Novak / Stanley L. Paulson / Bernhard Raschauer / Georg Ress / Ewald Wiederin (Hrsg.), Staat und Recht – Festschrift für Günther Winkler, Wien / New York u. a., 1997, S. 217 – 236. Staatensukzession und Menschenrechte, in: Burkhardt Ziemske / Theo Langheid / Heinrich Wilms / Görg Haverkate (Hrsg.), Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 1371 – 1391. Die völkerrechtlichen Präzedenzwirkungen des Potsdamer Abkommens für die Entwicklung des allgemeinen Völkerrechts, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Potsdam 1945, Konzept, Taktik, Irrtum?, 1997, S. 293 – 303. Notes on the Development of the Protection of Cultural Property Following Armed Conflicts, Law and State, Vol. 56 1997, S. 82 – 95. Zwischen Kriegsbeute und internationaler Verantwortung – Kulturgüter im Internationalen Recht der Gegenwart, Z BB 6 / 97, S. 584 – 598. Zwischen Kriegsbeute und internationaler Verantwortung – Kulturgüter im Internationalen Recht der Gegenwart. Plädoyer für eine zeitgemäße Praxis des Internationalen Rechts, in: Gerte Reichelt (Hrsg.), Neues Recht zum Schutz von Kulturgut, Internationaler Kulturgüterschutz, Wien 1997, S. 147 – 160. Recht als überflüssige Dimension? Zur Bedeutung rechtlicher Faktoren für die Wiedervereinigung Deutschlands, in: Wiedervereinigung Deutschlands, Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 1998, S. 285 – 306. Kulturgüter als Kriegsbeute: Völkerrechtliche Probleme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Zürich 1998, S. 87 – 96. Die Bedeutung rechtlicher Faktoren bei den staatlichen (Wieder-)Vereinigungen Deutschlands, in: Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte, Beiheft 12 zu „Der Staat“, 1998, S. 192 – 215. Unterwegs zu einem europäischen Beutemuseum? Deutschland Archiv 1998, H. 2, S. 258 – 270. Gegenmaßnahmen (Counter Measures), Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Bd. 37, 1998, S. 5 – 13. Entwicklungslinien im Recht der Staatensukzession, in: Gerhard Hafner / Gerhard Loibl / Alfred Rest / Lilly Sucharipa-Behrmann / Karl Zemanek (Hrsg.), Liber Amicorum Professor Ignaz Seidl-Hohenveldern, Den Haag u.a, 1998, S. 133 – 155. „Soundly based in international law“. Die Erklärungen der Westmächte vom 14. und 16. Februar 1996 zum Potsdamer Abkommen und die Reform der Völkerrechtsordnung, in: Karl G. Kick / Stephan Weingarz / Ulrich Bartosch (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit, Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 455 – 475. Die linksrheinischen Abgeordneten der Paulskirche, Saarpfalz 1998, S. 5 – 16. Russian Federal Law of 13 May 1997 on Cultural Values . . . , Int. Journal of Clt. Property 7 (1998), No. 2, S. 512 – 525.
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Gabriel Riesser. Für verfassungsrechtliche Freiheit und Gleichstellung der Juden, in: Franz Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.), in: Recht und Juristen in der deutschen Revolution 1848 / 49, 1998, S. 47 – 92. „Kriegsbeute“ im internationalen Recht, in: Volker Michael Strocka (Hrsg.), Kunstraub – ein Siegerrecht?, 1999, S. 47 – 61. Warum wird um die Kriegsbeute noch immer gestritten?, in: Boris Meissner / Alfred Eisfeld (Hrsg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik, Berlin 1999, S. 263 – 269. Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, in: Rudolf Geiger (Hrsg.): Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, Symposium vom 28. bis 30. Januar 1999 in Leipzig, S. 11 – 21; Diskussionsbeiträge, ebd., S. 22 ff. Staat und Religion, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 59 (VVDStRL 59), Berlin u. a. 2000, S. 199 – 230; Diskussionsbeiträge, ebd., S. 330 f., 362 ff. Die Alliierte (Londoner) Erklärung vom 5. 1. 1943: Inhalt, Auslegung und Rechtsnatur in der Diskussion der Nachkriegsjahre, in: J. Basedow u. a. (ed.), Private Law in the international Arena, Liber Amicorum Kurt Siehr, Den Haag 2000, S. 197 – 218. State Succession + Addendum 1998, in: Encyclopedia of Public International Law, IV, 2000, S. 641 – 656. Surrender + Add. 1998, in: Encyclopedia of Public International Law, IV, 2000, S. 744 – 748. Unilateral Acts in International Law + Add. 1999, in: Encyclopedia of Public International Law, IV, 2000, S. 1018 – 1023. Vertreibung in grellerem Licht, Leserbrief, in: FAZ v. 6. 6. 2002, S. 11. Die liberalen und demokratischen Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich, Frankfurt / Main 2002, S. 3. Art. 97 – 99, in: Bruno Simma (ed.), The Charter of the United Nations. A Commentary. 2. Ed., Vol. II, Oxford / New York 2002, S. 1191 – 1230. Der Schutz von Kulturgütern während der Besetzung – Modifikationen der Haager Landkriegsordnung von 1907 durch den Zweiten Weltkrieg?, in: Alexander Blankennagel / Ingolf Pernice / Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle, Tübingen 2004, S. 71 – 82. Der Streit um die „Kriegsbeute“. Rechtliche Argumente und Kontroversen im deutsch-russischen Verhältnis, in: Klaus Stern / Klaus Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 163 – 169. Globalisierung und geltendes Völkerrecht, in: Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, in Jürgen Bröhmer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, Berlin u. a. 2005, S. 73 – 75. Das „Potsdamer Abkommen“ und die Reform der Völkerrechtsordnung. Die Erklärungen der Westmächte vom 14. und 16. Februar 1996, in: Klaus Dicke / Stephan Hobe / Karl-Ulrich Meyn / Anne Peters / Eibe Riedel / Hans-Joachim Schütz / Christian Tietje (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber Amicorum Jost Delbrück, Berlin 2005, S. 215 – 233.
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Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
Hans Freising – Ein großer Vorgeschichtler und Geologe aus Mähren, in: Sudetenland 2 / 2007, S. 141 – 144. Beutekunst (Leserbrief), Evangelische Aspekte 4 / 2007, S. 57. Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland über die Rückführung der während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter, JöR NF 56 (2008), S. 217 – 227. Historische und rechtshistorische Argumente in den Verhandlungen über die Restitution von Kulturgütern zwischen Deutschland und Russland, in: Tiziana J. Chiusi / Thomas Gergen / Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen (Festschrift für Wadle), Berlin 2008, S. 229 – 238.
IV. Rezensionen Gerhard Hoffmann: Die deutsche Teilung, 1969, in: AöR 96 (1971), S. 157 – 158. Sigrid Krülle: Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neiße-Problems, 1970, in: AöR 96 (1971), S. 576 – 580. Otto Kimminich: Deutsche Verfassungsgeschichte, 1971, in: AöR 97 (1972), S. 328 – 335. Alfred Jüttner: Die deutsche Frage, 1971, in: AöR 98 (1973), S. 150 – 151. Rupert Klisch: Gesetz und Verordnung in der Verfassung der 5. französischen Republik vom 4. Oktober 1968, in: DÖV 1973, S. 214 – 215. Ernst Reibstein: Volkssouveränität und Freiheitsrechte, 1972, in: AöR 98 (1973), S. 471 – 472. Jens Hacker: Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR, 1974, in: JZ 1975, S. 335 – 336. Michael Kirn: Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität?, 1972, in: AöR 100 (1975), S. 163 – 168. Michael Kloepfer: Vorwirkung von Gesetzen, 1974, in: AöR 102 (1977), S. 320 – 324. Wilhelm A. Kewenig (Hrsg.): Die Vereinten Nationen im Wandel, 1975, in: AöR 102 (1977), S. 647 – 648. Jörg Paul Müller / Lucius Wildhaber: Praxis des Völkerrechts, 1977, in: GYIL 20 (1977), S. 562 – 563. Theodor Schramm: Staatsrecht Bd. 1, 2. Aufl., 1977, in: DÖV 1978, S. 261. Hans Jochen Vogel / Josef Esser: 100 Jahre Oberste deutsche Justizbehörde. Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, in: AöR 103 (1978), S. 470 – 472. Hubertus von Morr: Der Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundvertrag, 1977, in: AöR 103 (1978), S. 623 – 624. Ingo von Münch: Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 – 3, 1974 / 78, in: GYIL 21 (1978), S. 552 – 554. Leontin-Jean Constantinesco: Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1977, in: GYIL 22 (1979), S. 537 – 543.
Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
1011
Albert Bleckmann: Europarecht, 2. Aufl., 1978, in: GYIL 22 (1979), S. 537 – 543. Hans Krück: Völkerrechtliche Verträge im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1977, in: GYIL 22 (1979), S. 537 – 543. Charles Zorgbibe: Rechtliche Probleme der Einigung Europas, 1979, in: GYIL 22 (1979), S. 537 – 543. Jürgen Poeschel: Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends, 1978, in: DÖV 1980, S. 657 – 658. Thomas W. Wälde: Juristische Folgenorientierung, 1979, in: Die Verwaltung 1980, S. 388 – 391. Theodore A. Colombus / James H. Wolfe: Introduction to International Relations: Power and Justice, 1978, in: GYIL 23 (1980), S. 578 – 580. Rene A. Rhinow: Rechtsetzung und Methodik. Rechtstheoretische Untersuchungen zum gegenseitigen Verhältnis von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, 1979, in: Die Verwaltung 1981, S. 398 – 402. Jan Meyer-Abich: Der Schutzzweck der Eigentumsgarantie, 1980, in: NJW 1982, S. 92 – 93. Ignaz Seidl-Hohenveldern: Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 1979, in: AöR 107 (1982), S. 170 – 172. Jürgen Goldschmidt: Das Problem einer völkerrechtlichen Gefährdungshaftung unter Berücksichtigung des Atom- und Weltraumrechtes, 1978, in: AöR 107 (1982), S. 174 – 175. Peter Häberle: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, in: DÖV 1982, S. 794 – 795. Christoph Wilhelm Vedder: Die auswärtige Gewalt des Europa der Neun, 1980, in: GYIL 25 (1982), S. 713 – 715. Rudolf Bernhardt (Hrsg.): Deutsche Landesreferate zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, 1982, in: AöR 110 (1985), S. 311 – 314. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 32 (1983), in: AöR 110 (1985), S. 626 – 629. G. Brunner / T. Schweisfurth / A. Uschakow / K. Westen (Hrsg.): Sowjetsystem und Ostrecht, Festschrift für Boris Meissner zum 70. Geburtstag, 1985, in: NJW 1986, S. 2170 – 2171. Ulrich Karpen: Die geschichtliche Entwicklung des liberalen Rechtsstaates. Vom Vormärz bis zum Grundgesetz, 1985, in: AöR 111 (1986), S. 295 – 296. Ignaz Seidl-Hohenveldern: Das Recht der Internationalen Organisationen, einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 4. Aufl. 1984, in: AöR 111 (1986), S. 497 – 498. Reinhold Ferdinand: Die Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland zum Völkergewohnheitsrecht, 1985, in: AöR 111 (1986), S. 498 – 499. Andreas Greifeld: Volksentscheide durch Parlamente, 1983, in: AöR 111 (1986), S. 618 – 621. Die Deutschlandfrage und die Anfänge des Ost-West-Konflikts 1945 – 1949, 1984, in: AöR 111 (1986), S. 655 – 657.
1012
Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 33 (1984), in: AöR 112 (1987), S. 508 – 514. Siegfried Magiera (Hrsg.): Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, Schriftenreihe der Hochschule Speyer 100, 1985, in: Der Staat 27 (1988), S. 306 – 308. Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, 1987 Bd. II: Demokratische Willensbildung, Die Staatsorgane des Bundes, 1987, Bd. III: Das Handeln des Staates, 1988, in: JZ 1989, S. 736 – 738. Jörg-Detlef Kühne: Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 1985, in: AöR 114 (1989), S. 497 – 500. Reinhard Schwichert: Sicherheitspolitik und Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Nationale Selbstbehauptung ohne staatliche Verantwortung, Saarbrücker Politikwissenschaft 10, 1990, in: Der Staat 30 / 4 (1991), S. 609 – 611. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 35 (1986), in: AöR 116 (1991), S. 629 – 634. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 36 (1987), in: AöR 116 (1991), S. 629 – 634. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 37 (1988), in: AöR 116 (1991), S. 629 – 634. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 38 (1989), in: AöR 117 (1992), S. 280 – 283. Adrian Glaesner: Der Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1990, in: JZ 1992, S. 414. Theodor Maunz / Reinhold Zippelius: Deutsches Staatsrecht, 28. Aufl., 1991, in: JZ 1992, S. 412. Norbert Lorenz: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften, Europäische Hochschulschriften II / 993, 1990, in: DÖV 1992, S. 545 – 546. Bernhard Distelkamp (Hrsg.): Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, D. 21), 1909, in: AöR 117 (1992), S. 306 – 307. Mads Ole Balling: Von Reval bis Bukarest. Statistisch-Biographisches Handbuch der Parlamentarier der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südeuropa 1919 – 1945, 2 Bde., 1991, in: Kulturpolitische Korrespondenz 1992, S. 18 – 19. Klaus-Peter Schröder: Das Alte Reich und seine Städte. Untergang und Neubeginn: Die Mediatisierung der oberdeutschen Reichsstädte im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1802 / 03, 1991, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 110 (1993), S. 632 – 634. Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, 1990, in: JZ 1993, S. 248 – 249
Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
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Ralf Köbler: Die „clausula rebus sic stantibus“ als allgemeiner Rechtsgrundsatz, 1991, in: AöR 118 (1993), S. 155 – 156. Karl Th. Rauser: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des Art. 24 I GG, 1991, Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät 81, in: JZ 1994, S. 37 – 38. Peter M. Huber: Maastricht – ein Staatsstreich?, Jenaer Schriften zum Recht 1, 1993, in: AöR 119 (1994), S. 682 – 683. Werner von Simson / Jürgen Schwarze: Europäische Integration und Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, 1992, in: AöR 119 (1994), S. 680 – 682. Christoph Gusy: Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, 1991, in: JZ 1995, S. 240 – 241. Wilhelm G. Grewe / Institut für Internationales Recht an der Freien Universität Berlin (Hrsg.): Fontes Historiae Iuris Gentium, Quellen zur Geschichte des Völkerrechts 2: 1382 – 1815, Bd. 3 (1988), Bd. 3.1 (1992), Bd. 3.2 (1992), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 112 (1995), S. 455 – 457. Joachim Burmeister / Michael Nierhaus, / Fritz Ossenbühl / Günter Püttner / Michael Sachs / Peter J. Tettinger (Hrsg.): Germania restituta, Wissenschaftl. Sympsium anl. des 60. Geburtstages v. Klaus Stern am 11. Januar 1992 am 7. und 8. Februar 1992 in der Universität zu Köln, 1993, in: AöR 120 / 2 (1995), S. 317. Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, 1992, in: AöR 120 / 2 (1995), S. 312 – 314. Alfred Kölz: Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte. Vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, 1992, in: AöR 120 (1995), S. 312 – 314. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F.: Bd. 39 (1990) Bd. 40 (1991 / 1992) Bd. 41 (1993) Bd. 42 (1994), in: AöR 120 (1995), S. 481 – 485. Detlef Merten / Waldemar Schreckenberger (Hrsg.): Kodifikation gestern und heute. Zum 200. Geburtstag des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 116 (1995), S. 602 – 604. Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Allgemeine Grundrechtslehren, 1992, Bd. VI: Freiheitsrechte, 1989, in: JZ 1996, S. 300 – 301. Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII: Normativität und Schutz der Verfassung – Internationale Beziehungen, 1992, in: JZ 1997, S. 247 – 248.
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Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
Thomas Höch: Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz. Untersuchungen zur Bestandskraft des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands, Schriften zum Öffentlichen Recht 677, 1995, in: AöR 122 / 1 (1997), S. 171 – 172. Wilhelm Heinrich Wilting: Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, in: Albert Bleckmann (Hrsg.): Völkerrecht, Europarecht, Staatsrecht 18, Köln / Berlin 1996, in: DVBl. 12 (1997), S. 787 – 788. Hans-Peter Schneider (Hrsg.): Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung; Band 9: Art. 29 und 118 sowie gestrichener Artikel 24 „Gebietsabtretungen“. Frankfurt / Main 1995, in: DÖV 1997, S. 800. Günter Birtsch / Michael Trauth / Immo Meenken: Grundfreiheiten, Menschenrechte 1500 – 1850, 5 Bände, Stuttgart 1991 – 1992, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., 1997, S. 454 – 457. Wilhelm Henke: Recht und Staat. Grundlagen der Jurisprudenz, Tübingen 1988, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., 1997, S. 457 – 458. Helmut Neuhaus (Hrsg.): Verfassung und Verwaltung. Festschrift f. Kurt G.A. Jeserich zum 90. Geburtstag, Köln u. a. 1994, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., 1997, S. 486 – 488. Jens Bortloff: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme, Schriften zum Völkerrecht, Bd. 122, 1996, in: DVBl. 1997, S. 1197. László Révész: Minderheitenschicksal in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie, 1990, in: Philologia Fenno-Ugrica 2 – 3 (1996 / 1997), S. 97 – 101. Michael Kloepfer: Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 1995, in: AöR 122 (1997), S. 663 – 664. Ingo J. Hueck: Der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik, Beitr. z. RGesch d. 20. Jahrhunderts, Bd. 16, 1996, in: AöR 123 (1998), S. 315 – 317. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1995, in: AöR 123 (1998), S. 321 – 322. Hans-Peter Schneider (Hrsg.): Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 10, 1996, in: DÖV 1998, S. 698 – 699. Heinrich Best / Wilhelm Wege: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49, Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 8, Düsseldorf 1996, in: AöR 123 (1998), S. 497 – 499. Norbert Ullrich: Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen. Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 35, Berlin 1996, in: AöR 123 (1998), S. 499 – 501. Johannes Niewerth: Der kollektive und der positive Schutz von Minderheiten und ihre Durchsetzung im Völkerrecht, Veröffentlichungen des W. Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 119, 1996, in: DVBl. 1998, S. 1144 – 1145. Wilhelm G. Grewe u. a.: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. 1, 1996, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 115, S. 630 – 631.
Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
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Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, 1994, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germ. Abt., Bd. 115, S. 652 – 653. Helmut Reinalter (Hrsg.): Europaideen im 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich und Zentraleuropa, 1994, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 115, S. 810. Christian Starck (ed.): Studies in German Constitutionalism. Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. 64., Baden-Baden 1995, in: AöR 123 (1998), S. 654 – 655. Oliver Dörr: Die Inkorporation als Tatbestand der Staatensukzession. Schriften zum Völkerrecht, Bd. 120, in: ZöR 53 (1998), S. 408 – 411. Siegfried Magiera / Heinrich Siedentopf (Hrsg.): Die Zukunft der Europäischen Union: Integration, Koordination, Dezentralisierung; Tagungsbeiträge der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 20. bis 22. März 1996, Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 35, Berlin 1997, in: DÖV 1999. Matthias Niedobitek: Kultur und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1992, in: ArchVR 37 (1999), S. 243 – 245. Dieter Blumenwitz: Staatennachfolge und Einigung Deutschlands, Teil 1, 1992, in: ArchVR 37 (1999), S. 245 – 247. Angelo O. Rohlfs: Hermann von Mangoldt (1895 – 1953) – Das Leben des Staatsrechtlers vom Kaiserreich bis zur Bonner Republik, 1997, in: AöR 124 (1999), S. 523 – 524. Paul-Christian Schenk: Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen Rechts- und Verfassungswesens, Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, Bd. 67, Stuttgart 1997, in: AöR 124 (1999), S. 724 – 727. Hans-Peter Schneider (Hrsg.): Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung; Band 25: Artikel 105 – 107, Frankfurt / Main 1997, in: DÖV 2000, S. 390. Peter E. Quint: The Imperfect Union. Constitutional Structures of German Unification, 1996, in: Der Staat 39 (2000), S. 481 – 484. Hans-Peter Schneider (Hrsg.): Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 23, 1999, in: DÖV 2001, S. 90. Erich J. Hahn: Rudolf von Gneist 1816 – 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit (Ius Commune Sonderheft 74), Frankfurt / Main 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 118 (2001), S. 739 – 741. Alfred Kölz (Hrsg.): Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte, Von 1848 bis in die Gegenwart, 1996, in: AöR 127 (2002), S. 160 – 161. Die Revolution von 1848 / 49 in Deutschland nach 150 Jahren (Sammelbesprechung), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119 (2002), S. 365 – 371. Sonja Kerth: Der landsfrid ist zerbrochen. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119 (2002), S. 474 – 475.
1016
Schriftenverzeichnis Wilfried Fiedler
Friedrich Ebel (Hrsg.): Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat. 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Berlin 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119 (2002), S. 688 – 689. Gerd Kleinheyer: Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staate vom 1.Juni 1794: an der Wende des Spätabsolutismus zum liberalen Rechtsstaat, Heidelberg 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119 (2002). Jörg Wolff (Hrsg.): Das Preußische allgemeine Landrecht. Politische, rechtliche und soziale Wechsel- und Fortwirkungen, Heidelberg 1995, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119 (2002). Klaus Richter: Deutsches Kolonialrecht in Ostafrika 1885 – 1891, Frankfurt / Main 2001, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119. (2002), S. 795 – 796. Marc Olivier Baruch: Das Vichy-Regime, Frankreich 1940 – 1944, Stuttgart 1999, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119. (2002), S. 955. Odsun – Die Vertreibung der Sudetendeutschen, hrsg. v. R. Hoffmann / A. Harasko, Sudetendeutsches Archiv, München 2000, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Bd. 119. (2002), S. 991 – 994. Birgit von Bülow: Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945 – 1952), Berlin / BadenBaden 1996, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 119 (2002), S. 1032 – 1034. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. Bd. 43 (1995); Bd. 44 (1996), in: AöR 127, S. 510 – 512. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. Bd. 46 (1998); Bd. 47 (1999), in: AöR 127, S. 513 – 514. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. Bd. 48 (2000); Bd. 49 (2001), in: AöR 127, S. 514 – 515. Markus Allstadt: Die offene Völkerrechtslage im deutsch-tschechischen Verhältnis und ihre Bedeutung für die Osterweiterung der Europäischen Union, 2000, in: Literaturspiegel Nr. 45 (Mai 2003), S. 86 – 88. Hans-Jörg Fischer: Die deutschen Kolonien, 2001, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 120 (2003), S. 701 – 702. Peter Häberle (Hrsg.): Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. Bd. 50 (2002), in: AöR 128. Hans Schenk: Die Böhmischen Länder – ihre Geschichte, Kultur und Wirtschaft, 1998, in: Philologia Fenno-Ugrica 7 – 8 (2001 / 2002), S. 199 – 201.
Verzeichnis der Autoren Priv.-Doz. Dr. Michael Anton, LL.M. (Johannesburg), Universität des Saarlandes Prof. Dr. Roland Michael Beckmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht sowie Privatversicherungsrecht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Jan Bergmann, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Honorarprofessor an der Universität Stuttgart Prof. Dr. Jürgen Bröhmer, Head of School, School of Law, University of New England, Armidale / Australien Prof. Dr. Christian Calliess, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht, Inhaber einer Jean Monnet Professur für Europäische Integration, Freie Universität Berlin Prof. (émérite) Dr. Jean Charpentier, Université de Nancy Prof. Dr. Tiziana J. Chiusi, Inhaberin des Lehrstuhls für Zivilrecht und Römisches Recht, Direktorin des Instituts für Europäisches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Christoph Degenhart, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Direktor des Instituts für Rundfunkrecht, Universität Leipzig Prof. Dr. Michael Elicker, Universität des Saarlandes, Rechtsanwalt Prof. Dr. Ulrich Fastenrath, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Technischen Universität Dresden, Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Internationale Studien Prof. Dr. Frank Fechner, Professor für Öffentliches Recht, insbesondere öffentlich-rechtliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht, Leiter des Fachgebiets Öffentliches Recht, Technische Universität Ilmenau Prof. Dr. Udo Fink, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. Thomas Fitschen, Auswärtiges Amt, Leiter des Referats für VN-politische Grundsatzfragen und politische Fragen der Generalversammlung und stellv. Leiter des Arbeitsstabs Rechtsstaatsförderung Prof. Dr. Dres. h.c. Jochen A. Frowein, em. Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg, em. Professor Universität Heidelberg, früherer Vizepräsident der Europäischen Menschenrechtskommission Prof. Dr. Dr. Thomas Gergen, M.A., Maître en droit, Universität des Saarlandes und MaxPlanck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Frankfurt / M.)
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Helmut Goerlich, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Staatskirchenrecht, Direktor des Instituts für Rundfunkrecht, Universität Leipzig Prof. Dr. Dr. h c. mult. Gilbert Gornig, Professur für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht, Geschäftsführender Vorstand des Instituts für öffentliches Recht, PhilippsUniversität Marburg Jennifer Greaney, Associate Lecturer, School of Law, University of New England, Armidale / Australien Prof. Dr. Christoph Gröpl, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Klaus Grupp, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Annette Guckelberger, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Geschäftsführender Direktor des Bayreuther Institutes für Europäisches Recht und Rechtskultur sowie der Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht, Universität Bayreuth Prof. Dr. Maximilian Herberger, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik, Direktor des Instituts für Rechtsinformatik, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Christian Hillgruber, Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Josef Isensee, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Institut für Öffentliches Recht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Heike Jochum, Mag. rer. publ., Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Direktorin des Instituts für Finanz- und Steuerrecht, Universität Osnabrück Prof. (em.) Dr. Detlev Joost, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Direktor des Seminars für Arbeitsrecht, Universität Hamburg Prof. Dr. Dr. h.c. Heike Jung, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Strafrechtsvergleichung, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Bernhard Kempen, Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht, Universität zu Köln Ministerialdirigent Dr. Klaus A. Klang, Ministerium des Innern Sachsen-Anhalt, Leiter der Abteilung „Kommunalangelegenheiten, Wahlen“ und Landeswahlleiter Prof. (em.) Dr. iur. utr. Eckart Klein, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht, Völkerrecht und Europarecht und Direktor des Menschenrechtszentrums der Universität Potsdam, Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen von 1995 – 2002, Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen (seit 1995) Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.), Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht, Universität Leipzig
Verzeichnis der Autoren
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Dr. Siegrid Krülle, Rechtsanwältin, Aidlingen Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, M.C.J. (New York), Hon.-Prof. (Johannesburg), Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Privatrecht und Rechtsvergleichung, Direktor des Instituts für Europäisches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Annemarie Matusche-Beckmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Arbeitsrecht, Universität des Saarlandes Archivoberrat Dr. Wolfgang Müller, Universität des Saarlandes Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Heinz Müller-Dietz, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafvollzug und Kriminologie, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Deutsches und Internationales Umweltrecht, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. (em.) Dr. Theo Öhlinger, em. o. Universitätsprofessor für öffentliches Recht, Universität Wien Prof. Dr. Filippo Ranieri, Forschungsstelle für Europäisches Zivilrecht / Droit civil européen, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Europäisches Zivilrecht und Neuere europäische Rechtsgeschichte, Universität des Saarlandes Prof. (em.) Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Georg Ress, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht und Direktor des Europainstituts, Universität des Saarlandes, Jacobs-University Bremen, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Prof. (em.) Dr. Wolfgang Rüfner, Universität zu Köln, ehem. Leiter des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie, Universität des Saarlandes Prof. (em.) Dr. Dieter Schmidtchen, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Nationalökonomie, insbesondere Wirtschaftspolitik, und Leiter der Forschungsstelle zur ökonomischen Analyse des Rechts, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Friedrich Schoch, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, AlbertLudwigs-Universität Freiburg, Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof BadenWürttemberg Prof. (em.) Dr. Meinhard Schröder, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für in- und ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht- und Europarecht, Universität Trier Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. Kurt Siehr M.C.L. (Ann Arbor), Universität Zürich, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg Prof. Dr. Torsten Stein, Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht und Europäisches öffentliches Recht, Direktor des Europainstituts, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Ulrich Stelkens, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht insbesondere Recht der Mehrebenenbeziehungen und Normsetzungslehre, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
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Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Rudolf Streinz, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht, Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrbeauftragter Oliver Suhr, LL.M., Ministerium für Inneres und Europaangelegenheiten des Saarlandes Prof. (em.) Dr. Elmar Wadle, Forschungsstelle Geschichte des Geistigen Eigentums, ehem. Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes Prof. Dr. Rudolf Wendt, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrecht, Universität des Saarlandes, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes Prof. Dr. Stephan Weth, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Prozess- und Arbeitsrecht sowie Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes Prof. Dr. Michaela Wittinger, Professorin für Öffentliches Recht (insbesondere Staats- und Europarecht), Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung / Bereich Bundeswehrverwaltung, Mannheim, zuvor Privatdozentin, Universität des Saarlandes