Verfassung - Philosophie - Kirche: Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428493562, 9783428093564

Das Wesentliche bewahren und entwickeln - so erscheint das Werk von Alexander Hollerbach. Umfassend erschließt dieses We

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Verfassung - Philosophie - Kirche: Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428493562, 9783428093564

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Verfassung - Philosophie - Kirche Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag

Verfassung - Philosophie - Kirche Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Joachim Bohnert, Christof Gramm, Urs Kindhäuser, Joachim Lege, Alfred Rinken, Gerhard Robbers

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Verfassung - Philosophie - Kirche : Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag / Hrsg.: Joachim Bohnert... - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 ISBN 3-428-09356-9

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-09356-9

Vorwort Das Wesentliche bewahren und entwickeln - so erscheint das Werk von Alexander Hollerbach. Umfassend erschließt dieses Werk Sinnprinzipien der Verfassung, getragen in kultureller Verantwortung, eingebettet in philosophischem Verständnis und religiöser Überzeugung. Der freiheitliche Verfassungsstaat als Friedens- und Freiheitsordnung stützt sich, so sagt Alexander Hollerbach, auf den sittlich selbstverantwortlichen Bürger und lebt so letztlich aus dessen moralischer und religiöser Substanz. Daß jeder in seinem Recht sein möge, diesem Grundanliegen begegnen alle, die Alexander Hollerbach kennen. Am 23. Januar 1931 wurde Alexander Hollerbach in Gaggenau geboren; der badischen Heimat ist er immer treu geblieben. Nachdem er sein Abitur am altsprachlichen Gymnasium in Rastatt abgelegt hatte, studierte er Rechtswissenschaft in Freiburg, Heidelberg und Bonn; sein Staatsexamen legte er in Freiburg ab. Die tiefe philosophische Gründung seines Lebenswerkes findet einen frühen Ausdruck in seiner Dissertation „Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie" aus dem Jahre 1957. Sie verdeutlicht zugleich sein besonderes Interesse an Fragen der Personen- und Wissenschaftsgeschichte, aus dem heraus später viele Einzelstudien entstanden sind. Mit seiner Habilitationsschrift über „Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland" tat Alexander Hollerbach den Schritt in das Verfassungs- und Staatskirchenrecht. Beide Schriften sind bis heute maßgebend auf ihrem Gebiet. Zu seinen Lehrern Erik Wolf, der die Promotion, und Konrad Hesse, der die Habilitation betreute, hat er stets enge persönliche und sachliche Verbundenheit gehalten, die in ihnen begründeten und verkörperten Traditionen hat er bewahrt, gepflegt und weitergetragen. Kurze Zeit nach der Freiburger Habilitation für die Fächer Rechtsphilosophie, Staats-, Verwaltungsrecht und Kirchenrecht im Jahre 1964 wurde Alexander Hollerbach 1966 Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der damals noch Wirtschaftshochschule genannten Universität Mannheim, wo er sich besonders auch Fragen der Reform von Universität und universitärer Lehre widmete. Als Nachfolger von Erik Wolf kehrte er schon 1969 nach Freiburg an das von diesem gegründete Seminar für Rechtsphilosophie und evangelisches Kirchenrecht zurück; auch die Bezeichnung seines Lehrstuhles „Rechts- und Staatsphilosophie, Geschichte der Rechtswissenschaft und Kirchenrecht" ist Ausdruck eines Programmes beständiger Lebens-

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Vorwort

arbeit. Das Seminar hieß fortan, konfessioneller Verwurzelung und beispielhafter ökumenischer Offenheit entsprechend, Seminar für Rechtsphilosophie und Kirchenrecht; es ist vielen Schülern von Alexander Hollerbach Heimat geworden. Einen Ruf an die Universität Wien im Jahre 1979 hat Alexander Hollerbach abgelehnt und ist so der Freiburger Tradition treu geblieben. Dieser Ruf zeigt ebenso wie die Verleihung des Komturkreuzes des päpstlichen Gregoriusordens die hohe internationale Anerkennung, die Alexander Hollerbach genießt, und die zu der schon früh erfolgten Berufung als ordentliches Mitglied in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Jahre 1978 hinzutritt. Alexander Hollerbachs Werk ist vielfältig gewürdigt worden, von Seiten der Lehrer (Konrad Hesse, Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, AöR, Bd. 126, 2001) wie von Seiten der Weggefährten (Peter Häberle, Alexander Hollerbach - 65 Jahre, Kirche und Recht 1996; Heiner Marré, Essener Gespräche, Bd. 33, 1999). Für seine Schüler ist die stets stringente und im besten Sinne hochgebildete Wissenschaftlichkeit dieses Werkes, seine thematische Weite und Offenheit Ansporn und Vorbild. Das Werk Alexander Hollerbachs gilt der Rechtswissenschaft insgesamt, die, wie er schreibt, rechtsethischen Grundwerten und zuhöchst der Leitidee der Gerechtigkeit verpflichtet ist, die sie zur Anschauung und zur Geltung zu bringen hat. Dem dienen Grundlagenarbeiten zum Wesen und Begriff der Verfassung und zur Bedeutung vieler ihrer Grund- und Sinnprinzipien ebenso wie die Bearbeitung des Landesverfassungsrechts von Baden-Württemberg. Dem dient nicht zuletzt das durchgängige Anliegen, Kirche und Religion ihren angemessenen Ort in der staatlich verfaßten Gemeinschaft zu sichern. Die klassische Verbindung von Staatsrecht und Kirchenrecht spiegelt sich in Grundsatzerwägungen zum Verhältnis von Recht und Religion. Dem Kirchenrecht hat Alexander Hollerbach Wege gewiesen, die Aufmerksamkeit für das Detail hat er mit Grundsatzfragen verknüpft, sorgfältige Bestandsaufnahme dient der Festigung des Bewährten wie dem Fortschreiten in die für richtig erkannte Richtung. In allem verbindet das Werk Alexander Hollerbachs, es zeigt in den Einzelthemen wie in der Gesamtheit immer wieder und vor allem das Gemeinsame. Der Selbstand jedes Einzelnen und jeder Einzelfrage wird gültig erst im Bewußtsein des alle Verbindenden. Alexander Hollerbach hat die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland maßgebend und umfassend geprägt. Das Staatskirchenvertragsrecht, dem er nach seiner grundlegenden Habilitationsschrift eine große Zahl von Einzelstudien und weitreichende praktische Tätigkeit gewidmet hat, bildet dabei einen Schwerpunkt neben vielen anderen. Es bündelt in vielem, wofür Alexander Hollerbach steht: Verfassungsbindung wie internationale Weite, Pluralität und ökumenische Offenheit, Sachangemessenheit und Detail-

Vorwort

Orientierung, Grundsatztreue und Geschichtsbewußtsein, Traditionspflege und Reformbereitschaft. Im Staatskirchenvertragsrecht hat Alexander Hollerbach theoretische Grundlagen gelegt, in vielen zusammenfassenden Artikeln Breitenwirkung erzeugt, nicht zuletzt auch die Praxis der Vertragsschlüsse und der Vertragserfüllung geprägt. Auf die europäische und internationale Dimension des Staatskirchenrechts hat er frühzeitig aufmerksam gemacht, nicht zuletzt auch als Gründungsmitglied des Europäischen Konsortiums für Staat-Kirche Forschung. Konkreter Wissenschaftsgeschichte und wichtigen, zuvor oft nicht hinreichend gewürdigten historischen Persönlichkeiten gelten zahlreiche seiner Schriften. So finden sich Studien zur Geschichte der Freiburger Rechtsfakultät die NS-Zeit nicht ausgenommen - oder zum Verhältnis von Katholizismus und Jurisprudenz in Deutschland. Bemerkenswert ist die Reihe der Namen, deren Leben und Werk vorgestellt werden - sie reicht von Anton Christ über Heinrich Rosin, Heinrich Triepel, Josef Schmitt, Godehard Josef Ebers und Franz Böhm bis zu Julius Federer. Gustav Radbruch hat er besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Vieles hat er ans Licht auch dadurch gehoben, daß er höchst sorgfältig Dissertationsthemen angeregt hat, zur Bereicherung der Personen- und Werk-, aber auch der Institutionengeschichte. Wichtige wissenschaftliche Institutionen hat Alexander Hollerbach durch intensive und beständige Pflege geprägt. Über viele Jahre (1984-1998) hat er die „Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche" moderiert, mehrfach mit Referaten zu ihnen beigetragen und sie kontinuierlich als Berater unterstützt; sie sind so ein einzigartiges Forum des deutschen Staatskirchenrechts der Gegenwart. Vielfältig sind seine beratenden Tätigkeiten, stets an der Sache orientiert und stets wirkkräftig für die Praxis, wie etwa für den Erlaß des Codex Iuris Canonici von 1983 oder fiir den Abschluß der Staatskirchenverträge in den neuen Bundesländern. Die siebente Auflage des Staatslexikons der Görresgesellschaft trägt in vielfältiger Weise seine maßgebende Handschrift; er hat zu ihr durch sorgfältige Redaktion nicht weniger als durch viele Artikel aus seiner Feder beigetragen, die oft den Grundlagenfragen gewidmet sind. In knapper Darstellung meisterhaft das Wesentliche sagen, dies prägt sein Gesamtwerk. Nichts ist vergessen: von den theologischen und philosophischen Grundlagen über Strukturfragen und Einzelbereiche schreitet es zum Detail und zu praktischer Anwendung, vom historischen Rückblick öffnet es den Blick zu Neuem und legt den Grund zu Zukunftsfragen. Und in allem atmet ein seltener Geist der Toleranz. Den Belastungen der akademischen Selbstverwaltung hat sich Alexander Hollerbach pflichtbewußt und zugriffskräftig gestellt, in Dekanat und Prorektorat. Viele Generationen von Studenten verdanken ihm weit über das geforderte Maß hinausgehendes Engagement, klarsichtige und umfassende, eingängige und

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Vorwort

stets bereichernde Belehrung, stetige Ermunterung und andauernde Geduld. Das Freiburger rechtsphilosophische Seminar war Ort intensiven und freimütigen wissenschaftlichen Dialogs, ebenso wie das kirchen- und staatskirchenrechtliche Seminar, das Wissenschaft und Praxis in einzigartiger Fruchtbarkeit zusammenführte. Diese Seminare haben viele Teilnehmer nachhaltig geprägt. Gerade auch seinen unmittelbaren akademischen Schülern begegnet Alexander Hollerbach mit einer wissenschaftlichen Offenheit, die ihresgleichen sucht. In dieser Haltung, das jedem jeweils Gemäße zu erkennen und zu geben, hat er immer wieder neue Wege erschlossen. Er hat so auch in das Strafrecht und in das Zivilrecht hineingewirkt; seine Fähigkeit, Grenzen zu überwinden und Gemeinsamkeit zu stiften, bewährt sich auch hier.

Joachim Bohnert Joachim Lege

Christof Gramm Alfred Rinken

Urs Kindhäuser Gerhard Robbers

Inhaltsverzeichnis I. Verfassung und Gemeinschaft Peter Häberle „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" - eine Zwischenbilanz

15

Hisao Kuriki Zum Gebrauch des Wortes „Menschenrechte" in der Geschichte der deutschen Rechts- und Staatsrechtslehre

25

Michael Stolleis Die Prinzessin als Braut

45

Peter Landau Max v. Seydel - Bayerns Staatsrechtslehrer im Bismarckreich

59

Joachim Wieland Die Entstehung der deutschen Nationalsymbole

81

Karlheinz Muscheler Entstehungsgeschichte und Auslegung von Gesetzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

99

Martin Bullinger Die Verfassungsgarantie des Rundfunks im digitalen Zeitalter Friedrich

131

Schoch

Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft 149 Jürgen Schwarze Die Wahrung des Rechts als Aufgabe und Verantwortlichkeit des Europäischen Gerichtshofs

169

Rainer Wahl Internationalisierung des Staates

193

10

Inhaltsverzeichnis

Thomas Wiirtenberger Auslegung von Verfassungsrecht - realistisch betrachtet

223

Josef Isensee Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution. Verfassungsperspektiven nach der Entschlüsselung des Humangenoms

243

Achim Krämer Kritisches zur Reform der Revision in Zivilsachen

267

Christian Kirchberg Anwaltliches Berufsrecht und Verfassungsrecht - Entwicklungen und Perspektiven

285

Un-Jong Pak Der Rechtsbegriff und der Richter

301

Stephan Kirste Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson.... 319 Armin von Bogdandy Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten? Zur Steigerungsfahigkeit eines Verfassungsprinzips am Beispiel einer Neugestaltung der Verordnungsgebung

363

Joachim Lege Das Öffentliche, das Private und das Soziale. Zugleich ein Beitrag zum Telekommunikationsrecht

385

Alfred Rinken Volksgesetzgebung und Verfassung

403

II. Philosophie und Recht Hasso Hofmann Das Politische in Spinozas „Politischem Traktat"

429

Hans-Peter Schneider Recht und Denken. Erinnerungen an Erik Wolf und Martin Heidegger

455

Chongko Choi Gustav Radbruch und Ostasien

485

Inhaltsverzeichnis

11

Carola Vulpius „Zweckmäßigkeit" und „Gemeinwohl" bei Radbruch Winfried

501

Brugger

Freiheit, Repräsentation, Integration. Zur Konzeption politischer Einheitsbildung in den „Federalist Papers"

515

Christoph Enders Menschenrechtsidee und staatliche Grundrechtsgewährleistung - ein unauflösbarer Widerspruch? Das Naturrechtsproblem nach 50 Jahren Grundgesetz

533

Michel Paroussis Chaosforschung und Recht

563

Claudia Bittner Rentenversicherungsrechtlicher Generationenvertrag als Gesellschaftsvertrag (Sozialkontrakt)?

575

Joachim Bohnert Über Profanierung

597

Christof Gramm Verrechtlichung von Ethik und Ethisierung des Rechts

611

Urs Kindhäuser Handlungs- und normtheoretische Grundfragen der Mittäterschaft

627

I I I . Kirche und Staat Martin Heckel Das Bekenntnis - ein Vexierbild des Staatskirchenrechts?

657

Wolfgang Rüfner Staatskirchenrecht im pluralistischen Staat. Wertungsdifferenzen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften 691 Albert Janssen Staatskirchenrecht als Kollisionsrccht. Überlegungen zur Auslegung der Artikel 140 GG/137 Abs. 5 WRV

707

Hans Maier Kurze Geschichte des Schulfachs Ethik

737

12

Inhaltsverzeichnis

Christoph Link „LER", Religionsunterricht und das deutsche Staatskirchenrecht

747

Gerald Göbel Der Kampf um die Schule. Religiöse Präsenz an staatlichen Schulen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 771 Ernst-Lüder Solte Kirche, Staat und evangelische Theologie

791

Dirk Ehlers Die Rechtmäßigkeit des Verbots kirchlicher Voraustrauungen

811

Josef Jurina Staatliche Einflussnahme auf die kirchliche Vermögensverwaltung

835

Karl-Hermann Kästner Gesetzliche Beendigung des Dienstverhältnisses evangelischer Pfarrer oder Kirchenbeamter nach rechtskräftiger Verurteilung

851

Francis Messner Die aktuellen Entwicklungen des Lokalrechts bezüglich der Religionsgemeinschaften in Elsaß-Moselle

865

Heiner Marré Kooperation von Staat und Kirche und staatliche Kirchenförderung - vorbildhaft für Europa

879

Jörg Winter Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union

893

Gerhard Robbers Kirche und Staat in Schweden

Autoren Verzeichnis

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I. Verfassung und Gemeinschaft

.Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" eine Zwischenbilanz* Von Peter Häberle

I. „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" ist als Buch 1995 erschienen1. (Eine Übersetzung ins Japanische und Griechische liegt vor, eine erweiterte italienische Ausgabe ist im Druck.) Wenn heute, d. h. 1999, zu Ehren von A. Hollerbach eine Fortschreibung erfolgen sollte, wäre der Zeitraum von vier Jahren zu kurz, um sie in einer anspruchsvollen Weise: „Wahrheitsprobleme 1994 - 1999 revisited" zu gestalten. Im Nachstehenden geht es nur darum, die anhaltende, ja wachsende Aktualität des Themas in einer Art Zwischenbilanz oder „Nachlese" zu belegen. Sie zeigt sich einmal auf dem Felde der aktuellen - meist politischen - Tagesdebatte (1.), sodann in Gestalt der sich intensivierenden wissenschaftlichen Diskussion (2.). 1. Wahrheitsprobleme werden in der politischen Diskussion seit 1995 immer häufiger behandelt. In vorderer Reihe steht dabei die weltweite Aufmerksamkeit, die der „Wahrheitsausschuß" in Südafrika findet. Seine Tätigkeit wird von vielen großen Zeitungen referiert und kommentiert 2. Auch einzelne Sitzungen

* Der Jubilar A. Hollerbach war am 24. November 1994 bei der Präsentation des Buches im Freiburger Seminar von W. von Simson und J. Schwarze an der Diskussion beteiligt. Darum liegt es nahe, ihm die Fortschreibung des Themas im Jahre 1999 zu widmen. - Vom Jubilar stammt ein bemerkenswerter Besprechungsaufsatz des letzten Werkes von W. von Simson (Der Staat als Teil und als Ganzes, 1993): AöR 123 (1998), S. 122 ff. 1 Aus der Rezensionsliteratur: W. Brugger, JZ 1995, S. 1005 f.; C. Gusy, AöR 121 (1996), S. 468 ff.; H Sendler, NJW 1998, S. 2260 ff. - Jüngste Lit.: J. Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 207 ff. 2 Vgl. ζ. Β. Β. Grill, Ein Hauch von Nürnberg, Die „Wahrheitskommission" zur Aufklärung der Verbrechen während der Apartheid spaltet Südafrika, in: Die Zeit Nr. 50 vom 8. Dez. 1995, S. 11; Λ von Lucius, Der Wahrheitssucher (D. Tutu), FAΖ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vom 5. Dez. 1995, S. 18; NZZ (Neue Zürcher Zeitung) vom 19./20. Okt. 1996, S. 2: „Harzige Aufarbeitung der Apartheid, Kompetenzgerangel erschwert 'Wahrheitsfindung' in Südafrika"; FAZ vom 16. April 1996, S. 7: „Folter, Morde, Verschwinden, Anhörung der Zeugen vor dem Wahrheitsausschuß in Südafrika";

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Peter Häberle

dieses Ausschusses im Verfahren gegen „prominente" Personen wie den früheren südafrikanischen Verteidigungsminister Malan und P. W. Botha werden beobachtet3. Besondere Konflikte erwachsen daraus, daß sich südafrikanische Richter geweigert haben, vor dem Wahrheitsausschuß zu erscheinen4: ihre richterliche Unabhängigkeit werde kompromittiert. Der Wahrheitsausschuß als (neue) Institution wird auch zunehmend wissenschaftlich behandelt5. Und die Wahrheitskommissionen in südamerikanischen Staaten rühmt man als erfolgreiche Instrumente der Aufarbeitung und Versöhnung6. Dabei werden parallele Probleme erörtert, so wenn die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestages R. Siissmuth bei ihrem Besuch in Südafrika 1996 ihren großen Respekt gegenüber dem südafrikanischen „Modell" einer umfassenden Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung durch die Wahrheitskommission äußert und an die deutschen Bemühungen um die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit erinnert 7. Polen ringt mit seinem „Durchleuchtungsgesetz", das 1997 in Kraft getreten ist und die Untersuchung der Vergangenheit der politischen Führungsschicht erlaubt 8. Auch die Tschechische Republik praktiziert ein solches Durchleuchtungsgesetz, das von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates freilich jetzt kritisiert wurde 9. Italien ringt ebenfalls um Wahrheit: im Blick auf seine jüngere Geschichte10.

FAZ vom 13. Aug. 1997, S. 3: „Die Hani-Mörder gestehen ihre Tat und fordern Strafbefreiung"; FAZ vom 14. Nov. 1997, S. 17: „Südafrikas Wirtschaft entschuldigt sich, Apartheid jahrelang gestützt"; NZZ vom 15. April 1998, S. 5: „Eine Schonfrist für P.W. Botha?"; FAZ vom 22. Aug. 1998, S. 1: „Botha wegen Mißachtung des Wahrheitsausschusses verurteilt"; FAZ vom 20. Aug. 1998, S. 5: „Gab es ein Mordkomplott gegen den früheren UN-Generalsekretär Hammarskjöld? Enthüllungen zum Abschluß des Wahrheitsausschusses in Südafrika!" - Im Herbst 1998 hat Südafrikas Wahrheitskommission ihren Bericht vorgelegt. 3 Ζ. B. FAZ vom 4. März 1996, S. 6. 4 FAZ vom 28. Okt. 1997, S. 6. 5 Ζ. Β. A. Bollig, Der südafrikanische Wahrheitsausschuß, KAS Auslandsinformationen 11/1995, S. 53 ff.; E. Hahn-Godeffroy, Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission, 1998. 6 Vgl. D. Nolte , Der Ausweg aus dem Dilemma: Die Wahrheitskommission, Frankfurter Rundschau vom 20. Jan. 1997, S. 12; ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt/M. 1996; F. Venter , Die verfassungsmäßige Überprüfung der Rechtsgrundlagen von Südafrikas „Truth and Reconciliation Commission", ZaöRV 57 (1997), S. 147 ff. - Seit 1997 gibt es auch in Guatemala eine Wahrheitskommission, dazu SZ (Süddeutsche Zeitung) vom 3. Sept. 1998, S. 9. 7 FAZ vom 24. Febr. 1996, S. 4; vgl. auch FAZ vom 4. Nov. 1996, S. 8: „Viel Lob Schmidt-Jortzigs für Südafrika" (er war Bundesjustizminister). 8 Dazu FAZ vom 20. Juni 1997, S. 8; FAZ vom 14. Mai 1998, S. 8: „Mangelhafte Umsetzung des ,Durchleuchtungsprinzips 1", FAZ vom 19. Juni 1998, S. 8: „Polen will dem Vorbild der deutschen Gauck-Behörde folgen"; vgl. auch FAZ vom 18. Nov. 1997, S. 6: „Nur ein Teil der Wahrheit, Stasi-Akten in Bulgarien geöffnet." - In Polen soll das neue Gesetz über das „Institut des nationalen Gedenkens" das „Durchleuchtungsgesetz" ergänzen (vgl. FAZ vom 23. Sept. 1998, S. 8).

„Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" - eine Zwischenbilanz

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Speziell im schwierigen deutsch-tschechischen Aussöhnungsprozeß haben „Wahrheit" und „Wahrhaftigkeit" zu recht einen hohen Stellenwert erlangt was angesichts der tschechischen Wahrheitsphilosophie-Tradition besonders naheliegt11. Vor allem die Vorgänge in Ex-Jugoslawien haben viel Literatur zum Thema „Wahrheit" bzw. „Lüge" hervorgebracht 12. Und immer wieder muß sich die deutsche NS-Zeit dem Wahrheits-Test stellen13. Auch die Diskussion um das Verbot der „Auschwitzlüge" (vgl. BVerfGE 90, 241) hält an 14 . Jüngst flammt in Deutschland der Streit um den „Lügendetektor" neu auf. Selbst der letzte Präsident der UdSSR, M Gorbatschow, sieht sich unversehens mit dem Wahrheitsproblem konfrontiert 15 . Denn es gehört zur Kompetenz freier Gesellschaften, hier gegenüber totalitären Staaten kritisch sagen zu können, daß dort der Staat oder die Staatspartei „die Wahrheit bestimmt" 16 . In Frankreich hat das jahrelange offizielle Verheimlichen der schweren Krebserkrankung des Staatspräsidenten F. Mitterrand zu der Schlagzeile „Die Staatslüge" geführt 17. Im gleichen Frankreich hat ein Gericht in Paris jüngst ein „Armenien-Urteil" gefallt: Ein amerikanischer Historiker, der die türkischen Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg leugnete, wurde zur Bezahlung eines „symbolischen Franc" verurteilt 18 . Japan tut sich offenbar schwer, in den Prozessen gegen die Aum-Sekte die Prinzipien seiner rechtsstaatlichen Demokratie, das faire Verfahren und den von ihm so hochgehaltenen buddhistischen Toleranzgedanken durchzuhalten 19. In den USA rührt die Lüge Präsident B. Clintons in der Lewinsky-Affäre (1998) an ein Fundament der Verfassung 20.

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FAZ vom 24. Sept. 1997, S. 8. - Zur Slowakei FAZ vom 18. Nov. 1999, S. 8.

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Vgl. H.-J. Fischer, Beten ftir Andreotti, Annäherung an die Wahrheit über die langjährige Hauptfigur der italienischen Politik, FAZ vom 22. Sept. 1995, S. 16. 11 J.G. Reissmüller, Wahrhaftigkeit versöhnt, FAZ vom 20. Dez. 1996, S. 1; vgl. auch FAZ vom 25. Jan. 1997, S. 38: „Gibt es ein Leben nach der Wahrheit: Die Tschechen würdigen nach 20 Jahren die Charta 77"; FAZ vom 15. Dez. 1995, S. 10: „Weizsäcker fordert Wahrhaftigkeit". 12 Z. B. D. Ugresic, Die Kultur der Lüge (aus dem Kroatischen übersetzt), 1995. 13 Z. B. G. Sereny, Das Ringen mit der Wahrheit, A. Speer und das deutsche Trauma, 1995. 14 S. Huster, Das Verbot der „Auschwitzlüge", die Meinungsfreiheit und das BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1996, S. 487 ff. 15 Vgl. H. Sendler, Gorbatschow und die lautere Wahrheit - Neue Erkenntnisse zum Restitutionsausschuß und zu einer verdeckten Junkerabgabe?, NJW 1997, S. 3235 f. 16 Vgl. FAZ vom 20. Dez. 1995, S. 3: „Das Politbüro bestimmt die ,Wahrheit', Ausweisung eines Journalisten aus China". 17 So F. Gsteiger, Die Staatslüge, aus Anlaß der Rezension des Buches von C Gubler/M. Gonod, Le Grand Secret, in: Die Zeit Nr. 5 vom 26. Januar 1996, S. 15. 18 FAZ vom 24. Juni 1995, S. 31. 19 Vgl. U. Schmitt, Den Galgen für die Wahrheit, Bei den Prozessen gegen die AumSekte steht Japans Ruf als Rechtsstaat auf dem Spiel, FAZ vom 16. Dez. 1995, Beilage Ereignisse und Gestalten. 2 FS Hollerbach

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Peter Häberle

Darüber hinaus sind die Medien und ihre Arbeit ins Gerede gekommen21. Konsequenterweise hat sich der deutsche Begriff „publizistische Sorgfalt" zu einem zentralen Begriff des Medienrechts entwickelt 22 , so daß man mit einer italienischen Tradition vielleicht zwischen Journalistischer" und „gerichtlicher" Wahrheit unterscheiden könnte 23 . Schließlich hat der Fall des Dichters S. Hermlin 1996 Schlagzeilen gemacht: Er hatte seine Biographie gefälscht und bewußt gelogen, „um zu überleben" (sog. „Lebenslügen")24. Jüngst wird der Wahrheitsgehalt der KZ-Kindheitserinnerungen des Erfolgsautors B. Wilkomirski („Bruchstücke") angezweifelt, sie wurden 1999 zurückgezogen. Ein weiteres Feld, auf dem wegen aktueller Vorkommnisse das Wahrheitsthema behandelt wird, ist die Fälschung in der Wissenschaft 25. Es ging um bekannt gewordene Fälschungen eines deutschen Mediziners bzw. Laboratoriumsleiters, der seine Ergebnisse schönte, um mehr Geld zu erhalten. Mittlerweile gibt es eine Diskussion über die Einsetzung gemischter Kommissionen zur Aufklärung von Verstössen gegen das wissenschaftliche Ethos 26 - im Grunde eine Art spezielle Wahrheitskommission, die jedoch selbst wohl keine Sanktionen verhängen kann, d. h. ganz auf den Verfassungsstaat und seine nationale Öffentlichkeit wie die internationale Öffentlichkeit angewiesen ist.

20 Dazu R. Leicht, Das obszöne Verfahren, Wie im Umgang mit B. Clinton Wahrheitssuche zur Heuchelei wird, in: Die Zeit Nr. 40 vom 24. Sept. 1998, S. 17. 21 So haben die Münchner Medientage über den „Skandaljournalismus" und den „schillernden Wahrheitsbegriff 1 debattiert, vgl. Nordbayerischer Kurier vom 19./20. Okt. 1996, S. 3; vgl. auch P. Voss, Trau, schau wem, Gefälschte Bilder und hoher Erwartungsdruck - sendet das Fernsehen die Wahrheit?, FAZ vom 30. Jan. 1996, S. 34. 22 Aus der Lit.: Β. Peters, Die publizistische Sorgfalt, NJW 1997, S. 1334 ff. 23 Der Präsident Venezuelas Caldera forderte, Medien seien in der Demokratie zu „wahren Informationen" verpflichtet. Südamerikanische Pressevereinigungen befurchten dadurch aber gerade eine Zensur (FAZ vom 8. Nov. 1997, S. 8). - Ein erstaunlicher Wahrheitstext in Verfassungsform fand sich schon in der alten Verf. des Schweizer Kantons Unterwaiden (1877), Art. 12 Abs. 1: „Die freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift und die Freiheit der Presse innert den Schranken der Wahrheit, Sittlichkeit und Religion ist zugesichert." „Unverfälschte Stimmabgabe" schützt Art. 34 Abs. 2 nBV Schweiz. 24 Vgl. das Spiegel-Gespräch „Des Dichters wahre Lügen", in: Der Spiegel 41/1996, S. 257 ff. - S. auch K. Corino, Ein Gesamtkunstwerk der Täuschung, Wie sich der Dichter S. Hermlin mit schlecht konstruierten Lügen ein neues Leben erfand, FAZ vom 29. Okt. 1996, S. 41. 25 So gleichnamig: W. Frühwald, der Präsident der DFG, in: Forschung, Mitteilungen der DFG 2-3/95, S. 3 (30 ff.); R. A. Zell, Der Autor als Phantom, Fälschung in der Wissenschaft ist zum Thema geworden, in: Die Zeit Nr. 32 vom 1. Aug. 1997, S. 30. Vgl. jetzt den Ehrenkodex der DFG mit 16 Empfehlungen (FAZ vom 17. Dez. 1997, S. 5) sowie D. Simon, Die Wahrheit muß erfunden werden (FAZ vom 18. Dez. 1997), S. 40. 26 Dazu S. Stegemann- Β oehl, Wer wacht über die wissenschaftliche Lauterkeit?, FAZ vom 9. Juli 1997, S . N 1.

„Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" - eine Zwischenbilanz

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Schließlich sei - der vom Verf. stets gewählten Methode gemäß27 - aus dem unerschöpflichen Reservoir der Kunst erneut an Dichter, Maler und Musiker gedacht28: So endet das Gedicht von F. Nietzsche „Im Süden" mit den Zeilen: Im Norden - ich gestehs mit Zaudern-/ Liebt ich ein Weibchen, alt zum Schaudern: „Die Wahrheit" hieß dies alte Weib... .

Der Philosoph Nietzsche hat freilich auch die Worte von den „vielerlei Wahrheiten" gewagt. Wie nah sich Kunst und Philosophie, Verfassungslehre und Musikwissenschaft sind, mag jetzt ein Beitrag von H.-K. Metzger belegen, der „Reflexionen zur ersten Internationalen Woche fur Neue Orgelmusik" in Trossingen (1997) zum Gegenstand hat: „Gibt es eine oder mehrere Wahrheiten?" 29 . Schließlich mündet eine neuere Bildbetrachtung von W. Hofmann in bezug auf G. Bellinis berühmte „Allegoria sacra" (1490) in die These30, Kunst und Religion konvergierten auf der Plattform einer Wahrheit, die besage, daß es mehrere Wahrheiten gebe. Diese Offenheit habe in Bellinis Gemälde eine unerschöpfliche Metapher. 2. Der philosophische bzw. rechtsphilosophische Wahrheitsdiskurs hat sich seit 1995 intensiviert. Das zeigt eine Abhandlung von M. R. Deckert über „Recht und Wahrheit" 31 sowie ein Festschriftenbeitrag von G. Sprenger 22. Auch philosophiegeschichtlich liegt eine neue Arbeit vor: J. Szaif Piatons Begriff der Wahrheit, 199633. Der Philosoph A. Baruzzi legt 1996 eine „Philosophie der Lüge" vor. Nachdenklich muß auch das selbstkritische (?) Eingeständnis von

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Vgl. nur P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983; ders., Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; ders., Das Weltbild des Verfassungsstaates, FS Kriele, 1997, S. 1277 (1295 ff., in bezug auf die Weimarer Klassik, aber auch Shakespeare oder Milton)', ders., Europäische Verfassungslehre..., 1999, S. 135. 28 Vgl. auch die Provokation von P. Picasso (zit. nach FAZ vom 23. August 1997 (Beilage): „Wir wissen alle, daß Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Der Künstler muß wissen, auf welche Weise er die anderen von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen kann". Ebd. auch die Lehre Dantes von der „verità ascosa sotto bella menzogna". 29 FAZ vom 6. Aug. 1997, S. 31. 30 W. Hofmann, Es gibt viele Wahrheiten, FAZ vom 23. August 1997, Beilage. 31 Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1996, S. 43 ff. 32 Vom Wert der Wahrheit und der Wahrheit des Wertes im Recht, in: Recht und Ideologie, FS für H. Klenner, 1996, S. 190 ff.; vgl. auch A. Gouron u.a. (Hrsg.), Juristische Wahrheit und justizieller Irrtum, 1998, und F. Fernàndez-Armesto, „Wahrheit", Die Geschichte. Die Feinde. Die Chancen, 1998; J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 1999. 33 Vgl. schon W. Luther, Sprachphilosophie als Grundwissenschaft, Heidelberg 1970, S. 179 ff. Weiterführung von ders., Wahrheit und Lüge im ältesten Griechentum, Leipzig 1935; ders., Wahrheit, Licht und Erkenntnis in der griechischen Philosophie bis Demokrit, Bonn 1966. - Ein Klassiker dürfte sein: Κ Jaspers, Von der Wahrheit (1947, 13. Aufl. 1997). 2*

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Ν. Luhmann stimmen, für den sich schwer ausmachen läßt, ob systemtheoretische Analysen als „wissenschaftlicher Fortschritt" angesehen werden können: Jedenfalls gehe es „nicht um Wahrheitsgewinne der Art, daß das, was vorher für wahr gehalten wurde, nunmehr als unwahr zu gelten hat" 34 . Die erstmalige Publikation von J.-P. Sartres Traktat „Wahrheit und Existenz" (1948) in deutscher Sprache (1996) dürfte mittelfristig den Diskurs über Wahrheitstheorien anregen. Gleiches gilt für W. V. O. Quines Buch „Unterwegs zur Wahrheit" (1995). Schließlich haben jüngst J. Habermas und R. Dworkin im Fernsehen wahrheitstheoretische Erörterungen unternommen, in denen das „faire Verfahren", in welchem die „besseren Argumente" zählen, ebenso eine Rolle spielen wie das Bedingheitsverhältnis von Rechtsstaat und Demokratie sowie Mehrheitsprinzip, Freiheitsgarantien und soziale Rechte35. Damit haben beide Philosophen aber eine bemerkenswerte Brücke zu den Strukturprinzipien des Verfassungsstaates geschlagen, der so nicht nur ein Forum für Wahrheitstheorien geworden ist, sondern selbst ein Stück Wahrheitssuche darstellt. T. G. Ash hat die Verfahren zur „Aufarbeitung des Kommunismus" kürzlich wohl erstmals umfassend systematisiert und dank des Vergleiches der verschiedenen Nationen bzw. Verfassungsstaaten „vier Wege zur Wahrheit" beobachtet 36 : erstens der Weg der Justiz (Beispiel Deutschland nach 1989 im Blick auf SED und Stasi, oder Bulgarien); zweitens der Weg der administrativen Disqualifizierung einzelner Personen oder ganzer Gruppen (Überprüfung, Berufsverbot, Lustration, Beispiel Deutschland und Tschechoslowakei); drittens die Wahrheitskommissionen (Beispiel Südafrika und lateinamerikanische Staaten); viertens der Weg der Öffnung der Akten des alten Systems für wissenschaftliche, publizistische und individuelle Aufarbeitung (Beispiel Deutschlands „Gauck-Behörde" sowie die Enquêtekommission des Deutschen Bundestages). Damit liefert er strukturiertes Vergleichsmaterial, auf dem eine als Kulturwissenschaft arbeitende Verfassungslehre aufbauen kann, auch rechtspolitisch.

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N. Luhmann, Das Gedächtnis der Politik, ZfP 1995, Heft 2, S. 109 ff. Vgl. J. Ross, Ist Wahrheit eine Art Obrigkeit?, FAZ vom 27. Juni 1995, S. 36. 36 T. G. Ash, Vier Wege zur Wahrheit, in: Die Zeit Nr. 41 vom 3. Okt. 1997, S. 44, wobei auch die von Spanien nach dem Ende des Franco-Regimes gewählte Möglichkeit des „sanften Überganges" in den Blick kommt (Strategie des Vergessens, wie früher im Italien und Österreich der Nachkriegszeit, im Frankreich de Gaulles (Vichy!) und nach 1989 zunächst auch in Polen. Klassiker dieses Weges sind Ciceros Aufruf von 44 v. Chr., jegliche Erinnerung an die mörderischen Zwieträchtigkeiten durch „ewiges Vergessen" zu tilgen, sowie Churchills Züricher Rede von 1946: „blessed act of oblivion"). - Bemerkenswert ist die Widerspiegelung der juristisch-politischen Wahrheitsdiskussion in der Kunst Südafrikas: B. Grill, Das Theater der Wahrheit und die Wahrheit des Theaters in Südafrika, in: Die Zeit Nr. 46 vom 7. Nov. 1997, S. 59; M. Ammicht, Das schwierige Geschäft der Versöhnung, Mit der „Truth Commission" setzen sich gleich zwei südafrikanische Gastspiele auseinander, SZ vom 22./23. Nov. 1997, S. 16. - Wenig ermutigend ist der Titelbeitrag in GEO Nr. 5 vom Mai 1998, S. 70 ff.: „Warum wir alle lügen, Lug und Trug als Lebensprinzip". 35

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II. Nach dieser - gewiß nur fragmentarischen - „Fortschreibung" der vielen ζ. T. neuen Anwendungsfelder der Wahrheitsprobleme stellt sich die Frage, was die Verfassungslehre 1999 daraus lernen kann. Da sie selbst „Kulturwissenschaft" ist, vermag sie auch leichter von den Erkenntnissen anderer Kulturwissenschaften zu lernen und das Gespräch mit den Künsten zu suchen. Sicher läßt sich sagen, daß die Wahrheitsprobleme mit dem Typus „Verfassungsstaat" existentiell verknüpft sind: weil er sich in seinen Prämissen immer auf der Wahrheitssuche weiß und weil der Mensch als Kulturwesen auf Wahrheit, mindestens auf „Wahrhaftigkeit" angewiesen und auch „angelegt" ist. Der Verfassungsstaat als Rahmenordnung der offenen Gesellschaft kennt die Wahrheiten „im Plural" als kulturelle Konnexbedingungen von Freiheit, auch Demokratie, von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Der Verfassungsstaat hat klassische Verfahren zur Wahrheitsfindung entwickelt, etwa im Strafverfahren, er hat aber offenkundig auch heute noch die Kraft, neue Verfahren zu (er)finden: Das beweisen die südafrikanischen und südamerikanischen Wahrheitskommissionen (die freilich in ihrem Verhältnis zur Justiz noch zu klären sind). Daß ihre Ziele nicht die Durchsetzung des Strafrechts 37, sondern die Vergangenheitsbewältigung, die Versöhnung und ggf. die Einleitung von Amnestien sind 38 , eröffnet ihnen neue Möglichkeiten. Ihre Einrichtung zeigt aber auch, daß der Verfassungsstaat sich dem „ewigen" Ziel der Wahrheitssuche kreativ-innovativ anzunähern vermag und seine Reformfähigkeit bis heute und auch nach 1989 keineswegs erschöpft ist. Welchen der vier Wege zur Wahrheit i. S. von Ash er wählt, hängt auch von der Mentalität eines Volkes bzw. seinen Erfahrungen ab. Deutschland ist besonders auf den Rechtsstaat (nicht gleichermaßen auf die Demokratie) fixiert: „Wahrheitskommissionen" sind ihm - noch - fremd. Deren Erfolg in Übersee kann aber auch den (West-)Europäern helfen, das Wort „Wahrheit" wieder (gedämpft) optimistisch und ohne Hemmungen zu gebrauchen! Aber auch die Menschheit insgesamt (bzw. das Völkerrecht als „Menschheitsrecht") scheint den Kulturwert „Wahrheitssuche", „Wahrhaftigkeit", was auch mit dem Entstehen einer an den Menschenrechten geschulten öffentlichen Welt-Meinung zusammenhängt, immer klarer zu erkennen (Beispiel UNTribunal in Den Haag). In religiösen Bereichen wird das Gespräch der „Wahrheitskonkurrenten" den Juden, Christen und dem Islam (auch den Buddhisten) i. S. der Ringparabel von Lessing innerstaatlich wie universal eine nicht mehr

37 Vgl. für Deutschland: F.-C. Sehr oeder, Geschichtsbewältigung durch Strafrecht?, Deutsche Richterzeitung 1996, S. 82 ff.; H. Sendler, Strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit oder Amnestie?, NJW 1997, S. 3146 ff. 38 So erregt eine Zeitungsnotiz Aufmerksamkeit, wonach der südafrikanische Verteidigungsminister Modise vor der Wahrheitskommission eine Amnestie für sich beantragen möchte (FAZ vom 8. Juni 1996, S. 7).

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zurücknehmbare Einsicht sein 39 . Der pluralistischen Demokratie ist der Kritische Rationalismus eines Popper als Philosophie kongenial: die Theorie von den Hypothesen, die durch Revisionen verbessert werden müssen - und können - , um immer „wahrheitsähnlicher" zu werden. Dabei kann man freilich an der Skepsis J. W. von Goethes nicht vorbeigehen, weil sie anthropologisch begründet ist: „ein factum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas bedeutet hat" - wie überhaupt die „Gegenklassiker" der Wahrheitsphilosophie von Schopenhauer über Nietzsche bis Feyerabend als Herausforderung ernst zu nehmen sind. Auf der Ebene des nationalen Verfassungsstaates wie der universalen „Menschheit" 40 sollte man die Vielfalt der Wahrheitstheorien als Teilaspekte immer mit bedenken: d. h. die „.Korrespondenztheorie " (Angleichung - „adaequatio" von Sache und Verstand), die „.Kohärenztheorie" (innere Widerspruchsfreiheit der Sätze), die „.Konsenstheorie " besonders von J. Habermas (mit ihrer Akzentuierung der Übereinstimmung der Subjekte: „Konsens aller vernünftigen Menschen", „ideale Sprechsituationen"), schließlich die „.Konvergenztheorie" von A. Kaufmann \ die den Konsenstheorien vorhält, der Versuch, Inhalte aus der Form abzuleiten, schlage fehl: der Diskurs ersetze nicht das Wissen und die Erfahrung der „Diskurspartner". Dabei kann die vermittelnde Einsicht A. Kaufmanns wegleitend sein: Die Korrespondenztheorie ohne die Konsenstheorie sei „blind", die Konsenstheorie ohne die Korrespondenztheorie sei „leer". Der demokratische Wahrheitsbegriff der USA (d. h. Wahrheit aus Öffentlichkeit der Meinungsbildung bzw. aus kulturellem Pluralismus) kann diese Synthese aus gelebter Praxis seit 1787 bestätigen. Der Jurist sollte auf seinen „autonomen" Wahrheitsdiskurs Wert legen und bereichsspezifisch/fiinktional arbeiten: Der freien Presse ist ein anderes Verhältnis zur Wahrheit erlaubt als dem Richter oder dem Mitglied einer Wahrheitskommission oder der wissenschaftliche Fälschungen aufdeckenden gemischten Kommission. Die besonders vielen Wahrheiten der Künste haben ihr eigenes „Universum". /. Kant kann nicht gegen Picasso in Stellung gebracht werden, wohl aber IV. von Humboldts Bemühen um Wahrheit als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz

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Bemerkenswert das „Zeit-Interview" des Wiener Kardinals F. König, in: Die Zeit Nr. 31 vom 28. Juli 1995, S. 5: „Wahrheit ist in allen Religionen enthalten. Ihre Vielfalt hängt mit dem Wesen des Menschen zusammen und nicht - wie man früher meinte - mit der menschlichen Entwicklung, gleichsam als deren Nebenprodukt. Wenn die Kirche, wie sie es zum Teil getan hat, allein die Wahrheit zu vertreten meint, halte ich das nicht für richtig."; S. auch S. M. Chatami (Staatspräsident des Iran): „Keine Religion ist im Besitz der absoluten Wahrheit" (FAZ vom 26. Sept. 1998, S. 35). 40 Dazu mein Beitrag: Das „Weltbild" des Verfassungsstaates - eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem" Geltungsgrund des Völkerrechts, FS Kriele 1997, S. 1277 f. 41 A. Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, 1984; ders., Recht und Rationalität, FS Maihofer, 1988, S. 11 ff. - Anders W. Leisner, Die Staatswahrheit, 1999.

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Aufzufindendes" (vgl. auch BVerfGE 35, 79 [113]) gegen die Fälscher von Forschungsergebnissen bzw. -wegen. Die Wahrheitstexte in Verfassungs-Präambeln sind nicht ontologischer, sondern verfassungsethischer Natur, die, wie 1997 beispielhaft in Polen, alternativ Gott oder universelle Werte zum Thema haben. In all dem wirkt die Denktradition nach, die mit Ibn-Roschds (1126 bis 1198) Lehre von der „veritas duplex" begann und den Dichter R. Musil 1902 sagen läßt: „Es gibt Wahrheiten, aber keine Wahrheit". Im übrigen bleiben schon klassische Prinzipien des Verfassungsstaates konstituierend: das verfassungsstaatliche, aus der Menschenwürde i. S. /. Kants sich ergebende Verbot der Lüge einerseits („Wer lügt, verletzt die Würde von sich und der Menschheit"), aber auch die - begrenzte - Zulässigkeit des nur scheinbar technischen Gerechtigkeitsinstruments der Fiktionen 42 , schließlich das Erziehungsziel „Wahrhaftigkeit", z. B. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz. Wenn manche neuen Verfassungen sogar in ihren Texten auf die „Wahrheit" appellativ Bezug nehmen (so Präambel Verf. Polen [1997]) 43 , so bestätigt dies die Richtigkeit der Frage nach „Wahrheitsproblemen im Verfassungsstaat". Zu ihnen gehört die Erkenntnis, daß die Wahrheit eine „Form der Gerechtigkeit" ist 44 , freilich auch die Einsicht, daß es kulturelle Wahrheitsbedingungen gibt. Der Verfassungsstaat ist eine solche, nicht zuletzt dank seiner drei kulturellen Freiheiten: Kunst, Wissenschaft und Religion.

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Dazu jetzt: M. Jachmann, Die Fiktion im öffentlichen Recht, Berlin 1998. So Präambel Polen (1997): „... sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten..."; s. auch Präambel Verf. Philippinen (1986): „... under the rule of law and a regime of truth, justice, freedom ..." Die Konnexität von Rechtsstaatlichkeit, Wahrheitsherrschaft, Gerechtigkeit und Freiheit ist vorbildlich. Zum ganzen noch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 517, 630 f. 44 So der Chefankläger des UN-Kriegsverbrecher- bzw. Jugoslawien-Tribunals R. Goldstone in Den Haag, in einem Interview mit der „Zeit" (Nr. 35 vom 23. Aug. 1996, S. 4: „Wahrheit als Form der Gerechtigkeit"). Goldstone vertritt überdies die Auffassung, Wahrheitskommissionen mit der Möglichkeit der Amnestierung geständiger und reuiger Täter, setzten die Zustimmung der Opfer voraus (dies auf die Frage, welches der beiden Modelle Tribunal oder Wahrheitskommission er fur Ex-Jugoslawien, Ruanda oder Deutschland empfehle). 43

Zum Gebrauch des Wortes „Menschenrechte" in der Geschichte der deutschen Rechts- und Staatsrechtslehre Von Hisao Kuriki

I. 1. Zum erstenmal in der deutschen Verfassungsgeschichte hat das Bonner Grundgesetz die Menschenrechte verfassungsrechtlich statuiert. Damit hat Deutschland nun begonnen, den gemeinsamen Weg mit anderen westeuropäisch-amerikanischen Staaten zu gehen. Hat Deutschland aber dann seinen Sonderweg verlassen1? Bei der Beantwortung dieser Frage scheint der Umstand relevant zu sein, daß das Grundgesetz außer den Menschenrechten noch die Grundrechte verfassungsrechtlich statuiert hat. Stellt nicht diese Zweigleisigkeit der Gewährleistung der Rechte doch eine deutsche Sonderheit dar? Was bedeutet diese Zweigleisigkeit? Es gibt verschiedene Versuche der Erklärung der Beziehung zwischen den Menschenrechten und den Grundrechten. Im Endergebnis kann die Beziehung so verstanden werden, daß grundsätzlich allein die Grundrechte die rechtsverbindliche Kraft haben, während die Menschenrechte nur die Grundlage der rechtsverbindlichen Kraft der Grundrechte bleiben2. Die Zweigleisigkeit stellt insofern keine deutsche Sonderheit dar, als die Grundrechte als die ins positive Recht transformierten Menschenrechte, als die konkretisierten Menschenrechte verstanden werden 3. Das kann auch dann nicht anders sein, wenn das Problem der Zweigleisigkeit nicht als Problem der Zwei-

1 Zum Problem „deutscher Sonderweg" vgl. Diethelm Klippel, Die Theorie der Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: H. Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988-1990), 1991, S. 349. 2 Zu diesem Problem vgl. Alexander Hollerbach, Artikel „Menschenrechte", in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3 (1987), Sp. 1104 f.; Jürgen Valentin,, Grundlagen und Prinzipien des Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes, 1991, S. 63 ff., 103 f f ; Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 14 ff. 3 Vgl. vor allem Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, S. 32 f f ; Joseph Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, S. 371 ff.

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schichtigkeit der Geltung, sondern als Problem der personellen Anwendungsbereiche verstanden wird und die Grundrechte als Menschenrechte und Bürgerrechte umfassend begriffen werden 4. Jedenfalls kann man die Grundrechte mit den Menschenrechten grundsätzlich gleichsetzen, wie gegenwärtig viele Autoren das machen. 2. Trotzdem erscheint die Zweigleisigkeit merkwürdig, weil in vielen anderen Staaten die Menschenrechte schon als solche rechtsverbindliche Kraft haben, während in Deutschland die Menschenrechte grundsätzlich erst vermittelt durch die Grundrechte rechtsverbindliche Kraft gewinnen können. Die Zweigleisigkeit scheint aus dem geschichtlichen Umstand notwendig geworden zu sein, daß einerseits den Menschenrechten die rechtsverbindliche Kraft abgesprochen worden, andererseits den Grundrechten der menschenrechtliche Bezug verloren gegangen ist. Das erscheint eigenartig. Es gibt gegenwärtig die beachtenswerte Tendenz, auch unter geschichtlichem Gesichtspunkt einen deutschen Sonderweg zu verneinen. Es steht fest, daß schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sogar vor der französischen Menschenrechtserklärung, auch in Deutschland in Wissenschaft und Publizistik die Menschenrechte sehr eifrig erörtert wurden und sie von vielen Autoren anerkannt worden sind5. Man könnte sogar sagen, daß auch in Deutschland der Menschenrechtsgedanke darüber hinaus bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts seine Wirkungen behalten hat. Aber seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts haben die gewährleisteten Rechte der Staatsbürger, ja sogar die Grundrechte, die menschenrechtliche Untermauerung verloren. Seit diesem Zeitpunkt ist der bejahende Gebrauch des Wortes „Menschenrechte" in der Rechts- und Staatsrechtslehre immer seltener geworden. Deshalb müßte man den deutschen Sonderweg unter dem geschichtlichen Gesichtspunkt erst von diesem Zeitpunkt an beginnen lassen. Im folgenden soll die Geschichte des Gebrauchs des Wortes „Menschenrechte" verfolgt werden, um die geschichtliche Ursache des deutschen Sonderwegs deutlich zu machen.

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Ζ. B. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 129. 5 Darüber vor allem vgl. Klippel (Anm. 1), S. 349, 383, 385; über die Diskussion über die Menschenrechte in der Publizistik vgl. Hans Erich Bödeker, „Menschenrechte" im deutschen publizistischen Diskurs vor 1789, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 1978, S. 392 ff.; darüber, daß A. L. Schlözer bereits in der Zeit vor der französischen Revolution häufig von „Menschenrechten" spricht, vgl. Werner Hennies, Die politische Theorie August Ludwig Schlözers zwischen Aufklärung und Liberalismus, 1985, S. 253.

Zum Gebrauch des Wortes „Menschenrechte"

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II. 1. Es gibt einen Meinungsstreit darüber, ob schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts der Menschenrechtsgedanke vorhanden ist. Samuel v. Pufendorf hat die Pflicht des Menschen zu sehr betont, um die Rechte des Menschen anerkennen zu können. Er hat dem Menschen zwar die natürliche Freiheit zuerkannt, aber nur um auf sie im staatlichen Zustand verzichten zu lassen6. Christian Wolff hat zwar eine ziemlich bunte Vielfalt einzelner Rechte des Menschen entwickelt, aber das geschah allein um dessen Pflichten willen 7 . Man könnte sagen, daß vor der Mitte des 18. Jahrhunderts die Menschenrechte, wenn sie überhaupt anerkannt wurden, höchstens als logische Folge aus den Menschenpflichten 8. Dieser Zusammenhang ist in den Ausführungen von Johann Salomo Brunnquell klar zum Ausdruck gekommen, „...daß ein Regent, er möge absolut oder nicht absolut regieren, doch Menschen zu Unterthanen habe, welche weil Sie seine Unterthanen sind, nicht aufhören Mensch zu seyn, . . . . Regiert... ein Regent absolut, so daß Er keine Verträge mit seinen Unterthanen aufgerichtet, noch Fundamental-Gesetze oder Capitulation beschworen, bleibt er dennoch ein Mensch, und kann also diejenigen Pflichten, welche nach dem absoluten natürlichen Recht alle Menschen als Menschen gegen einander inacht nehmen müssen, nicht übertreten, ... " 9 . 2. a) Schon bei Brunnquell ist ansatzweise der Gedanke der Unveräußerlichkeit der natürlichen Freiheit aufgetreten 10. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts ist dieser Gedanke immer stärker geworden. Nunmehr ist die natürliche Freiheit von dem beim Gesellschaftsvertrag zu Verzichtenden in das im bürgerlichen oder staatlichen Zustande zu Beachtenden oder Schützenden umgewandelt worden. Von da an ist sogar der bürgerliche oder staatliche Zustand als der natürliche Zustand begriffen worden, weil der Mensch zur Verwirklichung seiner Bestimmung in diesem Zustand leben soll und in diesem Sinne der bürgerliche

6 Samuel von Pufendorf Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (hrsg. und übers, von Klaus Luig), 1994, S. 160 f f ; Dieter Wyduckel, Der Vertragsgedanke bei Samuel Pufendorf, in: B. Geyer/H. Goerlich (Hrsg.), Samuel Pufendorf und seine Wirkungen bis auf die heutige Zeit, 1996, S. 47. 7 Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektive, 1995, S. 60. 8 Hofmann (Anm. 7), S. 31, 81; vgl. dazu auch Christoph Link, Menschenrechte und bürgerliche Freiheit, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, G. Leibholz/H. J. Faller/P. Mikat/H. Reis (Hrsg.), 1974, S. 282, 289 ff., 296. 9 Johann Salomo Brunnquell, Eröffnete Gedanken von dem Allgemeinen StaatsRecht und dessen höchst nützlichen Excolirung, 1721, S. 38 f.; zu Brunnquell vgl. Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976, S. 56, 97, 99, 110. 10 Brunnquell {Anm. 9), S. 38.

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oder staatliche Zustand für den Menschen lebensnotwendig ist 11 . Auch das Konzept und das Wort „Menschenrechte" treten in solchem Kontext mit der Bedeutung der wegen der Verwirklichung der menschlichen Bestimmung im staatlichen Zustand am höchsten zu schützenden Rechten auf. In systematischer Darstellung tritt das Wort „Menschenrechte" zuerst in Johann August Schlettweins „Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen" (1784) auf 12 . In diesem Buch findet sich das Wort „MenschenRechte" an vielen Stellen. Ein Beispiel: „Dies soll nach dem gesunden MenschenSinne in der bürgerlichen Gesellschaft die HauptAbsicht seyn, daß ein jeder die vollkommenste Garantie aller seiner MenschenRechte, und des Genusses derselbigen darinnen findet. ... Je mehr die Bürger in ihren MenschenRechten eingeschränkt werden, desto evidenter ist die Unvollkommenheit des Staats. Ein jeder Menschenverstand fühlt das, daß die Vollkommenheit des Staats zunimmt, wenn die MenschenRechte mehr Schutz darinnen findet" 13. b) Jetzt beginnen die Naturrechtslehre und das Allgemeine Staatsrecht als die Anwendung der Naturrechtslehre auf den Staat, sich mit dem Problem zu beschäftigen, auf welche Weise der Staat bestehen soll, um den Menschenrechten gerecht zu werden. Das Hauptinteresse der Wissenschaft richtet sich naturgemäß auf die Begrenzung der Staatsgewalt. Die Begrenzung wurde auf zweifache Weise versucht. Erstens wurde die Begrenzung der Staatsgewalt durch die strenge Beschränkung der Staatstätigkeit auf das zur Verwirklichung des Staatszweckes unbedingt Notwendige, und zwar durch die strikte Beschränkung des Staatszweckes auf das richtig verstandene Gemeine Beste versucht. Dabei wurde als das Gemeine Beste die Ermöglichung des Genusses der Menschenrechte durch alle verstanden. Das Gemeine Beste ist insofern mit dem Privaten Besten aller gleichgesetzt14. Ferner wurde die staatliche Tätigkeit auf die Aufrechterhaltung der Sicherheit beschränkt, um die Autonomie des Individuums zu achten. 11 Karl Ludwig Pörschke, Vorbereitungen zu einem populären Naturrechte, 1795, S. 8; Johann Adam Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrecht mit einer Kritik der neuesten Konstitution der französischen Republik, 1796 (1975), S. 189 ff.; Diethelm Klippel, Politische Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Aufklärung als Prozeß, 1987, S. 75, 78. 12 Johann August Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, 1784, S. 63, 361, 451, 457, 464, 483. 13 Schlettwein (Anm. 12), S. 451. 14 Schlettwein (Anm. 12), S. 445, 457, 483; Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, 1798, S. 313; Karl Ignaz Wedekind, Von dem besonderen Interesse des Natur- und allgemeinen Staatsrechts durch die Vorfalle der neueren Zeiten, 1793, S. 133; Bergk (Anm. 11), S. 26 ff., 172, 220, 252 ff., 265, 305; Anonymus, Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt, 1794, S. 82.

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Zweitens wurde die Begrenzung der Staatsgewalt dadurch versucht, die Ausübung der Staatsgewalt auf den Willen aller gründen zu lassen. Das ist der Ausdruck des Autonomiegedankens im Bereich des Gemeinschaftslebens. Außer dem Ausdruck „der Wille aller" wurden auch die Ausdrücke „allgemeiner Wille", „Gesamtwille", und „Volkswille" gebraucht. Diese Zweigleisigkeit der Begrenzung der Staatsgewalt ist mehr oder weniger klar bei fast allen Autoren bemerkbar, aber besonders klar bei „Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt" von einem Anonymus (1794): „Wenn die höchste Gewalt den Endzweck des Staats, nämlich die Sicherung des Gebrauchs und Genusses der jedem Staatsglieder zustehenden natürlichen und erworbenen Rechte, realisiren soll; so folgt auch, daß sie in dem Gebrauch und in der Ausübung ihrer Rechte durch den nichts anderes als jenen Staatsendzweck selbst, und durch den gemeinschaftlichen vernünftigen Willen der Staatsglieder, der diesen Endzweck wollen muß, eingeschränkt werde. Sie darf und muß alles thun, was dem Staatsendzweck und dem gesammten Willen der Staatsglieder, sowohl in Rücksicht auf das Ganze als das Einzelne entspricht, hingegen muß sie alles unterlassen, was demselben entgegen ist" 15 . Konsequenterweise wurde dieser Gedanke auf die Gesetzgebung angewandt: „Die Vernünftigkeit eines positiven Gesetzes kann nicht anderes als aus dem in der Vernunft selbst gegründeten Endzwecke des Staates, und dem gesammten vernünftigen Willen des Volks beurtheilt werden. Nur das liegt also in den Gränzen der Gesetzgebung, was durch jenen Endzweck und diesen Willen möglich ist, hingegen werden sie überschritten und das Recht der Gesetzgebung gemißbraucht, wenn durch das gegebene Gesetz der Endzweck des Staates aufgehoben und gegen den allgemeinen vernünftigen Willen des Volks gehandelt wird" 1 6 . c) (1) Der Menschenrechtsgedanke der Naturrechtslehre und des Allgemeinen Staatsrechts hat sich erstens als die Forderung an den Regenten niedergeschlagen, dem Staatszweck und dem Willen aller gemäß oder jedenfalls nicht beiden zuwider zu regieren. (2) Der Menschenrechtsgedanke der Naturrechtslehre und des Allgemeinen Staatsrechts hat zweitens als Kritik an der tatsächlichen Regierungsweise gewirkt, die solchen Forderungen nicht entsprach. Zum Beispiel hat Wilhelm Ferdinand Chaßot de Florencourt kritisiert, daß die hochgepriesene „deutsche Freiheit" in Wirklichkeit Freiheit nur für die deutschen Fürsten, nicht Freiheit

15 Von dem Staate (Anm. 14), S. 60. In diesem Buch tritt das Wort „Menschenwürde" (S. 23, 43) oder das Wort „Würde des Menschen" (S. 24, 84, 129) auf; vgl. auch ζ. B. Gottfried AchenwalUJohann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (hrsg. und übers, von Jan Schröder), 1995, S. 243 f. 16 Von dem Staate (Anm. 14), S. 82.

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für die deutschen Bürger ist 17 , daß weder die Reichsgerichte noch die Landstände Stütze für die Freiheit der Untertanen sind 18 . (3) Der Menschenrechtsgedanke der Naturrechtslehre und des Allgemeinen Staatsrechts wirkte drittens als Forderung nach einer Reform der politischen Institutionen, insbesondere als Forderung nach Einfuhrung bzw. Ausarbeitung einer Verfassung mit Menschenrechtsgewährleistung und Volksrepräsentation 19. Nunmehr konnte nur die Verfassung mit diesen beiden institutionellen Elementen als die rechte Verfassung oder sogar als die Verfassung schlechthin angesehen werden 20. Bei der Forderung der Verfassung ist relevant, daß die Verfassung als der vergegenwärtigte und stets zu wiederholende Gesellschaftsvertrag verstanden wurde. d) Bei dem Menschenrechtsgedanken der Naturrechtslehre und des Allgemeinen Staatsrechts ist beachtenswert, daß - zwar nicht von allen Autoren, aber von vielen - auch dem Volk als der Gesamtheit der Subjekte der Menschenrechte die natürlichen Rechte21, ja eventuell sogar die Menschenrechte 22, zuerkannt wurden und ferner sozusagen als die Voraussetzung dafür die Persönlichkeit zuerkannt wurden 23 . Teilweise wurde dem Volk die Grundgewalt zugeordnet . 17

Wilhelm Ferdinand Chaßot de Florencourt, Vermischte Aufsätze, 1793, S. 31 ff. De Florencourt (Anm. 17), S. 54 ff. 19 Bergk (Anm. 11), S. 42; Philipp Christian Reinhard, Versuch einer Theorie des gesellschaftlichen Menschen, 1797 (1979), S. 464 ff. 20 Bergk (Anm. 11), S. 45; Heinrich Würze: „Konstitution", in: Z. Batscha/J. Garber (Hrsg.), Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, 1981, S. 324 f f ; Wilhelm Traugott Krug, Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, in: H. Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland, 1991, S. 114 ff.; Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 115 f. 21 Krug (Anm. 20), S. 121, 126. 22 Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften (hrsg. von H. G. Haasis), 1970, S. 92. 23 Schlettwein (Anm. 12), S. 360 f.; de Florencourt (Anm. 17), S. 15; Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, 1790, S. 140, 189; Karl Heinrich Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaften oder des Naturrechts, 1802, S. 174. 24 Schlettwein (Anm. 12), S. 360 f f ; zur Theorie der Grundgewalt des Volkes von J. H. G. v. Justi vgl. Hisao Kuriki, Die Funktion des Volksgedankens in der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, in: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, N. Achterberg/W. Krawietz/D. Wyduckel (Hrsg.), 1983, S. 293 f.; auch A. L. Schlözer rechnet dem Volke „GrundGewalt" zu, obwohl er es sie übertragen läßt: August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, 1793, S. 98. Nach Schlözer ist die Unabhängigkeit jedes Menschen vom anderen eines der allgemeinen MenschenRechte, ist wegen dieser Unabhängigkeit (=souverainété) alle Gewalt vom Volke (a.a.O., S. 43). Im übrigen findet sich in diesem Buch an mehreren Stellen das Wort „MenschenRechte" (a.a.O., S. 43, 62, 78, 107, 109, 158, 159). 18

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Das Konzept des Volkes als des Subjektes des Willens oder der Grundgewalt ist in zwei Hinsichten von Bedeutung. Erstens wird der Wille oder die Grundgewalt des Volkes nicht als das Reale oder Aktuelle, sondern als das Ideale oder Potentielle konzipiert. Nach diesem Konzept war es nicht notwendig, daß das Volk selbst seinen Willen wirklich äußert, es war ausreichend, daß jemand den Willen äußert, den das Volk wesensgemäß äußern soll 25 . Zweitens kann gerade wegen der Idealität das Volk als der Träger des Idealen fungieren. Solange das Volk als das Subjekt des Willens oder der Grundgewalt anerkannt wird, besteht die Möglichkeit, daß das für das ganze Gemeinwesen wichtige Ideale oder materiell Richtige als der Inhalt des Willens des Volkes gefordert werden kann, wenngleich auch die gegenteilige Möglichkeit nicht ignoriert werden darf.

III. 1. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in vielen deutschen Staaten eine Verfassung gegeben. Diese Verfassungen wurden meistens von den Landesherrn oktroyiert, und zwar hauptsächlich als Mittel zur Erhaltung ihrer Herrschaftsgewalt. Als natürliche Konsequenz davon waren die in den Verfassungen den Staatsbürgern gewährten Rechte erst von den jeweiligen Landesherren geschöpfte Rechte. Diese Rechtsgewährungen wurden durch die vom monarchischen Prinzip beeinflußte Handhabung der Verfassung von Seiten der Landesherrn in ihrer Wirkung herabgesetzt. Wie hat die Wissenschaft auf die ihren Forderungen nicht oder nicht genügend entsprechende Verfassungsurkunde reagiert? a) Erstens hat die Wissenschaft ihre Theorie von der Verfassunggebung als der Übereinkunft aller trotz der Tatsache der Oktroyierung der Verfassung aufrechterhalten. Sie hat nämlich den Schwerpunkt in der Verfassunggebung auf die Akzeptanz der Verfassung durch das Volk gelegt und behauptet, daß auch die oktroyierte Verfassung erst mit ihrer Anerkennung durch das Volk ihre rechtsverbindliche Kraft gewinnt. Die logische Konsequenz dieser Theorie war, daß auch die oktroyierte Verfassung ohne Zustimmung seitens des Volkes nicht geändert werden konnte 26 . b) Die neu errichteten Landstände bestrebten, die inhaltlich unbefriedigenden Verfassungen durch ihre eigene Tätigkeiten zu ergänzen und zur wahren Ver25 Von dem Staate (Anm. 14), S. 60; Reinhard (Anm. 19), S. 475; Johann Phillip Achilles Leisler, Natürliches Staatsrecht, 1806, S. 54 ff. 26 Zu diesem Problem vgl. Gerhart Dilcher, Verfassung und Verfassungstheorie im frühen Konstitutionalismus, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, hrsg. von G. Kleinheyer/P. Mikat, 1979, S. 76 ff.

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fassung zu machen27. Die Wissenschaft hat dabei die Rolle des Beförderers und des Unterstützers gespielt. Dabei hat die Wissenschaft die positiven Verfassungen aus dem eigenen Standpunkt begriffen. Das soll im folgenden eingehend erörtert werden. 2. a) Die Wissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wollte die positiven Verfassungen nicht nach deren Wortlaut, sondern nach dem Maßstab des Naturrechts begreifen und erläutern 28. Für diese Grundhaltung der Wissenschaft sind die Ausführungen von Aretin und Rotteck repräsentativ: „Das Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, dessen Aufgabe darin besteht, die reinen Prinzipien der Vernunft in einem Staat mit monarchischer Form möglichst treu und vollständig zu realisiren, muß zuvörderst - von den Diktaten der Schule nicht minder, als von jenen der Gewalt befreit - die Reinheit der Begriffe herstellen, und sodann aus ihnen gleich unbefangen als freimüthig seine Lehrsätze ableiten. Sollte auch der Wortlaut einzelner oder der meisten bestehenden Konstitutionen solchen Sätzen entgegenstehen, so wird das allgemeine Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie darum seine Gültigkeit nicht verlieren, sondern vielmehr eine, seiner Forderung angemessene Deutung jener Konstitutionsurkunden als Rechtsnothwendigkeit sich darstellen" 29. Für Aretin und Rotteck wird das Recht primär „durch Vernunft (Natur-Recht, sowohl außerbürgerliches, als bürgerliches)" bestimmt. Und zwar werden die Gesetze oder Sätze des Verfassungsrechts „durch das Organ der Wissenschaft, „nicht durch jenes der Gewalt verkündet. „Wer die Gültigkeit solches heiligen, natürlichen Rechtes läugnet, der hebt im Grunde alles Recht auf, ..." 30 . Es ist bemerkenswert, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz des Aufkommens kritischer Strömungen gegen das Naturrecht und der Versuche der Betonung des Wertes des positiven Rechts31 die Naturrechtslehre und das Allgemeine Staatsrecht noch ihren Einfluß ausüben konnten. Dies kommt vor allem

27 Dazu vgl. ζ. B. Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat, Bd. 21, 1979, S. 330 f. 28 Dazu besonders vgl. Dieter Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 1978, S. 238. 29 Johann Christian Freiherr v. Aretini Karl v. Rotteck, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. 2, 1827, S. 197 f. 30 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 2, S. 199. 31 Zu diesem Problem vgl. Diethelm Klippel, Die Historisierung des Naturrechts, in: F. Kervégan/H. Mohnhaupt (Hrsg.), Recht zwischen Natur und Geschichte, 1977, S. 114 ff.; Hofmann (Anm. 7), S. 26 f., 78 f.

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darin zur Erscheinung, daß das Wort „Menschenrechte" von vielen Autoren gebraucht worden ist 3 2 . b) Zwar wurden in der positiven Verfassungen die Ausdrücke „Untertanenrechte", „Rechte der Staatsbürger", „Rechte der Landesangehörigen", oder „staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener" usw. gebraucht 3 3 . Aber viele Autoren wollten die solchergestalt gewährten Rechte unter den Begriff „Menschenrechte" fassen. Die Bezeichnung „Menschenrechte" oder ihm inhaltlich entsprechende Begriffe, zum Beispiel „Urrechte des Menschen", „natürliche Rechte", „unveräußerliche Rechte", kommen nicht nur in den Büchern des Naturrechts und des Allgemeinen Staatsrechts v o r 3 4 , es erscheint auch in den Büchern des gemeinen deutschen Staatsrechts 35 wie bei Romeo Maurenbrecher 36, Johann Ludwig Klüber 37 und Heinrich Zoepfl 38, und sogar in den Büchern des Staatsrechts der einzelnen Staaten wie etwa bei Conrad Cucumus 39.

32 Im Gegensatz dazu: Gerd Kleinheyer, Artikel „Grundrechte", in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1979, S. 1071, Anm. 112. 33 Kleinheyer {Anm. 32), S. 1071. 34 Vgl. etwa Leonard v. Dresch, Naturrecht, 1822, S. 40, 46, 49; Maximilian C. F W. Grävell, Der Regent, 1. Teil, 1823, S. 10, 16, 128, 129, 137, 242; Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unserer Zeit, 1. Teil, 1827, S. 78, 112, 115; Aretin-Rotteck, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, 3. Teil, 1828, S. 235; Silvester Jordan, Lehrbuch des allgemeinen und des deutschen Staatsrechts, 1831, S. 83 ff.; Friedrich Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, 1845, S. 383, 557; Artikel „Urrechte oder unveräußerliche Rechte" (von Paul Achatius Pfizer), in: C. v. RotteckIC. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Bd. 15, 1843, S. 610 ff.; Artikel „Menschenrechte" (von Gustav v. Struve), in: C. v. Rotteck/C. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Supplement Bd. 3, 1847, S. 611 ff. 35

Zum gemeinen deutschen Staatsrecht vgl. Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 178 f f ; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 96 ff.; Th. Würtenberger behauptet, daß das Allgemeine Staatsrecht sozusagen die Brücke ist, die von den staatstheoretischen Diskussionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den Verfassungen des Vormärz führte: Thomas Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte. Der Staat, Beiheft 10, 1993, S. 108. Dann könnte man sagen, daß das gemeine deutsche Staatsrecht dem Allgemeinen Staatsrecht in der Rolle des Förderers und Unterstützers des Menschenrechtsgedankens nachgefolgt ist. Das gemeine deutsche Staatsrecht als die positivrechtliche Disziplin wurde durch das allgemeine Staatsrecht als die naturrechtliche Disziplin untermauert. Zur Entwicklung des allgemeinen Staatsrechts vgl. H. Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, AöR 99 (1974), 556-585. 36 Romeo Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 1837, S. 79 f. 37 Johann Ludwig Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., 1840, S. 102. 3 FS Hollerbach

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c) Welche praktische Bedeutung hat die Deutung, das Verständnis der positiv gewährten Rechte der Untertanen bzw. Landesangehörigen als „Menschenrechte" gehabt? (1) Daraus, daß man die Rechte der Staatsgenossen als Menschenrechte verstanden und sie auf die menschliche Selbstbestimmung bezogen hat, folgerte man die vernunftnotwendige Pflicht des Staates, die geordnete und ungestörte Ausübung derselben möglich zu machen40. Die Pflicht des Staates zur unbedingten Achtung der Rechte der Staatsbürger als Menschenrechte hat man nicht nur als das Verbot der Verletzung derselben formuliert, sondern auch als das Gebot, „alle äusseren Bedingungen, von welchen die Möglichkeit eines Erstrebens der Vernunftzwecke abhängt" zu verwirklichen oder, jene Hilfsmittel, durch welche die Ausbildung zur Tugend, zur geistigen und geselligen Cultur bedingt, und wahre Aufklärung möglich gemacht wird" 4 1 , bereitzustellen. (2) Aus der Tatsache, daß man die gewährten Rechte der Staatsbürger als Menschenrechte verstanden hat, folgte naturgemäß die Forderung, daß die gewährten Rechte der Staatsbürger möglichst wenig beschränkt werden sollen, daß Jeder Unterthan ... der Staatsgewalt nur in so weit untergeordnet werden" soll, „als der Staatszweck (die Erreichung des Rechts oder Sittengesetzes durch äussre Mittel) solches erfordert, dagegen in allen Übrigen frei und unabhängig" 4 2 bleiben soll. Es ist dabei bemerkenswert, daß bei vielen Autoren der Zweck des Staates grundsätzlich auf die Sicherung der Menschenrechte zurückgeführt worden ist 43 . (3) Als natürliche Grenze der Staatsgewalt bzw. der gesetzgebenden Gewalt wurden die Menschenrechte aufgestellt 44. „Die materiellen Volksrechte sind ... durch den Begriff und Zweck des Staates selbst gegeben, und somit als ursprüngliche, nicht erst von der Staatsgewalt abgeleitete oder verwilligte Rechte, unantastbar und unverletzlich, was auch schon daraus folgt, daß sie ihrem Be-

38 Heinrich Zoepfl, Grundsaetze des allgemeinen und des constitutionellmonarchischen Staatsrechts, 3. Aufl., 1846, S. 228; Zu H. Zoepfl vgl. auch Stolleis (Anm. 35), S. 92 f.; Friedrich (Anm. 35), S.191 ff. 39 Conrad Cucumus, Lehrbuch des Staatsrechts der konstitutionellen Monarchie Baierns, 1825, S. 12, 225, 239, 241. 40 Silvester Jordan (Anm. 34), S. 83 f.; Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 1. Teil, 1827, S. 224. 41 Cucumus (Anm. 39), S. 238 f. 42 Maurenbrecher (Anm. 36), S. 79; ähnlich Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 1, 1824, S. 108, 109; Bd. 2, 1827, S. 222; Jordan (Anm. 34), S. 411 f. 43 Jordan (Anm. 34), S. 393 f.; Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 1, 1824, S. 163. 44 Dazu vgl. Grimm (Anm. 20), S. 240.

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griffe nach die natürliche Gränze der Staatsgewalt sind" 45 (für den Autor dieser Zeilen bedeutet die materiellen Volksrechte die Vrrechte der Individuen selbst)46. Als Konsequenz davon wurde das Recht anerkannt, der Staatsgewalt den Gehorsam zu verweigern 47. (4) Die Menschenrechte wurden nicht nur als Grenze der Staatsgewalt, sondern auch als Grund der Staatsgewalt eingestuft 48. (5) Der Verfassung wurde als Mittel zur Sicherung der Menschenrechte hohe Bedeutung zugemessen49, oder sie wurde sogar mit ihnen identifiziert. Aus diesem Grunde wurde das Recht der Staatsbürger auf die Verfassung als das anderen Rechten vorangehende, wichtigste Recht erklärt 50 . Demzufolge - wurde das Recht der Staatsbürger behauptet, von allen früheren Gesetzen und Verordnungen befreit zu sein, die mit der Verfassungsurkunde im Widerspruch stehen51; - wurde dem verfassungswidrigen Befehl des Herrschers die rechtsverbindliche Kraft abgesprochen 52; - wurde nur der verfassungsmäßige Gehorsam der Untertanen gefordert 53. (6) Wenn man denkt, daß der Mensch zugleich Bürger ist, der Bürger zugleich Mensch, dann folgert man daraus nicht nur, daß der Staatsbürger als Mensch höchstgradig geachtet werden muß, sondern auch, daß der Mensch als Staatsbürger mitregieren muß 54 . Zwar haben die die Menschenrechte anerkennenden Autoren meistens den Genuß der politischen Freiheit (oder Rechte) oder die Teilnahme an der Leitung der Staatsgeschäfte 55 von bestimmten Eigen-

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Zoepfl (Anm. 38), S. 228 f.; ähnlich Grävell (Anm. 34), S. 188 ff. Zoepfl (Anm. 38), S. 228. 47 ZoepJ7(Anm. 38), S. 206. 48 Pölitz^Anm. 40), S. 112 f. 49 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 3, 1828, S. 5. 50 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 1, 1824, S. 229. 51 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 1, 1824, S. 229. 52 Jordan (Anm. 34), S. 405. 53 Jordan (Anm. 34), S. 82; Maurenbrecher (Anm. 36), S. 78; dazu vgl. Grimm (Anm. 20), S. 241. 54 Jordan (Anm. 34), S. 76 f. 55 Pölitz (Anm. 40), S. 184. 46

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Schäften abhängen lassen56, aber sie haben die Wichtigkeit der politischen Freiheit (oder Rechte) als Bürgschaft für die Urrechte des Menschen betont 57 . Dabei ist es auch sehr wichtig, daß die politische Freiheit nicht nur den Individuen, sondern auch der Gesamtheit der Bürger zuerkannt worden ist 58 . (7) Besonders wurde die Freiheit der Presse als ein heiliges Menschenrecht erklärt. Es ist bemerkenswert, daß dabei die Pressefreiheit nicht nur aus dem humanen und kosmopolitischen Standpunkt als ein ursprüngliches, absolutes Recht aller Menschen erklärt wurde, sondern auch aus dem politischen Standpunkt als der Rechtsboden des Staates und demzufolge als die kostbarste Gewährleisterin des Ganzen59. Aus diesem Grund wurde jede Zensur unbedingt und peremtorisch verworfen 60. (8) Aus den Menschenrechten wurden auch eine Art Recht auf eine menschenrechtsgerechte Organisation und auch eine Art Recht auf Leistung des Staates abgeleitet. Am Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat der Autor des Artikels „Menschenrechte" im Rotteck-Welckerschen Staats-Lexikon behauptet: „Der Mensch hat also nicht blos ein ewiges und unveräußerliches Recht auf alles Dasjenige, was zu seinem physischen Leben, sondern auch auf Dasjenige, was zur harmonischen Entwicklung seiner höhern Seelenkräfte erforderlich ist. Der Mensch kann daher verlangen, daß seine Mitmenschen und der Staat, welchem er angehört, diese seine ewigen und unveräußerlichen Rechte achten, und daß der Staat insbesondere seine ganze Organisation auf den Grundsatz der praktischen Anerkennung dieser Rechte gründe" 61 . „Das zweite ewige und unveräußerliche Recht des Menschen besteht demnach darin, zu verlangen, daß ihm durch den Staat eine seinen Anlagen entsprechende Bildung und Erziehung gesichert werde. Jetzt hat aber in der Regel nur der Reiche Aussicht auf eine wissenschaftliche und künstlerische Ausbildung. Dieser hat sie selbst dann, wenn er schwache Gaben besitzt, während sie dem Armen in der Regel auch dann nicht zu Teil wird, wenn er die großartigsten Anlagen besitzt. Aller Unterricht, ... sollte unentgeltlich, d. h. auf Kosten des Staates und der Gemeinden gegeben und bei der häußlichen Erziehung der Kinder sollten die Eltern wenigstens in so weit unter allen Umständen von dem Staate und den

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Pölitz (Anm. 40), S. 182, 211; Jordan (Anm. 34), S. 392. Pölitz (Anm. 40), S. 184; Jordan (Anm. 34), S. 392; Grävell (Anm. 34), S. 146; Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 1, 1824, S. 159 f. 58 Grävell (Anm. 34), S. 146; dazu vgl. Grimm (Anm. 20), S. 240. 59 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 3, 1828, S. 234 ff. 60 Aretin-Rotteck (Anm. 29), Bd. 3, 1828, S. 247. 61 Gustav v. Struve, Artikel „Menschenrechte", in: Rotteck-Welcker (Hrsg.), StaatsLexikon, Supplement Bd. 3, 1847, S. 618. 57

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Gemeinden unterstützt werden, daß die Kinder nicht Noth leiden an den unumgänglichsten Lebensbedürfnissen" 62. (9) Es muß auch betont werden, daß, wie schon am Ende des 18. Jahrhunderts 63, auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlangt wurde, daß die ewigen und unveräußerlichen Menschenrechte nicht bloß „die Grundlage der Gesetzgebung jedes einzelnen Staates", sondern auch „die Grundlagen bilden" müssen, „auf welchen das Wechselverhältniß der Staaten beruht". „Wenn der einzelne Mensch ewige und unveräußerliche Rechte besitzt, welche jedes Menschen-Individuum wie jede Menschenvereinigung anzuerkennen verpflichtet ist, so müssen natürlich auch alle Menschenvereinigungen und unter diesen insbesondere auch der Staat dieselben ewigen und unveräußerlichen Rechte besitzen. So lange ein Staat den andern zu übervortheilen sucht, oder der mächtigere Staat den mindermächtigen durch Gewalt der Waffen oder durch die Bedrohung mit Krieg und Gewaltthat zwingt, sich seinen Befehlen zu fugen, so lange können unmöglich im Schooße dieses Staates die ewigen und unveräußerlichen Rechte der Menschen auf Anerkennung rechnen. Dieselben Beweggründe, welche ein Volk im Verkehr mit anderen Völkern leiten, bestimmen immer mehr oder weniger auch auf seine Regierung im Verhältnisse zu den Bürgern und diese in ihren wechselseitigen Beziehungen. Auf der andern Seite üben aber auch die Beweggründe, welche im Wechselverkehr der Bürger Geltung haben, Einfluß auf den Wechselverkehr zwischen Regierung und Volk und zwischen einem Staate und dem andern" 64 . 3. a) In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist auch das Wort „Volksrechte" als Bezeichnung für die Rechte der Bürger oder der Untertanen aufgekommen 65 . Daß das Wort „Volksrechte" damals eine politisch-aktuelle Bedeutung gewonnen hat, könnte auf drei Umstände zurückgeführt werden: Erstens kam als Reaktion auf die dem Menschenrechtsgedanken zu Grunde liegende rationalistisch-individualistische Grundidee der den Wert des historisch Gewachsenen und des organischen Ganzen betonende Nationalgedanke auf und überwog zunehmend. Zweitens hat das Volk als das Subjekt des wahren Gesamtwillens oder allgemeinen Willens nunmehr in Gestalt von Landständen das institutionalisierte Mittel erhalten, sich zu artikulieren und so die Möglichkeit erlangt, den Volkswillen nicht nur als das Ideale sondern auch als das Reale geltend zu machen.

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Struve (Anm. 61), S. 620. Ζ. B. Bergk (Anm. 11), S. 192 ff. 64 Struve (Anm. 61), S. 621. 65 Dazu vgl. Jochen Gaile, Menschenrecht und bürgerliche Freiheit, 1978, S. 203 ff., 268 f.; Kleinheyer (Anm. 32), S. 1074 f.; Grimm (Anm. 20), S. 238. 63

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Drittens manifestieren sich in der politischen Wirklichkeit des Vormärz der Dualismus von Monarch bzw. Regierung und von Volk bzw. Landständen und deshalb gab es damals eine politische Notwendigkeit, die Stellung des Volkes gegenüber dem Monarchen hervorzuheben 66. b) Das Wort „Volksrechte' 4 wurde zwar schon im 18. Jahrhundert gebraucht. Zum Beispiel wurde bei Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter dem Volk als natürliches Recht (iure populus naturali) das Widerstandsrecht zuerkannt 67 , bei Johann Benjamin Erhard dem Volk das Recht auf Revolution 68 und bei Immanuel Kant als einziges Palladium der Volksrechte die Freiheit der Feder verteidigt 69 - Johann Adam Bergk hat das Wort von Kant auf dem Titelblatt seines Buchs „Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte" verwendet. Es ist aber erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den oben genannten Gründen in den allgemeinen Gebrauch gekommen70. Es ist insbesondere symptomatisch, daß es v. Rotteck - der typischste Vertreter der dualistischen Auffassung der Beziehung von Monarchen und Volk - war, der zuerst das neu definierte Wort „Volksrechte" gebraucht hat 71 . c) Die Bedeutung des Gebrauchs des Wortes „Volksrechte" kommt bei Zoepfl am klarsten ins Licht. (1) Zoepfl teilt die Volksrechte ein in materielle Volksrechte und formelle Volksrechte. Bei Zoepfl bedeuten die materiellen Volksrechte die ursprünglichen, unantastbaren und unverletzlichen Urrechte 72. Also begreift Zoepfl die Rechte der Untertanen als Menschenrechte. Ferner ist bei Zoepfl wichtig, daß er die Volksrechte sowohl den Individuen als auch der Gesamtheit von Individuen zuerkennt. Zwar erkennt er sie an einigen Stellen nur der Gesamtheit bzw. dem Volk 7 3 , an .anderen Stellen aber beiden zu 74 . Insofern ist er nicht eindeutig. Je-

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Dazu vgl. Gaile (Anm. 65), S. 203. Achenwall-Pütter (Anm. 15), S. 263. 68 Erhard (Anm. 22), S. 91 f f ; Zu der Bestimmung des Begriffs des Volkes vgl. S. 75 ff.; dazu vgl. Gaile (Anm. 65), S. 53 f. 69 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 6, 1964, S. 161. 70 Z. B. Cucumus (Anm. 39), S. 6, 8, 303; Jordan (Anm. 34), S. 391 f.; Pölitz (Anm. 40), S. 114 f.; Robert v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, 2. Aufl., Bd. 1, 1840, S. 531 ff. 71 Carl v. Rotteck, Ideen über Landstände, in: ders., Sammlung kleinerer Schriften, meist historischen und politischen Inhalts, Bd. 2, 1829, S. 76, 81; dazu vgl. Kleinheyer (Anm. 32), S. 1075. 72 Zoepfl (Anm. 38), S. 228. 73 Zoepfl (Anm. 38), S. 84, 92, 229. 67

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denfalls denkt er die Volksrechte vom Standpunkt der Menschenrechte der Einzelnen aus. (2) Zoepfl begreift die formellen Volksrechte als Rechte, die Urrechte geltend zu machen75. Damit betont er die Wichtigkeit der Geltendmachung der Urrechte. (3) Zoepfl erkennt zwar die Geltendmachung der Volksrechte durch die Individuen an (ζ. B. durch freie Gedankenäußerung, durch Petition bzw. Adresse, oder durch Association und durch öffentliche Versammlung) 76. Aber für ihn ist die kollektive Geltendmachung der Volksrechte, ζ. B. in Gestalt der Rechtsbildung durch das Volk, wichtiger 77 . Besonders wichtig ist für ihre Ausübung das gesetzliche Organ. Für Zoepfl ist dieses Organ notwendig, um die Organisation des Staates vollkommener zu machen, die Herrscherpflicht von der moralischen Pflicht zu einer Rechtspflicht zu machen, die Volksrechte nicht nur die natürliche Grenze der Staatsgewalt sondern auch eine wirksame Schranke des Missbrauchs derselben werden zu lassen78. Folglich sind für Zoepfl die Landstände ein besonderes Organ für die Ausübung der Volksrechte. (4) Zoepfl setzt die Volksrechte der Staatsgewalt entgegen. Für ihn sind die Volksrechte „die Rechte, welche den Individuen in ihrer Gesammtheit der Staatsgewalt gegenüber zustehen", und alles praktische Recht im Staat löst sich in den Gegensatz von Staatsgewalt und Volksrechte auf 79 . Bei dieser Entgegensetzung ist zu berücksichtigen, daß sie einerseits zur Verteidigung der Rechte des Volksvertretungsorgans gegenüber dem Monarchen und der Regierung diente, andererseits zur Verneinung des Rechts dieses Organs zur eigentlichen Mitregierung 80 . d) Man könnte also sagen, daß das Wort „Volksrechte" einerseits im Wortgebrauch die Tendenz gehabt hat, mit dem Wort „Menschenrechte" zu konkurrieren und gegenüber ihm zu überwiegen, es andererseits in inhaltlicher Hinsicht die Tendenz gehabt hat, den Schutz der als Menschenrechte zu begreifenden Rechte effektiver zu machen.

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Zoepfl (Anm. 38), S. 226, 228, 249; J. Gaile behauptet, daß H. Zoepfl unter dem Wort „Volksrechte" nicht kollektive Rechte des Volkes, sondern Rechte des vereinzelten Bürgers versteht (Gaile [Anm. 65], S. 215 f.). Aber diese Behauptung ist wenigstens in der 3. Auflage problematisch. 75 76 77 78 79 80

Zoepfl Zoepfl Zoepfl Zoepfl Zoepfl Zoepfl

(Anm. 38), S. 229 ff. (Anm. 38), S. 295 ff. (Anm. 38), S. 229 ff. (Anm. 38), S. 227, 238, 249, 273 f. (Anm. 38), S. 84, 92. (Anm. 38), S. 227, 241.

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4. Der Gedanke, der das Aufkommen des Gebrauchs des Wortes „Volksrechte" gefordert hat, ist der Organismusgedanke gewesen81. Auch er stand einerseits im Gegensatz zu dem dem Menschenrechtsgedanken zu Grunde liegenden Gedanken und seiner Überwindung, andererseits war er geeignet, ihn zu tragen und angesichts der politischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts zu entwickeln. Solange der Organismusgedanke zwar den Wert des Ganzen bzw. der Gesamtheit betont, aber doch nach angemessener Harmonie des Ganzen bzw. der Gesamtheit und den Teilen bzw. den Einzelnen strebt, kann er neben dem der Naturrechtslehre entspringenden Menschenrechtsgedanken bestehen. Das läßt sich anhand der Tatsache zeigen, daß nicht wenige Autoren, die sich auf die Menschenrechte berufen haben, auch den Organismusgedanken entwickelt haben (z. B. Grave// 82 , Pölitz, 83, Jordan 84 und Schmitthenner* 5).

IV. Die Idee der Menschenrechte und die aufgrund dieser Idee geübte Kritik an der politischen Wirklichkeit des Vormärz haben in gewissem Grade zum Ausbruch der Märzrevolution und zu dem Zusammentreten der deutschen konstituierenden Nationalversammlung in Frankfurt am Main beigetragen. Das Wort „Menschenrechte" konnte jedoch nicht als offizielle Bezeichnung für die Rechte der Staatsbürger in die Verfassung des Gesamtstaates aufgenommen werden 86. Das bedeutet, daß unter den treibenden Kräften der Märzrevolution und bei den Versuchen der Begründung der Staatsbürgerrechte andere Ideen stärker waren als der Menschenrechtsgedanke. Dabei ist besonders zu beachten, daß man zwar die Rechte der Staatsbürger stärker und breiter als bis dahin gewährleisten, dazu jedoch nicht von der französischen Erklärung über die Menschen- und Bürgerrechte und dem ihr zu Grunde liegenden Gedanken ausgehen wollte 87 .

81 Zum Organismusgedanke vgl. vor allem Ernst-Wolf gang Böckenförde, Artikel „Organismus, Organisation, politischer Körper' 4, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.) (Anm. 32), Bd. 4, 1978, S. 519 f f , besonders S. 561. 82 Grävell (Anm. 34), S. 33 ff. 83 Pölitz (Anm. 40), S. 177, 224. 84 Jordan (Anm. 34), S. 75 f. 85 Friedrich Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, 1845, S. 253 ff., 263 ff. 86 Zur Debatte der Nationalversammlung über die Grundrechte vgl. Herbert Arthur Strauss , Staat, Bürger, Mensch. Die Debatten der deutschen Nationalversammlung 1848/1849 über die Grundrechte, 1947; Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985. 87 Kühne (Anm. 86), S. 167, 168, 172, 408.

Zum Gebrauch des Wortes „Menschenrechte"

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In der Paulskirche wurde nämlich gegenüber dem Einzelnen die Gesamtheit, (gegenüber den Einzelstaaten der Gesamtstaat)88, gegenüber dem Abstrakten das Historisch-Konkrete, gegenüber dem Allgemeinmenschlichen das Nationale betont 89 . Ferner wurde gegenüber der individuellen Selbstherrschaft die soziale Verantwortung betont 90 . Als Bezeichnung für solche Vorstellungen war das Wort „Grundrechte" viel passender als das Wort „Menschenrechte". Es gibt zwar die Meinung, die das Wort „Grundrechte" für die passende Kompromißformel zwischen Menschenrechten91 und den staatlichen Rechtsgewährleistungen oder zwischen dem Allgemeinmenschlichen und dem NationalVolkstümlichen hält 92 . Bei diesem Kompromiß lag das Gewicht jedoch überwiegend auf den letzteren. Insofern muß man von einem Vorrang der Grundrechte oder der damit gleichgesetzten Volksrechte 93 gegenüber den Menschenrechten sprechen 94. Es muß aber auch betont werden, daß das Wort „Grundrechte" bzw. „Volksrechte" einerseits das Wort „Menschenrechte" überwand, andererseits das Wort „Grundrechte", insbesonders das Wort „Volksrechte", denselben Sinn wie „Menschenrechte" haben und deshalb auch der Erhalter des Menschenrechtsgedankens sein konnte.

V. 1. In der Situation der politischen Ernüchterung nach der Märzrevolution und nach dem preußischen Verfassungskonflikt ist der Gebrauch des Wortes

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Kühne (Anm. 86), S. 172, 173. Kühne (Anm. 86), S. 408; Otto Dahn, Menschenrechte und Menschenwürde, Akademie Forum Masonicum, Jahrbuch 1990, 1991, S. 69; Strauss (Anm. 87), S. 40; Kleinheyer (Anm. 32), S. 1075 f. 90 Kühne (Anm. 86), S. 172; Strauss (Anm. 86), S. 68 ff., besonders S. 71 ff.; Hofmann (Anm. 7), S. 28. 91 G. Kleinheyer spricht von einer Renaissance des Wortes „Menschenrecht" in der Paulskirche. Vgl. Kleinheyer (Anm. 32), S. 1077; Strauss (Anm. 86), S. 33 f. 92 Kühne (Anm. 86), S. 166 ff.; Strauss (Anm. 86), S. 40 f. 93 Vgl. Bericht des Verfassungs-Ausschußes der constituirenden Nationalversammlung über die Grundrechte des deutschen Volkes, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg. von Franz Wigand, Bd. 1, 1848, S. 681. 94 K. Stern meint, daß für die Paulskirchenverfassung zwar menschenrechtliche Denkansätze nachweisbar wären, ihre Grundrechte aber keineswegs als überpositive Menschenrechte gesehen werden könnten, daß der Begriff der Grundrechte durchaus nicht als Synonym, sondern als Alternative zum umstrittenen Menschenrechtsbegriff gebraucht werde. Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / l , 1988, S. 344. 89

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„Menschenrechte" in der Wissenschaft immer seltener geworden. Daraus läßt sich einerseits folgern, daß der Menschenrechtsgedanke seine Rolle als Triebkraft zur Verwirklichung des konstitutionellen Verfassungssystems mit Garantie der Staatsbürgerrechte und der Teilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung gut erfüllt hat. Daraus läßt sich andererseits folgern, daß die den Menschenrechtsgedanken tragenden politischen Kräfte und auch die mit ihnen eng verwandte Wissenschaft sich mit dem damaligen Stand der institutionellen Verwirklichung des Menschenrechtsgedankens begnügt haben. Dadurch haben die positivrechtlich gewährten Staatsbürgerrechte, die als „Grundrechte" zu bezeichnen in der Praxis und in der Lehre sich allmählich durchgesetzt hatte, den Bezug auf die Menschenrechte verloren, und zwar nicht nur im Wortgebrauch, sondern auch im Gedankengehalt. Der dem Gebrauch des Wortes „Menschenrechte" zu Grunde liegende Menschenrechtsgedanke konnte nicht mehr seine Rolle spielen, nämlich die wirkliche Lage der positivrechtlichen Gewährleistungen der Rechte am Maßstab der Idee der Menschenrechte zu messen und auf eine Weiterentwicklung hinzuwirken 95 . Die Wissenschaft, die nur das positive Recht als das Recht anerkannte, hat damit die Möglichkeit aufgegeben, die positivrechtlich gewährten Rechte als Menschenrechte zu deuten. 2. Bei diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß die Autoren, die den Organismusgedanken zur Grundlage ihrer Theorie gemacht haben und aus diesem Standpunkt dem Volk als solchem die Rechte oder die Freiheit und meistens als deren Voraussetzung die Persönlichkeit zuerkannt haben, immer noch das Wort „Menschenrechte" gebrauchten. Als Beispiele hierfür können Joseph Helct 6, Heinrich Zoepjf 1, Carl v. Kaltenborn 98 und Heinrich Ahr ens" genannt werden. Aber das typischste Beispiel ist Johann Caspar Bluntschli 100. Er hat in der 5. Auflage seines „Allgemeines Staatsrecht" (1876) über die Freiheit als Rechtsbegriff folgendermaßen geschrieben: „Die moderne Freiheit ist nicht mehr ein beschränkter Staatsbegriff, noch ein ständischer Rassebegriff, sondern

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R. Wahl betont eine dirigierende und richtungweisende Funktion der Grundrechte (für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts), während er die von Anschütz angesprochene Direktivwirkung der Grundrechte für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht als rechtlich verbindliche Richtungsangabe versteht (Wahl (Anm. 27), S. 333, 342). Wenn die Grundrechte eine richtungweisende Funktion ausgeübt haben, ist ihnen diese Funktion aufgrund ihrer Deutung als Menschenrechte zugekommen. 96 Joseph Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands, mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus, 2. Teil, 1857, S. 557 ff. 97 Heinrich Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, 5. Aufl., 1. Teil, 1863, S. 93; 2. Teil, 1863, S. 18 f. 98 Carl von Kaltenborn, Einleitung in das constitutionelle Verfassungsrecht, 1863, S. 8, 12, 69. 99 Heinrich Ahrens, Artikel „Menschenrechte", in: Bluntschli-Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 6, 1861, S. 601 ff.; ders., Naturrecht, Bd. 2, 1871, S. 3 ff. 100 Zu J. C. Bluntschli vgl. Stolleis (Anm. 35), S. 430 ff.

Zum Gebrauch des Wortes „Menschenrechte"

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ein gemeinsames Menschenrecht. Ihre Wurzel ist in der Menschennatur und zwar nicht minder in der individuellen Eigentümlichkeit als in der nationalen Gemeinschaft, und sie bewahrt sich ebenso in dem Geistesleben der Einzelnen wie in dem öffentlichen Leben des Volkes und in dem Wirtschaftsleben der Gesellschaft" 101 . „In aller Freiheit lassen sich hinwieder zwei Seiten unterscheiden. In negativer Beziehung schlieszt die Freiheit jede unbegründete oder übertriebene Abhängigkeit von einem fremden Willen aus. In positiver Hinsicht bedeutet sie Selbstbestimmung der Person" 102. Ferner hat Bluntschli die Rechtsfreiheit in zwei Hauptformen, nämlich als Freiheit der Individuen und als Freiheit der Nation bzw. des Volkes erscheinen lassen, deren Wesen die „Theilnahme am Stat ist", und die Notwendigkeit der Anerkennung beider Arten der Freiheit und der passenden Verflechtung von beiden betont 103 . 3. Andererseits muß auch daraufhingewiesen werden, daß es auch Autoren gibt, die zwar den Organismusgedanken ihren Theorien zugrunde gelegt haben, aber das Wort „Menschenrechte" nicht gebraucht haben. Als Beispiele können dafür Friedrich Bülau 104 und auch Carl Friedrich v. Gerber 105 genannt werden. 4. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Zoepfl zwar in der 5. Auflage seines Buches „Grundsätze" (1863) das Wort „Volksrechte" als Bezeichnung sowohl für die Rechte der Individuen (dafür verwendet er auch das Wort „Menschenrechte" 106) als auch die Rechte der Gesamtheit gebraucht hat, er aber in der 5. Auflage das Wort „Volksrechte" mehr im Sinne von den Rechten der Individuen wie in der 3. Auflage verwendet 107, und er die Volksrechte in Rechte der Individuen einerseits und in Rechte der Volksvertretung andererseits einteilt. Das Volk als Subjekt der formellen Volksrechte läßt er nur durch die Landstände als institutionalisierte Organ für die Ausübung der formellen Volksrechte sich ausdrücken 108. Die Errichtung des institutionalisierten Organs für die Ausübung der formellen Volksrechte ist unbedingt notwendig, aber den Volkswillen in den durch die dazu bestimmte Institution ausgedrückten Willen aufgehen zu lassen, ist problematisch, weil jeder Institutionalisierung notwendig ein Mangel innewohnt. 5. Der Organismusgedanke war ein Gedanke von großer Weite und hat als solcher sowohl die Möglichkeit gehabt, den Wert der Einzelnen zugunsten des 101

Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl., 1876, S. 608. Bluntschli (Anm. 101), S. 608. 103 Bluntschli (Anm. 101), S. 609 ff. 104 Friedrich Bülau, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., 1856. 105 Carl Friedrich von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865. 106 Zoepfl (Anm. 97), 1. Teil, S. 93. 107 Zoepfl (Anm. 97), 1. Teil, S. 93; 2. Teil, S. 18, 250. 108 Zoepfl (Anm. 97), 2. Teil, S. 255. 102

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Ganzen herabzusetzen, als auch die Möglichkeit, den Wert der Einzelnen gerade fur das Ganze und besonders den Wert der aktiven Teilnahme des Einzelnen am Ganzen heraufzusetzen. I m Laufe des 19. Jahrhunderts hat der Organismusgedanke sein Gewicht von der ersteren Möglichkeit auf die letztere Möglichkeit verlagert. Dadurch konnte er die Rolle als Träger des Menschenrechtsgedankens spielen und hätte sie weiterhin spielen können. Aber diese Möglichkeit wurde durch die die verwirklichte Institution sozusagen absolut setzende Wissenschaft (den staatsrechtlichen Positivismus 1 0 9 ) zerstört. A u c h die Grundrechte der Deutschen der Weimarer Reichsverfassung haben keine Möglichkeit gehabt, als Menschenrechte gedeutet zu werden 1 1 0 , anders als die Grundrechte des deutschen Volkes der Frankfurter Reichsverfassung.

109 Zu der Wendung zum Positivismus als einer Folge der gescheiterten deutschen Revolution vgl. Stolleis (Anm. 35), S. 276 ff.; ferner zum staatsrechtlichen Positivismus vgl. Friedrich (Anm. 35), S. 222 ff. 110 Das könnte behauptet werden, wenngleich G. Anschütz die Grundrechte der Weimarer Verfassung als Menschenrechte bezeichnet hat: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl., 1933, S. 511. Andererseits muß darauf hingewiesen werden, daß R. Smend, der die Grundrechte nicht positivistisch, sondern geistesgeschichtlich zu verstehen versucht, bei seinem Referat auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer von 1927 zweimal das Wort „Menschenrechte" gebraucht hat: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, 1928, S. 48 und 51. Smend hat die Notwendigkeit betont, die Grundrechte von der Tradition der Menschenrechte aus zu verstehen und sie als ein System eines geschichtlich begründeten und bedingten geistigen Ganzen zu begreifen. Dieses Verständnis dient bei ihm aber erstens einer zu starken Hervorhebung der den Staat konstituierenden und verstärkenden Funktion der Grundrechte und zweitens einer Erklärung der Selbstverständlickeit der Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die zwar nicht allgemeinen, aber die höheren Werte der Gesellschaft schützenden Gesetze. Insofern paßt dieses Verständnis jedenfalls in seinen konkreten Folgerungen nicht in die Tradition des Menschenrechtsgedankens.

Die Prinzessin als Braut V o n Michael Stolleis

I. Die in den letzten Jahren intensivierte historische Forschung über das A l l tagsleben, über das Verhältnis der Geschlechter und die Auffassungen von der Institution der Ehe hat eine Fülle von Material ans Licht gebracht und vor allem die Rolle der Frauen neu beleuchtet 1 . Bürgerliche Ehefrauen 2 und deren Mägde 3 , Kindsmörderinnen 4 und Findelkinder 5 , Huren und Rabenmütter 6 , „unartige

1 U Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997; O. Hufton, Frauenleben, München 1998; U Rublack, Magd, Metz' oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt 1998. 2 R. Beck, Frauen in Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien Régime, in: R. v. Dülmen (Hrsg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt 1992, 137-212. 3 R. Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1995; O. Ulbricht, Zwischen Vergeltung und Zukunftsplanung. Hausdiebstahl von Mägden in Schleswig-Holstein vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar und Wien 1995, 139-170. 4 R. Schulte, Das Dorf im Verhör: Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Hamburg 1989; C. Zimmermann, „Behörigs Orthen abgezeigt". Kindsmörderinnen in der ländlichen Gesellschaft Württembergs, 1581-1792, in: Medizin in Geschichte und Gesellschaft 10 (1991) 67-102; R. v. Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1991; O. Ulbricht, Kindsmörderinnen vor Gericht: Verteidigungsstrategien von Frauen in Norddeutschland, in: A. Blauert/G. Schwerhoff (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1993, 54-85. 5 M Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München 1995. 6 Ulbricht (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern (Anm. 3); P. Schuster, Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland 1350-1600, Paderborn 1992; B. Schuster, Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt 1995.

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Weiber" 7 , „schimpfende Weiber" 8 und arbeitende Frauen 9 wurden ebenso untersucht wie die Zusammenhänge von Gewalt und Sexualität, Körper und Psyche, Religion und Moral, Ehre und Schande, Solidarität und Ausgrenzung, Unterdrückung und Widerstand. Für die Rechtsgeschichte entscheidende Themen sind die Rechtsstellung der Frauen in familien-, Vermögens- und erbrechtlicher Hinsicht, ihre Möglichkeiten zum Betrieb eines Handwerks oder Gewerbes 10 . Weibliche Kriminalität wurde innerhalb der aufblühenden Forschung zur Kriminalität der frühen Neuzeit zu einem speziellen Forschungsfeld 11 , eingebettet in die Themenfelder „ A r m u t " und „Randgruppen" 1 2 . Ungemeine Anziehungskraft übte schließlich das Thema der Hexen und deren Verfolgung aus 1 3 . Mehr oder weniger deutlich richtet sich das Interesse der Forschung auf Unter» und Mittelschichten, die in der Tat auch lange vernachlässigt worden sind. Da es relativ wenig Selbstzeugnisse gibt, die als Quellen dienen könnten, werden vor allem Testamente und Erbverträge, Visitationsprotokolle, Akten von Sittengerichten und städtischen Niedergerichten beigezogen, vor allem aber Kriminalakten. Ergänzend erweisen sich normative Quellen wie die „Policeyordnungen der frühen Neuzeit" als ergiebig, sofern es gelingt, ihren Kontext

7 C. Ulbrich, Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: R. v. Dülmen (Hrsg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn, Frankfurt 1990, 13-42. 8 R. Walz, Schimpfende Weiber. Frauen in lippischen Beleidigungsprozessen des 17. Jahrhunderts, in: H. Wunder/C. Vanja (Hrsg.), Weiber, Menschen, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, 155-198. 9 M. E. Wiesner, Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick 1986. 10 U. Flossmann, Die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Privatrechtsgeschichte, in: dies. (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschr. H. Eichler, Wien/New York 1977, 119-144; D. Schwab, Schutz und Entrechtung - Die Rechtsstellung der Frau nach älterem Recht mit Bezug auf Regensburger Quellen, in: Emanzipiert und doch nicht gleichberechtigt? Vortragsreihe der Universität Regensburg, hrsg. v. H. Altner, Regensburg 1991, 83-99; Μ E. Wiesner, Frail, Weak and Helpless: Women's Legal Position in Theory and Reality, in: Regnum, Religio et Ratio: Essays presented to R. M. Kingdon, ed. J. Friedman , Kirksville/Missouri 1987, 161-169; K. Gottschalk, Streit um Frauenbesitz. Die Gerade in den Verlassenschaftsakten des Leipziger Universitätsgerichts im 18. Jahrhundert, in: ZRG GA 114 (1997)182-232. 11

Vgl. hierzu die Beiträge von O. Ulbricht/H. Wunder, in: Ulbricht (Hrsg.), Von Huren und Rabenmüttern (Anm. 3), 1-38 und 39-61. 12 K. Härter, Bettler - Vaganten - Deviante, in: lus Commune X X I I I (1996) 281321. 13 C. Honegger (Hrsg.), Die Hexen der Neuzeit, Frankfurt 1978; G. Schormann, Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 1981; W. Behringer, Hexenverfolgung in Bayern, München 1988; G. Jerouschek, Des Rätsels Lösung? - Zur Deutung der Hexenprozesse als staatsterroristische Bevölkerungspolitik, in: Krit. Justiz 1986, 443-459 in Auseinandersetzung mit H. Heinsohn - O. Steiger, Die Vernichtung der weisen Frauen, Herbstein 1985; B. P. Levack, Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, München 1999.

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zu rekonstruieren und die in ihnen enthaltenen normativen Aussagen in Richtung auf die „Normdurchsetzung" in der Praxis zu interpretieren 14. Die moderne Sozial- und Mentalitätsgeschichte hat eine Abwendung von der älteren Geschichte der „Haupt- und Staatsaktionen" vollzogen, gleichviel ob damit eine stärker abstrahierende Strukturgeschichte oder die Rekonstruktion individueller Lebenswelten an deren Stelle trat. Parallel hierzu hat sich die Rechtsgeschichte von der Dogmengeschichte des Privatrechts und der Geschichte der Gesetzgebung zurückgezogen, um sich der Funktionsweise von Rechtsordnungen und der Geschichtlichkeit von Rechtskulturen zuzuwenden. Auf diese Weise sieht man von verschiedenen Seiten eine Zuwendung zum „gewöhnlichen Leben". Die Abwendung von den Haupt- und Staatsaktionen bedeutet allerdings auch eine gewisse Vernachlässigung der Sozialgeschichte der „höheren Stände". Die folgenden Ausführungen möchten die Verbindung zwischen beiden markieren, denn die Matrimonia illustra bildeten ein staatsrechtliches Thema des Ancien Régime, das sich gelegentlich als schicksalhaft für Land und Leute erweisen konnte und zu dessen Behandlung insbesondere die juristisch ausgebildeten Hof- und Geheimräte beigezogen wurden 15 . Gleichzeitig bieten sie reiche Quellen für die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Frauen, für die Fest- und Zeremonialkultur, für Wirtschafts- und Finanzgeschichte.

II. Es gehört zum gesicherten Bestand der Forschung, daß das Eherecht im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit durch die Reformation eine scharfe Zäsur erfahren hat. Katholische und evangelische Eheauffassung traten von nun an auseinander. Die Leugnung des Sakramentscharakters der Ehe im Protestantismus überführte die Ehe in die Regelungskompetenz der weltlichen Ordnungsmächte 16. Die Ehe wurde nach dem bekannten Wort Luthers „ein eusserlich weltlich ding" 17 , was ihre Deutung als einen von Gott gesegneten „heiligen" Stand keineswegs ausschloß. Der Theologe und Seelsorger konnte in ihm 14 K. HärterlM. Stolleis (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (Reich, Geistliche Kurfürstentümer); Bd. 2 hrsg. v. Th. Simon, Brandenburg-Preußen, 1998; Bd. 3 hrsg. v. G. Schuck, Bayern, Kurpfalz, Frankfurt 1999; M. Stolleis (Hrsg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1996; K. Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt 2000. 15 M. Stolleis, Staatsheirat, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte IV (1990) Sp. 1822-1824. 16 D. Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit, Bielefeld 1967, 104 ff. 17 M. Luther, Von Ehesachen (1530), WA 30/3, 205.

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raten, hatte aber keine Rechtskompetenz mehr. Er konnte „Ehezuchtbüchlein" schreiben und in Ehefragen Rat erteilen, war aber, wenn Luthers Ausgangspunkt festgehalten wurde, nicht mehr zuständig für das Recht der Eheschließung und Ehescheidung. Freilich wurde dieser Ausgangspunkt nicht bewahrt; die protestantischen Juristen verwandelten vielmehr die Ehe wieder zurück in eine „materia ecclesiastica" und entwickelten eine staatlich-kirchliche Doppelkompetenz. Dementsprechend wurden die Ehesachen den Konsistorien zugewiesen, die als geistliche Behörden unter dem Schirm des landesherrlichen Kirchenregiments den geistlichen Charakter der Ehe festhielten, wobei sie zugleich der weltlichen Regelungskompetenz des Landesherrn unterworfen waren. Mit der allmählichen Säkularisierung der protestantischen Eheauffassung, die vom aufsteigenden Naturrecht und der Aufklärung verursacht wurde, gewann letztlich die Interpretation der Ehe als „res politica" die Oberhand 18. Diese im Prinzip alle Untertanen betreffenden Verschiebungen von Ehepraxis und Eheauffassung gerieten allerdings stets dann in eine schärfere Beleuchtung, wenn die Ehepartner dem höheren Adel oder gar dem regierenden „Haus" angehörten. Prinzen und Prinzessinnen waren keine gewöhnlichen Freiers- oder Brautleute. Ein politisches System, dessen Rückgrat eine Dynastie bildete, mußte der Frage, wer wen heiratete und was eine solche Heirat politisch bedeutete, höchste Aufmerksamkeit widmen. Die Dynastie, deren Mitglieder am Machterhalt interessiert sein mußten, bildete nur dann jenes Rückgrat, wenn genügend Söhne vorhanden waren, um - bei hoher Kindersterblichkeit und insgesamt geringer Lebenserwartung, zumal in kriegerischen Verhältnissen - eine gewisse Breite bei der Auswahl fähiger Nachfolger im Inneren zu bieten. Und in gleicher Weise bedurfte es einer gewissen Anzahl Töchter, mit denen die Außenbeziehungen gepflegt und befestigt werden konnten. Die Dynastie mußte also fruchtbar bleiben und für die Familienmitglieder mußte es als selbstverständlich gelten, das Schicksal ihrer Kinder dem Lebensgesetz der Machterhaltung unterzuordnen. Gleichzeitig aber bedeutete allzugroße Fruchtbarkeit von Nebenlinien auch eine Quelle von Streitigkeiten und eine politische Gefahr für die Hauptlinie, weshalb es auch Hausgesetze gab, die den Nachgeborenen die Ehelosigkeit auferlegten 19. Das bedeutete für Söhne, vor allem aber für die Töchter, daß private Wünsche kein Gehör fanden. Das „regierende Haus" hatte eine Prägekraft, der kaum

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Schwab, a.a.O. 104-137. H. Schulze, Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern und seine Bedeutung für die deutsche Staatsentwickelung, Leipzig 1851, 328 f f ; ders., Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3 Bde, Jena 1862, 1878, 1881, 1883. Zu ihm K. F. Heimburger, in: Bad. Biographien Bd. 1, Leipzig 1881, 205 ff., 417-433. 19

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jemand entrinnen konnte, solange es wirklich „regierend" und nicht nur repräsentierend war. Seine rechtliche Ordnung war das „Hausgesetz", das die nach dem Mannesstamm orientierten (agnatischen) Geschlechterverbände mit einer Β innen Verfassung ausstattete. Der ältere Sprachgebrauch (pactum, dispositio, beliebung, Erbvertrag, Erbverbrüderung) deutet an, daß diese Hausgesetze sich aus Gewohnheiten und Verträgen entwickelt hatten. Sie regelten unter anderem die Erbfolge, und zwar durchweg so, daß der Erstgeborene die Herrschaft zu übernehmen habe. Die übrigen Söhne wurden entweder zu standesgemäßer Heirat verpflichtet, um ein Reservoir geeigneter Nachfolger zu gewinnen, oder in den geistlichen Stand und Militärstand verdrängt. Töchter waren von der Nachfolge in die Herrschaft ausgeschlossen, sie traten hausintern nicht mehr als Rivalinnen auf, standen also der Heiratspolitik des Hauses zur Verfugung und wurden im Normalfall in der Reihenfolge nach außen verheiratet, die sich aus dem Alter ergab. Sie gehörten zwar zum genossenschaftlich organisierten Hausverband, hatten dort aber nur Anspruch auf Schutz. Diese Grundregeln galten übrigens nicht nur für den Hochadel, sondern mit zweckmäßigen Modifikationen für alle Stände der ständisch gegliederten Gesellschaft: Der Beruf des Vaters war das vorgegebene Muster für den erstgeborenen Sohn, während die Nachgeborenen, für die keine Versorgung gefunden werden konnte, in andere Rollen ausweichen mußten. Das gleiche läßt sich für die Mutterrolle der Töchter sagen, soweit sie verheiratet werden konnten und sich nicht dem geistlichen Stand zuwandten. Dieses Denken in der Kategorie des „Hauses" galt gleichermaßen für die bäuerliche Familie, für Handwerker und Kaufleute, vielleicht sogar in gewisser Weise für die Ausgestoßenen der Gesellschaft, soweit sie feste häusliche Einheiten aufbauen konnten, etwa die Dynastien der Henker und Abdecker. Überall versuchte man, durch Gewinnung einer „reichen Braut" oder eines „reichen Schwiegersohns" den eigenen Status zu verbessern. Umgekehrt strebte man danach, Mesalliancen, die sozialen Abstieg bedeuteten, mit allen Mitteln der Überredung und des Zwangs zu verhindern. Dazu wurden Heiraten von den Eltern arrangiert, unmündige Kinder einander „versprochen" und die Ehekontrakte mit Zähigkeit ausgehandelt. Jenseits dieser Gemeinsamkeiten beginnen aber die Unterschiede, welche die Ehen der höchsten Stände von denen des Volks trennten. Zunächst sind es eher Unterschiede der Intensität als solche der Qualität. Verlöbnis, Aufgebot, Trauung und Beilager vollzogen sich jedenfalls mit weit größerem materiellem Aufwand und in stärker sakralisierter Form als bei Privatleuten. Nach den Vorverhandlungen begann man mit dem Austausch von Portraits, die Braut bestimmte ihre künftigen Hofdamen, dem Land der Braut wurde eine „Fräuleinsteuer" zur Finanzierung der Ausstattung auferlegt. Waren dann die zahlreichen Wagen mit dem Brautschatz gepackt, fuhr man unter militärischer Begleitung an die Landesgrenze20. Dort wartete der Stellvertreter des Bräutigams, der sich nach diplomatischen Regeln auszuweisen hatte, die Braut in Empfang nahm und sie 4 FS Hollerbach

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dann seinerseits auf dem eigenen Territorium in die Hauptstadt geleitete, wo Hochamt und Trauung, Hochzeitsessen, Spiele, Wasserfahrten, Jagden, Feuerwerk und Volksbelustigungen stattfanden, roter und weißer Wein aus den Brunnen flöß, Ochsen gebraten wurden und die Armen reichlich Almosen erhielten. Chronisten notierten die Gäste, die Zahl der Gänge beim Hochzeitsessen und den Wert der Geschenke, Kupferstecher hielten die wesentlichen Stationen fest, Hofdichter traten mit Hochzeitscarmina auf und der Hofcompositeur hatte eine entsprechende Kantate zu liefern. Alles in allem bestätigte man sich und anderen, die Braut und künftige Landesmutter habe alle anderen Damen an Schönheit übertroffen. Dies alles diente der Selbstinszenierung und Binnenstabilisierung des regierenden Hauses. Man war sich bewußt, daß Macht ohne entsprechende Darstellung gefährdet ist 21 . Prunkvolle Hochzeiten demonstrierten die Lebenskraft der Dynastie. Gleichzeitig waren sie Akte der Politik unter Einsatz der nächsten Generation; denn Prinzen und Prinzessinnen waren die knappe Ressource des Herrschers, mit deren Hilfe er Machtzuwächse realisieren konnte, ohne Kriege zu riskieren. Infolgedessen hatten die Kinder zu gehorchen, um der Staatsräson willen. Damit ist das Stichwort der „ragion di stato" gefallen, das der Politik der Neuzeit ihr eigentliches Gepräge gibt 22 . Seit diese Formel aus der italienischen Volkssprache des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts in die Sprache der Gesandtenberichte und der gelehrten Traktate aufgestiegen war und sich über Europa verbreitete, stellte auch die Heiratspolitik regierender Häuser einen der Gegenstände dar, an denen sich rationale Berechnung (ragion) der Interessen des regierenden Hauses und damit des ganzen Landes zu bewähren hatte. Eine richtige oder falsche Entscheidung bei der Stiftung von „Konnexionen" durch eheliche Verbindungen konnte ein Land aufsteigen lassen oder ruinieren 23. Des-

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Κ H. Spieß, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: I. Erfen/K. H. Spieß (Hrsg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, 17-36. 21 M. Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt 1998. 22 M. Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1990. 23 C. Harn, Die verkauften Bräute. Studien zu den Hochzeiten zwischen österreichischen und spanischen Habsburgern im 17. Jahrhundert, Diss. phil. Wien 1995; A. Kohler, „Tu felix Austria nube..." Vom Klischee zur Neubewertung dynastischer Politik in der neueren Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994) 461-482; zusammenfassend R. Lebe, Ein Königreich als Mitgift. Heiratspolitik in der Geschichte, Stuttgart 1998. Als Beispiel für den Ruin sei an das im Pfälzischen Erbfolgekrieg gescheiterte Kalkül des Kurfürsten Karl-Ludwig von der Pfalz erinnert, der seine Tochter Lieselotte mit dem Bruder Ludwigs XIV. von Frankreich verheiratet hatte.

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halb war es ratsam, sie als „arcana imperii" geheimzuhalten: „Matrimonia Principum spectant ad Arcana Status"24. Öffentliche Verhandlungen, vor allem deren häufiges Scheitern, hätten für alle Beteiligten kompromittierende Wirkungen auslösen können. Staatsräson und die ihr nahe taciteische Formel der „arcana imperii" verschmelzen hier ineinander. Die Staatsräson gebietet Geheimhaltung. Über Staatsheiraten spricht man erst, wenn sie beschlossene Sache sind. Das Schloß freilich heftige Spekulationen und Indiskretionen an den Höfen nicht aus; denn auch für die juristischen Berater des Herrschers stellten die „matrimonia illustrium" eine Schicksalsfrage dar. Schon die Kinderlosigkeit eines Herrschers war für den Hof eine Katastrophe, weil der Tod des Herrschers in der Regel alle Ämter und Einkünfte seiner Entourage in Frage stellte. Alle Autoren von Fürstenspiegeln und „Politiken" der frühen Neuzeit waren sich deshalb einig: Die Verheiratung der Prinzen und Prinzessinnen ist eine Staatsaktion von höchster Bedeutung. Sie mußte langfristig vorbereitet und juristisch abgesichert werden. Zum Abschluß der staats- und völkerrechtlichen Verträge mußte die Frage des Heiratsalters geklärt sein, weiter die Einholung notwendiger Dispense durch den Landesherrn, den Kaiser oder den Papst, die Rechtsstellung der Braut im neuen Familienverband, die ihr zukommende Titulatur, die Höhe der Mitgift und der Morgengabe, die Rechte zu erwartender Kinder in Abgrenzung zu Kindern aus früheren Ehen, die eventuell notwendigen Konfessionswechsel sowie die Möglichkeit einer Ehescheidung bei Kinderlosigkeit. Die Eheschließung konnte lehenrechtliche Fragen aufwerfen, wenn innerhalb der Lehenpyramide nach oben oder nach unten geheiratet wurde. Schließlich spielte das Völkerrecht eine entscheidende Rolle, wenn Fürstenhochzeiten die Friedensverhandlungen begleiteten und „besiegelten". In diesen Fällen bot sich die Lösung an, die demütigende Zahlung von Kriegsentschädigung in eine ehrenvolle Mitgift der Tochter des unterlegenen Herrschers zu verwandeln. Verbanden sich zwei Dynastien durch Heirat, war schließlich zu klären, ob die Länder eine staatsrechtliche Einheit werden oder in Personalunion regiert werden sollten. Zunächst waren diese wichtigen Fragen noch eingefügt in das christliche Weltbild. Der sächsische Kanzler Melchior von Osse25 sagte in seinem „Politischen Testament", es sei fürwahr „ein hoher genediger Segen gottes nicht allein über her und gemahel sondern auch land und leut, wan solche hohe hairaten wol geraten" 26. Um dieses Gelingens willen wollte Osse den Fürsten auch nicht alles

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F. A. Pelzhoffer, Arcanorum Statuum libri decern, 2. Aufl. Frankfurt 1725, Lib. II, Caput X. 25 K. Luig, Melchior von Osse, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 111 (1984) 1329-1333. 26 O. A. Hecker (Hrsg.), Schriften von Dr. Melchior von Osse, Leipzig und Berlin 1922, 301. 4*

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gestatten, insbesondere nicht die Überschreitung kirchlicher Eheverbote. Dies mit Hilfe etwa päpstlicher Dispense zu erreichen, sagte er, führe zu nichts Gutem, wofür es Exempel gebe. Seine Vorstellung von einem christlichen „regimen conjugale" hoher Herren war (noch) nicht Ausdruck purer Staatsräson, sondern ethisch gebunden. Es erschien ihm „ruhmlich und gut, daß sich ein Obrigkeit cristlich und gotseligklich vorheirate und sich mit seinem gemahl freundlich und wol vortrage" 27 . Solange man von der Einbettung fürstlicher Ehen in einen religiösen Kontext ausgehen konnte, war dies eine wohl selbstverständliche Maxime. Sobald jedoch dieser Kontext schwächer wurde und das politische Kalkül dominierte, war die „freundliche Wohlverträglichkeit" der fürstlichen Ehepartner eher eine Nebensache, die man erfreut registrierte, wenn sie vorkam, die aber auch verzichtbar war, solange wenigstens die Hauptaufgaben dieser Ehen erfüllt wurden, die Zeugung von Kindern und die Akzeptanz gewisser Repräsentationspflichten, die für die Selbstdarstellung der Monarchien unabdingbar schienen. Die Kehrseite dieser Unterwerfung fürstlicher Ehen unter das Kalkül der Macht war die Zulassung von morganatischen Ehen zur linken Hand sowie das Mätressenwesen, dessen moralische Mißbilligung sich nur verhalten geltend machte. „Privatpersonen", sagte König Meieander in dem Staatsroman „Argenis" von John Barclay (1475-1552) zu seiner Tochter, „pflegen Heyrath nach jhrer Zuneigung oder Gleichheit der Sitten zu treffen; Wir hergegen müssen solche Anmutigkeit fahren lassen. Dann der Könige Zustandt erfordert/ daß sie jhnen baldt vnwürdige vnd feindselige Personen durch die heilige Pflicht der Heyrath verbinden; baldt mit einer grausamen Notwendigkeit alle Gesetze der Verbindnüsse vnnd Blutsfreundschafft hindan stellen. Derjenige pflegt vns am liebsten zuseyn/ der vnsere Macht mit Nutzen sonderlich stärcket; vnnd diese Verwandtschafften werden für die fürnembsten gehalten/ welche das Reich am meisten befestigen" 28. Regenten und ihre Familien heiraten also nach anderen Regeln als Privatpersonen, ihre Heiraten sind „Staatsheiraten". Prinzessinnen insbesondere, so Barclay, unterliegen doppelten Bindungen, denen der väterlichen Gewalt und der Staatsräson. Über die zitierte Sentenz aus der „Argenis" disputierte 1676 unter dem Vorsitz des Magisters Christoph Köhler ein Johann-Melchior Auerbach als Student der politischen Philosophie in Leipzig. Sein Thema lautete „De matrimonio illustri ex ratione status, praeeunte Barclajo, Lib. 3, Arg. 15" 29 . Er betonte zunächst 27

A.a.O. 301. J. Barclay, Argenis, 3. Buch, Kap. 20, Übersetzung von Martin Opitz, Teil I 1626, Teil II 1636 (Ges. Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. G. Schulz-Behrend, Bd. III, 1. Teil, Stuttgart 1970, 339 ff. [342]); S. Siegl-Mocavini, John Barclays „Argenis" und ihr staatstheoretischer Kontext. Untersuchungen zum politischen Denken der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999. 29 J. Chr. Köhler, De Matrimonio illustri ex ratione status, Leipzig 1676. 28

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den Unterschied zwischen der Heirat von Privatleuten und von Fürsten, erörterte dann die Frage der Partnerwahl und die dabei möglichen Motive (Zuneigung, Übereinstimmung des Lebensstils, Absichten auf Geld, Schönheit der Braut), was ihn dazu brachte zuzugestehen, daß auch Privatleute einer Art Staatsräson folgten. Im Hauptteil, der sich den „Matrimonia illustra" widmete, riet er zu einer gewissen „suavitas" im Umgang mit den Problemen der Fürstlichkeiten; denn ein Mißlingen provoziere Staatskatastrophen, während man sich durch Heiratsbündnisse (sanctissima matrimoniörum foedera) die schlimmsten Feinde zum Freund machen könne. Die launische Fortuna und die eiserne Necessitas standen gewissermaßen Pate, wie Auerbach mit vielen alten und neueren Beispielen belegte. Abweichungen von den für alle geltenden Regeln meinte er - mit Bezug auf Justus Lipsius' vielzitierte „prudentia mixta" - dulden zu können, aber er billigte sie nicht. Das Denken in Kategorien der Staatsräson entwertete tendenziell den christlichen Charakter der Ehe. Das entspricht der allgemeinen Tendenz zur Säkularisierung der Politik seit dem 17. Jahrhundert. Die theologischen Aussagen und die Sätze der neoaristotelischen Politiken wurden nun durch solche des Naturrechts verdrängt. Entsprechend wurden Staatsräson und arcana imperii schrittweise in den stärker verrechtlichten Kontext überfuhrt, verloren ihre machiavellistischen Schrecken und die Aura des Geheimnisses. Sie konnten in Form der „necessitas", die seit jeher als rechtlicher Topos anerkannt war, rational gehandhabt werden. Entsprechende Verrechtlichungstendenzen finden sich im frühneuzeitlichen Völkerrecht, speziell im Gesandtschaftswesen und im nun ausgeformten Zeremonialrecht. Auf diese Weise verlor auch die zum Arrangement einer Fürstenhochzeit nötige Maschinerie ihre geheimnisvollen Aspekte. Der Hoch- und Spätabsolutismus entwickelte in diesen Fragen eine professionelle Routine; die Beteiligten wußten, was zu tun war. Damit war auch schon der Keim fur eine kritische Einstellung gelegt. Rationalisierung, Verrechtlichung und Professionalisierung brachten diese Kritik gewissermaßen aus sich selbst hervor. Die Untertanen begannen, an der Notwendigkeit eines solch exorbitanten Aufwands zu zweifeln, sie kritisierten zunehmend auch die Legitimität einer neuen Obrigkeit, wenn diese Land und Leute als Heiratsgut einer Prinzessin erworben hatte. Je mehr sich die Unteilbarkeit der Territorien in den Sukzessionsordnungen stabilisiert hatte, desto mehr erschien der „Staat" als eine von der fürstlichen Familie sich ablösende rechtliche Einheit. Hermann Schulze feierte später die Einführung der Primogenitur gar als „Wiedergeburt der Staatsidee"30. Das reduzierte schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bedeutung der „Matrimonia illustra".

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Schulze (Anm. 19) VI.

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III. Mit den Staatsheiraten beschäftigten sich sehr verschiedene literarische Gattungen. An erster Stelle sind die Fürstenspiegel und die Fürstentestamente zu nennen, die einen als Belehrungen, Erziehungsanleitungen und fürstenzentrierte Staatsmoral „von außen", die anderen als Manifestationen des herrscherlichen Willens für die Regelung des Heiratsverhaltens des eigenen Hauses „von innen" 31 . Daneben war die „Politik" für das Thema zuständig, denn zu den Mitteln, wie man einen Staat erwerben, gut verwalten und vergrößern kann, gehörte eben auch die kluge Heiratspolitik, die wiederum eine klare Einschätzung der damit verbundenen Interessenlagen voraussetzte 32. Schließlich konnten die Juristen dem Thema nicht ausweichen. Sie berieten den Fürsten bei der Frage, ob die beabsichtigte eheliche Verbindung „standesgemäß" war 3 3 , sie formulierten die Ehekontrakte, legten das Zeremoniell der Eheschließung fest, handelten die staatsrechtlichen Abmachungen aus 34 , fixierten die Apanage (auch für den Fall der Kinderlosigkeit) und nahmen in den Vertrag auf, was zur Religionsausübung, zum Aufenthaltsort, zur Erziehung künftiger Kinder und anderen Punkten regelungsbedürftig erschien. War die Prinzessin als „Siegel des Friedens" nach einem Krieg zum Heiratsobjekt geworden, dann brachte sie möglicherweise in Form des Heiratsguts auch eine - möglicherweise bereits eroberte - Provinz ein, deren staatsrechtlicher Status nun zu klären war. Mit dem Heiratsvertrag konnten weitere völkerrechtliche Verträge verbunden sein, etwa Nichtangriffspakte, Verpflichtungen zur Rücksichtnahme sowie Zusagen „ewigen Friedens". Alle damit verbundenen Rechtsfragen waren innerhalb eines normativen Gerüsts zu lösen, das zunächst von den Hausgesetzen der beteiligten Dynastien, vom Reichsrecht und vom Völkerrecht gebildet wurde. Materiellrechtlich mußten das kanonische Recht und das mit ihm größtenteils identische protestantische Eherecht herangezogen werden, weiter das jeweilige Landesrecht und das subsidiäre gemeine Recht. Ganz entscheidend war dabei die Zuord-

31 B. Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, München 1981; H. Duchhardt (Hrsg.), Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1987. 32 H. Maier, Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: D. Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik, Freiburg 1962, 59. 33 J. S. Pütter, Ueber Mißheirathen Teutscher Fürsten und Grafen, Göttingen 1796; H. Zoepfl, Ueber hohen Adel und Ebenbürtigkeit, Stuttgart 1853; ders., Ueber Mißheiraten in den deutschen regierenden Fürstenhäusern überhaupt und in dem Oldenburgischen Gesammthause insbesondere, Stuttgart 1853. 34 N. Myler v. Ehrenbach, Gamalogia sive de matrimonio personarum imperii illustrium tarn inter se, wuam cum exteris, Stuttgart 1664; J. J. Moser, Familienstaatsrecht der deutschen Reichsstände, 2 Bde., Frankfurt 1775.

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nung der „matrimonia illustra" zum Staatsrecht; denn die allmähliche Durchsetzung der agnatischen Sukzession im Mannesstamm war eines der wesentlichen Mittel zur Ausformung des geschlossenen, unteilbaren Territorialstaats 35. Kein Wunder also, wenn sich auch die juristischen Fakultäten vor allem im 17. und 18. Jahrhundert mit dieser Spielart einer „Jurisprudentia heroica" beschäftigten und junge Juristen darüber disputieren ließen 36 . 1691 etwa disputierte in Kiel unter dem Vorsitz von Elias August Stryk ein Johannes Wohlmuth über das Thema 37 . Sein Repertoire war relativ begrenzt: Er beschrieb den immer noch neu erscheinenden Ausdruck der Staatsräson mit seinen verschiedenen Bedeutungen, übrigens ganz im Kontext der gängigen christlichen Machiavellikritik, um ihn dann auf die Staatsheiraten anzuwenden. Die erörterten Probleme zeigen allerdings, welcher Praktiken sich eine an der Staatsräson orientierte Politik bediente, um den Bestand des regierenden Hauses zu sichern. Zu den ohnehin üblichen Geheimverträgen der Politik gehörten auch geheime Heiratsabsprachen, in denen über Unmündige verfügt wurde. Ging man über Absichtserklärungen hinaus und Schloß die Ehe tatsächlich, so stellte sich zunächst die Frage nach der Gültigkeit einer Kinderehe samt eines entsprechenden Heiratskontrakts, sodann einer unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter Verzicht auf den priesterlichen Segen geschlossenen Ehe. Mindestens moralisch anstößig waren auch Ehen mit extremen Altersunterschieden der Partner. Als rechtlich nichtig konnte man Ehen zwischen engen Verwandten unter Verstoß gegen kanonische Eheverbote ansehen, zumal wenn der protestantische Landesherr sich als „praecipuum membrum ecclesiae" das Recht nahm, von diesen Eheverboten selbst zu dispensieren. Große praktische Probleme warfen weiter Ehen verschiedenen Bekenntnisses auf, wenn es nicht gelang, die fürstliche Braut zu einer Konversion zu bewegen. Einen Ausweg bot hier gelegentlich ein Vertrag, bei dem die Söhne dem Bekenntnis des Vaters, die Töchter dem der Mutter zu folgen hatten. Zusätzlich wurden Fragen der Wiederverheiratung erörtert, die Zulässigkeit von Doppelehen und morganatischen Ehen samt der dazu nötigen kaiserlichen Zustimmung, von Eheschließungen durch Procurator, etwa wenn der Ehemann im Gefängnis saß, weiter von symbolischen Ehen oder Ehen auf den Todesfall. Nachdem auf diese Weise das ganze Arsenal von Durchbrechungen der religiösen, moralischen und rechtlichen Ehenormen im Namen der Staatsräson durchdekliniert waren, wirkte die am Ende aufgeworfene Frage fast abwegig, ob man als Prinz unter dem Diktat

35 J. Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung der Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982, dort insbesondere die Beiträge von H. Mohnhaupt, J. Weitzel und J. Kunisch. 36 B. G. Struv, Jurisprudentia heroica seu ius quo illustres utuntur, 7 Bde., Leipzig 1743-1753. 37 E. A. Stryk, Diss. iur. De Matrimonio ex Ratione Status, von Staats-Heyrathen, Kiel 1691.

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der Staatsräson bei der Wahl der Ehegattin der Liebe folgen solle. Es war nicht zweifelhaft: Amor hatte als politischer Berater allenfalls eine Nebenrolle, was wiederum nicht ausschloß, daß bei der Hochzeitskantate „amor vincit omnia" intoniert wurde. Eine von dem Helmstedter Professor für Politik und Rhetorik Just Christopher Böhmer angeleitete Dissertation von 1704 über Fürstenhochzeiten aus Staatsräson38 behandelte das Thema nun vollends in klassischer Weise. Ihr Autor Johann Friedrich Arendts setzte die Staatsräson als Argumentationstopos voraus und verstand unter ihr ein im Prinzip legitimes Sortiment von „gewöhnlichen" und „ungewöhnlichen" (geheimen) Mitteln, wie ein blühendes Staatswesen erreicht werden könne. Dazu zählte er den Eheverzicht Nachgeborener, um Landesteilungen zu verhüten, aber auch Kinderheiraten oder langfristige Eheversprechen. Wichtig erschien ihm die Trennung von Herrschafts- und Eherechten, zumal wenn ein Souverän eine auswärtige Souveränin heiratete wie bei Ferdinand und Isabella von Aragon und Kastilien oder in dem Ehevertrag zwischen Philipp II. und Maria von England. Erst recht galt dies, wenn der Gemahl der Souveränität der Königin unterworfen und neben dem Ehevertrag zugleich ein Lehenverhältnis errichtet wurde, um ihn mit dem Lehenband an die Königin zu binden. Heiratete ein Standesherr unter seinen Stand, dann verstieß dies zwar gegen die Staatsräson, aber die Ehe war gültig, wenn auch mit der Konsequenz, daß die Kinder aus dieser Ehe aus der Erbfolge ausscheiden mußten. Doch suchte man in diesen Fällen, wie auch bei Kindern aus Ehen zur linken Hand, häufig den Weg zum Kaiser, um die Erhebung zu ebenbürtigen Kindern zu erreichen. Arendts, der sich auf die großen Autoritäten seiner Zeit stützt, etwa auf die Naturrechtslehrbücher von Grotius und Pufendorf, auf die „Gamalogia" von Nikolaus Myler von Ehrenbach oder auf Spezialliteratur wie Heinrich Salmuths Gutachten „pro matrimonio principis cum virgine nobili", war im Prinzip bereit, die Abweichungen vom bürgerlichen Eherecht zu tolerieren, soweit Offenbarungs- und Naturrecht nicht tangiert wurden. Das entspricht wohl der generellen Linie auf diesem heiklen Feld, auf dem man sich möglichst viel argumentativen Spielraum zu erhalten suchte, weil sowohl die fürstlichen Familien als auch deren Juristen nicht vor Überraschungen durch Eskapaden von Prinzen und Prinzessinnen sicher waren 39. Als letztes Beispiel für die politisch-juristische Erörterung der Staatsheiraten sei die Abhandlung „Ratio Status Pronuba" von Abraham Gottlob Winckler

38 J. F. Arendts, De Coniugiis Principum e Status Ratione initis, Helmstadt 1704, Praeses war Justus Christopher Böhmer, Professor der Politik und der Beredsamkeit. 39 So der Fall der Gräfin Wilhelmine von Solms-Hohensolms, die mit ihrem Hauslehrer verschwand und später einen Krieg zwischen Sachsen-Meiningen und SachsenGotha auslöste. Siehe M. Stolleis, Der Streit um den Vorrang, oder: Der Wasunger Krieg, in: K. H. Kästner (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999.

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von 1745 genannt40. Die Staatsräson fungiert hier also als römische Heiratsgöttin Pronuba. Die Abhandlung ist elegant und antikisierend, gelehrtes, schwungvoll rhetorisches Rokoko gewissermaßen. Zitate und Exempla werden aus der gesamten verfügbaren klassischen Welt von Horaz, Tacitus und Plutarch bis Bayle und Voltaire genommen. Der Autor kehrt wieder zu der eingangs zitierten Stelle von John Barclays „Argenis" zurück und entfaltet an ihr die spezifischen Probleme fürstlicher Ehen, die Konflikte zwischen Pflicht und Neigung. Neue Argumente zu den Kinderehen und den Ausnahmen von Heiratsverboten tauchen hier nicht mehr auf. Das kleine Werk ist eher eine poetisch-historische Girlande zu Ehren der Pronuba. Daß diese Welt zu Ende gehen könnte, spürt man noch nicht. Erst rückblickend hat die bürgerliche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts die Erfahrungen der Französischen Revolution auf die Staatsheiraten des 18. Jahrhunderts angewendet41. Spätestens mit der prägenden Gestalt der preußischen Königin Luise setzte sich auch in regierenden Häusern das Leitbild der bürgerlichen Ehe durch. Das Mätressenwesen geriet in die Kritik 4 2 . Sowohl die Staatsräson verschwand aus dem Sprachgebrauch als auch die Instrumentierung der Heiratspolitik für die politischen Zwecke des Staates. Das „Fürstenrecht" wurde immer mehr zu einer Privatsache regierender Häuser, was den juristischen und finanziellen Reiz dieser Goldgrube für juristische Gutachten allerdings nicht minderte 43. Das Wohl des Staates, der zur juristischen Person umgeformt wurde, und das Wohl der Dynastie traten in der Theorie nun ebenso auseinander wie Staat und Staatsform. Von da war dann der Weg nicht mehr weit, auch die Staatsform der Monarchie für entbehrlich zu halten, nachdem sich ihre Legitimität verbraucht hatte.

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Ratio Status Pronuba, adumbrata ab Abr. Gottlob Winckler, Leipzig 1745. R. Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der Königin, in: Zeitschrift für Historische Anthropologie 6 (1998) 76-103. 42 C. Hanken, Vom König geküsst. Das Leben der großen Mätressen, Berlin 1996. 43 Siehe etwa A. W. Heffter, Beiträge zum deutschen Staats- und Fürstenrecht, 1. Lief. Berlin 1829; von Heinrich Zöpfl (1807-1877) sollen rd. 300 einschlägige Gutachten vorliegen (A. v. Schulte, ADB 45, 432-434); intensiv tätig waren auch Hermann Schulze v. Gaevernitz (1824-1888) sowie Hermann Rehm, Modernes Fürstenrecht, München 1904; ders., Die juristische Persönlichkeit der standesherrlichen Familie. Denkschrift im Auftrage des Vereins der deutschen Standesherren, Straßburg 1911. 41

Max v. Seydel Bayerns Staatsrechtslehrer im Bismarckreich Von Peter Landau

I. Einleitung Die juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität hat besonders seit ihrer Verlegung von Ingolstadt nach Landshut zu Beginn des 19. Jahrhunderts viele Gelehrte zu ihren Mitgliedern zählen können, die in der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft einen herausragenden Platz einnehmen1. Zu ihnen gehören auch mehrere Vertreter des öffentlichen Rechts, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine streng juristisch orientierte Staatsrechtswissenschaft eine Blütezeit erlebte. Von ihr wurde seit etwa 1880 allmählich ein selbständiges Gebiet des Verwaltungsrechts unterschieden, das dann auch an den deutschen Universitäten in eigenen Lehrveranstaltungen unterrichtet wurde2. In Bayern gab es bereits seit dem 18. Jahrhundert eine kontinuierlich gepflegte selbständige Staatsrechtsliteratur, deren Geschichte der Würzburger Staatsrechtler Robert Piloty 1908 in einem umfangreichen Festschriftaufsatz mit dem Titel „Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechtsliteratur" mit Stolz schildern konnte3. An die Spitze seiner Darstellung setzte Piloty Kreittmayr als größten altbayerischen Juristen, und er beendete seinen Überblick mit Max v. Seydel als einem Autor, der in seiner Bedeutung für Bayern dem allbekannten Kreittmayr zumindest gleichzustellen sei. Die Erinnerung an Max v. Seydel

1 Der hier publizierte Text wurde am 15. Juli 1998 in einer der bayerischen Geschichte gewidmeten Vortragsreihe unter dem Motto „Wir wollen Teutsche sein und Bayern bleiben" an der Universität München vorgetragen. Das Motto entstammt einer Sentenz König Ludwigs I. Die Vortragsform wurde für die Publikation nicht verändert, jedoch durch Anmerkungen ergänzt. 2 Zur Genese des Verwaltungsrechts in Deutschland als einer selbständigen juristischen Disziplin cf. die umfassende Darstellung in dem Kapitel „Verwaltungswissenschaft und Verwaltungslehre" bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungsrechtswissenschaft 1850-1914 (München 1992) 381-422. 3 Robert Piloty, Ein Jahrhundert bayerischer Staatsrechtsliteratur, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband, Bd. I (Tübingen 1908) 203-282.

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war zumindest kurz nach 1945 noch so lebendig, daß Hans Nawiasky, ein anderer großer Staatsrechtslehrer der Münchener Fakultät und der geistige Vater der bayerischen Verfassung, im Sommersemester 1953 an der Universität einen Vortrag mit dem Titel „Max v. Seydel" hielt, den er mit folgendem Satz eröffnete: „In der großen Zahl hervorragender Gelehrter, welche den juristischen Lehrkanzeln unserer Alma Mater zu Ruhm und Ansehen verholfen haben, nimmt zweifellos Max v. Seydel einen ersten Platz ein" 4 . Nawiasky beschränkt sich dann auf ganz kurze biographische Hinweise, einen Überblick über das Werk und schließt mit dem Gedanken, es sei Seydels Vermächtnis, daß es die bayerischen Hochschulen „niemals versäumen dürfen", dem bayerischen Staatsrecht einschließlich des Verwaltungsrechts in juristischer, soziologischer und ideologischer Hinsicht ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Bayern habe auch auf diesem Gebiet keinen Anlaß, im „Kranze der deutschen Länder sein Licht unter den Scheffel zu stellen"5. Soweit Nawiasky 1953. Trifft diese Bewertung zu, so dürfte es besonders angebracht sein, in einer der Geschichte Bayerns gewidmeten Vortragsreihe auch eines der größten bayerischen Juristen zu gedenken. Da uns inzwischen aber fast ein volles Jahrhundert von Seydels Todestag trennt, muß sicher einiges zum Leben gesagt werden, bevor wir auf das wissenschaftliche Werk und seine bleibende Bedeutung eingehen können.

II. Das Leben Max Seydel wurde 1846 in der pfälzischen Stadt Germersheim geboren, die damals von Bayern zu einer bayerischen Festung ausgebaut wurde, mit der man den gefährdeten, auf dem Wiener Kongreß wiedererworbenen pfälzischen Besitz gegen befürchtete französische Angriffe schützen wollte 6 . Von seiner Herkunft her war Max Seydel teils Kurpfälzer und teils Altbayer; der Vater und der Großvater stammten aus Düsseldorf, das bekanntlich seit 1685 zur Kurpfalz gehörte - die Mutter war in Altötting geboren, einer „urbayerischen Gegend"7. Der Vater Wilhelm Seydel wirkte in Germersheim als Festungsbaudirektor, hatte also eine führende Position in Bayerns zweitwichtigster Militärstadt neben Ingolstadt - das bayerische Landau war damals übrigens eine Festung des 4

Hans Nawiasky, Max von Seydel. Rede an der Münchner Universität 1953, (Münchner Universitätsreden, N.F. H.4, 1954) 3. 5 Nawiasky (wie Anm. 4), 14. 6 Zum Leben ausführlich Hermann Rehmy Max v. Seydel. Ein Lebensbild. AöR 16 (1901) 359-401; außerdem Helmut Kalkbrenner, Max v. Seydel und die Aktualtiät seiner deutschen Bundes-Theorie, in: Um Recht und Freiheit. FS für Friedrich August Freiherr von der Heydte zur Vollendung des 70. Lebensjahres, Bd. 2 (Berlin 1977), 871938, hier pp. 875-879. 7 So Rehm (wie Anm. 6) 360. Seydel war Einzelkind und wurde von seiner Mutter Therese, geborene Schilcher, überlebt.

Max v. Seydel - Bayerns Staatsrechtslehrer im Bismarckreich

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Deutschen Bundes. Bayerns Armee war dem künftigen Juristen also bereits seit der Kindheit gegenwärtig und so ist es wohl kein Zufall, daß sein monumentales bayerisches Staatsrecht mit einem siebenten Buch „Das Heerwesen" abschließt8. Germersheim blieb auch nach 1871 im Bismarckreich bayerische Landesfestung, denn Bayern konnte sich damals in den Bündnisverträgen die Heereshoheit als Teil der Staatsgewalt erhalten 9. Der junge Max Seydel hat nur die Volksschulzeit in Germersheim verbracht. 1855 zogen die Eltern nach München, wo er am Ludwigsgymnasium 1864 das Abitur „mit der ersten Note" bestand10. Es folgte ein vierjähriges juristisches Studium in München und Würzburg; in Würzburg wurde er auch 1869 mit einer Dissertation aus dem römischen Recht promoviert 11 . Die Referendarzeit verbrachte er in München und Traunstein und konnte nach der Assessorprüfung in den bayerischen Staatsdienst eintreten, da er im Staatskonkurs mit der Note „ I " abgeschnitten hatte 12 . In der bayerischen Verwaltung war der junge Assessor von 1872 bis 1881 tätig, hauptsächlich im Kultus- und im Innenministerium, wobei er besonders vom bayerischen Minister v. Lutz gefördert wurde, dem führenden Politiker der Zeit Ludwigs II 1 3 . Die Begründung des Bismarckreichs weckte bei Seydel offenbar ein besonderes Interesse für das Staatsrecht, so daß er seit 1872 auf diesem Gebiet fortlaufend publizierte. Schon 1873 wurde er nebenamtlich Lehrer für Kriegs- und Völkerrecht an der bayerischen Kriegsakademie, einer Art Vorläufer unserer Bundeswehrhochschulen 14. Seit 1879 hatte er noch ein weiteres Nebenamt als Vorstand des „Königlich Bayeri-

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Max v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. I I I (Freiburg/Br. u. Leipzig 1896): Siebentes Buch. Das Heerwesen, pp. 696-731. Es folgt darauf nur noch ein kurzer Abschnitt über „Die auswärtigen Angelegenheiten" im Umfang von fünf Seiten. 9 Cf. hierzu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III. (Stuttgart etc. 1988), 999 f. Allerdings war im Kriegsfall auch die bayerische Armee der kaiserlichen Befehlsgewalt unterworfen. Außerdem die ausführliche Darstellung der Rechtslage bei Seydel (wie Anm. 8), 704-708. 10 Cf. Rehm (wie Anm. 6), 361. 11 Max v. Seydel, Die gemeinrechtliche Lehre vom Macedonianischen Senatsbeschlusse (Würzburg 1868). Ein umfassendes Verzeichnis der rechtswissenschaftlichen Arbeiten Max v. Seydels wurde von Karl Krazeisen in den Blättern für administrative Praxis 51 (1901), 247-268 publiziert. Zur Dissertation cf. auch Rehm (wie Anm. 6), 364. Seydel scheint seit seiner Studienzeit eine vorzügliche Kenntnis des Pandektenrechts gehabt zu haben; er soll sich noch gegen Ende seines Lebens im Herbst 1899 in das vor dem Inkrafttreten stehende BGB vertieft haben. - cf. hierzu Robert Piloty, Max v. Seydel. Ein Nachruf, in: Blätter für administrative Praxis 51 (1901), 225-247, hier p. 232 f. 12 Cf. hierzu Rehm (wieAnm. 6), 369. 13 Zu Seydels Tätigkeit im Ministerium und der bayerischen Verwaltung cf. Rehm (wie Anm. 6), 365 und 368 und Kalkbrenner (wie Anm. 6), 877. Zu Lutz cf. Walter Grasser, Johann Freiherr von Lutz (Miscellanea Bavarica Monacensia H . l ) 1969. 14 Cf. Rehm (wie Anm. 6), 366 und Kalkbrenner (wie Anm. 6), 877.

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sehen Statistischen Bureaus" zu versehen 15. Trotzdem blieb er wissenschaftlich und sogar literarisch produktiv, da er schon 1872 einen Band „Gedichte" veröffentlichte und 1881 mit einer als „meisterhaft" gerühmten Übersetzung des grossen philosophischen Epos der lateinischen Literatur „De rerum natura" von Lukrez hervortrat 16 -, Seydel war also alles andere als ein Mann „von mäßigem Verstände", eine vielzitierte Charakterisierung des bayerischen Juristen durch Ludwig Thoma 17 , die jedenfalls für die Juristengeneration kurz vor Thoma wenig historische Glaubwürdigkeit besitzt; man denke z. B. an andere literarisch tätige bayerische Beamte und Anwälte 18 . Da Seydel aufgrund seiner Publikationen bereits um 1880 zu den bekanntesten, wenn auch umstrittensten deutschen Staatsrechtsautoren gehörte, ist seine Berufung zum Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Münchner Universität 1881 wenig überraschend, allenfalls insofern, als er zum Professor ohne förmliche Habilitation ernannt wurde 19 . Ministerpräsident Lutz hat diese Berufung offenbar gefördert; der Neuberufene war erst 35 Jahre alt, hatte aber schon fünf Jahre zuvor einen Ruf an die russische Universität Dorpat erhalten, den er als heimatverbundener Bayer ablehnte20. In München trat Seydel in eine Fakultät ein, die bereits eine führende Stellung unter Deutschlands juristischen Fakultäten neben Berlin und Leipzig errungen hatte - seine bedeutendsten Fa-

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Cf. Rehm (wie Anm. 6), 368. Lukretius. Deutsch von Max Seydel (Max Schlierbach), 1881. Cf. hierzu Rehm (wie Anm. 6), 367 f und Piloty (wie Anm. 11), 226. 17 Ludwig Thoma, Der Vertrag: „Der Königliche Landgerichtsrat Alois Eschenberger war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstände." cf. Ludwig Thoma, Der Münchner im Himmel (München 1986), 108. Zu Thoma als Juristen cf. Otto Gritschneder, Ludwig Thoma und die Justiz, in: ders., Weitere Randbemerkungen (München 1986), 95-107. 18 Es sei etwa erinnert an Otto Freiherrn v. Völderndorff, Verfasser einer auch heute noch für die Kenntnis des Geltungsbereichs der bayerischen Partikularrechte vor 1900 unentbehrlichen „Civilgesetzstatistik des Königreiches Bayern" (Nördlingen 1880). Völderndorff war von 1872-1898 ein beliebter Autor von Feuilletonartikeln, gesammelt unter dem Titel: O.v. Völderndorff, Harmlose Plaudereien eines alten Münchners, 2 Bd. (München 1892 und 1898). Ein weiteres Beispiel bietet der durch die Harden / Eulenburg-Prozesse bekannte Münchner Anwalt Max Bernstein, Autor von Theaterstücken. Zu Bernstein cf. Karsten Hecht, Die Harden-Prozesse. Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, jur. Diss, München 1997, 28 f., ferner Friedrich v. der Leyen, Art. Bernstein, NDB 2 (1955), 135 f. 16

19 Zu Seydels Berufung cf. Rehm (wie Anm. 6), 368 f. und Kalkbrenner (wie Anm. 6), 877 f. Seydel war Nachfolger von Josef v. Pözl (1814-1881), der durch Lehrbücher des bayerischen Verfassungsrechts und des bayerischen Verwaltungsrechts bekannt geworden war. Zu Pözl cf. Piloty (wie Anm. 6), 255-262 und Stolleis (wie Anm. 2), 286 f. 20 Zur Berufung nach Dorpat Rehm (wie Anm. 6), 369.

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kultätskollegen waren der große Pandektist Alois Brinz 21 und der Begründer der nordischen Rechtsgeschichte Konrad Maurer 22 . Im Staatsrecht hat erst Seydel München zu einem wissenschaftlichen Zentrum gemacht - die führenden Staatsrechtler seiner Generation waren neben ihm Paul Laband in Straßburg 23 und Albert Hänel in Kiel 2 4 , später noch Georg Jellinek in Heidelberg 25 . Nach Übernahme der Professur begann Seydel sofort mit der Abfassung eines großen Werks über „Bayerisches Staatsrecht", wofür er dank der Protektion durch Lutz uneingeschränkt die bayerischen Archive benützen konnte und deren Akten veröffentlichen durfte. Er erhielt sogar ein Dienstzimmer im Innenministerium für seine wissenschaftliche Arbeit, hatte also sehr günstige Arbeitsbedingungen26. In etwa zehn Jahren schrieb er nun ein bayerisches Staatsrecht von insgesamt sechs Bänden, zu denen schließlich noch ein siebenter Registerband hinzukam. Dieses Monumentalwerk erschien von 1884 bis 1894; es umfaßt insgesamt 4285 Seiten 27 . Das Hauptwerk Seydels war derart erfolgreich, daß schon 1896 eine zweite Auflage nötig wurde; eine dritte wurde nach seinem Tode von seinen Schülern Piloty und Graßmann 1913 kurz vor Aus-

21 Zu Alois Brinz cf. Wolfgang Kunkel, Alois von Brinz, in: Geist und Gestalt. Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (München 1959), 249-259; ferner Jürgen Rascher, Die Rechtslehre des Alois von Brinz (Berlin 1975). 22 Zu Konrad Maurer cf. Roderich v. Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. III/2 (München 1910, ND Aalen 1978), 902-908; ferner mein Beitrag „Konrad Maurer (1823-1902), der Lehrer Amiras", in: Festschrift Karl v. Amira, hrsg. v. Peter Landau/Hermann Nehlsen/Matthias Schmoeckel (Rechtshistorische Reihe 206, München 1999) 23-27. 23 Zu Paul Laband cf. Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus (lus Publicum 7, 1993), besonders pp. 177-208, ferner Stolleis (wie Anm. 2), 341-348 sowie nunmehr umfassend Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918) (= lus Commune, Sonderhefte, 102, Frankfurt a. M. 1997), 83-182. 24 Zu Albert Hänel cf. Manfred Friedrich, Zwischen Positivismus und materiellem Verfassungsdenken. Albert Hänel und seine Bedeutung für die deutsche Staatsrechtswissenschaft (1971) ; ferner Stephan Graf Vitzthum, Linksliberale Politik und materielle Staatsrechtslehre; Albert Hänel 1833-1918 (1971) sowie jetzt Schönberger (wie Anm. 23) 120-124 u.ö. 25 Zu Georg Jellinek bisher vor allem Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft (Frankfurt/M. 1953), 161-185; ferner Stolleis (wie Anm. 2), 450-455. Ein von R.Paulson und Manfred Schulte herausgegebener Tagungsband eines Symposiums über Georg Jellinek in Dresden 1998 befindet sich in Vorbereitung, s. jetzt Schönberger (wie Anm. 23) 216-300. 26 Hierzu Rehm (wie Anm. 6), 370 f. 27 Die erste Auflage erschien in sieben Bänden 1884-1894: Bd. I (1884), Bd. II (1885), Bd. III (1888); Bd. IV (1889), Bd. V/1 (1890), Bd. V/2 (1891), Bd. VI/1 (1892), Bd. VI/2 (1893), Bd. VII:Registerband (1894). Die zweite durchgesehene Auflage erschien in vier Bänden 1896.

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bruch des Ersten Weltkriegs herausgebracht 28. Kein anderer deutscher Staat hat in der Zeit des Kaiserreichs eine vergleichbare Darstellung seines Staatsrechts erhalten, nicht einmal Preußen 29. Trotz der Arbeit an seinem opus magnum hat Seydel während dieser Zeit noch zahlreiche andere Bücher und Abhandlungen veröffentlicht, unter denen ich nur seinen Kommentar zur Reichsverfassung hervorhebe, der zuerst 1873 und dann 1897 in einer zweiten Auflage erschien30. Seine Leistungen wurden in Bayern auch durchaus anerkannt; abgesehen von mehreren Orden erhielt er 1893 den persönlichen Adel 31 . Nach Fertigstellung seines „Staatsrechts" begann für Seydel eine gesundheitlich schwere Zeit, die mit seinem frühzeitigen Tode endete. Er besaß seit Kindeszeiten keine stabile Gesundheit und war schon seitdem schwerhörig. Als 47jähriger erlitt er 1894 einen ersten Schlaganfall, war zeitweise gelähmt und starb mit 54 Jahren an einem weiteren Schlaganfall 190132. Trotz der erheblichen Behinderung während der letzten sieben Jahre seines Lebens hat er jedoch auch in dieser Zeit viel publiziert und seine Lehrtätigkeit weitgehend fortgesetzt. Er übernahm sogar noch 1895 die Redaktion einer traditionsreichen bayerischen juristischen Zeitschrift, der „Blätter für administrative Praxis", heute „Bayerische Verwaltungsblätter" 33 , schrieb Zeitungsartikel über rechtspolitische Fragen und nahm entschieden Stellung in einem Gutachten zum wichtigsten Verfassungsstreit der Zeit des Kaiserreichs, dem Thronstreit im Fürstentum Lippe, in dem er das Recht eines kleinen Staats gegen massive Einflußnahmen durch Wilhelm II. selbst und durch kaisernahe Staatsrechtslehrer ver-

28 Max v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 3. Aufl. bearbeitet von Josef Grassmann und Robert Piloty, 2. Bd. (Tübingen 1913). 29 In diesem Sinne etwa Nawiasky (wie Anm. 4), 4; auch schon Paul Laband in seinem Nachruf auf Seydel in DJZ 6 (1901) 228; ferner Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 50, Berlin 1997) 262. 30 Max v. Seydel, Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich (Würzburg 1873, Freiburg i.B./Leipzig 1897). 31 Zu den Ordensverleihungen Rehm (wie Anm. 6), 377 und 382, Kalkbrenner (wie Anm. 6), 879. Die Erhebung in den Adelsstand erfolgte am 22.02.1893. Kurz vor seinem Tode erhielt Seydel im Dezember 1900 die Ehrendoktorwürde der juristischen Fakultät der Universität Czernowitz - cf. Rehm (wie Anm. 6), 382. 32 Zu Seydels teilweise auf die frühe Kindheit zurückgehenden Erkrankungen Rehm (wie Anm. 6), 361 und 378 f. sowie Kalkbrenner (wie Anm. 6), 879. Seine Vorlesungstätigkeit mußte Seydel schon im März 1899 aufgeben. 33 Hierzu Helmut Kalkbrenner, Hundert Jahre Bayerische Verwaltungsblätter, BayVBl 19 (1973), 4-9 und 38-42, hier p. 8 f - ders. (wie Anm. 6), 865, sowie nunmehr allgemein Carsten Doerfert, Die Zeitschriften des Öffentlichen Rechts 1848-1933, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts (=Ius Commune Sonderhefte, 1287, Frankfurt a. M. 1999), 429-447, hier p. 422 f., 426 m. Anm. 22.

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focht 34 . Seydel war mit Recht stolz auf die wissenschaftliche Unabhängigkeit seiner Publikationen; er vertrat ζ. B. die Ansicht, man könne als Professor kein Gutachten übernehmen, wenn man vom Rechtsstandpunkt des Auftraggebers nicht überzeugt sei 35 . Zugleich betrachtete sich Seydel aber auch als Politiker, wohl aufgrund seiner Gutachten in politisch umstrittenen staatsrechtlichen Fragen, obwohl er niemals ein politisches Mandat anstrebte. Er nahm für sich in Anspruch, daß seine staatsrechtlichen Lehren nicht vom eigenen politischen Standpunkt beeinflußt seien36. Sein Beispiel widerlegt die auch heute noch vielfach verbreitete Legende, daß der juristische Positivismus der Zeit des Kaiserreichs eine „Rechtswissenschaft ohne Recht" erzeugt habe37 - Bayerns repräsentativer Staatsrechtslehrer verband eine positivistische Methodik mit hohem wissenschaftlichen Ethos und entschiedenem politischen Engagement.

I I I . Das Werk Seydels wissenschaftliches Werk kann hier nur skizzenhaft vorgestellt werden. Hier können daher nur einige Hauptlinien hervorgehoben und Nachwirkungen Seydels in den Blick genommen werden.

1. Bayerisches Staatsrecht An erster Stelle ist natürlich das „Bayerische Staatsrecht" zu nennen. Über dessen monumentalen Umfang habe ich schon einiges gesagt. Es ist aber auch inhaltlich etwas ganz Besonderes. Zunächst in der Darstellung des Staatsrechts, die geradezu enzyklopädisch ist. Dabei werden alle Verfassungsorgane im Zusammenhang der bayerischen Geschichte dargestellt; eine allgemeine histori-

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Zu Seydels Gutachten im sog. Lippischen Thronstreit cf. Anna Bartels-Ishikawa, Der Lippische Thronstreit (=Rechtshistorische Reihe, Bd. 128, Frankfurt/M. 1995), 5557, 119-123, 175-190. Das Gutachten mit dem Titel „Artikel 76 der Reichsverfassung und der Lippische Thronstreit" wurde 1898 als Manuskript gedruckt. Cf. auch Μ ν. Seydel, Der Streit um die Thronfolge in Lippe, DJZ 3 (1898), 481-483. Beide Texte sind zusammen mit sieben Zeitungsartikeln Seydels zum Lippischen Thronstreit erneut gedruckt in: Μ . v. Seydel, Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, N.F.v, hrsg. von Karl Krazeisen (Tübingen/Leipzig 1902), 158-261. 35 In: Zum Seydelschen Gutachten in der Lippischen Angelegenheit, zuerst anonym in: Allgemeine Zeitung, Morgenblatt Nr. 2'99 vom 28.10.1898; hier zitiert nach: Max v. Seydel, Staatsrechtliche Abhandlungen, N.F. (Tübingen/Leipzig 1902), 232. 36 Cf. hierzu Piloty (wie Anm. 11), 235 f. 37 Leonard Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht (zuerst 1917). Zu Seydels Methode cf. Piloty (wie Anm. 11), 230-235, auch in Abgrenzung zu Laband, Otto Mayer und Jellinek. 5 FS Höllerbach

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sehe Einleitung umfaßt 168 Seiten38. Seydels Hauptwerk ist daher zu einem erheblichen Teil auch eine bayerische Verfassungsgeschichte, auf diesem Gebiet vor allem für das 19. Jahrhundert nach wie vor unentbehrlich und aufgrund von Seydels Aktenkenntnis zuverlässig. Außer dem Verfassungsrecht enthält Seydels „Bayerisches Staatsrecht" dann aber noch das gesamte bayerische Verwaltungsrecht, Gemeinderecht, Beamtenrecht, Steuer- und Finanzrecht, Polizeirecht, Sozialversicherung, Gesundheitsverwaltung, das Wirtschaftsverwaltungsrecht bis zur Eisenbahn, dem Bergbau und dem Gewerberecht, schließlich noch eine grundlegende Darstellung des Staatskirchenrechts, des Unterrichtsrechts für Schulen und Universitäten und ferner Bayerns Heer und seine auswärtigen Beziehungen39. Es entsteht vor uns ein riesiges Panorama Bayerns in der Zeit der konstitutionellen Monarchie, das für diese Epoche ungewöhnlich aussagekräftig ist. Auch die einzelnen Institutionen der Staatsverwaltung werden jeweils in ihrem geschichtlichen Zusammenhang dargestellt, so daß Seydel auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts die Position einer „geschichtlichen Rechtswissenschaft" vertritt, aber gleichzeitig stets exakte Dogmatik betreibt. Dabei ist ein etatistischer Standpunkt in der Tradition von Montgelas unverkennbar, wobei dem Staat auch Aufgaben der Daseinsvorsorge zugewiesen werden 40. Andererseits bejaht Seydel die kommunale Selbstverwaltung - die Ortsgemeinde sei geschichtlich kein Geschöpf des Staates, sondern älter als der Staat41, ein Gedanke, den die heutige bayerische Verfassung in der Kennzeichnung der Gemeinden als ursprüngliche Gebietskörperschaften aufgegriffen hat (Art. 11 II l ) 4 2 . Seydels Etatismus geht auch nicht etwa so weit, daß er sich im Beamtenrecht der zu seiner Zeit und noch lange danach herrschenden Lehre Labands anschließen würde, daß das Beamtenverhältnis ein besonderes Gewaltverhältnis sei - im öffentlichen Recht gebe es keinen Rechtssatz, daß der Beamte gegenüber dem Dienstherren mit seiner selbständigen Persönlichkeit

38 M.v.Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. I (Freiburg i.B./Leipzig 1896): Erstes Buch. Geschichtliche Einleitung (1-168). 39 Bd. I: Zweites Buch: Herrscher und Staat (169-345); Drittes Buch: Das Verfassungsrecht Bd. I: 346-670 und Bd. II: 1-303. Ferner in Bd. II: Viertes Buch: Allgemeine Funktionen der Staatsgewalt (304-368). Fünftes Buch: Das Finanzrecht (369-728). Bd. III: Sechstes Buch: Das Recht der Landesverwaltung (1-695); Siebentes Buch: Das Heerwesen (696-731); Achtes Buch: Die auswärtigen Angelegenheiten (732-737). 40 Seydel nennt zwei unmittelbare Staatszwecke: die Rechtspflege und die Sorge für das Wohl der Staatsangehörigen in Bezug auf ihr körperliches, wirtschaftliches und geistiges Leben (Bayerisches Staatsrecht, Bd. III, p. 1). Entsprechend gliedert er die Verwaltungstätigkeit in Buch 6: Das Recht der Landes Verwaltung. 41 Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. I I (1896) 3: „der Staat habe die Ortsgemeinde nicht erfunden, sondern vorgefunden. Die Hand des Gesetzgebers habe nur mit festeren Strichen nachgezeichnet, was die Natur vorzeichnete" - eine interessante Formulierung zu den Aufgaben der Gesetzgebung (P.L.). 42 Bayerische Verfassung vom 2.12.1946, Art. 11 Abs. 2 Satz 1: „Die Gemeinden sind ursprüngliche Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts."

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abdanken würde 43 . Seydel konstruiert ein durchaus rechtsstaatliches Beamtenrecht. Der Gesichtspunkt des Gemeinwohls wird von ihm bei der Sozialversicherung voll bejaht, indem er ganz im Sinne Bismarcks ausführt, daß die Sozialversicherung um des öffentlichen Wohles, nicht um des Interesses der Einzelnen willen bestehe44. Im Verhältnis von Staat und Kirche plädiert er eindeutig für die Überordnung der Staatsgewalt, da die Souveränität keine Teilung ertrage 45; ein Grundrecht auf Glaubensfreiheit gibt es nur als Gewissensfreiheit und Recht auf Hausandacht46. Bayern kannte vor der Weimarer Reichs Verfassung 1919 kein Recht von Religionsgemeinschaften, sich selbständig ohne staatliche Genehmigung zu konstituieren, was ζ. B. in bezug auf Gemeinden der Altkatholiken eine Rolle spielte47. Diese Einschränkung der Religionsfreiheit wurde von Seydel bejaht. Im Bildungsbereich vertritt Seydel zunächst die Verantwortung des Staats für das Volksschulwesen - der Satz, daß Volksschulen Gemeindeanstalten seien, sei eine „leere Redensart" 48. Es ist für ihn auch selbstverständlich, daß Privatschulen von der Genehmigung und Aufsicht des Staats abhängig seien 49 . Bayern hat für Seydel auch in dem Recht der Landesverwaltung ein ausgefächertes Verwaltungsrecht; nach den wahrgenommenen Staatsaufgaben ist es ein Sozial- und Kulturstaat. Diese auch im heutigen Bayern in Art. 3 der Verfassung festgelegte Ausdehnung der Staatszwecke beruht nicht etwa erst auf der Verfassung des Freistaats nach 1918, sondern ist bereits ein Erbe der konstitutionellen Monarchie.

43 Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. II (1896), 188. Die selbständige Rechtspersönlichkeit des Dieners ergebe sich aus dem Rechtssatz, daß er jederzeit ohne besonderen Rechtsgrund aus dem Dienst scheiden könne. 44 Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. III (1896), 144. 45 Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. I I I (1896), 485. Dieses Argument Seydels wird auch heute im Staatskirchenrecht des demokratischen Staats des Grundgesetzes vertreten - c f . Stefan Muckel Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd. 29, Berlin 1997), 106-115. 46 Seydel Bayerisches Staatsrecht, Bd. I I I (1896), 482-485. 47 Hierzu ausführlich Seydel Bayerisches Staatsrecht, Bd. I I I (1896), 480-496. „Glaubensgesellschaften" bedurften in Bayern bis 1919 gesetzlicher Anerkennung oder königlicher Genehmigung durch Verwaltungsakt - es bestand noch ein vom preußischen ALR übernommenes System, das in Preußen selbst durch die Verfassung von 1850 außer Kraft getreten war. Zur Anerkennung der Altkatholiken Seydel a.a.O. pp. 463-471. Sie waren in der Erzdiözese München-Freising als Privatkirchengesellschaft anerkannt, dagegen in den Diözesen Eichstätt und Regensburg auf die „Hausandacht" beschränkt (p. 471). Zu diesem Problemkreis auch meine Studie „Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Religionsfreiheit", JZ 1995, 909-916, hier zu Bayern p. 915. 48 Seydel Bayerisches Staatsrecht, Bd. III (1896), 643. 49 Seydel Bayerisches Staatsrecht, Bd. III (1896), 694.

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2. Seydels Bundesstaatstheorie Das Reichsstaatsrecht der Reichsverfassung von 1871 fand von Anfang an Seydels Aufmerksamkeit; zum erstenmal hatte das deutsche Staatsrecht mit Bismarcks Verfassung eine feste Textgrundlage nach einer langen Zeit einer Staatsrechtswissenschaft ohne deutschen Staat50. Aber war das aus Bündnisverträgen hervorgegangene Reich überhaupt ein Staat? Die Präambel von Bismarcks Verfassung bezeichnet das Reich als „ewigen Bund", der den Namen „Deutsches Reich" führen soll 51 . Dieser Frage widmete Seydel seine erste staatsrechtliche Publikation 1872: „Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung" 52. Das neugegründete Reich wurde ebenso wie sein Vorgänger, der Norddeutsche Bund von 1867, von den Staatsrechtlern herkömmlich als Bundesstaat definiert, den man von dem bis 1866 existierenden Deutschen Bund als einem bloßen Staatenbund unterschied 53. Da man in der deutschen Staatslehre den Staat etwa im Unterschied zur Gemeinde vom Begriff der Souveränität her bestimmte, sollten im Bundesstaat sowohl der Bund als auch die Einzelstaaten einen Anteil an der Souveränität haben, indem es zwischen den beiden Ebenen eine Aufteilung der Souveränität gab; beide sollten Anteil an der höchsten Gewalt haben. Diese Lehre wurde zuerst von Georg Waitz, dem großen Verfassungshistoriker, 1853 in einem Aufsatz „Das Wesen des Bundesstaats" entwickelt 54 . Gegen die auf Waitz generell aufbauende deutsche Staatsrechtslehre wandte sich der junge Seydel 1872 ganz entschieden. Er lehnte die Möglichkeit einer Aufteilung der Souveränität ab, da die Staatsgewalt nur einen höchsten Willen haben könne; deshalb widerspreche der Begriff des Bundesstaats dem Begriff des Staates55. Eine Staatsgewalt mit begrenztem Umfang sei ebenso undenkbar wie ein Eigentumsrecht ohne umfassende Ge-

50 Cf. zu den Bemühungen um ein gemeines deutsches Staatsrecht in der Zeit des Deutschen Bundes Stolleis (wie Anm. 2), 96-99, und ders., Die Historische Schule und das öffentliche Recht, in: Die Bedeutung der Wörter. FS f. Sten Gagnér (München 1991), 495-508. 51 Präambel der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (RGBl. 1871, 64): „...schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen...." 52 Max v. Seydel, Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung, 28 (1872), 185-256; auch in: Max v. Seydel, Staatsrechtliche und politische Abhandlungen (Freiburg i.Br./Leipzig 1893), 1-89, hier erweitert um einen Anhang (pp. 75-89). 53 Einen Überblick über die Kontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre zwischen 1871 und 1918 zur Rechtsstruktur des Bismarckreiches gibt Stolleis (wie Anm. 2), 365-368. 54 Georg Waitz, Das Wesen des Bundesstaates, in: Allgemeine (Kieler) Monatsschrift f. Wissenschaft und Literatur, 1853, 494-530 - auch in: ders., Grundzüge der Politik (Kiel 1862), 153-218. 55 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 5.

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wait über die Sache56. Die Konsequenz ist es dann, daß alle sog. Bundesstaaten in Wahrheit entweder Einheitsstaaten oder Staatenbünde sein müßten. Seydel vergleicht das Deutsche Reich dann mit den beiden anderen zeitgenössischen Bundesstaaten, der Schweiz und den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten sind ihm ein bloßer Staatenbund, wofür er sich auf den größten Staatsmann der amerikanischen Südstaaten, John Calhoun (1792-1850), beruft 57 . Auch in der Schweiz sollen die Kantone souverän geblieben sein, wofür Seydel auf Art. 3 der Schweizer Bundesverfassung verweisen konnte 58 . Die deutsche Verfassung beruht aber ebenfalls auf einem Vertrag souveräner Staaten, deren keiner der Souveränität sich entäußern wollte 59 . Die Bundesorgane des Reichs hatten nur „delegated powers" von den Einzelstaaten, wie Seydel wörtlich sagt60. Der in Seydels Theorie schwer einzuordnende Reichtstag war nach ihm überhaupt kein Bundesorgan, sondern eine auf Grund des gemeinsamen Willens der verbündeten Fürsten im Sinne ihrer Selbstbeschränkung eingesetzte, durch Volks wähl bestimmte Versammlung 61. Für Seydel ist Deutschland nichts anderes als ein Staatenbund vereinigter Fürsten - „united Princes" statt „united States", wie er ausdrücklich sagt62. Das klingt zunächst so, als ob ein solcher Staatenbund jederzeit durch Austritt eines Mitgliedsstaats aufgelöst werden könnte. Dies wird jedoch von Seydel für Deutschland abgelehnt, da die Reichsverfassung in ihrer Präambel das Reich ausdrücklich als „ewigen Bund" bezeichnet hatte. Seydel unterscheidet daher zwischen einem internationalen Staatenbund und einem staatsrechtlichen Staatenbund, unter welchen Begriff er Deutschland, die Schweiz und die USA subsumiert 63. Wenn konstitutionelle Monarchien einen monarchischen Staatenbund bilden, dann könnten sie für die Bundesangelegenheiten auch eine gemeinsame Volksvertretung einrichten, d. h. in Deutschland den Reichstag64. Dadurch wird der auf Ewigkeit gegründete staatsrechtliche Staatenbund zu einem constitutionellen Staatenbund in Seydels

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Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 6. Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 15 f. und 25-41. 58 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 41-43. Schweizer Bundesverfassung vom 29.05.1874, Art. 3: „Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben als solche alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind/' 59 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 44. 60 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 46. 61 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 56 f. 62 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 53. 63 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 59: „Die Vereinigung zum Bunde ist ihrer Natur nach eine dauernde." 64 Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 56 f. 57

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neuartiger Terminologie 65 - d. h. er hat eine Bundesverfassung, bleibt aber Staatenbund. An seiner Staatenbundlehre hat Seydel während der folgenden 30 Jahre seines Lebens unbeirrt festgehalten, obwohl sie von fast allen zeitgenössischen Staatsrechtslehrern einhellig abgelehnt wurde. Er konnte sich allerdings in einem Punkt insofern durchsetzen, als auch die beiden Hauptgegner Albert Hänel und Paul Laband ihm zustimmten, als sie mit ihm eine Teilung der Souveränität ablehnten. Nach Paul Laband, dem Verfasser des führenden Staatsrechtslehrbuchs, lag im Bundesstaat die Souveränität ausschließlich beim Bund bzw. Reich, den Gliedstaaten sollte aber nach ihm eine Unterstaatsgewalt verbleiben, eine nicht souveräne Staatsgewalt, die im Gegensatz zur Souveränität als Autonomie zu kennzeichnen sei. Laband sagte: „Der Gliedstaat ist nach unten Herr, nach oben Untertan" 66 . Für Seydel war diese Lehre juristisch unklar, da man mit Labands Kategorien nicht zwischen Staat und Gemeinde unterscheiden könne. Er verteidigte seine Staatenbund-Theorie noch 1900 in einem seiner letzten Aufsätze und schrieb dabei rückblickend, man habe in seinen Ausführungen 1872 geradezu einen Hochverrat an dem neu gegründeten Deutschen Reiche erblickt 67 . Am meisten kränkte ihn offenbar die Bezeichnung seiner Lehre als einer „bayerischen", d. h. partikularistischen, durch „Männer der Wissenschaft" - das konnte ihn nach dem Zeugnis seines Schülers Hermann Rehm in „heftige Erregung" versetzen 68. Seydels Ablehnung des Bundesstaatsbegriffs entsprach genau seinen Auffassungen in der Allgemeinen Staatslehre, war also alles andere als eine ad hoc im bayerischen Interesse geformte partikularistische Konstruktion. Die Institution des Deutschen Reichs wurde von ihm politisch ohne Vorbehalt bejaht schwerlich hätte er sonst bereits 1873 einen Kommentar zur Reichsverfassung

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Max v. Seydel, Commentar zur Verfassungsurkunde für das deutsche Reich (Freiburg i.Br./Leipzig 1897), 5 f. Cf. auch Max v. Seydel, Der Bundesgedanke und der Staatsgedanke im Deutschen Reiche, Die Gegenwart 5 (1874), 273 - auch in: ders., Abhandlungen (wie Anm. 52), 90-100, dort p. 99 f: „Das Verhältniss, welches sich für die deutschen Fürsten aus der Begründung des Reiches ergeben hat, ist ganz analog demjenigen, in welches ein bisher unumschränkter Herrscher durch Erlassung einer Verfassung tritt." 66 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (Freiburg 1888), 52. Seydel setzte sich mit Hänel und Laband in dem Aufsatz „Die neuesten Gestaltungen des Bundesstaatsbegriffs", in: Hirths Annalen des Deutschen Reichs 1876, pp. 641-655, auseinander- auch in: ders., Abhandlungen (wie Anm. 52), 101-120. 67 Max v. Seydel, Vorträge aus dem Allgemeinen Staatsrecht (München 1903), 75, zuerst in: Annalen des Deutschen Reichs, 1900, p. 192. 68 Cf. Rehm (wie Anm. 6), 392. Eine umfassendere Auseinandersetzung mit Seydels Lehre von der Widersprüchlichkeit des Begriffs des Bundesstaats bei Hermann Rehm, Allgemeine Staatslehre (= Handbuch des öffentlichen Rechts. Einleitungsband, Freiburg i.B. 1899), 127-143.

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veröffentlicht und danach häufig in Artikeln Verfassungsfragen des Reichs behandelt. Er bejahte die nationale Einheit, obwohl er den deutschen Nationalstaat juristisch nicht anerkannte. Er konnte für seine Theorie auch wesentliche Argumente aufgrund des Textes der Reichs Verfassung von 1871 anführen, da diese erstens in ihrer Präambel ausschließlich von einem Bund der verbündeten Monarchen sprach und zweitens die Einzelstaaten als „Bundesstaaten", nicht etwa als Länder, bezeichnete69. Der Genese des Reichs von 1871 wird Seydels Theorie besser als die seiner Gegner gerecht. Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß es bereits in dem knappen halben Jahrhundert der Geltung von Bismarcks Reichsverfassung eine sich verstärkende Tendenz zu einem unitarischen Staat gab, ablesbar etwa in der Auffassung der Stellung des Kaisers als eines Reichsmonarchen 70 und in der bereits in den siebziger Jahren einsetzenden Rechtsvereinheitlichung durch Gesetzbücher des Reichs bis zum BGB von 189671. Das wirkt auch heute nach, da man diese Epoche herkömmlich in der Geschichtswissenschaft als die des „Kaiserreichs" bezeichnet, eine verfassungsrechtlich durchaus fragwürdige Formulierung.

3. Allgemeine Staatslehre Seydels Staatenbundlehre hängt eng mit seiner Allgemeinen Staatslehre zusammen. Im 19. Jahrhundert war es durchaus noch selbstverständlich, daß die Staatsrechtslehrer auch Systeme der Allgemeinen Staatslehre aufstellten, also das positive Recht mit allgemeinen staatstheoretischen Thesen verbanden 72. Im Bismarckreich war das größte und bis heute unübertroffene Werk Georg Jellineks „Allgemeine Staatslehre" von 1900 73 ; aber auch Seydel hatte schon 1873

69 Zur Präambel der Reichsverfassung oben Anm. 51. Die Bezeichnung „Bundesstaaten" wird in der Reichsverfassung mehrfach verwendet, so in Art. 3, Art. 7, Art. 35 und Art. 78. 70 Hierzu cf. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I I I (wie Anm. 9), 811813, sowie v. a. Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1871-1918) (München/Wien 1969), pass. 71 Zum Verfassungswandel im Bismarckreich cf. Stolleis (wie Anm. 2), 376-378. Gegen Ende der monarchischen Reichsverfassung wurde der faktisch eingetretene Verfassungswandel zugunsten des Unitarismus besonders von Triepel registriert - cf. Heinrich Triepel, Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches (Berlin 1917, ND 1964), 298. Zu Triepel cf. Alexander Hollerbach, Zu Leben und Werk Heinrich Triepels, AöR 91 (1966), 417-441, p. 537, sowie nunmehr umfassend Ulrich M. Gassner, Heinrich Triepel. Leben und Werk (= Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, Bd. 51, Berlin 1999), 310-323. 72 Zur Allgemeinen Staatslehre im 19. Jahrhundert umfassend Stolleis (wie Anm. 2), 121-186 (Vormärz) und 423-459 (1850-1914). 73 Zu Georg Jellineks »Allgemeiner Staatslehre" als „Synthese" Stolleis (wie Anm. 2), 450-455.

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ein schmales Bändchen „Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre" veröffentlicht, in welchem er überaus eigenwillige Thesen entwickelte 74 . Diese Schrift Seydels wurde bereits 1874 von dem fast gleichaltrigen germanistischen Juristen und Rechtshistoriker Otto Gierke heftig kritisiert, der in ihr einen „neu eingeschlagenen Fehlweg erblickte, krassesten Materialismus, der auf die Rechtswissenschaft übertragen werden solle" 75 . Was hat Seydel in dieser Jugendschrift vertreten, an deren Thesen er übrigens ebenso wie an der Staatenbund-Theorie lebenslang festhielt? Seydel beginnt seine Staatslehre mit einem grundlegenden Abschnitt „Staat und Herrscher". Sein erster Satz lautet: „Der Staat entsteht dadurch, daß eine Anzahl von Menschen, welche einen Theil der Erdoberfläche einnimmt, unter Einem höchsten Willen sich vereinigt" 76 . Staat ist daher ein Erzeugnis des menschlichen Willens, genauer des Herrscherwillens. Der Herrscherwille ist das Primäre vor dem Staat, der nur Objekt eines Herrscherwillens ist und deshalb weder selbständig handelnde juristische Person noch ein sog. Organismus, ein damals oft verwandter bildlicher Begriff 77 . Herrscherwille wird stets von Individuen ausgeübt: entweder von einem einzelnen wie in der Monarchie, oder von mehreren wie in Aristokratie und Demokratie 78. Das Recht ist dagegen für Seydel nicht vor dem Staate da, sondern erst im Staate. Quelle des Rechts ist allein der Herrscherwille, der das staatliche Zusammensein der Menschen ordnet 79 . Diese Staatslehre ist sicher auf den ersten Blick „einfach und bequem", so Gierke bereits 1874 80 - sie kommt ohne jeden Rückgriff auf naturrechtliche Gedanken aus. Herrschaft ist für Seydel etwas Vorrechtlich - Natürliches, ein natürlicher Unterwerfungsprozeß, der aber gerade nicht durch willkürliche Machtausübung eines Tyrannen bestimmt ist. Seydel nimmt nämlich zusätzlich 74 Max Seydel, Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre, (Würzburg 1873, ND Hamburg 1967). 75 O. Gierke , Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, ZgStW (1874) - ND separat Tübingen 1915; hier p. 19 f. und p. 22, zu Gierkes genossenschaftlicher Staatsrechtslehre jetzt umfassend Schönberger (wie Anm. 23), 338367. 76 Seydel (wie Anm. 74), 1. 77 Seydel (wie Anm. 74), 1 : Die Bestimmung des Staats als Organismus sei ein Gedanke ohne jeden rechtswissenschaftlichen und ohne jeden philosophischen Wert. Zum Organismusbegriff in der Staatsrechtslehre siehe Ernst-Wolfgang Böckenförde, Art. „Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper", in: Otto Β runner/Werner Conzl/ Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (Stuttgart 1978), 519622, hier 598-601,614-619. 78 Seydel (wie Anm. 74), 7. 79 Seydel (wie Anm. 74), 13. Zu Seydels Lehre von der vorstaatlichen unabgeleiteten Macht des Herrschers jetzt auch Schönberger (wie Anm. 23), 305-308. 80 Gierke (wie Anm. 75), 30.

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an, daß im Herrschaftswillen von vornherein ein Zweck verfolgt wird, nämlich die Gesamtinteressen der unter ihm vereinigten Menschen zu wahren. Herrscherwille sei immer Staatsgründungswille und habe somit eine natürliche Schranke 81. Werde diese Schranke in einem bloßen Unterdrückungssystem übersprungen, sei es in einer Tyrannis oder einer Klassenherrschaft, so komme es zu einer natürlichen Reaktion der Unterworfenen, nämlich der Revolution 82. Der Staat, der sich nach Seydel natürlich gebildet hat, kann auch durch einen natürlichen Vorgang ebenso wieder aufgelöst werden. Da der Staat bereits aufgelöst ist, wenn der Herrscher zweckwidrig handelt, ereignen sich Revolutionen gewissermaßen in rechtsleeren Räumen, in einer Art Naturzustand. Daher braucht auch nicht ein Recht auf Revolution begründet zu werden - „das staatswidrige Handeln des Herrschers und die Revolution der Gesellschaft fallen beide aus den Grenzen des Rechtes hinaus" 84 . Die auf den ersten Blick außerordentlich konservativ anmutende Staatstheorie Seydels, die an den fürstlichen Absolutismus erinnert, erweist sich als eine nüchtern realistische Lehre, in der auch das rechtsbegründende Faktum der Revolution berücksichtigt ist. Es ist eine Staatslehre, die ohne den Legitimitätsbegriff auskommt: es habe, so meint Seydel, rechtswissenschaftlich keinen Sinn, von einer Legitimität der Herrschaft zu reden 85. Seydel kann aber nur deshalb den Legitimitätsbegriff entbehren, weil er wie selbstverständlich davon ausgeht, daß der Staat nur bei Verfolgung des Gemeinwohls Gehorsam finden kann. Insofern ist es nicht richtig, wenn Gierke in Seydels Theorie die nach seiner Ansicht rein dezisionistische Staatslehre von Hobbes in einer „auf den Juristen berechneten Gewandung" finden will 8 6 . Hobbes vertrat den seit Carl Schmitt vielzitierten Satz: „Authoritas, non Veritas, facit legem" 87 . Seydels Lehre könnte man (lateinisch) 81

Seydel (wie Anm. 74), 8. Seydel (wie Anm. 74), 9. 83 Seydel (wie Anm. 74), 9: Die staatlich vereinigten Individuen finden sich nicht mehr staatlich beherrscht, die Gesellschaft sieht sich an den Ausgangspunkt ihres staatlichen Daseins zurückversetzt. Revolution sei nicht Rechtsbruch, sondern Schaffung der Grundlage für eine neue Staats- und Rechtsbildung. 84 Seydel (wie Anm. 74), 9. 85 Seydel (wie Anm. 74), 14. 86 Gierke (wie Anm. 75), 25. Im übrigen sind auch gegenüber der HobbesInterpretation Gierkes Einwände möglich. - C f . bereits Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre (Stuttgart 1925), 201-207. 87 Thomas Hobbes, Leviathan, c. 26 in: Hobbes, Opera Philosophica Bd. I I I (Londini 1841, ND Aalen 1961), 202: „Doctrinae quidem verae esse possunt; sed authoritas, non Veritas, facit legem". Die prägnante Formulierung wurde durch die Rezeption bei Carl Schmitt, Politische Theologie (München/Leipzig 1922) 32 zu einem geflügelten Wort. Ebenso Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (Hamburg 1938) 68. Im „Leviathan" des Hobbes bezieht sich der berühmte Satz übrigens auf die Auslegung der „unwritten laws of nature", nicht auf eine dezisionistische Willkür des Gesetzgebers. In der englischen Ausgabe des „Leviathan" von 1651 ist der Satz noch nicht zu finden, sondern erst in der lateinischen Version von 1670. Zu der bis 82

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so formulieren: „Auctoritas salutis publici facit legem". Die Rechtfertigung des Staats liegt in seinen Leistungen.

IV. Die Nachwirkungen Mit der Skizzierung von Seydels Staatslehre sei die Darstellung seines Werks abgeschlossen. Am Ende dieser Betrachtungen soll aber noch ein Blick auf die Nachwirkung dieses großen bayerischen Juristen unternommen werden. Ich beschränke mich hier auf drei Gesichtspunkte: Nachwirkung in Bayerns Verfassungsgeschichte, bei späteren deutschen Staatsrechtlern und schließlich in Bezug auf das heutige Europa.

1. Bayerische Verfassungsgeschichte In Bayerns Verfassungsgeschichte gab es 12 Jahre nach Seydels Tod, nämlich im Jahr 1913, eine einschneidende Verfassungsänderung. Nach 27 Jahren Regentschaft wurde die Verfassung in dem Sinne revidiert, daß bei dauernder Regierungsunfähigkeit eines Königs der Regent die Regentschaft für beendigt erklären konnte. Die Feststellung dauernder Regierungsunfähigkeit mußte nach dieser Verfassungsänderung anschließend vom Landtag bestätigt werden. Rechtlich ermöglichte dies eine Absetzung König Ottos durch einseitige Erklärung des Prinzregenten Ludwig, der im Widerspruch zu dem von ihm 1912 geleisteten Regenteneid, „dem König die Gewalt zu übergeben", sich nun selbst zum König proklamierte. Im bayerischen Landtag haben dieser Verfassungsänderung, die das Königtum von Gottes Gnaden faktisch beseitigte, nur die Sozialdemokraten widersprochen. Der neue König Ludwig verdankte seine Legitimität dem bayerischen Landtag, der die zur Thronbesteigung Ludwigs III. erforderliche Verfassungsänderung beschlossen hatte 88 . Die Verfassungsänderung war aber auch mit den Prinzipien von Seydels „Staatsrecht" unheute umstrittenen Frage der Bedeutung des traditionellen Naturrechts in der Philosophie von Hobbes cf. die Aufsätze von A. E. Taylor und S. M. Brown in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes , Leviathan (= Klassiker auslegen, hg. von Otfried Höffe, Bd. 5, Berlin 1996), 155-192. Zum Verhältnis von Carl Schmitt zu Thomas Hobbes cf. Mathias Schmoeckel, Staatslehre und Mythos bei Carl Schmitt und Thomas Hobbes, in: H. Nehlsen/G.Brun (Hrsg.), Münchener rechtshistorische Studien zum Nationalsozialismus (Rechtshistorsiche Reihe 156, Frankfurt a. M. 1996), 133-180. 88 Cf. den Überblick über die Vorgänge von 1913 bei Verena v. Arnswaldt, Die Beendigung der Regentschaft in Bayern 1912/13, ZBLG 30 (1967), 859-893; ferner Otto Gritschneder, Doppelmonarchie Bayern? Wie Ludwig III. König wurde, in: Gritschneder, Weitere Randbemerkungen (wie Anm. 17), 69-86. Zu den staatsrechtlichen Fragen cf. auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. IV (Stuttgart etc. 1969), 400 f.

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vereinbar, obwohl in der von Piloty bearbeiteten posthumen Auflage, die 1913 erschien, eine solche Verfassungsänderung als möglich bezeichnet wurde 89 . Seydel selbst schrieb nämlich 1884 und 1896 zu diesem Problem, daß nur Tod oder Abdankung des Königs eine Regentschaft beendigen könnten; eine fingierte Abdankung aufgrund der Geisteskrankheit eines Monarchen Schloß er ausdrücklich aus, da die Thronentsagung volle Handlungsfähigkeit und Willensfreiheit des Königs voraussetze. Unbedingt und ohne jeden Vorbehalt sei es zu verneinen, daß ein deutscher Monarch auf verfassungsmäßigem Wege des Thrones gegen seinen Willen entsetzt werden könne 90 . Aufgrund von Seydels Staatsrecht war die Thronentsetzung Ottos durch den Prinzregenten und den Landtag Staatsstreich und damit ein Akt der Revolution, da der Staat nur im Herrscherwillen begründet war - Bayerns erste Revolution im 20. Jahrhundert fünf Jahre vor der zweiten Kurt Eisners. Die Revolution vom November 1918 läßt sich ebenfalls ohne Schwierigkeiten mit den Kategorien von Seydels Staatslehre erfassen. Für Seydel wäre es sinnlos gewesen, über ein Revolutionsrecht der Demonstranten in München vom 7. November 1918 zu diskutieren; entscheidend konnte nur sein, ob die staatliche Einigung unter dem Willen des Monarchen am Ende des Krieges faktisch verloren gegangen war. Einschneidende Ereignisse der bayerischen Geschichte des 20. Jahrhunderts können demnach durchaus mit Seydels Staatslehre erfaßt werden.

2. Max v. Seydel und das deutsche Staatsrecht In der Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreichs blieb Max v. Seydel ein Außenseiter. Er wird daher auch in neuesten Darstellungen der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft weit kürzer als sein großer Antipode Paul Laband gewürdigt, der seit langem als der eigentliche Repräsentant dieser Epo89 Seydel/Piloty, Bayerisches Staatsrecht, Bd. I (1913), 127. Piloty hielt eine Absetzung des geisteskranken Königs für möglich, wenn die Unheilbarkeit erst während der Regentschaft festgestellt wurde. Eine solche Änderung sei auch nicht durch das Prädikat „von Gottes Gnaden" ausgeschlossen. 90 Seydel Bayerisches Staatsrecht, Bd. I (1896), 201. Cf. auch Seydels Ausführungen in seinem Aufsatz „Verfassungsänderungen unter der Regentschaft", in: Blätter für Administrative Praxis 45 (1895), 6-18. Seydel geht hier davon aus, daß zwar Verfassungsänderungen unter einer Reichsverwesung durch den Wortlaut der Verfassungsurkunde verboten seien. Es sei dies aber ein Verbot des Gesetzgebers an sich selbst und könne durch die „Faktoren der Gesetzgebung" geändert werden. Es gebe jedoch „gewisse Verfassungsbestimmungen, an welche derjenige, der im Namen des Königs regiert, der Natur der Sache nach nicht rühren soll. Dieser Gedanke prägt sich in den Worten des Eides, welcher dem Reichsverweser auferlegt ist, sehr deutlich aus." (p. 14). Mit dem Hinweis auf den Eid des Regenten schloß Seydel eine Absetzung des geisteskranken Königs deutlich aus.

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che des deutschen Staatsrechts dient 91 . Natürlich hat Seydel selbst einige Schüler gehabt, darunter den Straßburger Staatsrechtler Hermann Rehm, der aber heute allenfalls noch als Historiker des Staatsrechts bekannt ist und im übrigen zu Seydels föderalistischen Theorien Distanz hielt 92 . Es gibt aber zumindest zwei deutsche Staatsrechtler, die von Seydel tief beeinflußt waren. Der erste ist Hans Nawiasky, bereits erwähnt als Redner von 195393. Ähnlich wie Seydel hat Nawiasky nicht nur das bayerische Staatsrecht gepflegt und sogar die Verfassungsgebung bestimmt; er war auch ein produktiver, heute allerdings wohl selten gelesener Autor in der Allgemeinen Staatslehre 94. Ein umfassender Vergleich zwischen Seydel und Nawiasky würde hier natürlich zu weit führen. Ich möchte aber auf zwei Punkte hinweisen. Auch Nawiasky beschäftigte sich intensiv mit Deutschland als Bundesstaat bereits seit 192095. Während es heute im wesentlichen herrschende Lehre im deutschen Staatsrecht ist, daß die Länder zwar Staatsqualität haben, jedoch die Souveränität beim Bunde liegt, vertrat Nawiasky 1920 eine Zweigliedrigkeitstheorie, wonach dem Bund und den Ländern zusammen die Souveränität zukomme; die Länder bildeten eine Staatengemeinschaft 96. Diese Lehre hat Nawiasky 1955 in der „Staatsgesellschaftslehre" seiner „Allgemeinen Staatslehre" dahingehend ausgebaut, daß er nunmehr in bezug auf Bund und Länder jeweils von Teilstaatsgewalten sprach, die sich zu einer Gesamtstaatsgewalt ergänzten. Die Teilstaatsgewalt des Bundes bezeichnete er als Zentralstaatsgewalt, so daß die

91 Bei Stolleis (wie Anm. 2) werden Seydels Leistungen im Bayerischen Staatsrecht (pp. 287-289), seine Staatenbunds-Theorie (p. 366) und seine realistische Staatsauffassung (p. 435 f.) verständnisvoll behandelt. Eine eigene Monographie wurde ihm bisher im Gegensatz zu Laband, Hänel und Jellinek nicht gewidmet. 92 Cf. Hermann Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft (= Handbuch des öffentlichen Rechts, Einleitungsband, Freiburg i.B./Leipzig 1896, ND Darmstadt 1967). Zu Hermann Rehm cf. Max Rehm, Der Staatsrechtslehrer Hermann Rehm (1862-1917), ZgStW 119 (1963), 130-136. Zu Rehms Kritik an Seydels Staatsrechtslehre oben Anm. 68. 93 Cf. oben Anm. 4. Zu Nawiasky cf. Hans Zacher, Hans Nawiasky (1880-1961). Ein Leben für Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie, in: Helmut Heinrichs u.a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (München 1993), 677-693, und Florian Herrmann, Hans Nawiasky in: H. Nehlsen/G. Brun (wie Anm. 87), 411-443. 94 Hans Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 5 Bände (München/Berlin 1945-1958). 95 Hans Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff (Tübingen 1920), 27-31. 96 Zu Nawiasky s Zweigliedrigkeitstheorie cf. Otto Kimminich, Der Bundesstaat, in: Handbuch des deutschen Staatsrechts, hg. von J. Isensee, P. Kirchhof, Bd. I, 26 (Heidelberg 1987), 1124 (Rn. 19 f.). Kimminich erörtert nicht die Modifizierung von Nawiasky s Theorie 1955. Zu Nawiasky s Bundesstaatstheorie cf. auch Martin UsterU Theorie des Bundesstaates (Zürich 1954), 156-158. Usteri weist darauf hin, daß Carl Schmitts „Verfassungslehre des Bundes" in seiner „Verfassungslehre" von Nawiasky beeinflußt sei. Ein unmittelbarer Einfluß Max v. Seydels auf Carl Schmitt dürfte jedoch wahrscheinlicher sein. Zu Nawiaskys Bundesstaatstheorie cf. ferner Zacher (wie Anm. 93), 688-690.

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Bundesorgane teils als Zentralstaatsorgane und teils als Gesamtstaatsorgane tätig seien. Mit dieser Trias von Einzelstaatsgewalten, Zentralstaatsgewalt und Gesamtstaatsgewalt erweiterte Nawiasky seine Lehre von 1920 zu einer Dreigliedrigkeitstheorie 91Unter dem Begriff „Bundesrepublik Deutschland" verstand er nicht allein den Bund, sondern Bund und Länder. Seine heute meist abgelehnte Lehre steht eindeutig in der Tradition Max v. Seydels; sie versucht die Länder an der staatlichen Souveränität zu beteiligen, ohne die Souveränität im Sinne von Waitz aufzuteilen. Der zweite Bereich, in welchem Nawiasky von Seydel beeinflußt ist, betrifft die Gestaltung des Parlaments. Seydel beschäftigte sich zwar häufig und intensiv mit der Demokratie, lehnte sie aber ab, da er in ihr keine Gewähr für staatliche Stabilität sah. Er vertrat vielmehr schon in der „Staatslehre" von 1873 den Gedanken eines berufsständisch gegliederten Gesetzgebungsorgans - er verwarf das allgemeine Wahlrecht, aber auch ein Zensuswahlrecht und geburtsständische Vertretungen wie das House of Lords 98 . Ein berufsständisches Organ schien ihm die vollkommenste Organisation der Gesetzgebung zu sein 99 . Seydel hat somit ganz klar den Gedanken ausgedrückt, der der Institution des Bayerischen Senats in der Verfassung von 1946 zugrundeliegt. Bekanntlich ist der Senat, der jetzt als Institution beseitigt werden soll, ein geistiges Kind Nawiaskys 100 . Nawiasky steht aber auch hier in der Tradition Max v. Seydels; und ich vermute, daß er sich dessen bewußt war. Außer Nawiasky verdankt ein weiterer deutscher Staatsrechtler ganz anderer Couleur Seydel erhebliche Anregungen. Ich meine Carl Schmitt, den umstrittensten deutschen Juristen des 20. Jahrhunderts. Schmitt hat Seydel nicht selten zitiert und bei dem Seydelschüler Rehm in Straßburg vor 1914 Staatsrecht gehört, der auch seine Habilitation betreute 101. In Schmitts Hauptwerk „Verfas97

Hans Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Bd. II/2 (Einsiedeln etc. 1955), 203 f. Seydel (wie Anm. 74), 76. Seydel bekannte sich stets zur konstitutionellen Monarchie als angemessenster Staatsform, übte jedoch grundsätzliche Kritik an der Demokratie, so in seinem Aufsatz „Die Demokratie" 1887, in: Seydel, Abhandlungen (wie Anm. 52), 143-157. Er referierte dort zustimmend die Demokratiekritik von Henry Summer Maine in dessen Schrift „On popular goverment". 99 Seydel (wie Anm. 74), 76. 100 Zu Nawiasky als geistigem Vater der Institution des Bayerischen Senats cf. Wilhelm Hoegner, Prof. Dr. Hans Nawiasky und die Bayerische Verfassung von 1946, in: Staat und Wirtschaft, Festgabe zum 70. Geburtstag von Hans Nawiasky (Einsiedeln etc. 1950), 1-16 hier p. 6 f. Inzwischen ist der Bayerische Senat als Verfassungsorgan mit Wirkung zum 31.12.1999 aufgrund eines Volksentscheids aufgehoben worden. 101 Zu Carl Schmitts Habilitation cf. Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie (Berlin/Frankfurt/M. 1993). Carl Schmitts Werdegang bis 1918 hat bisher in der voluminösen Carl-Schmitt-Forschung auffallend geringes Interesse gefunden. Noack gibt übrigens p. 160 eine Tagebucheintragung Schmitts vom 28.01.1933, dem Tag der Entlassung des Reichskanzlers Schleicher, wieder. Sie lautet folgendermaßen: „Traurig zu Bett. Also das ist das Ende, kümmerlich. Konnte nicht einschlafen. Las in Seydels Buch 98

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sungslehre" von 1928 wird Seydel bescheinigt, er habe die beste Formulierung der Eigenart der konstitutionellen Monarchie deutschen Stils gegeben102, und Schmitt meint, daß Seydel ebenso wie Calhoun wesentliche Begriffe der Verfassungslehre eines Bundes herausgearbeitet habe, deren wissenschaftlicher Wert bestehen bleibe, auch wenn die Urheber politisch auf der besiegten Seite standen103. Schmitt ist aber besonders in seiner eigenen Souveränitätslehre von Seydel beeinflußt, obwohl er dies nur an einer Stelle andeutet104. Der vielzitierte erste Satz von Schmitts „Politischer Theologie" von 1922: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"105, beruht nicht nur auf Jean Bodin, sondern auch auf Max v. Seydel. Allerdings gibt es einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Seydel und Schmitt. Er besteht darin, daß Seydel von einem teleologisch durch das Gemeinwohl bestimmten Staatsgründungs-

willen ausging. Schmitt geht dagegen in der „Politischen Theologie" davon aus, daß der souveräne Machthaber die gesamte bestehende Ordnung suspendieren könne - dann bleibe der Staat bestehen, während das Recht zurücktritt 1 0 6 . Das ist der Ansatz zu einem „Führerstaat". Für Seydel wäre ein Staat ohne Rechtsordnung logisch undenkbar gewesen - er denkt nicht wie Schmitt vom Ausnahmezustand aus, sondern kennt nur die ihrerseits rechtssetzende Revolution. Ich möchte es mit diesen Bemerkungen über zwei Staatsrechtslehrer bewenden lassen, deren Beziehung wohl auch deshalb in der so umfangreichen Carl-Schmitt-Literatur übersehen wurde, weil es schon der Selbststilisierung von Carl Schmitt entsprach, den Zusammenhang seiner Lehren mit der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs eher auszublenden.

über den Bundesstaat. Unsere Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstaat stammt aus der Staatslehre des Rheinbundes." Schmitt beschäftigte sich also in den von ihm als entscheidend empfundenen letzten Tagen der Weimarer Republik ausgerechnet mit den Theorien Max v. Seydels. 102 Carl Schmitt, Verfassungslehre (München/Leipzig 1928, ND Berlin 1954), 55. Schmitt bezieht sich hier auf eine Formulierung Seydels in dessen Aufsatz „Constitutionelle und parlamentarische Regierung", Hirths Annalen (1887), 237-250 - auch in: ders., Abhandlungen (wie Anm. 52), 121-142. Die Formulierung lautet p. 140: „Der parlamentarische König kann sich nicht, wenn sein Parlament zu funktionieren versagt, auf seine Staatsgewalt zurückziehen. Denn er hat nicht die Staatsgewalt; er hat nur die pouvoirs d'attribution". Schmitt folgt demnach in seiner Souveränitätslehre ausdrücklich Max v. Seydel. 103 Schmitt (wie Anm. 102), 374 und 388. 104 Schmitt (wie Anm. 102), 378 f.: im Konfliktfall, der die politische Existenz als solche betreffe, sei die Souveränität unteilbar und behalte Max v. Seydel durchaus recht. 105 Carl Schmitt, Politische Theologie (München/Leipzig 1922), 9. 106 Schmitt (wie Anm. 105).

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3. Max v. Seydel und Europa Zum Abschluß sei noch ein Blick auf einen aktuellen europäischen Aspekt im Werk Max v. Seydels geworfen. Das heutige Europa entwickelt immer stärker supranationale Organisationen; auch von deutschen Bundesverfassungsrichtern wird die Frage aufgeworfen, ob es eine Verfassung brauche 107 . Die starke Tradition mehrerer europäischer Nationalstaaten läßt es als unwahrscheinlich und vielleicht auch als wenig wünschbar erscheinen, daß ein europäischer Bundesstaat das verfassungspolitische Ziel sein könnte. Andererseits geht die Entwicklung deutlich über den rein völkerrechtlichen Staatenbund hinaus. Der verfassungspolitische Europakonsens könnte im dauerhaften Bund ohne europäischen Superstaat liegen. Dafür bietet aber gerade Seydels Begriff des „constitutionellen Staatenbundes " ein Modell, das von ihm intensiver als von jedem anderen deutschen Staatsrechtslehrer durchdacht wurde. Im Deutschland seiner Zeit scheiterte Seydel am nationalistischen Zeitgeist der wilhelminischen Epoche. Da es aber im Staatsrecht wie im Privatrecht wohl nur eine begrenzte Zahl möglicher Rechtsfiguren gibt, könnten Seydels Begriffe in Zukunft für ein europäisches Verfassungsrecht verwendbar sein. Seydels Werk könnte uns helfen, Europäer zu werden, Deutsche zu sein und Bayern zu bleiben.

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Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (München 1994).

Die Entstehung der deutschen Nationalsymbole Von Joachim Wieland

I. Einleitung Das Verhältnis der Deutschen zu ihren Nationalsymbolen ist auch nach der Wiedervereinigung bestenfalls zwiespältig. Andere Nationen mögen unbefangen ihre Nationalhymne singen oder ihre Nationalflagge grüßen - die meisten Deutschen reagieren befangen, wenn sie mit den Symbolen unserer nationalen Einheit konfrontiert werden. Diese Befangenheit ist aus unserer Geschichte erklärbar- wobei die Verwendung des Wortes „unserer" implizit voraussetzt, daß wir uns als Deutsche in unserer Geschichte als Nation vereint fühlen, daß wir sie als gemeinsames Erbe anerkennen, vielleicht auch nur als gemeinsame Erblast. Aber können wir uns überhaupt von unserer Geschichte der letzten 150 Jahre lossagen, uns selbst als Kosmopoliten, Europäer, Westfalen, Sachsen, Bayern oder als autonome Individuen definieren, für deren Existenz der Begriff der Nation keinerlei Bedeutung hat? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Wir sind alle als Deutsche in der Zugehörigkeit zu unserer Nation verfangen - ob wir diese Verfangenheit annehmen oder nicht. Unsere Nationalität läßt sich zwar im Alltag ohne viel Anstrengung aus dem Bewußtsein verdrängen, begleitet uns jedoch wie unser eigener Schatten. Sie wird nicht nur real, wenn wir Deutschland verlassen wollen und uns gegenüber ausländischen Grenzpolizisten legitimieren müssen. Vor allem seit der Wiedervereinigung prägt sie auch unser tägliches Leben. Wer in den letzten Jahren Berlin besucht hat, kann sehen, wie tatsächlich etwas zusammenwächst, was zusammen gehört. Wer die letzte Bundestagswahl analysiert, sieht Gemeinsamkeiten politischer Entscheidung, die für Brandenburg nicht anders gelten als für Nordrhein-Westfalen, die in Österreich oder der Schweiz aber nicht in gleicher Weise aufscheinen - auch wenn dort wie hier die deutsche Sprache gesprochen wird. Daß wir Glieder einer Nation sind, sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob wir nationale Symbole brauchen und welche Symbole dies sein sollen. Ich möchte einleitend darlegen, was nationale Symbole eigentlich sind und welche Nationalsymbole uns Deutsche verbinden. Die deutschen nationalen Symbole 6 FS Hollerbach

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sind untrennbar mit der Revolution von 1848 und ihrem Scheitern verbunden. Schließen werde ich mit dem Versuch einer Antwort auf die Frage, ob unsere nationalen Symbole am Ende des 20. Jahrhunderts noch wirkmächtig sind und welche Bedeutung ihnen beizumessen ist. Was verstehen wir unter einem Symbol? Das griechische Wort „symballein" läßt sich mit „zusammenwerfen, zusammenfügen" übersetzen1, „Symbolon" bezeichnete eigentlich ein zwischen Freunden oder Verwandten vereinbartes Erkennungszeichen, das aus Bruchstücken etwa eines Ringes bestand, die „zusammengefügt" ein Ganzes ergaben und dadurch die Verbundenheit ihrer Besitzer erwiesen 2. Der Bedeutungsgehalt eines nationalen Symbols liegt damit auf der Hand: Es ist das Erkennungszeichen der Angehörigen einer Nation, das die Verbundenheit derer erweisen soll, die in der Schicksalsgemeinschaft Nation zusammengeschlossen sind. Welche Symbole bringen nun die Zusammengehörigkeit der Deutschen zum Ausdruck? Als erstes ist hier die schwarz-rot-goldene Nationalflagge zu nennen, gefolgt von der dritten Strophe des Lieds der Deutschen als Nationalhymne. Beide sind im zeitlichen Zusammenhang mit der Revolution von 1848 entstanden, teilen in mancherlei Beziehung auch deren Schicksal.

II. Die deutschen Farben Das gilt vor allem für die Bundesflagge. Nachdem der Deutsche Bund die Farben Schwarz-Rot-Gold jahrzehntelang als Symbol für Aufruhr und Revolution unterdrückt hatte, versuchte die Bundesversammlung im Frühjahr 1848 noch vor Zusammentritt des Nationalparlaments in der Paulskirche deren Symbolgehalt für die alte Ordnung zu vereinnahmen 3. In den Protokollen der Bundesversammlung heißt es unter dem 9. März 18484: „Der politische Ausschuß und in dessen Namen der Königlich Preußische Herr Bundestagsgesandte trägt vor: Der Ausschuß, von der Überzeugung ausgehend, daß die Kraft Deutschlands wesentlich auf dem Bewußtsein seiner Einheit beruht, dieses Bewußtsein, damit es der Nation lebendig und klar vorschwebe, äußerer Symbole bedarf, glaubt die wiederholt schon in Anregung gebrachte Frage wegen eines Bundeswappens und wegen Bundesfarben dermalen zur Lösung bringen zu sollen.

1 Helle, Symbol, in: Staatslexikon Bd. 5, 7. Aufl., 1985, Sp. 405; Friedel, Deutsche Staatssymbole, 1968, S. 9; dazu ausführlich Dahlmann, Die Befugnis des Präsidenten, Staatssymbole zu setzen, 1959, S. 2. 2 Friedel (Anm. 1), S. 9. 3 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 3. Aufl., 1988, S. 595. 4 Huber y Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl., 1978, Nr. 73.

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Der Ausschuß ist der entschiedenen Ansicht, daß zum Bundeswappen sich am besten dasjenige Emblem eignet, welches schon im Jahre 1846 zur Bezeichnung der Geschützrohre und übrigen Gegenstände der Artilleriedotation der beiden Festungen Ulm und Rastatt verwendet worden ist - der alte deutsche Reichsadler mit der Umschrift: ,Deutscher Bund'; da es kein anderes geschichtliches Symbol der tausendjährigen Einheit der verschiedenen deutschen Stämme gibt. Ebenso werden die Bundesfarben der deutschen Vorzeit zu entnehmen sein, wo das deutsche Reichsbanner schwarz, rot und golden war. Der Ausschuß trägt daher darauf an - unbeschadet der einzelnen Landesfarben und Wappen - jenes Emblem zum Bundeswappen und diese Farben zu den Bundesfarben zu erklären." Es erfolgte demnach der Beschluß: „Die Bundesversammlung erklärt den alten deutschen Reichsadler mit der Umschrift ,Deutscher Bund' und die Farben des ehemaligen deutschen Reichspaniers schwarz, rot, gold - zu Wappen und Farben des Deutschen Bundes ..."

Der Bundesbeschluß stellte den Versuch dar, die Farben Schwarz-Rot-Gold, die längst zum Symbol der Revolution geworden waren, für die Zwecke der Fürsten als der traditionellen Herrscher kraft Gottes Gnaden in Anspruch zu nehmen und ihnen zugleich geschichtliche Legitimation zuzuschreiben, die wiederum den in seiner Existenz bedrohten Deutschen Bund stärken sollte5. Der Deutsche Bund war 1815 gerade nicht als Organisation der staatlichen Einheit Deutschlands und als Institut einer Nationalrepräsentation gegründet worden, sondern nach der Formulierung der Bundesakte als ein Bündnis der „souveränen Fürsten und Freien Städte Deutschlands" oder- wie es in der Wiener Schlußakte6 von 1820 heißt - als ein „völkerrechtlicher Verein", dem anfangs 38 souveräne Staaten angehörten7. Als völkerrechtlicher Verein war der Deutsche Bund gewissermaßen die Negation der Einheit Deutschlands. Das Bemühen dieses Bundes souveräner Fürsten, die revolutionären Farben für sich zu vereinnahmen und sie zum Symbol einer behaupteten Einheit Deutschlands - gestützt auf die Macht der Fürsten - umzudefinieren, war zum Scheitern verurteilt. Im März 1848 standen die Farben Schwarz, Rot und Gold längst für eine neue Ordnung. Ein solches Symbol läßt sich nicht durch eine politische Entscheidung gleichsam umwidmen und mit neuer Bedeutung füllen, sondern hat seinen eigenen, historisch gewachsenen Gehalt8. Das mußte auch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen erfahren. Sein Versuch, sich am 21. März 1848 mit einer Proklamation 9 über die deutsche Po5 So auch die Einschätzung von Rabbow, Symbole der Bundesrepublik und des Landes Niedersachsen, 1980, S. 18; Huber (Anm. 3), S. 595. 6 Huber (Anm. 4), Nr. 31. 7 Isensee in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 1990, § 98 Rn. 10. 8 So auch Spendei, JZ 1988, 744 (748). 9 Huber (Anm. 4), Nr. 152.

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litik Preußens an die Spitze der revolutionären Bewegung zu setzen, kam in gleicher Weise viel zu spät wie der Beschluß des Deutschen Bundes10 zwölf Tage zuvor. Der König wollte nunmehr die schwarz-rot-goldenen Farben als Symbol der deutschen Einheit übernehmen. So heißt es in der Proklamation an das preußische Volk „und an die deutsche Nation" 11 : „ ... Deutschland ist von innerer Gärung ergriffen und kann durch äußere Gefahr von mehr als einer Seite bedroht werden. Rettung aus dieser doppelten drängenden Gefahr kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter Einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird Mich nicht verlassen und Deutschland wird sich Mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen, und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf..."

Habent sua fata symbola. Symbole haben ihr eigenes Schicksal, sie lassen sich nicht vereinnahmen, auch wenn dies mit der Legende von den angeblich „alten deutschen Farben" geschehen soll. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen trug die Farben Schwarz-Rot-Gold zwar bei seinem berühmten „Umritt" durch Berlin am 21. März 1848 12 , konnte damit die revolutionären Ereignisse aber nicht aufhalten, sondern zog sich nur die Verärgerung, ja Verachtung konservativer Kreise zu, an deren Spitze Bismarck und hohe Offiziere der Armee standen13. Entgegen der 1848 in allen politischen Lagern verbreiteten Annahme steht die Farbfolge Schwarz-Rot-Gold in keiner Beziehung zum alten, 1806 endgültig untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 14 , sondern entstand im Gefolge der Befreiungskriege gegen Napoleon 15 . An diesen Kriegen hatten in Deutschland nicht nur die stehenden Heere der Fürsten, sondern auch aus Studenten gebildete Freiwilligenverbände teilgenommen. Die Studenten hatten nicht nur für die Befreiung von französischer Herrschaft gekämpft, sondern auch die Überzeugung gewonnen, das ganze Deutschland sei ihr Vaterland. In diesem Bewußtsein gründeten sie nach ihrer Rückkehr an die 10

Huber (Anm. 4), Nr. 76. Huber (Anm. 4), Nr. 152. 12 Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 15 (Bearbeiter: Schieder), 2. Aufl., 1970, S. 84; Huber (Anm. 3), S. 577 f; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1766-1866, 1988, S. 183 f.; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl., 1972, S. 84 f. 13 Huber (Anm. 3), S. 580 f. 14 Holtemeier, Flaggenrecht und Flaggenpflicht nach deutschem Recht, 1930, S. 24 f; Buschkiel, Die deutschen Farben, 1935, S. 30 ff; Huber (Anm. 3), S. 709, Anm. 4. 15 Klein, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, Stand: August 1998 (85. Lfg.), Art. 22, Rn. 19. 11

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Universität Landsmannschaften 16. In Jena begannen im August 1814 ehemalige Mitglieder des Freikorps Llitzow mit gemeinsamen Waffenübungen 17. Sie schlossen sich zunächst zur Jenaer „Wehrmannschaft" zusammen18 und gründeten am 12. Juni 1815 die Jenaer Burschenschaft 19. Acht oder neun der elf Gründungsmitglieder hatten bei den Lützower Jägern gedient 20 , deren Uniformfarben sie nunmehr übernahmen. Von „Uniformen" zu sprechen, ist in diesem Zusammenhang allerdings etwas euphemistisch. Aus Zeit- und Geldnot hatten die Lützower Jäger ihre bürgerliche Kleidung schwarz gefärbt und mit roten Aufschlägen sowie mit goldenen Knöpfen versehen, was die aus militärischen Gründen erwünschte Einheitlichkeit ihres Auftretens sicherte 21. Die Fahne der Jenaer Burschenschaft war in Anlehnung an diese Uniformen rot-schwarz-rot mit einem goldenen Eichenzweig in der Mitte und goldenen Fransen am Saum22. Die Farben ihres Paniers waren Rot und Schwarz 23. 1816 wurde in ein Jenaer Stammbuch die Losung „Schwarz-Rot-Gold" eingetragen, die sich 1817 auch in Berlin, Breslau und Heidelberg findet 24. Das Wartburgfest, das die Jenaer Burschenschaft am 18. Oktober 1817 zur Dreihundertjahrfeier der Reformation und zum Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht organisierte und an dem ungefähr 500 Studenten aus ganz Deutschland teilnahmen25, festigte dann nicht nur die Vorrangstellung der Jenaer Burschenschaft unter Deutschlands Studentenverbänden, sondern begründete auch den Symbolgehalt der Farben Schwarz-Rot und Gold, die nunmehr für die Forderung nach nationaler Einheit, politischer Freiheit und rechtlicher Gleichheit aller Bürger standen 26 . Die Jenaer Burschenschaft berief für den 29. März 1818 einen Allgemeinen Burschentag ein, dem am 10. Oktober 1818 der Zweite Deutsche Bur-

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Buschkiel (Anm. 14), S. 37; dazu auch Bartol, Ideologie und studentischer Protest, 1977, S. 56 ff.; Grimm (Anm. 12), S. 145; Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1990, S. 82 f.; Forsthoff (Anm. 12), S. 84 f. 17 Huber (Anm. 3), S. 709; Buschkiel (Anm. 14), S. 37. 18 Haupt, in: ders. (Hrsg.), Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, 1910, S. 26. 19 Haupt (Anm. 18), S. 29 ff; Wentzcke, Die deutschen Farben, 1955, S. 80; Huber (Anm. 3), S. 709; Buschkiel (Anm. 14), S. 38. 20 Buschkiel (Anm. 14), S. 42 f.; Wentzcke (Anm. 19), S. 86; Friedel (Anm. 1), 24; Rabbow (Anm. 5), S. 19; Bartol (Anm. 16), S. 62. 21 Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, 3. Aufl, 1998, S. 11; Buschkiel (Anm. 14), S. 42; Rabbow (Anm. 5), S. 19; Wentzcke (Anm. 19), S. 83 f., 86. 22 Wentzcke (Anm. 19), S. 82 f.; Buschkiel (Anm. 14), S. 44. 23 Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft, Allgemeiner Teil, abgedruckt bei Haupt (Anm. 18), S. 118 (124). 24 Buschkiel (Anm. 14), S. 40; Wentzcke (Anm. 19), S. 87 f. 25 Bartol (Anm. 16), S. 64; Friedel (Anm. 1), S. 24; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 2. Bd., 1987, S. 334 f. 26 Friedel (Anm. 1), S. 24.

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schentag folgte, auf dem eine Allgemeine Burschenschaft gegründet wurde. Auf diesem Burschentag wurde am 17. Oktober der Antrag gestellt, eine allgemeine Farbe für die Burschenschaft zu bestimmen27. Die ehemalige Farbe des Deutschen Reichs schien dazu die passendste - nur war sie keinem der Anwesenden bekannt28. Deshalb beschloß man am 17. Oktober, über sie bis zum 19. des gleichen Monats Erkundigungen einzuziehen. Als man sich an diesem Tag wieder traf, erklärte der den Vorsitz führende Abgeordnete der Jenaer Burschenschaft Robert Wesselhöft, die alten deutschen Farben seien Schwarz, Rot, Gold 29 . Zur richtigen Beurteilung dieser historisch unzutreffenden Erklärung muß man wissen, daß bei den Vorberatungen zum Zweiten Deutschen Burschentag innerhalb der Jenaer Burschenschaft vorgeschlagen worden war, „unsere Tracht und Farbe den anderen Burschenschaften als allgemeine vorzuschlagen" 30 . Da kaum anzunehmen ist, daß Wesselhöft innerhalb von 48 Stunden viele Möglichkeiten hatte, heraldische Geschichtsforschung zu betreiben, und da zudem die Farben Schwarz-Rot-Gold im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht als Reichssymbole verwendet worden waren 31 , liegt die Vermutung nahe, Wesselhöft habe mit seiner - vorsichtig gesagt - unsubstantiierten Behauptung nur das Vorhaben der Jenaer Burschenschaft in die Tat umsetzen wollen. Der Symbolkraft der Farben Schwarz-Rot-Gold tat das keinen Abbruch. Die Burschenschaftler nahmen die Auskunft Wesselhöfts mit in ihre Universitätsstädte, und bald trugen die Studenten in Berlin, Bonn, Breslau, Erlangen, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Heidelberg, Jena, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen und Würzburg Schwarz und Rot oder Rot und Schwarz mit Gold als Saum32. Die gesamte burschenschaftliche Bewegung wurde von den deutschen Regierungen als „demagogische Umtriebe" mißtrauisch beobachtet33. Die Ermordung des Schriftstellers Kotzebue durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 gab den erwünschten Anlaß zu den Karlsbader Be-

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Wentzcke (Anm. 19), S. 79; Buschkiel (Anm. 14), S. 45 f. Hattenhauer (Anm. 21), S. 13 f.; Buschkiel (Anm. 14), S. 45 f.; Wentzcke (Anm. 19), S. 79. 29 Buschkiel (Anm. 14), S. 47; Wentzcke (Anm. 19), S. 93, 88 f. 30 Protokolle des Ausschusses der Jenaer Burschenschaft vom 25. August 1818, zitiert nach Buschkiel (Anm. 14), S. 48. 31 Holtemeier (Anm. 14), S. 24 f; Buschkiel (Anm. 14), S. 30 ff.; Huber (Anm. 3), S. 709, Anm. 4; Klein (Anm. 15), Art. 22, Rn. 19. 32 Buschkiel (Anm. 14), S. 49; Wentzcke (Anm. 19), S. 88. 33 Huber (Anm. 4), S. 100. 28

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schlüssen34 vom August 1819, die Grundlage der folgenden sogenannten „Demagogenhetze" wurden 35 . Diese führte zur offiziellen Auflösung der Burschenschaften, die aber als inoffizielle Vereinigungen aktiv blieben und das burschenschaftliche Gedankengut verbreiteten 36. Die Farben Schwarz-Rot und Gold gewannen in der sich bildenden öffentlichen Meinung verstärkt Symbolkraft für dieses Gedankengut. Sie wurden in vielen Gedichten und Liedern der Zeit erwähnt, so etwa im letzten Vers eines Liedes von August Binzer zur Auflösung der Jenauer Burschenschaft 37: „Das Band ist verschnitten, War Schwarz, Rot und Gold, Und Gott hat es gelitten, Wer weiß, was er gewollt?"

Neuen Auftrieb erhielt die Bewegung für Freiheit und Einheit durch das Hambacher Fest, das Pfingsten 1832 in der Pfalz gefeiert wurde 38 . Maßgeblicher Organisator war Philipp Jakob Siebenpfeiffer, der unter dem Eindruck der französischen Julirevolution von 1830 sowie der ihr folgenden Verfassungsgebung in den Staaten Mitteldeutschlands Ende Januar 1832 in Zweibrücken einen Preß- und Vaterlandsverein 39 gegründet hatte40. Vereinszweck war nach den Worten des Mitgründers Johann Georg August Wirth, „die Wiedervereinigung Deutschlands im Geiste herzustellen" und dazu „die Macht der öffentlichen Meinung" zu nutzen, die schwerer in die Waagschale der Gewalten falle als die Macht der Fürsten 41. Deshalb werde die Wiedergeburt Deutschlands im Geiste von selbst zur materiellen Vereinigung führen. „Das Mittel zur Wiedervereinigung Deutschlands im Geist ist aber einzig und allein die freie Presse" 42. Die bayerische Regierung reagierte prompt und verbot den radikalen Verein am 1. März 1832 mit der Begründung, daß „die Verfassung den Staatsbürgern nirgends das Recht einräumt, politische Assoziationen in willkürlicher Weise

34 Huber (Anm. 4), Nr. 32; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., 1997, S. 230; Wehler (Anm. 25), S. 337 ff. 35 Huber (Anm. 4), S. 100; dazu auch Gebhardt/Schieder (Anm. 12), S. 29 ff.; Grimm (Anm. 12), S. 146, 148 ff.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., 1999, Rn. 246, S. 127 f.; ausführlich zum Ganzen: Büssem, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819, 1974, S. 129 ff. 36 Bartol (Anm. 16), S. 73; Buschkiel (Anm. 14), S. 64 f.; Rabbow (Anm. 5), S. 21; vgl. auch Willoweit (Anm. 34), S. 232. 37 Abgedruckt bei Guben, Schwarz-Rot-Gold, 1991, S. 66. 38 Huber (Anm. 3), S. 140. 39 Vgl. dazu Wehler (Anm. 25), S. 364. 40 Huber (Anm. 3), S. 135; Willoweit (Anm. 34), S. 232 f. 41 Flugschrift, zitiert nach Huber (Anm. 3), S. 136. 42 Flugschrift, zitiert nach Huber (Anm. 3), S. 136.

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einzugehen"43. Das Verbot konnte den Plan einer großen Nationalfeier der Deutschen nicht vereiteln. Am 27. Mai 1832 versammelten sich 20- 30.000 Deutsche an der Ruine des Hambacher Schlosses unter der schwarz-rotgoldenen Flagge 44 , die mit der Devise „Deutschlands Wiedergeburt" gehißt worden war 45 . Siebenpfeiffer hatte Schillers Versen „Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd" folgendes Festlied nachgedichtet, das von den Feiernden mit Begeisterung gesungen wurde 46 : „Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß Hoch flattern die deutschen Farben: Es keimet die Saat und die Hoffnung ist groß, Schon binden im Geiste wir Garben: Es reifet die Ähre mit goldenem Band, Und die goldene Ernt' ist das Vaterland."

Schwarz-Rot-Gold wurde nun nach dem Vorbild der französischen Trikolore und in Absetzung von den meist zweifarbigen Fahnen der deutschen Fürsten als dreifarbig gestreifte Flagge gezeigt47 und galt seitdem in der Sprache einer späteren amtlichen Bundestagsdenkschrift mit dem schönen Titel „Darlegung der Hauptresultate aus den wegen der revolutionären Komplotte der neueren Zeit geführten Untersuchungen" als „das Panier aller derer, die, unter Umsturz des Bestehenden, ein deutsches Reich wollten." Der Deutsche Bund reagierte auf die Herausforderung des Hambacher Festes am 5. Juli 1832 hart mit dem Beschluß von „Maßregeln zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und gesetzlichen Ordnung" 48 . Die Maßregeln beschränkten zur Verhinderung der angestrebten Wiedervereinigung Deutschlands im Geiste vor allem die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Daneben wurde im § 4 das öffentliche Tragen von Abzeichen, das nichtautorisierte Zeigen von Fahnen, das Errichten von Freiheitsbäumen und sonstigen Aufruhrzeichen verboten 49. Dieses Verbot wurde mit aller Strenge durchgesetzt 50. Dem Deutschen Bund war die Wirkmächtigkeit nationaler Symbole also durchaus bewußt. Nicht verhindert werden konnte jedoch die Verbreitung zahlreicher Gedichte, die der Farbfolge Schwarz-Rot-Gold als Symbol der deutschen Einheit ge43 Huber (Anm. 3), S. 139; dazu Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., 1987, S. 352. 44 Huber (Anm. 3), S. 141, Anm. 32; Frotscher/Pieroth (Anm. 35), S. 130; Hattenhauer (Anm. 21), S. 15; Wehler (Anm. 25), S. 365. 45 Huber (Anm. 3), S. 141. 46 Abgedruckt bei Guben (Anm. 37), S. 85. 47 Rabbow (Anm. 5), S. 18; Buschkiel (Anm. 14), S. 67 f.; Hattenhauer (Anm. 21), S. 9. 48 Huber (Anm. 4), Nr. 45. 49 Huber (Anm. 4), Nr. 45. 50 Rabbow (Anm. 5), S. 23.

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widmet waren. Bekannt wurde vor allem die „Deutsche Farbenlehre" 51, die der Breslauer Germanistikprofessor August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1840 als Teil seiner „Unpolitischen Lieder" veröffentlichte. Sie endete mit folgendem Vers: „Immer unerfüllt noch stehen Schwarz-Rot-Gold im Reichspanier Alles läßt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr? Ach, wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht Unserer Hoffnung in funkelnder Pracht?"

I I I . Das Lied der Deutschen Als Reaktion auf die Veröffentlichung der unpolitischen Lieder wurde Hoffmann von Fallersleben 1842 aus dem Staatsdienst entlassen und des Landes vewiesen52. Schon am 26. August 1841 aber hatte er auf Helgoland - damals zu Großbritannien gehörend - das Lied der Deutschen gedichtet; es sollte der Nation nach seinem Willen gemeinsam sein wie die Marseillaise den Franzosen und „God save the Queen" den Briten 53 . Als sein Hamburger Verleger Julius Campe ihn am 29. August besuchte, erwarb er das Lied für vier Louisdor und veröffentlichte es bereits zwei Tage später am 1. September als Vierblattdruck mit der Partitur aus Haydns Kaiserquartett 54. Haydn hatte das Quartett 1797 komponiert. Mit dem Text „Gott erhalte Franz den Kaiser" war es in Österreich-Ungarn schnell populär geworden. Das gleiche wiederholte sich in Deutschland mit dem Text von Hoffmann von Fallersleben 55: „Deutschland, Deutschland über alles Über alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt Deutschland, Deutschland über alles Über alles in der Welt. 51 Wendebourg (Hrsg.), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Gedichte und Lieder, 1974, S. 288. 52 Friedel (Anm. l ) , S . 4 5 f . 53 Hümmerich/Beucher, NJW 1987, 3227 (3228); Friedel (Anm. 1), S. 45 f. 54 Wolf] in: Landesbildstelle Berlin (Hrsg.), Materialien zur Geschichte der deutschen Nationalhymne, 3. Kapitel: Geschichte der deutschen Nationalhymne, 1990, S. 10 f; Friedel (Anm. 1), S. 46. 55 Abgedruckt bei Friedel (Anm. 1), S. 45.

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Joachim Wieland Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang, Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang. Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand Blüh' im Glänze dieses Glückes, Blühe deutsches Vaterland!"

Die erste Strophe des Lieds der Deutschen bezeichnet mit seinen geographischen Angaben ungefähr die territoriale Ausdehnung des Deutschen Bundes und seiner Mitgliedstaaten56, war also nicht als Aufruf zur Eroberung gemeint, wie sie im 20. Jahrhundert oft mißverstanden wurde und wird. Die zweite Strophe ist in der Sprache vom Zeitgeist geprägt, sie bleibt uns heute dementsprechend inhaltlich fremd. Die dritte Strophe war 1841 die eigentlich politische; sie brachte das Gedankengut der nationaldemokratischen Bewegung zum Ausdruck und stellte unter den herrschenden politischen Verhältnissen eine Provokation dar. Das Lied spielte im 19. Jahrhundert im öffentlichen Leben eine eher unbedeutende Rolle. Die „Wacht am Rhein", die zur gleichen Zeit entstand, wurde viel populärer 57. Nach der Reichsgründung 1871 wandelte sich der Bedeutungsgehalt der ersten Strophe des Lieds der Deutschen; sie wurde nunmehr von Nationalisten als Aufruf zur Bildung eines größeren Deutschlands verstanden 58 . Bei offiziellen Anlässen wurde die Kaiserhymne „Heil Dir im Siegerkranz" gesungen. Förmlich anerkannt als Nationalhymne wurde das Lied der Deutschen erst mit der Proklamation von Reichspräsident Ebert am 11. August, dem Verfassungstag, des Jahres 192259. Nachdem die Nationalsozialisten das sogenannte Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch" 1933 gleichrangig neben das

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Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR I, 2. Aufl., 1995, § 17, Rn. 4. Hümmerich/Beucher, NJW 1987, 3227 (3227); Friedel (Anm. 1), S. 48. 58 Friedel (Anm. 1),S.48. 59 Klein (Anm. 15), Art. 22, Rn. 81; dazu auch Spendel, JZ 1988, 744 (745); Wolf (Anm. 54), S. 13. 57

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Lied der Deutschen gestellt hatten60, verboten die Alliierten 1945 beide Lieder 61 . Theodor Heuß versuchte als Bundespräsident 1950 vergeblich, den Westdeutschen das Lied „Land des Glaubens, deutsches Land" von Rudolf Alexander Schröder zur Musik von Hermann Reutter nahezubringen 62. Zwar spielten die Rundfunkanstalten dieses Lied seit der Silvesteransprache des Bundespräsidenten im Jahr 1950 täglich zum Programmschluß 63. Umfragen ergaben jedoch, daß nur 8 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland für die Erhebung dieses Liedes zur Nationalhymne eintraten. 9 % wandten sich gegen eine Nationalhymne überhaupt. 73 % waren dagegen für die Wiedereinführung des Deutschlandliedes als Nationalhymne64. Heuß fügte sich schließlich dem Drängen von Bundeskanzler Adenauer und bestimmte 1952 in einem im Bulletin der Bundesregierung veröffentlichten Briefwechsel mit Bundeskanzler Adenauer - unter bewußtem Verzicht auf eine feierliche Proklamation - das Lied der Deutschen zur Nationalhymne; er fügte die Einschränkung hinzu, daß bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden solle 65 . Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bezeichnete diesen Briefwechsel 1990 in einem Beschluß zu Recht als nicht eindeutig. In ihm sei nicht ausdrücklich geregelt, daß das Lied der Deutschen nur mit seiner dritten Strophe zur Hymne erklärt werden sollte. Der eindeutigen Festlegung, daß bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden sollte, entspreche jedoch mittlerweile eine jahrzehntelange allgemeine Übung 66 . Bundespräsident v. Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl nahmen diesen dezenten Hinweis im August 1991 mit einem erneuten, diesmal im Bundesgesetzblatt veröffentlichten, Briefwechsel auf. Der Bundespräsident stellte fest: „Die 3. Strophe des Hoffmann-Haydn' sehen Liedes hat sich als Symbol bewährt." Er bestimmte mit Zustimmung des Bundeskanzlers: „Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk" 6 7 . Die Geschichte der Nationalhymne zeigt die Beharrungskraft nationaler Symbole, die einmal ihren Platz im allgemeinen Bewußtsein gefunden haben.

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Klein (Anm. 15), Art. 22, Rn. 82. Kontrollratsgesetz Nr. 154, Regelung Nr. 1 lit. h, ABl. Kontrollrat Nr. 1 S. 3; dazu auch Spendei, JZ 1988, 744 (747); Wolf (Anm. 54), S. 16 f. 62 Tünnesen-Harmes/Westhoff NJ 1993, 60 (61); Klein (Anm. 15), Art. 22, Rn. 83; Wolf (Anm. 54), S. 18 f. 63 Friedel (Anm. 1),S.49. 64 Wolf (Anm. 54), S. 18. 65 Bulletin Nr. 51 vom 6. Mai 1952, S. 337. 66 BVerfGE 81, 298 (309). 67 BGBl. I, S. 2135. 61

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Reichspräsident Ebert hat seine Proklamation bewußt als Mittel der Einheitsstiftung eingesetzt und sich dazu der langsam gewachsenen Überzeugung vom Symbolgehalt des Lieds der Deutschen bedient. Die Nationalsozialisten haben es nicht durch ihr Kampflied ersetzt, sondern seine Stellung formell unangetastet gelassen68. Das Verbot der Alliierten hat sich auf Dauer ebenso wenig durchgesetzt wie die - verständlichen - Bemühungen des ersten Bundespräsidenten um eine neue Hymne. Erst 1991 war die Zeit reif für die offizielle Anerkennung des Symbolwandels, der sich über 40 Jahre hin zur dritten Strophe des Lieds der Deutschen vollzogen hat. Es gehört wenig prophetische Gabe zu der Voraussage, daß erneute Versuche, eine andere Nationalhymne zu etablieren, keine Aussicht auf Erfolg haben.

IV. Die Bundesflagge Ebenfalls nicht ungebrochen und doch letztlich mit klarem Ergebnis verlief die Geschichte der Nationalflagge. Nachdem die Versuche des Deutschen Bundes und von Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gescheitert waren, die Farben Schwarz-Rot-Gold zur Stützung des eigenen Führungsanspruchs zu vereinnahmen, sah die Paulskirchenversammlung bald die Notwendigkeit, eine offizielle Regelung über die Nationalflagge zu treffen 69. Diese Notwendigkeit stand in engem Zusammenhang mit der im Bürgertum seinerzeit weit verbreiteten Flottenbegeisterung. Während Konservative ihr Hauptaugenmerk auf das stehende Heer richteten, strebten liberal und demokratisch gesinnte Bürger nicht zuletzt um der Verwirklichung ihrer Handelsinteressen willen nach einer deutschen Kriegsmarine, deren Aufgabe der Schutz der ca. 6.800 Schiffe der Handelsflotte sein sollte. Für das liberale Bürgertum war es eine bittere Erfahrung, daß Dänemark im deutsch-dänischen Krieg, der seit April 1848 um die Elbherzogtümer geführt wurde, ohne Schwierigkeiten in der Lage war, die deutsche Handelsflotte vom Meer zu vertreiben, die deutschen Häfen zu blokkieren und den deutschen Seehandel zu unterbrechen. In ganz Deutschland bildeten sich schnell Vereinigungen, die Geld für den Aufbau einer deutschen Kriegsmarine sammelten. Am 31. Mai 1848 kam in Hamburg der Deutsche Marinekongreß zusammen. Er forderte von der Nationalversammlung, sich energisch der Errichtung einer Flotte anzunehmen und ein Marineministerium zu schaffen. Am 14. Juni 1848 bewilligte die Nationalversammlung auf Vorschlag ihres Marineausschusses 6 Mio. Taler für den Flottenbau. Beauftragte

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Klein (Anm. 15), Art. 22, Rn. 82. Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung, Bd. 2, 1848, Sitzung vom 31. Juli 1848, S. 1278. 69

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der Reichszentralgewalt kauften Schiffe auf, die von der Reichsmarinebehörde zu Kriegsschiffen umgebaut wurden 70 . Anlaß für die Nationalversammlung, sich mit der Frage nach einer Nationalflagge zu befassen, war die Abweisung deutscher Schiffe, die Schwarz-RotGold als Flagge zeigten, in verschiedenen ausländischen Häfen 71 . In Deutschland hatte sich die Farbfolge auch ohne offizielle Regelung 1848 überall durchgesetzt 72. In Frankfurt waren allein am 30. März 1848, dem Tag der Einsetzung des Vorparlaments, mehr als 7.000 schwarz-rot-goldene Flaggen gezählt worden 73 . Im Ausland war die Lage anders. Bevor die Großmächte das sich erst bildende Reich anerkannt hatten, bestand keine Aussicht auf Akzeptanz der schwarz-rot-goldenen Flagge als staatliches Hoheitszeichen. Vor allem die großen Seemächte begrüßten die Reichsbildung und die geplante Aufstellung einer deutschen Flotte keineswegs. Während des deutsch-dänischen Krieges drohte Großbritannien, deutsche Schiffe unter schwarz-rot-goldener Flagge auf hoher See aufzubringen, weil sie nach herkömmlichem Seerecht eine „Piratenflagge" zeigten. Als im Mai 1849 ein englisches Schiff in den Kieler Hafen einfuhr und der schwarz-rot-goldenen Flagge nicht den völkerrechtlich vorgeschriebenen Salut bezeugte, wurde ein Warnschuß abgegeben. Großbritannien gab zwar eine formelle Entschuldigung ab; wenige Wochen später griffen britische Schiffe jedoch vor Helgoland in ein deutsch-dänisches Seegefecht ein und erzwangen dessen Abbruch mit der Begründung, Kriegsschiffe unter schwarzrot-goldener Flagge seien als „Piratenschiffe" anzusehen, weil die Flagge nicht die einer völkerrechtlich anerkannten Staatsgewalt sei 74 . In der Nationalversammlung wurde schon im Sommer 1848 die Notwendigkeit einer offiziellen Regelung der Farben der Nationalflagge durchaus anerkannt 75 . Der Marineausschuß erhielt am 28. Juli den Auftrag, sich der Sache anzunehmen76. Schon drei Tage später erstattete er dem Plenum seinen Bericht77. Dieser Bericht nahm Bezug auf den Beschluß der alten Bundesversammlung vom 9. März 1848 und betonte, daß Schwarz-Rot-Gold „von Beginn der neuesten Bewegung an in allen Teilen Deutschlands angewandt" worden sei. Er begnügte sich jedoch nicht mit der Feststellung der allgemeinen Ver70 71 72 73 74 75 76

Huber (Anm. 3), S. 655 ff. Wigard(knm. 69), Sitzung vom 31. Juli 1848, S. 1280. Wigard (Anm. 69), Sitzung vom 31. Juli 1848, S. 1278. Hattenhauer (Anm. 21), S. 17; Friedel (Anm. 1), S. 27. Huber (Anm. 3), S. 659 f. Wigard (Anm. 69), Sitzung vom 31. Juli 1848, S. 1278; Friedel (Anm. 1), S. 27. Wigard (Anm. 69), Sitzung vom 28. Juli 1848, S. 1251 f.; Friedel (Anm. 1),

S. 27. 77

Wigard {Anm. 69), Sitzung vom 31. Juli 1848, S. 1278.

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breitung der schwarz-rot-goldenen Flagge in Deutschland, sondern setzte sich ganz im Stil der in der Paulskirche üblichen, gelehrten Beratungen - in großer Gründlichkeit und Sorgfalt mit heraldischen Fragen auseinander. Den Abgeordneten war klar, daß Schwarz-Rot-Gold nicht die Farben des alten Reichs gewesen waren 78 , wie wenige Monate zuvor noch die alte Bundesversammlung und Friedrich Wilhelm IV. behauptet hatten79. Dennoch sahen sie sich genötigt, an ältere, im Reich verwendete Symbole anzuknüpfen. Symbole benötigen offenbar für ihre Wirkmächtigkeit zumindest eine gewisse - und sei sie auch noch so schwache - historische Fundierung. Als neu kreierte Zeichen sind sie schwer zu vermitteln. Auch die heraldische Vorgabe, der goldene Streifen müsse eigentlich der mittlere sein, weil nicht Farbe auf Farbe - schwarz auf rot - liegen dürfe, wurde sorgfältig erwogen und nur mit spürbaren Bedenken angesichts der „jetzt schon allgemein üblich gewordene(n) Reihenfolge von Schwarz, Rot und Gold" als gerechtfertigt angesehen. Ausdrücklich sollte nach dem Vorschlag des Marineausschusses schließlich bestimmt werden, daß die schwarz-rot-goldenen Streifen horizontal aufeinanderfolgen müßten, damit die deutsche Flagge nicht mit der belgischen verwechselt würde. Auf der Grundlage dieser Erwägungen verabschiedete der Ausschuß einen Gesetzentwurf zur Festlegung der deutschen Kriegs- und Handelsflagge 80. Der Entwurf wurde nach gründlicher Diskussion, die vor allem die Frage zum Gegenstand hatte, ob als Wappen des Deutschen Reichs ein Adler mit einem Kopf oder mit einem Doppelkopf gelten sollte 81 , noch am selben Tag, dem 31. Juli 1848 gebilligt 82 . Die wesentlichen Vorschriften des Reichsgesetzes betreffend die Einführung einer deutschen Kriegs- und Handelsflagge lauteten folgendermaßen 83: „Art. 1 Die deutsche Kriegsflagge besteht aus drei gleich breiten, horizontal laufenden Streifen, oben schwarz, in der Mitte rot, unten gelb. In der linken oberen Ecke trägt sie das Reichswappen in einem viereckigen Felde, welches zweifünftel der Flagge zur Seite hat. Das Reichswappen zeigt in goldenem (gelbem) Felde den doppelten schwarzen Adler mit abgewendeten Köpfen, ausgeschlagenen roten Zungen und goldenen (gelben) Schnäbeln und desgleichen (offenen) Fängen. Art. 2 ....

78 79 80 81 82 83

Dahlmann (Anm. 1), S. 17. Wigard (Anm. 69), Sitzung Wigard (Anm. 69), Sitzung Wigard (Anm. 69), Sitzung Wigard (Anm. 69), Sitzung Huber (Anm. 4), Nr. 76.

vom vom vom vom

31. Juli 31. Juli 31. Juli 31. Juli

1848, S. 1848, S. 1848, S. 1848, S.

1278. 1279. 1280. 1284 f.

Die Entstehung der deutschen Nationalsymbole

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Art. 3 Die deutsche Handelsflagge soll aus drei gleich breiten horizontalen, schwarz, rot, gelben Streifen bestehen, wie die Kriegsflagge, jedoch mit dem Unterschiede, daß sie nicht das Reichswappen trägt. Art. 4 Diese Flagge wird von allen deutschen Handelsschiffen als Nationalflagge ohne Unterschied geführt. Besondere Farben und sonstige Abzeichen der Einzelstaaten dürfen in dieselbe nicht aufgenommen werden. Dabei soll es jedoch den Handelsschiffen freistehen, neben der allgemeinen deutschen Reichsflagge noch die besondere Landes- oder eine örtliche Flagge zu zeigen."

Insbesondere Artikel 4 des Gesetzes diente einerseits der Betonung der Einheit Deutschlands, erlaubte jedoch andererseits angesichts der Bedeutung der Einzelstaaten das zusätzliche Zeigen von deren Flaggen. Mit dem Gesetzesbeschluß vom 31. Juli 1848 war jedoch die Flaggenfrage in völkerrechtlicher Hinsicht noch keineswegs gelöst. Da das Deutsche Reich nur von den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht jedoch von den europäischen Großmächten als Staat anerkannt wurde, vertagte man zunächst die Ausfertigung und die Verkündung des Flaggengesetzes im Reichsgesetzblatt84. Sie erfolgte erst am 12. November 1848 durch den Reichsverweser Erzherzog Johann mit der Maßgabe, daß nur die Bestimmungen über die Kriegsflagge am 3. Dezember 1848 in Kraft treten sollten. Das Inkrafttreten der Bestimmungen über die Handelsflagge wurde gemäß einem Beschluß der Nationalversammlung vom 6. November 1848 „einer weiteren Verordnung" vorbehalten, die nie erging, weil das Reich nicht als Staat anerkannt wurde 85 . Die gesetzliche Bestimmung der Kriegsflagge wurde über das Scheitern der Revolution hinaus als geltendes Recht angesehen und befolgt. Die Schiffe der Reichsflotte führten bis zu deren Versteigerung am 11. April 1852 die schwarzrot-goldene Kriegsflagge 86. Schon vorher waren die deutschen Farben weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Zwar hatten Preußen und Österreich im Juni 1850 der Zentralkommission des Deutschen Bundes mitgeteilt, daß neben den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich, Griechenland, Holland, Neapel, die Niederlande, Sardinen, Spanien, die Toskana und die Türkei Schwarz-Rot-Gold als deutsche Flagge anerkannten 87. Preußen selbst hatte aber schon Ende April 1850 seinen Soldaten verboten, die schwarzrot-goldene Kokarde zu tragen. Besonders Bismarck waren die deutschen Farben zuwider. Er nutze als preußischer Bundestagsgesandter am 15. August 84

Huber (Anm. 4), S. 399 ff.; vgl. dazu auch Wigard 28. Juli 1848, S. 1252 f. 85 Huber (Anm. 4), S. 399 ff. 86 Wentzcke (Anm. 19), S. 120. 87 Friedel (Anm. 1), S. 28.

(Anm. 69), Sitzung vom

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1852 die Sitzungsferien, um mit anderen Konservativen die auf dem Amtsgebäude des Bundestages in der Großen Eschenheimer Gasse gehißte schwarzrot-goldene Flagge niederzuholen 88. Später gerieten die Farben Schwarz-Rot-Gold in den Streit zwischen Österreich und Preußen. Wien unterstützte die politischen Kräfte, die in die deutsche Einigung Österreich einbeziehen wollten, durch Förderung der Farben der Paulskirche. Kaiser Franz Joseph stellte anläßlich des dritten Deutschen Juristentages Mittel für die Anschaffung der zuvor verfolgten Flagge bereit; die österreichischen Kontingente in den Bundesfestungen Mainz und Rastatt trugen schwarz-rot-goldene Abzeichen. Auch setzte Österreich im Krieg mit Preußen 1866 durch, daß die Bundeskontingente schwarz-rot-goldene Armbinden trugen 89 . So war es nicht verwunderlich, daß Bismarck persönlich am 9. Dezember 1866 als Farben des Norddeutschen Bundes eine Kombination aus dem preußischen Schwarz-Weiß mit dem Rot-Weiß der Hansestädte festlegte 90; dem preußischen König gegenüber deutete er die Farbenfolge Schwarz-WeißRot, die in Artikel 55 der Verfassung des Norddeutschen Bundes festgeschrieben wurde, als Kombination der preußischen mit den alten brandenburgischen Farben Rot-Weiß 91 . Obwohl bei der Reichsgründung vor allem im Südwesten deutliche Sympathien für Schwarz-Rot-Gold als Nationalfarben geäußert wurden 92 , setzte sich Bismarck durch. Artikel 55 der Reichsverfassung von 1871 lautete wie in der Verfassung des Norddeutschen Bundes: „Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine ist schwarz-weiß-rot." Im November 1918 zeigte sich, daß Schwarz-Rot-Gold für weite Kreise der Bevölkerung immer noch eine starke Symbolkraft ausstrahlten, zum Teil aber auch auf erbitterte Ablehnung stieß93. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Anhängern von Schwarz-Weiß-Rot, die zu dem unglücklichen Kompromiß in Artikel 3 der Weimarer Reichsverfassung führten, daß Schwarz-Rot-Gold zwar die Reichsfarben wurden, die Handelsflagge jedoch Schwarz-Weiß-Rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke war. Fünf der amtlichen Flaggen der Weimarer Republik - die Nationalflagge, die Standarte des Reichspräsidenten, die Flagge des Reichswehrministers, die Reichspostflagge und die Dienstflagge der Reichsbehörden zu Lande- waren schwarz-rot-gold, die anderen fünf amtlichen Flaggen - die Handelsflagge, die

88

Wentzcke (Anm. 19), S. 120; Friedel (Anm. 1), S. 29. Rabbow (Anm. 5), S. 25; Wentzcke (Anm. 19), S. 126 f. 90 Rabbow (Anm. 5), S. 25 f.; Friedel (Anm. 1), S. 29; Wentzcke (Anm. 19), S. 125; Hattenhauer (Anm. 21), S. 19. 91 Wentzcke (Anm. 19), S. 125 f.; Rabbow (Anm. 5), S. 25 f. 92 Rabbow (Anm. 5), S. 33; Wentzcke (Anm. 19), S. 122 f. 93 Kimminich (Anm. 43), S. 531 f.; vgl. zum sog. Flaggenstreit auch Frotscher/Pieroth (Anm. 35), Rn. 531 ff. (S. 289 ff.). 89

Die Entstehung der deutschen Nationalsymbole

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Handelsflagge mit dem Eisernen Kreuz (für Handelskapitäne, die Offiziere der Reichsmarine gewesen waren), die Reichskriegsflagge, die Gösch und die Dienstflagge der Reichsbehörden zu See - waren schwarz-weiß-rot. Es überrascht nicht, daß diese unklare Symbollage keine einigende Wirkung für die innerlich zerrissene Republik ausüben konnte. Die politische Brisanz der Flaggenfrage zeigte sich unter anderem darin, daß das zweite Kabinett Luther zurücktreten mußte, weil es verordnet hatte, daß Gesandtschaften und Konsulate in Häfen außerhalb Europas, die von Seehandelsschiffen angelaufen wurden, neben der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge zu führen hatten94. Die durch den Flaggenstreit 95 unterminierte Symbolkraft von Schwarz-Rot-Gold wurde sofort nach der nationalsozialistischen Machtübernahme deutlich: Am 12. März 1933 ordnete Reichspräsident Hindenburg ohne Rücksicht auf Artikel 3 der Weimarer Reichsverfassung an, daß fortan die schwarz-weiß-rote Flagge und die Hakenkreuzflagge zu hissen seien 96 ; letztere wurde im Reichsflaggengesetz von 1935 zur Reichs-, National- und Handelsflagge bestimmt97. Im Parlamentarischen Rat wünschte die CDU für die Bundesflagge „auf rotem Grund ein schwarzes, liegendes Kreuz und auf dieses aufgelegt ein goldenes Kreuz", wurde jedoch überstimmt 98. Artikel 22 des Grundgesetzes lautet: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold."

V.Die aktuelle Bedeutung nationaler Symbole Haben nun die schwarz-rot-goldenen Farben der Nationalflagge und die dritte Strophe des Lieds der Deutschen als Nationalhymne für uns heute noch Symbolkraft? Oder handelt es sich um bloße Relikte vergangener geschichtlicher Epochen, unzeitgemäß am Ende des Zeitalters der Nationalstaaten, unpassend zur sich entwickelnden Europäischen Union, nach Vollendung der Wiedervereinigung Deutschlands in einem freiheitlichen Rechtsstaat? Mir erscheint folgende Antwort als richtig: Wir Deutsche sind auch am Ende des 20. Jahrhunderts auf nationale Symbole angewiesen und verfügen mit den Farben Schwarz-Rot-Gold und der dritten Strophe des Lieds der Deutschen über Nationalsymbole, die von ihrem Symbolgehalt her die Eigenart der Nation in treffender Weise widerspiegeln.

94 95 96 97 98

Poetzsch-Heffter, JöR 17 (1929), S. 1 (6 f.). Dazu Wentzcke (Anm. 19), S. 142 ff.; Rabbow (Anm. 5), S. 27 ff. RGBl. I, S. 103. Vom 15. September 1935, RGBl. I, S. 1145. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 5, 1993, S. 485 und 541.

7 FS Hollerbach

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Die Wiedervereinigung ist zwar äußerlich längst vollzogen, benötigt jedoch innerlich bis zu ihrer Vollendung noch viel Zeit und gemeinsame Anstrengung aller Deutschen. Das gilt nicht nur im materiellen Sinne, insbesondere in ökonomischer Sicht, sondern auch im Denken und Fühlen, in der Lebenseinstellung. Das Zusammenwachsen wird nicht ohne Belastungen und Mißverständnisse, Streit und Interessengegensätze abgehen. Unter diesen Umständen wird es hilfreich sein, die Einheit der Nation auch symbolisch zu verdeutlichen, erfahrbar zu machen. Das gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf die fortschreitende europäische Einigung, die manches nationale Symbol in seiner Bedeutung zurücktreten läßt. Vor allem der Deutschen Mark dürfte in Westdeutschland über Jahrzehnte hinweg ein größeres symbolisches Gewicht zugekommen sein als Flagge und Hymne zusammengenommen. Es war kein Zufall, daß 1990 die Währungsunion der Wiedervereinigung um Monate vorausging. Die nationale Einheit symbolisierte sich im gemeinsamen Besitz der DM. Wegen ihres nationalen Symbolgehalts ist ihrem Aufgehen im Euro gerade in Deutschland so viel Widerstand entgegengebracht worden. Hier können Hymne und Flagge als klassische Symbole die Lücke füllen, die das Verschwinden des Behelfssymbols der Nachkriegszeit läßt. Anders als über 100 Jahre hinweg nach 1848 steht weder Schwarz-Rot-Gold noch der dritten Strophe des Lieds der Deutschen eine Alternative gegenüber. Beide können deshalb ihre Integrationsaufgabe im Sinne von Rudolf Smend" erfüllen. Sie stehen von Anbeginn an für das Streben der Deutschen nach staatlicher Einheit, nach Freiheit, wie sie in den Grundrechten gewährleistet wird, und nach dem Rechtsstaat, der für Deutsche aufgrund unserer Geschichte nicht so selbstverständlich ist wie für andere Völker. Daß unsere nationalen Symbole in den letzten 150 Jahren keineswegs unangefochten waren, daß sie über lange Zeit hinweg in Vergessenheit geraten zu sein schienen, hat ihrem Symbolgehalt keinen Abbruch getan, ihre Symbolkraft eher gestärkt. Die Geschichte der Deutschen in den vergangenen 150 Jahren seit der gescheiterten Revolution von 1848 ist vielfältig gebrochen. Nationalflagge und Nationalhymne stehen mit ihrer eigenen Geschichte für diese Brechungen - und gerade darum können sie ihre Integrationsaufgabe erfüllen.

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Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 217.

Entstehungsgeschichte und Auslegung von Gesetzen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Von Karlheinz Muscheler

I. Einleitung Wenn man über Methoden der Gesetzesauslegung redet, muß man drei Dinge auseinanderhalten: Methoden, die gelehrt werden; Methoden, die praktiziert werden; und Methoden, die als praktizierte beschrieben werden, sei es von dem, der sie praktiziert, sei es von einem Dritten. Die praktizierte Methode ist ein Vorgang der Realität. Die Beschreibung einer praktizierten Methode ist eine Summe von Sätzen über die Realität; diese Sätze sind wahr, wenn ihr Inhalt mit der Realität übereinstimmt, falsch, wenn das Gegenteil zutrifft. Die gelehrte Methode beinhaltet eine Summe von Sollenssätzen, mit denen behauptet wird, die betreffenden Methoden sollten in der Wirklichkeit praktiziert werden; solche Sätze können nicht wahr oder falsch, wohl aber überzeugend oder nicht überzeugend sein. Die heutige Methodenlehre hat weitgehend den Kontakt mit der gerichtlichen Praxis und damit auch den Einfluß auf sie verloren. Es gibt kaum höchstrichterliche Urteile, die sich überhaupt explizit über Methodenfragen äußern; und wenn dies ausnahmsweise geschieht, dann wird - im Bereich des Zivilrechts - allenfalls auf das klassische Methodenlehrbuch von Larenz verwiesen1, und dies in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung der Rechtsprechung mit der Wissenschaft in dogmatischen Sachfragen so intensiv wie nie zuvor ist, manche Urteile sich beinahe wie Aufsätze mit umfassenden Fundstellennachweisen ausnehmen. Gründe für den fehlenden Einfluß der methodologischen Theorie auf die Praxis gibt es viele: Die teilweise eigenwillige Begrifflichkeit und die Anlehnung an gerade in Mode befindliche Konzeptionen geisteswissenschaftlicher Nachbardisziplinen sind nur einige davon. Der Hauptgrund aber liegt in Folgendem: Die Theorie vernachlässigt zu sehr die Methoden, die

1

Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991; Κ Larenz/C.-W. Canaris , Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995 (Studienausgabe des vorgenannten Werkes).

7*

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tatsächlich praktiziert werden, die den justiziellen Alltag beherrschen. Sie holt, mit anderen Worten, die Praxis nicht dort ab, wo sie sich befindet. Eine Theorie kann jedoch Einfluß auf die Praxis nur gewinnen und behalten, wenn sie sich dieser Praxis vergewissert und dann in kritischer Reflexion Korrekturen vorschlägt. Der folgende Beitrag versucht, eine praktizierte Methode zu beschreiben, und zwar diejenige Methode, die die zivilrechtlichen Senate des BGH dort befolgen, wo es um die Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes bei der Auslegung dieses Gesetzes geht. Die unmittelbare Entstehungsgeschichte eines Gesetzes wird dokumentiert durch die sog. „Materialien": Berichte und Entwürfe von Gesetzgebungskommissionen, Regierungsentwürfe samt amtlichen Begründungen, Berichte und Empfehlungen von Parlamentsausschüssen, Verhandlungsprotokolle des Parlamentsplenums usw. Die Frage, welche Bedeutung den in diesen Dokumenten enthaltenen Äußerungen für die Auslegung des Gesetzes zukommt, beschäftigt die juristische Methodenlehre, seit solche Materialien veröffentlicht werden, also im wesentlichen seit der Begründung der konstitutionellen Monarchie. Die Antworten, die die methodologische Theorie heute auf diese Frage gibt, sind verwirrend vielfältig 2 . Die Haltung, die unser höchstes Zivilgericht zu ihr einnimmt 3 , ist, wie sich zeigen wird, nicht weniger verwirrend.

2 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 291 ff.; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 449 ff., S. 553 ff.; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 81, S. 94 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 3, 1976, S. 662 ff., S. 674; H-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 167 ff., S. 176 ff.; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 81 ff.; Lorenz (Anm. 1), S. 328 ff., S. 343 ff.; Larenz/Canaris (Anm. 1), S. 149 ff., S. 163 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Rn. 359 ff., Rn. 493 ff.; K. F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 1994, S. 629 ff., S. 632 ff.; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 8, § 10 II; Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl. 1993, Einleitung, Rn. 123, Rn. 135 ff.; J. v. Staudinger/H. Coing, BGB, 13. Bearb. 1995, Einleitung zum BGB, Rn. 132 ff., Rn. 161 ff.; E. Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: J. Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff.; D. Buchwald, Die canones der Auslegung und rationale juristische Begründung, ARSP 1993, S. 16 ff.; F. Loos, Bemerkungen zur „historischen Auslegung", in: Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag, 1985, S. 123 ff. 3

Zur Rspr. des BVerfG: H. J. Müller, Subjektive und objektive Auslegungstheorie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1962, 271 ff.; M. Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DVB1 1984, 73 ff.; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Diss. Kiel 1993. Zur strafrechtlichen Rspr. des BGH: J. Rahlf, Die Rolle der historischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des BGH, in: U. Neumann/J. Rahlf/E. v. Savigny, Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 27 ff. Zur zivilrechtlichen Rspr. des BGH: T. Honseil, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982,

Entstehungsgeschichte von Gesetzen

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Weil der folgende Beitrag sich im wesentlichen darauf beschränkt, eine praktizierte Methode zu beschreiben, bietet er lediglich Vorarbeiten zu einer eigenen Theorie über die Rolle der Entstehungsgeschichte bei der Gesetzesauslegung, nicht aber schon die Theorie selber. Ausführungen dazu müssen einem späteren Beitrag vorbehalten bleiben.

II. Grundsätzliche Äußerungen des BGH 1. Vorbemerkungen Die meisten Urteile, in denen der BGH sich mit der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes beschäftigt, gehen methodologisch gewissermaßen „naiv" vor: Es wird die Entstehungsgeschichte dargestellt und dann entweder gesagt, sie spreche für das Auslegungsergebnis des Gerichts, oder gesagt, sie spreche jedenfalls nicht gegen es, oder festgestellt, die Entstehungsgeschichte sei in Hinsicht auf die konkrete Auslegungsfrage unergiebig. Daneben gibt es jedoch einige wenige Urteile, die sich zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte in „grundsätzlich formulierten Sätzen"4, also gewissermaßen programmatisch, äußern: Wann darf die Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden? Wann muß sie berücksichtigt werden? Wie muß sie berücksichtigt werden? Im Folgenden sollen - noch vor der eigentlichen Beschreibung der vom Gericht tatsächlich praktizierten Methode - solche allgemeinen Äußerungen des BGH zusammengestellt werden. Dabei wird zugleich versucht, eine zeitliche Periodisierung vorzunehmen. Zwei Bemerkungen müssen diesem Versuch jedoch vorausgeschickt werden: Die in einer früheren Phase im Mittelpunkt stehende „Formel" wird später nicht immer ersatzlos aufgegeben; es gibt stets Fälle, in denen auf Formeln früherer Phasen wieder zurückgegriffen wird, obwohl diese in zumindest partiellem Widerspruch zu einer neu entwickelten Formel steht. Zum anderen darf die Funktion nicht außer acht gelassen werden, die „grundsätzlich formulierte Sätze" zur Auslegungsmethode - also die eben genannten „Formeln" - im Kontext der jeweiligen Entscheidungsbegründung haben: Diese Sätze sollen die Legitimation von Ergebnis und Begründung der konkreten Entscheidung erhöhen. Man darf sie keinesfalls als Beschreibung der tatsächlich im konkreten Fall (oder gar in allen Fällen) praktizierten Methode mißverstehen, muß also nicht nur mit Widersprüchen zwischen den in der Rechtsprechung verwendeten allgemeinen Formeln, sondern auch mit Widersprüchen zwischen Formel und tatsächlich praktizierter Methode rechnen.

S. 130 ff.; P. Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988, S. 31 ff. 4 So BGHZ 46, 74 (79).

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2. Erste Phase: Anwendung von § 133 BGB auf die Gesetzesauslegung In der ersten Phase erklärt der BGH mehrfach - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Reichsgerichts 5 - , daß die Vorschrift des § 133 BGB auch auf die Auslegung von Gesetzen anzuwenden sei6. Nach dieser Vorschrift ist (bei Willenserklärungen) der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Diesem Ansatz wohnt naturgemäß eine stark subjektivistische Tendenz inne: Selbst der eindeutige Wortlaut setzt der Berücksichtigung des Willens jedenfalls dort keine Grenze, wo der Adressat der Willenserklärung den wahren Willen erkennt. Ganz soweit wollte der BGH allerdings bei der Auslegung von Gesetzen nicht gehen. In der für diese Phase charakteristischen Entscheidung vom 11.10.19517 liest sich das Ganze so: Auch gesetzliche Vorschriften seien einer erweiternden Auslegung zugänglich. Ihr Wortlaut sei nicht unbedingt maßgebend, denn „auch für die Auslegung von Gesetzen hat der Grundsatz des § 133 BGB zu gelten, so daß bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten im Zweifel 8 derjenigen der Vorzug zu geben ist, die dem Willen des Gesetzgebers am meisten entspricht" 9. Es sei jedoch an der sog. „Andeutungstheorie" des Reichsgerichts festzuhalten, wonach bei der ausdehnenden Auslegung von Gesetzen der Wille des Gesetzgebers nur dann berücksichtigt werden könne, wenn er im Gesetz „irgendwie" Ausdruck gefunden habe; sei er dagegen im Gesetz „überhaupt nicht" zum Ausdruck gekommen, dürfe er nicht beachtet werden. Diese Äußerungen gehen für die Auslegung von Gesetzen einerseits weiter, andererseits weniger weit als die Regeln für die Auslegung von (empfangsbedürftigen) Willenserklärungen: Für letztere gilt bei faktischer Willensübereinstimmung von Erklärendem und Adressat völlig unabhängig vom Wortlaut der Erklärung die Regel „falsa demonstratio non nocet"; die „Andeutungstheorie" spielt hier also keine Rolle. Auf der anderen Seite „siegt" bei Willenserklärungen, bei denen der Empfänger das wirklich Gewollte nicht erkennt, der Wille des Erklärenden nicht schon dann, wenn er im Wortlaut der Erklärung nur überhaupt irgendwie „angedeutet" ist, sondern nur, wenn er sich aus der Perspektive eines objektiven Dritten als naheliegendste Wortlautauslegung ergibt. 5

RGZ 139, 110 (112). BGHZ 2, 176 (184) (Trotz der objektivistisch klingenden Terminologie - „Wille des Gesetzes" - geht es der Sache nach um die Entstehungsgeschichte); BGHZ 3, 82 (84); BGH, L M § 133 (D) BGB Nr. 3. 7 BGH, L M § 133 (D) BGB Nr. 3. 8 Es ist unklar, was die Worte „im Zweifel" im Zusammenhang der BGH-Formel bedeuten. Sie könnten zum einen eine ungeschickte Wiederholung der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Formel sein („verschiedene Auslegungsmöglichkeiten"), zum anderen aber auch ein Hinweis auf die Möglichkeit entgegenstehender „besserer" Sachgründe. 9 Anlehnung an RGZ 104, 171 (173). 6

Entstehungsgeschichte von Gesetzen

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3. Zweite Phase: Übernahme der frühen Formel des BVerfG In einem Beschluß des Großen Senats für Zivilsachen vom 20.5.1954 - es ging um die Frage, ob die Bindung nach § 31 I BVerfGG sich nur auf die Urteilsformel oder auch auf die tragenden Entscheidungsgründe erstreckt 10 Schloß sich der BGH zum ersten Mal der in BVerfGE 1, 299 (312) entwickelten, die Entstehungsgeschichte stark abwertenden Formel des Bundesverfassungsgerichts 11 an 12 : Für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen sei nicht die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung entscheidend. Der Entstehungsgeschichte komme für die Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie Zweifel behebe, die durch die Auslegung des zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willens des Gesetzgebers aus Wortlaut und Sinnzusammenhang allein nicht ausgeräumt werden können. Im Urteil vom 7.6.1960 wird der neue Ansatz wie folgt zusammengefaßt: „Maßgebend für die Auslegung eines Gesetzes ist in der Regel allein der in der Gesetzesbestimmung zum Ausdruck kommende 'objektivierte Wille' des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt, in den die Bestimmung hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung einer Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den gegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt, oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können" 13 . Der Unterschied zwischen der Formel dieser Phase und jener der ersten Phase liegt genauer betrachtet in Folgendem: Wer § 133 BGB anwendet, für den ist das letzte Ziel der Auslegung, den „wirklichen Willen" des Gesetzgebers zu 10 Der BGH verneinte, das BVerfG entscheidet anders (Nachweise bei M. Sachs/G. Sturm, GG, 2. Aufl. 1999, Art. 94 Rn. 11). 11 Zur Rolle der Entstehungsgeschichte in der späteren Rspr. des BVerfG vgl. neben den in Anm. 2 und 3 Genannten die Nachweise bei Sachs, GG (Anm. 10), Einführung Anm. 46. 12 BGHZ 13, 265 (277); bestätigt in BGHZ 23, 377 (390) (U. v. 28.2.1957): Der Entstehungsgeschichte komme gegenüber Wortlaut und Sinnzusammenhang „nur untergeordnete Bedeutung zu". 13 BGHZ 33, 321 (330); bestätigt in BGHZ 36, 370 (377) (B. v. 15.2.1962) (allerdings mit der Abweichung, der „objektivierte Wille" sei „in erster Linie" maßgebend); BGHZ 37, 58 (60) (U. v. 21.3.1962); BGHZ Al, 182 (183) (U. v. 25.6.1964); BGHZ 46, 1 (3) (B. v. 14.7.1966); BGHZ 46, 190 (192) (B. v. 24.10.1966) (mit der Modifikation, der Entstehungsgeschichte komme insofern Bedeutung zu, als sie Zweifel beheben könne, die aus Wortlaut und Sinnzusammenhang noch nicht „oder doch nicht völlig" ausgeräumt werden können). - Hingewiesen wird idR auf BVerfGE 1, 299 (312); 8, 274 (307); 10, 234 (244); 11, 126 (130); 15, 153 (160 f.).

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erforschen, und die in die Analogie zu § 133 BGB eingebaute Andeutungstheorie stellt lediglich ein Formhindernis auf dem Weg zu diesem Ziel dar. Bei der jetzigen Formel verhält es sich umgekehrt: Die Gesetzesform, der „objektivierte", vom historischen Gesetzgeber gelöste Inhalt der Form ist nun das Primäre und der historische Wille nur ein Notbehelf dort, wo man mit der Form allein keine Eindeutigkeit erzielen kann. Eine Präzisierung der zweiten Formel mit leicht genesefreundlicherer Tönung bietet ein Urteil vom 21.3.196214. Hier wird zunächst betont, maßgebend sei der aus Wortlaut und Sinnzusammenhang zu entnehmende objektivierte Wille - „des Gesetzes" heißt es jetzt - , und die Entstehungsgeschichte sei „nur ergänzend" heranzuziehen. Wie Larenz 15 überzeugend dargelegt habe, sei das Gesetz ebensowohl eine Manifestation des auf die Schaffung einer gerechten Ordnung gerichteten Willens des historischen Gesetzgebers wie Ausdruck objektiver Rechtsgedanken und Prinzipien, die einer solchen Ordnung von der Sache her notwendig immanent sind. Daher sei Larenz auch darin zuzustimmen, daß die Ermittlung des tatsächlichen Willens des historischen Gesetzgebers „ein wichtiges Moment, aber nicht das letzte Ziel der Auslegung" sei. Die Gesetzesmaterialien hätten jedoch dann besonderen Wert, wenn es erforderlich sei, „das Gesetz auf bestimmte Fallgestaltungen anzuwenden, für deren rechtliche Behandlung der Wortlaut und der Sinnzusammenhang des Gesetzes allein, losgelöst von der Entstehungsgeschichte, keine hinreichenden Anhaltspunkte bieten". Nur die Berücksichtigung der vom Gesetzgeber mit der getroffenen Regelung verfolgten Ziele gewährleiste es bei einer derartigen Sachlage, daß die Anwendung und Fortentwicklung des Rechts sich organisch in der Richtung, auf die hin das Gesetz angelegt ist, vollziehe. Hier kündigt sich bereits die Formel der dritten Phase an.

4. Dritte Phase: Die Formel des Schallplatten-Urteils Die ausführlichste, regelrecht „schulmäßige" 16 Auseinandersetzung mit allgemeinen Fragen der Gesetzesauslegung findet sich im sog. SchallplattenUrteil vom 30.6.196617, in dem der BGH darüber zu befinden hatte, ob die vertikale Bindung der Preise von bespielten Schallplatten durch deren Hersteller unter die für „Verlagserzeugnisse" geltende Privilegierungsbestimmung des GWB 1 8 fällt. Der BGH stellt an den Beginn seiner Ausführungen die allgemei14 BGHZ 37, 58 (60 f.); bestätigt in BGHZ 42, 182 (183) (U. v. 25.6.1964); beide Fälle betrafen § 1371 BGB. 15 Hinweis auf dessen Methodenlehre, Auflage von 1962, S. 240. 16 So die Qualifizierung bei Koch/Rüßmann (Anm. 2), S. 167. 17 BGHZ 46,74. 18 Zur Zeit der Entscheidung § 16 I Nr. 2 GWB, heute § 15 GWB.

Entstehungsgeschichte von Gesetzen

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nen Prämissen der Auslegung und bekräftigt den bisherigen Ansatzpunkt: Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift sei der in dieser zum Ausdruck kommende „objektivierte Wille" des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergebe, in den diese hineingestellt ist. Daran schließt sich jedoch - unter Hinweis auf BVerfGE 11, 126 (130)- eine bemerkenswerte Akzentverschiebung für das Verhältnis der einzelnen Auslegungsregeln untereinander an: „Dem Ziel, den im Gesetz objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die nebeneinander zulässigen, sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, aus ihrem Zusammenhang, aus ihrem Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte"19. Dabei sei in aller Regel mit der Auslegung nach dem Wortlaut zu beginnen, da der mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung bilde. Daß zwischen dem Ausgangspunkt, wonach der sich aus Wortlaut und Systematik ergebende objektivierte Wille maßgebend ist, und dem nächsten Satz über die „Gleichwertigkeit" 20 aller vier Auslegungskriterien ein Spannungsverhältnis, um nicht zu sagen ein offener Widerspruch besteht, scheint dem BGH nicht aufzufallen. Wichtig ist jedenfalls, daß die Entstehungsgeschichte schon durch die Allgemeinformel erheblich aufgewertet wird, da die an ihr orientierte Auslegung ihren untergeordneten, bloß hilfsweisen Charakter verliert. Wenn alle vier Kriterien sich gegenseitig „ergänzen", dann können sie auch nur alle vier zusammen „das Ganze" der Auslegung bilden. Bei genauer Interpretation der BGH-Sätze müßte demnach die Entstehungsgeschichte bei Auslegungsproblemen stets zu Rate gezogen werden. Der BGH prüft nun in der Schallplatten-Entscheidung zunächst Wortlaut und Systematik und kommt dabei zum Ergebnis, daß sich aus beiden eine sichere Lösung nicht entnehmen lasse. Alles komme daher auf den Zweck der Norm an. Dieser aber lasse sich hier zweifelsfrei nur aus der Entstehungsgeschichte entnehmen. Daran knüpft der BGH nun zunächst den Versuch einer Antwort auf die Frage, welche Bedeutung der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung einer Gesetzesvorschrift im allgemeinen zukommt: Die Gesetzesmaterialien enthielten oft wertvolle Anhaltspunkte dafür, „worin der Rechtfertigungsgrund für eine Vorschrift liegt, welchen Zweck man mit ihr verfolgt hat... konkreter: welche wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die Gesetzesverfasser vor Augen hatten, von welchem Rechtszustand man ausging und welchen Reformbestrebungen der Gesetzgeber Rechnung tragen wollte... m.a.W.: welchen Interessenkonflikt der Gesetzgeber hat ausgleichen wollen... und damit schließlich: auf welche Fallgestaltungen das Gesetz anwendbar sein

19 20

BGHZ 46,74 (76). So S. 79 der Entscheidung.

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soll." 21 Zunächst hat es den Anschein, der BGH rechtfertige die Heranziehung der Entstehungsgeschichte allein mit der faktischen Ergiebigkeit dieser Erkenntnisquelle. Dabei bleibt er jedoch nicht stehen. Nachdem er die konkrete Entstehungsgeschichte dargestellt und aus ihr den Satz abgeleitet hat, die Zulassung der Preisbindung zweiter Hand bei Verlagserzeugnissen sei auf das hergebrachte „System des festen Ladenpreises im Gesamtsystem des buchhändlerischen Vertriebs- und Abrechnungsvorgangs beschränkt", stellt er folgenden für unseren Zusammenhang zentralen neuen Satz auf: Der aus der Entstehungsgeschichte abgeleitete „objektivierte" Wille des Gesetzgebers sei ,för die mit der Anwendung des Gesetzes befaßten Gerichte verbindlich" (Hinweis auf Art. 20 I I I GG) 2 2 . Daraus folge, daß ein Gericht „sich auch nicht durch Auslegung über einen eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen" dürfe 23 . An diesen Ausführungen fällt Folgendes auf: Weder die Aufwertung der Entstehungsgeschichte zur gleichberechtigten Auslegungsquelle noch die Aufstellung der Bindungsformel waren im konkreten Fall wirklich erforderlich. Denn Wortlaut und Systematik, die der BGH als erstes prüft, ergaben zwar Hinweise in Richtung einer Beschränkung der Preisbindung zweiter Hand auf den Buchmarkt, ließen aber noch Zweifel offen, so daß schon nach der Formel der zweiten Phase - zur Beseitigung offengebliebener Zweifel - ein Eingehen auf die Entstehungsgeschichte erlaubt war. Und die Bindungsformel war deshalb nicht notwendig, weil Wortlaut und Systematik ja nicht in eine andere Richtung wiesen als die Entstehungsgeschichte, sondern, wenn auch Zweifel offenlassend, in dieselbe Richtung wie diese24. Das Urteil ist offenbar geleitet von dem allgemeinen, nicht unmittelbar fallbezogenen Bestreben, der Entstehungsgeschichte generell eine größere Bedeutung zuzumessen. Es stammt übrigens vom Kartellsenat des BGH, und in der Tat läßt sich zeigen, daß in der Rechtsprechung dieses Senats die Entstehungsgeschichte der (meist wirtschaftspolitisch motivierten Kartell-) Normen eine größere Rolle als bei den anderen Senaten spielt 25 .

21

S. 80 f. S. 85. 23 Ebd. 24 Die Bindungsformel war auch nicht deshalb notwendig, weil die Schallplattenherstellerin auf Art. 3 GG verwies. Denn der BGH behandelt das (in der Sache schwache) Gleichbehandlungsargument zu Recht unter der Rubrik „verfassungskonforme Auslegung", die naturgemäß ein aus der Entstehungsgeschichte gefundenes Auslegungsergebnis unabhängig davon überwinden kann, ob die Entstehungsgeschichte die normale Auslegung bindet oder nicht bindet. 22

25 Vgl. etwa BGHZ 28, 208 (210 f.); BGHZ 31, 105 (112); BGHZ 34, 47 (49); BGHZ 36, 91 (101); BGHZ 36, 370 (371); BGHZ 41, 42 (49 f.); BGHZ 129, 37 (44, 47).

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Der grundsätzliche Ausgangspunkt des Schallplatten-Urteils wird bestätigt durch ein Urteil des Ib-Senats vom 8.11.196726: Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift sei der in ihr zum Ausdruck kommende „objektivierte Wille des Gesetzgebers". Dem Zweck, diesen objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienten die nebeneinander zulässigen, sich gegenseitig ergänzenden Methoden der Auslegung aus dem Wortlaut der Norm, aus ihrem Sinnzusammenhang sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte. Ein Hinweis auf die Bindungsformel unterbleibt. Eine Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen vom 21.5.197427 übernimmt die allgemeinen Aussagen des Schallplatten-Urteils zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte, vermeidet aber in der Fundstellenangabe sorgfältig jeden Hinweis auf S. 85 der Schallplatten-Entscheidung, auf der sich die Bindungsformel findet.

5. Vierte Phase: Die Rechtsprechung von 1975 bis heute und ihr Schwanken zwischen den Formeln der zweiten und dritten Phase Die Rechtsprechung des BGH seit 1975 ist gekennzeichnet durch große Vorsicht und Zurückhaltung bei allgemeinen methodologischen Aussagen. Es finden sich kaum grundsätzliche Äußerungen, weder zur Methodenlehre im allgemeinen, noch zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte im besonderen. Es scheint, als sei die Schallplatten-Entscheidung des BGH den meisten Senaten des Gerichts nicht ganz geheuer. Wo wir aber ausnahmsweise allgemeine Äußerungen finden, können wir feststellen, daß keine einheitliche Linie herrscht. Einzelne Urteile verwenden die in der zweiten Phase geprägte Formel, einzelne wiederum schließen sich der Formel des Schallplatten-Urteils an. In die erste Gruppe fällt zunächst ein Urteil vom 25.10.197628. Hier wird der Vorinstanz vorgeworfen, sie messe bei der Auslegung den Gesetzesmaterialien gegenüber dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers" eine zu große Bedeutung bei. Diese dürften als Vorarbeiten zum Gesetz bei der Auslegung „bloß unterstützend" verwertet werden und nicht dazu führen, die Vorstellung der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen. Die Schallplatten-Entscheidung wird in der Sache offen desavouiert, obwohl in den Fundstellenangaben auf sie und übrigens auch auf die oben dargestellte Hauptentscheidung der ersten Phase29 verwiesen wird. In die erste Gruppe ge26 27 28 29

BGHZ 49,221 (223). BGHZ 62, 340 (350). BGHZ 67,339(341). BGH, L M § 133 (D) BGB Nr. 3.

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hört ferner ein Urteil vom 14.4.198330, in dem es heißt, die Entstehungsgeschichte sei bei der Auslegung dann von Bedeutung, „wenn Wortsinn und Zusammenhang der Vorschrift mit anderen Bestimmungen für eine sinnvolle Auslegung nicht ausreichen". Es gibt aber auch mehrere Beispielsfälle der zweiten Gruppe. In einer Entscheidung vom 29.4.198731 wird zur Lösung einer umstrittenen Frage im Rahmen der Generalklausel des § 9 AGBG (ausschließlich) auf die typisierenden Wertungen in den Materialien zu einem der Tatbestände des § 11 AGBG zurückgegriffen und allgemein ausgeführt, die typisierenden Wertungen des Gesetzgebers könnten auch bei der Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG nicht unberücksichtigt bleiben. „Daß die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und der Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung zu beachten sind, entspricht der heute ganz überwiegenden Ansicht" 32 . In einer Entscheidung vom 18.11.199333 heißt es: „Gibt die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes, wie hier, eindeutige Auskunft über den Willen des Gesetzgebers, ist sie bei der Auslegung zu beachten (BGHZ 46, 74, 80; 62, 340, 350). Ihr Gewicht ist um so größer, je weniger sich die Lebensverhältnisse seit Inkrafttreten des Gesetzes geändert haben." Die in beiden zitierten Urteilen verwendete „Beachtens"-Formel nähert sich zwar der „Bindungs"-Formel der Schallplatten-Entscheidung an, ist aber wohl weniger streng als diese. Darauf deutet zum einen der Hinweis auf das vom Alter abhängige Gewicht der Entstehungsgeschichte, zum zweiten der fehlende Verweis auf diejenige Stelle der Schallplatten-Entscheidung, die die Bindungs-Formel enthält (BGHZ 46, 85), zum dritten schließlich die Tatsache, daß weder die „ganz überwiegende Ansicht" noch Larenz, die beide im ersten Urteil angeführt werden, eine Bindung der Auslegung an die Entstehungsgeschichte im strengen Sinne anerkennen. Die „Beachtens"-Formel meint also wohl nur, daß man sich mit einer eindeutigen Entstehungsgeschichte auseinandersetzen muß, sie nicht übergehen und von ihr nur mit überzeugenden Sachgründen abweichen darf. Am eindeutigsten innerhalb der zweiten Gruppe und in unserem Zusammenhang von zentraler Bedeutung ist eine Entscheidung des BGH vom 12.3.199734. Hier ging es um die Frage, ob der Vermieter zur Kündigung des Mietverhältnisses gegenüber dem in das Mietverhältnis eingetretenen Erben (§ 569 BGB) eines Kündigungsgrundes nach § 564 b BGB bedarf, und zwar auch dann, wenn der Erbe mit dem verstorbenen Mieter in der Wohnung keinen gemeinsamen Hausstand geführt hat. Der BGH bejaht die Frage und stützt 30 31 32 33 34

BGHZ 87, 191 (194 f.). BGHZ 100, 373 (378). Folgt Hinweis auf die Methodenlehre von Larenz. BGHZ 124, 147 (149 f.). BGHZ 135,86.

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sich zur Begründung ausschließlich auf die Gesetzesmaterialien zu § 564 b BGB. Wortlaut und systematischer Zusammenhang der Normen werden gar nicht erst geprüft. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung seien die Gerichte an die eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers gebunden. „Eine grundlegende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die der Gesetzgeber nicht bedacht hat und auch nicht bedenken konnte, so daß die Entstehungsgeschichte ihre Bedeutung für die Auslegung verloren hätte (vgl. BGHZ 47, 324, 335 f.), ist seitdem nicht eingetreten. Eine Auslegung des Gesetzes gegen den eindeutigen Willen des Gesetzgebers ist den Gerichten im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG verwehrt (BGHZ 46, 74, 85)" 35 . Der BGH greift hier in eindeutiger Weise die „Bindungs"-Formel der Schallplatten-Entscheidung auf, begnügt sich also nicht mit der weicheren „Beachtens"-Formel. Das ist um so bemerkenswerter und geht insofern in der praktischen Konsequenz noch über die SchallplattenEntscheidung hinaus, als es tatsächlich starke Gegengründe gegen das Ergebnis gab, so namentlich die (ebenfalls aus der Entstehungsgeschichte zu § 564 b BGB nachweisbare!) ratio des § 564 b BGB, die darin besteht, den Mieter vor willkürlichen Kündigungen und damit vor dem Verlust der Wohnung als seines bisherigen Lebensmittelpunktes zu bewahren. Diese (historisch ermittelte) ratio war auf den Erben des konkreten Falles nicht anwendbar, da dieser vor dem Erbfall gar nicht in der Wohnung gelebt hatte. Der BGH hätte also ohne weiteres die Zwecksetzung des historischen Gesetzgebers gegen die von Larenz sog. „konkrete Normvorstellung" des historischen Gesetzgebers ausspielen können, wie er es an anderer Stelle bisweilen selbst tut 3 6 ; auch weite Teile der Methodenlehre behaupten bei einem Widerspruch zwischen historisch ermittelter ratio legis und einer „konkreten Normvorstellung" einen Vorrang der ersteren 37. Wortlaut und Systematik des Gesetzes waren, wie in der SchallplattenEntscheidung, für beide Lösungen offen, wiesen aber, anders als in der Schallplatten-Entscheidung, noch nicht einmal eine „Tendenz" in Richtung des BGHErgebnisses auf, so daß in der Tat die aus den Materialien ersichtliche „konkrete Normvorstellung" der Gesetzesverfasser wirklich das einzige Sachargument war, das die Lösung des BGH zu stützen vermochte. Unter solchen Umständen ist natürlich die „Flucht" in die „Bindungs"-Formel naheliegend, ja ein wahrer Rettungsanker. Hier zeigt sich auch besonders deutlich die Funktion allgemeiner methodologischer Äußerungen in Urteilen: Sie sind gedacht als zusätzliches Argument zur Abstützung des Ergebnisses und keineswegs als zweckfreie methodologische Erkenntnis. Das ist denn auch der Hauptgrund dafür, daß wir möglicherweise schon in der nächsten Entscheidung auf eine andere methodologische Formel stoßen. 35

BGHZ 135,86(91 f.). BGHZ 16, 31; BGHZ 67, 339 (341); BGHZ 98, 174 (182 f.). 37 Larenz (Anm. 1), S. 344; Larenz/Canaris (Anm. 1), S. 164 f.; Canaris , ZIP 1997, 1507 (1508) (Anmerkung zu BGHZ 135, 86); Bydlinski (Anm. 2), S. 453. 36

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In seiner Entscheidung zu §§ 569, 564 b BGB wirft der BGH gleich mehrere wichtige Einzelregeln der objektiven Auslegungstheorie über den Haufen: Wortlaut und Systematik spricht er gar nicht erst an, stützt sich vielmehr ausschließlich auf die Entstehungsgeschichte. Er hält sich durch die Materialien für gebunden, obwohl es sich bloß um eine „konkrete ΝormvorStellung" handelt (Vorstellung der Gesetzesverfasser vom Inhalt und Anwendungsbereich einer Norm, die eine unmittelbare Antwort auf ein Auslegungsproblem enthält), nicht um die Zweckangabe des historischen Gesetzgebers, deren Befolgung noch einen weiteren Schluß des Anwenders 38 (welche Auslegungsvariante verwirklicht den Zweck am besten?) erfordert 39. Und drittens verweigert er sich der weitverbreiteten Behauptung, bei einem Konflikt zwischen historischer ratio und historisch ermittelter konkreter Normvorstellung gebühre ersterer der Vorrang. Anders als in der Schallplatten-Entscheidung fehlt selbst der verbale Kniefall vor dem „objektivierten Willen" des Gesetzgebers in einer das tatsächliche Vorgehen verschleiernden Oberformel zur Gesetzesauslegung.

6. Zusammenfassung Überblickt man die abstrakten Äußerungen des BGH zur Gesetzesauslegung im allgemeinen und zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte des Gesetzes im besonderen, so kann man Folgendes festhalten: Die in der ersten Phase entwikkelte Formel - Anlehnung an § 133 BGB - scheint mittlerweile endgültig aufgegeben, wenn man angesichts der Wankelmütigkeit des BGH überhaupt von Endgültigkeit sprechen darf. Als maßgebend wird im Ansatz der „objektivierte Wille des Gesetzgebers" betrachtet; auch die Entscheidung zu § 569 BGB will davon wohl nicht ernsthaft abrücken, zumal sich, wie die Schallplatten-Entscheidung zeigt 40 , damit ein materialienfreundliches Vorgehen praktisch durchaus verträgt. Damit kann ein eindeutig aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ableitbares Ergebnis nicht durch eine Berufung auf die Entstehungsgeschichte überwunden werden. Ergeben diese beiden Kriterien jedoch, wie in den meisten Fällen, keine zweifelsfreie Lösung, stehen sich die Formeln der zweiten und der dritten Phase, letztere nunmehr verschärft durch die Entscheidung zu § 569 BGB, in nach wie vor unausgetragenem Gegensatz gegenüber: Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht in der Frage einer Bindung an die Materialien, in der Frage namentlich, ob ein durch objektiv-teleologische Aus-

38

Dazu v.a. Alexy (Anm. 2), S. 291 \ Koch/Rüßmann (Anm. 2), S. 215 ff. Auch in der oben zitierten Entscheidung BGHZ 124, 147 ging es übrigens um konkrete Normvorstellungen des Gesetzgebers; dasselbe gilt für die SchallplattenEntscheidung. 40 Vgl. Baden (Anm. 2), S. 372. 39

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legung 41 gefundenes Ergebnis der historischen Auslegung vorgeht oder vorgehen kann. Die allgemeinen methodologischen Äußerungen des BGH sind mithin durch eine tiefgehende Unsicherheit geprägt. Was die Bedeutung der Entstehungsgeschichte angeht, so stehen sich zwei gegensätzliche Ansatzpunkte gegenüber. Die Wahl zwischen ihnen erfolgt, wo es überhaupt zu allgemeinen Formulierungen kommt, nicht erkenntnis-, sondern ergebnisorientiert.

I I I . Auswertung von BGHZ 125 bis 135 Um herauszufinden, welche Rolle die Entstehungsgeschichte von Gesetzen in der Rechtsprechung des BGH jenseits abstrakter Grundsatzäußerungen des Gerichts in der täglichen Praxis wirklich spielt, wurden die Bände 125 bis 135 der amtlichen Entscheidungssammlung (BGHZ) untersucht 42. Die in diesen Bänden abgedruckten insgesamt 456 Entscheidungen sind zwischen Januar 1994 und Juni 1997 ergangen. Aus der auf der folgenden Seite abgedruckten Auswertungsliste geht hervor, daß der BGH sich in 178 von 456 Entscheidungen, d.h. in rund 39 %, der historischen Methode bedient hat. Das ist eine erstaunlich hohe Zahl und widerspricht auf eklatante Weise der in den abstrakten Äußerungen des Gerichts verschiedentlich anzutreffenden Geringschätzung der Entstehungsgeschichte. Honsell kam in seiner Analyse der in den BGHZ-Bänden 51 bis 70 (Entscheidungszeitraum 1968 bis 1978) veröffentlichten (560) Urteile zum BGB zum Ergebnis, daß das Gericht in gut einem Viertel der Fälle (150) historisch argumentierte 43. Der Zahlenunterschied läßt sich unschwer erklären: In unserer Untersuchung wurden sämtliche Entscheidungen, nicht nur die zum BGB ergangenen berücksichtigt, insbesondere auch diejenigen, die neuere Gesetze betreffen. Es ist eine alte Erfahrungstatsache, daß bei der Auslegung älterer Gesetze, bei der die Entstehungsgeschichte Aufschluß geben kann und von der Rechtsprechung beim erstmaligen Auftauchen der Frage auch berücksichtigt worden ist, oft nur noch auf Präjudizien verwiesen wird. So verwundert es denn auch nicht, daß das Reichsgericht in den in RGZ 46 bis 65 (1900 bis 1907) ergangenen (890) Entscheidungen zum BGB noch in gut der Hälfte der Fälle (460) historisch argumentiert hatte 44 .

41

Terminologie von Larenz (Anm. 1), S. 333 ff., S. 344. Meinen Mitarbeitern Anke Bloch und Markus Schewe danke ich für wertvolle Unterstützung. 43 S. o. Anm. 3 (S. 130). Vgl. auch Raisch (Anm. 3), S. 31 ff., S. 91. 44 Dazu wiederum Honsell (Anm. 3), S. 80. 42

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