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German Pages 882 [884] Year 1999
Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag
I
1999
I
Festschrift für ALEXANDER BÖHM zum 70. Geburtstag am 14. Juni 1999
herausgegeben von
Wolfgang Feuerhelm · Hans-Dieter Schwind Michael Bock
w DE
_G_ 1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Herausgeber danken den Landesjustizverwaltungen von Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen für die großzügige Unterstützung der Drucklegung.
© Gedruckt auf säurefreien Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag am 14. Juni 1999 / hrsg. von Wolfgang Feuerhelm ... - Berlin ; New York ; de Gruyter, 1999 ISBN 3-11-015696-2 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Knipp Medien und Kommunikation OHG, 44227 Dortmund Druck: Gerike GmbH, 10999 Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, 10963 Berlin
Inhalt Alexander Böhm zum 70. Geburtstag
XI
1 Nationale und internationale Perspektiven des Strafvollzugs HEINZ MÜLLER-DIETZ Der Ort des Strafvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem
3
GÜNTHER KAISER Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive. Wo weicht der Strafvollzug in der Bundesrepublik gravierend ab?
25
PETER BEST Europäische Kriminalpolitik auf der Grundlage der Menschenrechtskonvention - die European Rules -
49
HEIKE JUNG Die „European Rules on Community Sanctions and Measures"
69
ROLF HERRFAHRDT Politische Verantwortung des Strafvollzuges angesichts des „allgemeinen Rechtsempfindens"
81
FRIEDER DÜNKEL Jugendstrafvollzug zwischen Erziehung und Strafe Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Vergleich
99
GÜNTHER KRÄUPL Schuldverständnis und Strafvollzugsgestaltung im historischen Rückblick auf die D D R und als bleibendes Problem
141
VI
Inhalt
2 Struktur und Organisation des Strafvollzugs KARL HEINRICH SCHÄFER
Offener Strafvollzug als Normalität - Das Direkteinweisungsverfahren im hessischen Justizvollzug -
165
M O N I C A STEINHILPER
Organisationsentwicklung im Justizvollzug. Ein Praxisbericht mit Beispielen aus Niedersachsen
177
KARL PETER ROTTHAUS
Die Mitarbeiter des ΒehandlungsVollzuges im XXI. Jahrhundert
187
CHRISTIAN DERTINGER
Probleme der Bediensteten im Strafvollzug der neuen Bundesländer
203
HORST SCHÜLER-SPRINGORUM
Angemessene Anerkennung als Arbeitsentgelt. Das Bundesverfassungsgericht zur Arbeit im Strafvollzug
219
3 Der Strafvollzug als Gegenstand empirischer Forschung JÖRG-MARTIN JEHLE
Strafvollzug und Empirie
235
HELMUT KURY
Zum Stand der Behandlungsforschung oder: Vom nothing works zum something works
251
CHRISTINE SWIENTEK
Von der Unmöglichkeit, katamnestische Studien zu erstellen 275
MICHAEL BOCK
Schädlich, überflüssig, schmutzig. Die Argumentationen der kriminologischen Verächter der Resozialisierung 285
Inhalt
VII
4 Spezielle Personengruppen KLAUS LAUBENTHAL
Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung
307
HANS-DIETER SCHWIND
Nichtdeutsche Straftäter - eine kriminalpolitische Herausforderung, die bis zum Strafvollzug reicht
323
DIETER D Ö L L I N G u n d DIETER H E R M A N N
Über die Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft von weiblichen Strafgefangenen
363
5 Behandlungsansätze A R T H U R KREUZER
Spritzenvergabe im Strafvollzug - Forschung zwischen den Fronten in einem kriminalpolitischen Glaubenskrieg
379
R U D O L F EGG
Straftäterbehandlung unter Bedingungen äußeren Zwanges.. 397 H A N S JOACHIM SCHNEIDER
Die Behandlung von Sexualstraftätern im Strafvollzug
419
DIETER RÖSSNER
Resozialisierung durch Sport im Jugendstrafvollzug
453
6 Probleme der Entlassung WOLFGANG FEUERHELM
Pauschaler Sicherheits-Check statt individueller Prognose? Die Neuregelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung
463
JOZEF JAKUB WASIK
Zur Geschiche der Strafrestaussetzung in Polen ( 1 9 1 7 - 1997)
483
GÜNTER BLAU
Bemerkungen zur nichtstaatlichen Entlassenenhilfe
497
VIII
Inhalt
7 Besondere Formen des Freiheitsentzuges M A N F R E D SEEBODE
Problematische Ersatzfreiheitsstrafe
519
K L A U S LÜDERSSEN
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
553
GABRIELE D O L D E
Zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen. Eindrücke aus einer empirischen Erhebung 581 H A N S - G E O R G M E Y u n d W O L F G A N G WIRTH
Veränderte Vollzugspopulationen und kontinuierliche Vollzugsforschung: Der Jugendstrafvollzug im Blick des Kriminologischen Dienstes
597
K L A U S KOEPSEL
Jugendarrest - Eine zeitgemäße Sanktionsform des Jugendstrafrechts ?
619
8 Jugendstrafverfaren und Opferbeteiligung HERIBERT O S T E N D O R F
Formalisierung der entformalisierten Verfahrensbeendigung im Jugendstrafrecht (Diversion)? 635 WERNER BEULKE
Die notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren Land in Sicht?
647
HEINZ SCHÖCH
Opferanwalt auf Staatskosten - Entstehungsgeschichte und Reichweite der §§ 397a, 406g StPO nach dem Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998
663
9 Jugend, Gewalt und Prävention FRANZ HAMBURGER
Zurück ins 19. Jahrhundert? Alte und neue Debatten über Kinder- und Jugendkriminalität
685
Inhalt
IX
CHRISTIAN PFEIFFER und INGO DELZER Wird die Jugend immer brutaler? Erste Befunde einer regionalen Aktenanalyse zur Jugendgewalt
701
WOLFGANG HEINZ Gewaltkriminalität in Deutschland
721
MICHAEL WALTER J.Q.Wilsons „broken windows" - Theorie als Grundlage konzeptioneller Änderungen im Jugendkriminalrecht?
751
HANS-JÖRG ALBRECHT Anmerkungen zu Entwicklungen in der Kriminalpolitik
765
10 Schicksale und Erinnerungen RUDOLF BRUNNER Weder Memoiren noch JGG-Kommentierung, sondern Ernte aus den Feldern der Praxis
791
ULRICH EISENBERG Uber Vollzugsbedingungen im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen. Eine fragmentarische Darstellung anhand eines Einzelschicksals
819
GÜNTER SPENDEL Gustav Radbruch und Ricarda Huch
835
Verzeichnis der Schriften von Alexander Böhm
849
Autorenverzeichnis
865
Alexander Böhm zum 70. Geburtstag Alexander Böhm, der am 14. Juni 1999 siebzig Jahre alt wurde, gehört zu den wenigen deutschen Kriminologen und Strafvollzugswissenschaftlern, die über eine langjährige Erfahrung in der (vollzuglichen) Praxis verfügen. Der Jubilar wurde am 14. Juni 1929 in Berlin-Charlottenburg geboren, besuchte (humanistische) Gymnasien in Jena und Freiburg/ Br. und bestand 1947 das Abitur. Gleich nach der Reifeprüfung begann er in Freiburg/Br. mit dem Studium der Rechtswissenschaften, das er in Basel und Frankfurt/M. fortgesetzt hat und 1951 mit dem Ersten juristischen Staatsexamen abschließen konnte. Nach einem (6-monatigen) USA-Aufenthalt 1953/54 folgte die Referendarausbildung und 1956 das Zweite juristische Staatsexamen in Hessen. Wenig später wurde der Jubilar in Frankfurt/M. (betreut von Dr. Dr. Wolfgang Preiser) zum Dr. jur. promoviert. Bei Wolfgang Preiser ist er auch als wissenschaftliche Hilfskraft (1951-1955) und als wissenschaftlicher Assistent (1955-1957) tätig gewesen. Am 1. September 1957 wechselte Alexander Böhm in den höheren Strafvollzugsdienst von Hessen. Daß er sich für diese Laufbahn entschied, hat mit einer Anregung des nicht nur in Fachkreisen bekannten Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Baur zu tun, dem die hessische höhere Vollzugsbehörde seinerzeit unterstand. Leiter der obersten Aufsichtsbehörde war damals der nicht minder bekannte Ministerialrat Dr. Albert Krebs. Schon nach kurzer Einarbeitungszeit wurde der berufliche Anfänger Böhm zunächst als stellvertretender Anstaltsleiter in den Strafanstalten Kassel und Butzbach eingesetzt, aushilfsweise vorübergehend auch in der Aufsichtsbehörde. Am 8. Februar 1960 übernahm er dann die Jugendstrafanstalt Rockenberg (ab April 1966 als Regierungsdirektor) und am selben Tage die Leitung des Heinrich Balthasar Wagnitz-Seminars, Ausbildungsanstalt für die Bediensteten des hessischen Strafvollzugs. Bis 1974 hat er in beiden Positionen prägend gewirkt. Die Rockenberger Erfahrungen bildeten auch das Fundament für seine weitere berufliche Laufbahn, die 1966 mit der Berufung in das Justizprüfungsamt I (Referendarprüfung) in Hessen begann und ab 1969 mit einem Lehrauftrag für die Fächer Strafrecht und Kriminologie an der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt/M. bis zum Wintersemester 1973/74 fortgesetzt wurde.
XII
Alexander Böhm zum 70. Geburtstag
Der zweite berufliche Lebensabschnitt ist insoweit mit dem ersten verknüpft. Am 1. März 1974 wurde Alexander Böhm zum o. Professor für Kriminologie, Strafrecht und Strafvollzug an der Johannes Gutenberg-Universität zu Mainz ernannt. Gleichzeitig war er als Mitglied in den Prüfungsabteilungen I und II (1. und 2. juristische Staatsprüfung) des Prüfungsamtes für Juristen beim Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz tätig. Beide Aufgaben nahm er bis zu seiner Emeritierung am 30. September 1994 wahr. Für 1991/92 war er zum Dekan der juristischen Fakultät gewählt worden. Die Anerkennung, die seine Arbeit während seiner beruflichen Laufbahn erfuhr, hat nicht nur mit seinen zahlreichen ehrenamtlichen Funktionen zu tun, sondern auch mit seiner wissenschaftlichen Arbeit. Sieht man daraufhin das Schrifttumsverzeichnis des Jubilars durch, dann fällt auf, daß sich nach etlichen Ausflügen in das Strafrecht, die mit seiner Dissertation 1957 über „Die Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten" beginnen, der Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen ganz eindeutig bei den Themen des Strafvollzugs liegt. Diese reichen von den Aufgaben der Anstaltsleitung bis zum Vollstreckungsgericht, von den Vollzugszielen bis zur Sozialtherapie, von der Rechtsstellung der Gefangenen bis zu den Vollzugslockerungen, von der Situation des Aufsichtsdienstes bis zur Aus- und Weiterbildung der Vollzugsbediensteten, von der U-Haft bei Jugendlichen und Heranwachsenden bis zur kurzzeitigen Freiheitsstrafe. Schon Anfang der 80er Jahre gehörte Alexander Böhm auch zu jenen Experten, die sich mit den „ausländischen Gefangenen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsauftrag des Strafvollzuges und der Zielsetzung des Ausländerrechts" befaßt haben. Der Jubilar gehört darüber hinaus zu den erfolgreichen Fachbuchautoren. Insoweit dürfen erwähnt werden: das Lehrbuch zum „Strafvollzug" (1979; zweite Auflage 1986) sowie die „Einführung in das Jugendstrafrecht" (1977; dritte Auflage 1996). 1997 setzte Alexander Böhm (zusammen mit Michael Bock) das große Kriminologie-Lehrbuch von Göppinger (5. Auflage) fort. 1999 ging der Kommentar zum „Strafvollzugsgesetz" (herausgegeben zusammen mit Hans-Dieter Schwind) in die dritte Auflage. Daß Alexander Böhm schließlich auch noch die Zeit fand, (ab 1988) als Richter am Oberlandesgericht Zweibrücken mitzuarbeiten, wird niemanden überraschen, der seine unermüdliche Schaffenskraft kennt. Sein soziales Engagement zeigt sich in der Wahrnehmung zahlreicher ehrenamtlicher Tätigkeiten, zu denen z.B. gehören:
Alexander Böhm zum 70. Geburtstag
XIII
- die Mitgliedschaft im geschäftsführenden Ausschuß der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (1962-74) und der Vorsitz der Regionalgruppe Hessen der D V J J (1981-1989); in diese Zeit fällt auch die Mitarbeit in der D V J J Kommission zur Behandlung von kriminell stark gefährdeten jungen Täter (sog. „Lackner-Kommission); - Mitgliedschaften in der „Deutschen Kriminologischen Gesellschaft" (seit 1974), Mitglied des dortigen Vorstandes und Beteiligung an der Fusion mit der „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie" aus der (1988) die „Neue Kriminologische Gesellschaft (NKG)" hervorging; - der Vorsitz des Landesbeirats für Strafvollzug und Kriminologie beim Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz (1974); - der Vorsitz des Fliedner-Vereins Rockenberg, eines Hilfsvereins für junge Gefangene (1975); - Gründungsmitglied des W E I S S E N R I N G E S 1977, zunächst Regionalbeauftragter für Rheinland-Pfalz, seit 1984 Vorsitzender des Rechtsausschusses und der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht; - Mitglied des Kriminologischen Forschungsinstitutes (KFN) in Hannover (seit 1979); - Vorsitzender der Schlichtungsstelle zwischen dem hessischen Minister der Justiz und der Kirchenleitung der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (seit 1980); - Mitglied der Arbeitsgruppe Kirche und Strafvollzug, die die Denkschrift der E K D zum Strafvollzug; „Strafe: Tor zur Versöhnung" (1990) vorbereitet hat. Besondere kriminalpolitische Akzente setzen konnte der Jubilar als Vorsitzender der vom Bundesjustizminister aufgrund einer Entschließung des Deutschen Bundestages eingesetzten Jugendstrafvollzugskommission, deren Schlußbericht 1980 vom Bundesjustizminister veröffentlicht wurde. Die Verdienste Alexander Böhms um die Gemeinschaft hat das Land Rheinland-Pfalz mit der Verleihung des Landesverdienstordens (1985) anerkannt. Die Festschrift, die ihm zu seinem 70. Geburtstag überreicht worden ist, stammt aus der Feder seiner zahlreichen Freunde, die an ihm seine ruhige, besonnene Art zu schätzen wissen und seine Erfahrung, die er immer bereitwillig zur Verfügung gestellt hat: nicht zuletzt (ab 1992) beim Neuaufbau des Strafvollzugs im neuen Bundesland Thüringen. Mainz/Bochum, im Dezember 1998
Die Herausgeber
1 Nationale und internationale Perspektiven des Strafvollzugs
Der Ort des Strafvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem HEINZ MÜLLER-DIETZ
I. Die wissenschaftlichen u n d praktischen Verdienste A l e x a n d e r B ö h m s v o r allem u m die Weiterentwicklung des Jugendstraf rechts 1 und des Strafvollzugs 2 im ganzen brauchen nicht n o c h eigens herv o r g e h o b e n zu werden. Sein Wirken auf kriminologischem G e biet ist nicht zuletzt durch seine Mitarbeit an der Neuauflage des L e h r b u c h s v o n H a n s G ö p p i n g e r in bemerkenswerter Weise u n terstrichen w o r d e n 3 . D a s alles hat seinen Niederschlag in zahlreichen Studien gefunden, die namentlich d u r c h zwei charakteristische Merkmale aus der Fülle der zeitgenössischen P r o d u k t i o n herausragen: d u r c h ihren unmittelbaren Praxisbezug und ihre behutsame, wohlüberlegte A r t , Veränderungen in den Bereichen der Strafrechtspflege und des Strafvollzugs im Interesse der d o r t Tätigen und der
Vgl. nur Böhm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 1996. Die Beiträge Böhms zum (Jugend-)Strafvollzug und zur Untersuchungshaft können hier in ihrer Gesamtheit nicht aufgeführt werden. Vgl. nur Gedanken zum Arbeitsplatz, zur Auswahl, Aus- und Weiterbildung der Bediensteten des Jugendstrafvollzugs, ZfStrVo 1980, 3; Zur Reform der Untersuchungshaft, in: FS Dünnebier, 1982, S. 677; Überlegungen zur Rechtsstellung der im Jugendstrafvollzug befindlichen Gefangenen, in: FS Blau, 1985, S. 189; Der schweizerische Strafvollzug, ZfStrVo 1985, 286; Vollzugslockerungen und offener Vollzug zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen, NStZ 1986,201; Entwicklung der Ausbildung der Justizvollzugsbediensteten in Hessen seit 1945, ZfStrVo 1990, 6; Zur „Verrechtlichung" des Strafvollzugs, ZfStrVo 1992, 37; Das Berufsbild der Strafvollzugsbediensteten im Wandel der Zeit, ZfStrVo 1992, 275; Vollzugsberatung, in: Gefängnis und Gesellschaft. Gedächtnisschrift für Krebs, 1994, S. 230; Vollzugsaufgaben und Allgemeiner Vollzugsdienst, in: Strafvollzug in den 90er Jahren. Perspektiven und Herausforderungen. Festg. Rotthaus, 1995, S. 31; Die Besuchskommission nach §23 des rheinlandpfälzischen Maßregelvollzugsgesetzes, in: Kriminalistik und Strafrecht. FS Geerds, 1995, S. 293; Haben sich die Aufgaben des Vollzugs geändert? In: Sozialpädagogik und Strafrechtspflege. Gedächtnisschrift für Busch, 1995, S. 475. 1
2
3 Göppinger, Kriminologie, 5. Aufl. 1997. Von Böhm stammen namentlich Kap. 21 (Erfassung von Kriminalität) und 22 (Kriminalität nach Alter und Geschlecht) sowie Teil VI (Der Täter in der Strafrechtspflege).
4
Heinz Müller-Dietz
von ihrer Arbeit Betroffenen anzumahnen und einzuleiten. Im Werk und Naturell Alexander Böhms war und ist für visionäre oder gar illusionäre kriminal- und vollzugspolitische Vorstellungen kein Platz. Dem mit nüchternem Realitätssinn begabten und stets praxisorientierten Wissenschaftler standen und stehen stets die Möglichkeiten und Grenzen strafrechtlicher Reformen sowie deren Auswirkungen auf Straftäter, Opfer 4 und Dritte vor Augen. Auch dieser Beitrag - der Alexander Böhm in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist5 - will und kann ungeachtet seines „futurologischen" Anstrichs den Realitätsbezug keineswegs ausklammern. Er knüpft bewußt an eine Arbeit des Jubilars an, in der er einmal mehr darum bemüht war, sich und uns Klarheit über die Entwicklung und die Situation des Strafvollzugs im Rahmen eines sich verändernden Sanktionensystems zu verschaffen 6 . Wie stets sind solche „globalen" Standortbestimmungen, welche die aktuellen kriminalpolitischen Bestrebungen und Trends im ganzen nicht ausblenden können, sondern vielmehr mitreflektieren müssen, von wenigstens drei Tendenzen nicht frei: einer eher subjektiven Sichtweise, die nicht zuletzt von der eigenen Position und dem geprägt ist, dem Phänomen seictiiiver waiiriieiimung , uas a n g e s i c h t s einer ausufernden Publikationsflut zu einem wissenschaftlichen und praktischen Problem ersten Ranges geworden ist, und der Erfahrung raschen gesellschaftlichen Wandels8, der nicht nur einen Uberblick erschwert, sondern rasch als Makulatur erscheinen läßt, was über den Tag hinaus gedacht und geschrieben wurde. Wo der Uberblick fehlt oder nicht mehr hergestellt werden kann, machen sich leicht Vereinfachungs4 Vgl. etwa Böhm, Praktische Erfahrungen mit Opferschutz und Opferhilfe, in: Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse. Hrsg. von Kaiser u.Jehle, 1994, S. 99. 5 Es gibt gemeinsame Erfahrungen anläßlich von Tagungen oder an deren Rande, die man nicht missen möchte. 6 Böhm, Die Entwicklung des Strafvollzugs und des Sanktionssystems von 1945 bis in die Gegenwart, in: Busch/Krämer (Hrsg.), Strafvollzug und Schuldproblematik, 1988, S. 39. 7 Zu diesem Problem Müller-Dietz, Die soziale Wahrnehmung von Kriminalität, NStZ 1993, 57; ders., Kriminalität zwischen objektiver Lage und subjektiver Wahrnehmung, in: Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Alternativen im Umgang mit Straffälligen, 1993, S.15. 8 Das Thema wird bis zum Uberdruß traktiert (der freilich nicht am Platze ist). Dazu z.B .Junge, Individualisierungsprozesse und der Wandel von Institutionen. Ein Beitrag zur Theorie reflexiver Modernisierung, KZfSS 1996, 728; Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, 1998.
D e r O r t des Strafvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem
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tendenzen breit, die der Differenziertheit der Wirklichkeit und ihrer Deutungsmöglichkeiten nicht mehr gewachsen sind. Diesem Problem kann sich natürlich auch und gerade ein Beitrag nicht verschließen, der nach dem Ort des Strafvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem fragt.
II. Die Reform des kriminalrechtlichen Sanktionensystems hat in letzter Zeit zunehmend Zuspruch erhalten und an Bedeutung gewonnen 9 . Seit langem werden - unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Normierung und außerhalb des förmlichen Strafverfahrens neue Reaktionsformen in Modellen und Projekten praktisch erprobt; die Stichworte „Schadenswiedergutmachung" 10 , „Täter-Opfer-Ausgleich" 11 und „gemeinnützige Arbeit" 1 2 etwa stehen gleichsam für eine ganze Palette diskutierter und praktizierter Sanktionsmöglichkeiten. Andere - wie etwa die „elektronische Überwachung" 13 - sind in letzter Zeit hinzugekommen. Die Strafrechtliche Abteilung des 59. Deutschen Juristentages hat sich 1992 eigens
9 Vgl. z.B. Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992; ders., Prüfsteine für das strafrechtliche Sanktionensystem, G A 1993, 535; ders., Zum Wandel von Sanktionensystemen, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug - wie lange noch? Plädoyer für eine antizyklische Kriminalpolitik, 1994, S. 23. 10 Vgl. Brauns, Die Wiedergutmachung der Folgen der Straftat durch den Täter. Ein Beitrag zur Neubewertung eines Strafzumessungsfaktors de lege lata und de lege ferenda, 1996; Löschnig-Gspandl, Die Wiedergutmachung im Strafrecht. Auf dem Weg zu einem neuen Kriminalrecht?, 1996; Trenczek, Restitution - Wiedergutmachung, Schadensersatz oder Strafe? Restitutive Leistungsverpflichtungen im Strafrecht der U S A und der Bundesrepublik Deutschland, 1996; Wiedergutmachung im Kriminalrecht. Internationale Perspektiven, hrsg. von Eser, Walther, 1997.
" Z.B. Schild, Täter-Opfer-Ausgleich als Strafe, in: Kriminalistik und Strafrecht. FS Geerds, 1995, S. 157; Jürgen Meyer, Zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems unter bes. Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs, in: FS Triffterer, 1996, S. 629; Christian Pfeiffer (Hrsg.), Täter-Opfer-Ausgleich im Allgemeinen Strafrecht. Das Ergebnis der Begleitforschung des W A A G E - P r o j e k t s Hannover, 1997. 12 Grundlegend Feuerhelm, Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht. Historische, dogmatische und systematische Aspekte, 1997; Böhm, Gemeinnützige Arbeit als Strafe, Z R P 1998, 360. 13 Vgl. Lindenberg, Ware Strafe. Elektronische Überwachung und die Kommerzialisierung strafrechtlicher Kontrolle, 1997; Krahl, D e r elektronisch überwachte Hausarrest, N S t Z 1997, 457; Ostendorf, Die „elektronische Fessel" - Wunderwaffe im „Kampf" gegen das Verbrechen?, Z R P 1997, 473; Wittstamm, D e r elektronische Hausarrest - Rechtliche Möglichkeit und kriminalpolitische Sinnhaftigkeit einer Einführung der elektronischen Überwachung in das gegenwärtige bundesdeutsche Strafrechtssystem. Eine rechtsvergleichende Untersuchung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Diss. jur. Saarbrücken, 1998.
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Heinz Müller-Dietz
mit der Frage der Neugestaltung des kriminalrechtlichen Sanktionensystems im Bereich nichtfreiheitsentziehender Rechtsfolgen befaßt 14 . Im Deutschen Bundestag wurde ein Gesetzentwurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems eingebracht 15 . Inzwischen hat der Bundesminister der Justiz eine entsprechende Kommission berufen 16 . Auch in anderen Ländern - wie etwa in Osterreich 17 und in der Schweiz 18 - wurde und wird, im Zuge von Reformarbeiten die Neugestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems in Angriff genommen. Wer freilich nach dem Ort des Straf- und Maßregelvollzugs in einem künftigen Rechtsfolgensystem fragt, greift nur einen, wenn auch besonders bedeutsamen Ausschnitt aus der Gesamtmaterie heraus. Aber auch für diesen Teilaspekt gilt natürlich die allgemeine Erfahrung, daß das Thema aus unterschiedlicher Warte verstanden und abgehandelt werden kann. So kann es unter normativem oder empirischem Vorzeichen gesehen, im Sinne eines Postulats für eine künftige Entwicklung oder als deren Prognose diskutiert werden 19 . Man könnte sich der Aufgabe stellen wollen, mit Hilfe eines wie immer gearteten normativen Maßstabs Legitimation und Anwendungsbereich des Straf- und Maßregelvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem zu ermitteln. Solche Bestrebungen sind in der Strafrechtsreform der frühen 70er Jahre - und der ihr folgenden Sanktionspraxis - sichtbar geworden, die unter dem Vorzeichen stand, den Freiheitsentzug nach Häufigkeit und Dauer einzuschränken. Die wohl stärksten Belege bilden der Siegeszug der Geldstrafe, die - ungeachtet der damit verbundenen, namentlich heutigen Schwierigkeiten - zur vorherrschenden Kriminalsanktion mit 14 Vgl. namentlich das Gutachten C von Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?, 1992. 15 BT-Dr. 12/6141. Dazu Raiser, Täter-Opfer-Ausgleich nach dem SPD-Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, ZRP 1994, 314. 16 Vgl. NJW 1998, H. 9, S. X X X V I I . 17 Das Thema „Empfiehlt sich eine Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems" war etwa Gegenstand der Beratungen der Abteilung Strafrecht des Zehnten österr. Juristentages in Wien 1988. Vgl. Verh. des 10. ÖJT, II/2, Abteilung Strafrecht, 1988 (mit den Referaten von Jung, S. 1, Obendorf, S. 51, und Zipf, S. 75). 18 Vgl. z.B. Schweizer. Arbeitsgruppe für Kriminologie (Hrsg.), Reform der strafrechtlichen Sanktionen, 1994 (aaO., S. 143, namentlich Riklin, Neue Sanktionen und ihre Stellung im Sanktionensystem). 19 Im Sinne eines Postulats und einer Prognose ist wohl Radbruchs vielzitierte und -kritisierte Wendung zu verstehen, es gehe darum, „nicht ein besseres Strafrecht, sondern etwas, was besser ist als Strafrecht", zu entwickeln. Vgl. etwa Müller-Dietz, Der Strafvollzug in der Sicht Gustav Radbruchs, in: FS Schüler-Springorum, 1993, 5. 607, 612 ff.
Der O r t des Strafvollzugs in einem künftigen Sanktionensystem
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einem Anteil von über 80% geworden ist, und die beachtlich gestiegene Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung, die sich in einem Anteil von ca. 70 % aller verhängten Freiheitsstrafen manifestiert 20 . Darüber hinaus wird das kriminalpolitische Bemühen, Freiheitsentzug - jedenfalls bei leichteren und mittleren Delikten - nach Möglichkeit zu vermeiden, sowohl im materiellrechtlichen Bereich in Gestalt der skizzierten alternativen Reaktionsformen wie auch auf der Verfahrensebene - etwa in Form der Diversion - deutlich. Man kann darin - neben der sachlich ohne Frage berechtigten Aufwertung der Rolle des Straftatopfers - auch eine erste, wenngleich nicht unbedingt ausreichende Antwort auf den Vorwurf der „Sanktionenarmut" und mangelnden kriminalpolitischen Phantasie 22 erblicken, der spätestens seit Ende der 70er Jahre laut geworden ist. Diesen Bemühungen um Reduzierung des Freiheitsentzugs stehen indessen vor allem im Hinblick auf schwerere Straftaten Entwicklungstendenzen gegenüber, die eher auf Erweiterung seines Anwendungsbereichs abzielen. Dafür gibt es wenigstens zwei Anzeichen, die - neben anderen - von Kritikern als Wandel der angedeuteten, um Einschränkung und Deeskalation bemühten Kriminalpolitik 23 gewertet werden: der Umstand, daß die in der Projekt- und Modellpraxis vielfach realisierten alternativen Reaktionsformen bisher nur begrenzt Eingang in das kriminalrechtliche Sanktionensystem gefunden haben , mehr aber noch die Tendenz, die materiellrechtlichen und prozessualen Instrumente, die der Verschärfung
2 0 Vgl. nur Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland. Fakten und Zahlen. Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 1997, S. 30 f. 21 Die Ursache für „Sanktionenarmut" hat Zipf etwa „in den unzureichenden Vorschlägen der modernen Kriminalpolitik" gesehen. Vgl. Allgemeine Grundsätze des Strafgesetzbuches und die Rechtsprechung, in: Verh. des 7. O J T Bd. I, 2. T., 1978, S. 81. 22 Miklau, Gegen die Phantasielosigkeit in der Kriminalpolitik - für neue Formen der (bedingten) Einstellung des Strafverfahrens, K B 1982, H . 35, S. 40. 2 3 Die Kritik weist freilich viele Quellen und Facetten auf. Vgl. nur Prittwitz, Das deutsche Strafrecht: Fragmentarisch? Subsidiär? Ultima ratio? Gedanken zu Grund und Grenzen gängiger Strafrechtsbeschränkungspostulate, Peter-Alexis Albrecht, Das Strafrecht im Zugriff populistischer Politik, beide in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387, 429; Hassemer, Perspektiven einer neuen Kriminalpolitik, StV 1995, 483; Hettinger, Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, 1997; Frommel, Die Feindbilder werden immer diffuser. Die Schönwetterperiode ist vorbei, die Gegenreform abgeschlossen, in: F R v. 21.3.1998. 24 Das wohl markanteste Beispiel bildet die - strafzumessungsrechtliche - Regelung des §46a StGB über Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung.
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Heinz Müller-Dietz
des Strafrechts dienen und damit dem Freiheitsentzug wieder größere Bedeutung verschaffen, weiter auszubauen. Das wohl eindrucksvollste Beispiel dafür bildet das jüngste „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26.1.1998, das nach allen Prognosen zu einer weiteren Belastung des Straf- und Maßregelvollzugs führen wird 25 , ohne damit schon zur Erhöhung des Schutzes der Allgemeinheit beizutragen. Ob in solchen gegenläufigen Tendenzen zur Ausweitung des Freiheitsentzugs „nur" zeittypische Reaktionen auf akute (oder als solche wahrgenommene) Probleme der sog. „Inneren Sicherheit"26 zu sehen oder ob sie als Ausdruck einer weiterreichenden, grundsätzlichen kriminalpolitischen Trendwende - gar noch eines „Wertewandels" auf diesem Gebiet - zu verstehen sind, ist bekanntlich Gegenstand einer anhaltenden Diskussion, die gewiß durch die publizistische und massenmediale Aufbereitung weiteren Auftrieb erfahren hat. Die Frage, wie die Verschränkung diffiziler Themen und Probleme mit den Erwartungen und Gesetzmäßigkeiten einer Mediengesellschaft auf die Dauer der Kriminalpolitik bekommt, ist mit der reichlich banalen Feststellung, daß wir nun einmal mit solchen Phänomenen leben müßten, sicher noch nicht zureichend beantwortet 27 .
III. Jedenfalls verweisen diese Überlegungen auf einen weiteren denkbaren Aspekt unserer Fragestellung: Man könnte natürlich - jen-
25 Vgl. nur Schöch, Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998, NJW 1998,1257 (1262). 26 Auch dieser vielstrapazierte Topos harrt noch einer genaueren Analyse. Vgl. z.B. Humanistische Union (Hrsg.), Innere Sicherheit. Plädoyer für eine rationale Kriminalpolitik, 1994; Leutheusser-Schnarrenberger, Innere Sicherheit. Herausforderungen an den Rechtsstaat, 1994; Gössner (Hrsg.), Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, 1995; Kaiser, „Innere Sicherheit" - Kein Rechtsbedürfnis des Bevölkerung? In: Psyche-Recht-Gesellschaft. Widmungsschrift für Manfred Rehbinder, 1995, S. 31; Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie (Hrsg.), Innere Sicherheit - Innere Unsicherheit?, 1995; Kniesel, „Innere Sicherheit" und Grundgesetz, ZRP 1996, 482; Dimmel, Sicher in Osterreich: Innere Sicherheit und soziale Kontrolle, 1996; Kunz / Moser (Hrsg.), Innere Sicherheit und Lebensängste, 1997. 27 Vgl. Lamnek / Luedtke, Kriminalpolitik im Sog von Öffentlichkeit und Massenmedien, in: Das Jugendkriminalrecht als Erfüllungsgehilfe gesellschaftlicher Erwartungen? Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 1995, S. 45; Lamnek, Medien und Kriminalpolitik. Eine kritische Skizze, DVJJ-Journal 1995, S. 301; Dölling / Gössel / Waltos (Hrsg.), Kriminalberichterstattung in der Tagespresse. Rechtliche und kriminologische Probleme, 1998. Vgl. auch Brosius, Esser, Eskalation durch Berichterstattung? Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt, 1995.
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seits einer wie immer gearteten normativen Bewertung und Einordnung des Freiheitsentzugs im künftigen Sanktionensystem - in einem ganz empirischen Sinne zu ermitteln suchen, wie der Straf- und Maßregelvollzug sich in - naher oder ferner - Zukunft mutmaßlich entwickeln wird. Wir hätten es dann mit Vollzugsprognosen zu tun, die in etwa das Gegenstück zu Kriminalitätsprognosen darstellen. Solche Bestrebungen hat es in letzter Zeit immer wieder unter dem Vorzeichen gegeben, mittel- oder gar langfristige Vollzugsplanungen zu ermöglichen 28 . Darüber, daß solche Zukunftsprojektionen schon aus ganz praktischen Bedürfnissen und Erwägungen heraus an sich sinnvoll sind, wird man sich leicht verständigen können. Doch ist es eben - wie schon die Auseinandersetzungen mit Aussagegehalt und Reichweite von Kriminalitätsprognosen gezeigt haben - gerade die Frage, was Vollzugsprognosen angesichts der Fülle von Einflußfaktoren in concreto leisten können, was sie also letztlich für die Praxis (und die Theorie) wert sind. Daß hier wie dort vergleichbare Schwierigkeiten bestehen, dürfte die einschlägige Diskussion zur Genüge gelehrt haben. Schon auf dem Feld der Kriminalitätsprognosen hat sich die Methode, beobachtbare Trends gleichsam in die Zukunft hinein zu verlängern oder gar zu extrapolieren, als wenig erfolgversprechend, als ausgesprochen problematisch erwiesen. Bereits Voraussagen auf dem Gebiet der Wirtschaft lassen sich - wie etwa das Beispiel der „fünf Weisen" in Bonn zeigt, die jeweils Gutachten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorzulegen haben - nur für einen überaus begrenzten Zeitraum in einigermaßen brauchbarer und seriöser Weise treffen. Mittel- und gar noch langfristige Prognosen hinsichtlich des Kriminalitätsverlaufs stehen unter derart zahlreichen und im einzelnen kaum kalkulierbaren Vorbehalten, daß sie allenfalls recht beschränkten Ausagewert haben 29 . Bisherige einschlägige Untersuchungen haben „eher die Grenzen makrostruktureller Prognose-
28 Vgl. z.B. Hartmann, Schüler-Springomm, Qualitäten und Quantitäten des Vollzugs im Jahre 2005, in: DBH (Hrsg.), Die 13. Bundestagung, 1990, S. 557, 581. Vgl. auch Schulte-Altedorneburg, Vollzugskonzept 2000 in Nordrhein-Westfalen. Die Einleitung der Kehrtwende, ZfStrVo 1994, 222. 29 Vgl. etwa Dörmann, Beck, Kriminalitätsanalyse und -prognose, in: Wissenschaftliche Kriminalistik, hrsg. von Kube u.a., Teilbd. 2,1984, S. 37,56; Kube, Kriminalitätsprognose. Überlegungen zu Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen, MSchrKrim 1984, 1; Heinz, Was kann die Kriminologie zur Kriminalitätsprognose beitragen? In: Zweites Symposium. Wissenschaftliche Kriminalistik, hrsg. vom BKA, 1985, S. 31; ders., Getrübter Blick in die Zukunft des Verbrechens. Möglichkeiten und Grenzen von Kriminalitätsprognosen, Kriminalistik 1987, 222.
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forschung erkennen lassen" 30 . Kaiser hat dazu recht lapidar - und treffend - angemerkt: „Aufgrund des derzeitigen kriminologischen Wissens können hochgesteckte Erwartungen nicht erfüllt werden. Schon allgemein ist das prognostische Instrumentarium wenig fortgeschritten und hier bei der Kollektivprognose im besonderen noch unterentwickelt. Daher müssen Prognosen an mangelnder Treffsicherheit und Brauchbarkeit leiden." Die Vielzahl, Variabilität und mangelnde Berechenbarkeit relevanter Einflußfaktoren setzt solchen Bemühungen hohe, fast kaum zu übersteigende Schranken entgegen. Das gilt nicht minder für Prognosen, welche die künftige Entwicklung des kriminalrechtlichen Sanktionensystems zum Gegenstand haben32. Die Szenarien, die das Schicksal des Straf- und Maßregelvollzugs pro futuro zum Gegenstand haben, sind gleichfalls von zahlreichen Imponderabilien abhängig und deshalb mit vielen Fragezeichen versehen, gleichgültig ob sie das allmähliche Schrumpfen des strafweisen Freiheitsentzugs oder dessen weitere Expansion verkünden. Wenn sie überhaupt etwas gemeinsam haben, dann eben ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Geschehensabläufen und Entscheidungen, die in der Summe durch ein hohes Maß an Ungewißheit ausgezeichnet sind. Freilich kommt auch und gerade verantwortliche Kriminalpolitik nicht ohne Zukunftsplanung aus. Sie muß also in Rechnung stellen, was sie an Aufgaben, Verpflichtungen und Belastungen möglicherweise zu gewärtigen hat 33 . Auf Kriminalitäts- und Vollzugsprognosen kann demnach - wie paradox das nach den skizzierten Einwänden immer klingen mag - nicht ganz verzichtet werden. Doch sind es keineswegs nur wissenschaftliche Bedenken gegenüber der Aussagekraft solcher Prognosen, die zur Folge haben, daß relativ selten Voraussagen hinsichtlich der künftigen Entwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems getroffen werden. Hat doch die Kriminalpolitik in erster Linie ein Interesse an der Gestaltung der Wirklichkeit, der Einflußnahme auf das Kriminalitätsge-
Göppinger, Kriminologie (o. Fn. 3), § 18 Rn. 9. Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 39 Rn. 40. 32 Recht optimistisch insoweit Roxin, Zur Entwicklung des Strafrechts im kommenden Jahrhundert, in: Aktuelle Probleme des Strafrechts wie der Kriminologie. Hrsg. von Plywaczewski, 1998, S. 443 (444 f., 454 ff.). 33 Vgl. auch Schwind, Orientierungspunkte der (Straf-) Vollzugspolitik, in: Strafvollzug in den 90er Jahren (o. Fn. 2), S. 216. 30 31
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schehen 34 . So sind denn auch die Bemühungen nicht allein darauf gerichtet, den künftigen Istzustand vorauszusagen, sondern auch darauf, den erwünschten Sollzustand herbeizuführen. Daß in diesem Kontext freilich - zumindest kurz- bis mittelfristige - Kriminalitätsprognosen unentbehrlich sind, wurde bereits angedeutet. „Blindflüge" sind auf dem Gebiet gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung allemal waghalsig, riskant und eigentlich nicht zu verantworten; und das Modell von „error and trial" läßt sich - wie etwa die Beispiele des Kronzeugen und sozialtherapeutischer Behandlung 35 zeigen - nur in Einzelbereichen in vertretbarer Weise auf strafrechtliche Reaktionen und prozessuale Institute anwenden. Daß immer wieder - ja sogar unbeabsichtigt - Experimente kriminalpolitischer Provenienz stattfinden, spricht keineswegs dagegen 36 . Jedenfalls würde man es nur um den Preis revolutionärer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse riskieren (können), die bisherige Sanktionsregelung und -praxis gleichsam von heute auf morgen durch ein gänzlich anderes System zu ersetzen. Marxen hat sogar Gesetzesexperimente, „Gesetze, die unter einem Bewährungsvorbehalt im Sinne einer aufschiebenden Bedingung stehen", als mit dem Gesetzlichkeitsprinzip für unvereinbar erklärt, also ein „Experimentierverbot" aus der Verfassung abgeleitet 37 . Auch der vorliegende Beitrag will und soll sich darauf „beschränken", kriminalpolitische Überlegungen zu einer künftigen Verortung des Straf- und Maßregelvollzugs auf der Basis der Begrenzung strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse anzustellen. Daß selbst ein solches Vorhaben mit einer Reihe gewichtiger Vorbehalte oder Einwände befrachtet ist, haben bereits die bisherigen Überlegungen gezeigt.
34 Zu Grundsätzen und Fragestellungen heutiger Kriminalpolitik etwa Kaiser, Perspektiven einer rationalen Kriminalpolitik. Zugleich das Mängelprofil einer „Krisenwissenschaft", Kriminalistik 1992, 735; Jescheck, Grundsätze der Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, in: FS Miyazawa, 1995, S. 363; Kunz, Uber Zusammenhänge und Distanzen zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik, MSchrKrim 1997,165; H.J. Schneider, Kriminalpolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Eine vergleichende Analyse zur inneren Sicherheit, 1998. 35 Vgl. namentlich Kaiser (o. Fn. 31), § 6 Rn. 7. Zur aktuellen Situation der Sozialtherapie Egg / Schmidt, Sozialtherapie im Justizvollzug 1997. Ergebnisse der Stichtagserhebung vom 31.3.1997, ZfStrVo 1998, 131. 3 6 Krit. zur Problematik des Experiments in der Kriminologie Kürzinger, Kriminologie, 2. Aufl. 1996, Rn. 67. Allgem. Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, 1991. 37 Marxen, Strafgesetzgebung als Experiment. Gesetzesexperimente in strafrechtlicher Sicht, G A 1985, 533 (552).
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IV. Freilich muß man sich dabei fragen, ob und inwieweit es überhaupt möglich ist, den Standort des Freiheitsentzugs in einem künftigen Rechtsfolgensystem isoliert - oder zumindest abgehoben von den übrigen Sanktionen - zu bestimmen. Auch darüber liegen inzwischen mehr oder minder reichhaltige Erfahrungen vor, die auf Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Sanktionsarten verweisen. Noch am ehesten lassen sich selbständige Aussagen für die Extremfälle auf der Skala kriminalrechtlicher Reaktionen treffen, wie sie etwa die lebenslange Freiheitsstrafe auf der einen Seite und die Verwarnung mit Strafvorbehalt 38 auf der anderen Seite darstellen. Doch selbst die Einschränkung oder Ausweitung des Anwendungsbereichs solcher Sanktionen kann nicht ohne Rückwirkung auf das Rechtsfolgensystem im übrigen bleiben. Das haben beispielsweise kriminalpolitische Konzepte gezeigt, die mit der verschiedentlich erhobenen Forderung nach Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe 39 - überhaupt der Abkürzung strafweisen Freiheitsentzugs - ernstmachen wollen. Jedenfalls in einem Schuldstrafrecht, das sich an der Tat- und Schuldschwere orientiert, hat eine solche Einschränkung des Freiheitsentzugs konsequenterweise eine - teilweise - Verlagerung auf andere Reaktionsformen zur Folge. Das gilt selbst für Reaktionsmittel, deren Anwendungsbereich in etwa so begrenzt ist wie derjenige der sog. elektronischen Überwachung - die nicht selten fälschlich als „elektronischer Hausarrest" firmiert. Soll sie doch erklärtermaßen - jedenfalls auch - zur zahlenmäßigen Entlastung des Strafvollzugs beitragen - was immer man von solchen Erwartungen realiter halten mag .
38 Dazu Neumayer-Wagner, Die Verwarnung mit Strafvorbehalt. Ihre Entstehung, gegenwärtige rechtliche Gestaltung, praktische Handhabung und ihr Entwicklungspotential, 1998. 39 So z.B. H.-M. Weber, Lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik A b schaffungsperspektiven gegenüber positiver Reform, in: FS Mathiesen. Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet, 1993, S. 327; Nickolai / Reindl (Hrsg.), Lebenslänglich. Zur Diskussion um die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, 1993; Jung / Müller-Dietz (o. Fn. 9), S. 12 f.; Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe, 1994; Kawamura / Reindl, Lebenslang - ein Leben lang?, N K 1995, Nr. 3, S. 6; Grünwald, Überlegungen zur lebenslangen Freiheitsstrafe, in: FS Bemmann, 1997, S. 161. 40 Den Anwendungsbereich im deutschen kriminalrechtlichen System wird man schwerlich überschätzen dürfen. Vgl. o. Fn. 13.
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Besonders signifikant sind Zusammenhänge zwischen Art und Ausgestaltung des Sanktionensystems und den Auswirkungen auf den Vollzug - wie gerade dieses Beispiel belegt - im Kurzstrafenbereich41. So etwa wenn man sich anheischig macht, Anwendungsbereich und Bedeutung der kurzen Freiheitsstrafe in gewichtigem Umfange - sei es im Sinne einer Einschränkung oder einer Ausweitung - zu verändern42. Das zeitigte gewiß nachhaltige Folgen für den Bereich sog. ambulanter Reaktionsformen, möglicherweise aber auch für den längeren Freiheitsentzug. Wie die fundierte Studie von Feuerhelm zeigt, setzt schon die Verankerung der gemeinnützigen Arbeit als eigenständige strafrechtliche Rechtsfolge den Blick auf die übrigen Sanktionen voraus43. Es ist fast schon eine Binsenweisheit, daß jedes Revirement von einigem Gewicht konzeptionelle Überlegungen darüber erfordert, wie denn das Sanktionensystem im übrigen aussehen soll. Man muß daher zumindest in Umrissen eine Vorstellung davon haben, welche Sanktionen in der (gleitenden) Skala der Rechtsfolgen überhaupt in Betracht kommen, wenn man den künftigen Standort des Strafvollzugs im kriminalrechtlichen Reaktionensystem bestimmen will. Es versteht sich wiederum von selbst, daß dies Leitgedanken über den grundsätzlichen Kurs einer Reformpolitik erfordert - also gerade das leistet, was viele Kritiker, die vor allem die Kurzatmigkeit der gegenwärtigen Kriminalpolitik beklagen, an ihr eben vermissen44.
V. Doch sind die bisherigen Erörterungen stillschweigend von einer Prämisse ausgegangen, die gewiß noch weiterer Diskussion bedarf. Sie haben nämlich unterstellt, daß auch in einem künftigen Sanktionensystem ein Anwendungsbereich für zwangsweisen Freiheits-
41 Dazu etwa Hans-Jörg Albrecht, van Kalmthout, Intermediate penalties in Europe: Developments in the conception and use of non-custodial sanctions, in: CEP Bulletin 6, December 1997, p. 1. 42 Vgl. Kohlmann, Vollstreckung kurzfristiger Freiheitsstrafen - wirksames Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität? In: FS Triffterer, 1996, S. 603; Wittstamm, Die kurze Freiheitsstrafe - Eine Bestandsaufnahme, ZfStrVo 1997, 3; Schaeferdiek, Die kurze Freiheitsstrafe im schwedischen und deutschen Strafrecht, 1997; Η an, Die Bedeutung und Einschätzung der kurzen Freiheitsstrafe in Deutschland und Südkorea, 1997. 43 Feuerhelm (o. Fn. 12), S. 427. 44 Nicht allein - aber eben auch. Nachw. o. Fn. 23. Von gegenteiligen Überlegungen geleitet namentlich Hassemer, Warum und zu welchem Ende strafen wir?, ZRP 1997, 316.
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entzug - unter welchem Vorzeichen und in welchem Umfang auch immer - verbleibt. Das ist zwar eine Prämisse, die - namentlich in der Vollzugspraxis selbst, aber auch weitgehend in der Gesellschaft als unbezweifelbares Datum feststeht, jedoch für jene wissenschaftlichen Richtungen nicht selbstverständlich ist, die eine „alternative Kriminalpolitik" verfolgen oder sich der „Kritischen Kriminologie" - wie immer sie inhaltlich zu fassen sein mag - verschrieben haben. Natürlich kann man solche abolitionistischen Tendenzen 45 - gerade angesichts der globalen „Renaissance" der Freiheitsstrafe 4 als irreal oder lebensfremd abtun und deshalb jede weitere Diskussion darüber für überflüssig erklären 47 . Doch würde man damit zwei grundlegende Erkenntnise mißachten, die sich ernstlich wohl nicht mehr in Frage stellen lassen: daß nämlich zwangsweiser Freiheitsentzug - jenseits der prinzipiellen Legitimation von Kriminalstrafe überhaupt - als solcher muß verfassungsrechtlich und kriminalpolitisch gerechtfertigt werden können und daß es kein quasi naturrechtlich sakrosanktes Sanktionensystem gibt, das gleichsam geschichtlich-gesellschaftlichem Wandel entzogen wäre. Beide Einsichten sind gleichermaßen unbequem wie unpopulär. Denn sie zwingen dazu zu begründen, mit welchem Recht wir Menschen ihrer Freiheit berauben - und damit in eine ganze Reihe weiterer Grundrechte eingreifen 48 . Und sie nötigen dazu, dort Fragezeichen zu setzen, wo sich für eine deutliche Mehrheit in der Ge45 Vgl. z.B. Papendorf, Gesellschaft ohne Gitter. Eine Absage an die traditionelle Kriminalpolitik, 1985; Stangl, Wege in eine gefängnislose Gesellschaft. Uber Verstaatlichung und Entstaatlichung der Strafjustiz, 1988; Schumann / Steinert / Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs. Ein Leitfaden für Abolitionisten, 1988; Evang. Akademie Arnoldshain (Hrsg.), Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Vorschläge der Arbeitsgruppe „Alternativen zur Freiheitsstrafe", 1989; Mathiesen, Uberwindet die Mauern! Die skandinavische Gefangenenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit, 1979 (1993). 46 Vorreiter dieser Entwicklung sind bekanntlich die USA, deren Kriminalpolitik denn auch nachhaltig kritisiert wird. Vgl. nur Riklin, The Death of Common Sense kritische Gedanken zur gegenwärtigen amerikanischen Kriminalpolitik, in: Strafrecht und Öffentlichkeit. FS Rehberg, 1996, S. 269; Dreher / Feltes (Hrsg.), Das Modell New York: Kriminalprävention durch „Zero Tolerance" ? Beiträge zur aktuellen kriminalpolitischen Diskussion, 1997. 47 „Über das Scheitern deutscher Abolitionismen" Nix, in: FS Mathiesen (o. Fn. 39), S. 51. 48 Eine Frage, die - merkwürdigerweise - relativ selten gründlich untersucht wurde. Dazu namentlich Cornel, Kriminalpolitik und (neo-)klassische Straflegitimation Zu den „neuesten" Begründungen, warum Menschen eingesperrt werden sollen, KB 12/1985, S. 10; Rössner, Muß Freiheitsstrafe sein? - Verfassungsrechtliche und kriminologische Überlegungen zur Rechtfertigung des Freiheitsentzugs als Kriminal-
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sellschaft Ausrufezeichen geradezu von selbst verstehen dürften 49 . Doch sind der Subordinationsanspruch und die Unterwerfungszwänge der „political correctness" keine Rechtstitel, die geeignet wären, das wissenschaftliche Argumentationsreservoir zu beschneiden 5 0 . Eine Schwierigkeit liegt ersichtlich darin, daß sich aus der Verfassung, die ja auch die Leitgedanken und -linien für dieKriminalpolitik festlegt 51 , nur Konsequenzen für die Abstufung der Kriminalstrafen nach der Tat- und Schuldschwere sowie die Gewährleistung wie immer im einzelnen gearteten - Schutzes der Allgemeinheit vor schwerwiegenden Straftaten und gefährlichen Straftätern ziehen lassen. Sie dürfte auch nur recht allgemeine Aussagen darüber erlauben, was in einer konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Situation unter dem vom BVerfG entwickelten Gebot „sinn- und maßvollen Strafens" 52 zu verstehen ist. Es hängt demnach allemal vom normativ zulässigen und praktisch verfügbaren Gesamtrepertoire an Kriminalsanktionen ab, welcher Stellenwert dem Freiheitsentzug in diesem Kontext zukommt. Insofern liefert das Schuldprinzip nur einen relativen Maßstab, der sanktionsrechtliche Konkretisierungen erst ermöglicht, nachdem feststeht, welche Rechtsfolgen überhaupt in Betracht kommen. Das Gebot, schwerere Straftaten strenger zu ahnden als leichtere, gibt für die Ausgestaltung des Sanktionensy-
strafe in: Sievering (Hrsg.), Behandlungsvollzug - Evolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 116; Mathiesen, Gefängnislogik. Uber alte und neue Rechtfertigungsversuche, 1989; Michael Walter, Sicherheit durch Strafvollzug. Zum Spannungsbogen zwischen der Legitimation der Freiheitsstrafe und Illusionen in kriminalpolitischen Auseinandersetzungen, in: Strafvollzug in den 90er Jahren (o. Fn. 2), S. 191. 49 Fragezeichen in diesem Sinne finden sich etwa bei SchUler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 140 ff.; Lüderssen, Freiheitsstrafe ohne Funktion, in: FS Bemmann, 1997, S. 47. 50 Lesenswert Christian Meier, Denkverbote - Nachhut des Fortschritts?, Mattenklott, Zwölf Thesen über Sinn und Widersinn von „Political Correctness", beide in: Neue Rundschau 1995, S. 9, 73. 51 Vgl. nur der neueren Diskussion Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991; Lewisch, Verfassung und Strafrecht. Verfassungsrechtliche Schranken der Strafgesetzgebung, 1993; Jung, Anmerkungen zum Verhältnis von Strafe und Staat, GA 1996, 507; Lagodny, Strafrecht an den Schranken der Grundrechte. Die Ermächtigung zum strafrechtlichen Vorwurf im Lichte der Grundrechtsdogmntik, dargestellt am Beispiel der Vorfeldkriminalisierung, 1996; Rau, Verfassungsrechtliche Grenzen der Strafandrohung, in: Staatsphilosophie und Rechtspolitik. FS Kriele, 1997, S. 761; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat. Normative und empirische, materielle und prozedurale Aspekte der Legitimation unter Berücksichtigung neuerer Gesetzgebungspraxis, 1998. 52 BVerfGE 28, 386 (391).
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stems im einzelnen nichts her 53 . Eher schon läßt sich der Orientierung des Maßregelrechts an der Tätergefährlichkeit und der Art und Weise der Rückfallgefahr entnehmen, von welcher Risikoschwelle an Freiheitsentzug zum Schutze der Gesellschaft zulässig, ja sogar unverzichtbar ist. Sehr wahrscheinlich sind es generalpräventive Aspekte - etwa im Sinne der positiven Generalprävention oder sog. Integrationsprävention 54 -, die nach wohl vorherrschender Meinung derzeit noch am ehesten die Androhung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen rechtfertigen dürften. Wenn die Erwartungen der Allgemeinheit - oder jedenfalls der gesellschaftlichen Mehrheit - darauf gerichtet sind, daß Straftaten von einer bestimmten Schwere an mit Freiheitsentzug geahndet werden, dann können Gesetzgeber und Strafrechtspflege daran nicht ohne Einbuße an Legitimität und Effizienz vorübergehen. Man muß sich freilich des Umstandes bewußt bleiben, daß die Uberzeugungen, die hinter kriminalpolitischen Tendenzen stehen, ihrerseits vor den Grundsätzen und Geboten der Verfassung Bestand haben, sich also normativen Wertungen stellen müssen. Darüber hinaus unterliegen sie, wie dargelegt, geschichtlichem Wandel. Freiheitsstrafe ist also keineswegs für alle Zeiten als Sanktionstypus festgeschrieben. O b und Wie ihrer Androhung und Vollstreckung stehen demnach allemal unter dem Vorbehalt gesellschaftlicher Wertungen und Maßstäbe, die sich ihrerseits an verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen messen lassen müssen. Dies dürfte auch für die Relevanz der negativen Generalprävention im Sinne der Allgemeinabschreckung gelten, die verschiedentlich gleichfalls zur Rechtfertigung der Freiheitsstrafe herangezogen wird. Welches Gewicht sie im „Gesamthaushalt" in Betracht kommender Legitimationsfunktionen hat, ist umstritten 55 . Vom Stellenwert, den die Freiheit der persönlichen Entfaltung in der modernen Gesellschaft genießt, wird auch in gewissem Umfange abhängen, ob und inwieweit die Freiheitsstrafe selbst Abschreckungscharakter hat. Uberschätzen wird man die Bedeutung dieses Strafzwecks für jene Sanktion schwerlich dürfen.
Die folgenden Überlegungen knüpfen an meinen Beitrag „Hat der Strafvollzug noch eine Zukunft?", in: FS H.J. Schneider, 1998, S. 995, an. 54 Dazu Müller-Dietz, Prävention durch Strafrecht: Generalpräventive Wirkungen, in: Jehle (Hrsg.), Kriminalprävention und Strafjustiz, 1996, S. 227 (236 ff.). Grundsätzlich krit. Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention. Studien zu einer Theorie der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts, 1998. 55 Vgl. Müller-Dietz (o. Fn. 54), S. 234 ff. 53
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Das mag auch für deren spezialpräventive Legitimierung gelten. Soweit der Strafzweck der negativen Spezialprävention, also des Schutzes der Gesellschaft vor dem gefährlichen Täter zur Diskussion steht, kommt ohnehin nur das Maßregelrecht als Quelle des Freiheitsentzugs in Betracht. Und dafür gelten denn auch die Schranken, welche die Verfassung aus guten Gründen in Abwägung des Schutzes der Allgemeinheit und des Freiheitsrechts errichtet hat 56 . Die Frage, ob die positive Spezialprävention, also der (Re-) Sozialisierungsgedanke, als tauglicher Anknüpfungspunkt für die Legitimierung der Freiheitsstrafe angesehen werden kann, wird bekanntlich aus verschiedenen Gründen überwiegend recht kritisch beurteilt - zum einen natürlich schon deshalb, weil Freiheitsentzug aus Gründen der Rehabilitierung verfassungsrechtlich wie kriminalpolitisch problematisch ist. Zum anderen wird die Strafanstalt ungeachtet aller Reformbemühungen - in der Regel nicht als Ort erfolgversprechender Verbrechensvorbeugung angesehen 57 . Daß die Frage, was und wieviel der Strafvollzug zur Rückfallprophylaxe effektiv beiträgt, theoretisch und praktisch freilich unterschiedlich beantwortet wird, hat Alexander Böhm immer wieder hervorgehoben 58 . Nicht nur in die Evaluationsstudien gehen jeweils bestimmte Vorannahmen ein; sie selbst sind Gegenstand auseinanderdriftender Interpretationen. Doch lassen sich jenseits der Frage, was ein - etwa im Sinne des StVollzG - reformierter Strafvollzug kriminalprophylaktisch zu leisten vermag, zwei Erkenntnisse schwerlich ignorieren: der Umstand, daß die Freiheitsstrafe schon wegen ihrer Auswirkungen auf Betroffene und Angehörige eine überaus problematische Kriminalsanktion darstellt; und die Einsicht, daß es - jedenfalls solange das Strafrecht diese Sanktion kennt - keine humane und kriminalpolitisch sinnvolle Alternative zur Ausgestaltung des Strafvollzugs im Sinne optimaler Vorbereitung auf ein sozial verantwortliches Leben in Freiheit gibt. Gewiß existieren mehr oder weniger hochselegierte Tätergruppen, für die alternative Behandlungsmodelle wegen der schwierigen 5 6 Vgl. nur BVerfGE 70, 297; 9 1 , 1 ; Kammeier u.a., in: Kammeier (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht, 1995, B. 57 Die einschlägige Diskussion kann hier im einzelnen nicht nachgezeichnet werden. Vgl. nur Straftäterbehandlung. Argumente für eine Revitalisierung in Forschung und Praxis. Steller, Dahle, Basque (Hrsg.), 1994; Egg, Rehn, Ortmann, in: Strafvollzug in den 90er Jahren (o. Fn. 2), S.55, 69, 86; Resozialisierung. Utopie oder Chance (Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung H. 16), 1995; Lösel, Ist der Behandlungsgedanke gescheitert? Eine empirische Bestandsaufnahme, ZfStrVo 1996, 259. 58 Böhm, Die spezialpräventiven Wirkungen der strafrechtlichen Sanktionen, in: Jehle (o. Fn. 54), S. 263 (272 ff.).
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Persönlichkeitsstruktur einerseits und der Notwendigkeit ausreichenden Schutzes der Gesellschaft andererseits ausscheiden, so daß letztlich nur der Freiheitsentzug als Mittel präventiver Einwirkung übrigbleibt. Das gibt indessen für die allgemeine Rechtfertigung der Freiheitsstrafe unter dem Vorzeichen pädagogisch-therapeutischen Umgangs mit Inhaftierten nichts her. Zudem fragt es sich einmal mehr, ob und inwieweit solche Tätergruppen nicht unter das Maßregelrecht fallen (sollten) - auch wenn man sich dessen bewußt bleibt, daß das Problem der Zunahme schwieriger Täterpersönlichkeiten 59 nicht auf Kosten der einen oder anderen Art von Freiheitsentzug gelöst werden darf (und kann). Die aus verständlichen Gründen betriebene Praxis, einzelne Einrichtungen des Straf- und Maßregelvollzugs wie einen „Verschiebebahnhof" zu handhaben, in dem man sich jeweils der unerwünschten Klientel zu entledigen sucht, ist der Sache selbst, dem kriminalpolitisch angemessenen und sinnvollen Umgang mit Tätern, wohl kaum zuträglich. Im ganzen bleibt es jedoch dabei, daß präventive Aspekte sehr wohl die inhaltliche Gestaltung des Strafvollzugs bestimmen sollen und können, daß sie aber ihrerseits schwerlich zur Rechtfertigung der Freiheitsstrafe als spezifische Sanktionsform herangezogen werden können. Der Gesetzgeber hat denn auch aus guten Gründen die Zwecke der positiven (und der negativen) Spezialprävention nicht zu generellen Strafzwecken erklärt, die etwa zur Legitimierung der Freiheitsstrafe dienen könnten. Wenn auch die straftheoretischen Erwägungen ergeben, daß die Freiheitsstrafe keineswegs auf gesichertem - gar noch überzeitlichem - Boden steht, wie vielfach anscheinend angenommen wird, so geben sie doch auf der anderen Seite zu erkennen, daß selbst ihre Problematik und die grundsätzliche Kritik am Strafvollzug abolitionistischen Zielsetzungen und Bestrebungen gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine durchgreifenden Erfolgschancen verschaffen können 60 . Darauf scheinen auch die verschiedenen Szenarien hinzuweisen, die bisher zur Zukunft des Strafvollzugs aus ganz unterschiedlicher Sicht entworfen wurden. Besteht doch ihr gemeinsamer Nenner darin, daß sie dem Aspekt staatlicher Kontrolle menschlichen Sozialverhaltens - entweder qua Freiheitsentzug selbst oder qua subtiler Zwangsmechanismen in Form von Frei-
59 Dies konstatieren etwa Koepsel, Psychisch krank, aber voll verantwortlich - der Straftäter von morgen? In: Die Sprache des Verbrechens. Wege zu einer klinischen Kriminologie. FS Rasch, 1993, S. 139; Scböch (o. Fn. 25), S. 1262. 60 Vgl. o. Fn. 53.
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heitsbeschränkungen - pro futuro große Bedeutung voraussagen 61 . Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, daß Vorstellungen über die Abschaffung des Strafvollzugs ins Reich der Utopie verwiesen werden müssen. Daß sie - solange er existiert - ein steter Stachel im Fleisch der Rechtfertigung bilden werden, läßt sich wohl schwerlich bezweifeln. VI. Mit dem prognostizierten oder postulierten Ende des Strafvollzugs oder des Gefängnisses ist es also - vorerst jedenfalls - nichts. Zuviel ist in den letzten Dezennien - unter positiven oder negativen Vorzeichen - totgesagt worden, als daß man versucht wäre, solche Verkündigungen oder Verheißungen für bare Münze zu nehmen. Im Zuge der Studentenrevolution von 1968 soll der „Tod der Literatur" eingetreten sein - die dann später um so fröhlichere (oder traurigere) Urständ' feierte 62 . Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde das „Ende der Geschichte" diagnostiziert 63 , die weiterhin andauert. Anzeichen dafür, daß der Strafvollzug demnächst aufhört zu existieren, sind nicht einmal am Horizont sichtbar. Das gilt erst recht dann, wenn man den Blick über die Grenzen des eigenen Landes hinaus auf die weltweite Expansion der Freiheitsstrafe wirft. Das erschwert es denn auch gegenläufigen Konzepten, die auf Einschränkung des Freiheitsentzugs nach Häufigkeit, Dauer und Intensität abzielen, Gehör zu verschaffen, ihnen gar noch zum Durchbruch zu verhelfen. Und dennoch ist das Plädoyer für Gegensteuerung, eine „antizyklische Kriminalpolitik" 64 , keine utopische Zukunftsverheißung, sondern Ausdruck der Einsicht in die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten und Aufgaben des Strafrechts. Obgleich
61 Vgl. namentlich Deleuze, Das elektronische Halsband, Neue Rundschau 1990, 5; Christie, Kriminalitätskontrolle als Industrie. Auf dem Weg zu Gulags westlicher Art, 1995; Scheerer, Zwei Thesen zur Zukunft des Gefängnisses - und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle, in: Politischer Wandel, Gesellschaft und Kriminalitätsdiskurse: Beiträge zur interdisziplinären wissenschaftlichen Kriminologie. FS Sack, 1996, S. 331. 62 Vgl. Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187; Bohrer, Zuschauen beim Salto mortale. Ideologieverdacht gegen die Literatur, in: Merkur 1969, 170. Boehlich, Autodafe, in: Kursbuch 15 (Kursbogen), setzte noch eins drauf: „Die Kritik ist tot." Dazu Briegleb, Literatur in der Revolte - Revolte in der Literatur, in: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hrsg. von Briegleb u. Weigel, 1992, S. 19 (39 ff.). 63 Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992. 64 Jung / MUller-Dietz (o. Fn. 9).
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also das gegenwärtige kriminalpolitische Klima einer solchen Perspektive eher abträglich ist, liegen die Zukunftschancen einer „Kriminalpolitik für Menschen" 65 schwerlich in einer Fortschreibung (oder gar Zementierung) des Bestehenden - und schon gar nicht in einer Rückkehr zu traditionellen Vorstellungen der Abschreckung und Repression, wie populär diese auch in gesellschaftlichen Krisenund Umbruchzeiten sein mögen. Wie geschichtliche Erfahrungen zeigen, vermögen in der Kriminalpolitik auf Dauer Konsequenz und Beharrlichkeit mehr als rigide Härte, die - immer schon - im Wechselspiel von staatlicher Machtausübung und gesellschaftlicher Gewalt den Keim für weitere aggressive Tendenzen in sich trägt. Aufgabe der Kriminalpolitik ist es nicht nur, nach Kräften auf friedliches und erträgliches Zusammenleben hinzuwirken und - nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten - für die Sicherheit der Bürger zu sorgen, sondern eben auch aufklärend zu wirken, d.h. ihre eigenen Bedingungen und Grenzen öffentlich zu vermitteln. Daß dies in der vielberufenen Mediengesellschaft - mit ihren echten Aufregungen und künstlichen Aufgeregtheiten, ihren Prozessen der Meinungsbildung und Ritualen der Selbstinszenierung - schwieriger sein mag als ehedem, sei nicht verkannt 66 . Doch kann es nicht Sache der Kriminalpolitik sein, Kriminalitätsängste zu kultivieren, gar noch institutionell abzusichern - so wenig sie sachlich berechtigte Kriminalitätsfurcht ignorieren darf 67 . Vor diesem Hintergrund verdienen in der Tat Bemühungen, die auf Einschränkung des Anwendungsbereichs der Freiheitsstrafe nach Häufigkeit und Dauer gerichtet sind, nachhaltige Unterstützung 68 . Sie bringen zum einen die begrenzten Sanktionswirkungen - die freilich interpretatorisch umstritten sind - zum Ausdruck. Zum anderen spiegeln sie die Problematik des Freiheitsentzugs wider, die sich ungeachtet aller Reformbestrebungen im Erleben und in den Erfahrungen vieler Insassen und Bediensteten nie-
65 Schüler-Springorum (o. Fn. 49). Zust. Jung, Zur Privatisierung des Strafrechts, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann (Hrsg.), Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, 1996, S. 69 (75). 6 6 Nachw. o. Fn. 27. 6 7 Dazu Boers, Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland, MSchrKrim 1996, 314; Dörmann, Wie sicher fühlen sich die Deutschen? Repräsentativbefragung der Bevölkerung zu Rauschgiftsituation, Polizeibewertung und Sicherheitsgefühl zum Teil als Replikation früherer Erhebungen, 1996; Sessar, Die Angst des Bürgers vor Verbrechen - was steckt dahinter? In: Janssen/Peters (Hrsg.), Kriminologie für Soziale Arbeit, 1997, S. 118. 6 8 Paradigmatisch Lüderssen, Stufenweise Ersetzung der Freiheitsstrafe (1987), in: ders., Abschaffen des Strafens?, 1995, S. 259; Jung / Müller-Dietz (o. Fn. 65).
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derschlägt. In diesem Sinne läßt sich langjähriger Freiheitsentzug nur insoweit rechtfertigen, als er eben zum Schutze der Gesellschaft erforderlich ist - also durch Anwendung gleichwertiger Sicherungsmittel nicht ersetzt werden kann. Ziel der Kriminalpolitik muß es demnach sein, ihn - etwa im Sinne des früheren niederländischen Modells - allmählich durch kürzere Freiheitsstrafen zu ersetzen. Das erfordert entsprechende Anstrengungen in wenigstens vier Bereichen: eine Anreicherung und Ausdifferenzierung des Sanktionensystems hinsichtlich leichterer bis mittlerer Straftaten; eine möglichst sachliche, realistische und vorurteilsfreie Aufklärung der Öffentlichkeit über gewiß komplexe Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen, sozialem Wandel und Kriminalitätsentwicklung, die der Bildung eines er- und verträglicheren kriminalpolitischen Klimas vorarbeiten kann; die allmähliche Entstehung einer Sanktionspraxis, die, unter Respektierung des Schuldprinzips einerseits, legitimer Sicherheitsinteressen der Gesellschaft andererseits, namentlich kürzeren Freiheitsentzug zu Lasten des längeren bevorzugt; und eine kontrollierte „Öffnung des Vollzugs", die - wiederum in Abwägung von (Re-) Sozialisierungschancen und Kriminalitätsrisiken - sowohl am Einzelfall, dem Inhaftierten, wie auf der institutionellen Ebene der Vollzugsgestaltung und Vollzugsanstalten anzusetzen hat. Ein solches Programm - das hier nicht im einzelnen entfaltet werden kann - ist gewiß weder neu noch originell. Es hat auch eine ganze Reihe von Realisierungsproblemen und offenen Fragen zu gewärtigen. Der Ausbau bestehender und die Integration neuer Reaktionsformen muß namentlich freiheitsbeschränkenden Strafen gelten. Zwar existieren insoweit längst praktische Erfahrungen und Modelle; doch bedürfen deren normative Regelung und institutionelle Ausgestaltung noch weiterer Diskussion. Inwieweit etwa Ansätze wie Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung und gemeinnützige Arbeit in das bestehende Sanktionensystem integriert werden können, ist noch keineswegs geklärt. Doch drängt sich die Einsicht auf, daß die „klassischen" Alternativen zur Freiheitsstrafe wie die Geldstrafe und die Strafaussetzung zur Bewährung verschiedentlich an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen sind. Eine Sanktionspraxis, die vermehrt auf neue freiheitsbeschränkende statt freiheitsentziehende Rechtsfolgen setzt, wäre sicher - jedenfalls im Bereich des Erwachsenenstrafrechts - erst noch zu entwickeln. Das gilt gewiß in noch stärkerem Maße für das kriminalpolitische Ziel, längere Freiheitsstrafen allmählich durch kürzere zu ersetzen. Ohne einen Wandel des gesellschaftlichen Klimas wäre es wohl kaum zu erreichen.
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Erst recht verweisen die freilich recht komplexen Zusammenhänge und Vermittlungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Einschätzungen und Bewertungen der Kriminalität und ihrer Kontrolle und der praktischen Ausgestaltung des Straf- und Maßregelvollzugs auf das überaus spannungs- und konfliktreiche Verhältnis zwischen der Wahrnehmung öffentlicher Probleme und staatlichem Handeln. Geradezu symptomatisch für den Umgang mit dieser Problematik sind Art und Maß der „Öffnung des Vollzugs" 69 . Als Testfall haben sich insoweit vor allem die Praxis der Vollzugslockerungen, die öffentlichen Reaktionen auf Fälle des Mißbrauchs und die Konsequenzen, die daraus für die weitere Handhabung gezogen wurden, erwiesen 70 . Daran wird einmal mehr die Richtigkeit einer Binsenweisheit deutlich: Es ist keineswegs nur das Maß an eigener Uberzeugung, das einer Kriminal- und Vollzugspolitik zum Durchbruch verhilft. Ja, es ist noch nicht einmal das Maß an Überzeugungskraft, das ihr innewohnt. Sehr wahrscheinlich kommt es auch - und ganz wesentlich - darauf an, inwieweit die innere Souveränität besteht, diese Konzeption gegen alle Widerstände auch öffentlich zu vertreten sowie mit Argumenten und Gründen für sie zu werben. Aber nicht zuletzt entscheiden über Erfolg und Mißerfolg solcher Bemühungen die Bereitschaft und Fähigkeit des Publikums, sich solchen Vorstellungen auch zu öffnen. Der Gedanke ist alt; man begegnet ihm immer wieder in der Literatur: „Die Art der Bestrafung ist abhängig vom jeweiligen Kulturstande." 71 Grund, uns über andere Epochen kulturell zu erheben, haben wir nicht - schon gar nicht am Ende eines mörderischen Jahrhunderts 72 , in dem als einer der wenigen verheißungsvollen Licht-
69 Zur Sicherheitsproblematik des Vollzugs vgl. namentlich Wagner, Walter, Mey, in: Strafvollzug in den 90er Jahren (o. Fn. 2), S. 183,191,203; Müller-Dietz, Strafvollzug im Spannungsfeld zwischen Resozialisierung und Sicherung, in: 70 Jahre Justizwache Österreichs (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz 73), 1995, S. 63. 70 Ungeachtet positiver Erfahrungen im ganzen, die massenmedial und gesellschaftlich nicht annähernd in gleicher Weise wie die Mißbrauchsfälle wahrgenommen werden. Vgl. nur Dünkel, Sicherheit im Strafvollzug - Empirische Daten zur Vollzugswirklichkeit unter bes. Berücksichtigung der Entwicklung bei den Vollzugslockerungen, in: FS Schüler-Springorum, 1993, S. 641; Dolde, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsversuchen und Risiko für die Allgemeinheit, in: Jung/Müller-Dietz (o. Fn. 9), S. 105. 71 Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 5. Bd.: Strafrechtsphilosophie und Strafrechtsreform, 1907, S. 205. 72 Dazu eindrucksvoll Reemtsma, Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Aufsätze und Reden, 1998.
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blicke die Erfahrung aufscheint, daß es wenigstens in Mitteleuropa gelungen ist, über 50 Jahre lang immerhin den äußeren Frieden zu wahren.
Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive Wo weicht der Strafvollzug in der Bundesrepublik gravierend ab?
G Ü N T H E R KAISER
I.
Der Strafvollzug wird nach Konzept, Einrichtung und Regime, zögernd auch nach seiner rechtlichen Durchdringung, von Anbeginn durch seine europäische Dimension charakterisiert. Die Gründungswelle von Zuchthäusern im 16. Jahrhundert, ferner die Bestandsaufnahme von Howard und Wagnitz im 18. Jahrhundert sowie die internationalen Gefängniskongresse seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugen dies1. In der Gegenwart haben die Bestrebungen und Einrichtungen des Europarats Zeichen und Zäsuren gesetzt. Aufgrund dessen ist ein gemeineuropäischer Standard der Erreichbarkeit nähergerückt. Zu denken ist insbesondere an die Verabschiedung europäischer Strafvollzugsgrundsätze sowie an die Aktivitäten der Europäischen Menschenrechtsorgane. So hat ζ. B. der europäische Antifolterausschuß bereits zweimal Vollzugseinrichtungen in Deutschland besucht sowie seine Wahrnehmungen verbunden mit Empfehlungen und Kommentaren dokumentiert2. Dies ermutigt zu einer vergleichenden Betrachtung des deutschen Strafvollzugs in europäischer Perspektive, zumal sich das Strafvollzugsgesetz seit nunmehr zwei Jahrzehnten in Kraft befindet und daher zu einer kritischen Situationsanalyse herausfordert. Allerdings gibt Alexan1 Dazu vor allem Krebs Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung. Berlin 1978, 18 f., 60; ders. Die Verhandlungen der Ersten Internationalen Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten September 1846 in Frankfurt am Main. In: FS für Blau. Berlin 1985, 629-650. 2 Vgl. die Besuchsberichte des Ausschusses: CPT-Report Germany Report to the Government of the Federal Republic of Germany on the visit to Germany carried out by the CPT from 8 to 20 December 1991. (CPT/Inf (93) 13). Straßburg 1993; CPTReport Germany Report to the Government of the Federal Republic of Germany on the visit to Germany carried out by the CPT from 14 to 26 April 1996 (CPT/Inf (97) 9). Straßburg 1997.
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Günther Kaiser
der Böhm gegenüber Vollzugsvergleichen in kritischer Zurückhaltung zu bedenken, daß sie ohne den Zusammenhang mit den jeweiligen kriminalpolitischen Vorstellungen in den Vergleichsländern zu kurz greifen könnten 3 . So finden sich denn auch trotz vieler Gemeinsamkeiten die unterschiedlichsten Ausgestaltungen des Strafvollzugs in Europa. Zutreffend wird angesichts der Spruchpraxis zu § 51 StGB darauf hingewiesen, daß die deutschen Gerichte bei der Anrechnung ausländischen Strafvollzugs zum Teil einen Hafttag in einem europäischen Land zwei Hafttagen in Deutschland gleichstellen4. Dies demonstriert eher die Disparitäten zwischen den einzelnen Vollzugssystemen. Daher wollen sich offenbar Erleichterung und Genugtuung über das Erreichte nicht einstellen. Schon das Fortbestehen traditioneller Gebrechen des Strafvollzugs (ζ. B. Fehlen moderner Einrichtungen und dürftige Ausbildung des Personals) oder das Auftreten neuer Probleme (ζ. B. Uberfüllung und Arbeitslosigkeit) wirken desillusionierend. Selbst in der auf dem Gebiet des Strafvollzugs vorbildlichen Schweiz wurde 1995 ein Bericht über die „Krise im Strafund Maßnahmenvollzug" der Öffentlichkeit präsentiert5. Berücksichtigt man die Resolutionen und Empfehlungen, die in den vergangenen Jahren von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und vom Europäischen Parlament verabschiedet worden sind6, dann könnte man gar meinen, daß sich im Hinblick auf die allgemein gerügten Gefängnisbedingungen der gemeinsame europäische Standard eher negativ durch sein Mängelprofil kennzeichnen ließe. Doch auch der Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahren wiederholt in die Kritik geraten7: a) Im Jahr 1993 rügte die Internationale Arbeitsorganisation in Genf die geringe Entlohnung der Arbeit von Strafgefangenen
Vgl. Böhm Strafvollzug. Frankfurt/Main 1986 2 , 5. Müller-Dietz Menschenwürde und Strafvollzug. Berlin 1994, 23 f. 5 Vgl. den Bericht der Expertenkommission zum Postulat Gadient „Krise im Strafund Maßnahmenvollzug". Bern 1995. 6 Parliamentary Assembly Recommendation 1257 (1995) on the conditions of detention in Council of Europe member states and Reply of the Committee of Ministers of 25 January 1996; Resolution on poor conditions in prisons in the European Union adopted by the European Parliament on 18 January 1996. Straßburg 1996. 7 Vgl. ζ. Β. die Kritik bei Kamann Die Blindheit der Justitia oder: die reaktionäre Entwicklung im Strafvollzug. Neue Kriminalpolitik, H. 2 1996, 14-18 (14 ff.) sowie bei Dünkel Empirische Forschung im Strafvollzug. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Bonn 1996. 3 4
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sowie den fehlenden Kranken- und Sozialversicherungsschutz von Häftlingen8. b) Das Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment (CPT) 9 , das die Befugnis besitzt, in den Mitgliedsstaaten der am 1. Februar 1989 in Kraft getretenen Europäischen Anti-Folter-Konvention Haftanstalten zu besuchen, hat bei seinen beiden Besuchen in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1991 und 1996 unter anderem auf bauliche Mängel, Uberbelegung, fehlende Arbeits- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie auf das mangelhafte Angebot an Freizeitaktivitäten in verschiedenen Justizvollzugsanstalten hingewiesen10. Bei alledem ist die Vollzugspopulation heute heterogener und in ihrer Verdichtung schwieriger als je zuvor. Drogendelinquente, Gewalttäter und psychisch kranke Straftäter einerseits sowie Ausländer, Frauen, Jugendliche und ältere Menschen andererseits, stellen aus unterschiedlichen Gründen Problemgruppen dar, die den Vollzugsstab und die Infrastruktur des Strafvollzugs zu überfordern drohen. Die Aufgaben und Schwierigkeiten der Problembewältigung reichen offensichtlich über die tradierten „Schulweisheiten" hinaus, von den fehlenden finanziellen Ressourcen ganz zu schweigen. Demzufolge ist der Optimismus einer ernüchternden Betrachtungsweise gewichen. Diese mag nicht zuletzt dazu geführt haben, daß die gesetzliche Reformbewegung seit langem auf der Stelle tritt. Mitunter scheint es daher, als ob der Strafvollzug vierhundert Jahre nach Amsterdam und zwei Jahrhunderte nach Howard und Wagnitz gescheitert sei. Diese Schlußfolgerung legen jedenfalls die zeitgenössischen Bestrebungen des Abolitionismus nahe11, einer Bewegung, welche die Abschaffung des Strafrechts und damit auch des Strafvollzugs auf ihre Fahnen geschrieben hat. Doch selbst für die Kritiker des Strafvollzugs stellt sich die Frage nach möglichen Alternativen. Trotz aller Möglichkeiten zur Ausschöpfung von amVgl. International Labour Office World Labour Report 1993. Genf 1 9 9 3 , 1 6 f. Ausschuß für die Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Zu den Aufgaben des Ausschusses vgl. Kaiser Europäischer Antifolterausschuß und krimineller Machtmißbrauch. In: FS für Triffterer, Wien 1996, 777-797 (777 ff.). 10 Vgl. CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2), 26 ff.; CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 34 ff. 11 Vgl. etwa Mathiesen The Politics of Abolition. Essays in Political Action Theory. Oslo 1974; Schumann Vom Ende des Strafvollzugs. Ein Leitfaden für Abolitionisten. Bielefeld 1988; Quensel Gefängnisse abschaffen - eine abolitionistische Alternative? MSchrKrim 73 (1990), 336-343. 8
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bulanten Sanktionen12 sind mittelfristig jedoch keine realistischen Alternativen zur Institution des Strafvollzugs erkennbar. Eine Ausnahme könnte lediglich für die Verminderung der Untersuchungshaft gelten, etwa durch die Einführung eines elektronisch überwachten Hausarrests13. Alle kritischen Einwände und Forderungen nach Einschränkung oder Abschaffung der Freiheitsstrafe haben an der Existenz des Strafvollzugs substantiell nichts zu ändern vermocht. Daran vermag auch die Heftigkeit abolitionistischer Kritik nicht zu rütteln14. Hat sich die Institution des Strafvollzugs auch behauptet und in manchen Staaten überdies erneut an Bedeutung gewonnen, so ist sie doch unverändert problematisch. Dies ergibt sich allein schon daraus, daß ein Eingriff in das herausragende Rechtsgut der Freiheit vorliegt und zudem eine Besserung des Inhaftierten durch den Vollzug nicht garantiert werden kann. Obwohl durch die Erneuerung des Strafvollzugs inzwischen vieles erreicht worden ist, verdeutlichen die immer noch bestehenden oder wieder aufgebrochenen Mängel eine Vielzahl von Problemlagen, die eine intensive wissenschaftliche Begleitung erfordern, denn ein Strafvollzug ohne kritische wissenschaftliche Begleitforschung läuft Gefahr, in Routine zu erstarren15. Trotz des relativen Bedeutungsverlustes der Freiheitsstrafe im Gesamtspektrum kriminalrechtlicher Sanktionen in Deutschland von 70 auf 5 Proz. während der letzten einhundert Jahre 16 - bietet die Vollzugswirklichkeit immer wieder Anlaß zur Kritik. Da der Strafvollzug jedenfalls in Europa rechtlich normiert und organisiert ist, liegt es nahe, zunächst dem Grad seiner Verrecbtlicbung („judiciarisation") sowie dem Rechtsschutz der StrafgefanSiehe dazu die kritische Analyse von Tonry: Sentencing Matters. Cary/N.C. 1995. Vgl. dazu Weigend Privatgefängnisse, Hausarrest und andere Neuheiten. Antworten auf die Krise des amerikanischen Strafvollzugs. BewHi 36 (1989), 289-301; Nellis The Electronic Monitoring of Offenders in England and Wales. Recent Developments and Future Prospects. BritJCrim 31 (1991), 165-185; Schoch Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten für den 59. JT. München 1992, C 100-102. Zur Perspektive des elektronisch überwachten Hausarrests als Möglichkeit zur Sanktionierung von Kleindelikten in Deutschland vgl. Krahl Der elektronisch überwachte Hausarrest. NStZ 1997, 457-461. 14 AA aber Sessar Overcrowding - Not the only Crisis in the Custodial System. European Journal of Criminal Policy and Research 2 (1994), 107-116 (107, 114); ferner Christie Crime Control as Industry. Towards Gulags Western Style. 2nd ed. London u. a. 1994, 59 ff., 89 ff. 15 So mit Entschiedenheit Dünkel (ο. Fn. 7), 33. 16 Nachweise bei Kaiser Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg 1996 3 , 985. 12 13
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genen Aufmerksamkeit zu widmen 17 . Auch wenn man dem Strafvollzug ein gewisses Eigenleben bescheinigen muß, da er besonderen Organisationszielen und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt - gelegentlich wird er gar als „totale" Institution bezeichnet18, steht er doch mehr denn je unter der Herrschaft des Rechts. Die dem internationalen Strafvollzugsrecht zuordnungsfähigen Normensysteme, namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze19 und die Regelungen des Internationalen Paktes für Politische und Bürgerliche Rechte, mögen dafür stehen.
II. So gilt für die meisten europäischen Staaten, mit Ausnahme Belgiens, mittlerweile das Prinzip der gesetzlichen Grundlage des Strafvollzugs. Diese Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips („etat de droit", „rule of law") wird geradezu als Konstante des zeitgenössischen Strafvollzugs begriffen. Auf das einzelstaatliche Handeln sowohl im Straf- wie Untersuchungshaftvollzug hat sich vor allem die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nachhaltig ausgewirkt. Schon früh wurde die EMRK als „das erste Stück einer gemeinsamen Verfassung" der europäischen Staaten apostrophiert. Sie ist sowohl in ihren Rechtswirkungen als auch von ihrer programmatischen Kraft her das mit Ab-
17 Dementsprechend richteten die deutschen Situationsanalysen der letzten Jahre ihre besondere Aufmerksamkeit darauf sowie auf Vollzugslockerungen und das Vollzugsziel, ζ. T. stark angereichert mit kriminalpolitischer Kritik zugunsten von Alternativen zum Strafvollzug. Hingegen traten bei ihnen Vollzugsregime, Unterbringung, sanitäre Einrichtungen, Ernährung, Hofgang, Verlegung, Klassifikation und Differenzierung, einschließlich des Umgangs mit schwierigen Gefangenen, mit Frauen, Ausländern und Alten sowie Arbeitslosigkeit und Uberforderung des Personals bisher kaum in das Blickfeld, vgl. Dünkel Strafvollzug im Ubergang. Neue Kriminalpolitik, Η. 1 1993, 37-43 (37 ff.); Frehsee Neuere Tendenzen in der aktuellen Kommentar- und Lehrbuchliteratur zum Strafvollzug. NStZ 1993, 165 ff.;/»«g Strafvollzug und Strafvollzugsrecht - eine Literaturschau. ZStrVo 1993, 3 ff. Vgl. jedoch Maelicke Ist Frauenstrafvollzug Männersache? Eine kritische Bestandsaufnahme des Frauenstrafvollzugs in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden 1995; Schramke Alte Menschen im Strafvollzug: empirische Untersuchung und kriminalpolitische Überlegungen. Bonn 1996. 18 So ζ. B. Feest u. a. Totale Institution und Rechtsschutz: eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug. Opladen 1997. 19 Vgl. dazu Gonsa Introduction to the European Prison Rules. Historical Background, Development, Main Contents. In: Penological Information Bulletin, Nos. 19 and 20 (1994-1995), 24-33 (24 ff.).
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stand bedeutendste Werk des Europarats geblieben20. Sie gilt nach entsprechenden Ratifikationen der Unterzeichnerstaaten als nationales Recht, zum Teil mit Verfassungsrang wie ζ. B. in Osterreich. Allerdings haben die europäischen Staaten das Recht auf Individualbeschwerde ihrer Bürger und die Zuständigkeit der europäischen Menschenrechtsorgane erst allmählich und zum Teil nur zögerlich anerkannt. Wie Erfahrungsberichte des Europarats oder der Vereinten Nationen erkennen lassen, erfolgt die Durchsetzung des Mindeststandards entgegen den Stellungnahmen der einzelnen Regierungen keineswegs problemlos21. In verstärktem Maße trifft dies für die Frage des Rechtsschutzes zu, insbesondere für die gerichtliche Kontrolle. Unterschiedliche Modelle und Lösungen suchen den Rechtsschutz der Gefangenen zu gewährleisten. Neben verwaltungsinterner Kontrolle oder Uberprüfung durch unabhängige Aufsichtskommissionen existiert in einer Reihe europäischer Staaten auch die Einrichtung des sogenannten Ombudsmans, so in England und Wales, Frankreich, Island, Norwegen, Polen, in den Niederlanden sowie in Schweden, der Slowakei und in Slowenien. Außerdem besteht in der Mehrheit der Staaten die Zulassung staatsanwaltlicher oder gerichtlicher Kontrolle. Ferner kommt wie erwähnt die Anrufung der europäischen Menschenrechtsorgane in Betracht - in der Praxis zahlenmäßig zum Teil mit abnehmender, jedoch qualitativ mit erheblich generalpräventiver Wirkung22. III. Ist der Prozeß der Verrechtlichung auch im Bereich des Strafvollzugs weitgehend geboten, jedenfalls aber unaufhaltsam, so bedeutet dies gleichzeitig die Einschränkung des Spielraums für kriminalpädagogische und -therapeutische Interventionen sowie für die 20 Sommermann Der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarats. Speyer 1990 2 , 2 ff. 21 Vgl. Walmsley Implementing International Prison Standards. In: Home Office Research Bulletin N o . 29 (1990), 47-51 (48 f.); ders. The European Prison Rules in Central and Eastern Europe. European Journal on Criminal Policy 3-4 (1995), 73-90 (73 ff.); für Spanien Beristain Relaciones entre los privados de libertad y el mundo exterior (el vulontariado). In: Eguzkolore. Numero extraordinario. San Sebastian 1988, 29-42 (32 ff.). 22 Zum Ganzen Kaiser in Kaiser/Kerner/Scböch Strafvollzug. Ein Lehrbuch. Heidelberg 1992 4 , 41 ff. m. w. N.; ferner Council of Europe Yearbook of the European Convention on Human Rights. Straßburg 1991, 30; European Commission of Human Rights Survey of Activities and Statistics 1992. Straßburg 1993, 16 f.
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Experimentierfreudigkeit und schöpferische Phantasie. Diese Spannung scheint sich in der Gegenwart noch erhöht zu haben. Schon der neuere Streit über Ziele und Aufgaben des Strafvollzugs läßt dies erkennen, aber auch die mögliche Uberforderung des Vollzugspersonals und die gelegentliche „Unterkühlung" der Beziehungen zwischen Vollzugsstab und Vollzugsinsassen. Teilweise spricht man im Hinblick auf die wachsende Unbeweglichkeit der Praxis durch den Prozeß der Verrechtlichung sowie die Einengung des Handlungsspielraums23 und der sozialpädagogischen Interventionen geradezu von einem Dilemma. Die Formel vom „defensiven Formalismus" ist dafür kennzeichnend. Diese Problematik wird nach deutscher Doktrin als die Frage nach dem Vollzugsziel begriffen und in internationaler Terminologie unter den Begriffen der „Gefängnisphilosophie" oder „Behandlungsphilosophie" erörtert. Auch wenn man sich davor hüten muß, die Bedeutung der Vollzugsziele und ihre Diskussion überzubetonen, zumal die Praxis bei engeren Spielräumen ohnehin ihre eigenen Wege geht, sind die Ziele der Freiheitsentziehung keineswegs unwichtig. Denn mit der Verrechtlichung der Freiheitsentziehung müssen sich Vollzugsinhalte und Vollzugsmaßnahmen in überprüfbarer Weise stärker denn zuvor an den Zielen messen lassen. Dabei zeigt sich freilich auch eine gewisse Austauschbarkeit von inhaltlichen Bestimmungen dessen, was man „penal" oder „prison philosophy" nennt. Gestaltung und Inhalte des Vollzugs Viele Anstalten sind veraltet und die Unterbringungssituation ist in den Staaten Westeuropas, insbesondere aber in Ost- und Mitteleuropa generell mehr als bedrückend. Auch wird die Unterbringung von Gefangenen unterschiedlich gehandhabt. Während die postkommunistischen Staaten die gemeinschaftliche Unterbringung der Strafgefangenen favorisieren, herrscht in West- und Nordeuropa nach Zielsetzung und weitgehender Praxis allgemein die Einzelunterbringung vor, wobei etwa 7 qm Raum als Norm gelten. Nur die Uberbelegung des Strafvollzugs steht der Verwirklichung dieses Ziels entgegen, so in Frankreich und England. Derartige Schwierigkeiten sucht eine Reihe von Ländern wie die Niederlande und die Schweiz durch sogenannte Wartelisten oder durch vorzeitige bedingte Entlassung bzw. nachträgliche Haftverkürzung zu mildern, 2 3 So Faugeron Les prisons de la Ve Republique. In: Petit u. a.: Histoire des Galeres, Bagnes et Prisons. X I I I e - X X e siecles. Introduction a l'histoire Penale de la France. Toulouse 1991, 319-343 (323) für Frankreich.
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wenn nicht schon im vornhinein durch Anwendung von Alternativen zu vermeiden24. Die Uberbelegung, die in vielen Ländern beklagt wird 25 , beeinträchtigt nicht nur die Trennung von Straf- und Untersuchungshäftlingen, die Klassifikation von Strafgefangenen, das Angebot und die Bereitstellung sinnvoller Aktivitäten, sondern darüberhinaus eine hygienisch vertretbare und menschenwürdige Unterbringung 26 . Nicht immer ist genügend für sanitäre Einrichtungen und Frischluftzuführung gesorgt sowie für die Schaffung ausreichender Bedingungen für den Hofgang. Besonders in zentralen Haftanstalten von Großstädten häufen sich derartige Mängel, selbst bei relativ modern erbauten Anstalten. In Ländern Süd- und Südwesteuropas sind ferner in manchen Einrichtungen die Zellen oder Aufenthaltsräume nicht heizbar. Arbeit, Beruf und
Ausbildung
Nach den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen gelten Ausbildung und Arbeit in der Strafanstalt als ein positives Element der Behandlung27. Die Strafvollzugsregelungen der einzelnen europäischen Staaten sehen in Ubereinstimmung damit die Ausübung einer Tätigkeit sowie Möglichkeiten für Aus- und Weiterbildung vor. Unabhängig von der Beschaffung und Bereitstellung von Arbeitsmöglichkeiten besteht in vielen Ländern eine Arbeitspflicht (so neben der Bundesrepublik ζ. B. in Dänemark, den Niederlanden und in Osterreich; Ausnahmen: Frankreich und Spanien). Die Arbeit macht einen beträchtlichen Teil der Vollzugswirklichkeit aus 24 Dazu Beyens/Snacken Belgian Prison Overcrowding or Dutch Lack of Prison Capacity: What's in a Name? Tijdschrift voor Criminologie 34 (1992), 210-217 (213 f.). 25 Vgl. van Zyl Smit/Dünkel Conclusion. In: dies. Imprisonment Today and Tomorrow - International Perspectives in Prisoners' Rights and Prison Condition. Deventer 1991, 721; Landesberichte bei van Kalmthout/Tak Sanctions Systems in the Member States of the Council of Europe. Part II. Deventer et. al. 1992; Chemin Prisons surpeuplees. Le Monde v. 12.2.1992; Killias Uberfüllte Gefängnisse - was nun? Zur aktuellen Bedeutung der Forschung über Gefangenenraten. In: Aktuelle Probleme des Straf- und Maßnahmevollzugs, hrsg. v. der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie. Grüsch 1987, 83-114(111 ff.); Kuhn Punitivite, politique criminelle et surpeuplement carceral ou comment reduire la population carcerale. Bern u. a. 1993, 15 ff.; ferner die Kritik der europäischen Parlamente (o. Fn. 6). Inzwischen hat die Zahl der Gefangenen mit 51.600 im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht (berichtet nach FAZ Nr.65 v. 18.3.1998). 26 Vgl. dazu Bank Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarats. Freiburg 1996, 169; ferner CPT 7th general report on the CPT's activities covering the period 1 January to 31 December 1996. Straßburg 1997, Rn. 12 ff. 27 Vgl. Nr. 71 f. der EPR.
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und hilft, den Alltag zu bewältigen. Nur dem kritischen Schrifttum erscheint „die Gefangenenarbeit in erster Linie als Ablenkungsmanöver vom Elend der Haft" 28 . Gleichwohl hatten sich die Straßburger Menschenrechtsorgane bislang kaum mit der Arbeit im Strafvollzug und damit zusammenhängenden Fragen zu befassen. Allerdings herrscht verbreitet Arbeitslosigkeit, so ζ. B. in Großbritannien und Osterreich, aber auch in Regionen wie Albanien, Estland, Polen, Portugal, Rumänien und manchen Teilen Italiens und Frankreichs. Lediglich in den Niederlanden, in Schweden und der Schweiz scheint es kaum Schwierigkeiten in der Bereitstellung von Arbeitsmöglichkeiten zu geben. Für Deutschland wird der Prozentsatz der beschäftigungslosen Insassen für die Zeit von 1989 bis 1991 mit durchschnittlich 35 Prozent angegeben; bezogen auf die arbeitspflichtigen Gefangenen waren es jedoch nur 7 Prozent 29 . Inzwischen dürfte dieser Anteil sicher angestiegen sein. Demgemäß kritisierte des CPT bei seinem zweiten Deutschlandbesuch das begrenzte Angebot an Arbeitsplätzen in den besuchten Justizvollzugs- bzw. Untersuchungshaftanstalten 30 . Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf den Bericht auf die schlechte Lage am Arbeitsmarkt und auf Ausbildungsdefizite der Gefangenen hingewiesen. Zudem fehlten geeignete Räumlichkeiten für die Arbeit und bis zu 50% der Gefangenen seien aufgrund richterlicher Anordnung von der Teilnahme an Arbeitsmaßnahmen ausgeschlossen. Nachhaltige Verbesserungen seien wegen fehlender finanzieller Möglichkeiten nicht realisierbar31. Noch ungünstiger als bei der Beschäftigung und Bereitstellung von Arbeit sieht es bei der Ausbildung aus. Oftmals kann dem Gefangenen kein adäquates Ausbildungsprogramm geboten, keine seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit vermittelt werden. Nur in verhältnismäßig wenigen Anstalten existieren überhaupt sinnvolle Ausbildungsprogramme für die Zeit nach der Entlassung. Auch im zweiten Deutschlandbericht des CPT wurde auf unzureichende Weiterbildungsangebote in deutschen Haftanstalten 28
So etwa Pilgram Von den Schwierigkeiten, im Strafvollzug Normalität herzustellen. Neue Kriminalpolitik, H. 2 1995, 41-44 (42). 29 So Neu Wirtschaftsfaktor: Gefängnis. Neue Kriminalpolitik, H. 2 1995, 35-40 (36). Im internationalen Vergleich Beckett/Western The penal system as labour market institution: Jobs and jails, 1980-95. Overcrowded Times 8 (1997), 6, 1, 9 ff. (11) mit einer Streuung arbeitsloser Gefangener zwischen 3,5% in den USA sowie 7,5% in Schweden und 36,9% in den Niederlanden sowie 96,7% in Italien. 30 CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 28, 34, 38. 31 Interim Report of the German Government in response to the CPT's report on the visit to Germany from 14 to 26 April 1996, (CPT/Inf (97) 9). Straßburg 1997, 34.
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aufmerksam gemacht32. Allerdings ist nur ein kleiner Teil der Gefangenen bereit und in der Lage, die entsprechenden Aus- und Fortbildungsprogramme mit ausdauerndem Erfolg zu durchlaufen. Ungelernte Hilfskräfte sind weitaus überrepräsentiert. Nicht selten machen sich Uberforderungssituationen und Enttäuschungen bemerkbar. Man schätzt, daß europaweit nur ca. ein Fünftel der Gefangenen in den Genuß von Ausbildung oder schulischen Maßnahmen gelangen33. Eng mit der Frage der ausreichenden Beschäftigung von Gefangenen verknüpft ist die nach der Entlohnung für die geleistete Tätigkeit. Hier stellen sich die europäischen Länder unterschiedlich dar. Während ζ. B. in der Schweiz recht beachtliche Arbeitsentgelte in der Haft erzielt werden können, ist der Lohn in der überwiegenden Zahl der europäischen Länder äußerst knapp bemessen. Dies wird beispielsweise in Großbritannien beklagt, gilt aber genauso für Deutschland. In der Bundesrepublik liegt das gesetzlich festgelegte Arbeitsentgelt bei lediglich 5% des Durchschnittslohns der Sozialversicherten (§ 43 iVm § 200 StVollzG) 34 . Auch dort, wo ein der normalen Entlohnung angenähertes Arbeitsentgelt zu leisten ist, sind die Gefangenen entweder ganz überwiegend ohne Arbeit wie in Italien35 oder verbleibt ihnen nach Abzug der Haftkosten bloß ein geringer Betrag, so etwa in Osterreich36. Entsprechend dieser unterschiedlichen Regelungen verwundert nicht, wenn die Rangordnung bezüglich des durchschnittlichen monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes von Italien mit 1300 DM, gefolgt von Osterreich mit 1123 DM, der Schweiz mit 649 DM, Schweden mit 377 DM, Deutschland mit 196-318 DM bis zu 50 DM in Rumänien und 33 DM in Zypern reicht. Den Gefangenen verbleiben nach Abzug aller Steuern und Beiträge sowie Rücklagen durchschnittlich in der Schweiz etwa 200-300 DM, in Deutschland 130-
Vgl. CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 28, 34, 38. Devlieghere Current Situation in the Criminological Field (prison sentences and community sanctions and measures) in Countries Participating in the Conference. 11th Conference of Directors of Prison Administration, European Committee on Crime Problems, May 1995, 8. 34 Kritisch hierzu Dünkel (ο. Fn. 7), 50 f. Wegen des niedrigen Entlohnungssatzes und der mangelnden sozialen Absicherung waren mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig, über die das Bundesverfassungsgericht Anfang März verhandelt und am 1. Juli 1998 entschieden hat; siehe BVerfG, NJW 1998, 3337ff. 35 Vgl. dazu Cicotti/Pittau El lavoro in carcere. Aspetti giuridici ed operativi. Milano 1987. 36 Vgl. Pilgram (o. Fn. 28), insb. zur österreichischen Strafvollzugsnovelle 1993 mit der Einführung des Bruttolohnsystems und der Arbeitslosenversicherung. 32 33
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212 DM und in Österreich 120 DM. Nur jene Gefangenen, die im Wege des Freigangs oder der Außenbeschäftigung einen vollen Arbeitslohn erhalten, stehen im allgemeinen finanziell günstiger da. Im übrigen gibt es auch Vollzugssysteme wie Portugal, die üblicherweise kein Arbeitsentgelt leisten. Das Ergebnis einer Umfrage aus dem Jahr 1994 verdeutlicht, daß das Entlohnungssystem für die Arbeit im Strafvollzug in den anderen europäischen Staaten dem der Bundesrepublik ähnlich ist. Eine volle tarifliche Entlohnung der Gefangenen ist auch in den übrigen europäischen Staaten allenfalls in einer dem freien Beschäftigungsverhältnis entsprechenden Arbeitsform gegeben37. Dabei gewinnt die Frage der Arbeitsvergütung Bedeutung für die Schuldentilgung38, für die Einbeziehung in die Sozialversicherung, ferner für die Bemühungen um Schadenswiedergutmachung und neuerdings im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs. Nach der bereits zitierten Umfrage ist die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung nur in wenigen Staaten vollständig erfolgt. Lediglich in Frankreich, in Rußland, der Slowakischen Republik, der Tschechischen Republik und Italien haben die Gefangenen Ansprüche aus der Arbeitslosen-, Kranken-, und Rentenversicherung. In Zypern sind Gefangene in die Rentenversicherung, in Osterreich in die Arbeitslosenversicherung, in der Schweiz in die Kranken- und Rentenversicherung einbezogen. Freizeit Im streng geregelten Vollzugsalltag gewinnt die Möglichkeit zur sinnvollen Freizeitgestaltung überragende Bedeutung. Handelt es sich hierbei doch um eine der wenigen Lebenssituationen, in denen der Inhaftierte weitgehend frei seine Persönlichkeit entfalten kann und ihm ein gewisses Maß an Eigenverantwortung eingeräumt wird. Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze betonen daher das Angebot von „outdoor"-Aktivitäten sowie sportlicher Betätigung39. Al-
3 7 So das Ergebnis einer Umfrage bei den Mitgliedsstaaten des Europarats zum Arbeitsentgelt und zur Sozialversicherung von Strafgefangenen im europäischen Vergleich, veranlaßt von der Bundesregierung und zit. nach dem Auswertungsvermerk von Juli 1994. In Polen wurde der Mindestlohn der Häftlinge 1995 auf 5 0 % des entsprechenden, in der Wirtschaft geltenden Tariflohns erhöht. Die Abzüge für die Entlassenenhilfe betragen seitdem 10% (bisher 5 % ) , vgl. dazu E. Weigend Polen. In: Strafrechtsentwicklung in Europa 5.1, hrsg. v. Eser u. a., Freiburg 1997, 606. 3 8 Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe wird die durchschnittliche Verschuldung eines Strafgefangenen mit D M 25-45.000 angegeben, vgl. ZfStrVo 1993, 174 ff. 3 9 Nr. 83 f. der E P R .
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lerdings erschöpft sich wohl der Großteil der Freizeitaktivitäten in passivem Fernsehkonsum sowie im Bestreben, „einfach in Ruhe gelassen" zu werden und die Zeit schlicht „abzusitzen". So sind Radio- und Fernsehempfang ganz überwiegend die verbreiteten Freizeitbeschäftigungen, gefolgt von sportlichen Aktivitäten, Kartenspiel und Lektüre 40 . Dennoch sollte der Empfehlung des CPT, die anläßlich des zweiten Deutschlandbesuches geäußert wurde, Aufmerksamkeit gewidmet werden, wonach sichergestellt sein sollte, daß die Gefangenen einen angemessenen Teil des Tages (d. h. mindestens acht Stunden) mit sinnvollen Beschäftigungen außerhalb der Hafträume verbringen41. Außenweltkontakte Sowohl die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze als auch das einzelstaatliche Vollzugsrecht räumen den Beziehungen der Gefangenen zur Außenwelt mit Recht hohe Bedeutung ein. Besuche, Brief- und Telefonverkehr, aber auch Vollzugslockerungen wie Ausgang und Urlaub, sowie Zeitungslektüre veranschaulichen dies, soweit der Strafvollzug nicht ohnehin in offenen Formen vollzogen wird. Regelungen und Handhabung von Besuchen, Telefonaten und Paketempfang sind nicht selten unzulänglich und dysfunktional, insbesondere bei Gefangenen mit entfernt wohnenden Angehörigen oder bei Ausländern. Das CPT hat bei seinen Besuchen in deutschen Haftanstalten mehrmals die herausragende Bedeutung von Außenweltkontakten hervorgehoben und diesbezüglich verschiedene Empfehlungen ausgesprochen42. Auch erscheint die Ausstattung der Besuchsräume und die Durchführung der Besuche nicht selten menschenunwürdig. Die Pflege der Außenweltkontakte ist jedoch trotz mancher Gefahren (Einschmuggeln von Drogen usw.) wichtig, um Bindungen aufrechtzuerhalten oder neuzubegründen sowie den gravierenden Folgen der Freiheitsentziehung entgegenzuwirken. Die negativen Wirkungen der Haft, die man allgemein als Prisonisierung bezeich40 Vgl. aber die neueren Erfahrungen in Dänemark, berichtet von Rentzmann Cornerstones in a Modern Treatment Philosophy: Normalization, Openess and Responsibility. In: Prison Information Bulletin, No. 16 (1992), 6-12 (7) zur Eigeninitiative und Selbstversorgung unter dem Begriff der „responsibility". Zu den Gefahren der sog. Prisonisierung vgl. Böhm in Schwind/Böhm Strafvolizugsgesetz. Kommentar. Berlin u. a. 1991 2 , § 3 , Rz. 12. 41 CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 34. 42 Vgl. CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2), 54 f.; CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 50.
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net, sind selbst noch in sozialtherapeutischen Milieus nachweisbar und mindern offenkundig den Resozialisierungserfolg43. Mangels überlegener Zielperspektive ist die Öffnung des Strafvollzugs schon selbst zum Ziel geworden44. Auch die europäischen Menschenrechtsorgane räumen den Kontakten zur Außenwelt, sei es mit Angehörigen, dem Verteidiger, parlamentarischen Gremien oder Einrichtungen der EMRK, einen hohen Rang ein. Gleichwohl läßt sich nicht verkennen, daß die Öffnung und Lockerung des Vollzugs durch Einrichtung offener Anstalten, Freigang und Hafturlaub in Europa, ganz ähnlich wie innerhalb Deutschlands45, höchst unterschiedlich gehandhabt werden. Ländern mit weitgehender Öffnung des Vollzugs stehen andere mit recht restriktiver Gewährung von Vollzugslockerungen gegenüber. In Dänemark und Schweden sind ungefähr die Hälfte der Anstalten nur mit fluchtverhindernden Sicherungen ausgestattet und können daher als „offener Vollzug" gelten 46 . Demgegenüber schätzt man in den alten Bundesländern den Anteil der Haftplätze im offenen Vollzug auf rund 23 Prozent und in den neuen Ländern auf nur etwa 7,7 Prozent 47 . Im ganzen scheinen Dänemark und Schweden am weitesten den Vollzug gelockert zu haben. Demgegenüber ist der offene Vollzug in Frankreich, Österreich, den Niederlanden und den osteuropäischen Staaten, obschon aufgrund unterschiedlicher Sanktionsstile, Konzeptionen und Rahmenbedingungen, nachrangig. Die Bundesrepublik nimmt wie die Schweiz eine mittlere Position ein. Immerhin hat in Deutschland die Zahl der Beurlaubungen und Ausgänge pro 100 Gefangene im Zeitraum von 1977 bis 1992 um ungefähr das Drei- bzw. Vierfache zugenommen. Allerdings sind seit 1991 bei Hafturlaub und Freigang, seit 1992 beim Ausgang rückläufige Lockerungszahlen sichtbar, die auf einer restriktiveren Haltung der Vollzugsbehörden, insbesondere aber auf einer veränderten Insassenstruktur mit einem steigenden Ausländeranteil beruhen dürften48.
43 Vgl. Ortmann Zur Evaluation der Sozialtherapie. Ergebnisse einer experimentellen Längsschnittstudie zu den Justizvollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen. ZStW 106 (1994), 782-821 (820). 44 Vgl. van Zyl Smit/Dünkel (o. Fn. 25), 734 ff. und Rentzmann (o. Fn. 40), 9 f. 45 Nach Dünkel (o. Fn. 7), 38 ff., ist in der Bundesrepublik diesbezüglich ein deutliches Ost-West- bzw. Nord-Süd-Gefälle erkennbar. 4fc Dünkel (o. Fn. 17), 40; ferner Danielsson Statistics on the Prison and Probation Systems in Denmark, Finland, Norway and Sweden 1991 and 1992. Research Paper No. 6. Norrköping 1995, 19 f. Tables 7 und 8. 47 Dünkel (ο. Fn. 17), 41; bezüglich des Jahres 1997 FAZ Nr.65 v. 18.3.1998. 48 Vgl. Dünkel (o. Fn. 7), 38.
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Überall jedoch zeigen die Erfahrungen, daß sich der gelockerte und offene Vollzug in beträchtlichem Umfang verwirklichen läßt, ohne daß Sicherheit und Generalprävention übermäßig Schaden erleiden müßten. Durch die erhebliche Ausweitung von Lockerungsmaßnahmen in Deutschland ist die Zahl der Mißbräuche jedenfalls nicht gestiegen*9. Disziplinarwesen Uberall, wo Menschen zusammenleben, insbesondere unter den Zwangsbedingungen des Strafvollzugs, ist man auf eine gewisse Ordnung und auf die Einhaltung von Regeln des Zusammenlebens angewiesen. Sofern es zu schuldhaften Verstößen gegen die Anstaltsordnung kommt, werden sie nach Maßgabe der jeweiligen Disziplinarordnungen geahndet. Auch die EPR messen der Disziplin, soweit sie zur Aufrechterhaltung des Vollzugs geboten ist, Bedeutung zu 50 . Voraussetzungen und Folgen etwaiger Disziplinarverstöße müssen jedoch klar umschrieben und anerkannt sein. Außerdem unterliegen die Disziplinarmaßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit51 . Mißhandlungen sind selbstverständlich unzulässig. Derartige Grundsätze sind europaweit nicht nur anerkannt, sondern werden auch befolgt. Bedenken können lediglich gewisse Disziplinarstrafen hervorrufen, die mit einer Isolierung und fehlender Überwachung, auch durch einen Arzt, gekoppelt sind 52 . Einige Staaten, wie etwa Schweden, erachten es nicht für erforderlich, für die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen eine gesetzliche Grundlage vorzusehen. In Belgien werden den Haftinsassen regelmäßig keine Begründungen für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen mitgeteilt. In England und Wales wurde vor zwei Jahren die Isolierung von Strafgefangenen zum Zwecke der Disziplinierung von drei Tagen auf zwei Wochen angehoben 53 . Das CPT hat ferner bei seinen beiden Besuchen in Deutschland empfohlen, im Wege des Gesetzgebungsverfahrens so schnell wie möglich den Entzug des Aufenthalts im Freien als disziplinarische Maßnahme abzuschaffen (vgl. § 103 Abs. 1 Nr. 6 StVollzG), und ei-
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Dazu Dünkel (o. Fn. 7), 41 f. Vgl. ferner v. Harling Das Risiko der Begehung von Straftaten während Vollzugslockerungen. NStZ 1997, 469-470 (470). 50 Vgl. Nr. 39 der EPR. 51 Vgl. Böhm (o. Fn. 40), § 103, Rz. 3. 52 Α Α Böhm (ο. Fn. 40), § 107, Rz. 1, 2, der die vorübergehende Vollstreckung von Einzelhaft als regelmäßig nicht gesundheitsgefährdend ansieht. 53 Nachweise bei King/Mc Dermott The State of Our Prisons. Oxford 1995,104.
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ne Weisung an die Justizvollzugsanstalten zu geben, daß bis zum Inkrafttreten der gesetzgeberischen Maßnahme kein Entzug des Aufenthaltes mehr stattfindet54. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum zweiten Besuch des CPT bestätigt, daß das 4. Änderungsgesetz zum StVollzG eine Streichung dieser Maßnahme vorsehe und auch der Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der UHaft eine solche Maßnahme nicht mehr beinhalte. Die Länderjustizverwaltungen hätten zugesichert, bereits vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung entsprechend zu verfahren55. Rechtsschutz Erwartungsgemäß ist die Frage des Rechtsschutzes in den europäischen Staaten uneinheitlich geregelt. Neben verwaltungsinterner Kontrolle (ζ. B. in Belgien, England und Frankreich) oder Uberprüfung durch unabhängige Aufsichtskommissionen (ζ. B. in den Niederlanden) und dem sogenannten Ombudsman (in Schweden, Polen und den Niederlanden) besteht auch die Zulassung rechtlicher Kontrolle (so ζ. B. in der Bundesrepublik, in Frankreich, Griechenland, Italien, Osterreich, Schweden, Slowenien, Spanien, Ungarn und den Niederlanden). Außerdem kommt die Anrufung der europäischen Menschenrechtsorgane in Betracht, insbesondere durch Zulassung der Individualbeschwerde gemäß Art. 25 EMRK, in der Praxis zahlenmäßig zum Teil mit abnehmender, jedoch qualitativ mit erheblicher „generalpräventiver" Bedeutung. Eine entsprechende Individualbeschwerde ist auch nach dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte zulässig. Jedoch ist über Funktion und Bedeutung des Rechtsbehelfs noch wenig bekannt56. Es läßt sich allerdings nicht verkennen, daß Rechtsschutzmöglichkeiten aus der Betroffenenperspektive nur begrenzt erfolgreich eingeschätzt werden57. In Deutschland geht man von Erfolgsquoten des Rechtsschutzes von etwa 1 bis 5% aus58. Vielfach scheitern die Anträge bereits an formalen Voraussetzungen, wie ζ. B. wegen eines verspäteten oder fehlenden Widerspruchs. Die psychologische Bedeutung des Rechtsschutzes und der mögliche präventive Ef-
54 CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2) 51, CPT-Report Germany (ο. Fn. 2), 56. Vgl. auch Böhm (o. Fn. 40), § 103, Rz. 4, 8; § 104, Rz. 5. 55 Interim Report of the German Government (o. Fn. 31), 117. 56 Vgl. Bank (o. Fn. 26), 35 ff. 57 Zurückhaltend für Frankreich Faugeron (o. Fn. 23), 255 f. 5 8 Vgl. Dünkel (o. Fn. 7), 31 m. N .
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fekt eines Beschwerderechts für Gefangene dürfen andererseits nicht unterschätzt werden59. Kritisiert wird vor allem die ständige Erweiterung von gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessens- und Beurteilungsspielräumen der Anstaltsleitung durch die Rechtsprechung60. Kamann kommt angesichts der dadurch angeblich bewirkten „richterlichen Selbstentmachtung" zu dem schwerlich nachvollziehbaren Ergebnis: J)as gut ausgebaute Rechtsschutzsystem im Strafvollzug konnte den Rückfall in die Zeit des behördlichen Absolutismus nicht auß>alten"61. In den letzten Jahren hat das BVerfG allerdings die Rechtsstellung von Strafgefangenen erheblich gestärkt62. Bedenklich erscheint jedoch, wenn Vollzugsbehörden die vom Gericht auferlegten Verpflichtungen nur zögerlich oder gar nicht erfüllen, was offenbar nicht selten der Fall ist . Vollzugsstab Während im europäischen Vergleich die Ausbildung des Vollzugspersonals in Deutschland günstig abschneidet64, bleibt die Ausbildung des Personals in den meisten Staaten durchweg knapp und dürftig. Nach den Wahrnehmungen des Antifolterausschusses treten die Gefahren, durch Gefängnispersonal mißhandelt zu werden, gegenüber den Gefährdungen im Polizeigewahrsam sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblich zurück. In den meisten Ländern, auch in der Türkei, gibt es insoweit keine oder nur wenige Beschwerden. Dem steht nicht entgegen, daß Einzelfälle in verschiedenen Staaten immer wieder bekannt werden. Doch eine systematische Mißhandlung ist nach den erwähnten und dokumentierten Fällen nicht erkennbar. Dies gilt auch für die Bundesrepublik - hier hielt das CPT in seinem zweiten Besuchsbericht fest, daß es keine Hinweise auf die Existenz von Folter und systematischer Mißhandlung in den besuchten Justizvollzugs- bzw. Untersuchungshaftanstalten gebe65. Auch beim ersten Deutschland-Besuch gab es diesbezüglich So zu Recht Dünkel (o. Fn. 7), 31. Vgl. ζ. B. Dünkel Die Rechtsstellung von Strafgefangenen und Möglichkeiten der rechtlichen Kontrolle von Vollzugsentscheidungen in Deutschland. GoldtA 1996, 518-538 (519 f.); ferner Kamann (o. Fn. 7), 14 f. 61 Kamann (o. Fn. 7), 15. 62 Vgl. dazu Krms/Cassardt Verfassungsrechtliche Leitsätze zum Vollzug von Strafund Untersuchungshaft NStZ 1995, 521-524, 574-579 (521 ff., 574 ff.); ferner Rotthaus Der Schutz der Grundrechte im Gefängnis. ZfStrVo 1996, 3-9 (3 ff.). 6 3 Vgl. hierzu Feest u. a. (o. Fn. 18), 118 ff. m. N . 64 Franck Report on Conditions of Detention in Council of Europe Member States. Parlamentiary Assembly Document No. 7215. Straßburg 1995, 16. 65 CPT-Report Germany (1996) (o. Fn. 2), 25. 59 60
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keine Anhaltspunkte66. Gleichwohl scheinen gewisse Konstellationen, wie etwa Gefängnisrevolten oder ein ungünstiges Klima zwischen Personal und Inhaftierten, die Gefahr von Mißhandlungen zu erhöhen. Bezüglich der Strafhaft unterstreicht das CPT die Notwendigkeit von wirksamen Beschwerdeverfahren und regelmäßigen Inspektionen durch unabhängige Persönlichkeiten. Die Forderung nach einer alles überragenden Humanität67 ist zwar gut gemeint und sicherlich erstrebenswert, könnte aber das Erreichbare einfach wegen Uberforderung des Vollzugsstabs verfehlen. Lähmung und Resignation, das „Einfrieren" der Beziehungen zu den Gefangenen auf das Unumgängliche sowie der Rückzug auf das formal Notwendige, ganz abgesehen vom gelegentlich hohen Krankenstand des Personals68 erscheinen dafür als Symptome. Ferner äußern sich die Probleme in der mangelnden Attraktivität durch mäßige Besoldung und geringes Ansehen sowie auch in den Chancen zur Rekrutierung von neuem Personal. Während europaweit das Verhältnis von Vollzugsstab zu Insassen zwischen 1:2 und 1:5 geschätzt wird, wobei allerdings Dänemark, Irland, die Niederlande, Schweden, aber auch Slowenien mit einem günstigeren Personalschlüssel herausragen69, gibt es Staaten wie Lettland und Rumänien, wo nur 17 Beamte auf 100 Gefangene entfallen. IV. Zwar mangelt es in den europäischen Staaten überwiegend an Ressourcen, an ausreichender Infrastruktur, an einer modernen Anforderungen entsprechenden Ausbildung des Personals, an sinnvoller Arbeit und konstruktiven Aktivitäten der Gefangenen sowie an kontinuierlicher Unterstützung durch Staat und Gesellschaft. Die Hauptprobleme beruhen aber nicht - von Ausnahmen abgesehen auf der Drogenproblematik70 oder auf der Gefahr körperlicher oder seelischer Mißhandlung von Gefangenen sowie des Fehlverhaltens
Vgl. CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2), 27 ff. So ζ. B. Kommer Politik und Praxis des holländischen Vollzugswesens. ZStrVo 1991,26-32 (31). 68 Vgl. Devlieghere (o. Fn. 33), 8, unter Hervorhebung des von vielen europäischen Staaten betonten hohen Betrags an Fehlzeiten des Strafvollzugspersonals. 69 Dazu van Zyl Smit/Dünkel (o. Fn. 25), 724. 70 Zur Drogenproblematik im deutschen Strafvollzug Kern Zum Ausmaß des Drogenmißbrauchs in den Justizvollzugsanstalten und den Möglichkeiten seiner Eindämmung. ZStrVo 1996, 90-92 (90 ff.). 66 67
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gegenüber HIV-infizierten Personen71. Die Schwierigkeiten liegen neben Uberfüllung und Arbeitslosigkeit vielmehr im angemessenen Umgang mit und der etwaigen Isolierung von sogenannten Gefährlichen und Fluchtverdächtigen, zum Teil auch von Ausländern und Angehörigen der Minoritäten, sowie in einer positiven Gestaltung des Strafvollzugs von Frauen und älteren Menschen. Akute oder besondere
Probleme
Eine Einzelhaft von längerer Dauer ist, so die Auffassung der Menschenrechtskommission72, abzulehnen. Eine vollständige sensorische Isolierung, die mit totaler sozialer Isolation einhergeht, kann die Persönlichkeit zerstören. Sie stellt deshalb eine Form der Behandlung dar, die weder aus Gründen der Sicherheit noch aus anderen Gesichtspunkten gerechtfertigt sein kann73. Das CPT vertritt die Auffassung, daß die Einzelhaft unter gewissen Umständen, etwa bei fortgesetzter Isolation, zu unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK führen kann74. Im Zusammenhang mit der Inhaftierung terroristischer Gewalttäter, wurde - vor allem in Deutschland - immer wieder der Vorwurf der ,/solationshaft", ja der „Isolationsfolter" erhoben. Für derartige Fälle bestehen tatsächlich gesetzlich weitgehende Möglichkeiten der Kontaktbeschränkung zum Schutze von Leben und Gesundheit des Vollzugspersonals und Dritten. Auch lehnen inhaftierte Terroristen nicht selten von sich aus den Kontakt mit ihrer Umwelt aus ideologischen oder gruppendynamischen Gründen ab 75 . Die EMRKommission hat sich bereits im Jahr 1978 mit den Haftbedingungen für Terroristen in Deutschland befaßt und einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK verneint, jedoch eine gewisse Isolierung der Inhaftierten festgestellt76. Die Isolierung von Gefangenen wird daher nur dann mit Art. 3 EMRK vereinbar sein, wenn wichtige Gründe für Vgl. dazu Hefendehl Die rechtliche Zulässigkeit der derzeitigen faktischen Behandlung von HIV-infizierten im Strafvollzug. ZStrVo 1996, 136-143. 72 EuGRZ 1990, 8 / f. 73 So EKMR, EuGRZ 1992, 588. 74 So im zweiten Generalbericht des CPT 2nd general report on the CPT's activities covering the period 1 January to 31 December 1991. Straßburg 1992, 11. 75 Vgl. Altenhain Das Grundrecht der Menschenwürde und sein Schutz im Strafvollzug. ZStrVo 1988, 156-161 (159); ferner Niebier Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug. In: FS für Zeidler. Bd. II. Berlin 1987, 1567-1590 (1585). 76 Frowein/Peukert EMRK - Kommentar. Kehl/Rh. 1985, 33 m. w. N.; zum Ganzen femer Morava Das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung des Art. 3 EMRK in der Rechtssprechung der Straßburger Instanzen zum 71
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die Beschränkung vorliegen sowie ein Mindestmaß an Informationsund Kontaktmöglichkeiten gewahrt bleibt. Zu unterscheiden hiervon ist allerdings die Absonderung von Gefangenen aus Gründen der Sicherheit, der Disziplin oder der Fürsorge. Hier ist in jedem einzelnen Fall zu entscheiden, ob sachliche Erwägungen die Absonderungen rechtfertigen. Vor allem im Hinblick auf den Fürsorgegesichtspunkt ist in der Trennung regelmäßig wohl keine unmenschliche Behandlung oder Strafe zu erblicken. Allerdings hat das CPT die Durchführung der Einzelhaft in deutschen Haftanstalten bei beiden Besuchen kritisiert. So wurde die teilweise recht lange Unterbringung in Einzelhaft ebenso bemängelt wie unzureichende Möglichkeiten, außerhalb der Zelle sinnvollen Beschäftigungen nachzugehen oder angemessene menschliche Kontakte zu pflegen. Zudem wurde die Empfehlung ausgesprochen, daß Gefangene von den Gründen für die Unterbringung in Einzelhaft künftig schriftlich unterrichtet werden sollten78. Um unüberwachte eheliche Besuche zu ermöglichen, wurden in einigen europäischen Ländern bereits zum Zwecke ungestörten Beisammenseins entsprechende Besuchs- und Übernachtungseinrichtungen geschaffen^Das CPT hat nach seinem zweiten Besuch in deutschen Haftanstalten bei der Bundesregierung eine Stellungnahme darüber erbeten, ob nicht eine bundesweite Regelung geschaffen werden könne, wonach Langzeitbesuche zur Aufrechterhaltung familiärer und persönlicher Beziehungen in speziell ausgestalteten Besuchsbereichen möglich wären80. Die Bundesregierung hat darauf verwiesen, daß Langzeitbesuchsmöglichkeiten bereits in mehreren Vollzugsanstalten verschiedener Bundesländer eingerichtet worden seien. Für eine bundesweite Ausdehnung der Langzeit-
Strafvollzug. In: Menschenrechte im Strafvollzug, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz. Wien 1998, 203-248. 77 Vgl. Böhm in Schwind/Böhm Strafvollzugsgesetz. Großkommentar. Berlin u. a. 19831, § 2, Rz. 19 mit dem Hinweis, daß durch die Absonderung für einige der gefährlichen Verurteilten das Erreichen des Vollzugszieles erschwert werde, was in Kauf genommen werden müsse. Dies sei der Preis für die bessere Verwirklichungsmöglichkeit des Vollzugsziels bei der großen Mehrheit der Insassen auch im geschlossenen Vollzug. Allerdings findet sich in der Zweitauflage (o. Fn. 40) dieser Hinweis nicht mehr. 78 CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2), 38; CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 43 ff. 79 Dazu Kerner in Kaiser/Kerner/Schöch (o. Fn. 22), 532 f.; ferner Rentzmann (o. Fn. 40) und Walmsley u. a. The National Prison Survey 1991: Main Findings, London 1992. 80 Vgl. CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 50.
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besuchsmöglichkeiten bestehe angesichts anderer Möglichkeiten der Förderung von Außenkontakten (offener Vollzug, Vollzugslockerungen) kein Bedürfnis 81 . In diesem Zusammenhang sollte auch nicht übersehen werden, daß die Begegnung in der Justizvollzugsanstalt unter Zwangsbedingungen erfolgt. Daher ist in jedem Fall darauf zu achten, daß Vorsorge gegen entwürdigende Umstände getroffen wird. Nicht ausschließlich, aber besonders unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots wirft die Inhaftierung von ausländischen Personen erhebliche Probleme auf. In den Haftanstalten der europäischen Hauptstädte oder der Großstädte mit einem internationalen Flughafen finden sich nicht selten Inhaftierte aus mehr als 50 Nationen. Die Anteile der ausländischen Insassen schwanken allerdings in den europäischen Vollzugsanstalten erheblich und bewegen sich im ganzen zwischen einem Fünftel bis zu einem Drittel der Gefangenenpopulation. Während Italien, Dänemark und Spanien mit etwa 15 Prozent sowie Portugal mit ungefähr 10 und England mit ca. 6 Prozent sich im unteren Bereich bewegen, und die Länder Ostmitteleuropas fast alle Anteile unter 3 Prozent aufweisen, liegen die Anteile in Luxemburg, Zypern und der Schweiz mit fast der Hälfte aller Insassen im Spitzenbereich 82 . Für Deutschland werden die Zahlen im Jahr 1996 mit etwa 23 Prozent angegeben 83 , ähnlich wie in Frankreich, den Niederlanden und Schweden. Bei den Untersuchungshäftlingen sind die Ausländeranteile noch höher. Sie lagen in Deutschland Anfang der neunziger Jahre bei zwei Dritteln aller Insassen. Hinzu kommt das Sonderproblem der Unterbringung von sogenannten Abschiebehäftlingen, ein Sachverhalt, der in den letzten Jahren wiederholt zu öffentlicher Kritik Anlaß gegeben hat. Der Europäische Antifolterausschuß fordert allgemein eine Unterbringung der Abschiebehäftlinge in angemessen großen, hygienisch einwandfreien Räumlichkeiten in speziellen Haftanstalten und ein ausreichendes Angebot an Freizeitaktivitäten 84 . Demzufolge kritisierte das C P T bei seinem zweiten Deutschlandbesuch, daß Abschiebehäftlinge zum Teil
81
Interim Report of the German Government (o. Fn. 31), 66. Zu den Perspektiven des Langstrafenvollzugs in Deutschland vgl. Schäfer/Sievering (Hrsg.) Strafvollzug Ende für Partnerschaft, Ehe und Familie? Frankfurt/Main 1994. 82 Vgl. Penological Information Bulletin, Nos. 19 and 20 (1994-1995), 79. 83 StaBA Strafvollzug. Fachserie 10, Reihe 4.1. Stand: 31.3.1996, 8 f. Im vergangenen Jahr hat der Anteil ausländischer Gefangener noch weiter zugenommen. 84 Vgl. CPT 7th general report (ο. Fn. 26), Rn. 29.
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noch in Justizvollzugsanstalten untergebracht sind85. Als problematisch eingeschätzt wurde außerdem das mangelhafte Angebot an Freizeitaktivitäten und die medizinische Versorgung in den besuchten Haftanstalten86. Besonders betont wird weiterhin die Wichtigkeit der Ausbildung und die Auswahl des Personals in den Abschiebehaftanstalten, da ein konfliktvermeidender Umgang mit Menschen zahlreicher verschiedener Nationalitäten spezieller Fähigkeiten bedürfe87. V. Uber den Strafvollzug in den europäischen Ländern liegen in der Gegenwart zahlreiche Beobachtungen, Berichte88 und auch Entscheidungen der europäischen Menschenrechtsorgane89 vor. Doch sie sind überwiegend zeit- und ortsgebunden und fügen sich deshalb nur mühsam zu einem aktuellen Mosaik. Erwartungsgemäß unterscheiden sich die materiellen oder physischen Bedingungen des Strafvollzugs in den europäischen Ländern. Ein relativ hohes Niveau der Unterbringung von Strafgefangenen bei durchgehender Einzelbelegung und angemessenem Zellenraum findet sich etwa nach den Besuchsberichten des CPT in den Niederlanden sowie in Dänemark, Norwegen und Schweden. Oft stehen den Gefangenen dort großzügige Gemeinschaftseinrichtungen zur Verfügung. Trotz verbreiteter Tendenzen zur Öffnung und Angleichung des Strafvollzugs an die Außenwelt kann man allerdings fragen, ob die Lockerung und Liberalität im ganzen oder die Nor-
CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 33. CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 27, 30. 87 Vgl. CPT-Report Germany (1991) (ο. Fn. 2), 23 f.; CPT-Report Germany (1996) (ο. Fn. 2), 26, 31; ferner Bank (o. Fn. 26), 231 und CPT 7th general report (ο. Fn. 26), Rn. 29. 88 Vgl. Muncie/Sparks Imprisonment: European Perspectives. N e w York 1992; van Zyl Smit/Dünkel (o. Fn. 25); Walmsley u. a. (o. Fn. 79); Μ Ott Adult Prison and Prisoners in England and Wales 1970-1982: A Review of Findings of Social Research. London 1985; Vagg Prison Systems. A Comparative Study of Accountability in England, France, Germany and the Netherlands. Oxford 1994; ferner Morgan Imprisonment: Current Concerns and a brief History since 1945. In: The Oxford Handbook of Criminology, ed. by Maguire u.a., Oxford 1997 2 , 1137-1194 (1151 ff.). 85 86
89 Vgl. ζ. Β. Reynaud Human Rights in Prison. Straßburg 1986, 52 ff.; ferner Evans/ Morgan The European Convention for the Prevention of Torture: Operational Practice. International and Comparative Law Quarterly 41 (1992), 590-614 (590 ff.), Kaiser Detention in Europe and the European Committee for the Prevention of Torture. European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 3 (1995), 2-17, sowie Bank (o. Fn. 26), und Bundesministerium der Justiz (Fn. 76).
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Günther Kaiser
malisierung für den Großteil der Vollzugsinsassen nicht selten zu Lasten einer als gefährlich geltenden Minderheit zu teuer erkauft wird 90 . Auch begegnet die allgemein angestrebte Einzelunterbringung erheblichen Schwierigkeiten dann, wenn die verfügbare Kapazität aufgrund der Übervölkerung des Strafvollzugs nicht ausreicht. Denn die Uberbelegung beeinflußt das Vollzugsregime mit all seinen Bereichen und darüber hinaus das gesamte Vollzugssystem. Vor allem in Belgien, England, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und in Rumänien erschwert eine fast extreme Uberbelegung die Durchführung eines sinnvollen Strafvollzugs. Zudem wird die Situation oft durch schlechte hygienische und sanitäre Verhältnisse verschärft. Auch bezüglich des Vollzugsregimes heben sich die skandinavischen Länder (außer Finnland) und die Niederlande positiv ab. Ein ausreichendes und konstruktives Arbeitsangebot, ζ. B. in Schweden mit etwa 40 Stunden pro Woche, wird durch sportliche Aktivitäten und Fortbildungsangebote zu einem sinnvollen Tagesablauf mit reichlich Zeit außerhalb der Zelle ergänzt. Demgegenüber lassen die Vollzugsregime in England und Frankreich weitgehend eine Tendenz zur bloßen Verwahrung erkennen. Die Arbeits- und Freizeitangebote sind völlig unzureichend, so daß viele Gefangene den Großteil des Tages in ihren Zellen verbringen müssen. Obwohl sich die europäischen Vollzugssysteme in den normativen Rahmenbedingungen beachtlich angenähert haben und auch weitgehend mit den gleichen Problemen konfrontiert werden, läßt die Vollzugswirklichkeit doch manche Unterschiede erkennen. Zu dem herkömmlichen Nord-Süd-Gefälle (mit Ausnahme von England und Irland) ist ein West-Ost-Gefälle hinzugetreten. Nicht nur geographisch liegt hier Deutschland im Mittelfeld. Wenn sich der deutsche Strafvollzug, unbeschadet der regionalen Ungleichheiten 91 , wie angedeutet im europäischen Normbereich bewegt, dann lassen sich gravierende Abweichungen nur schwerlich ausmachen. Denn die Gemeinsamkeiten der europäischen Vollzussysteme sind im Positiven wie im negativen beachtlich. Im übrigen hängt die Beantwortung der Ausgangsfrage von der Wahl der Bezugsgruppe ab und überdies wegen der Streuung der Meßkriterien auch von dem jeweiligen Aspekt. Erwartungsgemäß ist weniger gefragt und relevant, wo es im Strafvollzug schlechter als in Deutschland bestellt ist. Vielmehr können als Maßstab und Refe-
90 91
Hierauf weisen van Zyl Smit/Dünkel Vgl. Dünkel (o. Fn. 7), 38 ff.
(o. Fn. 25), 738, hin.
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renzgruppe eigentlich nur die Vollzugsmodelle mit Vorbildfunktion dienen wie jene Skandinaviens und der Niederlande. Allerdings darf man dabei die Kehrseite der Medaille nicht völlig ausblenden, nämlich Verbrechensentwicklung und Kriminalitätsbelastung, selbst wenn man den präventiven Einfluß des Strafvollzugs auf die Verbrechenssituation nur äußerst zurückhaltend einschätzt. 1) Gravierende Abweichungen des deutschen Strafvollzugs von den übrigen europäischen Vollzugssystemen liegen in positiver Hinsicht in der Verrechtlichung und auch in der Solidität der Ausbildung. Demgemäß kann den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen kaum ein Zugewinn entnommen werden. Auch im Fehlen der Einrichtung des Ombudsmannes kann kein Mangel des deutschen Systems gesehen werden92. Die Fülle der Rechtsbehelfe und Rechtswege reicht zur Kontrolle und Verhinderung von Mißbräuchen völlig aus. Dem steht nicht entgegen, daß nur ein kleiner Teil aller Beschwerden von Erfolg gekrönt zu sein scheint. 2) Als gravierende Abweichung negativer Art wird man im deutschen Strafvollzug die noch unzureichende Öffnung im Sinne einer experimentellen Normalisierung sowie vor allem in der fehlenden Einbeziehung der Strafgefangenen in das Netz der Sozialversicherung beurteilen müssen. Außerdem kann die Handhabung der Abschiebehaft nicht befriedigen, wobei dies nicht nur für Deutschland zutrifft, sondern genauso für Frankreich und weitere Staaten. 3) Als im europäischen Normbereich befindlich wird man die partielle Uberbelegung, die lückenhafte Trennung von Strafgefangenen und Untersuchungshäftlingen, das Vollzugsregime, die Handhabung der Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen sowie den Frauen-, Jugend- und Maßregelvollzug trotz gelegentlicher Ausreißer einschätzen können. Zwar ist nominell das Arbeitsentgelt in Deutschland vergleichsweise geringer als in Italien oder Osterreich. Auch wäre eine höhere Entlohnung unter Einbeziehung in das Bruttolohnsystem empfehlenswert. Doch „unter dem Strich" verfügen die Strafgefangenen in Deutschland kaum über weniger Geldmittel als etwa in Osterreich. 4) Soweit der ausländische Vollzug experimentierfreudiger ist, etwa bezüglich der Abgabe von Spritzen an Drogenabhängi-
92
Anders dagegen
Feest u .a.
(o. Fn. 18), 201 ff.
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ge, der Privatisierung von Vollzugsanstalten93, der Einführung elektronisch überwachten Hausarrests 94 , kann durchaus von gravierenden Abweichungen gesprochen werden. Die abwartende Haltung Deutschlands muß man jedoch gegenwärtig noch nicht als negativ einschätzen. 5) Insgesamt betrachtet finden sich erhebliche Abweichungen weniger in der rechtlichen Ausgestaltung oder in den zu bewältigenden Problemen, ferner nicht in der repressiveren Strafjustiz. Sie liegen vielmehr und vor allem in den Begleiterscheinungen des politischen Wandels und des Modernisierungsschuhes seit 1989 sowie in dem Mangelan sozialrechtlicher Absicherung. Da die Justiz seit langem und zunehmend von Alternativen zur Freiheitsstrafe Gebrauch macht und die sogenannten Diversionsmöglichkeiten, also die Vermeidung einer förmlichen Verurteilung, fast bis zur Grenze ausschöpft, bestehen kaum realistische Möglichkeiten, über die bisherige Sanktionspolitik mit der Favorisierung ambulanter Sanktionen noch hinauszugehen. Eine Ausnahme könnte jedoch für den Austausch von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit in Betracht kommen 95 . Verglichen mit den benachbarten Straf- und Vollzugssystemen Englands, Frankreichs, Italiens, Österreichs und der Schweiz kann sich das deutsche System sehen lassen. Die Gefangenenraten sind in den erwähnten Vergleichsstaaten entweder gleich hoch oder sogar höher. Im übrigen ist aufgrund der geographischen Mittellage das Gefährdungspotential in Deutschland in mancher Hinsicht größer als jenes in benachbarten Staaten. Doch die fortbestehenden Gebrechen oder wiederaufgebrochenen Mängel erinnern daran, daß die weitere Erneuerung des Strafvollzuges geboten ist, wenn man Rückschritte verhindern will.
93 Siehe dazu Ryan Prison Privatization in Europe. Overcrowded Times Vol. 2, N o . 2 (1996), 1,16-18. 94 Zum Modellversuch in Schweden vgl. Bishop Intensive Supervision with Electronic Monitoring: a Swedish Alternative to Imprisonment. In: Penological Information Bulletin, N o s . 19 and 20. (1994-1995), 8-10 (8 ff.). 95 Vgl. hierzu Dünkel (o. Fn. 7), 35, 53 m. N .
Europäische Kriminalpolitik auf der Grundlage der Menschenrechtskonvention - die European Rules P E T E R BEST
Die aktuelle kriminalpolitische Diskussion im internationalen Rahmen befaßt sich in zunehmendem Maße mit der Frage, wie vorhandene Ressourcen wirkungsvoll und effizient eingesetzt werden können, damit trotz des wachsenden Kapazitätsdrucks der gesetzliche Auftrag noch angemessen bewältigt werden kann. Kapazitätsprobleme, organisatorische und bauliche Strukturfragen, personelle und finanzielle Führungs- und Steuerungskonzepte sowie Fragen zu Qualitätsstandards im Sicherheitsbereich und bei der Betreuung der Gefangenen, aber auch die Alternativen zum Freiheitsentzug sind Orientierungspunkte bei der Suche nach Lösungsstrategien. Anlaß ist der hohe Handlungsbedarf in der Praxis. International zu beobachtende Veränderungen in den sozialpolitischen und auch kriminalpolitischen Anforderungsprofilen haben den Vollzug einem tiefgreifendem Strukturwandel ausgesetzt. Seit jeher ist der Justizvollzug das Spiegelbild gesellschaftlicher Probleme gewesen. Seit Anfang der 90er Jahre wird der Vollzug im In- und Ausland aber mit gesellschaftlichen Umbrüchen und Verwerfungen konfrontiert, die eine neue Dimension erreicht haben. Dazu gehören massive wirtschaftliche Veränderungen, hohe Arbeitslosenquoten, grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen von Osten nach Westen, die fortschreitende Entfremdung von Staat und Gesellschaft und damit die zunehmende Desintegration von Problemgruppen. Steigende Kriminalität, Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitsdefizite, akute Suchtgefährdung, wachsende Gewaltbereitschaft und allgemeine Perspektivlosigkeit kennzeichnen das neue Gefährdungspotential, zu dem auch junge Ausländer gehören. Auf der Suche nach Lösungswegen, um steigender Kriminalität und wachsender Kriminalitätsfurcht bei der Bevölkerung zu be-
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gegnen, kann ein internationaler Austausch1 von Praxiserfahrungen hilfreich sein. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Bereitschaft, sich auch mit kriminalpolitischen Strategien zu befassen, die bisher im deutschen Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Strafvollzugsrecht keine Rechtsgrundlage haben. Die Auseinandersetzung mit Kriminalität, die in vielfacher Weise in soziale Kontexte eingebunden ist, kann mit den Mitteln des Strafrechts allein ohnehin nicht geleistet werden. Kriminalpolitik befaßt sich bekanntlich umfassend mit den Fragen, welches Verhalten als strafwürdig anzusehen ist, in welcher Weise Strafverfolgung betrieben, mit welchen Sanktionen Straftaten belegt und wie Straftäter behandelt werden sollen. Ein „grenzüberschreitender Blick" auf die Praxis unserer Nachbarstaaten zeigt, daß man eine Vielzahl neuer Sanktionen und Maßnahmen entwickelt hat, die zum Schutz der Gesellschaft auf die Verhinderung und Bekämpfung von Kriminalität gerichtet sind. Kriminalpolitik hat sich zum Ziel gesetzt, sowohl die sozialpolitischen als auch kriminalpolitischen Anforderungsprofile gemeinsam im Blickfeld zu haben. Anlaß ist der hohe Handlungsbedarf in der Praxis. Im In- und Ausland ist ein tiefgreifender Strukturwandel in der Gesellschaft zu beobachten (zunehmende Komplexität, Dynamik, Anonymisierung, Abbau sozialer Kontakte und Beziehungen, Orientierungsunsicherheit und Wertverlust, Fehlen von Zukunftsperspektiven u.a.), der von gestiegenen Anforderungen an Flexibilität und leistungsbezogener Mobilität in Schule, Arbeitsfeld und Gesellschaft begleitet wird. Die zunehmende grenzüberschreitende „soziale Unordnung" der Problemlagen in Europa erfordert dies. Gemeinsame sozialpolitische und kriminalpolitische Suchbewegungen in den westeuropäischen Staaten können die geeignete Methode der Gegensteuerung sein. Trotz unterschiedlicher justitieller Rahmenbedingungen ist bereits vieles auf europäischer Ebene in Bewegung geraten. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielfältiger, aber auch unübersichtlicher geworden. Es erscheint wenig hilfreich, aus dem jeweiligen Blickwinkel eines jeden Staates eigene Handlungsstrategien zu formen, die dann schnell an ihre Grenzen stoßen. Aussichtsreicher könnten Konzepte des abgestimmten Vorgehens auf transnationaler Ebene sein. Solche Netzwerke der Zusammenarbeit sind gut geeig-
1 Zur historischen Entwicklung vgl. den Hinweis von Kaiser auf die internationalen Bestandsaufnahmen von Howard und Wagnitz im 18. Jahrhundert sowie die internationalen Gefängniskongresse seit Mitte des 19. Jahrhunderts bei Kaiser, G.: Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive in dieser Festschrift, s. S. 25 ff.
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net, kriminalpolitische Anforderungsprofile neu zu bestimmen und gemeinsam länderübergreifend zu erproben. Transnationale Zusammenarbeit vermittelt nicht nur Anregungen, sondern ist zugleich das Fundament für einen Transfer von Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis. Im Mittelpunkt einer solchen transnationalen Feldentwicklung2 steht die Frage, ob die Kriminalität auch aus Sicht der Bevölkerung wirksam bekämpft werden kann und welche Sanktionen zur Anwendung gelangen sollen. Hierbei handelt es sich um eine höchst schwierige Gratwanderung, einen angemessenen Ausgleich herzustellen zwischen dem gesetzlichen Auftrag zur Wiedereingliederung und dem allgemeinen Schutzbedürfnis der Bevölkerung vor weiterer Kriminalität. Zur Bekämpfung der Kriminalität hat der Europarat3 in Straßburg als zwischenstaatliche europäische Organisation, der 40 Mitgliedsstaaten angehören, gemeinsame Grundsätze über die Strafrechtspolitik und die Behandlung von Straffälligen erlassen. Dazu gehören die vom Ministerkomitee des Europarats beschlossenen Europäischen Strafvollzugsgrundsätze sowie die Europäischen Grundsätze für nicht freiheitsentziehende Sanktionen und Maßnahmen. Im Bereich des Europarats werden die genannten Themenbereiche in den Ausschüssen des Strafrechtslenkungsausschusses (CDPC) und in dessen Unterausschuß für vollzugliche Zusammenarbeit (PC-CP) vorbereitet. Der Strafrechtslenkungsausschuß setzt sich aus Vertretern der Regierungen aller Mitgliedsstaaten auf Fachebene zusammen und beschließt über laufende und zukünftige Aktivitäten der zugeordneten Fachgremien. Für die Bundesrepublik erfolgt die Vertretung durch das Bundesministerium der Justiz. Der Unterausschuß für strafvollzugliche Zusammenarbeit setzt sich aus 7, als Personen gewählten, Mitgliedern aus dem Bereich des Strafvollzuges und der Bewährungshilfe zusammen. Aus der Bundesrepublik Deutschland ist seit Juni 1996 der Verfasser dieses Beitrags Mitglied. Die übrigen Mitglieder kommen aus Schweden, Italien, Polen, Großbritannien, Slowenien und den Niederlanden. Der Ausschuß PC-CP begleitet und überprüft z.B. alle Projekte, die vom Strafrechtslenkungsausschuß gefördert werden und gibt Anregungen für weitere Tätigkeit auf dem Gebiet des Strafvollzuges 2 Vgl. etwa Best, P.: Europäische Kriminalpolitik, in Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (ZfStrVo 1997), S. 259 ff., S. 264 zu den transnationalen Kontakten zwischen der niedersächsischen Justizverwaltung und westeuropäischen Staaten 3 Council of Europe, Europarat: Funktion und Arbeitsweise (Deutsche Fassung), Strasbourg 1996
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und der Vollstreckung nicht freiheitsentziehender Maßnahmen. Für bestimmte Arbeitsaufträge können bei Bedarf Expertenausschüsse eingerichtet werden. Der Unterausschuß P C - C P befaßt sich z.Zt. mit dem Schwerpunktthema „Uberbelegung des Strafvollzuges und Möglichkeiten der Haftvermeidung und Haftreduzierung". Ausgangspunkt ist der europaweit zu beobachtende starke Belegungsanstieg, der aber bemerkenswerte Unterschiede in den Gefangenenraten (pro 100.000 der Wohnbevölkerung) aufweist (Stand: 1. September 1997):4 Bundesrepublik: Niederlande: Belgien: Osterreich: Dänemark: Schweden: Finnland: Norwegen: Frankreich: England und Wales: Schweiz: Spanien: Portugal:
90.0 87.0 82.0 86.0 62.0 59.0 56.0 53.0 90.0 120.0 88.0 113.0 145.0
Sehr hohe Gefangenenraten ergeben sich für die osteuropäischen Mitgliedstaaten (z.B. Tschechien 209.0; Rumänien 197.0; Litauen 365.0; Lettland 407.0; Estland 300.0 und Rußland 713.0). Weil auch die Gefangenenrate der USA bei 600.0 liegt, sind die o.g. Gremien des Europarats z.Zt. mit Nachdruck bemüht, das Thema „Gefängnispopulation in Europa und Nordamerika - Probleme und Lösungen" umfassend anzugehen. Der Europarat befaßt sich u.a. mit Themen wie Gefangenenbestand und -bewegung, Mechanismen zur Regulierung der Gefängnispopulation, Gefängnismanagement, öffentliche Meinung und Medien, u.a.. Ziel ist es, dem derzeitigen kriminalpolitischen Konzept der USA „lock them up" entgegenzusteuern. Der Gebrauch der Gefängnisstrafe hat sich in den USA im Verlauf der letzten 10 Jahre mehr als verdoppelt. Der Anstieg ist dabei weit stärker als dies nach der Kriminalitätsentwicklung des Landes zu erwarten wäre. Der Boom an Gefängnisneubauten ist Folge eines stark angewachsenen punitiven Kurses. Mit
4 Council of Europe. SPACE: Statistiques penales annuelles du Conseil de Γ Europe. Enquete 1997, Stand: 14.10.1998
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den auf Bundes- und Landesebene verabschiedeten „three strikes and you are out" Regelungen5 hat diese Entwicklung in den USA ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der Ausbau des Gefängniswesens hat dort eine nicht zu unterschätzende Eigendynamik entfaltet. Man befürchtet, daß mit dem „correctional industrial complex" verbundenen Netzwerk die Nachfrage nach weiteren Gefängnisneubauten steigt und damit eine kriminalpolitische Kurskorrektur auch in Zukunft kaum möglich sein wird. Es gibt Hinweise, daß amerikanische Sicherheitskonzerne auch in West-, Mittel- und Osteuropa einen Absatzmarkt für ihre Produkte akquirieren wollen. Aus dieser länderübergreifenden Sichtweise, die die Ausschussarbeit beim Europarat ermöglicht, schärft sich der Blick auf die Aspekte von Menschenrechten und Menschenwürde im Umgang mit Straffälligen. Denn der im Jahre 1949 gegründete Europarat umfaßt 40 Mitgliedsstaaten, darunter 16 mittel- und osteuropäische Staaten. Die Mitgliedschaft setzt voraus, daß der jeweilige Staat das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit akzeptiert und seinen Bürgern die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert. Die Ziele des Europarats sind:6 • Schutz der Menschenrechte und der pluralistischen Demokratie, • Förderung des Bewußtseins für eine gemeinsame kulturelle Identität der Europäer, • Suche nach Lösungen für die großen gesellschaftlichen Probleme (z.B. Kriminalität) • Hilfeleistung bei dem politischen, gesetzgeberischen und verfassungsrechtlichen Reformen in den Ländern Mittel- und Osteuropas durch verschiedene Kooperationsprogramme auf europäischer Ebene. Das Ende der europäischen Spaltung und der Umbruch in den Ländern Mittel- und Osteuropas seit 1989 haben dem Europarat ermöglicht, seine gesamteuropäische Aufgabe wahrzunehmen und
5 Vgl. Grasberger, U.: „Three Strikes and You Are Out". Zu neuen Strafzumessungsgrundsätzen bei Wiederholungstätern, in: ZStW 110 (1998) Heft 3 S. 796 ff.; vgl. dazu auch die Aktivitäten des HEUNI- Instituts in Helsinki mit aktuellen Analysen, Tagungs- und Projektberichten und Literaturhinweisen, vgl. H E U N I NEWSLETTER, The Newsletter of the European Institute for Crime Prevention and Control, affiliated with the United Nations, hrsg. von Matti Joutsen, Helsinki (Internet: http://ww. vn.fi/om/heuni). 6 Council of Europe·. Europa 40 +, Elektronische Zeitung des Europarats (deutsche Fassung) Vol. II, Ausgabe 8 Sept./Okt. 1998: http://www.fr/europa 40
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neue Demokratien für seine Prinzipien zu gewinnen. Dies aber ist ein mühsamer und langwieriger Entwicklungsprozess. Kernstück dieser Strategie ist die vom Europarat ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention7, die am 4. November 1950 als erstes internationales Rechtsinstrument zum effektiven Schutz der Menschenrechte unterzeichnet wurde. Als internationaler Vertrag schützt diese Konvention individuelle Rechte und Freiheiten und verpflichtet die Staaten, diese Rechte allen Menschen, die ihrer Herrschaftsgewalt unterliegen, zu garantieren. Darüber hinaus schafft die Konvention ein internationales Schutzsystem, das nicht nur den Staaten sondern unter bestimmten Bedingungen auch den einzelnen Bürgern erlaubt, die Kontrollinstanzen in Straßburg im Falle einer Konventionsverletzung anzurufen. Die E M R K ist eine Art gemeinsame Verfassung für 40 Staaten vom Atlantik bis zum Pazifik, von Rußland bis Andorra. Die Zunahme der Beschwerden (ca. 35.000 Beschwerden seit 1950, 4.700 im vergangenen Jahr), ihre größere Komplexität sowie die wachsende Zahl von Mitgliedsstaaten des Europarats haben eine Revision der Konvention notwendig gemacht. Bisher wurden die Beschwerden von der vorgeschalteten Europäischen Kommission für Menschenrechte geprüft, die die Problemfälle entweder an das Richterkollegium des Menschengerichtshofs oder an das Ministerkomitee überwies. Seit dem 3. November 1998 ist in Straßburg der neue, ständige Gerichtshof für Menschenrechte eingerichtet, der aus 40 hauptberuflichen Richterinnen und Richtern aus 40 verschiedenen Ländern besteht. Das neue System soll den gerichtsförmigen Charakter des Systems verstärken, den Mechanismus für Individualpersonen leichter erreichbar machen, das Verfahren beschleunigen und dadurch eine größere Effizienz erzielen. Eine vorgeschaltete Sachentscheidungsbefugnis durch das Ministerkomitee oder eine Kommission gibt es nicht mehr. Die Kommission wird aber die unter dem bisherigen System für zulässig erklärten Fälle für den Zeitraum von einem Jahr weiterbearbeiten. Dagegen werden alle neue Fälle ab sofort vom neuen Gerichtshof behandelt. Ein richterlicher Dreierausschuß wird für die Zulässigkeit der Beschwerden zuständig sein. Weitaus die meisten Fälle werden aus einer aus 7 Richtern bestehenden Kammer verhandelt. Nur ganz wichtige Ausnahmefälle werden vor einer aus 17 Richtern bestehenden große Kammer gelangen.
7 Council of Europe, Die Europäische Menschenrechtskonvention. Informationsbroschüre in deutscher Fassung, Straßbourg 1996
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Der neue Gerichtshof ist somit eine Art europäisches Verfassungsgericht. Die Menschenrechts-Charta des Europarats gilt in der Europäischen Union als Grundrechts-Katalog und ersetzt das, was die Mitgliedsstaaten für die Europäische Union noch nicht zustande gebracht haben. Der Gerichtshof billigt aber den Mitgliedsstaaten einen Beurteilungsspielraum in Menschenrechtsfragen zu. Dies ist unumgänglich, wenn künftig mehr als 800 Millionen Menschen die Klagemöglichkeit in Straßburg eröffnet werde. Eine starke Zunahme erwartet man sich insbesondere von Individualbeschwerden, die sich auch mit den Haftbedingungen und den Rechtsschutzsystemen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten befassen. Ein großer Ansturm wird insbesondere aus solchen Ländern erwartet, die über keine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen. Der Europarat leistet z.Z. beim Aufbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit und bei der Wahl unabhängiger Richter in Osteuropa wichtige praktische Hilfe. Dieses Ziel wird aus Sicht des Europarats gerade in Rußland weiter zu betreiben sein, bei dem es sich nicht nur um einen Staat sondern um einen „Kontinent" mit 170 Millionen Einwohnern und über 1000 Haftanstalten größeren Umfangs handelt. Der Schutz der Grundrechte bleibt in erster Linie Aufgabe nationaler Gerichte. Wer in seiner Heimat alle Rechtsmittel ausgeschöpft hat, kann sich direkt an den Gerichtshof wenden. Es wird aufmerksam zu beobachten sein, ob das neue System nicht sehr bald an seine eigenen Grenzen stößt. Für die Bundesrepublik ergibt sich ein wichtiger Hinweis aus dem durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (4. StVollzGÄndG) geänderten § 29 Abs. 2 StVollzG, der die Überwachung des Schriftwechsels regelt. Der geänderte Absatz 2 nimmt nunmehr auch die Schreiben an das Europäische Parlament und dessen Mitglieder, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, an den Europäischen Ausschuß zur Verhütung von Folter u.a. (CPT) ausdrücklich von der Überwachung durch die Justizvollzugsanstalt aus. Dies ist folgerichtig, da die einzelnen Beschwerdeführer nach der EMRK das Recht haben, ihren Fall dem Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen. Das Gesetz berücksichtigt damit die gesteigerte Bedeutung dieser Organe und Einrichtungen in einem zusammenwachsenden Europa. Ein weiteres Teilstück in diesem Netzwerk ist der „Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder er-
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niedrigender Behandlung oder Strafe" (CPTf, der seinen Sitz ebenfalls beim Europarat in Straßburg hat. Er wurde im September 1989 von den Mitgliedstaaten des Rates durch den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages gegründet und ist weltweit das erste multinationale Gremium von Inspektoren, die das Recht auf unangekündigte Kontrollen aller freiheitsentziehenden Einrichtungen in den Staaten haben, die die europäischen Konvention gegen Folter einschließlich der Protokolle ratifiziert haben. Der Ausschuß besteht derzeit aus 39 auf Zeit gewählten Mitgliedern. Kein Land ist doppelt vertreten. Die Mitglieder kommen aus unterschiedlichen Bereichen, es sind Rechtsanwälte, Personen mit Parlamentserfahrung, Arzte, darunter Psychiater, Wissenschaftler und Vollzugsexperten. Ihr Status ist unabhängig, sie sind keinerlei Weisungen von irgendeiner Regierung unterworfen. Die Mitglieder bilden Delegationen, um die Einrichtungen in den Ländern periodisch zu besuchen. Die Einrichtungen werden vom Ausschuß auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Informationen frei ausgewählt. Die Delegationen untersuchen die Lebensbedingungen an den besuchten Orten und sprechen mit den dort Inhaftierten in Abwesenheit jeglicher Zeugen. Neben den Gesprächen mit der Leitung und dem Personal der besuchten Einrichtungen können auch Anwälte, Hausärzte, Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwandte der Inhaftierten befragt werden. Bei den besuchten Einrichtungen handelt es sich nicht nur um Vollzugsanstalten, sondern auch um Polizeireviere, psychiatrische Krankenhäuser, Militärkasernen und Einrichtungen der Abschiebungshaft bzw. des Abschiebungsgewahrsams im Bereich von Flughäfen. Schwerpunkte sind die Gesundheitsfürsorge, die baulichen und sanitären Verhältnisse, die konkreten Haftbedingungen, Maßnahmen der Betreuung und Behandlung und auch der Personaleinsatz. Die besondere Aufmerksamkeit gilt auch neben der Uberfüllung der Einrichtungen der Arbeitslosigkeit der Inhaftierten, dem angemessenen Umgang mit und der etwaigen Isolierung von sog. Gefährlichen und Fluchtverdächtigen sowie dem Umgang mit Ausländern und Angehörigen von Minoritäten, Frauen und älteren Menschen. Der Ausschuß stellt seine Beobachtungen und Erkenntnisse in Berichten9 zusammen, die auch Empfehlungen zur Verbesserung 8 Council of Europe, European Committee for the Prevention of Torture and inhuman or degrading Treatment or Punishment (CPT), 8 th General Report 1. Jan. to 31 Dec. 1997 - CPT/Inf (98) 12 - Strasbourg 1998 - (Internet: http:// www.cpt.coe.fr.). 9 Zur Auswertung der Besuche des C P T in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1991 und 1996 vgl. den Beitrag von Kaiser ( F N 1) in diesem Band
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des Schutzes der Inhaftierten enthalten. Nach Vorlage der Berichte der nationalen Verwaltungen können weitere Besuche durchgeführt werden, um die Umsetzung der Empfehlungen zu überprüfen. Soweit sich Mitgliedstaaten weigern, die Empfehlungen umzusetzen, kann der Ausschuß die Abgabe einer öffentlichen Erklärung beschliessen. Auch diese Möglichkeit trägt nachhaltig zu den Bemühungen der Mitgliedstaaten bei, die Empfehlungen rasch umzusetzen. Man würde die Arbeit dieses europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe völlig mißverstehen, wollte man sich nur auf den Aspekt der puren Kontrolle beschränken. Der C P T bietet vielmehr die Chance, mittels seiner Arbeitsweise in Form von gemischten Delegationen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Berufssparten grenzüberschreitende Einblicke und Anregungen zu vermitteln. Dadurch werden Impulse freigesetzt, die oft aus der Sicht des eigenen Landes keine Vorstellungskraft entfalten können. Solche gemischte Teams dagegen, die neben der formellen auch eine sehr starke informelle Form der Zusammengehörigkeit aufweisen, zeichnen sich durch ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität auch im Umgang mit den üblichen Alltagsproblemen aus. Ein Beispiel für eine andere Akzentsetzung in der Betreuung und Behandlung von Gefangenen könnte die auf den ersten Blick banal klingende Empfehlung des CPT sein, im deutschen Vollzug die Gefangenen für einen angemessenen Teil des Tages von mindestens 8 Stunden mit sinnvollen Beschäftigungen außerhalb der Hafträume anzuleiten. Darunter sind „out-oi-cell-„-Aktivitäten zu verstehen, die einen Gegensatz zum bloßen „Absitzen" mit Konsum von Radio- und Fernsehempfang bilden. Die europäischen Strafvollzugsgrundsätze betonen diese vollzugliche Ausrichtung sehr stark, um den Gefangenen in Auseinandersetzung mit seinen strafbaren Handlungen zur Einübung von Eigenverantwortung anzuhalten. Diese Strategie der Aktivierung 10 ist ein Grundmerkmal europäischer Kriminalpolitik, und zwar im ambulanten wie auch stationären Bereich.
10 Best, P.: Keeping prisoners active in an increasingly difficult economic environment, in: Council of Europe, 12 th Conference of Directors of Prison Administration (CDAP) 26-28 November 1997, Proceedings, Strasbourg 1999 (im Druck); grundlegend für das deutsche Strafvollzugsrecht Böhm, A. Strafvollzug 2. Aufl. Frankfurt/ M. 1986, S. 108 ff., 129 mit Empfehlungen, wie durch aktive Vollzugsgestaltung der Unselbständigkeit, Passivität und Totalversorgung entgegengesteuert werden kann.
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Die Aktivierung von Bürgern und Verwaltung steht dabei im Mittelpunkt des Diskurses über ein modernes Staatsverständnis: In Abkehr eines traditionellen Versorgungssystems sind partizipatorische Bezüge zu stärken. Im Vordergrund steht das Konzept der chancenorientierten Behandlung. Wer Vorteile in Anspruch nimmt, muß die aktive Mitarbeit unter Beweis stellen. Motivationsaufbau und Motivationskontrolle müssen in gleicher Gewichtung erfolgen. Die Leitidee von Leistung und Gegenleistung bestimmen die Gestaltung der Angebote. Rasche Reaktion und konsequenter Umgang bei Nichteinhaltung der Zielvereinbarungen prägen den Stil einer aktivierenden Zusammenarbeit zwischen den Parteien. Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze11 vom 12.02.1987 stellen eine Empfehlung an die Regierung der Mitgliedstaaten des Europarats dar, sich in der Gesetzgebung und der Praxis von den Grundsätzen leiten zu lassen; sie wenden sich jedoch nicht an die unmittelbar Betroffenen und begründen keine subjektiven Rechte und Pflichten. Dessen ungeachtet liegt die moralische Kraft der europäischen Strafvollzugsgrundsätze darin, dass sie über internationale Grenzen hinweg gemeinsame Erfahrungen der Strafvollzugsverwaltung und gemeinsame Vorstellungen über einen zeitgemäßen und menschlichen Strafvollzug zusammenfassen und den Impuls für laufende Verbesserungen geben. Diese Strafvollzugsgrundsätze werden derzeit als Standards bei der Analysebewertung und dem Umbau der Strafvollzugssysteme in Mittel- und Osteuropa herangezogen. Die Berichte des Europarats über die Vollzugssituation in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die Ukraine, Armeninien, Bosnien und Herzogwina usw. sind ein Beispiel hierfür. Die über mehrere Wochen/ Monate vor Ort von einer internationalen Gruppe von Vollzugsexperten recherchierten Berichte enthalten jeweils Empfehlungen, die sich an den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen ausrichten. Die Vorschläge zur Umgestaltung der Systeme sind kurzfristig, mittelfristig und langfristig abgestuft und damit der Ausgangspunkt für gemeinsame Aktivitäten im Rahmen von sog. Zwillingsprojekten zwischen einzelnen Ländern12. Methodischer Ausgangspunkt
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Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Heidelberg 1988 vgl. die folgende Berichte des Europarats: Counril of Europe - Themis Plan, Project 4 (Prisons): Latvia. The Lakes/Rostad Report. Strasbourg 1994 - Assessment of the Ukrainian Prison System. Report on Expert Missions to Ukraine in June and August 1996: The Lakes/Flügge/Philip/Nestorovic Report.
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sind neben gegenseitigen Besuchen Seminare und Konferenzen mit Richtern, Staatsanwälten, Vollzugsbediensteten, Anwälten und Parlamentariern, um mit viel Basisarbeit schrittweise den Umbau auf europäische Standards vorzubereiten. Dies ist ein äußerst mühsamer Prozess, der von kleinen Erfolgen aber auch von Mißerfolgen begleitet wird. Traditionelle „Sachzwänge" und administrative Strukturen können sich hierbei neben den fehlenden Haushaltsmitteln sehr störend auswirken. Es sind die Unsicherheiten, die diesen Angleichungsprozeß so erschweren, dessen größte Gefahr darin besteht, europäische Strukturen „von oben herab" diesen Staaten zu verordnen. Auch äußerlich geschaffene Fakten stehen nicht immer im Einklang mit der inneren Bewußtseinslage. Im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit haben wir da sicherlich unsere eigenen Erfahrungen. Diese erleichtern aber den Umgang mit unseren osteuropäischen Staaten, der in vielen Fällen von einer Wettbewerbsstimmung geprägt ist. Denn die Aufbauhilfe ist zugleich auch der Wettlauf um Rechtssysteme, um den Aufbau eines Beratermarktes und die Schlagkräftigkeit von international operierenden Anwaltsfirmen. Es läßt sich spannend beobachten, welche Anziehungskraft auch das Feld der Kriminalpolitik in diesem dynamischen Wechselprozeß hat. Und ganz spannend wird die Frage sein, wann und wie sich Rußland dieser Entwicklung öffnen wird nach einem ersten Partnerschaftskontakt, an dem für die Bundesrepublik Deutschland das Land Nordrhein-Westfalen vertreten ist. Eine vom Europarat eingerichtete Lenkungsgruppe ist derzeit bemüht, bei der Umressortierung von Strafjustiz, Strafrechtspflege und Strafvollzug vom Innen- zum Justizressort unterstützend mitzuwirken. Die Kernfrage wird aber für Rußland sein, wie das Verhältnis zwischen Zentralregierung und den Regionen (z.B. im Rahmen einer angenäherten föderalistischen Struktur) bestimmt werden kann.
- Themis Plan, Project 4 (Prisons): Bosnia and Herzogvina. The Walmsley/Kriznik Report. Strasbourg 1998 - Themis Plan, Project 4 (Prisons): Armenia: The Barclay/Preusker Report Strasbourg 1998 Das ,Nord-Balt-Prison' -Projekt (Estland, Lettland, Lithauen) wird mit hoher finanzieller und personeller Unterstützung durch die skandinavischen Länder durchgeführt. Italien bildet eine Partnerschaft mit Albanien, Deutschland mit Ukraine (Berlin) und Rußland (auf regionaler Ebene: Nordrhein-Westfalen). Lammich, S.: Das neue Strafvollzugsrecht in Rußland in: ZfStrVO 1997, S. 266 ff. Council of Europe, Prison overcrowding in central and eastern Europe. Case-studies on the prison systems of Hungary, Latvia, Romania and Russia by R. Walmsley, Strasbourg 1998
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Nach der vollzugsorientierten Einstiegsphase richtet sich die Aufmerksamkeit in Mittel- und Osteuropa verstärkt auf die Schaffung jeweils eigenständiger gesetzlicher Grundlagen von Strafrecht, Strafprozeßrecht und Strafvollzugsrecht. Das Anliegen ist es, den monolithischen Block des Freiheitsentzuges als Sanktion Nr. 1. abzufedern durch entsprechende gesetzlich vorgesehene Alternativen zum Freiheitsentzug. Dementsprechend breit angelegt ist der Katalog der Maßnahmen. Diese befassen sich mit der Abgrenzung von Strafrecht und Verwaltungsunrecht, der Trennung zwischen Anklagebehörde und Gericht, den erweiterten Einstellungsmöglichkeiten innerhalb der Staatsanwaltschaft, der Art der Sanktion einschl. der gemeinnützigen Arbeit als eigenständiger Sanktion, der Einführung der Strafaussetzung bzw. Strafrestaussetzung zur Bewährung, dem Aufbau der Bewährungshilfe und der Haftentlassenenhilfe, um nur einige der Fragestellungen zu nennen. Immer aktiver wird der Europarat in die Gesetzgebungsarbeit eingeschaltet. Viel Diskussionsstoff ergibt sich hierbei aus der Furcht, als „schwacher Staat" nicht angemessen auf das allgemeine Sicherheitsempfinden der Bevölkerung zu reagieren. Teilweise wird auch die Kluft im Wechsel vom harten zum weichen Strafrecht als zu groß angesehen. Und besondere Probleme ergeben sich in jenen Mitgliedstaaten, die sich durch ein politisch initiiertes Referendum entgegen Protokoll Nr. 6 des Europarats zur Abschaffung der Todesstrafe ausdrücklich zur Beibehaltung der Todesstrafe bekennen wollen. Auch daraus mag deutlich werden, welcher Zündstoff in dieser praktischen Zusammenarbeit liegt und wie beschwerlich die Gratwanderung auf dem europäischen Weg der Kriminalpolitik in Wirklichkeit ist. Von Nutzen sind hierbei die ökonomischen Sachzwänge. Diese bestimmen auch die Frage, wie und auf welchen Ebenen dem immer krasser werdenden Problem der Uberbelegung entgegengesteuert werden kann. Obwohl Deutschland im internationalen Vergleich in der Gefangenenrate noch günstig dasteht, verursacht der Vollzug hier jährlich rd. 4,5 Milliarden laufende Kosten. In einzelnen Staaten der USA übersteigt das Sicherheitsbudget bereits das Sozial· und Erziehungsbudget. Die Fachausschüsse des Europarats empfehlen daher den osteuropäischen Mitgliedstaaten, auch aus Kostengründen zu solchen Maßnahmen zu greifen, die geeignet sind, den überbordenden Gefangenenanstieg zu bremsen. Hierzu wird auch auf die Analyse des bundesdeutschen Sanktionsgefüges13 verwiesen:
13 Jehle,J.-M.\ Strafrechtspflege in Deutschland, Fakten und Zahlen, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Godesberg 1997
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Von jährlich rd. 1,3 Mio Strafsachen werden 30 % eingestellt, 40 % im vereinfachten Strafverfahren erledigt und nur in 30 % der Fälle eine Hauptverhandlung durchgeführt. Von 100 Verurteilungen entfallen 85 auf die Geldstrafe und 15 auf die Freiheitsstrafe, wovon 2/3 zur Bewährung ausgesetzt werden. Nur in rd. 5 bis 6 % der Verurteilungen wird in Deutschland auf eine Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung erkannt, in den Niederlanden dagegen in 32 % der Verurteilungen, die allerdings eine weitaus kürzere Verweildauer enthalten. Der niederländische Geldstrafenanteil beträgt 52 %, der Anteil der Sanktion „gemeinnützige Arbeit" 16 %. Die Diskussion im internationalen Rahmen befaßt sich ja in zunehmendem Maße mit der Frage, wie vorhandene Ressourcen der Justiz wirkungsvoll und effizient eingesetzt werden können. Immer stärker treten in den Vordergrund Kosten-Nutzen-Erwägungen. Kapazitätsprobleme, personelle und finanzielle Führungs- und Steuerungskonzepte sowie Fragen zu Qualitätsstandards, aber auch die kostengünstigen Alternativen zum Freiheitsentzug sind Orientierungspunkte bei dieser Suche nach Lösungsstrategien. In Zeiten knapper werdender Ressourcen und der aktuellen Krise öffentlicher Haushalte gewinnen ökonomische Aspekte in der Kriminalpolitik immer mehr an Boden. Ziel solcher Strategien ist es, die Aufgabenerledigung des Justizsystems in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu optimieren. Die Einführung einer Bewertungsmatrix für Sicherheit/soziale und psychologische Betreuung/Qualifizierung und Resozialisierung sowie die Effizienzüberprüfung von Strukturen, organisatorischen Abläufen, Technikeinsatz und Personalqualität mag für bundesdeutsche Verhältnisse noch ungewohnt sein; für Justizverwaltungen anderer westeuropäischer Staaten gehören solche Umsteuerungsstrategien bereits zum üblichen Repertoire.14 Ökonomische Aspekte beeinflussen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch zunehmend den verfahrenstechnischen Ablauf der Ermittlungs- und Strafverfahren mit Untersuchungshaft. Oberstes Gebot ist die Beschleunigung des Verfahrens. Ziel ist es, den Anteil der nicht rechtskräftig verurteilten Straftäter einerseits und die Aufenthaltsdauer andererseits gering zu halten. Zentrale Steuerungsgruppen widmen der Frage, ob das Strafrechtssystem entsprechend den Empfehlungen des Europarats Nr. (92) 17 „Consistency in Sentencing" rationell und unter Berücksichtigung des Freiheitsanspruchs der noch nicht Verurteilten optimal erledigt.
14 Vgl. etwa Best, P.: Justizvollzug im Wandel - am Beispiel von Niedersachsen - in: Kriminalpädagogische Praxis 1997, S. 41 ff.
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Der rasche „Output" der Justiz gilt nicht nur als Symbol der inneren Leistungsfähigkeit, sondern soll zugleich das Vertrauen der Bevölkerung in das Rechtssystem stärken. Während im deutschen Jugendstrafrecht ein vielfältiges Instrumentarium an nicht freiheitsentziehenden Maßnahmen vorhanden ist und Jugendstrafe nur als „ultima ratio" oder wegen der Schwere der Schuld zur Anwendung gelangen soll, verfügt das Erwachsenenstrafrecht nur über die Sanktionen Geldstrafe und Freiheitsstrafe. Dagegen sind in den westeuropäischen Nachbarstaaten als Alternativen zum Strafvollzug insbesondere die gemeinnützige Arbeit15 (Community Service Order) sowie der elektronische Hausarrest16 (Electronic Monitoring) erprobt bzw. bereits in das Strafgesetz als eigenständige Sanktionen übernommen worden. Grundlage sind die vom Ministerrat des Europarats am 19.12.1992 angenommenen Empfehlungen Nr. R (92) 16 über die Europäischen Grundsätze zu nicht freiheitsentziehenden Sanktionen und Maßnahmen. Reichhaltige praktische Erfahrungen mit der gemeinnützigen Arbeit als eigenständiger strafrechtlicher Sanktion liegen insbesondere aus den skandinavischen Staaten, den Niederlanden und England vor. In den Strafgesetzen Norwegens und Dänemarks bildet die gemeinnützige Arbeit bereits seit 1991 bzw. 1992 einen festen Bestandteil des Sanktionensystems. In den Niederlanden, in Frankreich und auch der Schweiz wird die gemeinnützige Arbeit als Ersatz für Kurzzeitstrafen angewendet. In Griechenland kann eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr in eine solche Sanktion umgewandelt werden. Diese Sanktion, die jeweils die vorherige Einwilligung des Verurteilten erfordert, umfaßt bis zu 200 Stunden. Sie kann auch in Verbindung mit der Bewährungsunterstellung angeordnet werden; die Hauptbedeu-
15 Feuerbelm, W.: Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht. Historische, dogmatische und systematische Aspekte einer ambulanten Sanktion. Wiesbaden 1997 Ganz aktuelle dazu auch Böhm, A:Gemeinnützige Arbeit als Strafe, in: ZRP 1998, S. 360 ff. 16 Kawamura, G.: Elektronisch überwachter Hausarrest. Alternative zum Strafvollzug?, in: Neue Kriminalpolitik 1998, S. 10 ff. Lindenberg, M.: Ware Strafe. Elektronische Überwachung und Kommerzialisierung strafrechtlicher Kontrolle, München 1997 Home Office (Hrsg.) Curfew oders with electronic monitoring by. Mair, G./Mortimer, E.(Hrsg.), Research study 163, London 1996 Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe ( B A G - S ) e.V. (Hrsg.) Elektronisch überwachter Hausarrest. Alternative zum Strafvollzug? Bonn 1997 Vgl. grundlegend Päse, K./Mc Williams, W. Community Service by Order, Edinbourgh 1980
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tung liegt aber in der eigenständigen Alternative zur Inhaftierung, die Zustimmung der Betroffenen ist erforderlich. Ein dänisches Reformgutachten hat, gestützt auf positive Erfahrungen mit dem Community Service in England, folgende Aspekte hervorgehoben: - Die Sanktion besteht in einer am Gedanken der Wiedergutmachung orientierten sinnvollen Leistung zugunsten der Gesellschaft, - soziale Kontakte der Verurteilten bleiben aufrechterhalten, sie können ggf. ihrer gewohnten Berufstätigkeit oder Ausbildung nachgehen, und auch sonstige schädliche Einflüsse eines Gefängnisaufenthaltes werden vermieden, - persönliche Begegnungen bei der Ausführung gemeinnütziger Arbeit können sich günstig auf die Verurteilten selbst auswirken und zugleich ein besseres Verständnis in der Bevölkerung für Straftäter und ihre Situation fördern, - gegenüber dem Anstaltsvollzug können erhebliche Kosten gespart werden. In den skandinavischen Staaten gibt es keine Beschränkung auf bestimmte Straftaten, aber Vermögensdelikte werden vorrangig in Betracht gezogen. Die Organisation und Überwachung obliegt den sozialen Diensten der Justiz, die auch für die Beschaffung und Zuteilung der Einsatzplätze zuständig sind und solche Tätigkeitsfelder auswählen sollen, die sonst nicht vom Arbeitsmarkt ausgefüllt werden. Die Durchführung der gemeinnützigen Arbeit ist streng organisiert und strukturiert. Sie muß innerhalb festgelegter Zeiträume erledigt werden, was auch von der Umrechnungsrate abhängig ist. So entspricht in einem finnischen Versuchsprogramm ein Tag Anstaltsvollzug einer Arbeitsstunde, während in Schottland bis maximal 300 Stunden gemeinnützige Arbeit innerhalb eines Jahres erledigt werden müssen. Im Falle schwerwiegender Verstöße gegen den Arbeitsplan wird eine schriftliche Verwarnung erteilt. Außerdem kann auf Antrag der Strafverfolgungsbehörde der verbleibende Strafrest im Anstaltsvollzug vollstreckt werden. Alle mit dieser Sanktion befaßten Justizverwaltungen legen großen Wert darauf, daß diese Sanktion auch aus Sicht der Bevölkerung als sinnvolle, aber konsequent betriebene Strafsanktion bewertet wird. Dazu ein Praxisbeispiel aus den Niederlanden: die sog. >yHalt"~ Projekte gegen junge Straffällige bis 18 Jahren, die wegen Vandalismus, Sachbeschädigung und Ladendiebstahls (mit einem Schaden von bis zu 250 Gulden) auffällig geworden sind. Nach einer Allgemeinen Anweisung der Generalstaatsanwälte kann dort bereits die Polizei unter der Voraussetzung, daß die
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Staatsanwaltschaft im Einzelfall einwilligt, die Jugendlichen an ein sog. Halt-Büro verweisen. Diese organisieren die zu verrichtende gemeinnützige Arbeit und andere Einsätze, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der begangenen Tat stehen müssen. Die Arbeit soll jeweils so schnell wie möglich nach der Entdeckung der Tat verrichtet werden. Die Dauer der Projekte darf 20 Stunden nicht überschreiten. Pro Jahr werden von den 70 Halt-Büros in den Niederlanden rd. 15.000 Jugendliche in Arbeitseinsätze gebracht, zu denen u.a. auch das Entfernen von Graffittis gehört. Die Kriminalitätspräventionsprojekte lassen sich von dem Konzept des „Reintegrative Shaming" leiten. Im Katalog der Maßnahmen sind ausdrücklich auch Arbeitsplätze von Jugendlichen für die Läden enthalten, in denen die Ladendiebstähle begangen worden sind. Besonders hervorgehoben wird der pädagogische Effekt, der sich aus einer raschen Ahndung der Tat ergibt („tit-for-tat-arrangement"): die Sanktion soll der Tat „auf dem Fuße folgen". Dies gilt auch für die in Schweden und in den Niederlanden durchgeführten Modellprojekte über intensive Beaufsichtigung im Wege der elektronischen Überwachung. Das am 01.08.1994 in Schweden begonnene Modellprojekt soll nach einem Erprobungsgesetz bei kurzzeitigen Freiheitsstrafen eine Alternative zur Inhaftierung bieten. Organisiert und überwacht wird das Projekt von der schwedischen Bewährungshilfe im Umkreis von sechs Bewährungshilfebüros. Die Verurteilten dürfen ihre Wohnung nur zu bestimmten Zwecken, die von der Bewährungsaufsicht festgelegt worden sind, und zu speziell festgesetzten Zeiten verlassen. Es handelt sich um die Teilnahme an einer Arbeit, einem Studium, einer Behandlung, der Teilnahme an Aktivitäten im Rahmen von Besserungsmaßnahmen oder dem Kontakt zur Bewährungshilfe. Die Einhaltung wird über elektronische Geräte ständig überwacht. Bei Verstößen wird die Reststrafe in einer Haftanstalt vollstreckt. Das Verfahren zur elektronischen Überwachung ist in den Vereinigten Staaten entwickelt worden und besteht u.a. im Tragen eines an einer Fußfessel angebrachten Senders. Man unterscheidet zwei technische Verfahren·. Das Aktivsystem und das Passivsystem. In dem Aktivsystem, das aus einem Sender, einem Empfänger und einem Zentralrechner besteht, unterliegen die Uberwachten einer ständigen Kontrolle, sofern sie sich an einer bestimmten Stelle, normalerweise der Wohnung, aufhalten. Hierbei darf ein Umkreis von etwa 25 bis 45 m nicht verlassen werden; andernfalls wird der Zentralrechner unterrichtet. In dem Passivsystem wird die Anwesenheit der Uberwachten dagegen nur stichprobenweise überprüft, und zwar durch in unre-
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gelmäßigen Abständen erfolgende Anrufe des Zentralrechners. Die Rückmeldungen der Uberwachten werden von einem Identifizierungsgerät überprüft. Hierbei können auch visuelle elektronische Verfahren eingesetzt werden. Eine weitere Variante sind tragbare Empfänger, die eine größere räumliche Reichweite zulassen. Diese Geräte ermöglichen es dem Überwachungspersonal, die Anwesenheit von Uberwachten an einer Stelle außerhalb ihrer Wohnung, etwa am Arbeitsplatz, diskret zu überprüfen, ohne daß es zu einem unmittelbaren Kontakt kommt. Die Überprüfung erfolgt durch Signale vom Sender zum Empfangsgerät. Nach den Europäischen Grundsätzen über nicht-freiheitsentziehende Sanktionen und Maßnahmen ist aber zu gewährleisten, daß sich diese Alternative nicht auf eine technische Überwachung beschränkt, sondern auch eine persönliche Betreuung durch die sozialen Dienste der Justiz gewährleistet. Dies wird in ganz besonderem Maße bei Durchführung des niederländischen Modellprojekts in Groningen beachtet. Die überwachten Verurteilten sind hier verpflichtet, an Gruppenmaßnahmen des Sozialen Trainings (Computerkurse, aber auch gemeinnützige Arbeitseinsätze in Sichtweite von Vollzugsanstalten) teilzunehmen. Während in der Anfangsphase in der Zielgruppe die Mittelschicht überproportional vertreten war, sind nun auch sog. Problemgruppen wie Drogenabhängige, Langzeitarbeitslose, Rückfalltäter von Kleinkriminalität u.a. zahlenmäßig stärker vertreten. Bei dieser Zielgruppe handelt es sich aber fast ausschließlich um Strafgefangene, die sich in der letzten Phase der Inhaftierung befinden, in der ihnen gestattet wird, einen gemeinnützigen Arbeitseinsatz zu leisten. Gegen den elektronischen Hausarrest lassen sich viele Bedenken erheben. Ungeachtet dessen läßt sich aber feststellen, daß es sich hier um eine kriminalpolitische Suchbewegung handelt, eine Alternative zur Inhaftierung für eine Zielgruppe zu schaffen, der man restriktiv die Grenzen der Freiheit durch eine Fußfessel fühlbar vor Augen halten will. Auch die niederländische Justizverwaltung versteht das Projekt als eine gesonderte Form der Inhaftierung im Rahmen eines ambulanten Strafvollzuges. Der besondere Vorteil soll für die Straftäter darin liegen, daß die Überwachung mit ihrer Zustimmung erfolgt und sie nicht aus ihrem familiären Umkreis entfernt werden. Zur Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse stellen sich auch wegen der Zielgruppe der Straftäter noch viele offene Fragen. Kriminalpolitische Veränderungsstrategien sind auf Dauer nur auf transnationaler Ebene zu erreichen. Die Erkenntnisse aus der Projektarbeit anderer Staaten zeigen, daß eine transnationale Zusammenarbeit sogar unerläßlich ist. Sobald skandinavische Länder
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oder Benelux-Staaten im Bereich von Strafverfolgung, Strafjustiz und Strafvollzug ein strukturelles Problem aufgespürt haben, werden Fachleute aus dem Ausland herangezogen, um in transnationalen Projektgruppen zu solchen justitiellen Problemschwerpunkten arbeitsteilig Lösungsstrategien zu entwickeln. Teilweise werden diese sodann in Feldversuchen in den einzelnen Mitgliedstaaten erprobt, die Erfahrungen anschließend ausgetauscht. Auch die dargestellten Alternativen zum Freiheitsentzug mit der Entwicklung neuer eigenständiger Sanktionen sind im Anschluß an gemeinsame Konferenzen, Auslandsbesuche und Projektgruppenarbeit entstanden. Es ist zu hoffen, daß sich künftig auch die Bundesrepublik Deutschland stärker an diesem europäischen Netzwerk beteiligt. Eine solche Zusammenarbeit ist rationell, kostensparend und hilfreich bei Veränderungsprozessen. Voraussetzung für eine transnationale Zusammenarbeit ist aber die Ubereinstimmung in der Qualitätsstandards-Entwicklung, der Qualitätsicherung und der Qualitätskontrolle. Im Mittelpunkt steht die Standardfrage: „Was wird von wem mit welchem Zeitaufwand und welchem Erfolg zu welchen Kosten geleistet?" Qualitätsstandards sollen das Leistungsangebot sichtbar machen und eine Uberprüfung auf die Notwendigkeit hin ermöglichen. Eine solche Qualitätsdiskussion kann nur in einem Dialog erfolgen. Die Teilnahme an dem Dialog setzt eine aktive deutsche Beteiligung an transnationalen Arbeitsgruppen voraus, wozu auch die Präsenz bei internationalen Konferenzen und Seminaren gehört. Hier sind Mitdenken, Mitreden und Mitgestalten auf europäischer Ebene angesagt. Überall zeichnen sich Veränderungsprozesse ab, überall sind aber die Ressourcen beschränkt. Aus eigener Kraft können einzelne Länder die notwendigen Veränderungsstrategien nicht bewältigen. Sie stoßen leicht an die Grenze des Machbaren und Verkraftbaren, zumal dann, wenn das politische Klima, das Gefühl um die innere Sicherheit in der Bevölkerung, der Druck über das öffentliche Bewußtsein und weitere gesellschaftspolitische Einflußfaktoren Kriminalpolitik beeinflussen. Dagegen läßt sich das Krisenmanagement leichter in einem europäischen Szenario betreiben. Als Beispiel kann das Stichwort „Strafvollstreckung im Ausland" dienen. Hierbei geht es um die Frage, welche Initiativen auf Bundes- und Europaebene ergriffen werden könnten, um eine stärkere Nutzung der vorhandenen Uberstellungseinkommen mit Herkunftsländern zu erreichen und das Verfahren zur Verbüßung von Freiheitsstrafen ausländischer Gefangener im Heimatland wirksam werden zu lassen. Diese Frage ist von hoher Praxisrelevanz, wenn man bedenkt, daß allein in Niedersachsen 11 % aller Gefangenen
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aus Osteuropa stammen. Mag dieses zunächst wie eine Vision erscheinen: Die bisherigen Schritte der Zusammenarbeit könnten auch eine solche Form der Partnerschaft ermöglichen, die sich allerdings freimachen müßte von vordergründigen Kosten-Nutzen-Erwägungen. Leitlinie wären vielmehr die o.g. Konventionen und die diesen zugrunde liegenden Standards. Hohe Anforderungen würden sich auch an die Auswahl, die Ausbildung und die Weiterbildung des Personals richten. Die vom Ministerkomitee des Europarats am 10.09.1997 angenommenen Empfehlungen Nr. R (97) 12 betreffend Bedienstete, die mit der Durchführung von Sanktionen und Maßnahmen hefaßt sind17, würden auch in einem solchen Fall zur Anwendung gelangen. Auch die Europäischen Richtlinien über nationale Ethikleitlinien für Bedienstete, die mit der Durchführung von Sanktionen und Maßnahmen befaßt sind, enthalten Standards für Anforderungsprofile, die sich im Laufe der Zeit im Geiste einer echten Partnerschaft innerhalb der sog. Zwillingsprojekte angleichen lassen. Dieses grob skizzierte Szenario setzt ein noch höheres Engagement auch von deutschen Fachleuten voraus, die im Bereich freiheitsentziehender und nicht freiheitsentziehender Maßnahmen tätig sind. Von besonderer Bedeutung wird die im Jahre 2000 vom Europarat, dem Bundesministerium der Justiz, dem Berliner Senat und der Deutschen Vereinigung für Sozialarbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (DBH) gemeinsam geplante internationale Konferenz zum Thema „Entwicklung europäischer Standards im Vollzug und bei ambulanten Maßnahmen" sein. Mit den Themenbereichen „Rechtspolitik und Kriminalpolitik in Europa", „ambulante und stationäre Maßnahmen im Netzwerk", „Kooperationsbündnisse zwischen den Mitgliedstaaten" wird dieser internationalen Konferenz eine besondere Signalfunktion zukommen, noch stärker als bisher bilaterale Kontakte zwischen dem stationären und ambulanten Bereich zu knüpfen und osteuropäische Staaten beim Aufbau von Alternativen zum Freiheitsentzug zu unterstützen. Was wir in der aktuellen internationalen Diskussion brauchen, ist eine rationale Kriminalpolitik. Diese muß von der Vernunft geleitet sein. In Zeiten gesellschaftlicher Umbruchphasen mehren sich die Stimmen, die schnelle und praktikable und ökonomische Lösungen 17 Council of Europe, Staff Concerned with the Implementation of Sanctions and Measures. Recommendation R (97) 12. Die deutsche Fassung dieser Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats betreffend Bedienstete, die mit der Durchführung von Sanktionen und Maßnahmen befaßt sind, ist in Vorbereitung zwecks Veröffentlichung.
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einfordern. Solchen Versuchungen gilt es zu widerstehen. Eine rationale Kriminalpolitik muß die breite europäische Palette moderner strafrechtlicher Sanktionen ausschöpfen und mehr Raum für Experimente und Projektversuche gewähren, ohne Maßnahmen und Sanktionen gleich für das nächste Jahrzehnt gesetzlich festschreiben zu wollen. Es gibt viele Möglichkeiten, im europäischen Netzwerk neue Sanktionen mit aktiver Ausgleichsleistung zu entwickeln und mit vorhandenen Sanktionen zu kombinieren, um Tätern, Opfern und der Gesellschaft in angemessener Weise gerecht zu werden. Unter Berücksichtigung der europäischen Konventionen muß Freiheitsentzug weiterhin die „ultima ratio" bleiben. Eine solche rationale Kriminalpolitik unter europäischen Vorzeichen erfordert somit eine transnationale Strategie des kontrollierten Wandels. Der Blick über die offenen Grenzen macht deutlich, daß kriminalpolitische Suchbewegungen künftig mehr denn je international erfolgen müssen. Bei einem befürchteten weiteren Anstieg an Kriminalität und neuen Formen der international organisierten Kriminalität müssen rechtzeitig die Weichen gestellt werden, um den prognostisch schwer einschätzbaren künftigen Entwicklungen wirksam entgegensteuern zu können. Anmerkung: Der Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Verfassers dar, auch soweit Ausführungen zum „Council for Penological Co-operation" im Europarat/Straßburg gemacht werden, in dem der Verfasser Mitglied ist.
Die „European Rules on Community Sanctions and Measures" HEIKE JUNG
I. Einführung Die Rolle des Europarates als Promotor der Harmonisierung des Strafrechts wird neuerdings immer wieder betont. Zugleich mangelt es nach wie vor an Informationen darüber, wie und auf welchen Gebieten der Europarat kriminalpolitisch tätig ist. Dies hängt auch damit zusammen, daß die Veröffentlichungen des Europarates schwer zugänglich sind oder doch als schwer zugänglich gelten. Mein erklärtes Bestreben, das konkrete Wirken des Europarates stärker ins Gesichtsfeld zu rücken,1 dürfte beim Jubilar auf Verständnis stoßen. Schließlich hat er sich selbst mit den „Mindestgrundsätzen des Europarats für die Behandlung der Gefangenen" auseinandergesetzt.2 Ich möchte im folgenden mit den „European Rules on Community Sanctions and Measures" 3 ein Werk vorstellen, das komplementär dazu auf den ambulanten Bereich zielt und das angesichts des Bedeutungszuwachses nicht-kustodialer Reaktionsformen von durchaus vergleichbarem Gewicht ist. II. Zum Umfeld Die „European Rules on Community Sanctions and Measures" (im folgenden kurz European Rules genannt) stehen nicht isoliert. Die Beschäftigung des Europarates mit ambulanten Reaktionsfor1 Vgl. auch Jung, Die Empfehlung des Europarates zur Strafzumessung, in: Festschrift für Miyazawa, Baden-Baden 1995, S. 437. 2 Böhm, Zum Einfluß von Vollzugstheorien auf internationale Vereinbarungen zur Behandlung Gefangener, in: Böhm u.a. (Hrsg.), Idee und Realität des Rechts in der Entwicklung internationaler Beziehungen. Festgabe für Wolfgang Preiser, Baden-Baden 1983, S. 183. 3 Recommendation N ° R (92) 16 and Explanatory Memorandum publiziert von Council of Europe Press 1994. Einen Uberblick gibt Rau, European Standards in the Area of Community Sanctions and Measures, in: Ville et al. (eds.), Promoting Probation Internationally, R o m / L o n d o n 1997, S. 181.
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men reicht vielmehr weiter zurück. Das „Europäische Übereinkommen über die Überwachung bedingt Verurteilter oder bedingt entlassener Straftäter" datiert schon aus dem Jahre 1964. 4 Natürlich kann man hier auch auf den „Report on Decriminalisation" aus dem Jahre 1980 verweisen, der für eine ganze Weile den Ton für die Initiativen des Europarates angab. Stärker zugespitzt auf die Thematik war die 19. Kriminologische Forschungskonferenz aus dem Jahre 1990, die dem Thema „New Social Strategies and the Criminal Justice System" 5 gewidmet war, sowie der Bericht der pönologischen Sektion über „Alternative Measures to Imprisonment" 6 . Mit diesen Initiativen lag der Europarat seinerseits im Zug der Zeit. Man denke nur an Bishops grundlegende Untersuchung über „Non-Custodial Alternatives in Europe" 7 oder aber die Initiative der „Fondation internationale penale et penitentiaire" 8 . Die anglo-amerikanisch inspirierte Diskussion um „community involvement" hatte zudem das gedankliche Spektrum erweitert. 9 Auch die Erscheinungsformen nicht-kustodialer Reaktionsformen erfuhren z.B. mit der Mediation einerseits und der elektronischen Überwachung andererseits bedeutsame Ergänzungen. Vor allem hatten inzwischen nicht-kustodiale Sanktionsformen rein faktisch und damit - aufs Ganze des Sanktionensystems bezogen - auch qualitativ eine noch in den 60er Jahren unvorstellbare Dimension erlangt. Vielleicht auch wegen dieses Bedeutungszuwachses waren zudem (menschen-)rechtliche Fragen im Zusammenhang mit diesen Sanktionsformen zunehmend ins Blickfeld gerückt. Die Erarbeitung der European Rules geht auf die Empfehlungen der 7. Konferenz der „Directors of Prison Administrations" aus dem Jahre 1985 zurück. Die konkreten Vorarbeiten wurden vom Council for Penological Cooperation im Rahmen des European Committee on Crime Problems (CDPC) geleistet. Der Zusammenhang mit
ETS Nr. 51. N e w Social Strategies and the Criminal Justice System, Council of Europe Press 1994. 6 Rentzmann/J.P. Robert, Alternatives to Imprisonment, Strasbourg 1986 (updated version 1991). 7 Helsinki 1988. Nicht von ungefähr war Norman Bishop auch an der Ausarbeitung der European Rules beteiligt. 8 Fondation internationale penale et penitentiaire, Institut des sciences criminelles de Poitiers (eds.), L'elaboration des regies minima pour le traitement en milieu libre, Paris 1990. 9 Recommendation N ° R (87) 3. 4 5
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den 1987 als Empfehlung erlassenen „European Prison Rules" 1 0 , eine Weiterentwicklung der „Mindestgrundsätze" aus dem Jahre 1973, ist evident. Es fügt sich, daß derzeit ein Expertenkomitee des Europarates damit befaßt ist, die Umsetzung der European Rules in den einzelnen Mitgliedstaaten zu untersuchen. III. Der Gegenstand der Untersuchung Die „European Rules" sind als Empfehlung vom Ministerkomitee erlassen worden. 11 Solche Empfehlungen haben keinen rechtlich zwingenden Charakter. Wegen ihrer appellativen Funktion für die Mitgliedstaaten üben sie im europäischen kriminalpolitischen Entwicklungsprozeß gleichwohl inhaltliche „guidance" aus, die je nach Intensität der Rückbindung mit dem nationalen Diskussionsstand und ihrem innovativen Grad inhaltlicher Qualität variieren mag, indes als Einflußfaktor immer präsent ist. Formal erschöpft sich diese Empfehlung in einem einseitigen Beschluß (S. 5). Die European Rules folgen in einem Anhang (S. 6-24), eine Methode, die sich mehr und mehr eingebürgert hat. Den Abschluß bildet das Explanatory Memorandum (S. 25-70). Im Hinblick darauf, daß es sich um insgesamt 90 Rules handelt, ist auch in unserem Zusammenhang eine Beschränkung angezeigt. Nach einer begrifflichen Einordnung, bei der es auch um den Anwendungsbereich der European Rules geht (IV), folgt ein geraffter Uberblick über die Rules in ihrer Gesamtheit (V). Ich möchte mich im weiteren zwei Bereichen etwas vertiefter zuwenden: dem „legal framework" und den menschenrechtlichen Aspekten einerseits (VI), sowie der Art und Form des „community involvement" (VII) andererseits. Abgesehen davon, daß sich bei dieser Schwerpunktbildung persönliche Präferenzen niederschlagen, messen auch die European Rules diesen Themen besonderes Gewicht bei. IV. Begriffliches Die European Rules haben in begrifflicher Hinsicht in gewisser Weise einen „Versuchsballon" lanciert, indem sie von „community sanctions and measures" sprechen. In einem begrifflichen Um10 Statt vieler Nelken, C o m m u n i t y Involvement in Crime Control, C u r r e n t Legal Problems 38 (1985), S. 239. 11 Allg. zu der Organisationsstruktur des Europarats Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der parlamentarischen Versammlung, Saarbrücken 1996.
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feld, das bisher durch die Bezugnahme auf den Strafvollzug - „alternatives to imprisonment", nicht-kustodiale Reaktionen, „milieu ouvert", ambulante Reaktionen, „intermediate penalties" - gekennzeichnet war, versucht man, einen neuen Weg zu beschreiten, der das qualitative Eigengewicht derartiger Reaktionen betont. Als deutsche Ubersetzung bietet sich noch am ehesten die Formel von der „gemeinwesenorientierten Sanktion" an. 12 Was darunter zu verstehen ist, wird in einem Glossar definiert. Danach verstehen die European Rules unter „community sanctions and measures" solche Sanktionen und Maßnahmen, bei denen Verurteilte im Gemeinwesen verbleiben, bei denen sie aber zugleich gewissen Beschränkungen ihrer Freiheit in Gestalt von Auflagen und Weisungen unterworfen sind; Geldstrafen sind primär nicht gemeint, wohl aber entsprechende Uberwachungs- und Kontrollsysteme, die ihre Bezahlung gewährleisten sollen. Erfaßt werden auch Formen der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe außerhalb der Anstalt und Maßnahmen, die an Stelle einer Sanktion treten - wir würden hier von informellen Sanktionen sprechen (etwa Einstellungen unter Auflagen, „transaction" etc.). Interessanterweise bleibt diese Begriffsbestimmung hinter dem kriminalpolitischen Impetus, der mit dem Wort „gemeinwesenorientiert" angesprochen ist, zurück. Auch die Präambel hält sich insoweit vergleichsweise bedeckt. Sie betont nur die Tatsache, daß Verurteilte so weiterhin in sozialer Verantwortung in dem Gemeinwesen agieren könnten und nicht davon isoliert seien. Im Kapitel über „community involvement and participation" wird nachgeliefert, was man eigentlich schon - zumindest ansatzweise - im Rahmen der Begriffsbestimmung erwartet hätte. Auch das Explanatory Memorandum wird deutlicher: „The emphasis on the community component constitutes the fundamental element of these sanctions and measures. The involvement of the community is the most necessary and original element in their implementation... ." 13 Im Grunde arbeiten die European Rules daher mit zwei verschiedenen Konnotationen von „community". Die eine zielt eigentlich auf den Gegensatz von „Freiheit" und „Unfreiheit" oder besser von „Freiheitsentzug" und „Freiheitsbeschränkung" ab, die andere auf jene Gemeinwesenorientierung. Dabei erscheint das Begriffsbild der „community sanctions and measures" nicht zuletzt deswegen zwie12
Die in der vom schweizerischen Bundesamt für Justiz herausgegebenen Information über den Straf- und Massregelvollzug 3/98, S. 17, ausschnittweise abgedruckte nichtamtliche deutsche Ubersetzung versucht sich erst gar nicht an einer Ubersetzung dieses Begriffs. 13 S. 25.
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spältig, weil es die Vorstellung perpetuiert, wonach der Gefangene „hinter den Mauern" vollständig von dem Gemeinwesen isoliert sei, eine Vorstellung, die durch die Formen des offenen Vollzuges sowie Generationen von freiwilligen Vollzugshelfern und sonstigen Kooperationspartnern des Vollzuges (vgl. nur § 154 II dStVollzG) falsifiziert wird. Daß die Intensität der „Gemeinwesenorientierung", der Entfaltungsmöglichkeiten der Verurteilten wie auch jener, die das „community involvement" konstituieren, „draußen" eine andere als „drinnen" ist, soll damit nicht in Zweifel gezogen werden. O b der Begriff der „community sanction" insoweit nicht viel mehr verspricht als die Praxis hergibt, nämlich die Existenz eines vielgestaltigen stützenden Beziehungsgeflechts, bleibt freilich die Frage. V. Zielsetzung und Uberblick Die Zielsetzung wird in der Empfehlung selbst sowie in der Präambel zu deren „Anhang" vorgegeben. Es geht darum, den nationalen Gesetzgebern und der Praxis klare Vorgaben für eine gerechte und wirksame Anwendung der „community sanctions and measures" zu geben. Die European Rules sind nicht als (ideales) Modell gedacht. Vielmehr erklärt man die European Rules gewissermaßen zu zwingenden Voraussetzungen für eine befriedigende Anwendung der „community sanctions". Auf Akzeptanz bedacht („susceptible of being commonly accepted"), schwanken die European Rules zwischen konsolidierender Bestandsaufnahme und normativer Vorgabe. Jedenfalls wollen sie einen Beitrag zur Entwicklung von „international norms", für „community sanctions and measures", leisten. Jugendspezifische Maßnahmen bleiben dabei freilich außer Betracht. Den Auftakt bildet der Erste Teil mit 36 Vorschriften über „General Principles", die man, wiewohl in verschiedene Kapitel unterteilt, allesamt dem Bereich der rechtlichen Vorgaben und Rahmenbedingungen zuordnen kann. Der zweite Teil (Rule 37-54) betrifft die Träger der Programme und die Finanzierung. Hierin einbezogen ist auch das Kapitel über „community involvement and participation" (Rule 44-54). Der dritte Teil ist mit „Management aspects of sanctions and measures" überschrieben (Rule 55-90) und umfaßt ein Sammelsurium von Vorschriften, die teilweise konkrete rechtliche, teilweise konkrete praktische Detailfragen, teilweise die Zielsetzung, teilweise die Arbeitsmethode und „professional standards", teilweise Forschung und Evaluation betreffen. Alles in allem dominieren letztlich also Rechtsfragen, wobei sicher vieles in eine Rechtsfrage gekleidet werden kann, was auch oder
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vielleicht sogar vorrangig methodisch-inhaltliche oder organisatorische Bedeutung hat. Dennoch kommt es nicht von ungefähr, daß die Empfehlung gerade im rechtlichen Bereich den größten Klärungs- oder soll man sagen - Nachholbedarf sieht. VI. Der rechtliche Rahmen und die menschenrechtlichen Implikationen Angesichts der Tatsache, daß die überwiegende Mehrzahl der Rules in der einen oder anderen Form rechtliche Fragen betrifft, sollen in diesem Zusammenhang vor allem die Punkte hervorgehoben werden, die das Grundsätzliche berühren. (1) Besonderes Augenmerk gilt zunächst der rechtlichen Fundierung der „community sanctions and measures" überhaupt. Mit der tradierten Vorstellung, daß es sich dabei um Rechtswohltaten handele, die deswegen keiner allzu präzisen Regelung bedürften, wird aufgeräumt. Verlangt wird nicht nur, daß der Anwendungsbereich von „community sanctions" rechtlich geregelt werde, sondern auch, daß Auflagen und Weisungen im Einzelfall präzise umrissen sein müssen (Rule 4). Weiter müssen Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen, um die hier ständig wiederkehrende Formel zu verwenden, „be laid down in law". Dies gilt auch für die Bedingungen für den Rückgriff auf Freiheitsentzug im Falle der Nichterfüllung von Bedingungen und Weisungen sowie für die externe Aufsicht über die mit dem Vollzug der Sanctions betrauten Einrichtungen. Die gebräuchliche Formel „laid down in law" vermeidet eine Festlegung darauf, welche Rechtsqualität im einzelnen diese Vorgaben haben sollten (vgl. auch Nr. 2 des Glossars). (2) Ein eigenes Kapitel widmen die European Rules den justitiellen Garantien und den Beschwerdeverfahren. Rule 12 bestimmt, daß die Entscheidung, eine „community sanction oder pretrial measure" zu verhängen oder zu widerrufen, von einer „judicial authority" getroffen werden müsse; als solche gilt nach Nr. 3 des Glossars freilich auch die Staatsanwaltschaft. Das Recht des Verurteilten, eine höhere Instanz gegen eine Entscheidung über die Verhängung einer „community sanction or measure" sowie gegen deren Änderung oder Widerruf anzurufen, wird garantiert. Rule 16 erinnert daran, daß das Beschwerdeverfahren einfach gestaltet sein soll und über die Beschwerden ohne Verzug entschieden werden soll. Das Recht auf Beistand durch eine „person of his choice" wird
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garantiert (Rule 19). Eine mündliche Anhörung des Beschwerdeführers soll offenbar gefördert werden („careful consideration shall be given to the desirability of hearing the complainant in person"); im Explanatory Memorandum klingt dies freilich zurückhaltender. (3) Das dritte Kapitel gilt dem „respect for fundamental rights". Im Grunde gehört auch das 4. Kapitel über „co-operation and consent of the offender" mit zu diesem Themenkreis. Den Auftakt der menschenrechtlichen Grundanforderungen bildet das Diskriminierungsverbot der Rule 20. Das Explanatory Memorandum legt Wert auf die Feststellung, daß dies notwendige Differenzierungen nicht hindern, also einer Individualisierung der Reaktion nicht im Wege stehen soll. 15 Das Recht auf Privatsphäre und die Würde der Verurteilten sowie ihrer Familien wird ausdrücklich betont (Rule 23). Hinsichtlich einer möglichen medizinischen oder psychologischen Behandlung wird auf die „internationally adopted ethical standards" verwiesen (Rule 25). Zu den Zumutbarkeitskriterien zählt auch das Verbot von Eingriffen mit „undue risk of physical or mental injury". Der Eingriffscharakter der „community sanctions or measures" darf durch ihren Vollzug nicht verstärkt werden. Dies wäre, so stellt das Explanatory Memorandum fest, im Hinblick auf die Kooperationsbereitschaft ohnehin kontraproduktiv. 16 Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft sollen auf verschiedenen Wegen gesichert oder zumindest gestärkt werden. Vor allem geht es um Information des Betroffenen (Rule 34) sowie um den individuellen Zuschnitt der Sanktion (Rules 6, 32) - letzteres vorbehaltlich der Tatsache, daß nach Rule 6 Auswahl und Länge der „community sanction and measures" auch die Schwere der in der Rede stehenden Tat bzw. des Tatvorwurfs widerspiegeln sollen. Die Zustimmung wird nur verlangt, wenn die community measure vor dem (gerichtlichen) Verfahren oder anstelle einer Entscheidung über eine Sanktion angeordnet wird. Auf die Frage der Wirksamkeitsbedingungen für diese Zustimmung gehen die European Rules nur insofern ein, als hier eine ausdrückliche Zustimmung bei vorheriger Aufkärung verlangt wird. Man vermißt allerdings einen deutlichen Hinweis auf die z.B. in der Deweer-Entscheidung des Eu-
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Vgl. S. 36: „This ... requirement must not be conceived rigidly". Vgl. S. 37. Explanatory Memorandum, S. 41.
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ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 17 aufgestellten zusätzlichen Kriterien für einen wirksamen Verzicht auf das „right to trial" im Sinne von Art. 6 EMRK, Kriterien, wie sie in ähnlicher Weise im Schrifttum zur Diversion herausgearbeitet worden sind. 18 Die Problematik klingt im Explanatory Memorandum an, wenn dort davon die Rede ist, daß die Zustimmung nicht durch das Versprechen von unzulässigen Vorteilen „eingekauft" werden dürfe (Stichwort: „plea bargaining"). 19 Auch wird die Vereinbarkeit eines derartigen Prozedere mit der Unschuldsvermutung im Explanatory Memorandum durchaus gesehen („caution needs to be exercised"), aber als Problem im Grunde nur gestreift. Zwar ist dort davon die Rede, daß der Betroffene bereit sein müsse, Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Dies bezieht sich jedoch nicht auf den Tatvorwurf, sondern auf die Verpflichtungen, die durch die „measures" auf ihn zukommen. Im Falle der Verhängung der „community sanction" durch (richterliche) Entscheidung wird eine Zustimmung nicht ausdrücklich verlangt. Wohl aber soll eine Entscheidung über die „community sanction or measure" nur ergehen, wenn geklärt ist, ob der Verurteilte zur Mitwirkung bereit ist (Rule 31). Uberhaupt sollen Verhängung und Vollzug der „community sanctions and measures" darauf zielen, das Verantwortlichkeitsgefühl des Verurteilten gegenüber dem Gemeinwesen und dem Verletzten zu entwickeln (Rule 30). Das Explanatory Memorandum hebt den Gedanken der Kooperationsbereitschaft noch stärker hervor, ohne die Entscheidung jedoch expressis verbis an die Zustimmung des Verurteilten zu knüpfen. Immerhin wird festgestellt: „If the offender is manifestly not prepared to cooperate ... there would seem to be little point in a court deciding on a community sanction or measure" . 20 Insofern liegen die „European Rules" letztlich doch (fast) auf der Linie jener, die für alle ambulanten Maßnahmen wegen der damit verbundenen solidarischen Verpflichtung des Verurteilten die Zustimmung verlangen. 21
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Serie A Nr. 35. Zusammenfassend Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1991, S. 139 f. 19 S. 45. 20 S. 43. 21 Vgl. zu dieser kontroversen Frage den Argumentations- und Diskussionsstand bei Bolle, General Report, in: L'elaboration des regies minima (Fn. 8), S. 253, 271 f. 18
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VII. Das „community element" Dem „community involvment" widmen die European Rules immerhin zwölf Vorschriften. Sie sind natürlich wie alle Regelungsvorschläge mit der Tatsache konfrontiert, daß man „community involvement" nicht einfach dekretieren, sondern daß man nur Rahmenbedingungen für seine Entwicklung schaffen kann. Die European Rules verpflichten die Behörden zunächst, die Öffentlichkeit über die entsprechenden „community sanctions and measures" zu informieren. Hier geht es noch nicht um Partizipation. Es soll vielmehr für die Akzeptanz dieser Reaktionen als „adequate and credible reactions to criminal behaviour" geworben werden. Im übrigen ist den European Rules namentlich darum zu tun, das Verhältnis der zuständigen (öffentlichen) Behörden zu Privatpersonen sowie privaten und öffentlichen Organisationen zu bestimmen, die auf diesem Feld tätig sind. Sie sollen zunächst zur Ergänzung der öffentlichen Dienste mobilisiert werden (Rule 45). Der Rückgriff auf Individuen aus dem Gemeinwesen darf die Arbeit der „Profis" nicht ersetzen, sondern nur ergänzen (vgl. auch Rule 49). Man spürt die schwierige Gratwanderung zwischen notwendiger Professionalität und wünschenswerter „lay participation", die auch aus anderen Zusammenhängen bekannt ist. Auffallend ist dabei, daß der Zusatz voluntary participation nur in der Uberschrift des Explanatory Memorandums, nicht aber in der Uberschrift des Regelwerkes auftaucht. Soweit erforderlich, sind Supervision und Ausbildung angesagt (Rule 51). Pflichten, Verantwortlichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen sollen in einer in der Regel schriftlichen Vereinbarung geklärt werden (Rule 47). Die „participating organisations and individuals" sind zur Vertraulichkeit verpflichtet. Sie sind - auch ganz praktische Aspekte werden bedacht - gegen Unfälle und Verletzungen sowie gegen Haftpflichtansprüche, die aus ihrer Tätigkeit erwachsen, zu versichern. Sie sollen in Angelegenheiten ihres Aufgabenbereichs allgemein sowie einzelfallbezogen angehört und in den Informationsfluß einbezogen werden. Insgesamt werden sich jene „participating organisations and individuals drawn from the community" vielleicht mehr Autonomie und Freiraum wünschen, als ihnen nach diesem Regelwerk gewährt wird. Wir wissen freilich, daß der Staat sich in diesem Bereich von seiner Letztverantwortlichkeit nicht einfach freizeichnen kann, was zwangsläufig zu einem kom-
22 Vgl. allg. zur Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege meinen gleichnamigen Beitrag in: 150 Jahre Landgericht Saarbrücken, Köln 1985, S. 317.
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plexen Wechselspiel zwischen „privat" und „öffentlich" sowie zwischen Autonomie und Supervision führt. 23 VIII. Schlußbetrachtung Die heutige Bedeutung der European Rules kann man nur richtig einschätzen, wenn man bedenkt, daß die Empfehlung nicht nur für einige wenige Staaten, sondern für mittlerweile 40 Staaten des Europarates gilt. Vor allem die Ausstrahlungswirkung für die Staaten von Mittel- und Osteuropa, mit einer vormals eher reduzierten Palette nicht-kustodialer Sanktionen und einem rechtsstaatlichen Nachholbedarf aufs Ganze des Sanktionensystems gesehen, darf man nicht unterschätzen.24 Das schon erwähnte Expertenkomitee zur Evaluation der European Rules soll daher auch der Frage des Ausbaus von „community sanctions" im Sinne von spezifischer konzeptueller Entwicklungshilfe für einzelne Mitgliedstaaten besonderes Augenmerk widmen. Ein solches Regelwerk kann ohnehin als eine Art „Werbekampagne" für den verstärkten Rückgriff auf nicht-kustodiale Sanktionen gelten.25 Hier muß man freilich einschränkend hinzufügen, daß damit nur die stärkere Hinwendung zu nicht-kustodialen Sanktionen im Verhältnis zu kustodialen Sanktionen gemeint sein kann. Die vielfach beschriebene Gefahr eines net widening Effekts wird zwar nicht ausdrücklich thematisiert. Das Explanatory Memorandum bekennt sich aber zu dem Prinzip des Mindesteingriffs.26 Unabhängig davon, ob man von dem Begriff der „community sanctions and measures" überzeugt ist oder nicht: Die European Rules tragen sicher schon durch ihre Existenz einschließlich des Versuchs, sich zu einer neuen Begriffswelt vorzutasten, dazu bei, den autonomen Status des nicht-kustodialen Bereichs zu betonen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der Freiheitsstrafe gleichwohl noch eine back-drop-Funktion zukommt. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß im Versagensfall ein auto-
23 Exemplarisch zu den dabei auftauchenden Rechtsfragen für das Institut der gemeinnützigen Arbeit Feuerhelm, Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht, Wiesbaden 1997, S. 296, 422. 24 Ein Gesichtspunkt, den auch Rau (Fn. 3), S. 185, ausdrücklich hervorhebt. 25 Vgl. auch Explanatory Memorandum, S. 28. Zum derzeitigen Stellenwert der „Community sanctions" in Europa H.J. Albrecht/van Kalmthout, Developments in the Conception and Use of Non-Custodial Sanctions, C E P Bulletin, December 1997, S. 1. 26 Explanatory Memorandum, S. 27.
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matischer Rückgriff auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgeschlossen wird, wiewohl diese natürlich als Druckmittel erhalten bleibt (Rule 10). Angesichts der gewissen Vernachlässigung der juristischen Infrastruktur im nicht-kustodialen Bereich, die ihre stillschweigende, bisweilen - man denke nur an die US-amerikanische „act of grace doctrine" 27 - auch ausdrückliche Rechtfertigung in dem Gedanken des Verzichts auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe fand, ist die Aufmerksamkeit, die die European Rules den rechtlichen Grundfragen hat zuteil werden lassen, zu begrüßen. Dies ist auch nicht zufällig so geschehen. Man hat vielmehr, wie sich verschiedenen Andeutungen im Explanatory Memorandum entnehmen läßt, bewußt einen derartigen Akzent im Grundsätzlichen setzen wollen. 28 Die Präambel zum Anhang spricht hier eine deutliche Sprache: „The simple fact of pursuing the aim of achieving a substitute for imprisonment does not justify recourse to any kind of sanction or measure or means of implementation ..." 2 9 . Die Tatsache, daß die European Rules eine Art normativen „Rundumschlag" vornehmen, der den mit einer Einstellung des Verfahrens kombinierten Täter-Opfer-Ausgleich ebenso einschließt wie die elektronische Überwachung oder die verschiedenen Formen der Strafaussetzung zur Bewährung, bringt nicht nur Vorteile. Sie trägt vielmehr dazu bei, daß die European Rules in inhaltlichen und methodischen Fragen, also auch gerade dort, wo es um das sozialarbeiterisch/sozialpädagogische „Unterfutter" geht, über einige Deklamationen allgemeiner Art nicht hinauskommen. Hier werden neuere Recommendations, wie ζ. B. die zu erwartende Recommendation über „Mediation in Penal Matters", nachlegen müssen.
27 Einzelheiten bei Wittstamm, Elektronischer Hausarrest? Zur Anwendbarkeit eines amerikanischen Sanktionsmodells in Deutschland, Baden-Baden 1999, S. 60. 28 Z.B. Explanatory Memorandum, S. 30. 29 S. 6.
Politische Verantwortung des Strafvollzuges angesichts des „allgemeinen Rechtsempfindens" R O L F HERRFAHRDT
Politische Verantwortung und allgemeines Rechtsempfinden stehen in einem direkten Zusammenhang. Sie bedingen sich dadurch gegenseitig, daß das Rechtsempfinden der Bevölkerung, so soll hier das Wort „allgemein" verstanden werden, sich in der politischen Verantwortung niederschlägt. Als Einstieg sei auf die zahlreichen Meinungsumfragen verwiesen, die sich mit der Sicherheitslage der Bürger und deren Verunsicherung beschäftigen. Die Kriminalitätsrate steigt von Jahr zu Jahr, insbesondere bei der Gewaltkriminalität. Die hierdurch hervorgerufene Verunsicherung der Bürger wird durch die spektakulären K i n dermorde und Kindesmißbräuche noch gesteigert. Man darf sich deshalb nicht darüber wundern, daß in der Bevölkerung auch der U n m u t über den Resozialisierungs- bzw. Behandlungsvollzug zunimmt. Wie kommt es nun zu diesen Reaktionen? H a t sich das „allgemeine Rechtsempfinden" oder das „allgemeine Rechtsgefühl" geändert? Hat die Bevölkerung ein anderes Rechtsbewußtsein als der Gesetzgeber? Zur Zeit wird eine Diskussion darüber geführt, wie weit das Recht die Entwicklung der öffentlichen Meinung beachten muß. Dieses Problem ist wieder in den Vordergrund getreten, seitdem „öffentliche Meinung", ihre Entwicklung, ihre sozialpsychologische Dynamik nunmehr durch Umfragen in seriöser Weise tatsächlich festgestellt werden kann. Das ist besonders deshalb interessant, weil gerade in der repräsentativen Demokratie ein ausgeprägtes Zusammenspiel zwischen staatsorganschaftlichem Handeln und öffentlicher Meinung stattfindet, das darauf angelegt ist, in Verfahren rationalen und distanzierten Erwägens Rechtsgrundsätze zu entwickeln, die für die Rechtsgemeinschaft insgesamt konsensfähig sind. D a ß solcher Konsens ausschließlich auf der Grundlage des allgemeinen Rechtsempfindens und nicht auf persönlichem Interesse oder vordergründigen, manipulierten Anschauungen und Stimmungen beruht, kann aber auch die repräsentative Demokratie nicht gewähr-
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leisten. Die theoretischen Diskussionen früherer Jahrhunderte wurden geführt, ohne daß man die Empirie, d.h. Meinungsumfragen zu Hilfe nehmen konnte. Dies ist heute möglich. Aber trotzdem ist es immer noch unklar, wie die Beziehung zwischen dem Recht und der öffentlichen Meinung gestaltet werden muß. Rechtsbewußtsein Um die politische Verantwortung des Strafvollzuges angesichts des „allgemeinen Rechtsempfindens" besser beschreiben zu können, sind zunächst einige theoretische Erwägungen erforderlich. Es wird von allgemeinem Rechtsgefühl und Rechtsempfinden gesprochen. Was sind das für Gefühle und Empfindungen? Wie äußern sich diese? Hat diese jeder Mensch, mehr oder weniger? Um Mißverständnissen vorzubeugen, müssen diese Begriffe, die keine rein juristischen sind, ihrem Inhalt nach kurz entwickelt und festgestellt werden, welche Bedeutung sie für die Bildung des Rechts und insbesondere für den Strafvollzug haben. Voraussetzung für die Entwicklung von einer Art Rechtsgefühl oder Rechtsempfinden ist, daß man Rechtsbewußtsein entwickelt hat. Ohne daß dem Menschen etwas bewußt wird, kann er auch keine Empfindungen oder Gefühle äußern bzw. entwickeln (ζ. B. Adam und Eva nach dem Sündenfall, oder ich muß wissen, was gut und böse ist, um Recht und Unrecht empfinden zu können). Ich muß also ein Rechts- oder Unrechtsbewußtsein haben, um Empfindungen zu haben und Gefühle äußern zu können. Was aber ist Rechtsbewußtsein? Wer hat es? Abstrakt formuliert umfaßt das Rechtsbewußtsein alle Einstellungen und Verhaltensdispositionen hinsichtlich dessen, was Recht ist, Recht sein oder Recht leisten soll. Beeinflußt durch Vorstellungen sozialer, ethischer oder weltanschaulicher Natur, erkennt man das Rechtsbewußtsein an den Antworten zu Recht und Gerechtigkeit. 1 Träger des Rechtsbewußtseins ist jedes einzelne Mitglied einer Rechtsgemeinschaft. 2 Es ist in Fragen von Moral, Recht und Gerechtigkeit einsichts- und entscheidungsfähig. Die gesellschaftlich wichtigen Träger des Rechtsbewußtseins sind die Juristen, Politiker und alle jene, die in Massenmedien zu Recht und Gerechtigkeit Position beziehen.
1 Würtemberger in N J W 1986, 2282 und Schwind, Kriminologie, 5. Aufl. 1993, Anm. 3 vor § 10. 2 Mascbke, Andreas·. Gerechtigkeit durch Methode, Heidelberg 1993, S. 87 ff.
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Aus dem jeweiligen individuellen Rechtsbewußtsein entsteht das empirisch faßbare kollektive Rechtsbewußtsein. Das letztere erfaßt die Ubereinstimmung in den Rechtsüberzeugungen einer mehr oder weniger großen Mehrheit der Bevölkerung. Individuelles und kollektives Rechtsbewußtsein bedingen sich gegenseitig. Das kollektive Rechtsbewußtsein formt und prägt auch das individuelle Rechtsbewußtsein. Es äußert sich durch die Organe der Rechtsetzung und Rechtsprechung, durch die politische Öffentlichkeitsarbeit, durch Massenmedien, durch mächtige gesellschaftliche Institutionen, aber auch durch das individuelle Rechtsbewußtsein von einzelnen tonangebenden Persönlichkeiten, die die Ideen des Zeitgeistes verkörpern. 3 Im Idealfall entsteht ein weitgehend gleichgerichtetes Rechtsbewußtsein, das von den politisch Aktiven ausgesprochen und von einer schweigenden Mehrheit angenommen wird. Ein so gleichgerichtetes Rechtsbewußtsein ist die Grundlage des Konsenses der Rechtsgemeinschaft. Ein so verstandenes Rechtsbewußtsein der Bevölkerung bzw. Rechtsgemeinschaft äußert sich in vielen Bereichen in einem intuitiven Gleichklang des Wertens und Bewertens. Dies soll in drei Bereichen beispielhaft verdeutlicht werden, in denen das Rechtsbewußtsein deutlichen Schwankungen unterlag, und zwar soll das politisch-rechtliche Bewußtsein, das sozialethische Bewußtsein und das Rechtsgefühl anhand von Beispielen untersucht werden. Politisch-rechtliches Bewußtsein Bis zur Mitte der 60er Jahre war, bedingt durch den zweiten Weltkrieg, aus der Verfassungsprogrammatik des sozialen Rechtsstaates fast nur das Rechtsstaatliche wahrgenommen worden. Das Rechtsbewußtsein orientierte sich weithin an liberalen Wirtschaftsvorstellungen. Eine staatliche Planung war nicht erwünscht. Dann erfolgte von der öffentlichen Meinung eine Wende mehr zum Sozialstaat hin. Der planende, umverteilende und soziale Sicherheit garantierende Staat fand immer mehr Befürworter. Nach einem Jahrzehnt der Sozialstaats- und Planungseuphorie scheinen wieder die Tugenden des Rechtsstaats und der Eigenverantwortlichkeit in den Vordergrund zu treten, denn unzumutbar werdende steuerliche Belastungen, Verlust der Eigeninitiative und eine lawinenartige gesetzliche Regelungseuphorie waren das Ergebnis eines planenden, umverteilenden
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Dreher, Eduard: Die Willensfreiheit, München 1987, S. 12 ff. und S. 261 ff.
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und allseits sozialsichernden Leistungsstaates (z.B. Rentenreform, weil nicht mehr finanzierbar). Eine sehr aktive Minderheit versucht zur Zeit das politisch-rechtliche Bewußtsein zu beeinflussen und nimmt notfalls auch einen gezielten Rechtsbruch (z.B. Atomkraftgegner u.a.) in Kauf, um der Mehrheit ihre Meinung aufzuzwingen. Demokratisch legitimierte oder gerichtliche Entscheidungen werden nicht mehr anerkannt. Mit einem elitären politischen Bewußtsein wird der Pluralismus, der Parlamentarismus und zum Teil die Rechtsprechung in Frage gestellt. Hier sind deutliche Schwankungen hinsichtlich des politisch-rechtlichen Bewußtseins in einem Teil der Bevölkerung festzustellen. Sozialethisches Bewußtsein Die Grundwertentscheidungen der Verfassung, wie Schutz der Menschenwürde, Schutz des Lebens, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit, Schutz der Ehe usw. sind im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung festverankerte Werte. Dies zeigt sich u.a. an der Diskussion um den Schutz des werdenden Lebens, der Sterbehilfe, der Gentechnologie, des Datenschutzes, der inneren Sicherheit usw. Der Ruf nach Sicherheit und Ordnung wird immer dann lauter, wenn die Sicherheit durch steigende Kriminalität bedroht wird. Oder wenn der Bürger nicht mehr einsehen kann, warum er wegen der kleinsten Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße zahlen soll und einigen gewalttätigen Gruppen ein rechtsfreier Raum eingeräumt wird (Hafenstraße in Hamburg, Chaostage in Hannover, Atommüllzwischenlager in Gorleben). Auch bei dem Schutz des werdenden Lebens liegt ein allgemeiner Konsens hinsichtlich des sozialethischen Bewußtseins zugrunde. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß das ungeborene Leben wie auch das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, je für sich allein genommen, geschützt werden müssen. Nur im Kollisionsfall gehen die Meinungen darüber auseinander, zu welchen Gunsten eine Güterabwägung bezüglich des geschützten Rechtsgutes vorgenommen werden darf. Rechtsgefühl Nachdem aufgrund der obigen Ausführungen festgestellt wurde, daß sich Rechtsbewußtsein beim einzelnen als auch bei der Bevölkerung bzw. in der Rechtsgemeinschaft entwickeln kann, ist zu fragen, wie sich das Rechtsbewußtsein äußert. Zunächst muß den Menschen etwas bewußt werden, um dann Gefühle oder Empfindungen
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äußern zu können. Nachdem einige Bereiche beschrieben wurden, in denen sich ein Rechtsbewußtsein entwickelt hat, ist nun zu fragen, wie Rechtsgefühle oder Rechtsempfindungen entstehen. Hierzu will ich zunächst auf einige geschichtliche Entwicklungen hinweisen. In der abendländischen Philosophie taucht der Begriff „Rechtsgefühl" zuerst umschrieben bei Aristoteles auf, und zwar einmal in der „Nikomachischen Ethik" 4 , da soll der Richter „so etwas wie eine beseelte Gerechtigkeit" sein und zum anderen in der „Politik" 5 , in der festgestellt wird, daß „im Gegensatz zu den anderen Lebewesen dem Menschen allein eigentümlich sei, daß er die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten usw. besitzt" (siehe auch Sündenfall). Eine systematische Erörterung des Problems, was „Rechtsgefühl" ist, hat erst im vorigen Jahrhundert, und zwar in der deutschen Rechtswissenschaft stattgefunden, nachdem die klassische Rechtstheorie der Römer sich fast ausschließlich nur mit dem ius naturale befaßt hatte. Entstehungstheorien 6
1. Gustav Rümelin führt das Recht auf einen angeborenen Ordnungstrieb zurück, „der auf die Harmonie unseres Lebens und der Welt gerichtet ist". Recht hat für ihn die Funktion, die sittliche Gesamtauffassung des Volkes, die sich in Rechtsgefühl und Gewissen, den beiden Komponenten des Ordnungstriebes äußere, in einer idealen Ordnung der Lebensverhältnisse zum Ausdruck zu bringen. Spannungen zwischen einem positiven Recht, das den - historischen Veränderungen unterliegenden - sittlichen Grundanschauungen eines Volkes nicht mehr entspricht, und dem Rechtsgefühl dieses Volkes müßten durch Anpassung des Rechts an das Rechtsgefühl beseitigt werden. 2. Demgegenüber vertrat Rudolf von Ihering 7 die Theorie vonder empirischen, „historischen" Entstehung des Rechtsgefühls, nach der die Erfahrungen von den jeweiligen Lebensbedingungen der menschlichen Gemeinschaft geistig verinnerlicht würden, daß der Mensch sie für einen Teil der eigenen Persönlichkeit halte. Dieser Streit, ob das Rechtsgefühl ange4
Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1132 a 21. Aristoteles: Politik, 1253 a 15. 6 Rümelin, Gustav in seiner Tübinger Kanzlerrede von 1871 „Uber das Rechtsgefühl" . 7 von Ihering, Rudolf, „Uber die Entstehung des Rechtsgefühls", 1884. 5
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boren oder erworben sei, beherrscht auch heute noch die Diskussion. 3. Einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt erzielte Erwin Riezler 8 . Er führte seine Untersuchung zur Bestimmung des Rechtsgefühls unter drei Aspekten durch, und zwar daß a) ein Gefühl dafür da sei, was gegenwärtig Recht ist (positives Rechtsgefühl), b) ein Gefühl dafür da sei, was Recht sein soll (ideales Rechtsgefühl) und c) ein Gefühl dafür da sei, daß nur das dem Recht entsprechende geschehen soll (allgemeines Rechtsgefühl oder Rechtsempfinden, d.h. die Achtung vor der Rechtsordnung). Hier taucht auch zum ersten Mal der Begriff des „allgemeinen Rechtsempfindens" auf. Diese Dreiteilung des Rechtsgefühls hat lange Zeit die Diskussion geprägt. 4. Unter dem Einfluß insbesondere der Psychoanalyse ist ein neuer Aspekt hinsichtlich der Entstehung des Rechtsgefühls erörtert worden. Michael Bihler hat darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Begriff um einen psychischen Sachverhalt und nicht um eine normative Kategorie oder einen Rechtsbegriff handelt. Rechtsgefühl ist für ihn die spontane Stellungnahme in einem juristischen Konflikt für die eine oder andere Partei. Es wird von demjenigen, der Partei ergreift, als Empathie, d.h. als Gefühl der Einfühlung in den anderen wahrgenommen. Nach dieser Auffassung ist das Rechtsgefühl daher in seiner Genese subjektiv und emotional, in seinem Anspruch objektiv und rational. Weil die Parteinahme „durch rationale Erwägungen legitimiert wird, empfindet der Fühlende sein Gefühl gleichzeitig als rational begründbare Forderung der Gerechtigkeit". 9 Danach ist das Rechtsgefühl nicht ein statisches Phänomen sondern unterliegt psychischen und sozialen Einflüssen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das allgemeine Rechtsgefühl eine rechtliche „Grundstimmung" jedes einzelnen Menschen bzw. Mitgliedes einer Rechtsgemeinschaft ist, die sich in einem relativ großen Konsens mit den anderen Mitgliedern befindet. Diese Grundstimmung wird sowohl durch Veranlagung, als auch durch rechtlich relevante Eindrücke und Zielvorstellungen geprägt.
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Riezler, Erwin: Das Rechtsgefühl, 1923. Bihler, Michael·. Rechtsgefühl - System und Wertung, 1979, S. 37 ff.
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Dies hat zur Folge, daß es sich bei der Äußerung des Rechtsgefühls um eine Parallelität rationaler und emotionaler Faktoren handelt. Vom Straftäter wird daher nicht verlangt, daß er die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Juristen hat, sondern es wird von ihm eine „Gewissensanspannung" auf der Ebene eines Laien verlangt. Die vom Laien geforderte Überlegung nennt man in der Strafrechtslehre die „Parallelwertung in der Laiensphäre". Diese Wertung ist mangels Rechtskenntnis aber eine Wertung des Gefühls im Konsens mit der Rechtsgemeinschaft. Der Bundesgerichtshof 10 hat dies in einem Urteil einmal sehr treffend formuliert. Er definiert es als das „Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden". Das Rechtsgefühl des Einzelnen und der Rechtsgemeinschaft bewährt sich erst in der Konfrontation mit Rechtsfragen, wie wir sie täglich im Leben antreffen. Im praktischen Alltagsbewußtsein hat sich das allgemeine Rechtsgefühl im Straßenverkehr, im Bereich des Rechtsgüterschutzes usw. zu bewähren. Es ist interessant zu verfolgen, wie sich in den vergangenen Jahren ein allgemeines Rechtsgefühl auf dem Gebiet des Umwelt- und Naturschutzes in der Bevölkerung entwickelt hat. Grenzen des allgemeinen Rechtsgefühls Das allgemeine Rechtsgefühl wird sowohl durch individuelle als auch durch kollektive Grenzen eingeengt. Es wird dort begrenzt, wo die Norm zur Gewißheit wird und das Gerechtigkeitsgefühl „aller billig und gerecht Denkenden" den eigenen rechtlich relevanten Eindruck einschränkt. Aber auch das Gemeinschaftsgefühl, jedes einzelnen wirkt unverkennbar auch auf das individuelle Rechtsgefühl ein. Die stärkste Begrenzung erfolgt durch das Gefühl der Achtung vor dem bestehenden Recht (Gesetzesgehorsam). Der Gehorsam gegenüber dem demokratisch legitimierten Recht gehört zur politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaates. Der Rechtsstaat wäre schnell am Ende, wenn dies von der Bevölkerung nicht mehr beachtet würde. Als warnendes Beispiel sei auf Vorgänge in der Weimarer Zeit verwiesen. Seit Mitte der 60er Jahre ist der Gesetzesgehorsam im Schwinden. Die sogenannte junge Generation und leider auch Teile der jungen Juristen-Generation halten den „zivilen Ungehorsam" für legitim. Wobei unter „zivilem Ungehorsam" der verklausulierte Gesetzesbruch gemeint ist. Auf die Frage, ob ihrer Ansicht nach eine buchstabengetreue Gesetzesanwendung
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B G H Z 52, S. 17, 20.
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oder eine Orientierung an praktische Gerechtigkeit bei ihren richterlichen Entscheidungen im Vordergrund stehen würde, entschieden sich für eine mehr oder weniger buchstabengetreue Auslegung der Gesetze schon damals nur ca. 45 % der jungen Richter. 11 Am Rechtsgefühl und an den Forderungen praktischer Gerechtigkeit wollten über 50 % der jungen Richter ihre Entscheidungen orientieren. Ein weiterer bemerkenswerter Schwund des Gesetzesgehorsams ist im Bereich des Eigentumsschutzes (z.B. Diskussion um die Strafbarkeit von Ladendiebstählen bei jährlichen Schäden von über 4 Milliarden DM), des Verkehrsrechts, der Schwarzarbeit, dem Mißbrauch des Demonstrationsrechtes, Art. 8 G G (z.B. Vermummung, gewalttätige Ausschreitungen gegen Polizei und fremdes Eigentum), der Hooligan-Szene und den Graffittisprayern (als Ausdruck von „Kunst" und Meinungsfreiheit in der Form der Sachbeschädigung) festzustellen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Kriminalitätsrate ständig steigt. Der pragmatische Umgang mit dem Recht nimmt ständig zu, und die Autorität des Gesetzes nimmt aus vielerlei Gründen ständig ab. Nur noch das anerkennungswürdig erscheinende Recht wird weitgehend befolgt. Das Recht, das dem allgemeinen Rechtsbewußtsein des einzelnen zuwiderläuft, wird nur noch in beschränktem Umfange befolgt. Ein Grund mag darin zu sehen sein, daß das geltende Recht schon vom Juristen nicht mehr zu überschauen ist. Die ständigen Gesetzesneuerungen und die Gesetzesflut verunsichern sowohl den Fachmann als auch den Laien. Es ist daher zu fragen, ob diese Auswirkungen wünschenswert sind und welche Funktion das Rechtsgefühl heute hat. Funktion des Rechtsgefühls Das Rechtsgefühl in der Ausprägung von Rechtsbewußtsein und Unrechtsbewußtsein ist eine existentielle Eigenschaft des Menschen. Es wirkt in alle seine Lebensbereiche mehr oder weniger bestimmend hinein. Individuell betrachtet ist es für den einzelnen eine Hilfe bei der Rechtsfindung und allgemein betrachtet, ist es bei mehreren gleichgerichteten Rechtsgefühlen ein wichtiger Beitrag zum Konsens der Rechtsgemeinschaft. Das Rechtsgefühl kann die Rechtsfindung wesentlich unterstützen. Die wohl schwierigsten Anwendungsbereiche des Rechtsgefühls sind die Auffindung ver-
11 Nölle/Neumann/Thiel: S. 236.
Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Band VIII, 1983,
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bindlicher Rechtssätze sowie die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und die Ausübung des Ermessens. Auf Grund der obigen Ausführungen kann festgehalten werden, daß ein „allgemeines Rechtsempfinden" bzw. „Rechtsgefühl" die Rechtsgemeinschaft prägt und kein Organ oder der einzelne Bürger sich diesem Empfinden generell verschließen kann. Allerdings ist das „allgemeine Rechtsempfinden" ständigen Schwankungen bzw. dem Zeitgeist unterworfen. Mehrere Umfragen in den letzten Jahren zeigen, daß sich das allgemeine Rechtsempfinden in Bezug auf den Resozialisierungsgedanken im Strafvollzugsgesetz geändert hat. Die Reformeuphorie hat nachgelassen und ist einer immer zunehmenderen kritischen Betrachtungsweise gewichen. Die hochgesteckten Ziele und Erwartungen, die man durch die Verabschiedung des Strafvollzuggesetzes an den Strafvollzug gestellt hatte, haben sich nicht erfüllt. Trotz des großen finanziellen Aufwandes, der zahlreichen Resozialisierungsbemühungen und der unbestrittenen erheblichen Verbesserungen im Vollzug sowohl in personeller als auch in baulicher Hinsicht, hat es nicht zu einer Senkung der Kriminalitätsrate bzw. der Rückfallquote geführt. Die angezeigten Straftaten sind vielmehr stark angestiegen. Dies hat dazu geführt, daß die Vollstreckungs- und Vollzugsorgane in der Öffentlichkeit einer erheblichen Kritik ausgesetzt sind und Enttäuschung sowie Resignation hier und da zu bemerken ist. Auch ein Politiker kann sich diesem „Rechtsempfinden" nicht entziehen, zumal die Kindermorde in der letzten Zeit uns die Problematik deutlich vor Augen geführt haben. Diesen schrecklichen Ereignissen kann auch nicht mit dem Argument begegnet werden, daß es sich hierbei um tragische Einzelfälle gehandelt habe. Wir lesen vielmehr in den Zeitungen, daß Hafturlauber erneut Straftaten begangen oder ehemalige Strafgefangene kurze Zeit nach ihrer Entlassung wieder neue Straftaten verübt haben. Sollen wir aufgrund der öffentlichen Meinung, die sich in den Meinungsumfragen niederschlägt, nun in unseren Resozialisierungsbemühungen nachlassen? Hat der Resozialisierungsgedanke überlebt oder war er schon vom Ansatz her falsch? Sollen wir wieder zum Verwahrvollzug zurückkehren? Der Resozialisierungsgedanke beruht auf der Erkenntnis, daß eine Vielzahl von Faktoren kriminelles Verhalten entstehen lassen, ganz gleich ob es sich um Störungen in der Persönlichkeit des Straftäters oder ob es sich um Störungen in seinen sozialen Bezügen handelt. In den meisten Fällen bedingen sich beide Störungsbereiche gegenseitig. So vielfältig die kriminogenen Faktoren sind, so verschiedenartig und zahlreich müssen auch die Resozialisierungsbemühungen,
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die manche auch als Behandlungsmaßnahmen bezeichnen, sein. Allerdings muß man sich von der Vorstellung freimachen, daß der Vollzug es in der Hand habe sämtliche Probleme der Gefangenen während ihrer Haftzeit zu lösen. Das ist nicht Verpflichtung des Vollzuges, sondern soll gem. § 2 StVollzG Vollzugsziel sein, nämlich den Gefangenen fähig zu machen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen". Von diesem Ziel sollten wir auch nicht ablassen. Das Bundesverfassungsgericht 12 hat in seinem „Lebach-Urteil" ausgeführt, daß der Gedanke der Resozialisierung dem Selbstverständnis unseres Gemeinwesens entspricht, welches die Menschenwürde in den Mittelpunkt seiner Wertordnung stellt und sich dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet weiß. Demnach liegt die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Rechtsgemeinschaft ebenso im öffentlichen Interesse wie im Interesse des Gefangenen selbst. Bei dieser Gewichtung ist aber ein weiteres Verfassungsprinzip zu berücksichtigen, und zwar der Strafanspruch des Staates. Unsere Strafrechtspflege einschließlich des Strafvollzuges beruht nämlich auf zwei jeweils gleichrangigen verfassungsrechtlich legitimierten Prinzipien. Dies wird leider allzuhäufig vergessen. Das hierauf beruhende Spannungsverhältnis zwischen Strafanspruch und Resozialisierungsanspruch läßt sich nicht dadurch lösen, daß man nur den einen oder anderen Grundsatz gelten läßt. Es ist vielmehr notwendig, zwischen den widerstreitenden Prinzipien abzuwägen und einen Ausgleich zu suchen. Der Gesetzgeber hat bei Schaffung des Strafvollzugsgesetzes zu diesem Problem nicht eindeutig Stellung genommen. Wenn man nur § 2 StVollzG liest, so kann man der Meinung sein, daß im Strafvollzug neben dem Gebot, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, nur die Aufgabe gestellt sei, den Gefangenen zu resozialisieren. Dabei wird vergessen, daß solange wir ein Strafgesetzbuch haben - der Kern der Aufgabe des Vollzuges als Teil der Rechtspflege in der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs liegt. Im Strafvollzug sind die auf Freiheitsstrafe lautenden Gerichtsurteile umzusetzen. Man muß schon die Aufgaben des Vollzuges im Rahmen der Strafrechtspflege vollständig benennen, wenn man beurteilen will, inwieweit er seine Aufgaben erfüllt, und in welchem Umfang die Wiedereingliederung des Gefangenen erfolgen kann. 13 Für jeden Verurteilten sind bereits wesentliche Vorentscheidungen gefallen, bevor er in den Strafvollzug
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BVerfGE 33, S. 1 und auch 40, S. 276. Hierzu grundsätzlich Arloth, Frank, in G A 1988, S. 403 ff.
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kommt. So hat z.B. das Gesetz eine Strafaussetzung zur Bewährung wegen der Höhe der Strafe nicht zugelassen oder der Richter die Aussetzung der Strafe nicht als eine geeignete Maßnahme angesehen. Sicherlich wäre es allein unter dem Gesichtspunkt des Resozialisierungsgedankens manchmal besser, wenn der eine oder andere Verurteilte nicht in den Vollzug käme. Unsere Rechtsordnung läßt jedoch dieses Interesse je nach der Schwere der Straftat hinter den Strafanspruch zurücktreten. Es steht daher fest, daß trotz § 2 StVollzG das Gericht nicht darüber entscheidet, ob ein Verurteilter resozialisierungsbedürftig ist oder nicht, sondern es verwirklicht den staatlichen Strafanspruch mit der Verhängung seines Urteils. Dementsprechend bleibt der Strafvollzug hinsichtlich seines Resozialisierungsanspruches darauf beschränkt, was eine Justizvollzugsanstalt im Rahmen des vorwiegend aus anderen Gründen angeordneten und durchzuführenden Freiheitsentzuges zu leisten imstande ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in letzter Zeit festgestellt, daß bei der Vollstreckung einer Strafe und den dabei zu treffenden Entscheidungen auch die besondere Schwere der Tatschuld, Gedanken eines gerechten Schuldausgleiches sowie die aus den allgemein anerkannten Strafzwecken (ζ. B. Verteidigung der Rechtsordnung, Schuldverarbeitung usw.) in den Strafvollzug hineinwirkende Gesichtspunkte sein können. 15 Daß dies möglich sein muß, ergibt sich schon allein daraus, daß der Strafvollzug ein untrennbarer Bestandteil der staatlichen Strafrechtspflege ist. Dies bedeutet u.a., daß zwischen dem Strafverfahren und dem Strafvollzug kein Bruch entstehen darf, daß vielmehr neben der besonders wichtigen Zielsetzung der Wiedereingliederung des Straftäters und dem Schutz der Allgemeinheit auch die allgemeinen Strafzwecke des Schuldausgleichs oder die Sühne für begangenes Unrecht und der Verteidigung der Rechtsordnung bei Entscheidungen im Strafvollzug mit berücksichtigt werden müssen. Dies ist insbesondere bei solchen Vollzugsentscheidungen zu beachten, durch die der Freiheitsentzug wesentlich gelockert oder vorübergehend nahezu völlig aufgehoben wird. 16 Das Schrifttum ist im Gegensatz zur einhelligen Meinung der Rechtsprechung zum überwiegenden Teil anderer Ansicht. Der Rahmen
14 BVerfGE mit seiner Entscheidung vom 28.06.1983 (BVerfGE 64 S. 261 ff.) beginnend. 15 Siehe auch Arloth in GA 1988, S. 411 ff. 16 vgl. außer BVerfGE 64, S. 261 ff. insbesondere O L G Celle in ZfStrVo 1984, S. 251 f.; O L G Frankfurt in NStZ 1981, S. 157; NStZ 1983, S. 140 f.; ZfStrVo 1987, S. 111 f.; O L G Hamm in NStZ 1981, S. 495 u. a.
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dieses Beitrages erlaubt es allerdings nicht, auf die teilweise gewichtigen Argumente einzugehen. Die vollzugspolitischen Auswirkungen sind von vielschichtiger Natur. Rechtsprechung und Rechtswirklichkeit stehen in einem engen Zusammenhang. Dies ist u.a. daran zu erkennen, daß auch die Gerichtsentscheidungen Schwankungen unterworfen sind und sich nicht dem Rechtsempfinden bzw. dem Rechtsgefühl des einzelnen oder der Allgemeinheit entziehen können. So wird z.B. der Anstieg der Untersuchungsgefangenen darauf zurückgeführt, daß die Öffentlichkeit auf Grund von zahlreichen spektakulären Straftaten empfindlicher reagiert und offensichtlich das Rechtsempfinden bzw. das Sicherheitsgefühl sich stärker Geltung verschafft als früher. Ebenso verhält es sich mit der Inhaftierung von jugendlichen Straftätern. Andererseits stoßen Urteile bei den Bürgern auf Unverständnis oder rufen sogar Empörung hervor, wie wir bei dem „Soldaten sind Mörder"-Urteil oder dem Kruzifix-Urteil gesehen haben. Wie ich meine, auch zu recht. Wir müssen aus dieser gegenseitigen Bedingtheit von Rechtsprechung und Rechtswirklichkeit für den Vollzugsalltag Konsequenzen ziehen. Diese Bedingtheit wird meistens von dem Instanzgericht noch gesehen. Die obersten Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, scheinen dies nicht mehr zu beachten. Als Beispiel sei auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 17 hingewiesen. Hier ging es um die „Verunglimpfung das Staates" nach § 90 a StGB und zwar um die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptung und Meinungsfreiheit. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Abgrenzung sind sowohl in logischer als auch aus juristischer Sicht nicht nachvollziehbar. Erkennbar ist dies meistens u.a. auch in den „wolkenreichen" Formulierungen der Entscheidungen. Dies begann 1957 mit dem „Lüth-Urteil", wonach die Schranken von Grundrechten ihrerseits „im Lichte" des eingeschränkten Grundrechts auszulegen seien. Als letzte Entscheidung hierzu sei die vom 25.08.199818 genannt. Vergleiche mit ausländischen Verfassungsgerichtsentscheidungen zu den genannten Problembereichen zeigen eindeutig die offensichtlichen Qualitätsunterschiede auf. Es wäre sicherlich sehr reizvoll, hierzu eine eingehende Vergleichsanalyse zu erstellen. Wie wirken sich nun die geänderte Rechtsprechung - weg vom Täter - zum Tatstrafrecht - und die Rechtswirklichkeit auf den Strafvollzug aus?
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BVerfGE vom 29.07.1998 - 1 BvR 287/93 -. BVerfGE vom 25.08.1998 - 1 BvR 1435/98 -.
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Die Gewährung von Vollzugslockerungen muß neu überdacht werden, denn es widerspricht dem Rechtsempfinden der Bürger, wenn Strafgefangene Urlaub erhalten, obwohl sie wenige Wochen oder Monate vorher Vollzugslockerungen mißbraucht haben. Bei der Gwährung von Vollzugslockerungen wird das Spannungsverhältnis zwischen den Resozialisierungsbemühungen auf der einen Seite und dem Schutz der Allgemeinheit und den Strafzwecken auf der anderen Seite am deutlichsten. Man möchte meinen, daß sich diese Grundsätze ausschließen und man nur das eine tun und das andere lassen muß. Auf den ersten Blick muß man annehmen, daß diese widersprüchlichen Grundsätze sich nicht überbrücken lassen. Deshalb sollen, da es sich um eines der schwierigsten Probleme im Strafvollzug handelt, hierzu einige Anregungen gegeben werden, wie dieser - meiner Meinung nach - nur vermeintliche Widerspruch der Grundsätze aufgehoben werden kann. Hier kommt die politische Verantwortung am deutlichsten zum Ausdruck. Vollzugslockerungen sind ein wichtiges Mittel im Bereich der Resozialisierungsbemühungen. Das O L G Frankfurt führt in seinem Beschluß vom 11.04.198519 u.a. aus: „Als Behandlungsmaßnahme stellt der Urlaub keine Vergünstigung dar. ... Vielmehr dient der Urlaub der Aufrechterhaltung und Festigung der sozialen Kontakte und der Bewährung in Freiheit ... . Gerade die Genehmigung von Vollzugslockerungen, insbesondere wenn sie von Mißerfolgen begleitet sind, wird im besonderen Maße kritisch von der Öffentlichkeit verfolgt. 20 Die hier freiwerdenden Emotionen bekommt der Politiker am ehesten zu spüren. Der Schutz der Allgemeinheit ist auch Aufgabe des Vollzuges. Bei der Gewährung von Vollzugslockerungen führt die Sicherheitsfrage häufig zu großen Schwierigkeiten, weil hier eine Art Güterabwägung zwischen den Resozialisierungsbemühungen und dem Schutz der Allgemeinheit getroffen werden muß. N u r in den seltensten Fällen kommt man bei der Abwägung aller Interessen zu einer befriedigenden Lösung. Bei der Entscheidungsfindung wird gelegentlich verkannt, daß die Gewährleistung der Sicherheit als eine dem Wesen der Freiheitsstrafe immanente Vollzugsaufgabe gesehen werden muß. Sie bedarf daher keiner zusätzlichen Legitimation oder besonderen Ausgestaltung im Strafvollzugsgesetz. Sicherheitsgesichtspunkte spielen im
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O L G Frankfurt vom 11.04.1985 - 3Ws 241/85 -. v. Harting, Anja: Der Mißbrauch von Vollzugslockerungen zu Straftaten, München 1997, S. 4 ff. 20
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gesamten Vollzugsgeschehen eine mehr oder minder beherrschende Rolle. Dabei geht es nicht nur um die Sicherheit des gesetzlichen Auftrages, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, sondern auch um die Sicherheit der Anstalt. Bei Vollzugsentscheidungen wird der Anstaltsleiter also immer vor der Entscheidung stehen, welchen Belangen er den Vorrang geben muß. Das Rangverhältnis kann allgemein auf die Kurzformel gebracht werden: Soviel Resozialisierung wie möglich, soviel Sicherheit wie nötig. Dies gilt nicht nur für Vollzugslockerungen, sondern auch für die Freiräume des Gefangenen in der Anstalt. Allerdings wird ein Restrisiko immer bestehen bleiben; denn der Vollzug hat es mit Menschen zu tun, die ihr Verhalten ständig ändern können. Aufgrund verschiedener Ereignisse in den letzten Jahren und der durch Meinungsumfragen festgestellten Verunsicherung der Bevölkerung hinsichtlich der allgemeinen als auch der eigenen Sicherheit ist erneut eine lebhafte Diskussion über die Sicherheitsfrage im Vollzug entbrannt. Sie hat deutlich gemacht, daß die die Strafrechtspflege heute tragenden Aspekte der Bestrafung, der Resozialisierung und der Sicherheit in einem wesentlich komplizierteren Verhältnis zueinander stehen als dies damals bei der Strafvollzugsreform angenommen wurde. Abschließend soll deshalb kurzgefaßt noch etwas zum Einfluß der Strafzwecke auf den Strafvollzug gesagt werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang nämlich die Frage, welche Vollzugsentscheidungen auch von anderen als den in § 2 StVollzG ausdrücklich genannten Gesichtspunkten künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen und die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, beeinflußt werden. Das Bundesverfassungsgericht21 hat als Strafzwecke Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne (Schuldverarbeitung) und Vergeltung für begangenes Unrecht angesehen. Andererseits hat dasselbe Gericht 22 festgestellt, daß dem Gefangenen über den Freiheitsentzug hinaus kein weiteres „Übel" auferlegt werden darf. Demnach könnte man zwischen begünstigenden und belastenden Vollzugsmaßnahmen unterscheiden und bei begünstigenden Maßnahmen die Schwere der Schuld, die Bereitschaft zur Sühne und die Generalprävention berücksichtigen. Ein Konflikt mit dem o.g. Grundsatz des Verbotes einer „weiteren Ubelszufügung" wäre dann ausgeschlossen. Hiergegen spricht aber, daß sich Schuldaus-
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BVerfGE 45, S. 187, S. 256f. BVerfGE 33, S. Iff; 45, S. 187, S. 240.
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gleich und Generalprävention im Vollzug der Freiheitsstrafe als solche verwirklichen und nicht in der Genehmigung oder Versagung von Begünstigungen. Der Strafzweck der Sühnebereitschaft kann ebenfalls nicht die Genehmigung oder Versagung einer Vollzugsmaßnahme beeinflussen, weil Sühnebereitschaft bekanntlicherweise nicht erzwungen werden kann. Daraus folgt, daß die Strafzwecke nur solche Vollzugsentscheidungen beeinflussen können, die den Charakter der Strafe betreffen. Hierzu gehören insbesondere die Entscheidungen über Vollzugslockerungen wie Urlaub, Ausgang, Freigang und Verlegung in den offenen Vollzug. Auf alle Entscheidungen im Innenbereich einer Anstalt haben demnach die Strafzwecke keinen Einfluß (Kleidung, Freizeit, Ausgestaltung der Zelle usw.). Vollzugslockerungen sind Maßnahmen, die gem. § 3 StVollzG die Resozialisierung des Gefangenen fördern. Außerdem soll das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. Dies kann nur erreicht werden, wenn u.a. der Freiheitsentzug aufgehoben oder zumindest gelockert wird. Es ist daher einsichtig, daß die o.g. Strafzwecke, die zur Verhängung der Strafe geführt haben, die Maßnahmen, die nun wieder zur Lockerung des Freiheitsentzuges führen, beeinflussen. Der hiergegen vorgebrachte Einwand, daß Vollzugslockerungen die Strafvollstreckung nicht unterbrechen würden und dies keine Aufhebung des Freiheitsentzuges sei, trifft nicht zu. Es ist zwar richtig, daß der Gefangene nicht seine völlige Freiheit erlangt, aber unbestritten ist, daß die Gewährung von Vollzugslockerungen den Freiheitsentzug als solchen berühren bzw. lockern. Aber auch der Strafzweck des Schuldausgleichs ist bei der Gewährung von Vollzugslockerungen zu berücksichtigen. Geht man davon aus, daß Schuldausgleich durch die Dauer der Freiheitsstrafe bestimmt wird und generalpräventive Wirkungen grundsätzlich vom Freiheitsentzug ausgehen, so kann es nicht darauf ankommen, ob eine lebenslange oder eine zeitige Freiheitsstrafe zu verbüßen ist. Für die Schwere der Schuld ist und bleibt Bemessungsgrundlage das richterliche Urteil, insbesondere die darin ausgesprochenen Wertungen und das verhängte Strafmaß. Aufgabe des Vollzuges als Teil der Rechtspflege ist es aber, die Strafzwecke des Schuldausgleichs und der Schuldverarbeitung bei der Gewährung von Vollzugslockerungen zu berücksichtigen. Dies bedeutet z.B., daß ein Gefangener aus generalpräventiven Erwägungen nicht schon ohne weiteres zu Beginn der Haft Ausgang oder Urlaub - auch bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§11 und 13 StVollzG - erhalten kann. Vielmehr muß sich der Zeitpunkt der Gewährung von Voll-
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zugslockerungen nach der Schwere der Schuld richten. Hierfür ist nicht entscheidend, ob man den Schwerpunkt in den generalpräventiven Wirkungen der Vollzugsmaßnahmen sieht und dem Schuldausgleich nur eine die zeitliche Gewährung bestimmende Funktion beimißt, oder ob man im Schuldausgleich eine eigenständige Zwecksetzung erkennt. Dies darf und kann nicht eine rein schematische zeitliche Staffelung der Gewährung von Vollzugslockerungen zur Folge haben, weil diese beiden Aspekte nur zwei von mehreren Gesichtspunkten sind, die bei der Gewährung von Vollzugslockerungen zu berücksichtigen sind. Schwierig wird eine solche Beurteilung nur bei den Gefangenen, die zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Hier steht das Strafmaß nicht fest, weil es im Hinblick auf § 57 a StGB über 15 Jahre hinaus nicht zeitlich genau bestimmbar ist. Aber auch hier muß der Anstaltsleiter, wie auch in den anderen Fällen, den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt prognostizieren. Diese Entscheidung ist im Gegensatz zu anderen Entscheidungen, wie z.B. Fluchtgefahr oder Eignung hinsichtlich bestimmter Behandlungsmaßnahmen leichter zu treffen, als dies oft behauptet wird. Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Berücksichtigung von Strafzwecken einsichtig macht, ist der, daß die Vollzugsgestaltung im Hinblick auf das allgemeine Verständnis vom Wesen der Strafe als Freiheitsentzug der Öffentlichkeit vermittelbar sein muß. Die Reaktionen der Öffentlichkeit deuten darauf hin, daß wir Gefahr laufen, mit unseren Vollzugsentscheidungen von der Bevölkerung nicht mehr verstanden zu werden. Sollte dies zu einer Grundstimmung der Rechtsgemeinschaft werden, so werden alle Wiedereingliederungsbemühungen vergeblich sein. Es muß daher mit allen Mitteln versucht werden, daß der zur Zeit noch bestehende Vertrauensvorschuß nicht ganz verloren wird, denn die politisch Verantwortlichen werden auf das „allgemeine Rechtsempfinden" reagieren, wie man bei dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 und dem 6. Strafrechtsreformgesetz (6. StrRG) gesehen hat. Abschließend ist noch zu klären, inwieweit der Sühnegedanke bei Vollzugsmaßnahmen zu berücksichtigen ist. Sühnebereitschaft, Schuldeinsicht und Schuldverarbeitung sind zwar nicht zwingende, aber doch wünschenswerte Voraussetzungen für die Erreichung des Vollzugszieles. Ihr Vorliegen kann eine Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen nur fördern. In diesem Sinne sind auch die Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 W zu § 11 StVollzG und Nr. 4 Abs. 1 Satz 2 W zu § 13 StVollzG zu verstehen. Diese Verwaltungsvorschriften besagen, daß bei der Entscheidung über Vollzugslockerungen beachtet werden muß, ob der Ge-
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fangene durch sein Verhalten im Vollzug die Bereitschaft gezeigt hat, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken. Auch das Strafvollzugsgesetz selbst geht in § 4 Abs. 1 von einer Notwendigkeit der Mitwirkung des Gefangenen aus. Allerdings enthält diese Vorschrift keine Mitwirkungspflicht des Gefangenen. Die Vollzugsbehörde wird aber verpflichtet die Bereitschaft des Gefangenen zur Mitwirkung zu wecken und zu fördern. U m den genannten Grundsätzen im Vollzug gerecht zu werden, müssen große Anstrengungen unternommen werden, die einen verantwortungsvollen Einsatz des Personals, die Bereitstellung von erheblichen finanziellen Mitteln, aber auch Verständnis und Mitwirkung der Öffentlichkeit bedingen.
Jugendstrafvollzug zwischen Erziehung und Strafe - Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Vergleich FRIEDER D Ü N K E L
1. Vorbemerkung Kaum ein anderer hat sich um die Entwicklung des Jugendstrafvollzugs in Deutschland in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts so verdient gemacht wie der Jubilar. Alexander Böhm als langjähriger Leiter der Jugendstrafanstalt Rockenberg, 1 später Vorsitzender der Jugendstrafvollzugskommission 2 und durch zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zum Jugendstrafvollzug ausgewiesener Experte 3 hat durch die glückliche Verbindung von Praxis und Theorie in seiner Person die Reformbewegung wesentlich beeinflußt. Schon sehr früh hat er sich empirischen Fragen zum Jugendstrafvollzug gestellt und beispielsweise zur Rückfälligkeit nach Jugendstrafvollzug zukunftsweisende Untersuchungen vorgelegt.4 2. Jugendstrafe als „ultima ratio" und so kurz wie möglich internationale Entwicklungstendenzen Der in Deutschland in §§ 5 und 17 J G G verankerte Grundsatz, daß die Jugendstrafe nur als letztes Mittel in Betracht kommen darf, wenn weniger schwerwiegende Eingriffe nicht erfolgversprechend erscheinen oder die Schwere der Straftat Alternativen ausschließt, hat weltweit Anerkennung gefunden und spiegelt sich insbesondere in den internationalen Instrumenten und Mindestgrundsätzen der
Vgl. hierzu Böhm 1981. Vgl. zum Schlußbericht der Jugendstrafvollzugskommission Bundesministerium der Justiz 1980. 3 Vgl. statt vieler die grundlegenden Ausführungen in Böhm 1979; 1981a; 1986; 1996, S. 226 ff. 4 Vgl. ζ. B. Böhm 1973. 1
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Vereinten Nationen bzw. des Europarats wider.5 Beim 8. Kongreß der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger 1990 in Havanna verabschiedete die Generalversammlung mit den Grundsätzen zum Schutze inhaftierter Jugendlicher ein weiteres wichtiges Instrument, das - wenngleich nicht völkerrechtlich verbindlich6 - für die Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs im internationalen Vergleich Maßstäbe setzt, an denen die nationalen Gesetzgebungen und Regelungen zu messen sind. Der Beschluß der Generalversammlung der Vereinten Nationen betont an erster Stelle erneut den Grundsatz, daß die Inhaftierung von Jugendlichen stets das letzte Mittel bleiben muß und ggf. für eine möglichst kurze Dauer zu bemessen ist.7 Es geht also im Rechtsfolgebereich nicht nur um die Vermeidung von Freiheitsentzug durch den Ausbau von Alternativen, sondern auch - angesichts der empirisch belegbaren, im Regelfall eher negativen Auswirkungen8 - um eine möglichst kurze Bemessung des Freiheitsentzugs. Die Sensibilisierung für Probleme des Jugendstrafvollzugs auf internationaler Ebene hat in den erwähnten Grundsätzen zum Schutz inhaftierter Jugendlicher durch die Vereinten Nationen einen vorläufigen Höhepunkt gefunden. Ausgangspunkt bildet insoweit die Feststellung, daß inhaftierte Jugendliche in hohem Maße verletzbar sind und besonderer Aufmerksamkeit und des besonderen Schutzes während und nach der Inhaftierung bedürfen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um private (ζ. B. Erziehungsheime) oder öffentliche Einrichtungen handelt. Die Implikationen einer immer restriktiveren Verhängung von Jugendstrafe für den Jugendstrafvollzug liegen auf der Hand: Im Regelfall handelt es sich bei der Klientel von Jugendstrafanstalten, aber auch der Heimerziehung, um wiederholt, häufig schon im frühen Kindesalter auffällige junge Menschen. Die Arbeit für die Mitarbeiter des Jugendstrafvollzugs wird gleichzeitig immer schwieriger, da die Selektion sich im allgemeinen an den klassischen Auffälligkeitssyndromen schulischer, beruflicher und sonstiger Sozialisationsde5 Vgl. etwa die Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit der Vereinten Nationen von 1985 (sog. Beijing-rules, dort Nr. 17.1.C, vgl. UnitedNations 1991, S. 72 ff., deutsche Übersetzung in ZStW 1987, S. 253 ff.). 6 Vgl. Schüler-Springorum 1987, S. 809. 7 Vgl. Nr. 1 des Beschlusses, United Nations, A/CONF. 144/28/Rev. 1, S. 43. In die gleiche Richtung gehen die Empfehlungen des Europarats, vgl. R (87) 20, Nr. 13, ferner European Committee on Crime Problems 1989 zu ,Social reactions to juvenile delinquency". 8 So der Kommentar zu Nr. 19 der Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit, ZStW 1987, S. 276 f.
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fizite orientiert, 9 wobei die zunehmende Inhaftierung von jungen Ausländern, von Drogenabhängigen und von Gewalttätern die Probleme des Vollzugs noch verschärft. Soweit ersichtlich gilt dies auch für das europäische Ausland, wenngleich nicht zu unterschätzen ist, daß es sich bei den Insassen des Jugendstrafvollzugs schon Ende der 80er Jahre (ζ. B. in Deutschland) bei einem Drittel um wegen schwerer Gewalttaten Verurteilte handelte. In den neuen Bundesländern ist der Anteil von Gewalttätern Mitte der 90er Jahre auf teilweise mehr als 50% der Jugendstrafvollzugsinsassen angestiegen. In den alten Bundesländern spielt die Ausländer- und Drogenproblematik eine besondere Rolle, wobei als besonders schwierig zu integrierende Gruppe die sog. Spätaussiedler (vorwiegend aus Rußland), die als Deutsche gelten, jedoch häufig die deutsche Sprache kaum beherrschen, inzwischen eine beachtliche Minderheit der Insassenpopulation darstellen. 10 Für die Ausgestaltung der Erziehungsarbeit des Jugendstrafvollzugs entscheidend ist die Dauer der hierfür zur Verfügung stehenden Zeit. Das deutsche Jugendstrafrecht ist von der Vorstellung geprägt, daß kurze Jugendstrafen von unter 6 Monaten schädlich seien und hat deshalb im § 18 J G G die klare Zäsur einer Mindeststrafe von 6 Monaten gezogen. Wiederholt hat auch Böhm beklagt, daß nach Anrechnung der Untersuchungshaft zu wenig Zeit für eine „Gesamterziehung" im Jugendstrafvollzug verbleibe. 11 Ein erhöhtes Mindestmaß der Jugendstrafe findet sich im Ausland nur vereinzelt (ζ. B. in Griechenland, das sich an die deutsche Regelung anlehnt). Am weitesten in die andere Richtung geht insofern das österreichische J G G bzw. StGB mit einer Mindeststrafe von unter Umständen nur einem Tag. Zweifellos ist Böhm darin zuzustimmen, daß bei derartigen Mindeststrafrahmen die „Hemmschwelle" zur Verhängung von Freiheitsentzug u. U. sinkt und damit letztlich mehr Jugendstrafen verhängt werden. Der 22. Deutsche Jugendgerichtstag und eine Expertenkommission aus Praktikern und Wissenschaftlern der DVJJ haben 1992 dieses Thema ausführlich behandelt und mehrheit9 Vgl. zum Sozialprofil von Jugendstrafgefangenen zusammenfassend Dünkel 1990, S. 192 ff.; 1992. 10 In Adelsheim/Baden-Württemberg ζ. B. 15%, vgl./. Walter 1998a, S. 5. 11 Vgl. Böhm 1996, S. 212; die Annahme möglicher negativer Auswirkungen kurzer Jugendstrafen unter Hinweis auf die Rückfallstatistik des Generalbundesanwalts erscheint allerdings nicht überzeugend, da es dort an der notwendigen Differenzierung nach Täter- und Deliktsgruppen fehlt, und widerspricht im übrigen Böhms eigenen früheren Untersuchungen, wonach ein negativer Einfluß kurzer Jugendstrafen nicht festzustellen war, vgl. Böhm 1973, S. 39; 1981a, S. 522 f., zusammenfassend Dünkel 1990, S. 434 ff.
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lieh letztlich empfohlen, die Mindeststrafe von 6 auf drei Monate abzusenken, womit einerseits deutlich gemacht wird, daß die bisherige Klientel des Jugendarrests nicht dem Jugendstrafvollzug zugeführt werden soll (was einer Strafverschärfung gleichkäme), sondern eine generelle Absenkung des Strafenniveaus kriminalpolitisch angestrebt wird.12 Die Tendenz zu eher kürzeren als längeren Jugendstrafen wird international vergleichend gesehen schon dadurch bestätigt, daß das jugendliche Alter selbst dort, wo ein eigenständiges Jugendstrafrecht nicht existiert (wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern) einen besonderen Strafmilderungsgrund darstellt, mit der Folge, daß Freiheitsstrafen für unter 18jährige im allgemeinen deutlich kürzer bemessen werden als gegenüber Erwachsenen.13 Soweit unterschiedliche Formen des Freiheitsentzugs (ζ. B. Haft/Gefängnis; Jugendarrest/Jugendstrafe) in nationalen Gesetzgebungen vorgesehen sind bzw. waren, wurden diese entweder abgeschafft (England/Wales 1988; Niederlande 1995) oder wird deren Vereinheitlichung empfohlen (Dänemark). Durch die seit Anfang der 70er Jahre in Deutschland eingeleitete sozialpädagogische Wende des Jugendarrestvollzugs wird die traditionelle Kritik an der kurzen Freiheitsstrafe konterkariert. Mit dem Anspruch einer sozialpädagogisch sinnvollen Ausgestaltung des Jugendarrestvollzugs durch die JAVollzO von 1977 und jetzt § 90 dJGG i. d. F. des 1. JGG-ÄndG von 1990 wird die traditionelle Behauptung, daß ein erzieherisch sinnvoller Vollzug erst ab einer gewissen Mindestdauer (6 Monate in § 18 Abs. 1 dJGG bei der Jugendstrafe) möglich sei, aufgegeben. Auch Böhm (der im übrigen eine Absenkung der Mindeststrafe ablehnt) konzediert, daß es nicht ausgeschlossen ist, auch kürzere Freiheitsstrafen vollzugspädagogisch sinnvoll auszugestalten.14 Es gibt unter dem Anspruch einer sozialpädagogischen Gestaltung der Freiheitsentziehung kein Argument dafür, daß diese nur für einen Bereich bis zu vier Wochen oder von mehr als 6 Monaten, nicht jedoch bei einer Dauer von einem Monat bis zu 6 Monaten möglich sei. Auch für Deutschland erscheint daher allein eine einheitliche freiheitsentziehende Sanktion vorzugswürdig, die
12 Vgl. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen 1992, S. 35; vgl. auch Dünkel 1996a, S. 613 mit dem zusätzlichen Vorbehalt der Vollstreckung kurzer Jugendstrafen nur im Falle entwicklungsbedingter Notwendigkeit. 13 Vgl. Dünkel 1997; ähnlich der Regelung des österreichischen J G G sieht der Entwurf eines „Model Law on Juvenile Justice" der Vereinten Nationen von 1997 in Art. 4.2-14 die Halbierung der für Erwachsene geltenden Strafrahmen vor, vgl. United Nations 1997. 14 Vgl. Böhm 1996, S. 212, 246.
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allerdings um eine Sogwirkung aus dem Bereich der Bagatellkriminalität zu vermeiden, restriktiver ausgestaltet werden muß als der gegenwärtige § 17 dJGG. Zumindest die Abschaffung der Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen" entspricht reformpolitisch - soweit ersichtlich - überwiegendem Konsens. 15 Die Abschaffung des Jugendarrests als kriminalpolitische Forderung dürfte, obwohl durch empirische Untersuchungen gut zu begründen 16 allerdings (eher irrationalen) Widerständen aus der Praxis ausgesetzt sein , zumal auch Rechtspolitiker immer wieder den Verführungen der „Sbort-sharp-shock" Ideologie erliegen, die als Wunderwaffe gegen randalierende oder gewalttätige Jugendliche vielversprechend zu sein scheint (ohne daß es - wie erwähnt - auch nur im entferntesten empirische Belege dafür gäbe, vgl. hierzu unten 8.). 18 Abgesehen von der Untergrenze des Strafrahmens ist für die Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe von Bedeutung. Hier ergeben sich zweifellos Reibungspunkte zwischen erzieherischem Anspruch und repressiven Strafbedürfnissen der Gesellschaft, wenn man etwa an Jugendstrafen von mehr als fünf Jahren denkt, die unter erzieherischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen sind (ein Aufenthalt im Jugendstrafvollzug dürfte als erzieherisch sinnvoll höchstens bis zur Dauer von drei Jahren zu begründen sein), jedoch unter Gesichtspunk-
15 Vgl. Eisenberg 1984, S. 27; 1997, Rdnr. 18 zu § 17; Viehmann 1989, S. 129 ff.; Walter 1989, S. 80, 85; Dünkel 1990, S. 466; 1996a; Pfeiffer 1991; Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. 1992; Heinz 1992; P.-A. Albrecht 1993, S. 245; Ostendorf 1997, Grdl. zu §§ 17-18, Rdnr. 6 m. jew. w. N.; vgl. ferner Kaiser 1990, S. 78, der darauf verweist, daß Tatschwere und -schuld zumindest für freiheitsentziehende Sanktionen eine angemessenere Grundlage bilden als zufälligen Bewertungen leicht zugängliche und mangelhaft kontrollierbare erzieherische Notwendigkeiten, wie sie durch den Begriff „schädliche Neigungen" angedeutet werden; zurückhaltend Schaffstein/Beulke 1998, S. 146 f., die den Begriff „schädliche Neigungen" lediglich durch einen weniger stigmatisierenden Begriff ersetzen wollen, an der spezialpräventiven Begründung für die Verhängung von Freiheitsentzug aber festhalten; ferner ablehnend auch Böhm 1996, S. 246.
Vgl. Pfeiffer 1981, S. 28 ff.; Dünkel 1991; Pfeiffer/Strobl 1991. Vgl. Dünkel/Geng/Kirstein 1998. 18 In diesem Zusammenhang ist reformpolitisch vor isolierten Reformen zu warnen; angesichts der in der Praxis zu beobachtenden Austauschbarkeit und funktionalen Aqivalenz von Jugendstrafe, Jugendarrest und Untersuchungshaft ist zur Vermeidung unerwünschter Nebeneffekte und von „Verlagerungseffekten" das Gesamtsystem freiheitsentziehender Sanktionen neu zu ordnen, vgl. Dünkel 1996. Zum fast schon ubiquitären Phänomen der Untersuchungshaft als „verdeckter" kurzer Freiheitsstrafe vgl. Dünkel 1990; 1994; 1996a; Pfeiffer 1991; 1992; Heinz 1992; Dünkel/ Vagg 1994. 16 17
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ten des Tatschuldausgleichs (beispielsweise vom deutschen Gesetzgeber in § 17 II 2. Alt. JGG) bei besonders schweren und ggf. gewalttätigen Delikten anerkannt werden. In Osterreich hat man in § 5 öJGG eine differenzierte Lösung gefunden, wonach im Regelfall das Höchstmaß der im Erwachsenenstrafrecht angedrohten Freiheitsstrafe halbiert wird, bei schwersten, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe von 10 bis zu 20 Jahren bedrohten Delikten beträgt das Höchstmaß bei 14- und 15jährigen allerdings 10, bei 16- bis 18jährigen sogar 15 Jahre. In Deutschland liegt das Höchstmaß bei 14- bis 17jährigen Jugendlichen bei fünf, ausnahmsweise bei schwersten Delikten (Strafandrohung von mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe) bei 10 Jahren, bei 18- bis 20jährigen Heranwachsenden generell bei 10 Jahren (vgl. §§ 181,105 III JGG). In den Niederlanden beträgt seit der Reform des Jugendstrafrechts aus dem Jahr 1995 die Höchststrafe bei 12- bis 15jährigen ein Jahr, bei 16- und 17jährigen zwei Jahre (zuvor lag die Höchststrafe generell bei lediglich 6 Monaten, entsprach also dem Mindestmaß der deutschen Jugendstrafe!). 19 Zu berücksichtigen ist allerdings, daß bei besonders schweren Delikten 16- und 17jähriger eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht in Betracht kommt. Auch in England, wo eine Jugendstrafe erst bei mindestens 15jährigen in Betracht kommt, liegt das Höchstmaß bei lediglich zwei Jahren Freiheitsentzug. 20 Allerdings ist bei Delikten, deren Strafandrohung für Erwachsene 14 Jahre Freiheitsstrafe und mehr beträgt (d. h. insbesondere bei Tötungsdelikten) eine zeitlich unbestimmte, d. h. unter Umständen auch lebenslängliche Inhaftierung nach Art. 53 des Children and Young Persons Act von 1933 bei 10- bis 17jährigen möglich. 21 Zusammenfassend lassen sich hinsichtlich der Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe folgende Leitlinien im internationalen Vergleich ausmachen: Die Begründung wird nach wie vor vorrangig spezialpräventiv oder „erzieherisch" motiviert. U m ausufernden erzieherisch begründeten Strafzumessungserwägungen entgegenzuwirken, wird der Verhältnismäßigkeitsgedanke im Sinne einer Begrenzung nach der Tatproportionalität stärker in den Vordergrund gerückt. Darüberhinaus wird in praktisch allen Rechtsord-
19 Vgl. zur Reform in den Niederlanden van der Laan 1996 sowie van Kalmthout/ Vlaardingerbroek in Dünkel/van Kalmthout/Scküler-Springorum 1997, S. 227 ff. 20 Die Höchststrafe wurde erst 1994 von einem Jahr auf zwei Jahre angehoben, vgl. Dünkel 1997. 21 Vgl. Graham in Dünkel/van Kalmthout/Schüler-Springorum 1997, S. 101 ff; diese Bestimmung war auch Grundlage der Verurteilung der beiden 10jährigen Mörder eines Kleinkindes im Jahre 1993.
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nungen, selbst wenn - wie in Skandinavien - ein eigenständiges Jugendstrafrecht nicht existiert, am Grundsatz der Strafmilderung aufgrund des jugendlichen Alters und damit an im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht angestrebten weniger häufigen und ggf. kürzeren Freiheitsstrafen festgehalten. Für den Jugendstrafvollzug ergeben sich aus den vorangegangenen Erörterungen zwei strukturelle Implikationen·. Zum einen: je ernster der Grundsatz der „ultima ratio" der Jugendstrafe genommen wird, desto schwieriger wird die Klientel werden, in dem Sinne, daß die strafrechtliche Vorbelastung der Insassen zunimmt. Zum anderen, und diese Konsequenz mag angesichts der ersten These paradox erscheinen, sind die zu vollstreckenden Jugendstrafen eher von kurzer Dauer und bewegen sich auch in Deutschland überwiegend im Bereich bis zu einem oder eineinhalb Jahren. In einer Untersuchung im Jugendstrafvollzug von Schleswig-Holstein betrug die durchschnittliche Verweildauer im Jugendstrafvollzug 12,1 Monate. 22 In anderen Ländern, die eine erhöhte Mindeststrafe nach deutschem Vorbild nicht kennen, liegt die durchschnittliche Verweildauer ζ. T. unter 6 Monaten (ζ. B. Frankreich, die skandinavischen Länder). Daraus ergeben sich für den Jugendstrafvollzug spezifische Anforderungsprofile, indem vor allem kurzfristige Ausbildungsmaßnahmen und Wiedereingliederungsangebote vorzusehen sind, während für Langzeitbildungsmaßnahmen (ζ. B. eine dreijährige Lehre) im Vollzug immer weniger geeignete Bewerber zu finden sein werden. 3. Die gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs - ein nicht nur in Deutschland vernachlässigtes Problem Es entspricht weitgehendem Konsens in Deutschland, die gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs als unzureichend, ja sogar verfassungswidrig zu bezeichnen, indem die wenigen in den §§ 91, 92 J G G festgelegten Grundsätze als unzureichende gesetzliche Grundlage für die Einschränkung von Grundrechten junger Gefangener angesehen wird. 23 Als verdienstvoll in diesem Zusammenhang erweist sich der Vorlagebeschluß des A G Herford an das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Frage, ob die Vollstreckung 22 Die durchschnittliche Strafhöhe der Gerichtsurteile hatte 18,4 Monate betragen, vgl. Dünkel 1992, S. 168 f. 23 Vgl. Baumann 1985, S. 1; Dünkel 1990, S. 140 m. w. N.; Eisenberg 1997, § 91, Rdnr. 5; Ostendorf 1997, §§ 91-92, Rdnr. 3; Schaffstein/Beulke 1998, S. 273; offenlassend Böhm 1996, S. 229 f.
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von Jugendstrafe mangels eines Jugendstrafvollzugsgesetzes verfassungswidrig ist.24 Das Verfahren hatte sich zwar durch Entlassung des Jugendlichen aus dem Jugendstrafvollzug erledigt, jedoch hat das BVerfG den Gesetzgeber „nahezu ultimativ" den Erlaß eines Gesetzes angefordert.25 Mit der Vorlage eines weiteren Entwurfs eines Jugendstrafvollzugsgesetzes im Jahr 1991 und dann erneut 1993 hat der bundesdeutsche Gesetzgeber zwar auf diese verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeiten reagiert, jedoch ebenso wie bei den vorangegangenen Versuchen, in unzulänglicher Weise.26 Inzwischen ist eine weitere Legislatuperiode verstrichen, so daß Abhilfe dieses „Gesetzgebungsnotstandes" erst von der 1998 neu gewählten Regierung erwartet werden kann. International vergleichend betrachtet zeigt sich allerdings, daß die Situation in Deutschland keine Ausnahme ist. Soweit gesetzliche Sonderregelungen für junge Strafgefangene überhaupt existieren, beschränken sie sich weitgehend auf grundlegende Vorschriften wie die Trennung von erwachsenen Gefangenen. Gesetzliche Vorschriften für den Jugendstrafvollzug finden sich zum einen - ähnlich wie in Deutschland - in Einzelregelungen innerhalb eines Jugendgerichtsgesetzes o. ä. (vgl. ζ. B. Osterreich und eingeschränkt Polen) oder innerhalb eines allgemeinen Strafvollzugsgesetzes, etwa in Form eines besonderen Abschnittes für Jugendstrafanstalten (vgl. ζ. B. die tschechische ebenso wie die slowakische Republik, Finnland, Griechenland, Italien, Portugal, Schweden, Rußland). Auch die Regelung wesentlicher Inhalte lediglich in Form von Verwaltungsvorschriften oder selbst auf lokaler Ebene von Anstaltsordnungen ist keine Seltenheit (vgl. ζ. B. Dänemark, England/Wales, Frankreich, Niederlande, Polen, Türkei, Rußland, Ungarn), wenngleich jeweils einige grundlegende Vorschriften zumeist in den allgemeinen Vollzugsgesetzen zu finden sind.27 Nur vereinzelt sind den Jugendstrafvollzug betreffende umfassende Regelungen innerhalb des allgemeinen StGB enthalten (vgl. insbesondere Bulgarien und Ungarn), obwohl allgemeine Bestimmungen über die vorzunehmende Trennung von erwachsenen Gefangen oder über das Vollzugsziel auch in anderen Ländern im StGB zu finden sind (ζ. B. Tschechien, Slowakei, Dänemark, frühere DDR, England/Wales und die
24 25 26 27
Vgl. AG Herford NStZ 1991, S. 255 f.; hierzu Trenczek 1991, S. 161. Vgl. Schaff stem/Beulke 1998, S. 273. Vgl. hierzu unten 5. sowie Dünkel 1992a. Vgl. im Überblick Dünkel 1990, S. 809.
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Schweiz). Nur ausnahmsweise existieren jugendstrafvollzugsrechtliche Einzelregelungen innerhalb der allgemeinen StPO (Frankreich). Nahezu die Hälfte der europäischen Länder haben die wesentlichen normativen Ausgestaltungen des Jugendstrafvollzugs Verordnungen des Justiz-, des Innenministeriums oder individuellen Anstaltsordnungen überlassen. Damit wird insgesamt deutlich, daß eine umfassende eigenständige gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzugs kaum existiert. Die Tatsache, daß Rechtsverordnungen oder im Rang darunterstehende Rechtsquellen in nahezu der Hälfte der hier betrachteten Länder die Grundlage für die Beschränkung von Grundrechten junger Inhaftierter darstellen, belegt die Notwendigkeit einer Verstärkung des Rechtsschutzgedankens innerhalb des Jugendkriminalrechts auf der Ebene des Vollzugs. Die in Deutschland seit der maßgeblichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Erwachsenenvollzug aus dem Jahre 197228 von verfassungsrechtlichen Fragestellungen beeinflußte Diskussion bezüglich der Zulässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen der Gefangenen (an die das AG Herford in der zitierten Entscheidung anknüpft) ist im Ausland im allgemeinen allenfalls in Ansätzen entwickelt. Von daher kommt den 1990 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Mindestgrundsätzen zum Schutz inhaftierter Jugendlicher eine besondere Bedeutung zu. 4. Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung jugendlicher Inhaftierter: Bedeutung für die bundesdeutsche Reform und Praxis Abgesehen von den einleitend (vgl. oben 2.) erwähnten allgemeinen Grundsätzen einer möglichst weitgehenden Vermeidung bzw. Verkürzung der Inhaftierung Jugendlicher formulieren die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung jugendlicher Inhaftierter weitere Schutznormen, die teilweise bereits aus anderen Menschenrechtsinstrumenten bekannt sind, so ζ. B. das Verbot der Diskriminierung von jungen Gefangenen aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Religion, Nationalität etc. In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist das in Nr. 6 postulierte Recht auf kostenlose zur Verfügungstellung eines Ubersetzers im Zusammenhang mit medizinischen Untersuchungen und Disziplinarverfahren, sofern der Jugendliche die Amtssprache nicht beherrscht. Die Staa-
28
Vgl. BVerfGE 33, S. 1 ff.
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ten werden aufgefordert, die Mindestgrundsätze in ihre nationalen Gesetzgebungen zu übertragen und für deren Einhaltung (einschließlich der Entschädigung für den Fall von Rechtsverletzungen) zu sorgen. Ebenfalls als allgemeiner Grundsatz ausgestaltet ist die Öffnung von Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs zur Gemeinde. 29 Im Teil II wird der Anwendungsbereich der Grundsätze dahingehend konkretisiert, daß unter Jugendlichen alle unter 18jährigen verstanden werden. Die untere Altersgrenze, ab der freiheitsentziehende Sanktionen möglich sein sollen, wurde wegen der Rücksichtnahme auf nationale Besonderheiten und Abweichungen nicht definitiv festgelegt, jedoch wird verlangt, daß die nationalen Gesetzgebungen entsprechende Altersgrenzen gesetzlich festlegen (vgl. Nr. I I a der Grundsätze). Freiheitsentzug soll unter Bedingungen stattfinden, die sowohl die grundlegenden Menschenrechte von Jugendlichen anerkennen, als auch (im Sinne eines sozialstaatlichen Leistungsangebots) sinnvolle Aktivitäten und wiedereingliederungsfördernde Programme beinhalten (Nr. 12). Der Schutz individueller Rechte der Jugendlichen soll durch das nach nationalem Recht jeweils zuständige Organ gewährleistet werden, wobei die Maßnahmen der sozialen Wiedereingliederung durch regelmäßige Inspektionen von unabhängigen Organen überprüft werden sollen (Nr. 14). Ein weiterer Abschnitt (III.) befaßt sich mit Jugendlichen in Untersuchungshaft. Dem in Nr. 17 der Grundsätze hervorgehobenen Ziel der Untersuchungshaftvermeidung bzw. -Verkürzung hat das 1. J G G - Ä n d G von 1990 im Hinblick auf Jugendliche weitgehend Rechnung getragen (vgl. §§ 72, 72a JGG). Dies gilt insbesondere auch für die in Nr. 18 angesprochene anwaltliche Vertretung (vgl. § 68 Nr. 4 JGG), während die gleichfalls geforderten Arbeitsmöglichkeiten (mit entsprechender Arbeitsentlohnung) sowie erzieherische oder Trainingsmaßnahmen in Deutschland demgegenüber allenfalls im Grundsatz anerkannt sind (vgl. § 93 JGG), der in der Realität allerdings nur eingeschränkt verwirklicht wird. 30 Im IV. Abschnitt befassen sich die Regeln zum Schutz inhaftierter Jugendlicher mit der Organisation des Freiheitsentzugs. Dabei werden Grundsätze für die Anfertigung von aktenmäßigen Informationen über den Gefangenen (u. a. Probleme des Datenschutzes), die Aufnahme, Registrierung, Verlegung, Klassifikation und Unterbringung aufgestellt. In diesem Zusammenhang bedeutsam und für deut-
29 30
Vgl. Nr. 8 der Grundsätze, United Nations 1991, S. 91. Vgl. Dünkel 1990, S. 384 ff.; Dünkel, in Dünkel/Vagg 1994.
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sehe Verhältnisse bislang wohl eher unüblich erscheint der Grundsatz, daß Jugendlichen bei der Aufnahme ein Exemplar der für den Vollzug maßgeblichen Vorschriften überreicht werden soll, im Falle von Ausländern in einer für sie verständlichen Sprache (vgl. Nr. 24). Hinsichtlich der Unterbringung von Jugendlichen wird auf die N o t wendigkeit offener Einrichtungen verwiesen und, daß diese ebenso wie geschlossene Anstalten möglichst klein sein sollen, um eine individualisierte Behandlung zu ermöglichen (vgl. Nr. 30). Auch dem Grundsatz, daß Anstalten für Jugendliche möglichst dezentral und heimatnah einzurichten sind, um den Kontakt mit den jeweiligen Familien sowie eine Öffnung zur Gemeinde zu ermöglichen, wird die bundesdeutsche Realität kaum gerecht. Die Schwierigkeiten einer Umsetzung dezentraler Strukturen im Jugendstrafvollzug wurden in Schleswig-Holstein deutlich, das als erstes Bundesland programmatische Vorschläge in diese Richtung entwickelt hatte. Die Umsetzung ist auch 10 Jahre nach Vorlage des Konzepts 31 nur ansatzweise gelungen, indem eine kleine Anstalt des offenen Jugendvollzugs eingerichtet wurde (ursprünglich waren vier derartige Einrichtungen geplant). Die Grundsätze zur Unterbringung sind mit Rücksicht auf die Situation in zahlreichen (Entwicklungs-)Ländern relativ vage formuliert. So wird zwar die Einzelunterbringung während der Nacht als wünschenswert angesehen, jedoch sollen auch Schlafmöglichkeiten in kleinen Gruppen anerkannt sein (vgl. Nr. 33). „Soweit möglich" sollen Jugendliche eigene Kleidung tragen (Nr. 36). Das Essen soll nicht nur gut zubereitet sein, sondern auch zu den üblichen Essenszeiten verabreicht werden (Nr. 37), was nicht nur in bundesdeutschen Anstalten beispielsweise an den Wochenenden teilweise nicht gewährleistet erscheint. Auch im Unterabschnitt über schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen sowie Arbeit überwiegen die mit dem Vorbehalt „soweit möglich" versehenen Formulierungen. So sollen schulpflichtige Jugendliche „soweit möglich" am Schulunterricht außerhalb der Anstalt teilnehmen (Nr. 38). Jugendlichen soll ferner die Möglichkeit zur (leistungsgerecht entlohnten) Arbeit gegeben werden, „soweit möglich" außerhalb der Anstalt (vgl. Nr. 45 und 46). Die genannten Vorbehalte beziehen sich allerdings nicht auf die Forderungen nach einer leistungsgerechten Entlohnung, wovon die bundesdeutschen gesetzlichen Regelungen im Jugend- und Erwachsenenvollzug noch weit entfernt sind (5% des Durchschnittsverdienstes
31
Vgl. Der Justizminister
des Landes Schleswig-Holstein
1989.
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der Sozialversicherten, vgl. §§ 176 i. V. m. 43, 200 StVollzG, eine Regelung, die das BVerfG unlängst für verfassungswidrig erklärt hat 32 ). Die Vorschriften über die Bereitstellung von Freizeitmöglichkeiten, das Recht auf ungestörte Religionsausübung, medizinische Versorgung, die Registrierung von Krankheiten, Unfällen etc. entsprechen den in früheren Menschenrechtsinstrumenten gesetzten Standards und stimmen weitgehend mit der Praxis des Jugendvollzuges überein. Defizite dürften sich allerdings vor allem bei den geforderten speziellen Einrichtungen für die Behandlung Drogenabhängiger innerhalb der jeweiligen Anstalt in Deutschland und in den meisten anderen Ländern nachweisen lassen (vgl. hierzu Nr. 54 der Grundsätze). Weitreichende Forderungen werden im Hinblick auf die Kontakte mit der Außenwelt aufgestellt, die als integrierter Bestandteil des Rechts auf faire und humane Behandlung angesehen werden. Neben regelmäßigen Möglichkeiten, die Anstalt im Wege des Hafturlaubs oder Ausgangs zu verlassen, wird das Recht auf häufige Besuche („im Grundsatz einmal pro Woche und nicht weniger als einmal pro Monat", vgl. Nr. 60) anerkannt. Mindestens zweimal pro Woche sollte der Jugendliche die Möglichkeit schriftlicher oder telefonischer Kommunikation mit einer Person seiner Wahl haben (Nr. 61). Im Lichte dieser „Mindeststandards" nehmen sich die bundesdeutschen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug bezüglich Besuchskontakten und Telefongesprächen bescheiden aus. Wichtig im Hinblick auf die nur ausnahmsweise anzuwendenden besonderen Sicherungsmaßnahmen bzw. den unmittelbaren Zwang erscheint, daß auch die internationalen Regeln der Vereinten Nationen den Gebrauch von Waffen im Jugendvollzug strikt untersagen (vgl. Nr. 65). Restriktive Regelungen finden sich ferner im Bereich der Disziplinarmaßnahmen, wenn beispielsweise verlangt wird, daß das eine Disziplinarmaßnahme auslösende Verhalten im voraus normiert und ein rechtsstaatliches Verfahren einschließlich der Möglichkeit einer Uberprüfung durch eine unabhängige Instanz vorgesehen sein soll (vgl. Nr. 66 bis 71). Der menschenrechts- und individualrechtsorientierte Ansatz der Mindestgrundsätze wird ferner deutlich in dem Unterabschnitt über 32 Vgl. BVerfG ZfStrVo 1998, S. 242 ff.; das österreichische Vollzugsrecht hat hier mit der Reform von 1993 im Erwachsenenbereich eine erheblich bessere Entlohnung im Vergleich zu Deutschland geschaffen: voll tarifliche Entlohnung bei allerdings gleichzeitiger Einbehaltung eines Haftkostenbeitrags in Höhe von 75%, vgl. zusammenfassend Dünkel/van Zyl Smit 1998.
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Beschwerderechte und die durch unabhängige Gremien zu gewährleistende Aufsicht und Kontrolle der Anstalten (Nr. 72 bis 78). Für einen an Wiedereingliederung, Erziehung o. ä. orientierten Jugendvollzug bedarf es einer Ausstattung mit ausreichendem und qualifiziertem Personal. Diesem Problem ist der V. und abschließende Hauptabschnitt der Mindestgrundsätze gewidmet (Nr. 81 bis 87). Dabei wird hervorgehoben, daß die sogenannten Fachdienste regelmäßig (auf Dauer) in der Anstalt angestellt sein sollen. Bemerkenswert erscheint auch der Grundsatz, daß das Vollzugspersonal im Sinne des Angleichungsgrundsatzes dazu verpflichtet wird, die Unterschiede zwischen dem Leben außerhalb der Anstalt und in der Haft möglichst gering zu halten (vgl. Nr. 87 f.). Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen zum Schutz inhaftierter Jugendlicher entsprechen - wie gezeigt - weitgehend dem „common sense'" einer liberalen und rechtsstaatlich orientierten Vollzugspolitik. Obwohl es sich nur um „Mindestgrundsätze" handelt, gehen diese doch in Teilbereichen über die bundesdeutsche Wirklichkeit hinaus und zeigen perspektivisch die Richtung von Vollzugsreformen an. Für den bundesdeutschen Gesetzgeber kann es damit bei der anstehenden Kodifizierung des Jugendstrafvollzugsrechts nicht lediglich darum gehen, den Vollzug - um einem Verdikt des Bundesverfassungsgerichts zu entgehen - auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, vielmehr müssen die sozialstaatlichen Integrationshilfen weitergehend als im Erwachsenenvollzug durchgesetzt werden. In dieser Hinsicht sind die aktuellen Gesetzesvorschläge kritisch zu überprüfen (vgl. hierzu 6.). 5. Die Referentenentwürfe eines JVollzG von 1991 und 1993 in Deutschland Mehr als zehn Jahre nach Abschluß der Arbeiten der Jugendstrafvollzugskommission und sieben Jahre nach der Vorlage eines ersten Arbeitsentwurfs zu einem Jugendstrafvollzugsgesetz legte das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf vor (Stand: 24.9.1991), der allerdings im Vergleich zu seinen Vorgängern kaum Neues brachte. 33 1993 wurde ein inhaltlich nahezu identischer Entwurf den Landesjustizverwaltungen zur Stellungnahme übersandt (Stand: 19.4.1993), dessen parlamentarische Verabschiedung mit Ablauf der Legislaturperiode allerdings ebenfalls scheiterte. Erstaunlich ist die gesetzgeberische „Dickfelligkeit" bei Betrachtung der beiden
33
Vgl. Dünkel 1992a.
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Entwürfe von 1991 und 1993, denn kaum einer der von Seiten der Wissenschaft und Praxis geäußerten Vorbehalte wurde berücksichtigt· Angesichts des marginalen Innovationsgehalts wurde die Notwendigkeit eines eigenständigen Jugendstrafvollzugsgesetzes überhaupt in Frage gestellt und statt dessen vorgeschlagen, die notwendigen gesetzlichen Leitlinien im Hinblick auf Vollzugsziel, Organisationsstruktur, Anstaltsgröße, Wohngruppenvollzug als alleinige Vollzugsform, die im Vergleich zum Erwachsenenvollzug stärkere Einschränkung von Disziplinarmaßnahmen und gleichzeitig weitergehende Öffnung des Vollzugs, den Anspruch auf volle tarifliche Entlohnung, die Einbeziehung in die Sozialversicherung, ein Mindestmaß an Ausbildungsangeboten und eine Mindestausstattung an Fachpersonal in einigen ergänzenden Vorschriften innerhalb des J G G vorzunehmen mit Verweis auf die entsprechende Anwendung des StVollzG im übrigen.34 Denkbar wäre auch eine Regelung innerhalb des StVollzG im Rahmen eines besonderen Abschnitts über Jugendstrafanstalten. Das Plädoyer für ein eigenständiges Jugendstrafvollzugsgesetz war in den 80 er Jahren-jedenfalls nach den Intentionen der Jugendstrafvollzugskommission35 und der Entwürfe von Baumann sowie aus dem Kreis der Anstaltsleiter36 - stets mit den inhaltlichen Besonderheiten im Vergleich zum Erwachsenenstrafvollzug begründet worden. Keiner der vorgelegten Gesetzesentwürfe und schon gar nicht die Entwürfe von 1991 bzw. 1993 haben allerdings die Andersartigkeit bzw. die Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs in einem Umfang aufgezeigt, der ein eigenständiges Jugendstrafvollzugsgesetz rechtfertigen könnte. Dies wird schon daran deutlich, daß entweder überwiegend die Vorschriften des StVollzG nahezu wörtlich übernommen werden37 oder entsprechende Verweisungen erfolgen. Nun mag es zwar sein, daß Zeiten ökonomischer Rezession und notwendiger Sparmaßnahmen öffentlicher Haushalte für Reformen im Strafvollzug, die den Lebensstandard für Gefangene anheben wollen, ungünstig sind. Gleichwohl sollte doch verlangt werden,
34 Vgl. Dünkel 1990, S. 504; 1992a, S. 181; ähnlich jetzt die Jugendstrafvollzugsanstaltsleiter, die - wenn ein eigenständiges Jugendstrafvollzugsgesetz nicht durchsetzbar erscheint - für eine erweiterte Regelung innerhalb des J G G plädieren, vgl. Fleck 1998, S. 216. 35 Vgl. Bundesministerium der Justiz 1980. 3 6 Vgl. Baumann 1985; Bulczak u. a. 1988; zusammenfassend Kreideweiß 1993. 3 7 Vgl. hierzu Bundesministerium der Justiz 1993, S. 9 der Begründung des Entwurfs 1993.
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daß im Falle einer gesetzlichen Regelung für junge Gefangene im Vergleich zum Erwachsenenvollzug günstigere Regelungen vorzusehen sind, insbesondere im Hinblick auf die erzieherischen Angebote und die Ö f f n u n g des Vollzuges, um eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern, zumal zahlreiche Reformen, die beispielsweise Erleichterungen im Haftalltag betreffen, in finanzieller Hinsicht „zum Nulltarif" zu haben wären. Dementsprechend hat das Ministerkomitee der Mitgliedsstaaten des Europarats in der am 17.9.1987 verabschiedeten Recommendation Nr. R (87), 20 gefordert, daß für junge Gefangene erweiterte Möglichkeiten des Freigangs, der vorzeitigen Entlassung etc. vorzusehen seien (vgl. Nr. 16 bzw. 17 der entsprechenden Empfehlungen). Dem tragen die Entwürfe von 1991 und 1993 nur ansatzweise Rechnung. So ist eine Ausweitung des Regelurlaubs von 21 auf 24 Tage im Jahr, der Mindestbesuchsdauer von einer Stunde auf vier Stunden pro Monat vorgesehen. Bei der Einführung eines bis zu sechsmonatigen Sonderurlaubs (vgl. § 17 JVollzGE 1993) hat die im Erwachsenenvollzug erprobte Regelung für die Sozialtherapie (vgl. § 124 II StVollzG) Pate gestanden. Kernstück des Referentenentwurfs von 1991 bzw. 1993 ist die Einführung des Wohngruppenvollzugs. Hatte der Entwurf 1991 noch Gruppen von „nicht mehr als 8 jungen Gefangenen" (vgl. §§ 20 i. V. m. 131 JVollzGE 1991) vorgesehen, so verzichtet der Entwurf 1993 zu Recht auf die Festlegung einer Obergrenze (vgl. §§ 20 i. V. m. 133). Die Wohngruppen sollten nach dem Entwurf von 1991 in Vollzugseinheiten von nicht mehr als 60 Gefangenen zusammengefaßt werden (der Entwurf von 1993 enthält auch insoweit keine Festlegung), auf eine absolute Obergrenze der Jugendstrafanstalt - wie sie beispielsweise der Entwurf von Baumann mit maximal 240 Haftplätzen vorgeschlagen hatte 38 - verzichten beide Entwürfe. Dies erscheint um so bedauerlicher, als es einer international gesicherten Erkenntnis entspricht, daß in größeren Anstalten gerade im Jugendvollzug ausgeprägte subkulturelle Erscheinungen auftreten, denen durch die Untergliederung in Vollzugsabteilungen o. ä. nur begrenzt entgegengewirkt werden kann. Der Hintergrund für die Zurückhaltung des bundesdeutschen Gesetzgebers ist naheliegend, weil die gesamte Ausrichtung des Jugendstrafvollzugsgesetz-Entwurfs eher auf die Erhaltung des status quo denn eine wirkliche Fortentwicklung des Jugendstrafvollzugs gerichtet ist. Dementsprechend werden die im Strafvollzugsgesetz erstmals vorgeführten „Sündenfälle"
38
Vgl. Baumann 1985, S. 64 f.
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einer Aussetzung wesentlicher Reforminhalte auf unabsehbare Zeit reproduziert. Die entscheidende Vorschrift insofern findet sich im §152 JVollzGE 1993, wonach in Anstalten, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten des Gesetzes begonnen wurde, von der vorrangigen Unterbringung im offenen Vollzug, im Wohngruppenvollzug, von der Einzelunterbringung während Arbeits-, Freizeit bzw. Ruhezeit und von der Gliederung der Anstalten in Vollzugseinheiten und Wohngruppen abgesehen werden kann, „solange die räumlichen, personellen oder organisatorischen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern". Dies bedeutet, daß der Wohngruppenvollzug auch bei Verabschiedung des Gesetzes auf unabsehbare Zeit lediglich auf dem Papier stehen wird (soweit er nicht ohnehin schon existiert). Insgesamt gesehen bleibt der Referentenentwurf eines JVollzG von 1993 in Deutschland (ebenso wie seine Vorgänger) weit hinter den nach den Erfahrungen im Ausland, beispielsweise in der Schweiz oder in den skandinavischen Ländern, denkbaren Reformmöglichkeiten zurück. In besonderem Maße anstößig muß die nach wie vor nicht einmal in Ansätzen erkennbare Bereitschaft erscheinen, eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung und die Einbeziehung in die Sozialversicherung zu verwirklichen 39 , wenngleich das erwähnte Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1998 mit der Fristsetzung bis zum Jahr 2001 gesetzlichen Handlungsbedarf verdeutlicht. Auch insofern lassen sich zahlreiche Beispiele aus dem Ausland anführen, die man bei einer Reform in Deutschland wenigstens im quantitativ überschaubaren Jugendstrafvollzug hätte umsetzen können. So ist die Arbeitsentlohnung im Gefängnis in der Schweiz ca. dreifach so hoch wie in Deutschland, selbst in Frankreich scheint die Situation erheblich günstiger zu sein. In Osterreich, Italien, Rußland, der tschechischen und der slowakischen Republik und in einigen Anstalten in Schweden existiert eine volltarifliche Entlohnung, jedoch müssen die Gefangenen teilweise mindestens die Hälfte des Lohns für Unterkunft und Verpflegung an die Anstalt abführen. In Rußland wurde durch die Reformbeschlüsse vom Juni 1992 festgelegt, daß der monatliche Verdienst eines Gefangenen den gesetzlich festgelegten Mindestlohn von Bürgern in Freiheit nicht unterschreiten darf. Die Gefangenen erhalten nunmehr den vollen Arbeitslohn ausbezahlt, Haftkostenbeiträge (zuvor ca. 50 %) werden anscheinend nicht mehr erhoben.40 Vorbildlich erscheint weiter die Reform des österreichischen Strafvollzugsgesetzes von 1993, die bei der Si-
39 40
Vgl. hierzu bereits Dünkel Vgl. Uss 1993, S. 14.
1992a, S. 179 f.
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tuation in Freiheit angeglichenen Arbeitslöhnen trotz eines Haftkostenbeitrags von 75% 41 den Gefangenen immerhin relativ gesehen einen fünffach so hohen Betrag im Vergleich zu deutschen Gefangenen beläßt. 42 Die fehlende Einbeziehung in die Sozialversicherung, insbesondere die Rentenversicherung, erscheint als besonderes Problem mit Langzeitfolgen, da Gefangene mit langen Haftstrafen erheblich niedrigere Renten erhalten als in Freiheit Beschäftigte, was als ungerechtfertigte Ungleichbehandlung bzw. eine Form der Doppelbestrafung anzusehen ist. Auch insoweit war die Situation in den ehemals sozialistischen Ländern derjenigen in Freiheit angeglichen und keine Benachteiligung der Strafgefangenen gegeben. Frankreich hat immerhin durch eine Reform von 1975 nunmehr die Gefangenen vollständig in die Sozialversicherung einbezogen. 43 Der Jugendstrafvollzug wird - wenn die bisherigen Reformüberlegungen sich durchsetzen sollten - allenfalls zum gesetzlichen Standard des Erwachsenenstrafvollzugs aufschließen, jedoch keineswegs die dem Jugendstrafrecht ansonsten zugeschriebene „Vorreiterrolle" 44 wiedergewinnen können. 6. Aktuelle Entwicklungen der Praxis des Jugendstrafvollzugs im internationalen Vergleich Jugendstrafanstalten oder vergleichbare Einrichtungen sind weltweit vorrangig auf Ziele der Erziehung, Besserung, Resozialisierung u. ä. ausgerichtet. Nur ganz ausnahmsweise werden auch generalpräventive Zwecke genannt, beispielsweise in Finnland und Rußland, wenngleich sich diese in der konkreten Vollzugsgestaltung nicht immer auswirken und ζ. B. in Finnland ein Unterschied zu den jeweiligen Nachbarländern nicht ersichtlich wird. Allerdings ist in Rußland ebenso wie in anderen ehemaligen sozialistischen Ländern - der Jugendstrafvollzug nach zwei Schweregraden differenziert und wird damit als eine Art Stufenvollzug herkömmlicher Prägung praktiziert. Damit wurde das im Erwachsenenstrafvollzug dieser Länder noch stärker ausgeprägte, an der Schwere der begangenen Straftat bzw. vorangegangener Beurteilung orientierte System Vgl. hierzu Pilgram 1997. Vgl. zusammenfassend Dünkel 1993; Dünkel/van Zyl Smit 1998. 43 Vgl. Dünkel 1993; in Dänemark zählt die Haftzeit als Versicherungszeit i. S. der Rentenversicherung, ohne daß die Gefangenen während der Haftzeit Beiträge entrichten müssen, vgl. Hammerschick 1997, S. 80. 44 Vgl. Kerner 1990. 41
42
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einer Differenzierung von Gefangenen in abgeschwächter Form übernommen. 45 Auch in anderen Ländern ist ein ähnliches Progressiv-System durchaus üblich, wenngleich andererseits in Osterreich das J G G von 1989 ausdrücklich den im Erwachsenenvollzug bis zur Strafvollzugsnovelle von 1993 vorgesehenen Strafvollzug in Stufen untersagte (vgl. § 58 Abs. 10 öJGG). Die Lebensbedingungen im Jugendstrafvollzug der osteuropäischen Länder insgesamt werden dem Besserungsideal angesichts der materiellen Not in keiner Weise gerecht. Arbeit ist durch den Zusammenbruch vieler Betriebe kaum vorhanden, jenseits wohlklingender Erziehungsrhetorik geht es ums schlichte Uberleben und die Sicherstellung der materiellen Versorgung. Vom theoretischen Anspruch her wird das Prinzip einer zunehmenden Öffnung gegen Ende der Haftzeit angestrebt und stehen schulische und berufliche Bildungsmaßnahmen in den west- ebenso wie osteuropäischen Ländern, Lateinamerika, Japan und Nordamerika im Vordergrund. In Ländern mit einer vergleichsweisen kurzen Inhaftierungszeit wie etwa den Niederlanden oder Dänemark, Norwegen und Schweden sind entsprechende Ausbildungsangebote vielfach aus der Anstalt herausverlagert. Die Gemeinden werden dementsprechend stärker in die Resozialisierungsarbeit eingebunden. Was die Größe und Ausgestaltung von Jungendanstalten anbelangt, so finden sich in kaum einem Land Anstalten mit mehr als 300 Haftplätzen. Zumeist, wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, aber auch England, Frankreich, Kanada und den USA, handelt es sich um Einrichtungen mit einer Kapazität von weniger als 100 Plätzen. 46 Anstalten der Größenordnung etwa von Hameln mit mehr als 600 Haftplätzen in Deutschland konnten im Rahmen eines international vergleichenden Uberblicks in keinem Land ermittelt werden. Üblicherweise sind die Anstalten in kleinere Einheiten untergliedert und leben die Jugendlichen in Wohngruppen zusammen. Allerdings handelt es sich in den osteuropäischen oder auch den meisten Entwicklungsländern nicht um einen Wohngruppenvollzug in dem Sinn, wie er in Westeuropa anzutreffen ist. Vielmehr werden jugendliche Gefangene oftmals in Schlafsälen mit bis zu 30 oder 40 Personen untergebracht, wie dies Anfang dieses Jahrhunderts in der Heimerziehung auch in Deutschland noch anzutreffen war.
45 46
Vgl. Dünkel Vgl. Dünkel
1990, S. 549. 1990, S. 550 m. w. N.
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Teilweise sind Jugendanstalten regelrecht als Gefängnisschulen ausgestaltet oder sie dienen spezifischen landwirtschaftlichen Zwecken (ζ. B. bestimmte Camps in den USA, Kanada oder Australien, aber auch sogenannte Arbeitskolonien in Rußland bzw. Agrargefängnisse in Griechenland). Die personelle Ausstattung im Jugendvollzug scheint auch in anderen Ländern günstiger als im Erwachsenenvollzug zu sein, wobei allerdings Deutschland und Osterreich zusammen mit den skandinavischen Ländern, der Schweiz und den Niederlanden eine Spitzenposition einnehmen dürften.47 Wenn damit einige wesentliche Ubereinstimmungen in der Entwicklung und Ausrichtung des Jugendstrafvollzugs (teilweise im Gegensatz zum Erwachsenenvollzug) angedeutet werden, ist doch nicht zu übersehen, daß der Erziebungsbegriff auch in diesem Bereich schillernd und vielfältigen Interpretationen zugänglich ist. So dürfte der militärische Drill in japanischen und chinesischen Jugendanstalten (einschließlich des Kahlscherens der Gefangenen) wenig mit einem auf eigenverantwortliche Mitwirkung des Gefangenen ausgerichteten Wohngruppenvollzug westeuropäischer Prägung gemein haben. Andererseits sind in den USA Tendenzen einer harten und am militärischen Grundwehrdienst orientierten Erziehungsarbeit im Vordringen. Dies kommt beispielsweise in den sogenannten boot camps deutlich zum Ausdruck, im Rahmen derer Jugendliche drei bis sechs Monate einer harten Erziehung bzw. besser Disziplinierung unterworfen werden.48 Die ersten boot camps entstanden in den USA 1983, bis 1995 wurden in insgesamt 32 Bundesstaaten ca. 9.500 Haftplätze in mehr als 50 Programmen aufgebaut.49 Diese militärischen Lager werden von den Jugendlichen teilweise durchaus geschätzt, zumal der etwa dreimonatige harte Drill eine Freiheitsstrafe von bis zu 2 Jahren ersetzen kann. Die Programme sind für junge Straffällige (oft vorzugsweise Ersttäter) im Alter von 16 bis zu 25 Jahren vorgesehen. Sie unterscheiden sich nach der Gewichtung von strenger militärischer Ordnung und harter Arbeit auf der einen und rehabilitativen Programmanteilen auf der anderen Seite. Männlichen Insassen werden zu Beginn des Vollzug die Haare geschoren, sie tragen Uniform und werden in militärische Einheiten Vgl. Dünkel 1990, S. 551. Vgl. Morash/Rucker 1990; MacKenzie 1990; MacKenzie/Shaw 1990; MacKenzie, u. a. 1990; 1995; Cronin 1994; zusammenfassend Gescher 1998. 4 9 Vgl. Gescher 1998, S. 46; bei derzeit insgesamt ca. 1,6 Millionen Gefangenen in den USA ist dies noch ein vergleichsweise geringer Anteil, jedoch zweifellos ein Markt, der „boomt". 47
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eingeteilt. Zu antworten haben sie mit „Ja, Sir" oder „Nein, Sir" und dürfen von sich aus nur auf Anfrage sprechen. In fast allen Programmen wird den sog. drill instructors die Möglichkeit disziplinarischer Bestrafung ohne förmliches Verfahren eingeräumt, auch Kollektivbestrafungen einer ganzen Einheit für das Fehlverhalten eines einzelnen Insassen sind in zahlreichen Programmen vorgesehen.50 Der Tagesablauf beginnt um 5.00 Uhr morgens und endet zwischen 21.00 und 22.00 Uhr. In der konkreten Ausgestaltung gibt es große Unterschiede im Anteil rehabilitativer Aktivitäten, die teilweise zwei Stunden pro Woche, teilweise 5 Stunden pro Tag ausmachen. Die im Schrifttum anfangs berichteten spezialpräventiven Erfolge halten einer kritischen Uberprüfung nach übereinstimmenden Beurteilungen zahlreicher Evaluationsstudien nicht stand.51 Eine vergleichende Untersuchung der Rückfallquoten von Boot campAbsolventen und „normalen" Gefangenen in 8 Bundesstaaten zeigte keine wesentlichen Unterschiede zugunsten der Boot campProgramme.52 Vorteile der Boot aim/?-Programme werden jedoch auch in der möglichen erheblichen Kosteneinsparung gesehen, wenn die durchschnittlichen Haftzeiten im Vergleich zu herkömmlichen Gefängnisprogrammen erheblich verkürzt werden.53 Die Programme werden allerdings nur als erfolgversprechend angesehen, wenn sie mit einer intensiven Nachbetreuung verbunden werden.54 Insofern dürften sich die berichteten Kosteneinsparungen relativieren. Zudem sind selbstverständlich dann keine Einspareffekte gegeben, wenn die Teilnahme am boot camp keine längerfristige Freiheitsstrafe, sondern - wie nicht selten der Fall - ambulante Maßnahmen ersetzt (Problematik des sog. net-widening). Nach einer Umfrage von 1993 gaben von 16 Staaten 9 an, die Kosten lägen höher als im Normalvollzug, vier weitere, die Kosten seien in etwa dieselben.55 Auch werden teilweise negative Auswirkungen berichtet wie vermehrte Aggressionen einschließlich körperlicher Strafen von Seiten des Personals sowie erhöhte Aggression und geringere Sensibilität bei den Gefangenen.56 Hinzu kommt, daß die in den boot camps vor-
50 Vgl. Gescher 1998, S. 67 f.; allein dieses Beispiel zeigt, daß eine Übernahme derartiger Programme in Deutschland schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen wäre. 51 Vgl. zusammenfassend Gescher 1998, S. 179 f., 207 f., 266 ff. 52 Vgl. MacKenzie u. a. 1995; zusammenfassend Sherman u. a. 1997; Gescher 1998. 53 Vgl. Cronm 1994, S. 42. 54 Vgl. Coyle 1990; Osler 1991, S. 34 ff.; Gescher 1998, S. 179 f. 55 Vgl. Cronin 1994, S. 42; zusammenfassend Gescher 1998. 56 Vgl. Morash/Rucker 1990, S. 204 ff.
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herrschenden Modelle aggressiver Männlichkeitsideale oftmals gerade Ursachen delinquenten Verhaltens sind. In Europa sind entsprechende Ausgestaltungen des Jugendstrafvollzugs bislang - soweit ersichtlich - noch nicht ernsthaft erwogen worden. Zwar wird in den Niederlanden in den sog. Erziehungslagern ( )V Kampementen") ebenfalls ein straff organisiertes Erziehungsprogramm vorgesehen, jedoch handelt es sich hierbei eher um ein gut strukturiertes Ausbildungs- bzw. Integrationsprogramm im beruflichen Bereich. 57 Die Dauer der Unterbringung in den holländischen Erziehungslagern soll 15 Monate betragen, davon jeweils 3-6 Monate in einer geschlossenen bzw. halboffenen Unterbringungsform und ca. 6 Monate ambulant mit einer Intensivbetreuung durch die Bewährungshilfe. Ebenso zu Recht werden in Europa Strategien der shock-incarceration abgelehnt, mit der spezielle Abschreckungsziele durch eine kurzfristige und möglichst hart ausgestaltete Inhaftierung verfolgt werden.58 Andererseits ist nicht zu verkennen, daß dem Jugendarrest in Deutschland und der Praxis des Untersuchungshaftvollzuges in vielen europäischen Ländern funktional durchaus vergleichbare Funktionen zukommen. 59 7. Strukturmerkmale des Jugendstrafvollzugs in Deutschland Der Jugendstrafvollzug in Deutschland unterscheidet sich vom Erwachsenenvollzug in vielerlei Hinsicht. Zum einen existieren in sehr viel weitergehendem Umfang als im geschlossenen Regelvollzug schulische und berufliche Ausbildungsangebote. Die Personalausstattung bzgl. sog. Fachdienste (Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer) ist erheblich besser.60 Die Anstalten sind zumeist kleiner
57 Vgl. van der Laan 1994, S. 40 ff.; auch bei den boot camps in den USA existieren wie erwähnt - vereinzelt Formen, die eher als strukturiertes, auf die Wiedereingliederung orientiertes Behandlungsprogramm zu charakterisieren sind. Diese eher rehabilitativ ausgerichteten boot camps zeigen spezialpräventiv bessere Erfolge, vgl. Gescher 1998, S. 266 ff. 58 Im anglo-amerikanischen Schrifttum herrscht inzwischen Ubereinstimmung, daß derartige Abschreckungskonzepte spezialpräventiv keinen Erfolg verspechen, vgl. Sherman u. a. 1997; Lipton 1998. 59 Vgl. Dünkel 1990; 1994; Dünkel/Vagg 1994. 60 Vgl. zusammenfassend Dünkel 1990; allgemein zur Personalausstattung im deutschen Strafvollzug vgl. Dünkel 1996; Dünkel/Kunkat 1997.
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als Erwachsenenanstalten. 61 Vielfach handelt es sich in Westdeutschland um in den letzten 25 Jahren neu errichtete oder zumindest von Grund auf sanierte Bauten. In Ostdeutschland ist die Bausubstanz dagegen stark überaltert, teilweise herrschen katastrophale Zustände, die ζ. T. als menschenrechtswidrig eingestuft werden können. In Anbetracht des erheblichen Belegungsdrucks in den ostdeutschen Anstalten gibt es beispielsweise fast nur noch die gemeinschaftliche Belegung während der Ruhezeit, 62 wodurch subkulturelle Erscheinungsformen noch verstärkt werden. Hinsichtlich der Vollzugspraxis in den Bereichen „Disziplinierung" und „Lockerungen" ergeben sich seit den ersten statistischen Berechnungen Anfang der 80er Jahre unveränderte Unterschiede im Vergleich zum Erwachsenenvollzug. Erstaunlich ist zunächst die erheblich häufigere Anwendung von Disziplinarmaßnahmen (136 : 50 pro 100 Gefangene der jeweiligen Jahresdurchschnittsbelegung im Jahr 1994) und dabei insbesondere die fast viermal so häufige Verhängung des Arrests im Jugendstrafvollzug, d. h. der strengen Isolierung in einem kargen Einzelhaftraum für bis zu zwei Wochen. 63 Die große Bedeutung des Arrests überrascht um so mehr, als dieser von den normativen Vorgaben her als „ultima ratio" der Disziplinierung vorgesehen ist und nur bei schweren und/oder wiederholten Verstößen gegen die Anstaltsordnung angemessen sein sollte. Die häufigere Sanktionierung im Jugendstrafvollzug könnte zum einen auf den größeren Anteil Haftunerfahrener zurückzuführen sein, die die Regeln des Vollzugs in Unkenntnis informeller und formeller Interaktionsspielräume eher verletzen, denkbar sind auch impulsivere, gelegentlich gewalttätige Verhaltensweisen gegenüber Mitgefangenen und Bediensteten, 64 zum anderen gibt es allerdings auch Anhaltspunkte dafür, daß von seiten des Vollzugspersonals der Erziehungsgedanke auch als Auftrag i. S. einer traditionellen, eher
61 Wenngleich im Durchschnitt größer als ζ. B. die österreichische Anstalt in Gerasdorf oder die typischen Anstalten in den skandinavischen Ländern oder in den Niederlanden. 62 Dies ist im übrigen eine der unseligen Erbschaften des DDR-Vollzugs, die sich im Strafvollzug der neuen Bundesländer bis heute erheblich negativ auswirkt: 1997 waren im geschlossenen Vollzug nicht weniger als 77% der Gefangenen in den neuen gegenüber 41% in den alten Bundesländern gemeinschaftlich untergebracht, vgl. Dünkel 1998, S. 69. 63 32 : 9 pro 100 Gefangene, vgl. Dünkel 1996, S. 128, Abb. 47. 64 Dafür spricht beispielsweise der erhöhte Anteil von registrierten Tätlichkeiten gegenüber Bediensteten, vgl. Dünkel 1996, S. 128, Abb. 47; vgl. auch Böhm 1996, S. 232.
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repressiven Ahndung abweichenden Verhaltens verstanden wird. 65 Jedoch sind hier erhebliche Unterschiede im Vergleich der Anstalten zu erkennen. Einzelne Anstaltsleiter kommen so gut wie ohne Disziplinarmaßnahmen aus, insbesondere der Arrest ist in einigen Anstalten und Bundesländern (ζ. B. Bremen, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz) faktisch abgeschafft. 66 Die inhaltliche Unscharfe des Erziehungsbegriffs bzw. der Aufgabenstellung des Jugendstrafvollzugs, wie sie in § 91 J G G formuliert ist, bietet Spielräume für sehr unterschiedliche „erzieherische" Auffassungen und Ausgestaltungen des Vollzugs. 67 Dabei scheint der sog. „Anstaltsleitereffekt" insbesondere bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen von ganz erheblicher Bedeutung zu sein. So verdoppelte sich nach dem Wechsel der Anstaltsleitung in Adelsheim (Baden-Würrtemberg) Ende der 70er Jahre die Zahl der verhängten Disziplinarmaßnahmen. Nach einem erneuten Wechsel 1989 ging die (auch im Bundesländervergleich) hohe Disziplinarmaßnahmenzahl in den Folgejahren auf durchschnittlich die Hälfte zurück. 68 Neben der formellen Disziplinierung wird auch von besonderen Sicherungsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug erheblich häufiger Gebrauch gemacht, ζ. B. von der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum (sog. Beruhigungszelle) doppelt so häufig wie im Erwachsenenvollzug. Auch hier dürften gelegentlich Aspekte der Disziplinierung eine Rolle spielen, etwa als Reaktion auf Schlägereien unter Gefangenen. Zweites, den Jugendstrafvollzug wesentlich vom Erwachsenenvollzug unterscheidendes Merkmal ist die erheblich seltenere Gewährung von Hafturlaub und Freigang (d. h. das tägliche unbeaufsichtigte Arbeiten in Betrieben außerhalb der Anstalt). Offensichtlich handelt es sich hier nur zum geringen Teil um die Berücksichtigung einer erhöhten Mißbrauchsgefahr durch die Gefangenen (ζ. B. wegen des höheren Anteils von wegen Gewalt- oder Drogendelikten Verurteilten), sondern vielmehr um unterschiedliche Vollzugsstile. Der regionale Ländervergleich belegt, daß entscheidend die jeweilige Einstellung des Anstaltsleiters zu derartigen Lockerungen und dementsprechend die Lockerungspraxis der An-
65 Vgl. Dünkel 1990, S. 216; so auch J. Walter 1998, S. 132 aufgrund der langjährigen Erfahrungen, die er als Vollzugspraktiker gewinnen konnte. 66 Vgl. Dünkel 1996, S. 19 f., 102 ff. 67 Die Unterschiede im Ländervergleich sind so gravierend, daß die von Böhm (1996, S. 232) zu Recht beklagten gelegentlich nicht auszuschließenden Registrierungsfehler oder Ungleichheiten den Tatbestand als solchen nicht leugnen können. 68 V g l . / Walter 1998, S. 102 f.
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stalt bzw. eines Bundeslandes ist. Anders ist nicht erklärbar, daß in Bremen, Hamburg oder Schleswig-Holstein 7- bis 17mal häufiger Beurlaubungen gewährt werden als in Bayern, übrigens ohne daß die Mißbrauchsquoten in diesen Ländern erhöht wären. 69 Gleiches gilt für tageweise Ausgänge, wo in Niedersachsen mehr als 40mal so häufig Lockerungen gewährt wurden als in Bayern.70 Die restriktivere Lockerungspraxis im Jugendstrafvollzug zahlt sich keineswegs durch eine höhere Treffsicherheit der Prognosen hinsichtlich der Mißbrauchsgefahr aus, im Gegenteil sind zum Teil sogar höhere Mißbrauchsquoten im Jugendstrafvollzug bzw. in Bundesländern mit einer zurückhaltenderen Lockerungspraxis erkennbar. Insgesamt haben sich in den nördlichen Bundesländern tendenziell liberalere Vollzugsstile sowohl hinsichtlich der Disziplinierung als auch bzgl. der Lockerungspraxis durchgesetzt (sog. Nord-Süd-Gefälle).71 Die erheblichen regionalen Unterschiede werden auch bei Betrachtung der Anteile von jungen Gefangenen, die sich stichtagsbezogen im offenen Vollzug befinden, deutlich. In einigen Bundesländern existiert überhaupt kein offener Vollzug, während 1995 in Niedersachsen etwa ein Drittel, in Bremen mehr als die Hälfte der Gefangenen in offenen Anstalten untergebracht waren. 72 Abgesehen von diesen „strukturellen" Merkmalen des Jugendstrafvollzugs lassen sich in Deutschland einige interessante Reformansätze in der Praxis erkennen, die wegen ihres Wiedereingliederungspotentials sowie der innovativen Vollzugsgestaltung Erwähnung verdienen. Zum einen handelt es sich um Versuche der Dezentralisierung der klassischen hierarchischen Anstaltsverfassung im Rahmen eines „Teammodells" mit einer weitgehenden Delegierung von Entscheidungsbefugnissen (Rockenberg/Hessen). Weiterhin sind erlebnispädagogische Ansätze hervorzuheben (Klettern, Rad- und Kanutouren etc., ζ. B. in Adelsheim/Baden-Württemberg), die das Ziel verfolgen intensive Gruppenerlebnisse, gegenseitiges Verantwortungsgefühl, Vertrauen etc. zu vermitteln. Weiterhin sind Täter-Opfer-Konfrontationen, ζ. B. mit (symbolischen) Vergewaltigungs- oder Einbruchsopfern im Rahmen verhaltenstherapeutisch oder gestalttherapeutischer Behandlungsansätze (einschließlich
69
Vgl. zusammenfassend Dünkel 1993a; 1996; 1998. Vgl. Dünkel 1996, S. 130, Abb. 49. 71 Vgl. schon Dünkel 1990, S. 609 f. 72 Vgl. Dünkel 1996, S. 142, Abb. 61; ζ. T. scheinen auch hier Definitions- und Zuordnungsprobleme nicht auszuschließen zu sein, wie die für 1997 teilweise erheblich abweichenden Zahlen vermuten lassen, vgl. Dünkel 1998, S. 68; vgl. zu dieser Problematik auch Böhm 1985; 1986a. 70
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aus dem Bereich des Psychodrama entwickelter Methoden) mit positiven Ergebnissen (vgl. hierzu unten 8.) erprobt worden. Besonders bekannt und inzwischen weit verbreitet ist das sog. Anti-Aggressions-Training wie es in der Jugendanstalt Hameln (Niedersachsen) für junge Gewalttäter entwickelt wurde. 73 In den neuen Bundesländern ist die Realität angesichts ungenügender baulicher und personeller Ausstattung (vor allem bez. qualifizierten Personals) eher trist. Im positiven Sinn hervorzuheben ist allerdings die Anstalt Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern), in der in Verbindung mit durch den Europäischen Sozialfond geförderten Berufsausbildungszentren es gelungen ist, praktisch allen Gefangenen eine Berufsausbildungsmaßnahme zu vermitteln, die ggf. nach der Entlassung am Heimatort fortgesetzt werden kann. Dies erscheint in einem Bundesland mit teilweise mehr als 30% Jugendarbeitslosigkeit als erstaunliche Leistung. Im Innern der Anstalt wurden die Anfang der 90er Jahre problematischen Konflikte mit Gewalttätigkeiten und ausgesprochen subkulturellen Erscheinungsformen durch das „Prinzip der menschlichen Nähe" und dementsprechend einer intensiven Auseinandersetzung des Vollzugspersonals mit den Gefangenen weitgehend beseitigt. Der Ausbau von Lockerungen hat wesentlich zur Entspannung der Lage beigetragen. Gelingt es dem Vollzug, einen flexiblen Ubergang von einer im Vollzug begonnenen schulischen oder beruflichen Ausbildung in Ausbildungseinrichtungen außerhalb des Vollzugs zu gewährleisten (oder - wie in Baden-Württemberg der Fall - die Fortsetzung der Ausbildung im Vollzug als „Externer"), macht dies die Vollzugsadministration und den Vollstreckungsrichter bei der Entscheidung über eine vorzeitige Entlassung unabhängig von sachfremden Erwägungen, die zu einer Verlängerung des Aufenthalts im Vollzug zum Zweck der Beendigung einer Maßnahme führen könnte, obwohl in spezialpräventiver Hinsicht eine Entlassung und Unterstellung unter Bewährungsaufsicht bereits jetzt aussichtsreich und erfolgverprechend wären. Diese positiven Aspekte einer „inneren Vollzugsreform" 74 belegen, daß auch unter unbefriedigenden gesetzlichen und baulichen Rahmenbedingungen ein guter Jugendstrafvollzug möglich ist. Entscheidend ist immer wieder das Engagement der Mitarbeiter und da-
73 74
Vgl. Weidner 1995. Vgl. Dünkel 1990, S. 613.
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bei auch die Motivationsfähigkeit des Anstaltsleiters 75 bzw. der leitenden Mitarbeiter. 8. Erfolgsbilanz des Jugendstrafvollzugs: Legalbewährung ehemaliger Insassen; Ergebnisse der empirischen Sanktionsforschung Eine der methodisch schwierigsten Fragen ist diejenige des Erfolgs von Resozialisierungsbemühungen im Jugendstrafvollzug. Schon die Frage des Erfolgskriteriums bzw. der Differenzierung des Erfolgsmaßstabs wirft erhebliche Probleme auf. Im allgemeinen begnügt sich die Strafvollzugsforschung daher mit schlichten und methodisch angreifbaren Untersuchungsmodellen, meist von der Anlage her als Ex-post-facto-Design, unter Verwendung eines - gelegentlich nach Art und Intensität sowie zeitlichem Intervall differenzierten - Rückfallkriteriums, wie es dem Strafregister (in Deutschland: Bundeszentralregister) ohne besonderen Aufwand zu entnehmen ist. Studien zur sozialen Integration ζ. B. am Arbeitsplatz, in der Familie und/oder Nachbarschaft stellen die absolute Ausnahme dar.76 In Deutschland gab es vor allem in den 60er und 70er Jahren zahlreiche, im Umfang kleinere Untersuchungen bezogen auf einzelne Anstalten, seit Ende der 80er Jahre sind umfassendere Untersuchungen, u. a. auch Auswertungen des Bundeszentralregisters hinzugetreten. Danach kann man generell von einer Rückfallquote nach Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug in Höhe von ca. 80 % ausgehen, wobei es allerdings „nur" in 50-60 % zu einer erneuten Verurteilung zu Jugendstrafe oder Freiheitsstrafe ohne Bewährung, also zu einer erneuten Inhaftierung, kommt. 77 Ahnliche Daten (60% erneute Inhaftierung) berichtet Tournier aus Frankreich. 78 Umstritten ist, inwieweit schulische oder berufliche Ausbildungsmaßnahmen zu einer Verminderung des Rückfallrisikos führen. Die Frage ist methodisch schwierig zu beantworten, weil erfolgreiche Teilnehmer an Ausbildungsmaßnahmen eine selektive Auswahl der Gesamtpopulation repräsentieren, die mit den Nichtteilnehmern nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Soweit der Versuch einer systematischen Kontrollgruppenuntersuchung unternommen wurde, deuten 75 Der Jubilar selbst kann hier als eindrucksvolles Beispiel neben vielen anderen engagierten Persönlichkeiten genannt werden. 76 Vgl. zusammenfassend Dünkel 1990, S. 413 ff. m. w. N. 77 Vgl. Dünkel 1990, S. 415, 421 ff. m. w. N. 78 Vgl. Tournier 1993.
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sich allenfalls schwache Effekte von Ausbildungsmaßnahmen für die spätere Resozialisierung an.79 Allerdings war es in den seltensten Fällen möglich, die Nachentlassungssituation im Hinblick auf eine Integration in den Arbeitsmarkt bzw. die Frage der Verwertbarkeit von im Strafvollzug vermittelten Ausbildungsabschlüssen zu evaluieren. Die - soweit ersichtlich - einzige aktuelle Studie in diesem Bereich von Hammerschick/Pilgram/Riesenfelder in Osterreich gelangt zum Ergebnis, daß die Integration in den Arbeitsmarkt vor und nach der Inhaftierung in hohem Maße korreliert, d. h. es handelt sich bei den Strafvollzugsinsassen um großenteils über lange Zeiträume der Lebensbiographie sozial und vom Arbeitsleben desintegrierte Personen. Deutlich wird auch der Zusammenhang von Integration ins Arbeitsleben und Legalbewährung. Diejenigen, denen es gelang nach der Entlassung einen (dauerhaften) Arbeitsplatz zu finden, wurden nur zu 20% erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, bei den weniger als 50% der Zeit in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden Entlassenen lag die entsprechende Wiederverurteilungsquote mit 40% doppelt so hoch. 80 Langfristige Arbeitslosenkarrieren und kriminelle Karrieren überschneiden sich damit sehr weitgehend. Dies belegt eindrucksvoll die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen des Strafvollzugs, den Kreislauf von Arbeitslosigkeit, Straffälligkeit und Inhaftierung durch gezielte, vor allem auch auf den Arbeitsbereich bezogene Wiedereingliederungsprogramme zu unterbrechen. Faßt man den derzeitigen empirischen Forschungsstand zusammen, so gibt es andererseits Anhaltspunkte dafür, daß ein gut strukturiertes Gesamtkonzept von Ausbildung im Rahmen eines Wohngruppenvollzugs, von Vollzugslockerungen (insbesondere Freigang, d. h. Arbeit in Betrieben außerhalb der Anstalt in der Entlassungsphase), Entlassungsvorbereitung und bedingter vorzeitiger Entlassung mit Nachbetreuung durch die Bewährungshilfe die Wiedereingliederungschancen erheblich verbessert. Auch konnte aufgezeigt werden, daß längere Inhaftierungszeiten bei vergleichbaren Tätergruppen nicht als spezialpräventiv überlegen angesehen werden können, und zwar selbst dann nicht, wenn eine Verlängerung des Aufenthalts in stationären Einrichtungen mit dem Zweck der Behandlung verbunden wird. Insoweit zeigen die Erfahrungen der boot camps in den USA - ungeachtet der erwähnten negativen Aspekte (vgl. oben 7.) - , daß eine erhebliche Verkürzung des Auf-
79 80
Vgl. Berckhauer/Hasenpusch 1982; Geissler 1991. Vgl. Hammerschick/Pilgram/Riesenfelder 1997, S. 186.
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enthalts im Vollzug nicht zu einer Erhöhung der Rückfallquoten führt. 81 Die Forschungslage im internationalen Vergleich zur Behandlung im Strafvollzug wurde in jüngerer Zeit in Deutschland von Lösel dahingehend zusammengefaßt, daß vor allem Programme, die auf die speziellen Probleme und Lebenslagen der Probanden zugeschnitten und gut strukturiert sind, als erfolgversprechend beurteilt werden können. 82 Dabei sind Methoden des sozialen Lernens i. S. des Sozialen Trainings zur Verbesserung der Problemlösungsund Handlungskompetenzen besonders vielversprechend. Schon in den 70er Jahren hatten amerikanische Untersuchungen darauf hingewiesen, daß ausgebliebene „Behandlungserfolge" im Strafvollzug auch auf ungünstige gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen (Arbeitslosigkeit, Wohnungsknappheit, Rassendiskriminierung, etc.) zurückgeführt werden können, die die therapeutischen Interventionen i. e. S. neutralisieren. Dementsprechend scheinen Behandlungsprogramme vielversprechend, die zu einer Verbesserung der Chancenstruktur bzw. der Lebenslagen beitragen (ζ. B. Freigängerprogramme). Als Prinzipien erfolgreicher Behandlungsstrategien werden in den neueren Sekundär- und Meta-Analysen folgende genannt: • risk classification: Risikoeinschätzung und Reaktion entsprechend unterschiedlicher Risikogruppen (intensivere Programme sind stärker gefährdeten Verurteilten vorzubehalten); • targeting criminogenic needs·. Orientierung an direkt die Straftatbegehung begünstigenden Faktoren (ζ. B. anti-soziale Einstellungen, geringe soziale Handlungskompetenz); • programme integrity: Programmdefinition und gute Implementation des Behandlungsprogramms; • responsivity. Ansprechbarkeit der Straftäter (Methoden der Behandlung müssen der Lernkompetenz und -form der Probanden angepasst werden, d. h. ζ. B. strukturierte Lernformen i. S. des sozialen Trainings sind unstrukturierten Gesprächsformen ζ. B. des counseling vorzuziehen); • treatment modality: Orientierung des Behandlungsprogramms an der Vermittlung beruflicher Fähigkeiten sowie sozialer Handlungs- und Problemlösungskompetenz einschließlich der
81
Vgl. Gescher 1998, S. 180, 266 ff. Vgl. Lösel 1993; 1994; vgl. auch Gendreau/Andrews dreau/Ross 1995; Sherman u. a. 1997; Goldblatt/Lewis 1998. 82
1990; Palmer 1992; Gen1998; Vennard/Hedderman
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Stärkung positiver Einstellungen und Werthaltungen (eher verhaltenstherapeutische Formen des sozialen Trainings u. ä. anstatt ggf. unstrukturierte psychotherapeutische Verfahren); • community base: Gemeindeorientierung von Behandlungsprogrammen. Insgesamt bestätigen die aktuellen Bestandsaufnahmen eindrucksvoll eine dem nothing works" der 70er Jahre konträre Einschätzung. Neben der umfassenden Studie des Home Office84 und des amerikanischen National Institute of Justice85 ist hier vor allem die weltweit angelegte Meta-Analyse von Lipton hervorzuheben, der 30 Jahre nach der legendären, aber vielfach mißverstandenen Zusammenfassung von bis Ende der 60er Jahre vorliegenden Evaluationsstudien86 überwiegend positive Effekte ambulanter und stationärer Behandlungsmaßnahmen nachweist, die um so stärker ausfallen, je mehr die Maßnahmen den oben erwähnten Prinzipien folgen.87 Für den Jugendstrafvollzug gibt es danach keinen Grund zur Resignation, wenngleich man die Erwartungen realistisch in einem eher begrenzten Beitrag zur Rückfallverminderung sehen sollte. Die Zielsetzung, die meist erheblich vorbelasteten Verurteilten zu einem „rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandel zu führen" (so die Formulierung in § 91 I JGG), ist mit den Mitteln des Freiheitsentzugs von vornherein nur eingeschränkt erreichbar. Zwar verfestigt der Jugendstrafvollzug - wie wir aus Langzeitstudien wissen88 - kriminelle Karrieren nicht notwendigerweise, da eine Stabilisierung bei langfristiger Betrachtung selbst bei besonders belasteten Tätergruppen auftritt, jedoch wird der Integrationsprozeß wegen der auch negativen Wirkungen des Freiheitsentzugs, die noch so gut gemeinte Resozialisierungsprogramme neutralisieren können, eher verzögert. Dies bedeutet jedoch nicht, auf Resozialisierungsangebote und die Verbesserung der Situation im Jugendstrafvollzug zu verzichten. Im Gegenteil belegen die Sozialisations- und Bildungsdefizite bei der hoch selektierten Population des Jugendstrafvollzugs ΟΪ
Vgl. Vennard/Hedderman 1998, S. 103 f. m. w. N . Vgl. Goldblatt/Lewis 1998. 85 Vgl. Sherman u. a. 1997. 86 Vgl. Lipton/Martinson/Wilks 1975. 87 Vgl. Lipton 1998; interessanterweise scheint die methodische Qualität der Evaluationsstudien keine wesentliche Rolle hinsichtlich des positiven Gesamtergebnisses zu spielen, d. h. auch bei den rigidesten und methodisch anspruchsvollsten Studien wurden Erfolge bzgl. der Rückfallsenkung festgestellt. 88 Vgl. Kerner!Janssen 1983; Dolde/Grübl 1988. 83
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eindrucksvoll die Notwendigkeit verstärkter (kompensatorischer) Bemühungen. Als Grundsatz und Erfahrungswissen der vergleichenden empirischen Sanktionsforschung muß nach wie vor gelten, daß ambulante Alternativen wie beispielsweise die Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe oder die bedingte vorzeitige Entlassung spezialpräventiv mindestens ebenbürtig, in vielen Fällen vorteilhafter sind. Die empirischen Befunde bestätigen die Kriminalpolitik der letzten 20 Jahre, die auf eine Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen und Anwendung der Jugendstrafe nur als „ultima ratio" angelegt war und die in Deutschland und Osterreich durch die Gesetzesreformen von 1988 bzw. 1990 bestätigt wurden. 9. Ausblick Jugendstrafvollzug erweist sich im internationalen Vergleich als facettenreich, was nicht zuletzt durch die unterschiedlichen (Jugend-)Kriminalrechtssysteme bedingt ist. Immerhin lassen sich übereinstimmende Tendenzen in der Entwicklung des Freiheitsentzuges gegenüber jungen Rechtsbrechern insofern ausmachen, als Jugendstrafe o. ä. als „ultima ratio" die Ausnahme bleiben soll und ggf. von möglichst kurzer Dauer. Die Gesetzeslage im Hinblick auf die Gewährleistung von Grundrechten junger Inhaftierter erscheint nicht nur in Deutschland unbefriedigend. Die vorliegenden Reformvorschläge in Deutschland 90 lassen eine qualitative Verbesserung über den derzeit erreichten (und zweifellos teilweise positiv zu bewertenden) Stand hinaus kaum erwarten. Von daher erscheint eine „Jugendstrafvollzugsreform durch die Praxis" bzw. das Plädoyer für Modellprojekte im Jugendvollzug, wie sie ζ. B. Rössner für 14- bis 17jährige Jugendliche vorgeschlagen hat, 91 gerechtfertigt. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß der Jugendstrafvollzug für Jugendliche i. e. S. kein geeigneter Platz ist und deshalb über die extensive Interpretation der Lockerungsvorschriften, die Regelung des § 91 Abs. 3 J G G („Jugendvollzug in weitgehend freien Formen") oder die Verlagerung des Jugendvollzugs auf freie Träger ein besonderes Angebot für die wenigen sehr jungen Inhaftierten zu schaffen 89 Vgl. speziell zu den Auswirkungen der veränderten, d. h. milderen Sanktionspraxis im österreichischen Jugendstrafrecht in den 80er Jahren Pilgram 1994; zusammenfassend Kerner 1996. 90 Vgl. die Referentenentwürfe von 1991 und 1993; ferner Dünkel 1990 und Kreideweiß 1993 mit einer Zusammenfassung früherer Vorschläge und Entwürfe. 91 Vgl. Rössner 1990; 1991, S. 219 ff.
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ist. Daß auch innerhalb des Jugendstrafvollzugs Innovation möglich ist, hat die Entwicklung in Deutschland eindrucksvoll belegt92 und nicht zuletzt Alexander Böhm hat hierzu in Praxis und Wissenschaft wesentlich beigetragen. Jüngstes „Kind" einer innovativen Reformbewegung ist der von J. Walter in Adelsheim initiierte Modellversuch einer demokratischen Gemeinschaft mit dem Ziel, soziales und moralisches Lernen zu vermitteln.93 Insgesamt gesehen geben die nationalen und internationalen Erfahrungen vielfältige Hinweise für erfolgversprechende Ausgestaltungen des Jugendstrafvollzugs, die allerdings auch einer gesetzlichen Regelung bedürfen. Seit den Arbeiten der von Böhm geleiteten Jugendstrafvollzugskommission hat sich in der Reformdiskussion in vielen Sachfragen ein breiter Konsens gebildet. Die nachfolgenden 15 Thesen können als Versuch einer Zusammenfassung dieses „common sense" angesehen werden. 10. 15 Thesen zum Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen gegenüber jungen Rechtsbrechern, insbesondere im Jugendstrafvollzug 10.1 Mindestgrundsätze
der Vereinten Nationen und des Europarats:
Als Orientierungspunkt für die Ausgestaltung des Vollzugs freiheitsentziehender Sanktionen gegenüber jungen Rechtsbrechern sind die 1990 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Mindestgrundsätze zur Behandlung junger Inhaftierter ebenso wie die Europäischen Gefängnisregeln des Europarats eine wichtige Grundlage. Allerdings ist zu beachten, daß insbesondere die in den UN-Regeln enthaltenen Grundsätze Minifeistandards darstellen, die nicht unbedingt den für europäische Länder adäquaten und möglichen Entwicklungsstand repräsentieren. 10.2 Gesetzliche
Regelung und
Regelungstechnik:
Rechte und Pflichten von Jugendstrafgefangenen und den Bediensteten sind in einem Gesetz zu regeln. Dies kann entweder in einem eigenständigen Jugendstrafvollzugsgesetz erfolgen (das sich inhalt-
Vgl. zu einigen Beispielen bereits Dünkel 1990, S. 295 ff. V g l . / . Walter 1998b, S. 236 ff. unter Berücksichtigung der Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Kohlberg. 92 93
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lieh von einem Erwachsenenvollzugsgesetz unterscheiden muß, ansonsten genügt auch ein besonderer Abschnitt innerhalb eines Gesetzes für den Strafvollzug insgesamt), oder innerhalb des Jugendstrafrechts (wie ζ. B. in Deutschland und Osterreich innerhalb des Jugendgerichtsgesetzes, JGG). Um eine möglichst gleichmäßige Handhabung des Gesetzes zu gewährleisten, sind die Rechte und Pflichten möglichst klar und eindeutig zu formulieren. Unbestimmte Gesetzesbegriffe (ζ. B. „Fluchtgefahr" bei der Gewährung von Vollzugslockerungen) sollten möglichst weitgehend durch Regel-/Ausnahmedefinitionen präzisiert werden. Ermessensregelungen sollten der Vollzugsbehörde keine allzu großen Spielräume ermöglichen (d. h. eher „Soll" - als reine „Kann" -Regelungen). 10.3 Organisatorische
Rahmenbedingungen:
Jugendstrafvollzug ist Teil des dem Justizministerium unterstellten Gefängniswesens.Jugendstrafanstalten sollten selbständige, vom Erwachsenenvollzug getrennte Einrichtungen sein. Die Zuordnung zum Justizbereich schließt nicht aus, daß Freiheitsentzug ζ. B. gegenüber unter 18jährigen Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendhilfe (Erziehungsheimen) vollstreckt werden kann (die dem Kultus· oder Sozialministerium unterstellt sind). Sofern Jugendliche zu längeren Haftstrafen verurteilt und u. U. auch Heranwachsende in das Jugendstrafrecht einbezogen werden, sind auf der Ebene des Jugendstrafvollzugs Regelungen vorzusehen, die einen Verbleib im Jugendvollzug bis zur Entlassung (d. h. bis zum Alter von ca. 25 Jahren) gewährleisten. 10.4 Grundlegende Unterschiede des Jugendstrafvollzugs Vergleich zum Erwachsenenvollzug:
im
Der Jugendstrafvollzug ist noch stärker als der Erwachsenenvollzug auf Erziehung und Ausbildung zu orientieren. Arbeit ist demgegenüber als nachrangig zu betrachten. Im Jugendvollzug wird dementsprechend besonders qualifiziertes Personal und eine besser ausgestattete Personalstruktur, insbesondere bzgl. der sog. Fachdienste (Sozialarbeiter; Psychologen, Lehrer), benötigt. Die Öffnung des Vollzugs über Hafturlaub, Freigang etc. kann in weitergehendem Umfang praktiziert werden, insbesondere wenn eine intensive Betreuung gewährleistet ist (Prinzip Sicherheit durch menschliche Nähe" bzw. Renschen statt Mauern"). Für die Unterbringung sind kleinere und überschaubarere Anstalten (maximal 80 Haftplätze) als im Erwachsenenvollzug üblich vorzusehen. Zusätzlich sollte eine
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Untergliederung in Wohngruppen (maximal 10-15 Gefangene) erfolgen (s. u. 10.12.). Der Jugendstrafvollzug sollte hierbei für die Gesamtreform des Strafvollzugs eine Vorreiterrolle spielen. 10.5
Vollzugsziel:
Jugendstrafvollzug ist allein am Ziel der Wiedereingliederung des Jugendlichen zu orientieren (Spezialprävention). Andere Strafzwecke (wie Sühne, Vergeltung, Abschreckung) dürfen weder programmatisch noch in der konkreten Vollzugsgestaltung eine Rolle spielen. Die (notwendige) Sicherheit der Allgemeinheit wird am besten durch einen konsequenten, auf Erziehungsangebote ausgerichteten Vollzug gewährleistet. „Erziehung" in diesem Sinne im Jugendstrafvollzug ist möglich und trotz der u. U. kontraproduktiven Wirkungen der Gefängnissubkultur jedenfalls dann erfolgversprechend, wenn die Behandlungsmaßnahmen gut strukturiert (ζ. B. im Rahmen eines Wohngruppenvollzugs, s. u. 10.12.), auf die speziellen Problem- und Lebenslagen der jungen Gefangenen zugeschnitten und auf eine Verbesserung der Problemlösungs- sowie der sozialen Handlungskompetenz ausgerichtet sind (ζ. B. soziales Training, Freigängerprogramme etc., s. u. 10.6.). Angesichts der schwierigen Klientel und der ungünstigen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach der Entlassung (Arbeitslosigkeit, „neue Armut", Wohnungsknappheit, etc.) dürfen allerdings keine allzu großen Erwartungen an die Wiedereingliederungsmöglichkeiten durch die „Erziehung" (Ausbildung, „Behandlung") im Jugendstrafvollzug gestellt werden. 10.6
Gestaltungsgrundsätze:
Der Vollzug ist soweit möglich den Verhältnissen eines sozialstaatlichen Gemeinwesens in Freiheit anzugleichen. Schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs ist durch eine möglichst offene Vollzugsgestaltung entgegenzuwirken. Dies setzt intensive Kommunikationsmöglichkeiten des jungen Gefangenen mit der Außenwelt voraus (Besuchskontakte, Urlaub, Ausgang, Freigang, s. u. 10.8.) und die Beteiligung des Gemeinwesens an den Resozialisierungsangeboten der Anstalt. Diese Grundsätze bleiben als Leitprinzipien auch angesichts einer sich wandelnden Vollzugspopulation und insbesondere trotz zunehmender Anteile von Gewalt- und Drogentätern gültig. Eine an militärischem Drill, Sühne und Abschreckung orientierte Vollzugsgestaltung, wie ζ. B. in einigen sog. boot camps in den USA, ist abzulehnen.
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10.7 Vollzugsplanung
und erzieherische bzw. Maßnahmen:
sozialtherapeutische
Der Gefangene hat Anspruch auf eine seinen individuellen Bedürfnissen und Neigungen entsprechende Vollzugsplanung, die von Beginn des Vollzugs an auf die Vorbereitung der Entlassung orientiert ist und die erzieherischen Maßnahmen wie soziales Training, schulische und berufliche Ausbildungsangebote, Freizeitgestaltung und Sport sowie Vollzugslockerungen einschließlich der Verlegung in den offenen Vollzug aufführt. Der Vollzugsplan ist regelmäßig entsprechend der Entwicklung des Gefangenen fortzuschreiben. Die Mitwirkung des Gefangenen an Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse (Gefangenenmitverantwortung) wird als wesentliches Element des Erziehungsvollzugs angesehen. Für bestimmte Gruppen von Gefangenen sind besondere (sozial-) therapeutische Behandlungsmaßnahmen als >Angebot" vorzusehen. So sind ζ. B. für Gewalttäter sog. Anti-Aggressivitäts-Trainingsprogramme einzurichten. Auch Formen der Alkohol- und Drogen- bzw. der Sexualtherapie sollten nach Bedarf innerhalb, verstärkt aber auch außerhalb des Vollzugs zugänglich sein (ggf. sollte die Uberleitung in externe Behandlungseinrichtungen vorrangig angestrebt werden). Die Einrichtung „drogenfreier Zonen" und eines stärker kontrollierten Vollzugsregimes kann sinnvoll sein. Gefangene sollten im Regelfall nur auf eigenen Wunsch in derartige Spezialabteilungen verlegt werden. 10.8 Kontakte mit der Außenwelt (Schriftverkehr; Hafturlaub, Ausgang, Freigang):
Besuche,
Kontakte des jungen Gefangenen zur Außenwelt sind von der Anstalt zu fördern. Schrift- und Besuchsverkehr dürfen nur aus besonderen und konkreten Gründen der Sicherheit der Anstalt beschränkt werden. Gefangene sollten Anspruch haben auf jährlich bis zu ca. 30 Tage Hafturlaub, zusätzlich zur Entlassungsvorbereitung oder Pflege des Kontakts zur Familie u. ä. auf eine nicht festgelegte Anzahl tageweiser Ausgänge. Ferner ist die Ausbildung oder Arbeit außerhalb der Anstalt im Wege des sog. Freigangs zu fördern. Zur Vorbereitung der Entlassung ist die Möglichkeit von Sonderurlaub bis zu 6 Monaten vorzusehen (analog der Regelung in der Sozialtherapie in Deutschland, vgl. § 124 StVollzG). Versagensgründe für derartige Vollzugslockerungen (die sich in Deutschland in besonderem Maße bewährt haben und wesentlich zur Verbesserung des Anstaltsklimas beigetragen haben) sollten lediglich die konkret zu belegende Mißbrauchsgefahr im Sinne von Entweichungen oder die Gefahr der Be-
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gehung von weiteren erheblichen Straftaten sein. Vollzugslockerungen sind gerade auch bei problematischen und rückfallgefährdeten Gefangenen als Erprobungsstrategie gezielt und kontrolliert einzusetzen, um die Wiedereingliederungschancen zu verbessern. 10.9 Entlassungsvorbereitung
und bedingte
Entlassung:
Die Entlassung ist frühzeitig vorzubereiten. In diesem Zusammenhang ist die Mitarbeit von Sozialen Diensten der Justiz (insbesondere der Bewährungshilfe) sowie anderen staatlichen und privaten Organisationen von besonderer Bedeutung. Vor der Entlassung ist ggf. ein Schuldenregulierungsplan zu erarbeiten, Wohnung und Arbeitsmöglichkeiten sind rechtzeitig abzuklären. Sozialarbeiter der Bewährungsoder der freien Straffälligenhilfe werden spätestens 6 Monate vor der voraussichtlichen Entlassung für den Gefangenen zuständig und sind bei der Wohnungs- und Arbeitssuche behilflich. Die bedingte Entlassung sollte nach der Hälfte der Strafe, regelmäßig jedoch nach Verbüßung von zwei Dritteln der Jugendstrafe erfolgen. Die (spezialpräventiv als günstiger anzusehende) bedingte Entlassung ist mit der Unterstellung unter Bewährungsaufsicht zu verbinden. Eine vorzeitige Entlassung unterbleibt nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten vorliegen. 10.10 Schulische
und berufliche
Ausbildung:
Jeder Jugendstrafgefangene soll die Gelegenheit erhalten, an einer seinen Interessen und Neigungen entsprechenden schulischen oder beruflichen Ausbildungsmaßnahme teilzunehmen. Die Maßnahmen sind so zu organisieren, daß sie (im Falle einer Entlassung) jederzeit außerhalb der Anstalt fortgesetzt werden können. Entsprechend einem Gesetzesvorschlag in Deutschland sollten zwei Drittel der Haftplätze im Jugendstrafvollzug für Ausbildungszwecke vorgesehen werden. 10.11 Arbeit und
Arbeitsentlohnung:
Jungen Gefangenen ist wirtschaftlich ergiebige und erzieherisch sinnvolle Arbeit anzubieten. Arbeit dient dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. Die Arbeitsentlohnung soll derjenigen in Freiheit möglichst weitgehend angeglichen sein (wobei Kriterien der Arbeitsproduktivität ebenso wie die Erhebung eines Haftkostenbeitrags eine Rolle spielen können; zugleich muß der Jugendliche in die Lage
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versetzt werden, auch während des Aufenthalts im Vollzug zur Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer substantiell beizutragen). In jedem Fall soll dem Jugendlichen entsprechend der Grundsätze des BVerfG auch durch die Höhe der Arbeitsentlohnung verdeutlicht werden, daß „Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist" ,94 Die Teilnahme an schulischen oder beruflichen Ausbildungsmaßnahmen ist insofern der Arbeit gleichzustellen. Abgesehen von einer leistungsgerechten (tariflichen) Entlohnung ist die Einbeziehung von Jugendstrafgefangenen in die Sozialversicherung zu gewährleisten. 10.12 Unterbringung, Anstaltsgröße und -gestaltung (Wohngruppenvollzug), regionale Verteilung von Anstalten (Regionalisierungsprinzip ): Jugendstrafanstalten sind dezentral, d. h. möglichst nahe am zukünftigen Wohnort des Gefangenen einzurichten. Insbesondere überleitungsorientierte Einrichtungen des offenen Jugendvollzugs als regelmäßig vorzusehende letzte Stufe vor der Entlassung sind nach dem Prinzip der Heimatnähe zu errichten. Geschlossene Anstalten sollten nicht mehr als 80, offene Anstalten ca. 20-30 Haftplätze aufweisen. Die Anstalten sind in Wohngruppen von ca. 10-15 Plätzen zu untergliedern. Die Gefangenen sind an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens in der Wohngruppe möglichst weitgehend beteiligt, ihnen obliegt die Pflege der Wohngruppen- und Freizeiträume. Die Unterbringung während der Nacht erfolgt in Einzelhafträumen mit einer gesetzlich festgelegten Mindestgröße (ca. 10 m2 oder 25 m3). Der junge Gefangene hat insoweit die Möglichkeit des Rückzugs in eine ungestörte Privatsphäre. 10.13 Disziplinar- und
Sicherungsmaßnahmen:
Im Jugendstrafvollzug sollten konsensuale Konfliktregelungsformen Vorrang vor formellen Sanktionen haben. Auch im Vollzug kann der Täter-Opfer-Ausgleich erfolgreich eingesetzt werden. Disziplinarmaßnahmen sind daher als jiltima ratio" bei besonders schweren Verstößen vorzusehen, namentlich bei Gewalttätigkeiten gegenüber Mitgefangenen oder dem Personal der Anstalt. Die einen Disziplinarverstoß betreffenden Tatbestände sollten bereits im Gesetz präzisiert werden (unbestimmte Gesetzesbegriffe wie „Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt" sind weitestgehend 94
Vgl. BVerfG ZfStrVo 1998, S. 242.
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zu vermeiden). Flucht oder Fluchtversuche stellen nach dem Prinzip der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung keinen Disziplinartatbestand dar. Arrest als Disziplinarmaßnahme, d. h. die zeitweise völlige Isolation des Gefangenen, darf nur bei besonders schweren Verstößen, die zugleich eine Straftat nach dem StGB darstellen, und maximal für die Dauer von 14 Tagen, angeordnet werden. Sicherungsmaßnahmen dürfen nur bei konkret drohender Gefahr im Einzelfall angeordnet werden. Auch hier gilt das Prinzip des Vorrangs informeller Konfliktregelungsmechanismen. Ferner haben Behandlungsmaßnahmen Vorrang vor Zwangsmaßnahmen wie ζ. B. der Isolation des Gefangenen aus Sicherungsgründen. Die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen bedarf stets der ärztlichen Genehmigung und Kontrolle. Die Anordnungskompetenz bzgl. Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen sollte beim Anstaltsleiter liegen, da es sich häufig um gravierende, juristisch zu begründende Eingriffe in die Grundrechte von Gefangenen handelt. Eine Delegation auf Mitarbeiter sollte allenfalls bei leichten Verstößen bzw. geringfügigen Sanktionen vorgesehen werden. Denkbar wäre zwar auch eine Übertragung auf den als Vollstreckungsleiter zuständigen Jugendrichter, allerdings erscheint dies nicht notwendig, wenn ein unmittelbares Rechtsmittel zum (Vollstreckungs-)Gericht ermöglicht wird (s. u. 10.14.). 10.14 Rechtsschutz und Inspektionen
durch unabhängige
Gremien:
Gegen Maßnahmen und Entscheidungen des Vollzugspersonals ist ein Rechtsmittel des Gefangenen zulässig. Hierbei ist der Gefangene u. U. durch einen (kostenlosen) anwaltlichen Beistand zu unterstützen. Das Verfahren sollte mündlich sein, zumindest ist die mündliche Anhörung des Gefangenen zu gewährleisten. Insbesondere im Bereich von Disziplinarmaßnahmen ist auch ein wirksamer einstweiliger Rechtsschutz von Bedeutung. Ferner muß die Kontrolle der Anstalten durch unabhängige Gremien (ζ. B. Anstaltsbeiräte, Ombudsmänner o. ä.) gewährleistet sein, die über die Einzelfallbeschwerde hinaus strukturelle Mängel des Vollzugs aufzeigen können. Die Arbeit des Antifolterausschusses des Europarats kann insofern als Vorbild dienen. Die politischen Parteien sollten weiterhin Strafvollzugsbeauftragte benennen, die ebenso wie Anstaltsbeiräte jederzeit ungehindert und unkontrolliert Kontakt zu Gefangenen aufnehmen können.
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10.15
Personal:
Das Personal im Jugendvollzug ist unter Erziehungsgesichtspunkten auszuwählen und zu qualifizieren. Die herkömmlichen Gegensätze einzelner Berufsgruppen sollten durch eine eindeutige Verpflichtung auf das Ziel der Wiedereingliederung überwunden werden. Vollzugsbedienstete sind jeweils den Wohngruppen fest zuzuordnen. Für eine Wohngruppe sollte ein Sozialarbeiter und für je zwei Wohngruppen ein Psychologe zur Verfügung stehen. Ferner ist die möglichst weitgehende Integration von externen Fachkräften wie ζ. B. Lehrern, Mitarbeitern aus dem Bereich der Erwachsenenbildung, der Alkohol- und Drogenberatung, der Arbeits- und Sozialämter etc. anzustreben (sog. „Import-Modell"). Literatur: Albrecht, P.-A.: Jugendstrafrecht. 2. Aufl. München 1993. Baumann, J.: Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes. Heidelberg 1985. Berckhauer, F., Hasenpusch, B.: Legalbewährung und Strafvollzug - Zur Rückfälligkeit der 1974 aus dem niedersächsischen Strafvollzug Entlassenen. In: Schwind, H.-D., Steinhilper, G. (Hrsg.): Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung. Heidelberg 1982, S. 281-333. Böhm, Α.: Rückfall und Bewährung nach verbüßter Jugendstrafe. RdJB 21 (1973), S. 33-41. Böhm, Α.: Jugendstrafvollzug. Kriminologischer Beitrag. In: Sieverts, R., Schneider, H.-J. (Hsg.): Handwörterbuch der Kriminologie. Bd. 4. Ergänzungsband. Berlin, New York 1979, S. 522-535. Böhm, Α.: Zum Vollzug in der JVA Rockenberg. ZfStrVo 30 (1981), S. 110-112. Böhm, Α.: Jugendstrafvollzug. In: Schneider, H.-J. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band XIV. Auswirkungen auf die Kriminologie. Zürich 1981a, S. 505-527. Böhm, Α.: Probleme der Strafvollzugsforschung, insbesondere bezüglich Vollzugslockerungen. In: Kury, H. (Hrsg.): Kriminologische Forschung in der Diskussion: Berichte, Standpunkte, Analysen. Köln u.a. 1985, S. 575-603. Böhm, Α.: Strafvollzug. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1986. Böhm, Α.: Vollzugslockerungen und offener Vollzug zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen. NStZ 6 (1986a), S. 201-206. Böhm, Α.: Einführung in das Jugendstrafrecht. 3. Aufl. München 1996. Bulczak, G., u. a.\ Jugendstrafvollzugsgesetz. Entwurf. München (Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.) 1988. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Schlußbericht der Jugendstrafvollzugskommission. Köln 1980. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes (Stand: 30.4.1993). Bonn 1993. Coyle, E. J.: Boot camp prisons: a survey of early programs and some preliminary evaluation evidence. Newark/N. J. 1990. Cronin, R. C.: Boot Camps for Adult and Juvenile Offenders: Overview and Update. Washington/D. C. (National Institute of Justice) 1994.
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Schuldverständnis und Strafvollzugsgestaltung im historischen Rückblick auf die D D R und als bleibendes Problem GÜNTHER KRÄUPL „Grab also, ohne Vorliebe und Abneigung, mit offenem Auge in das Gewühl der Völker, zu dem Lebenden, Denkenden ihres Geistes, ihres Willens und Wirkens! Kein Volk, kein Stamm sei uns in dieser Hinsicht zu gering oder zu verächtlich. Jedes hat seine eigentümlichen Schätze, die dem großen Zwecke (einer Philosophie der Gesetzgebung) dienen." Paul Johann Anselm Feuerbach, Idee und Notwendigkeit einer Universaljurisprudenz Naturrecht, Rechtsphilosophie, allgemeine Rechtswissenschaft, begonnen um 1815 und fragmentarisch geblieben
I. Zur Schwierigkeit und möglichen Bedeutung des Themas Wer den Zusammenhang zwischen Schuld und Strafvollzug thematisiert, gerät in erhebliche Argumentationszwänge. Es scheint, als läge der erreichte Fortschritt gerade in der konsequenten Trennung. Zudem könnte die Unschärfe des Schuldbegriffs im Maße einer Erstreckung auf den Strafvollzug noch zunehmen. Schließlich ist dort bereits in der Formel des (Re-)Sozialisationszieles und im Begriff der Behandlung genügend Präzisierungsbedarf versammelt. Andererseits ist solchen Begriffen ein unverzichtbarer Orientierungscharakter zuzugestehen. Es soll der Ausgangsvermutung nachgegangen werden, wonach das herrschende Schuldverständnis stets - ob gewollt oder nicht bis in den Vollzug durchgreift, nicht als simple Extrapolation von Schuld(vorwurfs)scÄze>ere, sondern mit Blick auf Schuldinhalte. Kommt man so der qualitativen Differenziertheit des Schuldbegriffs ein Stück näher? - Läßt sich die vollzugsrelevante Qualität von Schuld deutlicher und konstruktiv aufnehmen? - Gelingt es dabei, die Grenzen heutigen Vollzugs plausibler wahrzunehmen, die nicht zuletzt auch aus der Abkopplung oder dem nur negativen Durch-
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greifen von Schuld erwachsen, und seine Wirkungen konzentrierter anzulegen? - Schließlich könnte dabei die schlichte Vorstellung relativiert werden, wonach aktuelle Kriminalitäts- und strafpolitische Entwicklungen allein auf eine Ausdehnung der gewohnten Institutionen drängen. Es sei dahingestellt, was ein Blick auf den Strafvollzug der D D R für dieses Thema zu bringen vermag. Auf das Wieviel kommt es weniger an; für eine Problematisierung wird es genügen. Dafür wäre es nötig, das Problem weiter aufzureißen, bevor dieses Stück Geschichte dagegengehalten werden kann, um schließlich zu versuchen, einige aktuelle Konsequenzen zu ziehen. Geschichte wirft nicht nur dort grundsätzliche Fragen auf, wo sie unmittelbar erlebt wird. Sie bietet an, erleichtert oder macht gar nötig, Gegenwärtiges zu hinterfragen, um für die Zukunft etwas gewinnen zu können. Alexander Böhm war darum stets bemüht. II. Uber das herrschende Verständnis von Schuld und die tatsächliche Reichweite bis in den Strafvollzug Die verbliebene Schwierigkeit im Verständnis des hochkomplexen Kulturphänomens „Schuld" muß hier nicht belegt werden (vgl. im Ergebnis einer monographischen Analyse etwa Kim 1987, S. 9. Für den zunehmend hinterfragten Zusammenhang der Schuld zur Prävention und Kriminalpolitik stellte Müller-Dietz 1979, S. 21 fest, daß die Diskussion komplizierter und unübersichtlicher - auch unverständlicher - geworden sei.) Der Streit um das, was Schuld ist, konzentrierte sich auf das engere Strafrecht. Er erreichte weder inhaltlich, geschweige denn in dieser Intensität den Strafvollzug, blieb gleichsam vor seinen schweren Toren. Das hat logische und historische Gründe. In jüngerer Zeit jedoch findet sich der Bezug wieder aufgenommen, allerdings nur herkömmlich kritisch gegen eine verdeckte Ausweitung von vergeltendem Schuldausgleich (vgl. MüllerDietz/Walter 1995) oder recht allgemein (vgl. Busch/Krämer 1988). Es sind die Gefangenen, die über „ihre Schuld" (bzw. wie immer man die tatbearbeitende Selbstreflexion bezeichnet) das Gespräch suchen, „während sich ihre fachlich qualifizierten Betreuer um dieses Thema drücken oder dieses als nicht mehr zeitgemäß betrachten" (Busch 1988, S. 140). Wie Busch fixiert auch Winchenbach seine Erfahrungen als Leiter einer Justizvollzugsanstalt: Das Strafvollzugsziel eines Lebens ohne Straftaten in sozialer Verantwortung sei ohne „Moralbewährung, die wiederum mit der Frage der Schuld eng verknüpft ist", nicht erreichbar; aber gerade letzteres sei aus dem vorherrschenden Behandlungsverständnis weitgehend ausgeklammert
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(1996, S. 18). Die institutionelle Seite sieht ganz überwiegend die allgemeinen (wenn auch im Vollzugsplan zu individualisieren gesuchten) Sozialisationsbedingungen. Die Betroffenen setzen ihre Schuldreflexion hinzu und eröffnen damit eine andere und sehr subjektive Dimension. Auf sie ausdrücklicher einzugehen verspricht nicht nur einen intensiveren Bezug zur Verarbeitung der Tatkonflikte, sondern eröffnet den Betroffenen, sich als Subjekt einer Auseinandersetzung zu erfahren, in der Aktivität, sozialen Bestrebungen und Bewältigungskräfte gefragt und in der sie als Individuum akzeptiert sind, wie auch immer diese Anstrengung ausgehen wird. Aber - so Winchenbach - das vorherrschende Behandlungsverständnis bevorzuge eine andere Perspektive: „das rationale Vorgehen mit primär theoriegeleiteten Instrumenten", um „das Miteinander von Menschen durch Managementmethoden zu .professionalisieren'..., die immer weiter weg vom Individuum Mensch führen ... Wenn man wie dies zur Zeit geschieht - die Schuld als Mißachtung von Verantwortung nicht mit einbezieht, sondern ausschließlich »soziales Training' als mechanistisch qualifizierendes System mit dem Ziel des sozialen Funktionierens betreibt, wird die Entstehung von Kriminalität und Fehlverhalten außer acht gelassen ... Niemand bedenkt..., daß es nach einer gelungenen Sozialisation weiterzuleben gilt und dies dann in individueller Verantwortung und nicht aus erworbenen sozialen Verhaltensweisen allein geleistet werden kann" (1996, S. 18 f.). Ist das nicht auch eine Vernachlässigung des Täters als Subjekt eines Normbruchs, womit er sich darzustellen versuchte (wie unübersehbar bei Gewaltdelikten) ? Zu hinterfragen wäre das Verhältnis von allgemeiner Integration und individueller (schuldbezogener) Verantwortungsbefähigung. Ein differenzierteres Auswägen stellte weitergehende inhaltliche Ansprüche an das vollzugsrelevante Schuldverständnis und dessen Konkretisierung bis hin zu praktikablen Anknüpfungen für „Behandlung". Aber solchen Konsequenzen widerstrebt momentan noch die Einvernahme des Schuldbegriffs durch die Strafrechtsdogmatik. Nimmt man allein nur die inzwischen gängige Unterscheidung von Schuldidee, Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld, so wird zumindest bereits deutlicher, daß Schuld verschiedene Funktionszustände durchläuft. Nur vom nachfolgenden Zustand, der in den Strafvollzug hineinreicht, ist nicht die Rede. Stets erheblich später und weit pragmatischer erreicht der Geist des Strafrechts die Anstalt des Vollzuges seiner schwersten Strafe. So erklärt sich umgekehrt die Verselbständigung des Vollzuges, worin Fortschritte gesucht werden, aber auch neue Grenzen angelegt sein können.
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Die dogmatische Schuldzentrierung ist jedoch selbst nur Teil eines übergreifenden dynamischen Zusammenhangs: „Strafen als Prozeß - Rechtsgüterschutz durch Strafandrohung, Strafverhängung und Strafvollzug -„ (Müller-Dietz 1979, S. 30). Sicher bleibt dann immer noch die Frage, was diese „Einheit des Strafrechts" schließlich für den Vollzug bedeutet. Festzuhalten ist erst einmal eine qualitative Transformation der Schuld hin bis zum Vollzug. Diese Natur des Ganzen kann zwar institutionell zerlegt und der Vollzug kann durch eine entsprechende Konstruktion herausgehalten werden, aber der empirische Zusammenhang setzt sich schließlich durch. Bewältigung von Freiheitsstrafe findet stets wesentlich auch über Schulderleben statt, Verdrängung oder gar Rechtfertigung eingeschlossen. Auf den Betroffenen wirkt der Zusammenhang der strafrechtlichen Prozedur als ein Ganzes, gerade auch bis in den Strafvollzug hinein, worin er sogar die deutlichste Konsequenz an Status und Körper erfährt. Hier nimmt Schuld wiederum eine andere Qualität an. Sie wird praktischer, fühlbarer, weniger rechtlich, eher moralisch. Schuld ist vorher festgestellt, aber mit der Strafe, in deren Vollzug innerlich noch zu bearbeiten. Nach dem Verantwortlich-gemacht-Werden folgt nun der ganz innere Vorgang des Sichselbst-ins-Verhältnis-Setzens zur Tat, zu den tatsächlichen (weniger auf die Rechtsnorm bezogenen) Verletzungen anderer und damit auch zu den berührten eigenen sozialen Bedingungen, Beziehungen und Normsinnerfahrungen. So schichtet sich die Schuld im Verlaufe der ganzheitlichen Strafprozedur qualitativ ab, zuerst als Strafbegründungsschuld (im Sinne der vorwerfbaren psychischen Fähigkeit des Anders-handeln-Könnens), dann als Strafzumessungsschuld (im Sinne der Feststellung sozial verantwortungsloser Schädlichkeit der Tat als Maß für eine Sanktion) und schließlich als „Strafverwirklichungsschuld" (oder wie immer das auf einen Begriff zu bringen wäre im Sinne des ganz individuell gewordenen empirischen Faktums, daß und wie der Betroffene seine Tat reflektiert). Auf diesem Wege verbrauchen sich die vorwerfenden Wertungen durch die Instanzen. Es bleiben schließlich die Deutungen allein durch den Betroffenen selbst. Mit anderen Worten: Die Schuld verzehrt auf diesem Wege ihre Abstraktionen. (Auch daraus könnte sich die Schwierigkeit eines strafjuristischen Hinüberdenkens bis in den Vollzug erklären.) Das Übrige der Schuld ist ganz auf das Individuum, auf sein (Nach-)Erleben der Tat und ihrer Konsequenzen zurückgeworfen. Das kann sich oder wird sich sogar völlig von den juristischen Bewertungen lösen. Die ganz eigenen Deutungen des Vergangenen (selbst wenn sie rechtfertigend bleiben) und Bedeutungen für künftige Handlungsentscheidungen drängen vor. Die herrschen-
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de Diskurs- und Bewertungsmacht der Justiz ist zurückgenommen. Der eigentliche Vorgang ist in die innere Herrschaft der Betroffenen zurückgegeben. Für dieses praktische Bearbeiten sind Angebote und Hilfen angebracht, manchmal dringend nötig. Die historisch errungene Reduktion, daß die Freiheitsstrafe allein durch den Entzug der Freiheit „an sich" ihr Strafmoment verwirkliche, ist gegen zusätzliche Ubelzufügung und auf integrierende Behandlung gerichtet. Dieses Konstrukt mußte ursprünglich derart veräußerlichen, gleichsam als paradigmatische Schranke gegen vergeltenden Verwahrvollzug. Es beförderte jedoch auch die heutigen Akzentuierungen: die Vernachlässigung der vom Gefangenen selbst artikulierten und unter seinen total veränderten Lebensumständen unabweisbar durchzumachenden Schuldbearbeitung (aus welchen Motiven und mit welchen Ergebnissen auch immer) und - durchaus entsprechend - den Rückzug auf allgemeine Resozialisierungsangebote. Wenn Cornel für die Zeit der Diskussion um die Strafvollzugsreform einen „schnelle(n) Paradigmenwechsel von der Vergeltungsstrafe zu empirisch fundierten, sozialtechnokratischen Regulationsund Verhaltenssteuerungsprogrammen" feststellt, „die weder intellektuell noch emotional für einen großen Teil der Bevölkerung so nachzuvollziehen waren" (a.a.O., 1995, S. 14), so galt und gilt dies nicht nur für die „Bevölkerung", und insbesondere macht es auf Grenzen solcher Paradigmenwechsel aufmerksam. Sie erlauben ursprünglich, erstarrte Positionen zu verlassen, sich gegen sie zu profilieren und die Chance von Neuanfängen zu gewinnen. Dabei bleiben mögliche Zusammenhänge zum ursprünglich Einseitigen, Eingeengten erst einmal verschüttet. In den weiteren Erfahrungen können sie sich jedoch erneut aufdrängen, nunmehr relativiert, komplexer eingeordnet und qualitativ geändert. So scheint es mit dem zu gehen, was ursprünglich nur als „Vergeltung" gedeutet war. Es hatte gute Gründe, den negativ begriffenen „Schuldausgleich" nicht in das Vollzugsziel aufzunehmen. Eine andere Frage ist aber, was aus einer zu allgemeinen Zielformulierung folgen kann. So vermutet Alexander Böhm, „daß die Absage des Strafvollzugsgesetzes an eine von vergeltungs- und generalpräventiven Gesichtspunkten auch nur im mindesten beeinflußte Vollzugsgestaltung dem Sicherungsaspekt als dem einzigen Mittel, mit Hilfe dessen man das Strafübel eindrucksvoll gestalten kann, sozusagen eine Ersatzfunktion zugewiesen hat ... Sicherheit ... steht im Gesetz und ist ganz rational - im Gegensatz zu Sühne und Vergeltung" (1988, S. 45). Die Annäherung an dieses Problem geschieht zum einen unmittelbar vom Strafvollzug, von seiner Empirie her, zu der ein bestimmtes (und noch genauer zu bestimmendes) Schuldverständnis unabweis-
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bar gehört. Bestenfalls könnte sich dabei sogar ein Erklärungsansatz für die Tatsache ergeben, daß sich die ursprünglichen Erwartungen an die Konzepte der „Behandlung" und „Resozialisation" bescheidener erfüllen als erwartet. Auf diesem Weg könnte nicht nur ein verändertes Verständnis, sondern über den (wohlverstandenen) Schuldbezug auch mehr Bestimmtheit, Limitierung, Berechenbarkeit und Konzentration erreichbar sein. Schließlich entspräche dies auch der im Ausland stärker als im eigenen Land verbreiteten Kritik am Konzept einer „Behandlung", die nicht nur aus dem Zweifel an solcher Möglichkeit unter Zwang genährt wird, sondern auch aus der Uberinterpretation der Wirkungen und Reichweite. Zum anderen jedoch - und hier liegen die ursprünglichen Widerstände - ist eine Näherung vom strafrechtlichen Schuldbegriff her nötig: Mit der Regelung des § 46 I im heutigen StGB über die Schuld als „Grundlage" der Strafzumessung, wozu die Berücksichtigung der Strafwirkungen auf das künftige Leben zu treten habe, wird ausgedrückt, daß der verbleibende Spielraum einer schuldangemessenen Strafe mit allgemeineren Resozialisierungsbedürfnissen auszufüllen bliebe, womit „eine Brücke zwischen Verhängung und Vollzug der Strafe" geschlagen sei (Müller-Dietz 1979, S. 44). Damit ist aber auch nahe gelegt, daß sich Strafvollzug nicht in allgemeinen Resozialisierungsangeboten erschöpfen kann, soll dieser Ubergang funktionieren. Auch von der Strafzumessung her scheint die „Brücke" noch recht schmal. Die Berücksichtigung von Strafwirkungen wird nur sehr allgemein im Sinne der Vollzugszielformel aufgenommen, konkret dann aber auf Wechselwirkungen von Strafarten bzw. von Strafe und Maßregeln oder auf direkte Nebenwirkungen für den Betroffenen reduziert (vgl. etwa noch relativ ausführlich Tröndle 1997, Rn. 5 zu § 46). Auch die gut gemeinte Erfahrung von Richtern, daß zur Profession zu wissen gehöre, wie Strafvollzugsbedingungen aussehen (vgl. Horstkotte 1992, S. 168; Stomps 1996, S. 73), genügt nicht. Eine breitere Spur, die den Übergang vom Maßverständnis der Schuld zu ihren Inhalten als Anknüpfungen für individualisierte Behandlung im Vollzug eröffnet, ist kaum erkennbar. Sie würde einen weitergehenden Anspruch an den Richter setzen. Allein schon die Feststellung, daß sich entgegen dem für Schuldkonkretisierung recht weit ausgearbeiteten Kriterienkatalog in § 46 II StGB signifikant nur Vorstrafe und Schadensschwere auf das Strafmaß auswirken (vgl. Schöcb 1989, S. 132 f.), eröffnet, was leistbar wäre. Strafzumessungsdogmatik und Rechtsprechung erörtern über Begrenzungslinien für Schuldabwägung hinaus kaum materiale Kriterien für präventive Anknüpfungen (vgl. Kerner 1992, S. 221). Von der
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Kriminologie her werden Auffüllungen versucht (vgl. etwa Kerner 1992). Doch auch die Rechtsprechung bietet über die Synthese der für eine Abwägung der Strafzumessungsschuld herangezogenen zumessungserheblichen Umstände der Tatbestandsverwirklichung, des Geschehens vor und nach der Tat sowie der anschließenden, im schuldangemessenen Raum dann zu berücksichtigenden spezialpräventiven Gesichtspunkte Kriterien, die zur Strukturierung des Mosaiks beitragen können und inhaltlich weiter aufzufüllen wären (vgl. anregend Schäfer 1995, S. 105 - 160). Die Arbeit am strafrechtlichen Schuldverständnis hat sicher die Beurteilung des Maßes (die Angemessenheit und Gleichheit) vorangebracht, blieb aber wesentlich auf dieser Ebene des „gerechten Verhältnisses", worauf es sich wohl auch zu konzentrieren hat. „Diese Grundsätze sagen indes noch nichts darüber aus, was Schuld im begrifflich-inhaltlichen Sinne ist" - wie Müller-Dietz feststellt (1979, S. 8), ob sie bloße Wertung oder substantiell faßlich oder gar beides sei (vgl. a.a.O.). Für den Strafvollzug braucht es gerade Wissen um Inhalte. Damit liegt auch nahe, Schuld nicht nur als Wertung zu begreifen, die immer nur negativ, als Unwerturteil, somit als Vorwurf besteht, auch wenn sie allein in diesem Verständnis in der Zumessung einer Strafe vollständig ausgedrückt ist. Vielmehr geht es um die zugrunde gelegte Sachsubstanz, wie „namentlich" als Strafzumessungskriterien des § 46 II StGB wertungsfrei benannt und schlicht empirisch festzustellen. Von ihnen kann konstruktiv ausgegangen werden, sehr konkret als Anknüpfung für zu bearbeitende Lebens- und Entscheidungskonflikte. Bleibt die Gretchenfrage: Wer stellt sie so fest? Der Weg der Rechtsprechung seit Ende der 70er Jahre, die besondere Schuldschwere (an sich) zuungunsten des Gefangenen berücksichtigen zu lassen, um eine „sinnhafte Verknüpfung der Strafzwecke, hier insbesondere des gerechten Schuldausgleichs und der Sühne, mit dem in § 2 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) ausdrücklich normierten Vollzugsziel" herzustellen (Beschluß des BVerfG vom 28.6.1983), birgt die Grenzen einer einfachen Extrapolation, noch deutlicher dann die ausgelösten Weiterungen, von der Einsichtigkeit des Gefangenen in die Folgen seiner Tat (als ein Moment von Schuldbewußtsein) Vollzugslockerungen abhängig zu machen (vgl. kritisch Schüler-Springorum 1990, S. 22 f.; vorsichtiger Böhm 1986, S. 36). Im herkömmlichen Sinne auf diese Weise Kriterien von strafrechtlicher Schuld als mit Nachteilen bewehrte Erwartungen an Bereitschaften zu „Sühne" oder „Ausgleich" zu installieren, scheint den historisch aufgegebenen Zusammenhang zuerst nur wieder negativ und nur vom Schuldvorwurf (nicht aber vom tatsächli-
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chen Schuldinhalt her) aufzunehmen. Das aber kann nicht genügen. Die vorwerfbare Schuldschwere fändet allein und abschließend in der Strafdauer ihren Ausdruck (vgl. auch Meier-Beck 1984, S. 450). Alexander Böhm wendet sich dagegen, „den .Schuldausgleich' zu einem Gestaltungsprinzip des Strafvollzuges erheben zu wollen" (1988, S. 48). Das gilt ganz zweifellos für die herkömmliche Konsequenz, Schuld in ihrem negativ wertenden Gehalt in den Vollzug nehmen und hierauf Motivationsförderung für Einpassung, Mitwirkung oder gar noch weiter gehende Kooperation stützen zu wollen. Etwas anderes jedoch birgt die wertfreie(re) Seite der „empirischen" Sc\\v\dinhalte, aus denen die Entscheidung zur Tat wesentlich gespeist zu sein scheint und deren schlichte Tatsächlichkeit sich auch darin ausdrückt, daß sie als einzelne bzw. als zusammenhängende Fakten widersprüchlich existieren, also stets auch konstruktive Momente enthalten: etwa die Motivation, der tatsituative Konfliktumgang, die Gruppensituation, das Verhalten gegenüber dem Opfer, die Haltung zur Wiedergutmachung, die Weise und Intensität der Tatbegehung, tatbezogene, hintergründige sozial-personale Problemlagen im Umfeld bzw. in der Biographie, die hier eben gerade nicht (auch nicht verdeckt) als „Lebensführungsschuld" aufzunehmen wären, sondern für eine Erklärung und Bearbeitung der Tatsache, wie Normsinnerfahrungen in Widerspruch zur gesetzten Norm gerieten (insbesondere in der vorherrschenden Lebensaktivität, den Normen sozialer Einbindung und dem Bewältigungsbewußtsein gegenüber Normkonflikten), das Verhalten nach der Tat (bis hin zu tatbezogenem Verhalten im Strafvollzug), wozu im besonderen, aber nicht allein, Ansätze für Wiedergutmachung gehören. Hier geht es nicht um „Bereitschaften" zur Schuldbearbeitung, also um Behandlungskooperation, die bei Verweigerung dann zuungunsten des Gefangenen sprächen (abgesehen davon, daß sie bereits auf der Seite der dafür nötigen kognitiv-emotionalen Befähigung verhindert sein können - vgl. Eisenberg 1995, S. 628). Ohne diese konstruktive Seite für Anknüpfungen, die helfen könnten, die Kompetenz im künftigen Umgang mit gerade diesen Situationen anzuheben, bliebe Schuld traditionell abstrakt. Damit ist für die Betroffenen der Akzent bescheidener auf den Weg gesetzt, auf die empirischen Ansätze, die Entwicklungen anregen könnten, denn auf die hehren Ziele eines künftigen Lebens in sozialer Verantwortung. Die Dialektik erschöpft sich nicht derart, daß eine für ein solches Ziel als notwendig erachtete „Übernahme sozialer Einstellungs- und Verhaltensmuster ... notwendig die Ablehnung sozialwidriger Verhaltensweisen (ein)schließt", wie Müller-Dietz meint (1979, S. 46). Seit Kohlbergs Theorie der Stufen moralischen Ur-
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teilens bestätigen empirische Befunde, daß so erwartetes „richtiges Verhalten" derart von Vorausdefinitionen der „Experten" bestimmt ist, daß es den Betroffenen, der gerade im Strafvollzug oft auf einer ziemlich anderen Stufe moralisch urteilt, nicht erreicht. Erst wenn über einen Wechsel der Perspektive die Normsinnerfahrung auf dieser jeweiligen Stufe nachzuvollziehen versucht wird, kann die Stufe der nächsten Entwicklung anvisiert werden. So erschließen sich auch dann Anknüpfungen, wenn dem Täter aus seiner praktischen Normsinnerfahrung in der damaligen Situation die von der gesetzten N o r m abweichende (kriminalisierte) Handlung als sinnvoll erschien oder gar noch erscheint. N u r Aktivierungsanregungen zu eigenen moralischen Urteilen bei der Entscheidung über Widersprüche zwischen selbst erfahrener und geübter sowie vorgesetzter N o r m hin zu dieser nächsten Stufe wirken. Sie sind positiv und nach vorn, in die Zukunft gerichtet, selbst erarbeitet und können durchaus von einer schuldrelevanten Verhaltensentscheidung hergeleitet sein. Dann aber nicht vorwerfend, vergangenheitsgerichtet oder überfordernd. Die „Ablehnung sozialwidriger Verhaltensweisen" kann eine solche Uberforderung sein, gemessen an der erst erreichten Entwicklungsstufe, die es meistens gerade nicht zuläßt, die eigenen Vorstellungen über solche Verhaltensweisen zum alleinigen Maß zu machen. Kohlberg selbst war an Untersuchungen zur „Gerechtigkeitsstruktur im Gefängnis" beteiligt, auf die hier nur verwiesen werden kann (vgl. Kohlberg/Scharf/Hickey 1978). Man stellte fest, „daß moralische Gerechtigkeit direkt .Behandlung' darstellt, statt .Behandlung' nur in psychologischen oder seelischen Begriffen auszudrücken" (a.a.O., S. 212). So richtig dies erscheint, wird in diesen Untersuchungen ein Aspekt ursprünglich wohl mit vermerkt, schließlich aber nicht entwickelt: die Differenz, der Zusammenhang, also Übergang zwischen internen (allgemeinen) Urteilen über Verhalten zwischen Gefangenen und gegenüber Bediensteten und externen (dann wieder selbstbestimmend und sehr individuell abgeforderten) Urteilen, bei denen die ursprünglichen Konflikte in der Tatsituation eine besondere Rolle spielen. Sie müssen ausdrücklich mit aufgenommen, in die „allgemeine" Behandlung eingebettet sein. Die Erwartungen sind also schlichter, aber nach vorn offener, und sie lassen sich zweifellos noch konzentrieren durch die Prononcierung der Tatnormbezüge und „die Akzeptanz des So-Seins bei allen Erfordernissen zum Verändern, das Verstehen auch im Scheitern und das Nicht-Fallenlassen nach einzelnen Mißerfolgen" (Cornel 1995, S. 45).
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III. Die Schuldkonstruktion im DDR-Strafrecht und ihre "Wirkungen auf den Strafvollzug Hier geht es „nur" um die Frage, inwieweit das im „öffentlichen" Strafrecht angelegte Schuldprinzip Wirkung bis in den Strafvollzug der D D R zu entfalten vermochte bzw. umgekehrt: inwieweit die Besonderung des Strafvollzuges, seine Abwehr der Öffentlichkeit sowie bestimmte Reduzierungen und Willkürräume sich daraus erklären, daß die Konsequenzen aus einem Verständnis von Schuld als Grund und Maß von Strafe eben nicht bis in den Vollzug hinein reichten. Der Konstruktion der Schuld im DDR-Strafrecht war zugedacht, ganz originär sozialistisch zu sein. Letztlich blieb sie traditioneller als gewollt, am dichtesten formuliert in § 5 I StGB/DDR: „Eine Tat ist schuldhaft begangen, wenn der Täter trotz der ihm gegebenen Möglichkeiten zu gesellschaftsgemäßem Verhalten durch verantwortungsloses Handeln den gesetzlichen Tatbestand eines Vergehens oder Verbrechens verwirklicht." Auf den ersten Blick wurde damit zumindest versucht, Schuld ausdrücklich zu definieren. Vom traditionellen Moment des „Anders-handelnKönnens" sollte mit dem Begriff „verantwortungslos" ein Schritt zur inhaltlichen, materiellen Auffüllung eröffnet werden. Abstrakte individuelle Willensfreiheit und Verhaltensalternativität sollten auf empirisch Gegebenes, Gesellschaftliches bezogen sein, um daraus Verantwortung(-slosigkeit) herleiten zu können. Entsprechend sollte mit dem Begriff „strafrechtliche Verantwortlichkeit" die Konsequenz gezogen und ein Vorgang bezeichnet sein, der über „Strafe" hinaus reicht. Denn Selbstbestimmung ist immer zugleich von sozialen Handlungsbedingungen und -alternativen abhängig. Das Problem ist die „Vermittlung" dieser Zusammenhänge im Individuum, die allein in dessen sozialer Tätigkeit stattfindet, in eigenaktiver (produktiver) Existenzsicherung, selbstgestalteter sozialer Einbindung und eigener Konfliktbewältigung. Nur in solchem Tätigkeitsprozeß werden Verhaltensregeln als sinnvoll erfahren, möglicherweise auch abweichend von gesetzten Normen. Diese Normen und deren Kontrolle erscheinen unter vorgegebenen Verhältnissen als verselbständigte Konstruktion, mit denen sich die Individuen in ihren praktischen Tätigkeitsverhältnissen und Normsinnerfahrungen auseinandersetzen. Ein solches Auseinandersetzen bleibt außen vor, wenn „die Verantwortung des Menschen als eines innerhalb dieser Verhältnisse tätigen oder agierenden Subjekts ... nur zu begreifen" sei, „wenn man sie als Möglichkeit, Fähigkeit und Verwirklichung seiner Selbstbestimmung zu Handlungsweisen faßt, deren Maßstab die bestehenden und von dem jeweiligen Ver-
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halten berührten gesellschaftlichen Verhältnisse bilden" (vgl. Lekschas/Seidel/Dettenborn 1975, S. 17). Das eigenaktive, diese Verhältnisse mitgestaltende Moment bleibt zurück. Andererseits reichte dieses Verständnis hin, um gerade den Bereich der Strafen ohne Freiheitsentzug mit solcher „Verhältnissetzung" auszustatten, wie Arbeitsplatzbindung (die im eigentlichen als Verpflichtung zu längerwährender Einbindung in ein bestimmtes „Arbeitskollektiv" gedacht war, um Beziehungen und Einflüsse zu stabilisieren) oder die Übernahme von Bürgschaften (insbesondere durch Arbeitskollektive). Zwar war in Artikel 4 StGB/DDR ebenfalls die Schuld als alleiniger Grund strafrechtlicher Verantwortlichkeit genannt, in den „Grundsätzen der Strafzumessung" nach § 61 StGB/DDR dann aber nicht vor die Klammer gesetzt, etwa als ausdrückliche „Grundlage für die Zumessung der Strafe", sondern im Absatz I war als solcherart „Grundlage" die („sozialistische") „Gerechtigkeit" genannt. Wohl steckt im Gerechtigkeitsbegriff primär das Anliegen des „gleichen Maßes", jedoch liegt als Konsequenz aus der Unterschiedlichkeit von Schuld und/oder Gerechtigkeit als Zumessungsgrundlage nahe, daß Schuld ursprünglich und ausdrücklicher auf die individuelle Dimension reduziert, während Gerechtigkeit überindividuelle Maßstäbe anruft. Diese werden dann eher aus gesellschaftlichen Dimensionen hergeleitet, denen das Individuelle untergeordnet wird, womit die engere individuelle Schuld etwa aus generalpräventiven Erwägungen überschritten werden kann. So heißt es dann in § 61 II: „Art und Maß der Strafe sind innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens unter Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Umstände der Tat, wie Art und Weise ihrer Begehung, ihrer Folgen, der Art und Schwere der Schuld des Täters, zu bestimmen. Dabei sind auch die Persönlichkeit des Täters, sein gesellschaftliches Verhalten vor und nach der Tat und die Ursachen und Bedingungen der Tat zu berücksichtigen, soweit diese über die Schwere der Tat und die Fähigkeit und Bereitschaft des Täters Aufschluß geben, künftig seiner Verantwortung gegenüber der sozialistischen Gesellschaft nachzukommen." Im Grunde sind damit die durchaus gängigen, in der Geschichte gewonnenen Kriterien der Strafzumessung genannt, Art und Schwere der Schuld eingeschlossen. Zu vermerken wäre vorerst ein Uberschreiten des Tat(schuld)bezugs hin zu einer problematischen Allgemeinheit. Mit der Strafe sollte dem ganzen Verhalten entsprochen werden. Allgemeine Erziehungserwägungen fanden Eingang und entgrenzten. Was ist mit der definitorischen Verbindung von Schuld und Verantwortung(-slosigkeit) gewonnen? Zweifellos ein deutlicheres
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Einbedenken der sozialen Bezüge, der empirischen Handlungsbedingungen. Andererseits jedoch ist darin eine Überschreitung der Limitierungsfunktion individueller (Tat-)Schuld angelegt. Sie läßt nur insoweit etwas gewinnen, wenn es um konstruktive Gestaltungsangebote der individuellen Lebensbedingungen geht und nicht um zusätzliche Kontrollen (wie es das Schicksal der sogenannten strafrechtlichen Wiedereingliederungsmaßnahmen gemäß §§ 47, 47 StGB/DDR im Sinne einer gerichtlichen oder polizeilichen administrativen und repressiven Kontrolle nach der Entlassung aus dem Strafvollzug einmal mehr negativ bestätigte). Nicht alles, was Schuld als (objektiver) gesellschaftlicher Begriff zu empfehlen, geschweige denn zuzulassen scheint, reflektiert sich entsprechend in der (subjektiven) Individualschuld. (Was einmal mehr nahe legt, solches individuelles Schulderleben empirisch zu untersuchen. Gerade das aber ist im Verhältnis zu der in der Literatur Legion gewordenen „Metaphysik der Schuld" verschwindend.) Im konstruktiven Sinne kann der Verantwortungsbegriff unmittelbarer die Brücke zu eigenaktiver Mitgestaltung der tat(schuld)relevanten sozialen Lebens- und Handlungsbedingungen anbieten, womit der Täter als Subjekt gewürdigt und gefordert ist. Extensiv begriffen kann er jedoch auch eine Objektrolle der Betroffenen fördern. Es hängt also nicht vom Begriff, sondern vom Begreifen ab. Zur Uberdehnung des Verantwortungsverständnisses drängte eine historische Interpretation, wonach unter Verhältnissen ausbeutungsfreier Arbeit, der Kollektivität und sozialen Sicherheit in der D D R jedem die Möglichkeit gegeben sei, verantwortungsbewußt zu handeln, weshalb eine Straftat erstmals in der Geschichte „echte Schuld" verkörpere {Lekschas/Loose/Renneberg 1964, S. 53; entsprechend dann in Artikel 2 StGB/DDR und noch im Lehrbuch 1988, S. 224 f., von Lekschas/Buchholz (Red.)). Abgesehen davon, daß sich diese Verhältnisse als nicht lebensfähig, also nicht mit dieser Vorwurfskraft ausgestattet erwiesen haben, ist es auch unzulässig, den gesellschaftlichen Schuldbegriff derart mit der Individualschuld gleichzusetzen und sie damit zu überladen. Solchem Vorwurf kann das Individuum mit seinen Kräften kaum entsprechen. Es wird vielmehr aus der Mitgestaltung dieser herrschenden Verhältnisse herausgestellt, überholt, gehört nicht mehr zu ihnen. Also wird es kaum auf seine Eigenkräfte in einer weiterhin bestehenden Einbindung orientiert. Eine positive Sphäre des Handelns scheint ihm nicht mehr zur Verfügung zu stehen, sondern wird ihm erst mit der Strafe (also negativ) eingeräumt. Am schmerzlichsten offenbarte sich diese selbst gesetzte Schranke im Umgang mit Rückfälligen. Ende der 80er Jahre war im Ver-
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laufe zweier Jahrzehnte eine Verdoppelung der Vorbestraften erreicht, davon bereits zwei Drittel mehrfach Vorbestrafte und zunehmend sozial desintegrierte Menschen. Eine von der Jenaer Universität angelegte Untersuchung hatte bereits Ende der 70er Jahre ergeben, daß gegen sie tatdisproportional Freiheitsstrafe bevorzugt und überschärft zugemessen wurde und daß diese Uberdehnung mit wachsender Vorstrafenzahl zunahm. Andere Untersuchungen bestätigten dann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, daß Freiheitsstrafe überdurchschnittlich gegen Ausbildungs- und Leistungsschwache sowie als sozial auffällig Bezeichnete ausgesprochen wurde (vgl. Kupfer/Lehmann 1988, S. 119). Diese Konsequenz war im Schuldverständnis angelegt, in einer Anhebung von Schuldschwere im Maße der Nichtwahrnahme der „gegebenen Möglichkeiten". Dieses Moment fand sich in den Strafzumessungsgrundsätzen des § 61 II 3 StGB/DDR, „insbesondere zu prüfen, inwieweit der Täter aus bereits erfolgten Bestrafungen richtige Lehren gezogen hat" und schließlich in einer obligatorischen Schärfung von Freiheitsstrafe bei bestimmter Vorbestraftheit (§ 44 StGB/DDR; 1988 wurde diese Verbindlichkeit etwas zurückgenommen und dem Gericht mehr Entscheidungsraum gegeben). Das Schuldverständnis hatte der Frage keinen Raum gelassen, wie es sich erklärt, daß unter den normativ vorausgesetzten „Möglichkeiten zu gesellschaftsgemäßem Verhalten" tatsächlich jedoch dieses Phänomen sozialer Desintegration auswachsen konnte, und inwieweit ein solcher Schuld- und Strafschärfungsmechanismus fehlgeht. Der Strafvollzug war von diesen Entwicklungen schließlich vor allem betroffen. Mitte der 80er Jahre waren etwa zwei Drittel der Gefangenen vorbestraft, über die Hälfte davon mit einer Freiheitsstrafe (vgl. Kolb/Klarhöf er 1988, S. 8). Die Strafjustiz nahm diese Entwicklung kaum so dramatisch zur Kenntnis (vgl. Arnold 1995, S. 210). Die Vorstellung von erstmals „echter Schuld" in dieser Gesellschaft schien den Strafvollzug als Anstalt gerechter Ubelzufügung leichter zu rechtfertigen. Solche Position förderte die Ubermacht dieser Instanz, atmosphärisch und tatsächlich. Ein Ausdruck dafür war die militärisch geformte Begegnung zwischen Bediensteten und Gefangenen (so in der „Rahmenhausordnung für Strafvollzugseinrichtungen" - vgl. in: Mehner/Brosig/Schulze 1982, S. 111 ff. - im Abschnitt „3. Tagesgruß und Meldungen") bis hin zu unterwürfigen Formen (vgl. etwa die Auszüge aus Hausordnungen bei Arnold 1995, S. 201). Mit anderen Worten: Der Gefangene wurde spürbar in einer Objektsituation gehalten. (Günstiger gestalteten sich Klima und Umgang im Vollzug für Jugendliche, weil hier die „Relativität"
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von Schuld und die stärkere Einbeziehung pädagogischer und psychologischer Kräfte wirkten.) Soweit die begangene Straftat als Anknüpfung für den Vollzug formuliert war, sollte deren „Schwere und Verwerflichkeit" bewußt gemacht werden (§ 12 I Strafvollzugsgesetz - StVG - zuletzt in der Fassung vom 7.4.1977), also nur eine vorwerfende Diktion. Die letzte größere Untersuchung der erzieherischen Wirksamkeit des Vollzuges sah dann auch ausdrücklich Erfordernisse der „Klärung spezieller Fragen ... von Schuldeinsicht, Schuldbewußtsein, Strafempfänglichkeit und Strafempfindlichkeit" und die (bis dahin so nicht übliche) ausdrückliche Anerkennung des Gefangenen als selbständig tätiges und sich darin änderndes Subjekt (Kolb/ Klarböfer 1988, S. 233, 355, 371). Die Frage, inwieweit sich rückfällige Gefangene damit beschäftigen, warum sie erneut straffällig geworden sind, bejahten 43 % mit „sehr" bzw. „ überwiegend zutreffend", 20 % noch mit „teilweise"; ein Bemühen um Bewährung und Wiedergutmachung bestätigten 63 % mit „sehr" / „überwiegend" und 10 % mit „teilweise" (vgl. a.a.O., S. 400 f., 407). Auch wenn die Population sehr klein war (40 Probanden), indizieren die Ergebnisse doch eine unerwartet hohe innere Auseinandersetzung. Das StVG enthielt in § 2 I als Strafvollzugsziel, den Strafgefangenen „ihre Verantwortung als Mitglieder der Gesellschaft bewußt zu machen. Sie sind zu erziehen, künftig die Gesetze des sozialistischen Staates einzuhalten und ihr Leben verantwortungsbewußt zu gestalten" (abgesehen vom Adjektiv „sozialistisch" in der Grundstruktur der Aussage durchaus üblich erscheinend.) Damit ist der Bezug auf die strafbegründende Tat(schuld) nicht mehr aufgenommen, was kein Problem der Formulierung, sondern des Konzeptes ist. Die Schuld wurde primär bei den Trennungskriterien differenzierend berücksichtigt und dann eher von besonderer Schuldschwere und deren negativen Wirkungen her (etwa für Täter mit „feindlicher Einstellung", „Rückfällige" und „Asoziale", deshalb in den Konsequenzen dann auch mit der Zuweisung zur „strengen Vollzugsart" beginnend - vgl. Buchholz/Tunnat/Mehner 1970, S. 5 f.). „Erziehung" wurde generell begriffen. Sie war zentral auf „Förderung des Verantwortungs- und Pflichtbewußtseins, der Disziplin sowie der aktiven und schöpferischen Mitwirkung im Arbeitsprozeß" gerichtet (§ 6 StVG) und erfolgte im übrigen durch „staatsbürgerliche Schulung, Durchsetzung von Ordnung und Disziplin, allgemeine und berufliche Bildungsmaßnahmen sowie kulturelle und sportliche Betätigung", worein die Gefangenen „aktiv einzubeziehen" seien (§ 5 StVG). Herleitungen erzieherischer Individualisierung aus dem Tat(schuld)bezug blieben zu generell, so wenn die Tatmoti-
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ve „den Widerspruch zwischen dem Rechtsbrecher und der Gesellschaft" erkennen lassen, Umstände wie „mangelnde Allgemeinbildung" oder Vorstrafen berücksichtigt sein sollten, „aus denen keine Lehren gezogen wurden" (Buchholz/Tunnat/Mehner 1970, S. 57). Zur Schuld wurde allgemein nur auf Grad und Form verwiesen, wie sie in die oben erwähnte Differenzierung der Vollzugsart eingriffen (vgl. a.a.O.), nicht jedoch als Anknüpfung für individuelle Behandlung. In der gesetzlichen Systematik war zudem vor diese Gestaltungsformen von Erziehung in den §§ 5 und 6 StVG noch als § 4 vorgeschaltet, daß die „sichere Verwahrung ... zu gewährleisten und eine für die Aufrechterhaltung der Sicherheit erforderliche und das Zusammenleben in der Gemeinschaft notwendige Ordnung und Disziplin durchzusetzen" seien, was nur mit den vom Gesetz zugelassenen Disziplinar- und Sicherungsmaßnahmen geschehen dürfe. Weniger diese Formel als ihre Stellung im Kontext wie auch die weitere Nennung der „sicheren Verwahrung" vor der „Erziehung" (in § 10 StVG, wenn auch durch „und" verbunden), indizieren die Anlage des Vollzugs mit Hilfe der in vielen Vollzugsanleitungen wiederholten pragmatischen Vorgabe der Rangfolge: „Sicherheit, Erziehung, Ökonomie". Intern wurde ausdrücklich interpretiert: „Es muß unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen völlige Klarheit darüber bestehen, daß die elementarste Voraussetzung für die Lösung der Aufgaben des sozialistischen Strafvollzuges eine hohe Sicherheit, straffe Ordnung und Disziplin ... ist. Diese allgemeingültige Forderung gewinnt unter der Tatsache der sich verschärfenden Klassenauseinandersetzungen noch zunehmend an Bedeutung" (Buchholz/Tunnat/ Mehner 1970, S. 51). Diese Abhebung auf makrosoziale Konfrontation impliziert stets auch eine distanzierende bis repressive Verortung der Klientel insgesamt, wohinter sich der einzelne verliert. Gerade in den 70er Jahren war die Entwicklung von einer übergreifend ausgebauten Sicherheitsdoktrin beeinflußt, die offenbar Wirkungen der internationalen Öffnung abfangen sollte. Das politische Strafrecht wurde geschärft, der administrative und repressive Druck auf Rückfalltäter und sozial Desintegrierte verstärkt. Die gegenteiligen Wirkungen wurden oben geschildert. Auch die normierten Inhalte von „Erziehung" (§ 20 StVG) lagen durchaus nicht außerhalb des Spektrums der Verständnisweisen von Erziehung in dieser Zeit (Wiedereingliederung, Mitwirkung, Kollektiverziehung, Bewährungssituationen, Anknüpfungen an positives Verhalten). Im übrigen wurde auch die „Beachtung ... der Straftat" (§ 20 II StVG) gefordert. Die Grenzen scheinen an folgenden Punkten auf: Zum ersten dominierte die Sicherheitsgewähr ganz er-
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heblich diesen Erziehungsalltag. - Zum zweiten unterkühlte die distanzierte und militärisch geformte Begegnung mit dem Gefangenen eine Motivation zu eigenaktiver Mitgestaltung. - Zum dritten verringerte die „vorwiegende" Kollektiverziehung sogar ausdrücklich „das Eigenleben der Strafgefangenen - die negative Selbsterziehung" - w i e es dann kurzschlüssig heißt (Buchholz/Tunnat/ Mehner 1969, S. 80), somit die Räume für individuelle Aktivität, Selbstreflexion, Tatkonfliktarbeit. Die Balance von kollektivem Leben und Rückzugsmöglichkeit war unausgewogen. - Zum vierten wurde Erziehung als „zielgerichtete Gestaltung und Formung der Persönlichkeit" vorgestellt, „der zu Erziehende wird nach einem bestimmten Programm im Hinblick auf das Erziehungsziel beeinflußt" (Buchholz/Tunnat/ Mehner 1969, S. 58), wobei dann das Moment der „Selbsterziehung" hinzugesetzt erscheint (vgl. a.a.O., S. 59), dem vorgesetzten Programm unterworfen. - Zum fünften blieb „Erziehung" stets ein genereller, auf die Gesamtpersönlichkeit projizierter Vorgang, was eine Konzentration auf Normbruch und Tatkonflikte sowie schließlich deren vertiefte Bearbeitung erschwerte. Die seit 1970 als interne Fachliteratur erschienenen Ubersetzungen sowjetischer Lehrbücher der „Strafvollzugspädagogik" (1970, in 2. überarbeiteter Aufl. 1977) und „Strafvollzugspsychologie" (1978) enthalten das Stichwort „Schuld" nicht. Zwar finden sich Verweise, Schuldeinsicht anzustreben (vgl. etwa 1977, S. 82), jedoch nur generell, nicht als ausdrücklicher Prozeß von Bearbeitung/Auseinandersetzung, sondern gleichsam als Prämisse, um zur ganzheitlichen Erziehung übergehen zu können, die „vor allem" davon abhängig gesehen wird, „inwieweit die Persönlichkeit kriminell entwickelt ist" (1978, S. 117). Solche Sicht korrespondiert mit Weiterungen, daß es nicht nur darum gehe, bei Strafrechtsverletzern „Hemmungen (zu) erzeugen", sondern das Ziel bestehe, „aus diesen nützliche, fähige und disziplinierte Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft zu formen" (Mehner/Brosig/Schulze 1982, S. 17). Diese Reichweite des Strafvollzugszieles legte andererseits nahe, dem Gefangenen und für seine Wiedereingliederung allgemeine Bedingungen zu setzen wie Arbeit im Vollzug, Sozial- und Rentenversicherung, Wohnung und Arbeit nach der Entlassung. Jedoch verdeckt sie eine individuellere und ausdrücklicher tatbezogene Behandlung. Deren Notwendigkeit deutet sich in einem Untersuchungsergebnis an, wonach von vorbestraften Gefangenen über 80 % ihre Rückfalltat in einer der Vortat relativ gleichgelagerten Handlungssituation begingen (vgl. Kolb/Klarhöf er 1988, S. 153).
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IV. Einige Konsequenzen 1. Wie Schuld begriffen bleibt, so wird Strafe zugemessen und im Grunde auch vollzogen. Das liegt in der Natur des Zusammenhanges. Der Aufruf der „Einheit des Strafrechts" reflektiert dies, bleibt aber angesichts der Abkoppelung des Strafvollzuges nötig. Zwar schien solche Trennung geboten, um eine Zäsur zum vergeltenden Verwahrvollzug zu schaffen. Jedoch läßt sich dieses Konstrukt praktisch auf Dauer nicht durchhalten. Die Schuld zieht ihre Spur bis in den Strafvollzug. 2. Die empirische Situation der Gefangenen ist weit intensiver von tat- und schuldbezogenen Reflexionen gefüllt als durch die Brille allgemeiner (re-)sozialisierender Behandlung wahrgenommen wird. Der mit einem Schuldvorwurf Verurteilte erlebt seine Strafvollzugssituation ganz wesentlich tat- und schuldgebunden. Daraus könnte sich ergeben, Wirkungsfortschritte nicht nur über eine Ausweitung gewachsener allgemeiner Behandlungsangebote zu suchen, sondern qualitativ über individualisiertere Hilfen bei der Schuldbearbeitung. Diese der Verletzung der Tatnorm, also auch den Verletzten nähere Auseinandersetzung würde die praktische Normsinnerfahrung, somit die Bewältigung von Konflikten zur gesetzten (strafrechtlichen) Verhaltensnorm stärken, was durch allgemeine Sozialisation nicht gleichermaßen schon geschieht. 3. Das Schuldverständnis verbleibt jedoch wesentlich auf der Vergeltungsseite und widerstrebt einem Hinüberdenken in den Strafvollzug. Soweit sich in der Rechtsprechung eine Ausdehnung bis in den Vollzug aufzudrängen scheint, bleibt diese nur negativ, an besonderer Schuldschwere zuungunsten des Gefangenen festgemacht. Schuld hat jedoch eine differenziertere Struktur und unterliegt in der Verwirklichung der „Einheit des Strafrechts" einer Transformation, bei der sich unterschiedliche Qualitäten herausschälen. Schuld ist sowohl (vorwerfende) Wertung von Selbstbestimmung und Schädlichkeit des Handelns als auch objektiviert in bestimmten (vorwurfsfreien) Fakten, die den Konflikthintergrund lediglich empirisch erklären. Mit der Strafzumessung ist der Schuldvorwurf verbraucht, nunmehr verbleiben die schuldbezogenen Tatsachen lediglich noch als Gegenstand von Konfliktbearbeitung, was immer dabei auch vor sich geht, jedenfalls einem konstruktiven Zugang geöffnet. Auf diesem Wege ist auch für das allgemeine Strafverständnis etwas gewonnen. Es geht nicht um rückwärts gerichtete Vergeltung, sondern um vorwärts gerichtete Bekräftigung von Normgeltung. Solche Bekräftigung wiederum findet nur in dem Maße statt, wie der Betroffene eigenaktiv N o r m e n als sinnvoll für sich selbst erfährt. Normsinn-
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erfahrung ist aber weniger abstrakt (etwa über Symbolbegriffe wie „Unrecht", „Sozialschädlichkeit", „Pflichtwidrigkeit") vermittelbar, sondern als praktisch Greifbares, als verletzte Beziehung zu anderen (und zugleich als Verletzung des Selbst) in der durchgemachten Motivation, Tatsituation, der in der Selbsteinschätzung positiv zugestandenen eigenen Fähigkeit zu einer normgemäßen Verhaltensentscheidung, in der Tatbegehung, ihren Folgen, dem Nachtatverhalten usw. 4. Für solches Verständnis scheint im historisch gewachsenen Schuldbegriff kein Raum. Er ist negativ besetzt, ist „Vorwurf". Insofern ist es fraglich, ob er selbst in einem erweiterten, differenzierteren (Experten-)Verständnis in den Strafvollzug hereingenommen werden kann, ohne mißverstanden zu werden und die herkömmliche „Vergeltungsdistanz" zwischen den Betroffenen zu nähren. Dann bliebe die Erwartung einer ausdrücklich formulierten „Schuldverarbeitung", geschweige denn von „Schuldausgleich", stets vorwurfsbesetzt, forderte Einsicht in die von Instanzen vorgesetzte Bewertung, scheint von vornherein den Raum für eine intrinsisch motivierte Reflexion über den Tatkonflikt und dessen eigenaktive Bearbeitung einzuschränken. Statt einer im Vorwurf angelegten Uberforderung kann aus der Perspektive des Gefangenen bereits auf der niedrigsten Stufe moralischen Urteilens ein Erfolg in der schlichten Einsicht liegen, aus Angst vor solcher Sanktion künftig ein Leben ohne Straftaten führen zu wollen. Insofern sollte für diese Vorgänge im Strafvollzug statt des fortgeschriebenen Schuldbegriffs ein bescheidenerer, versachlichter Begriff gesucht werden (wie etwa: Reflexion bzw. Bearbeitung der Tat(konflikte)). 5. Das Anliegen stimmt dann durchaus zusammen mit neueren Ergebnissen kriminologischer und sozialisationstheoretischer Forschung. Die herkömmlich als kriminogen bewerteten psychosozialen „Defizite" in der individuellen Vergangenheit bestimmen künftiges (nicht-)kriminelles Verhalten weit weniger als bisher selbstverständlich angenommen. Wirksamer ist schließlich die aktuelle Angebots- und Anforderungssituation für die eigenaktive Ausbildung sozialer Handlungskompetenz in produktiver Tätigkeit und Normauseinandersetzung, selbst gestaltbaren sozialen Beziehungen und der Erfahrung als Subjekt der alltäglichen, selbständig zu gestaltenden Lebenspraxis. Dazu gehört der eigene Umgang mit den Tatkonflikten. Die Öffnung dieser sehr individuellen und inneren Reflexion für einfühlsame Hilfe ist nur bei wechselseitiger Akzeptanz von Subjektivität möglich, selbst wenn unter den verbleibenden einseitigen Beschränkungen durch den Freiheitsentzug „an sich" kaum wirkliche Kooperation erreicht werden kann. Dies setzt voraus, die
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Persönlichkeit erst einmal so zu akzeptieren, wie sie ist, auch mit ihren Mißerfolgen, aber eben auch in ihrer offen bleibenden, in die Zukunft gerichteten, wenn vielleicht auch nur bescheidenen Anderbarkeit. Hinzu tritt unter den heutigen Gesellschaftsbedingungen fortgeschrittener Individualisierung (womit zugleich höhere Selbstbestimmung abgefordert ist), der Flexibilisierung von sozialen Einbindungen und deren Normen (die widersprüchlicher erfahren und bewältigt werden müssen) sowie fließender Anforderungen in der produktiven Tätigkeit (die Beweglichkeit verlangen), daß Sozialisation weniger als Einpassungs-, sondern mehr als Entwicklungsanspruch begriffen werden muß. Mit Blick auf „präventive Intervention" bei normabweichendem Verhalten formuliert Hurrelmann als Ziel und Grenze, sie dürfe nur gerichtet sein auf den „Status eines autonom handlungsfähigen und mit sich selbst identischen Subjekts..., ohne die Autonomie der alltäglichen Lebenspraxis zu verformen" (1995, S. 206). Auf der anderen Seite und ergänzend bestätigen Evaluationen praktischer Präventionsprojekte in entwickelten Ländern das besondere Wirkungsgewicht von Selbstkontrolle, Streßbewältigung und dem Erkennen von alternativen Problemlösungen (so herausgehoben von Füllgrabe 1998 aus einer vom USA-Kongreß veranlaßten Studie von Sherman u.a. 1997), also Momente der Selbststeuerung in der Dimension „Identität" (im Sinne von Selbständigkeit und Problembewältigungsfähigkeit), von der Hurrelmann annimmt, daß sie bei der Erklärung abweichenden Verhaltens bisher zu wenig beachtet wurde (vgl. a.a.O., S. 79, 169, 189). Das aber konzentriert sich um die Tat- bzw. Normbruchkonflikte. Solche ausdrückliche und wohlverstandene (Wieder-)Einbeziehung des Tatbezuges könnte helfen, konzentrierter abzuklären, was Strafvollzug (nur, aber doch) leisten kann und wo die Grenzen für (unverzichtbare) allgemeine Resozialisation im Zugriff auf die Persönlichkeit und im Glauben an eine einfache Ausdehnung herkömmlicher Konzepte, Angebote, Personen und Vollzugsbauten liegen. Es geht nicht um eine Tugend aus der Not, sondern um einen weiteren, qualitativen Schritt auf dem alternativlosen Weg, der mit dem Behandlungsvollzug begonnen wurde. Dieser Weg führt über mehrere Stufen, ursprünglich und grundsätzlich über eine Humanisierung der existentiellen Lebensbedingungen, wobei die momentan erneut aufscheinende Reduktion auf einen humanen Verwahrvollzug nicht genügt, über die nächste, mühsam errungene und deshalb zu verteidigende Stufe des Behandlungsvollzuges, auch in seinem treffenderen Verständnis als Angebots- und Chancenstrafvollzug, wobei allgemeine Angebote für Sozialisation im Kernbereich bleiben, jedoch einer konzentrierteren Individualisierung bedürfen, die schließlich
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auf der nächsten Stufe eine konstruktive Tatkonfliktbearbeitung mit aufzunehmen hätte. 6. Zweifellos ist damit eine Verständnisänderung (nicht nur -ausweitung) in Justiz und Strafvollzug berührt. In der Strafzumessung ist die „Brücke" zum Vollzug im Sinne des Wissens um die auf diesem Wege stattfindende Transformation von Schuld mit ins Auge zu fassen, wenn die zumessungsrelevanten Umstände aufgenommen, konkretisiert, in ihrer Widersprüchlichkeit interpretiert, dann in ihrer Maßfunktion eingesetzt, aber auch als vertieft erarbeitete Fakten weitergereicht werden, um als Anknüpfung für konstruktive Hilfen bei der Tatkonfliktbearbeitung im Vollzug zu dienen. Für den Vollzug erwächst neben bzw. besser: innerhalb der allgemeinen Sozialisationsangebote eine Aufgabe und Möglichkeit der Konzentration, indem diese sehr individuelle Dimension ausdrücklich erfaßt wird. Literaturverzeichnis Arnold, Jörg, Strafvollzug in der DDR: Ein Gegenstand gegenwärtiger und zukünftiger Forschung. Jörg Arnold: Die Normalität des Strafrechts der DDR. Bd. 2, Freiburg i.Br. 1995, S. 198-219. Böhm, Alexander, Strafvollzug. Frankfurt a.M. 1986. Böhm, Alexander, Die Entwicklung des Strafvollzugs und des Sanktionssystems von 1945 bis in die Gegenwart. Max Busch/Erwin Krämer (Hrsg.): Strafvollzug und Schuldproblematik. Pfaffenweiler 1988, S. 39-50. Buchholz, Erich / Tunnat, Hans / Mehner, Heinrich, Die Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzugs im System der Kriminalitätsbekämpfung in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1969 (ursprünglich nur für den internen Gebrauch zugelassene Fachliteratur des Ministeriums des Innern). Busch, Max / Krämer, Erwin (Hrsg.), Strafvollzug und Schuldproblematik. Pfaffenweiler 1988. Busch, Max, Umgang mit dem Schuldigen. Zum Verhältnis von Sozialpädagogik und Strafrechtspflege in der Praxis. Max Busch / Erwin Krämer (Hrsg.): Strafvollzug und Schuldproblematik. Pfaffenweiler 1988, S. 135-148. Cornel, Heinz, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung. Heinz Cornel / Bernd Maelicke / Rüdiger Sonnen (Hrsg.): Handbuch der Resozialisierung. Baden-Baden 1995, S. 13-53. Eisenberg, Ulrich, Kriminologie. Köln, Berlin u.a. 1995. Füllgrabe, Uwe, Welche Maßnahmen verhindern Kriminalität? Die Strategie der „Nulltoleranz" und andere Präventionsmaßnahmen auf dem Prüfstand. Magazin für die Polizei 29 (1998), Nr. 263, S. 14-17, mit Bezug auf Sherman, L.W. u.a.: Preventing Crime: What works, what doesn't. What's promising. A report to the United States Congress. University of Maryland, College Park 1997. Hochschule des Ministeriums des Innern der UdSSR (Hrsg.), Strafvollzugspädagogik. Berlin 1977 (Moskau 1967). Hochschule des Ministeriums des Innern der UdSSR (Hrsg.), Strafvollzugspsychologie. Berlin 1978 (Moskau 1974).
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2 Struktur und Organisation des Strafvollzugs
Offener Strafvollzug als Normalität Das Direkteinweisungsverfahren im hessischen Justizvollzug 1
KARL HEINRICH SCHÄFER
1. Offener Vollzug und Vollzugsziele in der Diskussion Über zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes am 1.1.1977 wird in der politischen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft und Vollzugspraxis nicht nur eine kritische Bestandsaufnahme der mit dem Gesetz gemachten Erfahrungen vorgenommen 2 , es wird immer wieder über Sinn und Zweck staatlichen Strafens, insbesondere über die Verhängung und den Vollzug von Freiheitsstrafe gestritten. Während einerseits vorgetragen wird, der Resozialisierung der Gefangenen werde vom Gesetz und in der Praxis nicht genügend Gewicht beigemessen, halten andere die allgemeinen Strafzwecke vom Schuldausgleich bis zur Generalprävention für unterrepräsentiert. Zum 10-j ährigen Jubiläum wurden diese Fragen nicht nur heftig diskutiert, sondern auch in Anderungsinitiativen zum Strafvollzugsgesetz artikuliert, es wurde immerhin aber im wesentlichen erklärt, das Strafvollzugsgesetz habe sich bewährt. 3 Fünf 1 Für die Zusammenstellung der Unterlagen über die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung des Direkteinweisungsverfahrens danke ich Herrn Oberamtsrat Frank Lob. 2 Dünkel, Frieder/ Kunkat, Angela, Zwischen Innovation und Restauration - 20 Jahre Strafvollzugsgesetz - eine Bestandsaufnahme in: Neue Kriminalpolitik Heft 2/1997, S. 24 - 33; Preusker, Harald, Reform - Entzug, in: Neue Kriminalpolitik Heft 2/ 1997, S. 34 - 36; vgl. auch Schäfer, Karl Heinrich, Strafvollzug heute - Fragen und Forderungen an politische Verantwortung und gesellschaftlichen Konsens in: Schäfer, Karl Heinrich/ Sievering, Ulrich O. (Hrsg.), 20 Jahre Strafvollzugsgesetz Behandlungsvollzug zwischen Erfolgsbilanz und Offenbarungseid ? Frankfurt/ Main 1998, S. 11 - 15. 3 Vgl. Schwind, Hans-Dieter/ Steinhilper, Gernot/ Böhm, Alexander (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz - Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel? Kriminologische Schriftenreihe der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft, Band 97, Heidelberg 1988; Meyer, Klaus, Zehn Jahre Strafvollzugsgesetz - Das Gesetz im Rückblick -, in: ZfStrVo 1987, S. 4 - 1 1 ; Hessische Landesregierung, Antwort auf die Große Anfrage des Abg. Hahn (F.D.P.) und Fraktion betreffend Strafvollzugsgesetz vom 6.7.1987 - Drucksache 12/238 - .
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Jahre später war von einer „Gesetzesruine" die Rede 4 , deren „Sanierung" heute angesichts leerer Staatskassen und überfüllter Vollzugsanstalten fraglicher ist denn je. Zwar hat das Strafvollzugsgesetz die Vollzugswirklichkeit in den deutschen Strafanstalten deutlich zum Positiven verändert. Viele der Ziele des Strafvollzugsgesetzes sind jedoch in den Ubergangsbestimmungen und in der Vollzugspraxis steckengeblieben. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen allerdings nicht erst seit heute die bei der Einweisung in den offenen Vollzug bzw. bei Gewährung von Vollzugslockerungen aus der Haft zu berücksichtigenden Entscheidungskriterien. 5 Mag auch die Bundesregierung in beeindruckender Deutlichkeit auf die elementare Bedeutung von Vollzugslockerungen sowohl für die Wiedereingliederung der Gefangenen als auch für den Schutz der Allgemeinheit hingewiesen, dabei insbesondere die minimale Mißbrauchsquote von unter 1 % hervorgehoben und folgerichtig Änderungen des Strafvollzugsgesetzes insoweit abgelehnt haben, Abgeordnete der Opposition im Hessischen Landtag sehen sich nicht gehindert, eine Bundesratsinitiative zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes zu fordern mit dem Inhalt, die Aufgaben des Vollzugs in § 2 StVollzG neu zu definieren und neue Vollzugsziele in der Reihenfolge Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, Sühne, Spezialprävention und Resozialisierung festzulegen sowie durch Änderung von § 10 StVollzG die grundsätzliche Unterbringung der Gefangenen im geschlossenen Vollzug festzuschreiben. 7 Im Rahmen der öffentlichen Diskussion um verschiedene gravierende Sexualdelikte in Belgien, Bayern und Niedersachsen wurde 4 Müller-Dietz, Heinz, Eine Bestandsaufnahme, in: Neue Kriminalpolitik 1/1992, S. 27 ff. 5 Vgl. Heghmanns, Michael, Offener Vollzug, Vollzugslockerungen und ihre Abhängigkeit von individuellen Besonderheiten der erkannten Straflänge, in: NStZ 1998, S. 279 ff.; Böhm, Alexander/ Schäfer, Karl Heinrich (Hrsg.), Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen, 2.Aufl. Wiesbaden 1989; Böhm, Alexander, Vollzugslockerungen und offener Vollzug zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen, in: NStZ 1986, S. 201 ff. 6 Bundesregierung, Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Christa Nickels, Gerald Häfner, weiterer Abgeordneter und Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE G R Ü N E N - 20 Jahre Strafvollzugsgesetz - Bilanz und Perspektiven - vom 2.12.1997 - Drucksache 13/9329 - S. 5,6; Vgl. auch Hessische Landesregierung, a.a.O., - Drucksache 12/238 - . 7 Hessischer Landtag, Antrag der Fraktion der C D U betreffend Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 11.11.1997 - Drucksache 14/ 3318 - ; vgl. auch die Äußerungen des rechtspolitischen Sprechers der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag in: Die Welt vom 24.7.98 („Strafe soll abschrecken").
Offener Strafvollzug als Normalität
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der hessische Justizminister von der Landtags-Opposition aufgefordert, „unverzüglich sicherzustellen, daß wegen Sexualdelikten (z.B. Kindesmißbrauch, Vergewaltigung) zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilte Straftäter wie in anderen Bundesländern zwingend im geschlossenen Vollzug untergebracht werden" 8 oder daß zumindest Verurteilte mit Freiheitsstrafen von über 1 Jahr grundsätzlich in den geschlossenen Vollzug einzuweisen seien.9 Mit diesen parlamentarischen und politischen Initiativen, die z.T. mit massiven Pressekampagnen begleitet wurden, wurde gezielt das sogenannte „Direkteinweisungsverfahren" angegangen, die hessische Regelung also, die Ladung von auf freiem Fuß befindlichen rechtskräftig Verurteilten zum Strafantritt nicht in eine Einrichtung des geschlossenen, sondern des offenen Vollzugs vorzunehmen. Diese seit 1982 unter parteipolitisch unterschiedlich zusammengesetzten Landesregierungen geübte hessische Praxis wurde z.T. mit Modifizierungen inzwischen auch von anderen Bundesländern übernommen. 10 2. Rechtliche Grundlagen des offenen Vollzugs Die gesetzlichen Grundlagen für den offenen Vollzug ergeben sich aus § 10 StVollzG i.V.m. § 141 Abs.2 StVollzG. Nach § 141 Abs. 2 StVollzG i.V.m. den dazu ergangenen bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften ist der offene Vollzug „instrumentell" definiert. So sehen Anstalten des offenen Vollzugs keine oder verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vor. In der Regel entfallen äußere Absicherungen wie Umwehrungsmauer, Sicherheitsdraht, Türme und Fenstervergitterungen. Desweiteren erfolgt keine ständige und unmittelbare Beaufsichtigung der Gefangenen, die Hafträume sind in aller Regel geöffnet. Nach der geltenden Gesetzeslage hat unabhängig davon, ob die Einweisung eines Neuzugangs in eine Anstalt des offenen oder geschlossenen Vollzugs erfolgt, zu Beginn des Vollzugs eine Prüfung über die Eignung des Gefangenen für die Unterbringung im offenen
8 Hessischer Landtag, Dringlicher Antrag der Fraktion der C D U betreffend Vollzugspraxis für Sexualstraftäter in Hessen vom 18.9.1996 - Drucksache 14/2146 -. 9 Hessischer Landtag,Antrag des Abg. Hahn (F.D.P.) und Fraktion betreffend realitätsferne hessische Praxis der Gewährung der Verbüßung von Freiheitsstrafen im offenen Vollzug vom 6.5.1997 - Drucksache 14/284 -. 10 Bundesregierung a.a.O., S. 19; Vgl.dazu auch Preusker; Harald, Anmerkung zu O L G Frankfurt NStZ 1994, S. 301, 303.
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Vollzug zu erfolgen 11 . Nach § 10 Abs. 1 StVollzG soll ein Verurteilter im offenen Vollzug untergebracht werden, wenn er zustimmt, den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt (charakterliche Befähigung, loyale Mitarbeit), keine Mißbrauchgefahr besteht (Entweichung, Begehung erneuter Straftaten) und keine Ausschließungs- oder Nichteignungsgründe vorliegen. 12 Die Ausschließungs- bzw. Nichteignungsgründe (z.B. vorliegende Anordnung von Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Abschiebungshaft, noch zu verbüßende freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung, vorangegangene Flucht oder Straftat im Urlaub) sowie die Ausnahmen hiervon sind in den bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zu § 10 StVollzG geregelt. Bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzugs eine Strafe wegen grober Gewalttätigkeiten gegen Personen, wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Betäubungsmitteldelikten vollzogen wird oder zu vollziehen ist oder die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind, bedarf die Frage, ob eine Unterbringung im offenen Vollzug zu verantworten ist, besonders gründlicher Prüfung ( W 2 Abs.3 zu § 10 StVollzG). In Hessen gehören hierzu obligatorisch die Einholung einer Stellungnahme der Vollstreckungsbehörde, die Beratung in einer Konferenz nach § 159 StVollzG und ggf. die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Nach dem gesetzlichen Auftrag des § 10 StVollzG stellt der offene Vollzug den Regelvollzug dar. Dies bedeutet, daß nur Gefangene im geschlossenen Vollzug unterzubringen sind, bei denen aus Sicherheitsgründen ein Aufenthalt im offenen Vollzug nicht vertretbar ist. 13 Nach § 201 Nr.l StVollzG dürfen Gefangene abweichend von § 10 ausschließlich im geschlossenen Vollzug untergebracht werden, solange die räumlichen, personellen und organisatorischen Anstaltsverhältnisse dies erfordern. Diese „Ubergangsregelung" gilt bis heu-
11
So ausdrücklich die Bundesregierung, a.a.O., S. 19; vgl. auch Preusker, Harald, a.a.O., S. 303. 12 Vgl. Calliess, Rolf - Peter/ Miiller-Dietz, Heinz, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl., München 1998, R N 6 zu § 10 m.w.N. 13 Vgl. Calliess, Rolf-Peter/ Müller-Dietz, Heinz, a.a.O., R N 1 zu § 10; Ittel, Walter in: Schwind,Hans-Dieter/ Böhm, Alexander (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz,2. Aufl., Berlin - N e w York 1991, R N 2 zu § 10; OLG Celle in: ZfStrVo 1985, S. 374; OLG Hamburg ZfStrVo 1980, S. 185.
O f f e n e r Strafvollzug als Normalität
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te unverändert fort, da die Mehrzahl der Bundesländer ausreichende Plätze für den offenen Vollzug nicht zur Verfügung gestellt hat. 14 3. Offener Vollzug in Hessen Mit der Schaffung von Haftplätzen im offenen Vollzug hatte Hessen bereits vor Inkraftreten des Strafvollzugsgesetzes begonnen. Nachdem man mehrjährige positive Erfahrungen mit Strafvollzug in gelockerter Form in der Außenarbeits-Zweiganstalt „Rudolfschule" des damaligen Frankurter Straf- und Untersuchungsgefängnisses „Hammelsgasse" sammeln konnte, wurde aufgrund von Empfehlungen des UN-Kongresses zum Bau von Vollzugsanstalten in den Jahren von 1956 bis 1961 in aufgelockerter Pavillonform und ohne wesentliche Außensicherung in Frankfurt - Preungesheim eine offene Vollzugsanstalt gebaut, die 1959 nach dem früheren Reichsjustizminister Gustav Radbruch benannt wurde. 15 Mit einer Belegungsfähigkeit von inzwischen 579 Haftplätzen handelt es sich um eine der größten offenen Vollzugseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland. Die JVA Frankfurt am Main IV -Gustav-Radbruch-Haus- ist in Hessen die einzige selbständige offene Vollzugseinrichtung. Uber Jahre hinweg wurde der zahlen- und flächenmäßige Ausbau des offenen Vollzuges in Hessen forciert. Inzwischen (Stand: Mai 1998) stehen 1.124 Haftplätze im offenen Vollzug zur Verfügung, davon allein 1.023 für männliche Erwachsene. Rund 30 % der Haftplätze sind damit solche des offenen Vollzugs. In der Praxis heißt dies, daß in Hessen fast alle Verurteilte, die sich für diese Vollzugsform eignen, im offenen Vollzug untergebracht werden können. Offene Einrichtungen gibt es neben dem Frankfurter Gustav-Radbruch-Haus in Baunatal (58 Haftplätze), Darmstadt (140), Dieburg (18), Fulda (9), Gelnhausen (10), Gießen (83), Schwalmstadt (65) und Kassel (61). Für den Bereich des Jugendvollzuges bestehen die Fliedner-Häuser in Rockenberg (11) und Groß-Gerau (14). Für den Bereich des offenen Frauenvollzuges stehen bei der JVA Frankfurt am Main III 60 und in der Abteilung für offenen Vollzug in Baunatal 16 Haftplätze zur Verfügung. Schließlich besteht in der JVA Frankfurt am Main III ein offenes Mutter-Kind-Heim.
14
Vgl. Bundesregierung, a.a.O.,S. 19. Vgl. hierzu ausführlich Eiermann, Hermann, Der offene Vollzug am Beispiel des Gustav-Radbruch-Hauses, in: Schwind, Hans-Dieter/Blau, Günter (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2.Aufl., Berlin - N e w York 1987, S. 47 - 57. 15
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Offener Vollzug darf nicht mit der Vollzugslockerung des Freigangs nach § 11 StVollzG verwechselt werden. Vielmehr bedeutet offener Vollzug nur Unterbringung in einer Einrichtung mit herabgesetzten Sicherheitsvorkehrungen. Alles andere ist eine Frage der inhaltlichen Ausgestaltung. So werden eine Vielzahl von Gefangenen innerhalb der Einrichtungen mit sogenannten Hausfunktionen beschäftigt (§ 41 Abs. 1 StVollzG). Andere Gefangene gehen im Wege des Freigangs einer schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahme nach. Schließlich ist der sog. Freigang mit freiem Beschäftigungsverhältnis zu erwähnen, bei dem der Freigänger die Möglichkeit hat, im Rahmen einer Tätigkeit außerhalb der Anstalt zu arbeiten und ein Arbeitsentgelt wie ein freier Arbeitnehmer zu erzielen (§ 39 StVollzG). 1997 befanden sich in Hessen von den im offenen Vollzug untergebrachten 3.168 Gefangenen 1.032 im Freigang mit freiem Beschäftigungsverhältnis, während 127 einer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung nachgingen. Der offene Vollzug stellt im übrigen nicht nur eine Behandlungsmaßnahme dar, die den dafür geeigneten Verurteilten wegen der frühzeitigen sozialen Integration und der Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu erhalten, eine deutlich höhere Resozialisierungschance einräumt als der geschlossene Vollzug. Vielmehr sprechen auch fiskalische Gesichtspunkte für den offenen Vollzug. Freigänger mit freiem Beschäftigungsverhältnis können mit ihren Einkünften nicht nur Schulden tilgen, Haftkosten und Gerichtskosten an den Staat zahlen, sondern auch ihre Familienangehörigen unterstützen. Darüber hinaus sind offene Einrichtungen schon wegen ihrer relativ geringen instrumentellen Absicherung erheblich billiger zu errichten als geschlossene Einrichtungen. Es besteht auch die Möglichkeit, Gebäude anzumieten. Schließlich ist der offene Vollzug auch weniger personalintensiv als der geschlossene Vollzug. Im Jahr 1997 mußten in Hessen 15,1 % der im offenen Vollzug untergebrachten Gefangenen abgelöst und in den geschlossenen Vollzug (zurück-)verlegt werden. Dies zeigt zugleich eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung der Gefangenen durch die offenen Vollzugseinrichtungen. Zu einem wesentlichen Teil handelte es sich dabei um Verstöße gegen Vollzugsplanvereinbarungen oder Weisungen, um erst nachträglich bekanntgewordene Ermittlungsverfahren, aber auch um 117 Ermittlungsverfahren wegen Straftaten während der Vollzugszeit, davon 7 Gewalttaten.
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4. Das Direkteinweisungsverfahren Neben der Möglichkeit der Verlegung aus dem geschlossenen Vollzug ist Hessen bereits vor etlichen Jahren hinsichtlich der Gestaltung des offenen Vollzuges neue Wege gegangen. Im Jahre 1981 ist der offene Vollzug in Hessen neu konzipiert worden. Die außergewöhnliche Kapazitätsausweitung im offenen Vollzug ermöglichte seinerzeit eine neue, im Bundesgebiet bis dahin einmalige Konzeption für die unmittelbare Einweisung der auf freiem Fuß befindlichen Verurteilten in den offenen Vollzug. Inzwischen nehmen in der Praxis fünf Bundesländer keine direkte Einweisung in den offenen Vollzug, die übrigen Länder sehen hierfür jeweils unterschiedliche Kriterien vor. Diese reichen z.B. von einer Vollzugsdauer bis zu 6 Monaten, bis zu zwei Jahren oder bis zu sämtlichen Personen, die sich vor Strafantritt auf freiem Fuß befinden. 16 Mit Runderlaß vom 19.11.1981 wurden der Vollstreckungsplan für das Land Hessen und die Hessischen Ausführungsbestimmungen zu § 10 StVollzG geändert.17 Kern der Neuregelung war, daß grundsätzlich alle auf freiem Fuß befindlichen geeigneten Verurteilten unmittelbar zum Strafantritt in offene Vollzugseinrichtungen geladen werden konnten. Für die Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen galt dies jedoch nicht. Die Regelung sah im einzelnen vor, daß die Staatsanwaltschaften als Vollstreckungsbehörden der nach dem Vollstreckungsplan zuständigen Justizvollzugsanstalt spätestens 14 Tage vor der beabsichtigten Ladung eines auf freiem Fuß befindlichen Verurteilten die erforderlichen Vollstreckungsunterlagen übersandten. Die Vollstreckungsbehörde teilte der Vollzugsanstalt dabei auch mit, ob nach ihrer Auffassung eine Einweisung in den offenen Vollzug oder in den geschlossenen Vollzug vorgenommen werden sollte. Damit sollte die Justizvollzugsanstalt in die Lage versetzt werden, für den offenen Vollzug offensichtlich ungeeignete Verurteilte zu erkennen. Hatte die Justizvollzugsanstalt Bedenken gegen eine Einweisung in den offenen Vollzug, teilte sie diese der Vollstreckungsbehörde mit, die ihrerseits dann die Ladung in den geschlossenen Vollzug verfügte. Erhob die Justizvollzugsanstalt innerhalb von 14 Tagen keine Einwendungen, blieb es bei der Ladung in die offene Vollzugseinrichtung. Stellte sich der Verurteilte hierauf nicht freiwillig zum Strafantritt, so wurde er nach seiner Festnahme
16 17
Vgl. Bundesregierung, a.a.O., S. 19. Justiz-Ministerial-Blatt für Hessen (JMB1.) 1982, S. 1.
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in die nach dem Vollstreckungsplan zuständige Justizvollzugsanstalt eingeliefert. Nachdem zu Beginn des Jahres 1982 die dargestellte Neuregelung langsam anlief, stabilisierte sie sich in den kommenden Jahren und bewährte sich. So wurden 1983 von den hessischen Vollstreckungsbehörden 1.912 Ersuchen auf Direkteinweisung gestellt, von denen 1.034 positiv und 814 negativ beschieden wurden. Von den schließlich zum Strafantritt in die offene Einrichtung Geladenen erschienen 462, 464 stellten sich nicht. Im Jahr 1987 waren es (bei geringerer Gefangenenzahl) 1.617 Ersuchen (919 positiv, 656 negativ).410 Verurteile stellten sich zum Strafantritt, 510 nicht. 1992 schließlich waren es bei 1.453 Ersuchen 949 positive Rückmeldungen der Vollzugsanstalten. Dennoch stellten sich nur 362 Verurteile, 572 jedoch nicht. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, daß bei der unmittelbaren Einweisung von Sexual- und Gewalttätern in den offenen Vollzug Zurückhaltung geübt wurde. Dies beruhte darauf, daß wegen der mangelnden Erfahrung der offenen Einrichtungen mit dem Instrument der Direkteinweisung gerade bei Verurteilten, bei denen eine besonders gründliche Prüfung vorzunehmen war ( W 2 Abs.3 zu § 10 StVollzG), sehr restriktiv entschieden wurde. Unterstützt wurde diese Verfahrensweise durch ausführliche Erörterungen der Problematik im Rahmen der Arbeitstagungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des offenen Vollzuges. Außerdem waren die Entscheidungsvorschläge der Staatsanwaltschaften an die Vollzugsanstalten bei dem genannten Personenkreis in aller Regel negativ. 5. Direkteinweisung ohne „Vorprüfung" Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem Direkteinweisungsverfahren, in Anbetracht der freistehenden Haftplätze im offenen Vollzug und im Hinblick auf den Belegungsdruck im geschlossenen Vollzug wurde das sog. Direkteinweisungsverfahren im Jahr 1992 neu konzipiert. 18 Nunmehr können auch Verurteilte, die Ersatzfreiheitsstrafen zu verbüßen haben, unmittelbar in eine offene Vollzugseinrichtung geladen werden, sofern sie sich auf freiem Fuß befinden. Eine Änderung gegenüber dem bisherigen Verfahren wurde im übrigen dahingehend vorgenommen, daß die Prüfung der Frage, ob ein auf freiem Fuß befindlicher Verurteilter für den offenen Vollzug geeignet ist, nicht mehr wie bisher vor, sondern nach Strafantritt zu
18
JMB1. 1993, S. 58.
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erfolgen hat. Das Einweisungsverfahren wurde dadurch vereinfacht, daß sämtliche auf freiem Fuß befindlichen Verurteilten in eine offene Vollzugseinrichtung zum Strafantritt geladen werden (die entsprechende örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus dem Vollstreckungsplan). Nach Strafantritt wird in jedem Einzelfall geprüft, ob der Verurteilte im offenen Vollzug bleiben kann oder wegen seiner vermuteten Nichteignung im geschlossenen Vollzug untergebracht werden muß. Die Verurteilten, die sich nicht freiwillig zum Strafantritt stellen, werden - wie nach der alten Regelung - nach ihrer Verhaftung in die nach dem Vollstreckungsplan zuständige geschlossene Vollzugseinrichtung verbracht. Die Zahl der Direkteinweisungen stieg durch die Neuregelung deutlich an. So wurden 1993 1.854 Ladungen zum Strafantritt in einer Einrichtung des offenen Vollzugs verfügt Es stellten sich jedoch mit 593 Personen erheblich mehr Verurteilte zum Strafantritt als vorher, von denen 31 von der Vollzugsbehörde als ungeeignet bewertet wurden mit der Konsequenz der Verlegung in den geschlossenen Vollzug. 1997 haben die offenen Vollzugseinrichtungen des Landes Hessen 1.976 Aufnahmeersuchen erhalten. 787 Verurteilte stellten sich danach in offenen Vollzugseinrichtungen zum Strafantritt. Die Anzahl der Selbststeller im offenen Vollzug hat somit erheblich zugenommen und hat sich im Vergleich zu früheren Jahren sogar verdoppelt. Bei 44 Verurteilten führte die Prüfung der Eignung nach Strafantritt zu dem Ergebnis, daß eine Unterbringung im geschlossenen Vollzug erforderlich ist, obwohl sie sich bei Strafantritt unbeanstandet auf freiem Fuß befanden. Diese Auslese erfaßte immerhin 5,6 % der Selbststeller. Den überwiegend positiven Entscheidungen liegt zugrunde, daß sämtliche Verurteilte, die zum Strafantritt ohne Vorprüfung in die offenen Vollzugseinrichtungen geladen wurden, bis zum Zeitpunkt der Ladung auf freiem Fuß waren. Es liegt auf der Hand, daß auch für die Öffentlichkeit erkennbar von diesem Personenkreis aus den genannten Gründen eine Gefahr nicht ausgeht. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, daß nach Strafantritt die eigentliche Eignung für die Anforderungen des offenen Vollzugs erst noch gründlich geprüft wird. Die Neuregelung des Direkteinweisungsverfahrens wurde seinerzeit mit den Vollstreckungsbehörden und der Strafrechtsabteilung des Ministeriums eingehend erörtert. Der weit überwiegende Teil der Staatsanwaltschaften sowie der Generalstaatsanwalt hatten die geplante Neufassung des Direkteinweisungsverfahrens ausdrücklich begrüßt mit der Begründung, die beabsichtigte Änderung trage dem offenen Vollzug als Regelvollzug stärker Rechnung und stelle einen
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Schritt in die richtige Richtung dar. Es sei eher gewährleistet, daß Vollzug unter Vollzugsgesichtspunkten erfolge, zudem erspare die Änderung Zeit und Verwaltungskapazitäten. Außerdem berücksichtige die geplante Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen im offenen Vollzug das Gebot von Gerechtigkeit und Gleichbehandlung. Die Neufassung wurde von den Staatsanwaltschaften im übrigen auch deswegen begrüßt, weil sie nach der alten Fassung lediglich Bedenken gegen die Ladung in den offenen Vollzug erheben konnten, jedoch an die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt gebunden waren. Daraus hatte sich die für die Vollstreckungsbehörden unbefriedigende Rechtslage ergeben, gemäß § 21 StrVollstrO, §§ 23 ff. EGGVG die Entscheidung der Vollzugsbehörde nach außen vertreten zu müssen, ohne - außer im Dienstaufsichtswege - hierauf Einfluß nehmen zu können. 19 Die Neuregelung stellte klar, daß es sich bei der Entscheidung über die Unterbringung im offenen oder geschlossenen Vollzug um die der Vollzugsbehörde handelte, gegen die sich der Rechtsweg konsequenterweise aus §§ 109 ff. StVollzG ergab. 6. Besonders gründliche Eignungsprüfung Problematisiert wurde die Direkteinweisung in Einrichtungen des offenen Vollzugs vor allem bei Verurteilten, bei denen eine Freiheitsstrafe wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu vollstrecken war. Die Tatsache, daß es sich dabei um Personen handelte, die sich trotz der einschlägigen Verurteilung und in Erwartung der anstehenden Vollstreckung auf Grund der Entscheidung von Vollstreckungsbehörde und Gericht unbeanstandet auf freiem Fuß befanden und damit offenbar keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellten, ging in der z.T. hitzigen öffentlichen Diskussion völlig unter.20 Obwohl sich die Zahl der sich selbst dem Vollzug stellenden Gefangenen allgemein erhöht hatte und eine erhöhte Mißbrauchsquote des offenen Vollzugs bei direkt eingewiesenen Gefangenen gleich welcher Tätergruppe zu keinem Zeitpunkt festzustellen war, wurde von interessierter Seite der Eindruck erweckt, die Sicherheit der Bevölkerung stünde auf dem Spiel. Die lautstark vorgetra19 Vgl. O L G Frankfurt NStZ 1994, S. 301 mit Anmerkung von Preusker, Harald, S. 303; O L G Frankfurt, 13.1.1988 (3 VAs 8/87). 20 Vgl. Focus 30/1996 („Verwöhnte Triebtäter - In Hessen werden die Haftbedingungen für Kinderschänder schon nach kurzer Zeit gelockert -„); C D U -Hessen, Pressemitteilung vom 17.9.96 („Offenbar in Hessen bundesweit einmalige Hafterleichterungen für Sexualstraftäter").
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genen generalpräventiven Überlegungen erstreckten sich zudem auf auf freiem Fuß befindliche Verurteile, die wegen eines sonstigen Gewaltdelikts oder überhaupt eine längere Freiheitsstrafe zu verbüßen hatten oder die zu früherer Zeit Lockerungen, Urlaub aus der Haft oder den offenen Vollzug mißbraucht hatten. Nachdem schließlich auch die Leiter der hessischen Justizvollzugsanstalten nachdrücklich darauf hingewiesen hatten, daß bei einem Ausschluß bestimmter Tätergruppen vom Direkteinweisungsverfahren ein aus Sicherheitsgesichtspunkten nicht begründbarer, hinsichtlich der Behandlung der Gefangenen sogar kontraindizierter vollzuglicher, organisatorischer und verwaltungstechnischer Aufwand entstünde, wurde schließlich eine Änderung des Direkteinweisungsverfahrens vom Hessischen Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten nicht vorgenommen. 21 Allerdings wurde geregelt, daß bei verurteilten Sexualstraftätern, die sich auf freiem Fuß befinden und die unmittelbar zum Strafantritt in die zuständige Einrichtung des offenen Vollzugs geladen werden sollen, die Vollzugsbehörde unverzüglich mit Zustimmung des Verurteilten ein externes Gutachten zur Unterbringung im offenen Vollzug einholt. Sollte der Verurteilte mit der Einholung des Gutachtens nicht einverstanden sein oder erhebt die Vollstreckungsbehörde Bedenken gegen eine eventuelle Verzögerung der Ladung zum Strafantritt durch die Einholung des Gutachtens, erfolgt die Ladung des Verurteilten unmittelbar in den geschlossenen Vollzug. Eine Änderung des Verfahrens wäre aber auch aus sonstigen sachlichen und rechtlichen Gründen problematisch. Neben dem zusätzlichen Arbeitsaufwand bestehen folgende weitere Bedenken: Bei der Feststellung der Eignung für den offenen Vollzug ist sowohl beim Direkteinweisungsverfahren als auch bei Verlegung aus dem geschlossenen Vollzug nach einhelliger Rechtsprechung eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalls vorzunehmen. So genügt die schematische Ablehnung einer Verlegung von Sexualstraftätern allein unter Bezugnahme auf die W nicht, vielmehr sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.22 Pauschale Hinweise auf Regelungen in den W zum StVollzG23 und pauschale Formulierungen, der hohe Strafrest bedeute einen objektiven Fluchtanreiz 24 , sind
21
Vgl. Bundesregierung, a.a.O., S.19, 20. Calliess, Rolf - Peter/ Müller - Dietz, Heinz, a.a.O., R N 6 zu § 10; O L G Hamm ZfStrVo 1987, S. 369. 23 O L G Frankfurt ZfStrVo 1981, S. 122. 24 O L G Frankfurt NStZ 1983, S. 93. 22
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ebenso unzulässig wie Überlegungen zum Arbeitsplatz im offenen Vollzug 25 , zur Reststrafzeit 26 und zur Sicherungsverwahrung 27 . Unstreitig ist, daß bereits im Rahmen der geltenden Vorschriften auch hinsichtlich der problematisierten Tätergruppen alle Sicherheits- und Behandlungsgesichtspunkte sorgfältig geprüft werden können und auch zu prüfen sind. So wurden in Hessen Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Eignungsprüfung nach § 10 StVollzG festgelegt, nach denen beim sogenannten Direkteinweisungsverfahren die Eignung für den offenen Vollzug bei folgendem Personenkreis besonders gründlich zu prüfen ist: 1. Verurteile, die unter die Regelung in W 2 Abs. 3 zu § 10 StVollzG fallen. 2. Verurteilte, bei denen bei Strafantritt die Restvollzugsdauer bis zum voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt mehr als 30 Monate beträgt. 3. Verurteilte, die wegen spektakulärer Straftaten verurteilt worden sind, die in der Öffentlichkeit und in den Medien besonderes Interesse hervorgerufen haben. 4. Verurteilte, die während einer früheren Unterbringung im offenen Vollzug eine Straftat begangen haben. Die besonders gründliche Prüfung erfordert die Feststellung, Abwägung und Dokumentation aller für und gegen eine Unterbringung im offenen Vollzug sprechenden Gesichtspunkte, wobei die Einholung der Stellungnahme der Vollstreckungsbehörde obligatorisch und die eventueller Gutachten sinnvoll ist. Außerdem sind alle Feststellungen und Entscheidungsvorschläge in einer Konferenz nach § 159 StVollzG zu erörtern.
25 26 27
O L G Frankfurt 13.1.88 (3 VAs 8/87). O L G Frankfurt ZfStrVo 1991, S. 308. O L G Frankfurt 13.3.91 (3 Ws 69/91).
Organisationsentwicklung im Justizvollzug Ein Praxisbericht mit Beispielen aus Niedersachsen*
MONICA
STEINHILPER
1. Innovationsdruck Kaum eine Kommunalverwaltung kann es sich heute angesichts knapper Kassen und steigender Ansprüche der Bürger noch leisten, nicht über Effektivität und Effizienzsteigerung nachzudenken. „Qualitätsmanagement" heißt dieser Prozeß in der Industrie. „Output-Orientierung", „Produktorientierung" und „neue Steuerung" sind die Zauberworte, mit denen die Strukturen der Non-ProfitOrganisationen reformiert werden sollen, d.h., die Verwaltungen jener Organisationen, in denen es nicht primär um den wirtschaftlichen Gewinn geht, sondern um das Angebot einer gemeinnützigen Dienstleistung. 1 In allen Industriestaaten ist in den letzten Jahren der Ruf nach einer radikalen Reform auf allen Verwaltungsebenen laut geworden. Denn: Personal war mit zunehmenden Aufgaben ständig vermehrt worden, Aufgabenkritik fand nicht statt; während Unternehmen mit modernen Managementmethoden ihren Beschäftigten auch neue Gestaltungs- und Entscheidungsräume und Motivation gaben, bremste die Überregulierung der Verwaltung Kreativität und Motivation, engagierte Mitarbeiter wurden durch bürokratische Regeln an ihrer Entfaltung gehindert.2 Die öffentliche Verschuldung der Verwaltung nahm dramatisch zu, und gleichzeitig sank das Image des öffentlichen Dienstes auf einen Tiefpunkt.
* Stand: 1.7.1998 1 Aus Bollhöfer, Gabriele: So bringen Sie Ihre Verwaltung auf Vordermann - ein Erfahrungsbericht zum Thema „output-orientierte Steuerung", in: Das Handbuch für den Vorgesetzten, Dortmund 1997. 2 Zur Verwaltungsreform in Niedersachsen siehe Presse- und Informationsstelle der niedersächsischen Landesregierung (Hrsg.): Und sie bewegt sich doch. Die Landesverwaltung reformiert und modernisiert sich, Hannover 1997.
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2. Reformdruck auch im Justizvollzug Zunehmend schwierigere und gefährlichere Gefangene, Uberbelegung und erhöhte Sicherheitsanforderungen einerseits, weniger Personal und weniger Haushaltsmittel andererseits verlangen auch im Justizvollzug mehr Management und größere Flexibilität, wirtschaftliches Denken und Handeln, Kosten- und Leistungsrechnung und effizientere Organisationsstrukturen mit flachen Hierarchien und klarer Ziel- und Aufgabenorientierung. 3 Ein leistungsfähiger Justizvollzug muß auch bei knappen Ressourcen in der Lage sein, behandlungswilligen und behandlungsfähigen Gefangenen Resozialisierungsangebote zu machen und zugleich die Sicherheit der Anstalten nach innen und außen zu garantieren. Seine Leistungsfähigkeit kann der Justizvollzug nur erhalten und steigern, wenn die Vollzugsverwaltung durch Abbau von Leitungsebenen, unbürokratische Strukturen und verstärkten Einsatz von automatisierter Datenverarbeitung schlanker wird und die für Verwaltungsaufgaben nicht mehr benötigten Bediensteten für die Betreuung der Gefangenen zur Verfügung stehen, wenn Vorschriften und Regelwerke auf ihre Effizienz überprüft und die Schließung unwirtschaftlicher Organisationseinheiten und die Zusammenführung von Anstalten keine Tabus mehr sind, wenn durch Regionalverbünde anstaltsübergreifend Spezialwissen konzentriert und die Vorteile des Großsystems Justizvollzug genutzt werden, wenn die Mitarbeiter leistungs- und zielorientiert arbeiten und über mehr Erfolgserlebnisse und Anerkennung mehr Arbeitszufriedenheit und Identifikation mit Aufgaben und Institution erlangen. „Auch die innere Struktur der Anstalten bedarf umfassender Modernisierung. Die Justizministerinnen und -minister fördern deshalb die Einführung von neuen Führungs- und Steuerungskonzepten zur Verbesserung der Organisation der Justizvollzugsanstalten. Schnellere, bessere und kostengünstigere Verwaltungsabläufe setzen eine weitere Stärkung der Eigenverantwortung durch Dezentralisierung und Budgetierung sowie eine vollständige Ausstattung mit leistungsfähiger Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnik voraus." (Beschluß der Justizministerinnen und Justizminister der Länder zur Lage des Justizvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland; 68. Konferenz vom 11. bis 12. Juni 1997 in Saarbrücken).
3 S. u. a. K l o f f , Jochen: Management-Methoden im Justizvollzug? in: Neue Kriminalpolitik, Heft 3, 1997, S. 12 bis 15.
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3. Der Modellfall Niedersachsen Schon zu einem frühen Zeitpunkt der Verwaltungsreform - am 31.12.1994 - ist in Niedersachsen die Mittelbehörde des Justizvollzugs, das Niedersächsische Justizvollzugsamt mit 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgelöst worden. Mit der Auflösung wurden den Justizvollzugseinrichtungen wie bisher in keinem anderen Bundesland dienstrechtliche Befugnisse übertragen und Zuständigkeiten dorthin verlagert, wo die Auswirkungen von Entscheidungen unmittelbar erfahren werden. Delegiert wurden • sämtliche Befugnisse für die Beamtinnen und Beamten des allgemeinen mittleren Justizvollzugsdienstes (2.500 Bedienstete = ca. 80 % des Personals insgesamt) • sämtliche Befugnisse für Arbeiterinnen und Arbeiter und für Angestellte der Vergütungsgruppe V b BAT und abwärts • Einstellung von Angestellten der Vergütungsgruppe IV b bis II a BAT sowie Kündigung des Arbeitsverhältnisses während der Probezeit. Darüber hinaus wurden den Justizvollzugseinrichtungen weitere, bis dahin oberbehördliche Aufgaben übertragen, u.a. die Entscheidung über den Widerspruch nach § 192 Abs. 3 NBG und die Vertretungsbefugnis bei Klagen des Dienstherrn nach § 192 Abs. 4 NBG, die Genehmigung von Nebentätigkeiten und Sonderurlaub, die Bewirtschaftung der Haushaltsmittel für die Aus- und Fortbildung, die Koordination der vollzuglichen Suchtarbeit im Justizvollzug und die Koordination der Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Gefangene. Auch ohne personelle Verstärkung waren die Anstalten nach kurzer Zeit in der Lage, die neuen Aufgaben zu bewältigen. Zur Arbeitserleichterung trug die Aufhebung von Berichtspflichten bei; von den bisherigen 32 Berichtspflichten des Justizvollzugsamts wurden mit seiner Auflösung 20 aufgehoben. Die Zahl der Eingaben, Widersprüche und Konkurrentenklagen nahm ab; offensichtlich wurden Entscheidungen vor Ort von den Bediensteten des Justizvollzugs eher akzeptiert als die der fernen Oberbehörden. Mit der Auflösung der Mittelbehörde fiel gleichzeitig die personalvertretungsrechtliche Stufenvertretung (Bezirkspersonalrat)weg; zugleich wurden wegen der Delegation von Befugnissen auf die Ortsinstanz die örtlichen Personalräte erheblich aufgewertet. Die Zusammenarbeit mit dem Hauptpersonalrat wurde durch mehrere Vereinbarungen im Sinne des § 64 Abs. 5 NPersVG vereinfacht. Mit dem Verwaltungsreformprozeß hat sich das Rollenverständnis der Anstaltsleitungen verändert. Sie nehmen stärker als zuvor die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand, verstehen sich als gleich-
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berechtigte Partner und geben ihren Anstalten durch klare Zielorientierung und Organisationsentwicklung ein eigenes Profil. Zugleich hat sich ein Teamgeist entwickelt, der die Mitverantwortung aller betont und wesentlich dazu beiträgt, daß die schwierigen Zeiten der Uberbelegung bessert bewältigt werden können. Das Ministerium konnte die Zahl der zu bearbeitenden Einzelsachen reduzieren und wendet sich neben der Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten zunehmend mehr Steuerungs- und Planungsaufgaben zu. Veränderungsprozesse in den Justizvollzugsanstalten wurden mit der Übertragung sämtlicher dienstrechtlicher Befugnisse für den Werkdienst und die Zusammenführung der Laufbahnen des allgemeinen Justizvollzugsdienstes und des mittleren Verwaltungsdienstes sowie der Einführung der Personalkostenbudgetierung fortgesetzt. Seit 1995 erprobt der niedersächsische Justizvollzug in den Justizvollzugsanstalten Celle und Oldenburg sowie in der Frauenanstalt in Vechta im Rahmen eines Modellversuchs die „wirtschaftliche Eigenverantwortung". Zunächst sind diesen Anstalten in einem Deckungskreise Haushaltsmittel zugewiesen worden, die sie eigenverantwortlich und weitgehend disponibel einsetzen konnten. Den Etatansatz durften sie nicht überschreiten, Gelder konnten nicht nachgefordert werden. Dies setzte eine Rücklagenbildung auch und gerade über das Haushaltsjahr hinweg voraus. Durch Haushaltsvermerk ist den Modellanstalten deshalb zugebilligt worden, daß bei den jeweiligen Titeln Ausgabereste gebildet, übertragen und mit Einwilligung des Finanzministers in Anspruch genommen werden durften. Damit wurde das sog. „Dezemberfieber" vermieden. Die Erfahrungen waren so gut, daß die drei Modellanstalten seit 1998 über alle ihre Einnahmen und Sachausgaben, also über den gesamten Finanzrahmen, eigenverantwortlich verfügen dürfen. 4 Zeitgleich wurde die flexiblere Bewirtschaftung der Haushaltsmittel auch bei den übrigen Justizvollzugsanstalten eingeführt; sie können seitdem - wie zuvor die drei Modellanstalten - innerhalb eines Deckungskreises Haushaltsmittel eigenverantwortlich bewirtschaften. Die Einführung einer Kosten- und Leistungsrechnung wird gegenwärtig vorbereitet.
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Zu den Erfahrungen mit der wirtschaftlichen Eigenverantwortung der Justizvollzugsanstalt Oldenburg s. Koop, Gerd: Budgetierung: Eine Herausforderung für den Justizvollzug (Vortrag bei der 24. Arbeits- und Fortbildungstagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Justizvollzug e.V. in Güstrow), in: Schriftenreihe der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter im Strafvollzug e.V. Band 2, 1999 (in Vorbereitung).
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Leitgedanke der Budgetierung ist es, durch dezentrale und eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung Probleme zeitnah, flexibel und effizient zu bewältigen und Kreativität, Motivation und Innovationsfreudigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern. In der Justizvollzugsanstalt Oldenburg konnte ζ. B. mit Hilfe der erwirtschafteten Mittel und mit dem Ideenreichtum der Bediensteten eine für den offenen Vollzug schon seit langem benötigte Werkhalle gebaut werden. Die Justizvollzugsanstalt Celle hat innerhalb von zwei Jahren Rücklagen in Höhe von mehreren 100.000 D M gebildet, die Büroräume der Bediensteten modernisiert, Sportgeräte für die Gefangenen angeschafft und in großem Umfang anstaltsgebundene Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt. Drängende Finanzprobleme der öffentlichen Haushalte haben zur Einführung neuer Steuerungsinstrumente geführt, die den Nutzern nicht nur zu mehr Gestaltungsmöglichkeiten, sondern im Ergebnis auch - bei unternehmerischem Denken und Handeln - zu mit größeren finanziellen Spielräumen verholfen haben. 4. Projekt Alpha Die Reform in Niedersachsen ist durch Fortbildungsseminare und Workshops unterstützt worden. Seit 1991 werden die Leitungskräfte des Justizvollzugs in Managementmethoden, in Führung und Teamarbeit sowie in der Planung und Durchführung von Projekten fit gemacht. Seit Herbst 1997 wird ein flächendeckendes, d.h. alle Einrichtungen des Justizvollzugs umfassendes Personal- und Organisationsentwicklungsprogramm (Projekt Alpha) durchgeführt, in dem die Behördenleiter lernen, Veränderungsprozesse kompetent zu steuern, Führungskräfte der mittleren Ebene in Managementmethoden ausgebildet und geeignete Bedienstete als Multiplikatoren darauf vorbereitet werden, neues Wissen und neue Haltungen fachkundig an Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben. In den Seminaren werden Methoden des Zeit-, Selbst- und Projektmanagements vermittelt, Themen wie Führung, Kommunikation und Teamarbeit bearbeitet und methodische Unterstützung bei der Steuerung von Organisationsentwicklungsprozessen gegeben. Aktiv an dem Projekt beteiligt sich auch die Fachabteilung des Ministeriums. Neben dem Training in sieben, jeweils dreitägigen Seminaren für die Leitungskräfte und Multiplikatoren und drei, jeweils zweitägigen Veranstaltungen für die Behördenleiter sind Anstaltspartnerschaften und Regionalgruppen organisiert, die im Rahmen von kollegialer Beratung die kritische Reflektion der Organisationsentwicklungsprozesse ermöglichen und zur Bildung dezentraler Struktu-
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ren im Justizvollzug beitragen sollen. Auf Brückenveranstaltungen werten alle am Projekt beteiligten Gruppen, d.h. Anstaltsleiter, Leitungskräfte und Multiplikatoren, gemeinsam den bisherigen Verlauf des Projekts aus und legen die weiteren Schritte fest. Ziele dieser differenzierten Projektstruktur sind: • die unterschiedlichen Erfahrungen und Entwicklungsstände der Anstalten aufzugreifen und zu nutzen, • effiziente Management-Methoden in allen Anstalten einzuführen, • durch Budgetierung und flexible Projektstrukturen ein ökonomisches, ressourcenbewußtes Handeln auf allen Ebenen zu fossieren, • durch flächendeckende Vernetzung der Anstalten die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zu intensivieren, • durch gemeinsames Handeln der Anstalten Mut und Energie zur Uberwindung unvermeidlicher Widerstände zu fördern. Das Projekt wird von einem Lenkungsausschuß geleitet; ihm gehören an: Die zuständige Referentin der Fachabteilung des Justizministeriums, ein Vertreter des Hauptpersonalrats, jeweils eine aus der Gruppe der Behördenleiter, Leitungskräfte und Multiplikatoren gewählte Vertretung sowie der für die inhaltliche Gestaltung des Projekts verantwortliche Unternehmensberater und drei weitere Trainer, die zugleich Leiter von niedersächsischen Justizvollzugseinrichtungen sind. Zum Projekt Alpha gehören nicht nur Fortbildungsveranstaltungen und Erfahrungsaustausch auf verschiedenen Ebenen; gelernt wird auch bei der Durchführung konkreter Projekte in den Anstalten. Im Frühjahr 1998 haben alle Justizvollzugsanstalten zeitgleich mit „Startprojekten" begonnen, mit denen nicht nur im Sinne des „learning by doing" Methoden des Projektmanagements geübt, sondern durch die auch deutliche Signale für die Organisationsentwicklung vor Ort gesetzt werden. Die Startprojekte sollen nicht zu komplex und zeitaufwendig sein; sie sollen in 6 Monaten umsetzbar sein und vorrangig im Interesse der Bediensteten liegen. Beispielhaft für die insgesamt 25 Startprojekte im niedersächsischen Justizvollzug seien genannt: • Erneuerung des Informations- und Kommunikationssystems in der Anstalt (Justizvollzugsanstalt Göttingen). • Erarbeitung eines Programms zur Vermeidung von Überstunden und zum Abbau vorhandener Uberstunden (Justizvollzugsanstalt Osnabrück). • Einrichtung eines Sozialraums für den allgemeinen Justizvollzugsdienst (Justizvollzugsanstalt Verden).
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• Einrichtung eines Verkaufsladens (Justizvollzugsanstalt Hannover). • Erarbeitung eines Modells, wie die Inhaftierten an den Energiekosten in der Anstalt beteiligt werden können (Justizvollzugsanstalt Hildesheim). • Überarbeitung der Organisationsabläufe im Zugangsbereich der Anstalt (Justizvollzugsanstalt Lüneburg). • Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Ansehens des Hauses 1 innerhalb der Anstalt (Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel). • Erarbeitung eines Konzepts zur Effektivierung der Verwaltung (Justizministerium). Für 1999 ist geplant, die Schulungsveranstaltungen auch auf weitere Gruppen in den Anstalten auszudehnen, u.a. auf die sogenannten Co-Multiplikatoren, die von den Multiplikatoren in den Anstalten gewonnen wurden, um gemeinsam mit ihnen das in Alpha vermittelte knowhow an möglichst viele Bedienstete in der Anstalt heranzutragen. Um die Anstalten weiter miteinander zu vernetzen, die Bildung von Regionalverbünden zu fördern und das Spezialwissen einer Anstalt auch für andere nutzbar zu machen, sind im Anschluß an die Startprojekte anstaltsübergreifende Projekte geplant. In diesen Projekten sollen mehrere Anstalten zusammenarbeiten, um Probleme zu lösen, die alle Anstalten etwas angehen, wie ζ. B. regionale Auswahlkommissionen für die Einstellung von Nachwuchskräften, die zügige und an den Interessen der Anstalten ausgerichtete Ausstattung mit automatisierter Datenverarbeitung oder der Abbau noch bestehender, aber nicht mehr zeitgemäßer Regelungswerke. 5. Die bundesdeutsche Reformlandschaft im Justizvollzug Nicht nur in Niedersachsen wird der Justizvollzug reformiert. Auch in den meisten anderen Bundesländern gibt es mehr oder weniger umfassende Organisationsentwicklungsprojekte. Berlin beispielsweise hat 1996 mit einem Verwaltungsreformprozeß in der Aufsichtsbehörde mit einem Organisationsentwicklungsprozeß in den Anstalten begonnen, die organisatorisch und inhaltlich aufeinander abgestimmt sind. In der Justizvollzugsanstalt Tegel wurden drei Projektteams eingerichtet, die sich mit „Schaffung von Zielklarheit auf allen Ebenen", „Schaffung von Aufgabenklarheit, Dezentralisierung, Delegation" und „Verbesserung des Personalmanagements" befaßten. Gesteuert wurden die Veränderungsprozesse durch einen Lenkungsausschuß, dem der Leiter der Abteilung Justizvollzug bei der Senatsverwaltung für Justiz, sein Stellvertre-
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ter und der Leiter der JVA Tegel und dessen Stellvertreterin angehörten. 5 In Nordrhein-Westfalen sind die Justizvollzugseinrichtungen nach einer Organisationsuntersuchung durch die Firma Kienbaum in einen landesweiten Organisationsentwicklungsprozeß eingetreten. Bei einer Anstaltsbesichtigung skizzierte Justizminister Dr. Behrens folgende Ziele: - Mehr Bürgernähe und stärkere „Kundenorientierung" - Effektivere Arbeitsweisen mit optimierten Verfahrens- und Arbeitsabläufen - Abbau von Hierarchie und Hinwendung zu mehr Teamarbeit - Bessere Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Fort- und Weiterbildung - Angemessene Arbeitsmittel und technische Unterstützung - Bessere Kommunikationsmöglichkeiten untereinander und in der gesamten Hierarchie - Schonenderer Umgang mit Finanz- und Personalressourcen. 6 Im Mittelpunkt der Veränderungsprozesse in Schleswig-Holstein stand zunächst die organisatorische Fortentwicklung der Justizvollzugsanstalt Kiel. 1995 hatte die Aufsichtsbehörde den Auftrag erteilt, ein Gutachten zur Bestandsaufnahme der inneren Organisation der Anstalt zu erstellen und Vorschläge insbesondere zur Verbesserung der Aufbau- und Ablauforganisation und der Mitarbeitermotivation sowie zur Reduzierung des Krankenstands im allgemeinen Vollzugsdienst zu entwickeln. Mittlerweile prägen Reformen den gesamten Justizvollzug in Schleswig-Holstein. In Vorbereitung sind Budgetierungs- und Privatisierungsmodelle. Die Erstellung von Leitbildern für den Justizvollzug soll Schwerpunktthema bei einer der nächsten Tagungen des Strafvollzugsausschusses der Länder im Herbst 1998 sein. Eine Länderumfrage des Ministeriums der Justiz und Bundes- und Europaangelegenheiten in Brandenburg vom Dezember 1997 hat ergeben, daß Leitbilddiskussionen in nahezu allen Justizvollzugsverwaltungen geführt werden. Während Baden-Württemberg und Berlin bereits ein Leitbild erstellt haben, sind Bayern, Hamburg, Hessen, MecklenburgVorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt in vorbereitenden Diskussionen, haben hierzu Fortbildungsveran-
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Vgl. Lange-Lehngut, Klaus·. Verwaltsreform im Justizvollzug, in: Justizintern. Informationen für Angehörige der Berliner Justiz, Heft 2,1996, S. 12 bis 13. 6 Aus: NRW. Justiz intern: Justiz als Lokomotive, Heft 3, 1997, S. 1 bis 7.
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staltungen durchgeführt oder arbeiten bereits in Arbeitsgruppen an Zielbestimmungen und Leitideen. 6. Ein Ausblick - am Beispiel Niedersachsen Die Referatsgruppe „Justizvollzug" im Niedersächsischen Justizministerium hat für die laufende Legislaturperiode einen Arbeitsplan vorgelegt, der 19 Ziele und entsprechende Maßnahmekataloge mit Zeitvorstellungen enthält. Die Arbeitsziele sind auf einer Anstaltsleitertagung vorgestellt und erörtert worden. Die mit dem Arbeitsplan verbundene Zielorientierung und Zielklarheit sowie die Transparenz der Vorhaben des Ministeriums über längere Zeiträume wurden von den Justizvollzugseinrichtungen ausdrücklich begrüßt. Neben dem Abbau der Uberbelegung und der schrittweisen Verbesserung der Sicherheit in den Justizvollzugseinrichtungen, der Ausweitung der Behandlungskapazität für Sexualstraftäter und die Neuorganisation der Justizvollzugsverwaltung steht die Verwirklichung eines „chancenorientierten Betreuungsvollzugs" im Mittelpunkt der Planungen. Der „chancenorientierte Betreuungsvollzug" ist ein Angebot an die Gefangenen, die bereit sind, am Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugsgesetzes mitzuwirken. Die begrenzten Mittel des Vollzugs zur Behandlung und Betreuung sowie zur Aus- und Fortbildung werden gezielt bei motivierten Gefangenen eingesetzt, von denen nicht nur die verbale Bereitschaft zur Veränderung, sondern Mitwirkung durch konkretes Tun und eigenverantwortliches Handeln erwartet werden. Ermessens gebunde Vergünstigungen der Vollzugsausgestaltung, die das Strafvollzugsgesetz zuläßt, werden danach nichtmitwirkungsbereiten Gefangenen nicht mehr offenstehen. Konzepte für einen „chancenorientierten Betreuungsvollzug" müssen die Besonderheiten der einzelnen Haftarten, der Gefangenenpopulation und die örtlichen Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten berücksichtigen. Konzepte müssen aber auch dem Grundsatz folgen, daß nur soviel Resozialisierungsvollzug möglich ist, wie Sicherheitsbedürfnisse es zulassen. Auch wenn es vor dem Hintergrund des stetigen Wandels im Vollzug schwer ist, Vorschläge zu erarbeiten, die die Gestaltung des Vollzuges in der Zukunft betreffen, „wäre jedoch schon viel gewonnen, wenn man sich auf Leitlinien der Vollzugsgestaltung verständigen würde, die den Realitäten entsprechen und auch beim Bürger Akzeptanz finden" ? 7 Schwind, Hans-Dieter: Strafvollzug im Rückwärtsgang? Oder: Ist das Straf(vollzugs)ziel Resozialisation gescheitert? in: Kriminalistik, Heft 10, 1997, S. 621.
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Im niedersächsischen Justizvollzug sind drei Projektgruppen eingerichtet worden, die Leitlinien für den „chancenorientierten Betreuungsvollzug" im geschlossenen und im offenen Vollzug sowie im Untersuchungshaftvollzug erarbeiten. Auch wenn die Resozialisierungsangebote stets von den Möglichkeiten und Besonderheiten der einzelnen Justizvollzugseinrichtung abhängen, muß es doch einen Grundkonsens darüber geben, welche Angebote wann und wie oft gemachten werden, welcher aktive Beitrag von den Gefangenen erwartet wird und welche Verhaltensregeln einzuhalten sind. Es muß vereinbart werden, welche, Gefangenen keinen Anspruch mehr auf Behandlungsangebote haben und wie dann die Grundbetreuung dieser Gefangenen aussehen soll. Zur Verwirklichung eines „chancenorientierten Betreuungsvollzugs" gehört allerdings auch, daß die Chancen tatsächlich Chancen sind. Die Frage der Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen, deren Ergebnisse für die Vollzugspraxis in der Vergangenheit häufig eher resignierend als ermunternd waren, muß neu gestellt werden. Nur dann, wenn der finanzielle und personelle Aufwand einer Behandlungsmaßnahme in einer akzeptablen Relation zum Ertrag stehen, wird die Öffentlichkeit Zutrauen in die Effizienz des Strafvollzugs haben und bereit sein, die Kosten hierfür zu tragen.
Die Mitarbeiter des Behandlungsvollzuges* im X X I . Jahrhundert KARL PETER ROTTHAUS
Das Personal des Strafvollzugs in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Gefängniswesen in Deutschland zwanzig Jahre lang für die Öffentlichkeit uninteressant. In den meisten Bundesländern herrschte eine Tendenz zur Restauration, die nur in Einzelfällen - wie zum Beispiel in Hessen durch das Wirken von Albert Krebs1- an das Bemühen der Weimarer Zeit um einen Erziehungsvollzug2 anknüpfte. Das Leben im Gefängnis war durch Disziplin und Arbeit bestimmt. Ganz überwiegend bestand das Personal aus den uniformierten Beamten, einer Laufbahn des einfachen Dienstes wie die der Strassenwärter und der Briefzusteller. Nur vereinzelt gab es in den Anstalten Lehrer und Fürsorger, wie die Vorgänger der Sozialarbeiter damals genannt wurden. Mit dem Jahre 1957 begannen die Länder den Aufsichtsdienst in Vollzugsanstalten in den mittleren Dienst zu überführen. Dieser Entscheidung lag die richtige Erkenntnis zugrunde, dass der Umgang mit Menschen eine bessere Qualifikation erfordere. Doch unterblieb die Entwicklung eines neuen Berufsbildes. Die von den Ländern vereinbarte Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.12.1961 legte den Aufsichtsdienst wie bisher auf die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sowie auf die Versorgung der Gefangenen fest. Mädger hat ,Die Auswahl, Ausbildung und Fortbildung der
* Der Titel nimmt Bezug auf die von Jung/Mey/Μüller-Dietz/Rotthaus herausgegebene Schrift ,Die Mitarbeiter des Behandlungsvollzuges', Bonn 1978. - In den Vollzugsanstalten - auch in den Männeranstalten - sind heute zahlreiche Frauen als Mitarbeiterinnen tätig. Sie leisten dort einen wichtigen Beitrag zur Normalisierung der Lebenswelt. Im Interesse der einfacheren Lesbarkeit benutze ich nur die männliche Form. Die Mitarbeiterinnen sind stets ebenso gemeint. 1 Vgl. die von Albert Krebs als Leiter des Hessischen Strafvollzugs entscheidend mitgestaltete Ordnung für das Gefängniswesen in Hessen vom 23.5.1949. 2 Zum Beispiel: Radbruck Der Erziehungsgedanke im Strafvollzug, Gesamtausgabe Bd. 10, bearb. von Müller-Dietz, Heidelberg 1993, S. 71ff.
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Aufsichtsbeamten im deutschen Strafvollzug' 3 in einer von Mergen betreuten Dissertation beschrieben und in vielen Einzelheiten kritisiert. In den industriellen Ballungsgebieten der alten Bundesrepublik fehlte es damals an Bewerbern. Die neuen Kräfte wurden deshalb von den Anstaltsleitern oft eher unter dem Gesichtspunkt des dringenden Bedarfs als der persönlichen Eignung 4 ausgewählt. Der Inhalt der Ausbildung, die sich kaum am Vollzugsziel der Resozialisierung orientierte, bestand in erster Linie darin, Gesetze, Dienstvorschriften und die Institutionen der verfassungsmässigen Ordnung für die Prüfung abfragbar zu erlernen 5 . Es gab freilich Ausnahmen, eine war das der Jugendstrafanstalt Rockenberg angeschlossene J.B. Wagnitzseminar, das - von 1960 bis 1974 unter Leitung des Jubilars - die Hessischen Anwärter ausbildete 6 . Die Laufbahnprüfung, in der nur bescheidene Anforderungen gestellt werden konnten, öffnete den Zugang auch zu den - wenigen - verantwortungsvollen Beförderungsstellen. Eine Fortbildung fand nicht statt, wenn nicht ein Anstaltsleiter die vorgeschriebenen Dienstbesprechungen zu internen Fortbildungsveranstaltungen machte. Die Reform der Ausbildung des Allgemeinen Vollzugsdienstes Zwei Gefängnisskandale in Hamburg und in Nordrhein-Westfalen weckten 1965 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. In der ,Glocke', der Beruhigungszelle der Hamburger Untersuchungshaftanstalt, und in einer Beruhigungszelle der Kölner Anstalt ,Klingelpütz' waren Gefangene misshandelt worden und jeweils mindestens einer von ihnen an den Folgen der Misshandlung verstorben. Auch wenn die Verantwortung der Vorgesetzten für die schlimmen Vorfälle diesmal nicht heruntergespielt wurde, so waren Täter -
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Kriminologische Schriftenreihe aus der Kriminologischen Gesellschaft, Band 40, Hamburg 1969. 4 H.G. Mey (Vgl. den Beitrag in diesem Bande, S. 597) beschrieb diesen Zustand in einem unveröffentlichten Referat vor der Anstaltsleiterkonferenz des Landes NRW: Meine Aufgabe als Psychologe ist es, aus den ungeeigneten Bewerbern die am wenigsten ungeeigneten auszuwählen. 5 Mädger F N 3 S. 109ff. Auch stellte er (S.76) fest, dass „die theoretische Ausbildung zu etwa einem Viertel dazu verwandt werden muss, den Anwärter auf ein Allgemeinbildungsniveau zu bringen, das als Basis für eine den heutigen Anforderungen entsprechende Ausbildung geeignet erscheint". 6 Böhm Gedanken zur Ausbildung der Aufsichtsbeamten, in: Busch/Edel (Hrsg.) Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, Neuwied 1969, S. 265ff; derselbe Entwicklung der Ausbildung der Justizvollzugsbediensteten in Hessen seit 1945, ZfStrVo 1990, 67ff.
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natürlich - Aufsichtsbeamte gewesen. Von „schlecht ausgebildeten Beamten des unteren und mittleren Dienstes" war die Rede 7 . Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die in Hamburg wie in Nordrhein-Westfalen 8 die Vorfälle aufzuklären suchten, forderten eine bessere Auswahl und Ausbildung des Aufsichtsdienstes. Diese Forderungen wurden befolgt. Die damals entwickelte gründliche Auswahlprüfung soll - unter Beteiligung von Psychologen - charakterlich ungeeignete Bewerber von der Einstellung ausschliessen. In der theoretischen Ausbildung an der Justizvollzugsschule erhalten die humanwissenschaftlichen Fächer, Vollzugspsychologie, Vollzugspädagogik und Sozialarbeit, das ihnen im Hinblick auf den richtigen Umgang mit Gefangenen zukommende Gewicht. Während der praktischen Ausbildungsabschnitte werden Theorie und Erfahrung in begleitenden Gruppengespächen zusammengeführt. Für den Allgemeinen Vollzugsdienst, wie die Laufbahn seit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes im Jahre 1977 heisst, melden sich heute ganz andere Bewerber als vor dreissig Jahren. Anstelle der Gesellen und Facharbeiter, die - oft in einer beruflichen Krise - einen sicheren Arbeitsplatz suchten, habe die meisten Absolventen der Ausbildung heute den Abschluss einer weiterführenden Schule 9 . Die Praxis hat die konkreten Vorschläge zur Erneuerung der Auswahl und Ausbildung von Vollzugsbeamten, wie sie von Mädger10 und fast zehn Jahre später vom Bundeszusammenschluss für Straffälligenhilfe11 entwickelt worden waren, in einem Umfang umgesetzt, wie es damals niemand zu hoffen wagte.
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Wüllenweber Die Klingelpütz-Affäre - Aspekte und Konsequenzen, in: Rollmann Strafvollzug in Deutschland, Frankfurt 1967, S. 121. 8 Bericht des Pari. Untersuchungsausschusses über die Vorkommnisse in den Strafgefängnissen und der Untersuchungshaftanstalt Köln - „Klingelpütz" - , Landtagsdrucksache 6/690 vom 27.3.1968, S.20ff. 9 Nach einer Mitteilung des Leiters der Justizvollzugsschule Nordrhein-Westfalen Josef-Neuberger-Haus Ltd. Regierungsdirektor Walter Ittel, hatten die Anwärter im Jahre 1996 folgende Vorbildung: Hauptschulabschluss: 25 % Realschulabschluss, Mittlere Reife (FOS) 58,7 % Abitur, FHS-Reife 16,3%. 10 Mädger F N 3, S. 112ff. 11 Jung/Mey/Müller-Dietz/Rotthaus (Hrsg.) Die Mitarbeiter des Behandlungsvollzuges, Bonn 1978.
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Der Arbeitsalltag und die Arbeitszufriedenheit des Allgemeinen Vollzugsdienstes Heute entspricht der Standard der Kenntnisse und Fähigkeiten dieser Beamten dem Niveau eines mittleren Sozialdienstes. Sie sind in der Lage in Zusammenarbeit mit Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeitern an der Behandlung der Gefangenen mitzuwirken. Die Probleme der Laufbahn sind freilich nicht behoben; es sind andere geworden. In den geschlossenen Vollzugsanstalten fallen zwangsläufig viele Aufgaben an, die zur Gewährleistung der sicheren Verwahrung der Insassen erforderlich sind: Beobachtungskanzeln sind zu besetzen, Hofstreife ist zu gehen, Gefangene sind zu versorgen sowie innerhalb und ausserhalb der Anstalt vorzuführen. Zu den Einschlusszeiten, besonders im Nachtdienst, muss aus Sicherheitsgründen eine Mindestzahl von Beamten anwesend sein. Diese Funktionen bieten wenig oder gar keine Möglichkeit, im Sinne von Behandlung zu wirken. Uberbelegung, wie sie seit Jahren herrscht, vermehrt die Sicherungsaufgaben und schränkt die Behandlungsmöglichkeiten weiter ein. Ein junger Beamter, der nach der Fachhochschulreife oder gar nach dem Abitur zwei Jahre ausgebildet worden ist und sich dann überwiegend mit Sicherungsaufgaben beschäftigen muss, kann mit seiner beruflichen Situation nicht zufrieden sein. Natürlich gibt es für ihn andere, anspruchsvollere Tätigkeiten. Es fehlt aber an einer Perspektive, ob und wann ihm solche Aufgaben übertragen werden. Viele Beamte erleben ihren Arbeitsalltag im Gefängnis selbst als eine Art Gefangenenschaft 12 . Preusker13 hat junge Beamte, die auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausschieden, nach den Gründen gefragt und ihre Erklärungen referiert. Die prägnanteste lautet: In der Strafvollzugsschule wurde ich mit Strafrecht, Psychologie usw. vollgestopft und auf ein eigenverantwortliches Tun vorbereitet. Doch in der Praxis sieht das alles ganz anders aus. Die Arbeit ist eintönig. Ich habe nichts zu sagen. Ich bin der Fussabtreter für alle und sehe keine Perspektive.
Bandeil u.a. Hinter Gittern, wir auch?, Frankfurt 1985. Preusker Was erwartet die Praxis von der Ausbildung der Strafvollzugsbediensteten? ZfStrVo 1987,67ff. 12 13
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Im Jahre 1990 hat Doldeu ihren Bericht über die Arbeitszufriedenheit der Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes in vier geschlossenen Anstalten des Landes Baden-Württemberg veröffentlicht. Die meisten der von ihr befragten Beamten waren damals bereits nach den neuen Richtlinien ausgebildet. Es zeigte sich, dass ihre Unzufriedenheit mit der Berufssituation gross war. So fühlten sich 6 1 % der Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes auf die Schliesserrolle zurückgeworfen. Von ähnlichen Erscheinungen berichtete Böhm15 aus Hessen. Die Aufsichtsbehörden und die leitenden Beamten in den Anstalten haben diese Feststellungen zur Kenntnis genommen. Geändert hat sich jedoch wenig. Das liegt weniger am fehlenden guten Willen der Beteiligten. Veränderungen sind auf der Grundlage des geltenden Laufbahnrechts schwer möglich. Das bedeutet, dass unter grossem Aufwand erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten brachliegen. Da ist, zumal im Zusammenhang mit Uberlegungen einen .schlanken Vollzug' 16 zu schaffen, der Vorschlag naheliegend, für die Sicherungsaufgaben wieder eine Laufbahn des einfachen Dienstes einzuführen. Diese Lösung ist jedoch abzulehnen. Wer in einer Anstalt tätig ist, hat auch Kontakt zu den Gefangenen. Ist er dann nach seiner Dienstpostenbeschreibung auf Dauer von der Behandlung ausgeschlossen, kann und wird er sich nicht .neutral· verhalten, sondern stören 17 . Die Möglichkeiten der Mitwirkung des Allgemeinen Vollzugsdienstes am Behandlungsvollzug Falsch wäre es, aus den beschriebenen Schwierigkeiten den Schluss zu ziehen, die Reform der Ausbildung der Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes sei nicht sinnvoll gewesen. Es gibt in jeder Anstalt vielfältige Beispiele für den Erfolg. Im Wohngruppen-
14 Dolde Die Arbeitszufriedenheit des Allgemeinen Vollzugsdienstes und des Werkdienstes im Langstrafenvollzug - Ein Problem der Vollzugsorganisation, ZfStrVo 1990,350ff; Rasche/Wieczorek Stress in der vollzuglichen Praxis, ZfStrVo 1996, 203ff; Molitor/Steffens Evaluation einer strafvollzugsinternen Fortbildung für Bedienstete, ZfStrVo 1998, 30ff. 15 Böhm Das Berufsbild der Strafvollzugsbediensteten im Wandel der Zeit, ZfStrVo 1992,275ff; eine Befragung englischer Vollzugsbeamter des uniformed staff erbrachte ähnliche Ergebnisse: Wilson/Bryans The Prison Governor, Leyhill 1998, S. 72. 16 KrimPäd Heft 1/97: Schlanker Justizvollzug - geht das? dort bes. Rosenfeld S.9. 17 Das lehren die Erfahrungen in der Sozialtherapie: Schleusener Das Verhältnis der therapeutischen und kustodialen Aufgaben in der sozialtherapeutischen Anstalt, in: Bundeszusammenschluss Straffälligenhilfe Sozialtherapeutische Anstalten - Konzepte und Erfahrungen, Bonn 1977, S. 30ff.
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Vollzug 18 wirken die Beamten, zunächst meist unter Anleitung von Sozialarbeitern, später auch selbständig an der Behandlung der Insassen mit. Entsprechendes gilt für die Mitarbeit im sozialen Training. 19 Als Suchtkrankenhelfer leisten sie nach einer vorbereitenden Fortbildung wichtige Arbeit. In der Unterstützung der diagnostischen Arbeit der Psychologen und der Schuldenregulierung bewähren sie sich ebenfalls. Ein wichtiges Aufgabengebiet, das in vielen Anstalten ganz in den Händen des Allgemeinen Vollzugsdienstes liegt, ist der Gefangenensport 20 . Die Beamten erwerben den Übungsleiterschein, organisieren den Sportbetrieb der Anstalt und leiten die Insassen dabei an. Kleinere Vollzugseinrichtungen, ehemalige Gerichtsgefängnisse oder Aussenarbeitsstellen, werden oft mit grossem Erfolg von diesen Beamten geleitet. Alle diese Tätigkeiten vermitteln den Beamten - doch leider nur einer Minderheit von ihnen - berufliche Zufriedenheit. Ausserdem führen diese der heutigen Ausbildung entsprechenden Beschäftigungen zu typischen Schwierigkeiten. Die Beamten bleiben Angehörige des Allgemeinen Vollzugsdienstes. Ihre Arbeit und ihr besonderes Engagement wird bei Beurteilungen oft nicht richtig und nicht genügend gewürdigt. Die Anstaltsleitung wünscht sich vielseitig einsetzbare Beamte und neigt dazu, auch die mit,Sonderaufgaben' betrauten nach diesen Masstäben zu bewerten. Ausserdem werden die Beamten bei Personalmangel immer wieder von ihren Aufgaben abgerufen und zum Aufsichtsdienst herangezogen. Dann werden die Zeiten, in denen auf den Wohngruppen die Zellentüren offenstehen, eingeschränkt. Die Betreuung der Suchtkranken, das soziale Training und die Schuldenregulierung bleibt den Sozialarbeitern überlassen und der Sport fällt aus. Die Gefahr der Isolierung des Allgemeinen Vollzugsdienstes Der Vorrang der herkömmlichen Aufgaben des Allgemeinen Vollzugsdienstes in einer jeden Anstalt hat sachliche Gründe. Die Aussenwelt erwartet von einem Gefängnis - heute mehr den je - die Gewährleistung der Sicherheit. Die Versorgung der Insassen und die Gewährleistung eines geordneten Zusammenlebens in der Anstalt sind ebenso unabdingbar. Wer sich aber ausschliesslich mit diesen Dingen beschäftigt, gerät in Gefahr, ihre Bedeutung zu
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Walter Strafvollzug, Stuttgart 1991, Rdn 284, 323. Walter F N 18 Rdn 283. Schwind/Blau Strafvollzug in der Praxis, 2.Aufl., Berlin 1987, S. 316f.
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überschätzen. Umgekehrt neigen andere Mitarbeiter der Anstalt, besonders die Fachdienste, dazu, die Arbeit des Allgemeinen Vollzugsdienstes als etwas Selbstverständliches und deshalb als weniger wichtig einzuschätzen. Der äussere Anschein, der den Allgemeinen Vollzugsdienst durch seine Uniform erkennbar und vielfach bei irgendwelchen Botengängen' sieht, erschwert auch für Besucher seine Bedeutung richtig zu würdigen. Auf diese Weise wird der Allgemeine Vollzugsdienst von den anderen Diensten isoliert. Er isoliert sich aber auch selbst. Ein Blick in eine Personal-Kantine illustriert diese Erscheinung: an manchen Tischen sitzen fast ausschliesslich Uniformträger, an anderen ebenso ausschliesslich Mitarbeiter in Zivil. Die Reaktion der Angehörigen des Allgemeinen Vollzugsdienstes ist, dass sie - von Anstalt zu Anstalt unterschiedlich ausgeprägt - eine Subkultur bilden. Sicherheit, Ordnung und gleichmässige Behandlung aller Beamten vom Dienstplan bis zur Beförderung können dann zu Werten werden, die vor dem eigentlichen Inhalt der Arbeit Vorrang erhalten 21 . Überschneidungen der Aufgabenbereiche der Laufbahnen des mittleren Vollzugsdienstes Die Abgrenzung der Laufbahnen im mittleren Dienst ist historisch aus der Zeit zu erklären, als der Aufsichtsdienst dem einfachen Dienst angehörte 22 . Heute hat die Tätigkeit des Leiters des Allgemeinen Vollzugsdienstes mit Verwaltung und mit Management zu tun. Die Dienstposten des Küchenleiters und des Kammerverwalters sind traditionsgemäss begehrte Beförderungsstellen des Allgemeinen Vollzugsdienstes, obwohl dort überwiegend Verwaltungsaufgaben zu erfüllen sind. - Für den Werkbeamten als Leiter eines grösseren Eigenbetriebes ist es wichtig, dass er etwas von Verwaltung und Management versteht. Die Anleitung der Gefangenen bei der Arbeit muss er den nachgeordneten Mitarbeitern überlassen. Nur sie müssen die Arbeitsvorgänge ihres Betriebes erlernt haben. Die berufliche Aus- und Fortbildung liegt zweckmässig in den Händen von Ausbildern der auch draussen tätigen Organisationen 23 . - Die aktenmässige Aufnahme der Gefangenen in der Vollzugsgeschäftsstelle ist traditionell eine Tätigkeit der Verwaltung. 21 Natürlich gibt es auch Subkulturen der anderen Mitarbeitergruppen, vgl. den A b schnitt ,Staff Culture' bei Wilson/Bryans F N 15, S. 56. 22 Vgl. Böhm Strafvollzug, 2. Aufl., Frankfurt 1986, S. 70ff. 23 In Nordrhein-Westfalen bei den Berufsfortbildungswerken des D G B und des Kolpingwerks.
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Dabei wäre es sinnvoll, dieses frühe Zusammentreffen eines Mitarbeiters der Anstalt mit dem ,Zugang' vollzuglich zu nutzen, etwa um dringende Hilfsmassnahmen einzuleiten. - Ahnliches gilt für das Gespräch über den Arbeitseinsatz, das vielfach von Verwaltungsbeamten geführt wird, obwohl es um eine wichtige vollzugliche Entscheidung geht. - Wenn andererseits im Bereich der Verwaltung oder der Arbeitsbetriebe ,Not am Mann' ist, müssen die Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes aushelfen. - Die Aufgaben der drei Laufbahnen des mittleren Dienstes überschneiden sich also in so weiten Bereichen, dass ihre strenge Abgrenzung mit unterschiedlichen Einstellungsvoraussetzungen und Karrierechancen sachlich nicht zu begründen ist.. Weitere Überschneidungen der Aufgabenbereiche der verschiedenen Dienste im Strafvollzug Der gehobene Vollzugs- und Verwaltungsdienst (Inspektionsdienst) kennt keine Trennung nach Tätigkeitsbereichen. Die Abgrenzung dieser Laufbahn zu den mittleren Diensten ist nicht eindeutig festgelegt. Viele Entscheidungen, die in der einen Anstalt der Inspektor für Sicherheit und Ordnung, der sogenannte Polizeiinspektor, trifft, liegen anderswo in den Händen von Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes. Das gilt zum Beispiel für die Entscheidung über den Besitz von Gegenständen auf der Zelle und die Erlaubnis zur Teilnahme an Freizeitveranstaltungen. - Die Abgrenzung der Zuständigkeiten vom Werkdienst und vom mittleren Verwaltungsdienst zum gehobenen Dienst hängt von der Grösse der Anstalt, bisweilen aber auch von Zufällen ab, zum Beispiel von der Ausstattung der Anstalt mit entsprechenden Stellen. - Abteilungsleiter und selbst Anstaltsleiter 24 können Beamte des gehobenen Dienstes, aber auch des höheren Dienstes sein. Die Reform des Vollzugsdienstes und die verfassungsmässige Ordnung Die heutige Gliederung des Vollzugsdienstes entspricht nicht den Bedürfnissen einer sinnvollen und sparsamen Personalverwendung. Mit grossem Aufwand ausgebildete Kräfte werden mit untergeordneten Tätigkeiten beschäftigt. Zusammengehörige Arbeitsvorgänge sind getrennt, weil sie verschiedenen Beamtengruppen zugeord24
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net sind. Reibungsverluste behindern so die Arbeitsabläufe. Die Sparzwänge, denen der Vollzugsdienst unterliegt, verlangen nach Lösungen. Doch müssen die Veränderungen so tief in das historisch gewachsene System eingreifen, dass sie innerhalb des geltenden beamtenrechtlichen Rahmens nicht zu verwirklichen sind. Die nachstehenden Überlegungen und Vorschläge berücksichtigen nicht die Frage, ob und wieweit sie sich im Rahmen der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" (Art.33 Abs. 5) umsetzen lassen. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass die in Ansätzen begonnene allgemeine Reform des öffentlichen Dienstrechts mittelfristig nicht an den Schranken des Art. 33 G G halt machen wird. Im Rahmen dieser Gesamtreform ist auch der schmale Bereich des Strafvollzugdienstes neu zu gestalten. Der Dienst in den Basisfunktionen Die Bewerber für den Vollzugsdienst werden auch künftig nach den heute geltenden Grundsätzen ausgewählt. Die Hürde der Anforderungen wird nicht niedriger gelegt. Doch ist die Ausbildung für die Basisfunktionen des Vollzugsdienstes kurz, sechs bis zwölf Monate 25 . Im Vordergrund steht die praktische Ausbildung für die Beaufsichtigung der Gefangenen in der Anstalt, für ihre Versorgung und für Vorführdienste innerhalb der Anstalt und draussen. Gleichzeitig sind den Anwärtern die Grundlinien der Philosophie' des Strafvollzugs in einem Kursus an der Justizvollzugsschule zu vermitteln. Dazu gehört ein Grundwissen aus dem Bereich der Humanwissenschaften; abfragbares Detailwissen brauchen die Anwärter nicht zu erwerben. Sie sollen verstehen, in welchen Zusammenhängen sich ihre Tätigkeit vollzieht, und die bestimmenden Ideen der vollzuglichen Arbeit im Gespräch mit den Insassen und mit ihren Mitbürgern draussen vertreten können. Die Anforderungen der Abschlussprüfung dieser Basisausbildung entsprechen den einfachen dienstlichen Aufgaben, die die Anwärter erwarten. Der Dienst in den Basisfunktionen ist im Regelfall eine vorübergehende Tätigkeit. Die Mitarbeiter bilden deshalb keine so stabile Gruppe wie der heutige Allgemeine Vollzugsdienst. In den Anstalten tragen sie keine Dienstkleidung 26 . Wie die anderen Beamten sind 25 Die Dauer der Grundausbildung beträgt in England auch heute noch nur ein knappes Vierteljahr: Needs Prison Officer Initial Training, Prison Service Journal N O . 113 (Sept. 1997), S. 30ff. 26 Für ein Uberdenken der Notwendigkeit einheitlicher Dienstkleidung: Böhm F N 15, S. 279.
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sie an einem offen getragenen Lichtbildausweis erkennbar. Je nach dem Bedarf an Mitarbeitern des heutigen mittleren Dienstes wird die Zeit der Tätigkeit in der Basisfunktion kürzer oder länger dauern. Einzelne Mitarbeiter mögen - aus welchen Gründen auch immer - auf eine Fortbildung für höherwertige Tätigkeiten verzichten. Solange sie zufriedenstellende Leistungen beweisen, besteht kein Grund das Dienstverhältnis zu beenden. Sie verzichten aus eigenem Entschluss auf ihre berufliche Weiterentwicklung. Wünschenswert ist jedoch eher, dass diese Kräfte den Vollzugsdienst verlassen. Ihre Ausbildung und ihre Erfahrungen befähigen sie zum Beispiel für die Aufgaben eines privaten Sicherungsunternehmens. Der Mittlere Vollzugs- und Verwaltungsdienst27 Neben ihrer Beschäftigung in den Basisfunktionen im Gefängnis erhalten die jungen Mitarbeiter einen anschaulichen Einblick in die Aufgaben, die heute von den Angehörigen der mittleren Dienste im Vollzug erfüllt werden. Diese Aufgaben sind - anders als bisher - in Gruppen 28 zusammengefasst: - Organisation und Management von Ordnung und Sicherheit - Soziales Training, Wohngruppenarbeit, Suchtkrankenhilfe, Hilfeleistung bei der Arbeit der Anstaltspsychologen und Sozialarbeiter - Sanitätsdienst: Krankenpflege, Organisation der ärztlichen und medizinischen Betreuung - Gefangenenarbeit: Anleitung der Insassen bei der Arbeit, Hilfeleistung bei der Arbeitstherapie, betriebliche Arbeitsverwaltung - Hausverwaltung: Anstaltsküche, Versorgung der Insassen mit Bekleidung u.ä., Verwahrung der Habe der Insassen, Bauverwaltung - Buchführung und Zahlstelle - Vollzugsgeschäftsstelle: Führung der Personalakten der Gefangenen, Strafzeitberechnung u. ä.
27 Die Einheitslaufbahn führt zu einer Aufhebung der horizontalen Trennungslinien zwischen den einzelnen Diensten. Die hergebrachte Gruppierung der Aufgaben des mittleren, gehobenen und höheren Dienstes dient im Folgenden nur dazu, die Aufgabenbereiche in einfacher Weise zu umschreiben. 28 Ahnliche Tätigkeitsgruppen für den mittleren Verwaltungsdienst bei Dammann, Effektivere Verwaltung mit weniger Personal? in: Schlanker Justizvollzug - geht das? FN 16, S. 23.
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- Hauptgeschäftsstelle: Führung der Personalakten der Mitarbeiter und der Sachakten Wenn die Vollzugsverwaltung in einem dieser Bereiche Personalbedarf feststellt, so schreibt sie einen Lehrgang der Ersten Fortbildungsstufe mit dem entsprechenden Inhalt aus. Die Basismitarbeiter kennen die Aufgaben des Mittleren Dienstes aus eigener Anschauung. Sie können sich für diese Lehrgänge bewerben, ebenso wie ältere Mitarbeiter des Mittleren Dienstes, die sich verändern möchten. Die Bewerber werden auf ihre Eignung geprüft. Die Fortbildung findet teils in Kursen an der Vollzugsschule, teils praxisbegleitend statt. An der Vollzugsschule wird die Prüfung nach der Ersten Fortbildungsstufe abgenommen. Die Ausbildung der Mitarbeiter für die Tätigkeiten des (heutigen) mittleren Dienstes in zwei Stufen und aufgefächert nach den künftigen Tätigkeitsbereichen stellt sicher, dass jeder nur das zu lernen hat, was er in der Praxis braucht. Das verkürzt die Ausbildung und spart Lernzeit für die jungen Mitarbeiter, Haushaltsmittel für den Dienstherrn. Die Fortbildung für die Tätigkeitsgruppen Ordnung und Sicherheit, Soziales Training, Krankenpflege und Gefangenenarbeit entspricht der heutigen Ausbildung des allgemeinen Vollzugsdienstes oder des Werkdienstes. Alle diese Mitarbeiter brauchen gute Kenntnisse in Vollzugs-Psychologie, Vollzugs-Pädagogik und Sozialarbeit. Ergänzend sind sie vor allem praxisbegleitend für ihre spezifischen Aufgaben vorzubereiten. Die anderen Funktionsgruppen werden theoretisch und praxisbegleitend in den von ihnen gewählten Verwaltungsbereichen fortgebildet. Ihre Fortbildung im humanwissenschaftlichen Bereich ist knapper. Der heutige für alle Bereiche der Verwaltung umfassend ausgebildete Verwaltungsbeamte wird nicht mehr gebraucht. Schon jetzt sind die Bediensteten in den Anstaltsverwaltungen ständig in demselben Bereich tätig. Ein Wechsel findet nur ausnahmsweise statt. Es genügt deshalb künftig, wenn die jungen Mitarbeiter einen dieser Bereiche beherrschen. Das soll freilich keine Festlegung ,auf Lebenszeit' sein. Die Mitarbeiter werden vielmehr angeregt, den Arbeitsbereich zu wechseln. In der Regel haben sie dann an dem entsprechenden Aufbaulehrgang teilzunehmen. Mobilität gibt es nicht nur innerhalb des Vollzuges. Das Verlangen eines tüchtigen Mitarbeiters, den Vollzugsdienst zu verlassen, wird nicht - wie heute zumeist - als unfreundliches Verhalten gewürdigt. Es ist ein ganz normaler Vorgang. Die Mitarbeiter werden ermutigt, in andere Dienstleitungsbereiche abwandern, wenn sich für sie kein Fortkommen bietet oder sie ausserhalb attraktivere berufliche Möglichkeiten finden. Umgekehrt sind im Vollzug schon auf dieser Ebene Seiteneinsteiger in begrenzter Zahl willkommen. Kran-
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kenpfleger von draussen können helfen, die »Gefängnismedizin' an die Entwicklung ausserhalb des Vollzuges anzugleichen. Ein ausgebildeter Grossküchenleiter und ein Arbeitstherapeut bringen nützliche Bereicherungen in die fachlichen Zusammenarbeit ein. Doch erhalten diese Seiteneinsteiger eine Zusatzausbildung bestehend aus Elementen der Ausbildung für die Basis-Funktion und aus dem Bereich der Ersten Fortbildungsstufe. Die Mitarbeiter der Ersten Fortbildungsstufe sind ausschliesslich ihren neuen Aufgaben zugeordnet und scheiden aus der Gruppe der Mitarbeiter der Basisfunktion aus. Bei Personalmangel im Bereich der Basisfunktion kann die Anstalt auf sie nicht als .Sicherheitsreserve' zurückgreifen. Ein besonderes Ärgernis für die Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes sind die Beförderungen und die ihnen vorausgehenden Leistungsbewertungen. 29 Das ist gut verständlich, weil die Aufgaben dieser Beamten sehr unterschiedlich sind und sich deshalb schlecht vergleichen lassen. Es gibt Dienstposten, auf denen der Inhaber seine Qualifikation verhältnismäsig leicht beweisen kann. Bei anderen Tätigkeiten sind Engagement, Fähigkeiten und Kenntnisse schwerer erkennbar. Gleichartige Aufgaben werden vielfach von Beamten unterschiedlicher Beförderungsstufen ausgeführt. Für gleiche Arbeitsleistung gibt es also eine unterschiedliche Besoldung. 30 - Künftig steht vor Entscheidungen über die Verteilung der Stellen nach Anzahl und Besoldung eine genaue Arbeitsplatzbeschreibung. Die in der Entwicklung begriffenen neuen Methoden der Leistungsmessung ermöglichen eine gerechtere Bewertung. Die Besoldung erfolgt entsprechend den Anforderungen, die der Dienstposten an den Mitarbeiter stellt. Soziale Erwägungen, die heute noch weite Bereiche der Beförderungspolitik bestimmen, treten zurück. Der gehobene Vollzugs- und Verwaltungsdienst Die Zweite Fortbildungsstufe führt die jungen Mitarbeiter auf das Niveau des heutigen gehobenen Dienstes. Auch hier schreibt die Justizverwaltung je nach Bedarf Fortbildungslehrgänge aus, für die sich die Mitarbeiter der Ersten Fortbildungsstufe bewerben können. Mindestens drei Fachrichtungen wird es geben: Vollzugliches Management, Sozialarbeit und Verwaltung. Die Fortbildung schliesst mit einer Prüfung ab, die einen ausserhalb des Vollzugsdienstes gültigen akademischen Grad wie heute den Diplom-Verwaltungs-
29 30
Dolde F N 14, S. 351. Dolde F N 14, S. 354.
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wirt oder den Diplom-Sozialarbeiter verleiht 31 . Dieser akademische Grad ermöglicht den Absolventen horizontale Mobilität. Sie sind nicht auf Lebenszeit mit der Justiz verbunden, sondern können in ganz anderen Bereichen tätig werden. Das was heute gelegentlich zum Arger der Vorgesetzten vorkommt, soll künftig ein wichtiges belebendes Mittel sein. Umgekehrt gibt es auf dieser Ebene eine grosse Zahl von Seiteneinsteigern. Für Pädagogen und für das mittlere technische Management der Arbeitsbetriebe ist das ohne weiteres ersichtlich. Es werden aber auch weiterhin an den Fachhochschulen ausgebildete Sozialarbeiter benötigt. Der Vollzug ist ständig auf Anregungen von draussen angewiesen. Die Seiteneinsteiger stehen mit ihren innerhalb der Verwaltung ausgebildeten Kollegen auf derselben Stufe und mit ihnen im Wettbewerb. Für andere Tätigkeitsbereiche werden ebenso geeignete Seiteneinsteiger eingestellt. Zu denken ist an Bewerber, die in anderen Verwaltungsbereichen eine entsprechende Prüfung abgelegt haben, und an qualifizierte Fachleute aus dem kaufmännischen Bereich oder dem Bereich der Datenverarbeitung. Diese neuen Mitarbeiter werden in einem Ergänzungslehrgang auf ihr neues Arbeitsfeld vorbereitet. Der höhere Vollzugs- und Verwaltungsdienst Auf der Dritten Fortbildungsstufe treffen die Bewerber aus dem Vollzugsdienst mit solchen Bewerbern von draussen zusammen, die gern als Vollakademiker bezeichnet werden. Das sind die Juristen, die Psychologen und Soziologen, die Diplom-Pädagogen, aber auch die Arzte und Seelsorger und vielleicht noch Vertreter anderer Fachrichtungen mehr. Sie werden ebenfalls nach den Bedürfnissen der Anstalten und der Aufsichtsbehörden ausgewählt. Auf der Grundlage ihrer spezifischen Ausbildung sind sie für die Arbeit im Vollzug fortzubilden. Das wird zweckmässig durch ein Aufbaustudium nach Art der in Hamburg entwickelten Studiengänges mit einer entsprechenden Abschlussprüfung geschehen 32 . Diese Mitarbeiter sind
31 In England soll künftig einer Master's Degree in Prison Studies vergeben werden: Bryans Management Training and Developement in the Prison Service, Prison Service Journal No. 121 (January 1999) S. 23ff. 32 Vielleicht erscheint es auf den ersten Blick realitätsfern, die in den 70er Jahren bei gut gefüllten Haushaltskassen nach dem Vorbild der Deutschen Richterakademie geplante, aber nicht finanzierbare .Akademie für Strafvollzug' (Dertinger, Justizverwaltungsblatt, 1972, 12Iff) unter den heutigen beengten Haushaltsbedingungen ins Leben zu rufen. Doch legen die Schwierigkeiten der Zusammenarbeit im Vollzug, gerade bei einer wirtschaftlichen Betrachtung der Arbeitsabläufe nahe, diese Gedan-
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zunächst auf ihrem spezifischen Fachgebiet tätig. Sie können sich, wenn sie Praxiserfahrung gewonnen haben, aber auch um Spitzenfunktionen im Vollzugsdienst bewerben. Niemand von ihnen ist wegen seines Faches von leitenden Amtern in den Aufsichtsbehörden, als Anstaltsleiter oder Abteilungsleiter einer Anstalt ausgeschlossen. Doch sind die Bewerber auf derartige Führungspositionen in Fortbildungslehrgängen oder praxisbegleitend wiederum vorzubereiten. Die Einheitslaufbahn .Strafvollzugsdienst' eine Utopie? Das Bild einer Einheitslaufbahn .Strafvollzugsdienst' mag als eine Utopie erscheinen. Sie ist jedoch realisierbar. Im Strafvollzug von England und Wales hatten sich in den 80er Jahren Misstände entwickelt, die zu grundlegenden Neuerungen führten. Die erste war die Einführung der Einheitslaufbahn . Freilich hatten die Engländer keine verfassungsrechtlichen Hindernisse zu überwinden. Der Eingriff in hergebrachte, traditionell gewachsene Strukturen war jedoch tief. Für den deutschen Strafvollzug sind selbst bescheidenere Veränderungen ohne den Bundesgesetzgeber nicht möglich. Immerhin liesse sich durch Gesetz eine einheitliche Laufbahn .Mittlerer Vollzugs- und Verwaltungsdienst' schaffen 34 . Eine solche Zusammenfassung entspräche der Sachlage im gehobenen und im höheren Dienst. Dabei könnten die Bereiche Allgemeiner Vollzugsdienst, Werkdienst und Verwaltungsdienst in einem Teil des Vorbereitungsdienstes, im Abschlusslehrgang und in der Laufbahnprüfung eigene Wege gehen. Der Personaleinsatz würde auf diese Weise sehr viel flexibler. Spannungen in den Anstalten und Reibungsverluste Hessen sich damit vermindern. Die grosse Lösung lässt sich ohne Verfassungsänderung und allgemeine gesetzgeberische Reformen nicht verwirklichen.
ken wieder aufzugreifen. Vgl. auch Deichsel, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellboss Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Stichwort Kriminologische Ausbildung , S. 316ff (318f). 33 Wilson/Bryan F N 15, S.9f: Unter dem Titel ,A Fresh Start' hat das Home Office in einer Serie von Bullettins die geplanten und nach Verhandlungen mit den Beteiligten in Kraft gesetzten Neuerungen beschrieben und begründet. Für Seiteneinsteiger, meistens akademisch ausgebildete Bewerber, gibt es das Accelerated Promotion Scheme, das ein zügiges Durchlaufen der unteren Grade ermöglicht. 34 Niedersachsen hat neuestens den Allgemeinen Vollzugsdienst und den mittleren Verwaltungsdienst zu einer Laufbahn vereint: Verordnung vom 29.10.1998, GVBl. 1998, 679ff.
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Ausblick Die beschriebenen Veränderungen bringen auch Verluste mit sich. Die Ausbildungsgänge für die Beamten des mittleren Dienstes sind nach gründlichen Vorarbeiten geschaffen worden. Entsprechendes gilt für die Entwicklung des Fachhochschulstudiums für die Anwärter des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes 35 . Das sind unter grossen Mühen erreichte Erfolge. Die Aufgaben des Strafvollzugs und das Vollzugsziel (§ 2 StVollzG) werden sich auch künftig nicht ändern. Von dort geht die Notwendigkeit der Innovation nicht aus. Es ist die veränderte Situation in den Anstalten und der absehbare schnelle Wandel der Arbeitssituation für alle Mitarbeiter des Strafvollzugs der zur Aufgabe dieses Ausbildungssystems zwingt. Die Organisation des Personalwesens im Strafvollzug muss neu gestaltet werden. Die künftigen Aufgaben sind ohne zu Spezialisten ausgebildete Mitarbeiter nicht zu bewältigen. Die heutige zwei- oder dreijährige Ausbildung zielt zugleich auf eine allgemeine Persönlichkeitsentwicklung der jungen Beamten. Die freilich ist mit den Elementen einer Spezialausbildung in kurzen Fachlehrgängen nicht zu erreichen. Doch wird sich der U m fang an Ausbildung und Fortbildung, der den Mitarbeitern geboten wird, nicht vermindern, sondern eher erweitern. Die Arbeitsplatzorientierte Spezialausbildung ist durch Kurse zu ergänzen, die allen Mitarbeitern das notwendige Hintergrundwissen aus dem Bereich der Kriminologie und der humanwissenschaftlichen Fächer vermittelt und auf dem aktuellen Stand hält. Wie notwendig eine solche Fortbildung ist, zeigt die Entwicklung seit dem Beginn der Strafvollzugsreform Ende der 60er Jahre. Wer damals, auf dem Höhepunkt der ,Behandlungseuphorie', die grundlegenden Erkenntnisse der Kriminologie kennenlernte, muss durch das, was er heute im Berufsalltag des Gefängnisses erlebt und was er aus den Kommentaren der Medien erfährt, gänzlich verunsichert sein. Zur sachgemässen Erfüllung der Aufgaben kann auf Fortbildung nicht verzichtet werden.
35
Höflich Die Ausbildung des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes an der Fachhochschule f ü r Rechtspflege Nordrhein-Westfalen in Bad Münstereifel, ZfStrVo
1990, 333.
Probleme der Bediensteten im Strafvollzug der neuen Bundesländer CHRISTIAN DERTINGER
In fast allen Veröffentlichungen zur Entwicklung des Strafvollzuges in den neuen Ländern werden die gravierenden baulichen Mängel, Sicherheitsprobleme und Unsicherheit des übernommenen Personals in den Vordergrund gestellt. Die Berichte über den Zustand in den Justizvollzugsanstalten sind weitgehend von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen, meist aus der Sicht von ehemaligen „West-Bediensteten" geprägt.1 Dies kann nicht verwundern, weil die Bediensteten, die aus dem Strafvollzug der D D R übernommen worden waren, vielfach in die zweite Reihe zurückgedrängt und als von der Wende Betroffene durch die Bewältigung der politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Umbruchsituation so in Anspruch genommen waren, daß sie als Beobachter kaum in Betracht kamen. Die ersten Jahre nach der Wende waren im Strafvollzug der neuen Länder zudem durch vielfach spontan wirkende Aktivitäten und Veränderungsprozesse gekennzeichnet, die nur mangelhaft dokumentiert sind. Für Forschung hatte man keine Zeit. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Probleme der Bediensteten. Mit der Behauptung, das Personal sei unzulänglich ausgebildet und stark verunsichert gewesen, wird die Situation recht einseitig und pauschal dargestellt. Im folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die Probleme der - und nicht mit den - Bediensteten seit 1991 bis heute zu beleuchten. Dabei soll es darum gehen, Verständnis für die Probleme und Schwierigkeiten der Beschäftigten zu wecken. Auch dieser „Versuch einer Situations-Analyse" bleibt notwendigerweise subjektiv, weil aus der Sicht eines Beteiligten des Annähe1 Arnold, Vergangenes und Zukünftiges im Strafvollzug der ehemaligen DDR - Ein Untersuchungsbericht, ZfStrVO 1990 S. 327; Eickmeier, Entwicklung des Strafvollzuges in den neuen Ländern am Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern, ZfStrVO 1992 S. 286; Block, Strafvollzug in den neuen Bundesländern - Bestandsaufnahme und Entwicklung, ZfStrVO 1998 S. 89 ff.
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rungs- und Veränderungsprozesses geschrieben. Und er bleibt unvollständig, weil dem Verfasser eigene Erfahrungen aus dem Vollzugsalltag der DDR fehlen, der viele Bedienstete geprägt hat, und weil nur wenig Dokumente aus der Zeit der D D R zur Verfügung stehen, die diesen Mangel ausgleichen könnten. 2 Die Darstellung beschränkt sich auf das Land Brandenburg, in dem der Verfasser seit Januar 1992 als Abteilungsleiter Strafvollzug und Soziale Dienste der Justiz beschäftigt ist. Es ist jedoch davon auszugehen, daß viele der Probleme auch in den anderen neuen Ländern aufgetreten sind. I. Ängste und Unsicherheiten Bei Übernahme der Organisation des Justizvollzuges in die Verantwortung des Landes Brandenburg bestanden 11 Justizvollzugsanstalten, mit nominell ca. 5.700 Haftplätzen, in denen 1.735 Bedienstete beschäftigt waren. Aufgrund einer Vorruhestandsregelung und aus anderen persönlichen Gründen schieden im Jahr 1990 rund 350 Bedienstete aus. Darunter befanden sich einerseits in nicht geringem Umfang erfahrene Mitarbeiter der mittleren und oberen Führungsschicht und andererseits eine Reihe von Bediensteten, die nach den Erkenntnissen der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter im Verdacht von Straftaten gegenüber Gefangenen standen und zum Teil durch freiwilliges Ausscheiden einer späteren Kündigung zuvorkamen. Damit fehlten für den Aufbau eines neuen Vollzugssystems einerseits wichtige Führungskräfte. Andererseits war die Zahl der belasteten und einem Systemwandel negativ gegenüberstehenden Kräfte erheblich reduziert. Bis Februar 1992 war der Personalbestand auf 1.250 abgeschmolzen. Die Jahre 1990 bis 1993 stellten für einen großen Teil der Bediensteten eine Zeit der Verunsicherung dar, die sehr verschiedene Ursachen und Aspekte hatte. a) Sorge um den Arbeitsplatz Nach 1990 war die Zahl der Gefangenen in allen neuen Ländern zunächst stark zurückgegangen, im Land Brandenburg auf 895 im Januar 1992. Die Belegungssituation ermöglichte es, eine der größten Justizvollzugsanstalten des Landes endgültig und zwei Anstalten aus Sicherheitsgründen und mit dem Ziel der Sanierung vorübergehend zu schließen. Die Bediensteten wurden an andere 2
Flügge, Wie war es wirklich in den DDR-Gefängnissen, Z f S t r V O 1996 S. 100 ff.
Probleme der Bediensteten im Strafvollzug der neuen Bundesländer
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Justizvollzugsanstalten versetzt oder abgeordnet. Dies war für viele mit großen persönlichen Schwierigkeiten verbunden und vermittelte ihnen den Eindruck, daß sie „verfügbar" seien und sich ihres Arbeitsplatzes nicht sicher sein könnten. Maßgeblich für diese Skepsis waren mehrere Gründe. Erstens: Die in der Öffentlichkeit geübte Kritik am Strafvollzug der D D R empfanden viele Bedienstete als gegen sich gerichtet. Sie befürchteten, wohl nicht ganz zu unrecht, daß sie mit dem Negativbild identifiziert würden, weil es nur wenige Stimmen gab, die darauf hinwiesen, daß ein Großteil der DDR-Vollzugsbediensteten sich menschlich einwandfrei verhalten hatte. Zweitens: Viele Bedienstete spürten, daß sie den Anforderungen eines behandlungsorientierten Strafvollzuges, wie er mit Übernahme des Strafvollzugssystems der Bundesrepublik vorgeschrieben war, nicht in ausreichendem Maße gewachsen waren. Zumindest bis Ende 1992 gab es für sie aber wenig Möglichkeiten der Qualifizierung, was sie als Desinteresse an ihrer weiteren Beschäftigung deuteten. Und über ihnen schwebte das Damoklesschwert einer Kündigung wegen „mangelnder fachlicher Qualifikation oder persönlicher Eignung" nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages. Von dieser Möglichkeit wurde im Land Brandenburg allerdings nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht. Drittens: Die Uberprüfung der Bediensteten auf eine eventuelle Stasi-Verwicklung stellte ein Bedrohungs-Potential dar. Hierauf wird noch gesondert eingegangen. b) Der Zusammenbruch
der DDR als
Verunsicherungsfaktor
Der Zusammenbruch des politischen Systems der D D R bedeutete für die meisten Menschen das Wegbrechen eines gewohnten Koordinatensystems, auf das sie sich eingerichtet hatten und das ihnen das Gefühl sozialer Sicherheit vermittelt hatte. Dies galt gleichermaßen für Befürworter und aktive Stützen des Systems wie auch für diejenigen, die in kritischer Distanz in dem System ihre Nische gefunden hatten. Viele von denen, die sich mit dem Staat der D D R und seiner Gesellschaftsordnung identifiziert hatten, mußten nunmehr erkennen, daß sie sich getäuscht hatten und getäuscht worden waren. Dieses Eingeständnis fiel den meisten verständlicherweise schwer. Von den Strafvollzugsbediensteten der D D R war ein klares Bekenntnis zu Staat und Gesellschaft verlangt worden. Die Mitgliedschaft in der Staatspartei S E D war eine Selbstverständlichkeit. Es ist daher nicht verwunderlich, daß das sich aus der Enttäuschung ergebende Verunsicherungs-Syndrom bei den Vollzugsbediensteten besonders
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stark ausgeprägt war. Die Identifikation mit dem Staats- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik gelang ihnen nur zögerlich, viele verharrten aus ihrer Enttäuschung in Skepsis, wollten sich nicht erneut binden und gingen in Distanz zu Veränderungen. Dementsprechend waren sie zunächst auch nicht in der Lage, den grundlegenden Wandel des Strafvollzugssystems innerlich mitzuvollziehen. c) Problematik der Stasi-Verwicklung und
Gauck-Uberprüfungen
Als besonders belastend wurde von den Vollzugsbediensteten die Uberprüfung auf eine frühere Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) empfunden. Die Uberprüfung diente dem Ziel festzustellen, ob die Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst für den Dienstherrn zumutbar oder eine Auflösung des Arbeitsbzw. Beamtenverhältnisses erforderlich ist. Aufgrund der Erkenntnisse der Gauck-Behörde wurde bei 90 Bediensteten das Arbeitsverhältnis gekündigt oder durch Auflösungsverträge beendet. Von Maßnahmen abgesehen wurde bei Bediensteten, deren MfS-Tätigkeit weit zurücklag, nur kurzzeitig ausgeübt worden und für Dritte folgenlos geblieben war. Diese Ergebnisse erklären noch nicht, warum die Überprüfungen zu Verunsicherung bei den Bediensteten führen konnten, hätte sich doch jeder ausrechnen können, ob ihm Konsequenzen aus einer früheren Zusammenarbeit mit dem MfS drohen. Zur Erklärung läßt sich auf zwei Tatsachen hinweisen. Erstens hatten bei einer ersten Fragebogen-Aktion viele Bedienstete eine Stasi-Mitarbeit geleugnet und mußten aufgrund der Gauck-Anfragen mit Aufdeckung rechnen. Zweitens konnten sich etliche Bedienstete an Einzelheiten ihrer zum Teil 15 bis 20 Jahre zurückliegenden Tätigkeit tatsächlich nicht mehr erinnern und deshalb nur schlecht einschätzen, welche Vorwürfe ihnen konkret gemacht und wie die vorliegenden Erkenntnisse gewertet würden. Bedeutsamer war aber wohl ein weit verbreitetes generelles Unverständnis gegenüber der Gauck-Uberprüfung. Es beruhte vor allem darauf, daß nicht wenige davon ausgingen, es handle sich um eine moralische Verurteilung der Betroffenen. Offensichtlich war es nicht gelungen, die Unterscheidung zwischen einem moralischen Unwerturteil und der Feststellung, die Weiterbeschäftigung eines Bediensteten sei dem Dienstherrn nicht zumutbar,3 deutlich zu machen. Eine moralische Verurteilung aber wurde auch von den „Un-
3
So Kap. X I X , A.III Abs. 5 Einigungsvertrag.
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belasteten" nicht akzeptiert, weil sie als Ausdruck einer Sieger-Mentalität verstanden wurde. Die Tatsache, daß in der Prüfungskommission auch ehemalige DDR-Bürger vertreten waren, reichte als Gegenargument nicht aus. Ferner wurde darauf hingewiesen, man habe doch gewußt, wer MfS-Mitarbeiter war und sich darauf einstellen können, indem man diesen aus dem Wege ging.4 Darüber hinaus wurde das Spitzel-System im Strafvollzug vielleicht auch nicht nur bei den MfS-Mitarbeitern als notwendig zur Aufrechterhaltung der Anstaltssicherheit angesehen und deshalb nicht verurteilt. Bespitzelung von Gefangenen untereinander ist dem Strafvollzug auch in demokratischen Staaten ja nicht völlig fremd. Anders ist es kaum zu erklären, daß auch spätere Feststellungen über den Umfang der Stasi-Tätigkeit nicht zu einer eindeutigen und offenen Distanzierung vom Bespitzelungs-System führten. Die Dimension des MfS-Apparates im Strafvollzug wurde beispielhaft bei einer großen Vollzugsanstalt mit in DDR-Zeiten mehr als 2.000 Gefangenen deutlich, bei der nach Unterlagen des MfS bis zu 120 inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt waren, und zwar Bedienstete und Gefangene. Abschließend sei noch auf zwei negative Nebenwirkungen der Überprüfungs-Praxis hingewiesen, die erst im Laufe der Zeit hervortraten. Zum einen handelt es sich um die Tatsache, daß die personenbezogene Uberprüfung eine gemeinsame politische Aufarbeitung der Stasi-Problematik außerordentlich erschwerte. Dies gilt zumindest für den Strafvollzug. Zum anderen verstellte die Konzentration der Eignungsüberprüfung des übernommenen Personals auf die MfSTätigkeit den Blick für die Prüfung anderer wichtiger Kriterien wie z.B. persönliche Zuverlässigkeit, früheres und jetziges Verhalten gegenüber Gefangenen o.ä. Dies trug ebenfalls dazu bei, daß die auf Grund der Gauck-Uberprüfungen getroffenen Personalentscheidungen zum Teil als zufällig angesehen wurden. Es wurde nicht verstanden, wenn Bedienstete entlassen wurden, die gut qualifiziert waren und auch in der Vergangenheit die Gefangenen menschlich behandelt hatten, während zum Teil Kollegen im Dienst verblieben, die auch für das MfS wegen mangelnder intellektueller Eignung uninteressant gewesen wa-
4
Dieses Phänomen beschreibt die Schriftstellerin Monika Maron wie folgt: „Es mag frivol klingen, aber es ist die Wahrheit: Ich habe unter der Stasi weniger gelitten als unter den Kellnern, Klempnern und Taxifahrern. Die Stasi konnte ich ignorieren, ich brauchte sie nicht" (Maron, Zonophobie, Kursbuch 109, 1992).
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ren und gegenüber Gefangenen durch erniedrigende Handlungsweisen aufgefallen waren. d) Unsicherheitsfaktor
Verbeamtung
Parallel zur Gauck-Uberprüfung begann 1992 die Verbeamtung der übernommenen Bediensteten. Rechtsgrundlage war die Regelung in Kap. XIX Abschn. III Ziff. 3 des Einigungsvertrages, wonach Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung auch ohne Laufbahnprüfung zu Beamten auf Probe übernommen werden konnten, wenn sie sich „auf einem Dienstposten, der nach Schwierigkeit mindestens der zu übertragenden Funktion entsprochen hat", bewährt haben. Weitere Einzelheiten wurden durch Rechtsverordnungen der Länder geregelt. In § 2 der entsprechenden Bewährungsanforderungsverordnung des Landes Brandenburg vom 20. August 1991 war u.a. vorgeschrieben, daß die Ernennung zum Beamten auf Probe nur zulässig ist, „wenn der Bewerber die Bewährungszeit absolviert und mindestens an einem Fünftel der in § 5 (derselben Rechtsverordnung) geforderten Fortbildung teilgenommen hat." Die Verbeamtung war für die meisten Bediensteten ein vorrangiges Ziel, weil sie ihnen die Sicherheit des Arbeitsplatzes bot. Die Klippen bis zur Verbeamtung, nämlich die Bewährung auf einem Dienstposten und Absolvierung der vorgeschriebenen Fortbildung erschienen ihnen jedoch hoch. Viele befürchteten insbesondere, daß sie den Anforderungen der Fortbildung nicht gewachsen sein könnten. Anfangs wurde auch der Verdacht geäußert, die Anforderungen könnten so hoch geschraubt werden, daß sie nur von einem geringen Teil der Bediensteten erfüllt werden könnten. Das vorhandene Mißtrauen ließ sich nur langsam durch die Praktizierung der Fortbildung abbauen. e) Die sogenannte
Anpassungsfortbildung
Nach § 5 Abs. 3 der bereits erwähnten Bewährungsanforderungsverordnung sollten sich die Inhalte der Fortbildung an den Anforderungen der Laufbahn ausrichten. Wörtlich hieß es weiter: „Dabei sollen ... grundlegende Kenntnisse des Verwaltungshandelns in einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat sowie Kenntnisse in Fachgebieten, die für den übertragenen Dienstposten von besonderer Bedeutung sind, vermittelt werden." Die vom Justizministerium des Landes Brandenburg entwickelte Konzeption der Fortbildung für Vollzugsbedienstete ging davon aus, daß
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- die Ausbildung der übernommenen Bediensteten den Anforderungen eines Vollzuges entsprechend den N o r m e n des Strafvollzugsgesetzes nicht genügt, - nicht wenige Bedienstete die rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafvollzugssystems der Bundesrepublik nicht verstehen, - eine weitere Gruppe von Bediensteten mit dem politischen und vollzuglichen System der D D R so verbunden waren, daß sie die Notwendigkeit von Veränderungen nicht erkannten. Diese Prämissen mögen durchaus richtig gewesen sein. Inwieweit die Fortbildung das richtige Instrument war, die vorhandenen Defizite auszugleichen und Einstellungsänderungen herbeizuführen, 5 muß indes bezweifelt werden. Einmal stand für viele Bedienstete die Absolvierung der geforderten Fortbildungsstunden als Voraussetzung ihrer Verbeamtung im Vordergrund. Zum zweiten zeigte sich, daß die Bediensteten weitaus weniger an theoretischem Grundlagenwissen als an praktischen Handlungsanweisungen interessiert waren. Und drittens war von vielen Bediensteten zu hören, der Strafvollzug der Bundesrepublik unterscheide sich von dem der ehemaligen D D R nur durch einige andere Vorschriften. Diese Haltung wurde noch verstärkt durch Kontakte zu Vollzugsbediensteten der alten Länder, die über Unzulänglichkeiten in ihren Anstalten, die hohe Belastung, Uberstunden und Personalmangel klagten. Das gipfelte dann häufig in der Formulierung, es werde „überall nur mit Wasser gekocht". Und so wurde dann die geforderte Fortbildung von vielen als überflüssig oder als Zumutung empfunden. Dabei hat möglicherweise auch eine Rolle gespielt, daß für die Fortbildung sehr bald der Begriff „Anpassungsfortbildung" gewählt worden war. Dieser Begriff weckte Widerstand: Die Bediensteten wollten sich nicht einfach nur anpassen und damit ihre Eigenständigkeit aufgeben. Dies ist besonders verständlich, weil ein Vorwurf, den man dem DDR-System machte, gerade der war, daß er die Menschen zur Anpassung erzog. So stieß die „Anpassungsfortbildung" auch bei den Bediensteten, die frei entscheiden wollten, inwieweit sie umlernen und dazulernen müssen, auf emotionalen Widerstand.
5
Z u m Zweifel an der Wirkung von Fortbildung auch Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. F r a n k f u r t am Main 1986.
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f ) Die Rolle der „Auß?auhelfer" oder Unsicherheit „Westbeamten"
der
In den ersten Jahren nach dem 3. Oktober 1990 wurden von den alten Bundesländern Hunderte von Bediensteten zum Aufbau neuer Verwaltungen in die Beitritts-Länder abgeordnet. Die Übernahme des Rechts- und Verwaltungssystems der Bundesrepublik aufgrund des Einigungsvertrages ließ zu dieser Verfahrensweise keine Alternative. Sie wurde ergänzt durch Hospitationen übernommener Bediensteter in Institutionen der alten Bundesländer. Auch im Strafvollzug wurde dieser Weg beschritten. Die sogenannten „Aufbauhelfer" standen vor einem fast unlösbaren Problem. Sie wußten, daß die alten Strukturen schnell überwunden werden mußten. Es gab keine Ubergangszeit, keine Zeit der allmählichen Anpassung. Das Strafvollzugsgesetz war in Kraft, es mußte durchgesetzt werden, nicht nur dem Buchstaben nach, sondern auch nach seinem Menschenbild. Es blieb keine Zeit für eine Auseinandersetzung mit dem vergangenen System. Den übernommenen Bediensteten wurde zugemutet, sich innerhalb kürzester Zeit auf neue Strukturen einzustellen. Dies mußte zwangsläufig für alle Beteiligten zu Problemen führen. Fast unausweichlich wurden die einen (genauer gesagt: die meisten!) wieder zu Lernenden. Die anderen (die wenigen „Helfer") wurden in die Rolle der Überlegenen, der Erfahrenen - oder wie es im Volksmund hieß, der „Besser-Wessis" - hineinversetzt. Auf die Bewältigung der sich daraus ergebenden Konflikte waren die Westbediensteten nicht oder nicht genügend vorbereitet. Engagement in der Sache reichte hierfür nicht aus. Ebenso wichtig war es, sensibel mit den Menschen umzugehen, die ihr Bezugssystem verloren hatten und jetzt in der Rolle der Lernenden - zum Teil mit großem inneren Widerstand - waren. Die Differenzierung zwischen der Ablehnung des politischen und vollzuglichen Systems einerseits und der Beurteilung der in ihm tätigen Menschen bedeutete einen Spagat, der nicht allen gelungen ist. Insoweit zeigten die „Helfer" Unsicherheiten, die die Verunsicherung der übernommenen Bediensteten noch verstärkten. II. Umstellungsschwierigkeiten des Personals auf ein neues Vollzugssystem Dünkel hatte 1993 geschrieben, „das Gelingen einer echten Strafvollzugsreform in den neuen Bundesländern wird im wesentlichen jedoch davon abhängen, ob die Bediensteten für die Inhalte eines auch in den alten Bundesländern selten verwirklichten „Be-
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handlungsvollzugs" im Sinne eines „Angebots- und Chancenvollzugs" zu gewinnen sind. Angesichts der Ausrichtung an militärischer Hierarchie und Disziplin mögen die aus dem Strafvollzug der ehemaligen D D R übernommenen Bediensteten zwar insoweit gewisse Anpassungsschwierigkeiten haben. ..., jedoch mußten auch die Beamten in den alten Bundesländern Ende der 60er Jahre umlernen, und viele tun sich dort noch heute schwer, den Resozialisierungsauftrag aufzunehmen . . , 6 Fünf Jahre danach soll der Frage nachgegangen werden, ob diese Umstellung gelungen ist. Waren unter Abschnitt I. Ängste, Unsicherheiten und Widerstände der Bediensteten im Zusammenhang mit der Umstellung auf ein neues Vollzugssystem nach der Wende beschrieben worden, so soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden, ob und inwieweit die Bediensteten aufgrund ihrer allgemeinen und beruflichen Sozialisation sowie ihrer beruflichen Erfahrungen Umstellungsprobleme hatten. Dazu ist es erforderlich, kurz auf einige wesentliche Grundannahmen des Strafvollzugssystems der D D R sowie auf die Aufgaben und Ausbildung der Vollzugsbediensteten der ehemaligen D D R einzugehen. 1. Die Bediensteten im Strafvollzugssystem der DDR In § 2 des Strafvollzugsgesetzes der D D R von 1977 war u.a. bestimmt: Die Gefangenen „sind zu erziehen, künftig die Gesetze des sozialistischen Staates einzuhalten und ihr Leben verantwortungsbewußt zu gestalten". Diese Forderung entsprach der Grundannahme des Sozialismus von der „Erziehbarkeit" des Menschen. Diese Grundannahme beherrschte nicht nur das Bildungssystem, sondern auch viele andere Bereiche. Der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen „zur sozialistischen Persönlichkeit" war letztlich Legitimation für Indoktrination, Machtausübung und Unterdrückung, zumal die Ausfüllung des Begriffs der sozialistischen Persönlichkeit allein Aufgabe der herrschenden Partei war. Dies mußte sich in dem staatlichen Teilsystem Strafvollzug, das ohnehin wie kaum ein anderes anfällig ist für Machtausübung und Unterdrückung, besonders auswirken, weil es keine Möglichkeiten rechtsstaatlicher Uberprüfungen, insbesondere durch unabhängige Gerichte, gab. Zum Programm der Erziehung schrieb § 5 des Strafvollzugsgesetzes vor: „Die Erziehung im Strafvollzug umfaßt den Einsatz zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit, staatsbürgerliche Schulung, Durch-
6
Dünkel, Strafvollzug im Übergang, Neue Kriminalpolitik 1993, S. 37 ff.
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setzung von Ordnung und Disziplin, allgemeine und berufliche Bildungsmaßnahmen sowie kulturelle und sportliche Betätigung". Entsprechend diesem Programm standen auch in der Praxis des DDRVollzuges der ökonomische Aspekt der Gefangenenarbeit sowie die bedingungslose Anpassung an Ordnung und die Einhaltung von Disziplin im Vordergrund. Was unter Erziehung im Strafvollzug zu verstehen war, wird besonders deutlich aus den Dienstvorschriften über den Vollzugsdienst vom 2. Juni 1989 und 28. Juni 1989. Dort heißt es zu den Aufgaben der Erzieher: „Der Erzieher ist in seinem Bereich verantwortlich für die sichere Verwahrung der Strafgefangenen, deren ordnungsgemäße Unterbringung, die unmittelbare Erziehung der Strafgefangenen und deren Vorbereitung auf die Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben. Dazu hat der Erzieher - das Verhalten der Strafgefangenen mit politischer Wachsamkeit zu beurteilen, eine hohe Ordnung und Disziplin zu gewährleisten, sicherheitsgefährenden Erscheinungen vorbeugend entgegenzuwirken sowie Durchsuchungen vorzunehmen, - die Erziehungssituation in seinem Bereich ständig zu beherrschen und die Ergebnisse des Erziehungsprozesses sowie die Entwicklung des Strafgefangenenkollektivs regelmäßig einzuschätzen und Schlußfolgerungen abzuleiten, «
Deutlicher kann man kaum ausdrücken, daß Erziehung in erster Linie die Forderung nach Anpassung an ein kollektives System bedeutete und selbst der Erzieher (!) vor allem die Aufgabe hatte, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Der Großteil der Bediensteten gehörte dem operativen Dienst an, deren Aufgabe den Wachdienst, den Aufsichtsdienst (in den Unterbringungseinheiten) und die Arbeitsplatzbewachung umfaßte. Zur Aufgabenerfüllung der Kräfte des operativen Dienstes heißt es in der Dienstvorschrift vom 28. Juni 1989: „Bei der Erfüllung der Aufgaben haben die Kräfte der operativen Dienste die weisungsmäßigen Bestimmungen konsequent durchzusetzen, entschlossen, mutig kompromißlos und schöpferisch zu handeln. Sie haben die sozialistische Gesetzlichkeit durchzusetzen, die Menschenwürde der Gefangenen zu achten sowie konsequent und korrekt gegenüber den Strafgefangenen aufzutreten." Diese Zitate belegen, daß im Strafvollzugssystem der DDR die Unterordnung des einzelnen unter das Kollektiv absoluten Vorrang hatte und für Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der Person kein Raum blieb. Dies betraf sowohl die Gefangenen als auch
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die Bediensteten. Insbesondere für die Angehörigen des operativen Dienstes galten absolute Gehorsamspflicht und militärische Unterordnung. Entscheidungsspielräume blieben ihnen nicht. Dementsprechend ausgestaltet war auch ihre Ausbildung. Sie umfaßte neben 30 % Marxismus/Leninismus und 37 % Fachkunde (Strafvollzugsrecht, Strafrecht, Strafprozeßrecht, Aufgaben des operativen Dienstes etc.), 23 % Einsatzausbildung (Exerzierausbildung, Militärtopographie, Nachrichtentechnik, Waffen- und Schießausbildung, Polizeitaktik) und 8 % Körperertüchtigung. Auf den Umgang mit den Gefangenen wurden sie nicht vorbereitet, dies war nicht ihre Aufgabe, Gespräche mit Gefangenen waren ihnen untersagt, soweit sie über das zur Durchführung ihrer Bewachungsfunktion Erforderliche hinausgingen. 2.
Umstellungsprobleme
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich fast zwangsläufig, welche Umstellungsprobleme die Vollzugsbediensteten zu bewältigen hatten. Bevor dies näher dargestellt wird, bedarf es einer Klarstellung. Ein nicht geringer Teil der Vollzugsbediensteten der D D R hat unabhängig von allen Anweisungen, ideologischen Vorgaben und Unterdrückungsmechanismen die Gefangenen durchaus menschlich behandelt. Dies entsprach der ohne Bezug zum DDR-Strafvollzug getroffenen Feststellung des Jubilars zur besonderen Rolle der Aufsichtsbeamten: „... seit alter Zeit funktioniert der so genau und hierarchisch geordnete Strafvollzug überhaupt nur, weil „mit Wasser gekocht" wird, weil der Stationsbeamte auch mal ein Auge zudrückt, weil Härten gemildert werden. Der Anflug von Schlamperei, der die totale Institution allein erträglich und menschlich macht, wird seit eh und je von den Beamten des AVD gewährleistet . . . 7 Daß dies in der D D R nicht nur ein Phänomen im Strafvollzug war, hat die erste Bildungsministerin des Landes Brandenburg, Marianne Birthler, in bezug auf die Pädagogik aufgezeigt: „Was uns und unsere Kinder vielleicht gerettet hat, war die unvorschriftsmäßige Menschlichkeit vieler Eltern und Lehrer und die Tatsache, daß Pädagogik im allgemeinen weniger bewirkt, als Bildungspolitiker es vermuten." 8 a) Wer gewohnt war, den Gefangenen als Objekt zu sehen und zu behandeln, mußte zwangsläufig Schwierigkeiten in einem VollBöhm, aaO. S 70. Birthler, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Band III, S. 223. 7
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zugssystem haben, das weitgehend auf freiwillige Mitarbeit und Einsichtsfähigkeit der Gefangenen setzt. Die Betonung der Individualität und der Rechte der Gefangenen, wie sie dem Strafvollzugsgesetz und von ihm geprägten Vollzugssystem der alten Bundesländer eigen ist, war den früheren DDR-Strafvollzugsbediensteten fremd. Sie entsprach nicht dem vorherrschenden Freund-Feind-Denken. Der Wegfall vieler Zwangs- und Disziplinierungsmittel nach der Wende bedeutete für die meisten Bediensteten einen erheblichen Machtverlust und sich daraus ergebende Verunsicherung. Es wurde geradezu als existentielle Bedrohung empfunden, daß Gewaltanwendung und unmittelbarer Zwang entsprechend den Regelungen des Strafvollzugsgesetzes auf die notwendigsten Fälle eingeschränkt werden mußte. Die Bediensteten wußten nicht, wie sie mit einfachen Unbotmäßigkeiten umgehen sollten. Sie fühlten sich entmachtet, weil sie den Schlagstock nicht mehr ständig bei sich tragen konnten. Als 1993 bei Einführung der neuen Dienstkleidung in der Hose die verdeckte Tasche für den Schlagstock wegfiel, empfanden dies viele Bedienstete als Ausdruck ihrer Entmachtung. Beleidigungen durch Gefangene fühlten sie sich schutzlos ausgesetzt, weil die Vorgesetzten nicht mehr wie gewohnt mit drakonischen Disziplinarmaßnahmen reagierten. Diese Bedrohungssituation wurde noch dadurch verschärft, daß die Gefangenen nach der Wende schnell die Unterdrückung der vergangenen Jahre abschüttelten, aufbegehrten und auf ihre Rechte pochten. Die Bediensteten konnten nicht verstehen, daß die Gefangenen sich beschweren können und daß auf Beschwerden reagiert wird. Dieses Wegbrechen eines haltgebenden Machtgefüges verursachte vor dem Hintergrund der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes in hohem Maße Unsicherheit. Die Folge war, daß die Bediensteten Konflikten aus dem Wege gingen, daß sie sich zurückzogen aus Angst vor eigenem Versagen. b) Eine zweite Schwierigkeit für die Bediensteten ergab sich daraus, daß die Vielzahl der eindeutigen, jede Flexibilität und Nutzung von Handlungsspielräumen ausschließenden Regelungen und Handlungsanweisungen wegfielen. Befehl und Gehorsam galten nicht mehr. Von den Bediensteten wurde plötzlich die Übernahme von Verantwortung gefordert, während in der Vergangenheit Verantwortung stets „nach oben delegiert" werden konnte. Die Bediensteten warteten vergeblich auf ausdrückliche Anweisungen und wirkten dadurch teilweise wie gelähnt.
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Ähnliche Erfahrungen hat Behr 9 für den Bereich der Polizei beschrieben. Seine Aussage, die Polizisten könnten „Gestaltungschancen nicht wahrnehmen, weil sie so etwas nie erfahren haben" und „sie klagen ihren Wunsch nach stabilen Rahmenbedingungen und Eindeutigkeit ein und wollen immer wieder wissen, woran sie sind, und zwar detailliert", kann für die ersten Jahre nach der Wende ohne weiteres auf die Bediensteten des Strafvollzuges übertragen werden. c) Scheinbar im Widerspruch zu den vorstehenden Aussagen gab es zumindest in den ersten ca. 5 Jahren nach der Wende das Phänomen der Unverbindlichkeit von Anordnungen und Vorschriften, das seine Ursachen nicht nur in der „unvorschriftsmäßigen Menschlichkeit", 10 sondern letztlich in der doppelten politischen Kultur der D D R hatte. Zumindest in den letzten Jahren der D D R klafften Ideal und Realität immer stärker auseinander. Widersprüche zwischen Ideologie und Realität wurden jedoch allenfalls in den „Unter uns-Gesprächen" 11 erörtert. Die „private Nischengesellschaft" oder „Pro-Forma-Gesellschaft" war Ausdruck der verlorengegangenen Glaubwürdigkeit des Systems. Im Berufsleben führte dies zu einer scheinbaren, rein äußerlichen Anpassung und Beachtung von Anordungen. Auch im Strafvollzug wurde der Widerspruch zwischen der Ideologie und den Forderungen des Strafvollzugsgesetzes einerseits sowie der Realität des Vollzugs-Alltags immer deutlicher. Damit verloren gesetzliche Vorgaben und Anordnungen immer mehr an Verbindlichkeit. Diese Zweifel an der Verbindlichkeit von Vorgaben und Weisungen behielten die ehemaligen DDR-Bediensteten zunächst auch nach der Wende bei. Anordnungen wurden zum Teil nur scheinbar befolgt. Dienstanweisungen wurden nach Gutdünken interpretiert. Dies war über mehrere Jahre mit eine der Ursachen von Ausbrüchen und Entweichungen. d) Eine Folge der Beschränkung der Kräfte des operativen Dienstes auf reine Uberwachungsfunktionen und des absoluten Vorrangs von Sicherheit und Ordnung auch für die Erzieher war eine große persönliche Distanz der Bediensteten zu den Gefangenen. Das menschliche Schicksal der Gefangenen hatte in der „Erziehung" allenfalls marginale Bedeutung. Diese Gefangenen-Ferne haben die
Behr, Wenn wir gewonnen hätten..., Neue Kriminalpolitik 1993, S. 33. Siehe oben Fn. 8. 11 Leonhardt, Marxismus und die Umgestaltung in der SBZ/DDR, in: EnqueteKommission, Band III, S. 42. 9
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übernommenen Bediensteten noch lange gezeigt, was noch verstärkt wurde durch mangelnde Fähigkeiten der Gesprächsführung. III. Ist die „Wende" im Strafvollzug gelungen? In Ubereinstimmung mit Dünkel 1 2 hat der Verfasser in Diskussionen stets betont, daß auch die Strafvollzugsreform in den alten Bundesländern ab Ende der 60iger Jahre einen langen Zeitraum in Anspruch genommen hat und daß das Personal gezwungen war, grundlegend umzudenken. Dieser Hinweis ist zwar richtig, der Vergleich berücksichtigt aber nicht die erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Ausgangssituation und den Begleitumständen der beiden Reformprozesse. a) Die Strafvollzugsreform in den alten Ländern war nicht mit einem Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Systems verbunden. Dieser hatte schon über 20 Jahre vorher stattgefunden, das demokratische System hatte sich bereits stabilisiert. b) Die Reform des Strafvollzuges war Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Reformwillens, der in dieser Form heute nicht mehr vorhanden ist. Sie verlief Hand in Hand mit Tendenzen der Liberalisierung des Strafrechts. Demgegenüber herrschen derzeit sowohl in der Bevölkerung - und dies besonders in den neuen Bundesländern - als auch in der rechtspolitischen Diskussion der Ruf nach schärferen Strafen und grundlegende Zweifel an der Wirksamkeit von Behandlung im Strafvollzug vor. c) Der Strafvollzug in den alten Bundesländern war bis gegen Ende der 60iger Jahre zwar rückständig konservativ geprägt und wies militär-ähnliche Züge auf. Diese Ausprägung war jedoch bei weitem nicht vergleichbar mit der autoritären Ausrichtung des DDR-Vollzuges als einem politischen Machtinstrument. d) Die Reform des Strafvollzuges in den alten Bundesländern war für das Personal nicht mit persönlichen Ängsten und Sorgen um den Arbeitsplatz verbunden. Dies alles dürfte deutlich machen, daß der Prozeß des Umdenkens für das aus dem DDR-Strafvollzug übernommene Personal um ein Vielfaches belastender ist und die persönlichen Anforderungen unvergleichlich höher sind als für die von der Strafvollzugsreform der 70iger Jahre betroffenen Bediensteten.
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Dünkel, aaO S. 43.
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Bleibt zum Schluß die Frage, ob die Bediensteten die Umstellungsschwierigkeiten überwinden konnten und inwieweit es gelungen ist, sie für die Inhalte eines Behandlungsvollzuges zu gewinnen. Eine Antwort, die einer kritischen Uberprüfung standhält, könnte nur ein Außenstehender geben, möglicherweise würde sich ein entsprechendes Forschungsprojekt empfehlen. Das sehr subjektive Urteil des Verfassers lautet: Die meisten Bediensteten haben die anfänglichen Umstellungsschwierigkeiten überwunden. Sie haben ihren festen Platz gefunden. Der Veränderungsprozeß hat insbesondere durch die neu eingestellten, gut ausgewählten und ausgebildeten Nachwuchskräfte, die zu den übernommenen Bediensteten in Konkurrenz traten, einen Schub erhalten. Die Bereitschaft der Bediensteten, an dem Prozeß der Umgestaltung des Strafvollzuges von einem kollektivistischen in ein individualistisches System mitzuwirken, das durch die Grundwerte Menschenwürde, Individualität und persönliche Freiheit geprägt wird, ist gewachsen. Viele Mitarbeiter haben allerdings ihre grundlegenden Einstellungen, Haltungen und Verhaltensmuster noch nicht verändert. Weitere Fortschritte werden sich nur erzielen lassen, wenn die Ideen eines behandlungsorientierten Strafvollzuges von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung glaubhaft und vorbehaltlos vertreten werden und wenn es gelingt, möglichst viele Mitarbeiter aktiv an den erforderlichen Veränderungsprozessen zu beteiligen. Wichtiger als Fortbildungsveranstaltungen im herkömmlichen Sinne sind daher Organisationsentwicklungsprojekte auf allen Ebenen des Justizvollzuges. In ihnen lernen die Bediensteten ein neues Rollenverständnis, das sie befähigt, auch die Gefangenen anders zu sehen und anders mit ihnen umzugehen.
Angemessene Anerkennung als Arbeitsentgelt Das Bundesverfassungsgericht zur Arbeit im Strafvollzug
HORST SCHÜLER-SPRINGORUM
1. Thema und Programm Die Formulierung des Titels ist dem Urteil entnommen, welches der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts aufgrund von vier Verfassungsbeschwerden und eines landgerichtlichen Vorlagebeschlusses (Normenkontrollverfahren) am 1. Juli 1998 gesprochen hat. Zur Entscheidung standen die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes zum Komplex „Gefangenenarbeit im Strafvollzug" einschließlich der Einbeziehung Gefangener in die gesetzliche Altersrentenversicherung. Sind es doch rund 21 Jahre, die seit Inkrafttreten des StVollzG 1977 vergangen sind, ohne daß sich an der Bemessung des Arbeitsentgelts nach Maßgabe des § 200 Abs.l StVollzG etwas geändert hätte; diese Vorschrift wurde im Wege der Normenkontrolle für mit dem Grundgesetz unvereinbar befunden und für längstens bis zum 31. Dezember 2000 anwendbar erklärt. Hingegen sind die Beschwerdeführer mit der begehrten Erstreckung der Rentenversicherung nicht durchgedrungen. Das Urteil läßt ein breites Echo erwarten, das kaum weniger kontrovers ausfallen dürfte, als die Standpunkte es waren, mit denen das Gericht sich auseinanderzusetzen hatte. In der Literatur niedergeschlagen hat sich dergleichen in der kurzen Spanne seit der Urteilsverkündung freilich noch kaum.1 Auch die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf nur einen Teil des breitgefächerten 1 Die Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe hat in ihrem Augustheft die sachlich wesentlichen Partien abgedruckt, ZfStrVo 1998, 242-249; die Zeitschrift Neue Kriminalpolitik brachte in ihrem Novemberheft nebst einer Kurzzusammenfassung des Urteils erste Kommentare von F. Dünkel und A. Neu (Neue Kriminalpolitik 4/98, 14-15 u. 16-19). Beide Periodika kündigen alsbaldige ausführliche Befassungen mit der Materie an (ZfStrVo a.a.O. S.249; Neue Kriminalpolitik a.a.O. S.42). In NJW 1998, 3337-3342 findet sich das Urteil wieder, in NStZ 1998, 478 sind die Leitsätze abgedruckt und auf S.597 Fn.52 weisen K. Kruis und R. Wehowsky auf die Verfassungswidrigkeit von § 200 Abs.l StVollzG hin.
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Urteilsinhalts. Sie klammern die Äußerungen zur Sozialversicherung gänzlich aus und müssen sich auch zum Themenkreis Arbeit und Arbeitsentgelt - als Teil der vielfältigen, vieldiskutierten und weit in die Vorzeit des Strafvollzugsgesetzes rückdatierenden Probleme des „Arbeitswesens" im Gefängnis insgesamt - beschränken. Nicht einmal die angesichts des Verdikts zu § 200 Abs.l StVollzG spannende Frage, um wie viele Punkte die künftige Eckvergütung denn nun über den gegenwärtigen 5 % liegen und um welchen Betrag das monatliche Durchschnittsentgelt sich dadurch erhöhen werde, wird hier vorrangig (prinzipiell oder realprognostisch) diskutiert werden. Im Mittelpunkt sollen vielmehr jene Äußerungen des Gerichts stehen, die das Arbeitsentgelt als etwas über das „Geld auf der Hand" Hinausgehendes beschreiben. Denn hierzu hat sich der Senat mit seinen Formulierungen einer Thematik von höchster Brisanz gestellt. Geht es doch letztlich um die Fragen, welche Rolle „Arbeit" überhaupt noch spielen wird in Anbetracht ihrer aktuellen Veränderungen als gesellschaftliches „Gut", und welche funktionalen Äquivalente den Umgang mit arbeits-entleerter Zeit künftig sollten ausfüllen können. Um den Kontrast zu veranschaulichen, braucht man nur eine Vorschrift auf sich wirken zu lassen wie in § 37 Abs.2 StVollzG, wo die vom Staat dem Gefangenen zuzuweisende Arbeit als eine „wirtschaftlich ergiebige" bezeichnet wird: eine Idylle aus vorglobaler Zeit?2 Doch das greift dem Folgenden vor. In sechs weiteren Einzelschritten sollen die Standpunkte des Urteils vom 1. Juli 1998 zu dem, was außer Geld noch Entgelt sein kann, vorgestellt und diskutiert werden. 2. Arbeitsentgelt als angemessene Anerkennung Nach Bericht und Zulässigkeitsprüfung stellt das Gericht fest, die Frage nach der Höhe des Arbeitsentgelts könne verfassungsrechtlich nur aus dem Zusammenhang mit dem vom Gesetzgeber entwickelten Resozialisierungskonzept beantwortet werden (S.49).3 Darin steckt eine doppelte Aussage. Zum einen wird die Resozia2 Die vor 1977 maßgebliche Dienst- und Vollzugsordnung beschrieb das Gleiche in heute wieder bedenkenswerter Zurückhaltung: Der Staat „sorgt dafür, daß jeder Gefangene sinnvolle und nützliche Arbeit verrichten kann" (Nr.81 Abs.l DVollzO). 3 = S.49 der schriftlichen Urteilsfassung; diese Zitierweise wird hier deshalb durchgängig gewählt, weil sie die leichteste Lokalisierung der jeweiligen Aussagen ermöglicht und auch anderwärtige Teilabdrucke der Entscheidung sich wesentlich
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lisierung der Gefangenen (einschließlich der zu lebenslanger Strafe verurteilten oder in Sicherungsverwahrung untergebrachten, S.51) als verfassungsrechtlich gebotene Zielvorgabe bekräftigt; hierfür verweist das Gericht sowohl auf die Lebach-Entscheidung (S.51) als auch - im Zusammenhang mit Art. 12 Abs.3 G G - auf die insoweit grundlegenden Beschlüsse aus den Jahren 1987 und 1990 (S.58).4 Zum anderen erscheint „Arbeitsentgelt als Mittel zur Resozialisierung" nicht etwa per se als verfassungsrechtlich geboten, sondern wird „nur" als Bestandteil der im StVollzG nun einmal konkret festgeschriebenen Mittel-Zweck-Relation der verfassungsrechtlichen Prüfung unterworfen. Der zunächst entscheidende Gewinn für diese Prüfung ist die enge Verknüpfung von Arbeit, Arbeitspflicht 5 und Arbeitsentgelt, der Materien also der §§ 37 bis 43 StVollzG, 6 und zwar nicht nur untereinander, sondern darüber hinaus - verstanden als ein komplexes Resozialisierungsmittel unter anderen - mit allen weiteren, dem gleichen Ziel dienenden Vorkehrungen des StVollzG im gesetzgeberischen Gesamtkonzept. In diesem Gesamtkonzept „wirkt" Pflichtarbeit nicht nur deshalb zielführend, weil sie vergütet wird, und die Vergütung nicht nur deshalb, weil sie die saure Pflicht versüßt; vielmehr bewirken beide - allenfalls - etwas als wichtige Bestandteile eben jener auf ein „künftiges" Leben ohne Straftaten (§ 2 S.l StVollzG) gerichteten vollzuglichen Gesamtanstrengung. Von hier ist es nur ein logischer Schritt zu folgenden Kernsätzen: Pflichtarbeit in diesem Sinne ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit Anerkennung findet. Diese
auf die Ausführungen zur Begründetheit der div. Rechtsmittel, auf die sich das Urteil bezieht, beschränken dürften (S.49-76). Kursivpassagen im Text sind wörtliche Zitate. 4 Lebach: BVerfGE 35, 202; Entsch. v. 13. 01. 1987: BVerfGE 74, 102 = NStZ 1987, 275; Entsch. v. 14. 11. 1990: BVerfGE 83, 119 = NStZ 1991,181. 5 Das Urteil spricht bei § 41 StVollzG von „Pflichtarbeit" und hält die geltende Arbeitspflicht als Teil des gesetzlichen Gesamtkonzeptes für verfassungskonform (S.60 f). 6 Aus §§ 37, 41, 43 StVollzG ergibt sich als Einzugsbereich für den in Rede stehenden Entgelt-Anspruch jede nach § 37 Abs.2 u. 4, § 41 Abs.l zugewiesene Arbeit, „Hausarbeit" oder sonstige Beschäftigung. Bildungsmaßnahmen nach § 37 Abs.3 gehören nicht dazu. O b auch eine arbeitstherapeutische Beschäftigung nach § 37 Abs.5 ausnahmsweise „zum Urteil" gehört (§ 43 Abs.3), bleibt offen (S.53). Und nicht dazu gehören die Gefangenen, die nach keiner der o.a. Kategorien beschäftigt, also arbeitslos sind. Ihre Quote betrug 1996 im Schnitt 36 %; da diese sich allerdings um alle in schulischen und aus- oder weiterbildenden Maßnahmen Beschäftigten (§ 37 Abs.3, § 38 StVollzG) vermindert, erscheint qua Arbeitslosigkeit die Realität „drinnen" der Realität „draußen" mehr oder weniger angeglichen (und in einzelnen Bundesländern „drinnen" sogar günstiger als „draußen").
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Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Denn Anerkennung ist nicht nur ein monetäres Konzept. Die moderne Gesellschaft ist geradezu darauf angewiesen, daß ... auch zugewiesene Arbeit andere als finanzielle Formen der Anerkennung findet. Insgesamt aber muß die Anerkennung angemessen sein (S.52, 53). Man mag diese Aussagen als ebenso aktuell wie zukunftsweisend einschätzen, und sie sind es ja auch. Bestimmte praktische Erwartungen mit ihnen zu verknüpfen, stößt indessen auf Hindernisse, die nicht im Inhalt jener Aussagen selbst liegen, sondern in den immer größer werdenden qualitativen Unterschieden zwischen der „gesellschaftlichen Arbeitswelt" und der „Arbeitswelt im Gefängnis". Das bedarf keiner weiteren Erläuterung angesichts aller Informationen, die uns die Massenmedien zu den Themen Wirtschaft und Arbeit täglich präsentieren. Sehen wir also zu, wie das Gericht die (angemessene) „Anerkennung" als Synonym für „Entgelt" näher umreißt: Sie muß geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben ... vor Augen zu führen. Denn Arbeit im Strafvollzug bereitet vor allem dann auf das Erwerbsleben in Freiheit vor, wenn sie solchermaßen anerkannt wird (S.52, 53). Hier klingt klassische Vollzugslehre an, nämlich jener ebenso oft vermutete wie widerlegte Zusammenhang zwischen Arbeiten-Uben im Gefängnis und Arbeiten-Können in Freiheit;7 ein Theorem, das allerdings kaum noch streitwürdig erscheint angesichts der notorischen Schwierigkeiten, als Strafentlassener im „Erwerbsleben in Freiheit" Fuß zu fassen.8 Indessen könnte der im Vollzug vermittelte „Wert regelmäßiger Arbeit" stellvertretend auch für andere Befähigungen stehen, mit dem Leben nach der Entlassung straffrei zurechtzukommen. Dann gewinnt die im Entgelt zum Ausdruck kommende Anerkennung „für" Pflichtarbeit im Vollzug einen weiteren, doppelten Sinn: Sie würde erlebt als Gratifikation „für" zurückliegende Arbeitsleistungen, und sie könnte sich eben deshalb als nützlich erweisen „für" die Fitness, später eigenverantwortlich und straffrei zu leben. Mithin kommt es darauf an, vor allem die nicht-monetäre „Anerkennung" genauer generell zu beschreiben und möglichst speziell zu exemplifizieren. Als inhaltliches Kriterium führt das Gericht den für den Gefangenen greifbaren Vorteil ein (S.52 pp), der geeignet H. Schüler-Springorum, Strafvollzug im Ubergang, Göttingen 1969, 227 ff. Aufgrund empirischer Erhebungen „läßt sich ... schlußfolgern, daß die entlassenen Gefangenen am ersten Arbeitsmarkt regelmäßig so gut wie keine Chance haben": F. Dünkel & D. van Zyl Smit, Arbeit im Strafvollzug - ein internationaler Vergleich, in: H.-J. Albrecht et ai, Hg., Festschrift für G. Kaiser, Berlin 1998,1161-1199 (1171). 7 8
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sein müsse, eben jenen funktionellen Zusammenhang zwischen Gefangenenarbeit und Resozialisierung (S.63) herzustellen; und mehr läßt sich in der Tat wohl kaum hineindefinieren, ohne in Tautologien zu verfallen. Daß der greifbarste aller Vorteil das „Geld auf der Hand" ist, steht fest seit eh und je (S.53).9 Also kommt es auf die Exempel für andere Vorteile an. 3. Benannte und unbenannte nicht-monetäre Arbeitsentgelte Die Beispiele, die das Gericht selber in diesem Zusammenhang aufführt, seien hier als „benannte" vorgestellt. Das erste ist der Aufbau einer sozialversicherungsrechtlichen Anwartschaft (S.53, 54). Hier wäre etwa an die Fortführung einer bereits bestehenden gesetzlichen Krankenversicherung zu denken, bei der das Sozialamt ggf. die Kosten für die Weiterversicherung trägt.10 Die geld-werte Leistung des Vollzuges bestünde dann wohl darin, daß er seiner Beratungsaufgabe nach § 72 Abs.2 StVollzG nachkommt, was je nach Gelingen eine beachtliche Kosten-Nutzen-Relation erbringen kann. Am „resozialisierendsten" wäre insoweit gewiß die Fortführung der Rentenversicherung, die aber, wie erwähnt, gerade kein Verfassungsgebot darstellt. Daß eine Einbeziehung der Gefangenen in den Schutz der sozialen Sicherungssysteme deshalb nicht etwa ausgeschlossen ist, sagt das Urteil immerhin ausdrücklich: Eine solche Entscheidung kann für bestimmte Gefangene sinnvoll sein. Das Grundgesetz zwingt allerdings nicht... (S.56). Die beiden nächsten ohne nähere Illustration benannten Beispiele sind Hilfen zur Schuldentilgung und neuartige Formen der Anerkennung von Pflichtarbeit - auch unter Einbeziehung privater Initiativen (S.54). Auch hier läßt sich an eine besonders qualifizierte Wahrnehmung der Pflichtaufgabe des Vollzuges denken, den Gefangenen in seinem „Bemühen" zu unterstützen, „einen durch seine Straftat verursachten Schaden zu regeln" (§ 73 StVollzG). Und die gezielt einbezogenen „privaten Initiativen" könnten dann ein privater Trägerverein, eine Stiftung o.ä. sein, die durch Verhandlun-
9 In diesem Zusammenhang erachtet das Gericht sowohl das System einer Einheitsvergütung mit Differenzierungen je nach Arbeitsleistung für „zulässig" (vgl. § 43 Abs.2 StVollzG und die dazugehörige Strafvollzugsvergütungsordnung) wie auch ein System je nach Art des Beschäftigungsverhältnisses individuell abgestufter Zeitoder Leistungslohngruppen, das allerdings noch entsprechender Regelungen bedürfte (S.54, 55). 10 Vgl. Calliess/Müller-Dietz, Komm. z. StVollzG, 7. Aufl., München 1998, § 193 Rdn.3.
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gen mit Gläubigern und die Vergabe von Darlehen dazu helfen, daß die durchschnittlich in die Tausende gehende Schuldenbelastung des Gefangenen dem Vollzugsziel weniger schadet. 11 Die letzte im Urteil ausdrücklich genannte Möglichkeit ist, eine angemessene Anerkennung von Arbeit dadurch vorzusehen, daß der Gefangene - soweit general- oder spezialpräventive Gründe nicht entgegenstehen - durch Arbeit seine Haftzeit verkürzen (,xgood time") oder sonst erleichtern kann (S.54). Das amerikanische goodtime-Modell dürfte für die meisten Gefangenen die wohl reizvollste Anerkennung im hier diskutierten Sinn darstellen und verdient schon deshalb, ebenso gründlich wie „wohlwollend" und „nachhaltig" geprüft zu werden. Es läßt sich freilich, wie schon der Vorbehalt von General- und Spezialprävention anzeigt, in unser Recht, das nur Entlassung zur Bewährung oder Vollverbüßung kennt, nicht ohne weiteres übernehmen, sondern müßte über das StVollzG hinaus auch in StGB und StPO eigens eingebaut werden. Andererseits hat der Justizminister von Baden-Württemberg gerade diesen Vorschlag bereits als eine der Lohn-Anhebung überlegene Alternative begrüßt. 12 Mit dem unscheinbaren Schlußzusatz im obigen Zitat, oder sonst erleichtern kann, kommt überdies eine theoretisch unbegrenzte Vielfalt „unbenannter" Varianten nicht-monetärer Anerkennungen von Pflichtarbeit ins Spiel. Phantasie ist offenbar gefragt, und das Gericht regt sie wiederholt durch Hinweise darauf an, daß hier Gestaltungsmacht bestehe (S.56), ein weiter Gestaltungsraum eröffnet (S.52) oder ein weiter Einschätzungsraum und erheblicher Bewertungsraum gegeben sei (S.54, 57). Deshalb sollen, wenigstens in Frageform, auch hier einige wenige Produkte stimulierter Phantasie zur Sprache kommen: Ein Gefangener schwärmt für einen Fußball-Star; die Anstaltsleitung könnte versuchen, dessen Besuch im Gefängnis zu realisieren? Oder: Ein Gefangener möchte mit einiger Regelmäßigkeit mit seiner nach Kanada ausgewanderten Familie in mündlichem = Telefonkontakt bleiben; die Anstalt könnte zusagen, bei guter Pflichtarbeit diese Gespräche kostenfrei zu ermöglichen? Oder: Ein Gefangener möchte einen dreimonatigen Fernkurs in „Business English" absolvieren, kann aber weder die Kurskosten noch die Kursmate-
11 M. Walter, Strafvollzug, Stuttgart etc. 1991, Rdn.455, 456; zu den „bestehenden Resozialisierungsfonds" pp. vgl. Calliess/Müller-Dietz a.a.O. (Fn.10) § 73 Rdn.3 m.w.Nachw. 12 Blätter für Strafvollzugskunde 6/98 S.5.
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rialien bezahlen: Die Anstalt könnte auch dies zu einem „greifbaren Vorteil" dank Arbeitsleistungen machen? Oder: Die Versorgung mit Zahnersatz gehört bekanntlich zur umfänglich umstrittenen und heute eher restriktiv gehandhabten Gesundheitsfürsorge im Vollzug, weswegen ein Gefangener sich - indes vergeblich - um eine Prothese bemüht hatte, um eine seinem Erscheinungsbild ziemlich abträgliche Zahnlücke zu schließen: Sollte es nicht möglich sein, eine solche Leistung auch bei Fehlen eines Anspruchs als nicht-monetäre Anerkennung vorzusehen? Wie schon die im Urteil benannten Exempel sich vorwiegend den Bestimmungen des StVollzG über die im Vollzug zu leistende Soziale Hilfe (§§ 71-75) zuordnen ließen, knüpfen auch die unbenannten an bestimmte Regelungsmaterien des StVollzG an: an Besuchsverkehr (§§ 24-27) und Telefonverkehr (§ 32), an Beschaffung und Besitz von Gegenständen für die Freizeitbeschäftigung (§70) sowie Art und Umfang zahnärztlicher Behandlung (§§ 61, 62). Insoweit dort individuelle Ansprüche der Gefangenen formuliert sind, stellen die Phantasie-Beispiele allerdings Gewährungen des Vollzuges dar, die über das jeweils verbriefte Minimum hinausgehen. Als eine Art Strukturprinzip ließe sich verallgemeinern, daß als nicht-monetäre Arbeitsentgelte sich nicht zuletzt eben solche Leistungen des Vollzuges anbieten, - Leistungen nämlich, die bei den subjektiven Gefangenenrechten zwar ansetzen, die aber das den Vollzugsalltag oft beherrschende Gegeneinander von Anspruchsdenken der Gefangenen und Abwehrdenken der „im Vollzug Tätigen" (§ 154 Abs.l StVollzG) transzendieren. Der damit eröffnete Spielraum für zusätzliche Gratifikationen erweitert sich abermals um ein Vielfaches, sobald Gefangene den einen oder anderen Lockerungsstatus erlangt haben, wie er in § 11 Abs.2 (§ 13 Abs.l S.2) StVollzG allgemein definiert ist.
4. Risiken und Nebenwirkungen Das Konzept der nicht-monetären Vergütung wird, was vorauszusagen nicht einmal gewagt erscheint, noch viel Kritik und Zweifel auslösen. Dabei dürften Bedenken, ob denn dergleichen überhaupt „praktikabel" sei, im Vordergrund stehen. Diese Frage sei hier nicht näher verfolgt, weil sie letztlich nur durch Versuch und Irrtum beantwortbar ist. "Wird hingegen eine angebliche Impraktikabilität sozusagen a priori eingewendet, so läuft das Argument stets auf ein Festhalten an der Praxis des status quo hinaus, auf einen Ausgangspunkt also, den das genannte Konzept ja gerade zu verlassen anregt.
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Gefahren drohen solcher Innovation, ihre Praktizierung einmal unterstellt, vielmehr von anderer Seite. Die Suche nach Beispielen für mögliche nicht-monetäre Anerkennungen geleisteter Pflichtarbeit hat sich soeben als nicht einfach, aber durchaus nicht vergeblich erwiesen. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Beispiele - die nicht benannten zumal - eine gewisse (funktionelle) Nähe zu den „Vergünstigungen" zeigen, die den Vollzug vor 1977 weitgehend prägten. 13 Vergünstigungen aber sind, so wie alle Gewährungen über den Zuschnitt des „Normalvollzuges" hinaus, immer auch Instrumente der Disziplinierung. Je mehr über das „Geld auf der Hand" hinausgehende Leistungsentgelte der Vollzug sich einfallen läßt, desto mehr Möglichkeiten werden eröffnet, im Vorfeld formeller Disziplinarmaßnahmen (§§ 102 ff StVollzG) durch Nichtgewährungen oder Rücknahmen Gefangene in der Spur zu halten, sie „spuren" zu lassen. Der Einwand, daß auf nicht-monetäre Surrogate für das heutige Arbeitsentgelt ja ein Anspruch wie der auf Entgelt bestehe, der gegen Interessen an Ordnung und Sicherheit immun sei, liegt nahe, beseitigt aber nicht praktisch das hier angesprochene Risiko.14 Ahnliches wird zu reflektieren sein, wenn es um „good time" geht. DerAusdruck ist plastisch genug: Wenn die Verbüßung von Haft im Jargon „doing time" genannt wird, dann bedeutet „good work done = less time to do". Im Kontext des hier besprochenen Urteils ist bedeutsam, daß nicht allgemeines Wohlverhalten, sondern gerade die vollzugliche Arbeit zur Haftverkürzung führen soll. In der Logik einer solchen Strukur des „wenn-dann" liegt die Versuchung, das „Wenn" nicht nur mit überhaupt geleisteter, sondern mit besonders gut geleisteter Pflichtarbeit zu verbinden und deren Fehlen zu sanktionieren. So dürfte sich die vom Gericht von Verfassungs wegen beanstandete Praxis des „unechten Freigangs" zum Teil auch aus ihren disziplinierenden Ingredienzien erklären, ebenso wie die gleichfalls kritisierte Reduktion des „echten Freigangs" (§ 39 Abs.l StVollzG) auf seltene Ausnahmefälle (S.66). „Good time" ist aber illustrativ in noch einem weiteren Sinn. Die Zeit, die der Gefangene für die Verrichtung guter Arbeit geopfert hat, wird nämlich belohnt durch Zeit, die ihn von (jedenfalls als 13 Nr.62 DVollzO enthielt bis 1969 einen (offenen) Katalog, in dem u.a. die „Aushändigung weiterer Lichtbilder nahestehender Personen", die „Verwendung eigenen Papiers" und eine „erweiterte Besuchserlaubnis" figurierten. 14 D e lege lata ist immerhin auch der „Entzug der zugewiesenen Arbeit oder Beschäftigung bis zu vier Wochen unter Wegfall der ... Bezüge" eine zulässige Disziplinarmaßnahme, § 103 Abs.l Nr.7 StVollzG.
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Gefangener zu leistender) Arbeit befreit (Haftverkürzung). 15 Das heißt, die nichtmonetäre Anerkennung geleisteter Pflichtarbeit besteht in eben ihrer Reduktion. Das scheint auf den ersten Blick nur schwer vereinbar mit den Erwartungen an die resozialisierende Kraft der Arbeit, von denen auch das Urteil ausgeht, wenn dort von ihrem funktionellen Zusammenhang mit der Resozialisierung die Rede ist, nämlich als einem Weg, um Fähigkeiten zur Schaffung einer Grundlage für ein straffreies Leben in Freiheit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten und zu fördern (§37 Abs. 1 StVollzG) (S.63, 61). Bei einem zweiten Hinsehen relativiert sich jener Widerspruch allerdings. Wenn Arbeit einen ökonomischen Wert darstellt und darum geht es ja die ganze Zeit - , dann kann sich dieser Wert durchaus im Genuß von Zeit repräsentieren, die gerade nicht mit Arbeit gefüllt ist. Der alltägliche Einsatz von angesparten Arbeitserträgnissen für einen solchen Genuß weist darauf ebenso hin wie der Genuß „verdienten" Urlaubs. So gesehen, wäre sogar an zusätzliche Freistellungen von der Arbeitspflicht (§ 42 StVollzG) als einen Fall nichtmonetärer Anerkennung zu denken, - eine inneranstaltliche „good-time" -Parallele sozusagen. Pflichtarbeit im Gefängnis ist eine vom Gefangenen persönlich zu erbringende Leistung. Sie ist und bleibt nun einmal durch Dritte nicht vertretbar. Eben deshalb ist sie, wenngleich in sehr reduziertem Sinn, 16 „freiwillig": Sie verleiht dem Gefangenen die Macht der Verweigerung, gegen die der Vollzug - über eine theoretisch beliebig wiederholbare disziplinarische Ahndung hinaus (§ 102 Abs.l StVollzG) - machtlos ist. Ohne diesen Aspekt, d.h. wenn nur und allein als ausnahmsweise legitimierter Zwang verstanden (Art. 12 Abs.3 GG), wäre Gefangenenarbeit als Mittel zum Vollzugsziel wahrscheinlich noch weniger wert als ohnehin schon. Verstanden aber als bis zu einem gewissen Grad „verhandelbare" Leistung,
15 In den USA können bzw. konnten Gefangene für Arbeitstage im Gefängnis eine bestimmte Zahl von Tagen Straferlaß erreichen (in Texas z.B. für einen Tag geleisteter Arbeit einen halben Tag Haftreduktion), vgl. den US-Landesbericht von R.H.C. Teske,Jr., & Y. Kim in: D. van ZylSmit & F. Dünkel, Eds., Imprisonment Today and Tomorrow, Deventer / Boston (Kluwer) 1991, S.684; mittlerweile wurde allerdings „in zahlreichen Bundesstaaten der USA das System der Good-time-Regelungen abgeschafft", F. Dünkel & D. van ZylSmit (wie oben Fn.8), 1186. 16 In nicht einmal reduziertem Sinne wird das deutlich, wo die Ableistung von Pflichtarbeit in einem Unternehmerbetrieb die Zustimmung des Gefangenen voraussetzt, § 41 Abs.3 StVollzG; auf die Aussagen des Urteils zu dieser Bestimmung und zur Kritik der ILO an ihrer (noch-)Nichtgeltung kann hier nicht eingegangen werden.
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müßte ihre Anerkennung durch nichtmonetäre Gegen-Leistungen auch den Gefangenen durchaus vermittelbar sein.
5. Kosten-Fragen Nichtmonetäre Anerkennungen wären keine Alternative zum Arbeitsentgelt, wenn nicht auch sie den Staat etwas kosten würden. Das Urteil des Verfassungsgerichts geht ersichtlich davon aus. Doch während die mit Anhebung eines jeden Prozentpunktes i.S.v. § 200 Abs.l StVollzG ausgelösten Mehrkosten immerhin berechenbar erscheinen, 17 ergeben sich in unserem Zusammenhang Probleme, die hier nach ihrer Art nur angedeutet und nach ihrer Zahl nicht abgeschätzt werden können. Im Mittelpunkt dürften Fragen der Kostenberechnung und ihrer Verrechnung stehen. Denn während „good-time" -Modelle, die dem Staat ja eher Ersparnisse als Aufwendungen bescheren, sich noch relativ einfach kalkulieren lassen, kommen bei den anderen hier diskutierten Beispielen die unterschiedlichsten Ansätze zum Zuge. So werden Arbeitsstunden von Bediensteten zu berechnen sein, die auf die Realisierung nichtfinanzieller „greifbarer Vorteile" entfallen. Möglicherweise werden diese Bediensteten im Hinblick auf sachkundige Sozialberatung zu qualifizieren sein, oder aber es muß anstaltsexterne Sachkunde rekrutiert werden. Während die ausnahmsweise Fortführung einer Rentenversicherung (s.o. bei 3.) jedenfalls leichter berechenbar ist als die eben dadurch ersparte Belastung anderer Haushaltsressorts mit hypothetischen Auffangleistungen, zeitigt das Beispiel „Hilfen zur Schuldentilgung" ggf. breiter streuende Konsequenzen: Es könnte sich bei häufiger Inanspruchnahme empfehlen, nicht nur vorhandene Mitarbeiter hierauf zu spezialisieren, sondern eine spezialisierte Fachkraft neu einzustellen, vielleicht sogar einen entsprechenden (staatlichen / privaten?) Fonds einzurichten - und warum nicht auch, ihn aus staatlichen Mitteln zu speisen oder mitzuspeisen? Andere Beispiele schließlich erfordern die Verfügbarkeit eher von Sach- als von Personalmitteln, dies je nach Anlaß in höchst unterschiedlicher Höhe, was alsbald einen neuen Sammeletat im Anstaltshaushalt bedingen wird, solange nicht hier und da sogar eine (Um-)Baumaßnahme nötig wird, um alledem gerecht zu werden. Wenn alles dies als staatliche Lohnersatzleistungen in Betracht kommt, liegt der Gedanke nahe, im Gegenzug das Gesamt der staat-
17
A. Neu, Der Gesetzgeber bleibt gefragt, in: Neue Kriminalpolitik 4/1998, 16-19.
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liehen Leistungen, die außer dem Arbeitsentgelt schon jetzt nach dem StVollzG dem Gefangenen zugute kommen, in den EntgeltBegriff einzubeziehen, was eine Erhöhung der Bemessungsgrundlage nach § 200 Abs.l entbehrlich machen könne. Das haben sich natürlich auch die im Verfahren vertretenen Repräsentanten von Bund und Ländern einfallen lassen. Das Gericht ist dem jedoch nicht gefolgt: Weder ärztliche Leistungen und Krankenversorgung noch die Bereitstellung von Einrichtungen und Leistungen der Freizeitgestaltung oder die vom Staat zu zahlenden erhöhten Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung könnten als Ausgleich für das (inzwischen) verfassungswidrig niedrig bemessene Arbeitsentgelt akzeptiert werden. Denn alle Vorteile solcher Art würden dem Gefangenen nicht gerade aufgrund seines Arbeitseinsatzes gewährt, da sie nicht in irgendeinem formalisierten Bezug zu der konkreten Arbeitsleistung stünden, könnten sie folgerichtig auch nicht als deren Anerkennung gewertet werden (S.71, 72). In der Konsequenz dieser konsequenten Argumentation liegt freilich ein weiteres Problem des Umgangs mit „Kosten". Als „Verrechnung" nämlich ist die Aufgabe gestellt, nichtmonetäre Anerkennungen so zu quantifizieren, daß Stunden und Tage geleisteter Pflichtarbeit zu ihnen in Relation gesetzt werden können, - ähnlich wie dort, wo Art.293 Abs.l EGStGB praktiziert wird, Ersatzfreiheitsstrafen durch Zeiteinheiten gemeinnütziger Arbeit „erledigt" werden. Hier überzeugende Aqui-Valente zu finden, wird um so schwieriger, je bunter die Palette gewährter nichtmonetärer Vorteile tatsächlich ausfällt. Genau deshalb droht dann wieder die Gefahr, den ganzen Ansatz prinzipiell zu desavouieren, nunmehr durch die (nur allzu) probate Berufung auf die Postulate einer Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung. Auf sie hin ist jedoch unser Thema als solches nicht orientiert, denn (commutative) Gerechtigkeit 18 wird sich im Einzugsbereich unseres Themas nie verwirklichen lassen. Reiz und Stärke der hier diskutierten Erweiterung des Entgeltbegriffs liegen vielmehr gerade in den Möglichkeiten, geld-werte aber nicht geldliche Anerkennungen zu individualisieren. Lohn ist auf Gleichheit angelegt, Lob auf die Person.
18 Vgl. dazu A. Kaufmann, S.148 ff.
G r u n d p r o b l e m e der Rechtsphilosophie, München 1994,
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6. Das kommende Gesetz Jetzt muß es endlich zur Sprache kommen: D a § 200 Abs.l StVollzG mit dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot unvereinbar ist, trifft den Gesetzgeber die Pflicht..., umgehend tätig zu werden (S.73). Per Gesetz also wird das Arbeitsentgelt für Gefangene verfassungskonform zu regeln sein, sollen nicht ab dem 1. Januar 2001 die zuständigen Gerichte über die Höhe eines verfassungskonformen Arbeitsentgelts befinden (S.5, 73). Das wird zuvörderst dazu führen müssen, daß der Gefangene mehr „Geld auf der Hand" hat, am simpelsten also dadurch, daß das Wort „fünf" in § 200 Abs.l durch ein angemessen höheres Zahlwort ersetzt wird. 19 Ein bloßes Aufstocken der derzeitigen Vergütung allein durch nichtmonetäre Anerkennungen und Vorteile, wie sie den Gegenstand dieses Beitrags bilden, scheidet schon deshalb aus, weil es zum Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit gehört, nur oder hauptsächlich finanziell entgolten zu werden (Leitsatz 2.b) u. S.54). Entgelt-Formen im Sinne unseres Titels stellen demgegenüber, auch wenn sie das wichtigste Novum der Verfassungsrechtsprechung zum Thema sind, „nur" über das Finanzielle hinausgehende Optionen dar; Optionen allerdings, die gleichfalls gesetzlich zu regeln sind. Denn die oben (unter 3.) zitierten Aussagen des Gerichts zu den vorgegebenen weiten Spielräumen, nichtmonetäre Anerkennungen zu bewerten und zu gestalten, sind im Zweifel sämtlich auf das Tätigwerden des Gesetzgebers gemünzt. Daß solche Regelungen mehr werden enthalten müssen als bloß punktuelle textliche Änderungen des StVollzG, versteht sich anbetrachts des hohen Grades an Individualisierungen, die mit nichtmonetären Leistungen regelmäßig verbunden sind, von selbst. Zudem wäre es offensichtlich verfehlt, sie deshalb für einer gesetzlichen Regelung nicht wirklich zugänglich zu halten. Denn trotz der breiten inhaltlichen Varianz schon der wenigen hier zuvor diskutierten Beispiele wird deren generalisierende Gestaltung prinzipiell der Gesetzestechnik folgen können, die dem StVollzG auch sonst zugrunde liegt: Alle die Rechtsstellung des Gefangenen betreffenden Vorschriften stellen dort Kombinationen dar, die je eine allgemeine Aussage (Recht auf Besuche, Schriftwechsel, Paketempfang ..., staatliche Pflichten
19 Ein „Hauptgewinn" einer substantiellen Anhebung der geltenden Bemessungsgrundlage wäre die Möglichkeit, auch die notorisch prekäre Finanzlage Gefangener bei der Entlassung (s.o. F n . l l ) substantiell zu verbessern; zum Streitstand über das (i.d.R. viel zu geringe) Überbrückungsgeld nach § 51 StVollzG vgl. BT-Drucksache 13/9329 vom 02. 12. 97S.15.
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inbezug auf Soziale Hilfe, Gestaltung der Freizeit...) in unterschiedlicher Weise verknüpfen mit unbestimmten Rechtsbegriffen, entsprechenden Beurteilungsspielräumen oder den Vollzugsbehörden eingeräumtem Rechtsfolgeermessen (vgl. S.51 f). Die Tätigkeit des Gesetzgebers zur generalisierenden Regelung individualisierender nichtmonetärer Entgelt-Formen für Pflichtarbeit dürfte sich also in durchaus vertrauten Klängen niederschlagen, - nur in höherer Tonart sozusagen.
7. Ein anderes Resozialisierungskonzept? Der Gesetzgeber, so heißt es gegen Ende des Urteils, wird insbesondere ... zu entscheiden haben, ob und in welcher Weise das bestehende Resozialisierungskonzept mit den Forderungen der Verfassung in Einklang gebracht werden kann oder ob zu einem anderen Resozialisierungskonzept übergegangen werden soll (S.74). Das klingt so, als stünde nach allem Gesagten nicht nur die Variante der nichtmonetären Anerkennung von geleisteter Arbeit zur Disposition, sondern der ganze „funktionelle Zusammenhang" zwischen Arbeitspflicht und Resozialisierung überhaupt. Sollte damit ein Ende der zentralen Rolle eingeläutet sein, die der Arbeit als „Grundlage eines ... wirksamen Strafvollzuges" (Nr.80 der DVollzO vor 1977) historisch, theoretisch und praktisch zugeschrieben wird? Vielleicht nicht „einläuten", aber als Möglichkeit bewußt machen will das Verfassungsgericht eine solche Entwicklung zweifellos. Der zitierte Satz setzt nur eine frühere Feststellung zwingend fort, wonach die Verfassung den Gesetzgeber nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festlegt: Er kann unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisse, namentlich auf den Gebieten der Anthropologie, Kriminologie, Sozialtherapie und Ökonomie, zu einer Regelung gelangen... (S.52). Mit der anthropologischen Bedeutung der Arbeit für die existentielle Befindlichkeit des Menschen begründet Verfassungsrichter Konrad Kruis denn auch seine abweichende Meinung zum Urteil und plädiert für eine überzeugendere Anerkennung geleisteter Arbeit gerade durch ein entscheidend höheres finanzielles Entgelt. Außer Streit und somit nicht disponibel ist dem Senat allein das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot (S.52), dem die „Sozialtherapie" die Aufnahme in die vier genannten Grundlagendisziplinen wohl mitverdankt. Es allein bindet den Gesetzgeber auch dann, wenn er weder dem abweichenden Votum noch den (ja nur quantitativ dahinter zurückbleibenden) Festlegungen des Urteils im übrigen
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folgen wollte: eben im Sinne eines substantiell „anderen Resozialisierungskonzepts". Dies gedacht und gesagt zu haben, gehört m.E. gleichfalls zu den richtungweisenden Verdiensten der Entscheidung. Denn der funktionelle Zusammenhang zwischen Resozialisierung als gebotener Zielvorgabe und vollzuglichem „Arbeitswesen" stammt nun einmal aus der Gesamthistorie des Strafvollzugs und gehört somit in die eingangs (unter 1.) erwähnte „vorglobale Zeit". Wenn nicht alle Zeichen trügen, werden die heutigen „allgemeinen Lebensverhältnisse" (§ 3 Abs.l StVollzG) jenen Zusammenhang in dem Maße immer mehr und weiter auflösen, in dem die lohnbezogene Arbeit selbst ihre frühere Identität einbüßt. Welche Gestalt sie annehmen wird (um nur ein Beispiel zu nennen: ob eine „Anerkennung" durch Vergabe von share holder values o.ä. frühere Formen der Vergütung in „Deputaten" wird Wiederaufleben lassen), kann vorerst nur Gegenstand von Spekulationen sein. Sicher aber wird Arbeit als „humane" Ausfüllung menschlicher Lebenszeit ihren traditionellen Sinn verlieren und damit die Frage, was an ihre Stelle treten könnte, immer dringlicher machen. 2 0 Wenn aber die vorgegebene Grundannahme, daß die sinnstiftende Anerkennung geleisteter Arbeit „ausgerechnet" in einer tätigkeitsbezogenen Gegenleistung bestehe, nicht mehr stimmt, entfällt auch die Tauglichkeit vollzuglicher Arbeitspflicht und Pflichtarbeit als Mittel zum Zweck der Resozialisierung. In der Tat, ein neues Konzept müßte dann her. „Es gibt viel zu regeln, fangt schon 'mal an!" 2 1
20 Für zwei überaus entgegengesetzte Positionen zu diesem Thema vgl. V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997, einerseits und den mit „Perspektiven der Erwerbsarbeit" überschriebenen Bericht von Ζ Zofka über die Ergebnisse der Arbeit der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission, in: Der Staatsbürger / Beilage der Bayerischen Staatszeitung, Nr.2 (Februar 1998), 1-6, andererseits; für den Versuch einer politikwissenschaftlichen Einschätzung der Folgen reiner „Ökonomik" für den Arbeitsmarkt vgl. H. Schüler-Springorum, Wider den Sachzwang, München 1997, S.13 ff, 24 ff, 52 ff. 21 So das Fazit eines kritischen Kommentars zum Urteil des Verfassungsgerichts in: „Ulmer Echo", Gefangenenmagazin aus der JVA Düsseldorf / Ulmer Höh', Nr.3/98, 4-7(7).
3 Der Strafvollzug als Gegenstand empirischer Forschung
Strafvollzug und Empirie JÖRG-MARTIN JEHLE
I. Einführung Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 sind Eingriffe im Bereich der Freiheitsstrafen und stationären Maßregeln vorgenommen worden, die möglicherweise tiefgehende Auswirkungen auf den Strafund Maßregelvollzug entfalten. Insbesondere wurden die prognostischen Anforderungen an die vorzeitige Entlassung aus dem Maßregelvollzug angehoben, die Erprobungsklausel durch eine Verantwortungsklausel bei der Strafrestaussetzung ersetzt und der Sicherheitsaspekt hier und bei der Gutachtenfrage nach § 454 StPO gesetzgeberisch hervorgehoben1. Nimmt man die Verstärkung der Kontrolle bei den ambulanten Maßnahmen hinzu, so scheint die Tendenz auf, die Risikoabwägung zugunsten des Gesellschaftsschutzes und zu Lasten der Resozialisierung des Betroffenen zu verschieben eine Tendenz, die z.B. hinsichtlich der Vollzugslockerungen auf den Strafvollzug durchschlagen könnte2. Wenn aber Sicherheitsaspekte das Vollzugsziel der Wiedereingliederung mehr und mehr in den Hintergrund drängen würden, dann stellte sich auch die Frage der empirischen Beobachtung und Begleitung des Strafvollzugs anders als bisher; womöglich würde sie sogar weithin entbehrlich, bedarf doch ein Strafvollzug, der lediglich der sicheren Verwahrung dient, kaum empirischer Untersuchung (s.u. II.). Es besteht also ein innerer Zusammenhang zwischen dem Vollzugszweck und dem erkannten Bedarf an Vollzugsforschung (s.u. III.). Als sich Alexander Böhm wenige Jahre nach dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes mit Problemen der Vollzugsforschung ausein1 Vgl. dazu Schock, N J W 1998, S. 1257 ff. sowie Eisenberg/Hackethal, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1998, S. 196 ff. 2 Diese Konsequenz ist aber keineswegs zwingend, wie eine neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß vom 22.3.98 - 2 BvR 77/97) zeigt; vgl. hierzu Oessecker, Α.: Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Strafrestaussetzung und Vollzugslockerungen bei lebenslanger Freiheitsstrafe, Bewährungshilfe 1998, S. 406ff.
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andersetzte, machte er diese wechselseitige Abhängigkeit sehr deutlich 3 . Ausgehend von der Feststellung, daß der wissenschaftliche Ertrag und die Praxisrelevanz der Vollzugsforschung bescheiden geblieben sei, zeigte er Desiderata der Vollzugsforschung auf, die eng mit dem Vollzugsziel der Wiedereingliederung zusammenhängen; insbesondere ging es ihm um eine adäquate Erfolgsmessung des Strafvollzugs, um Strafrestaussetzung und den Einsatz von Vollzugslockerungen zur Erreichung des Vollzugsziels. Nicht zuletzt dank seiner eigenen Forschungen stellt sich die Forschungslage heute günstiger dar (s.u. IV.). II. Zur Entwicklung der empirischen Strafvollzugsforschung 1. Zweck der Freiheitsstrafe und ihre empirische
Grundlegung
Strafvollzug ist von Beginn an und vom Grundsatz her - das sei als These vorangestellt - auf die Orientierung an Erfahrungswissen angelegt; er bedarf der empirischen Grundlegung. C.J.A. Mittermaier (1787-1867), einer der wenigen Strafrechtslehrer der damaligen Zeit, welche sich überhaupt mit Fragen des Strafvollzugs befaßten, stellte vor rund 170 Jahren folgende Grundsätze auf: „Soll eine gründliche Arbeit für die Verbesserung des Gefängniswesens begonnen werden, so kommt es vor allem darauf an, 1. sich über die Aufgabe, welche bei der Organisation der Strafanstalten dem Staate klar vorschweben muß, und über das Verhältnis und den Zweck der Strafe überhaupt zu verständigen, diese Untersuchung hängt auf das Innigste mit der Erforschung der Ursachen des Verbrechens, der Zahl und der einwirkenden Umstände zusammen; 2. den gegenwärtigen Zustand des Gefängniswesens und dabei die durch Erfahrung angegebenen Folgen des jetzigen Zustandes zu erforschen; 3. die Vorschläge, welche in verschiedenen Ländern zur Verbesserung gemacht worden sind, zu prüfen; 4. die Zeugnisse der Erfahrung über die Resultate der neuen Versuche, insbesondere der Besserungshäuser oder einzelner zur Verbesserung der Strafanstalten gemachten Einrichtungen zu sammeln" 4 .
3 Böhm, Α.: Probleme der Strafvollzugsforschung; in: Kury, H. (Hrsg.): Kriminologische Forschung in der Diskussion. Köln 1985, S. 575 ff. 4 Mittermaier, C.J.A. in: N e u e s Archiv des Kriminalrechts, 1829, S. 194; zit. nach Blühdorn,].·. Beiträge zur Entwicklung und Pflege der Gefängniswissenschaft an den
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Wenn wir diese Grundsätze in eine etwas modernere Sprache übertragen, haben wir die Fragestellungen und Ansatzpunkte, die auch heute noch für die empirische Grundlegung des Strafvollzugs von Bedeutung sind: ad 1: Bestimmung der Aufgabe des Strafvollzugs und seiner dementsprechenden zweckmäßigen Einrichtung; das Verhältnis zu den Strafzwecken; Erforschung der Bedingungszusammenhänge, die zur Straffälligkeit führen, und der Möglichkeiten des Vollzugs, weitere Straffälligkeit zu verhindern; ad 2: Aktuelle Bestandsaufnahme des Strafvollzugs einschließlich seiner Wirkungen, insbesondere hinsichtlich des Vollzugsziels „Resozialisierung"; ad 3: Internationaler Vergleich von Reform Vorschlägen und Modellen, aber auch unterschiedlicher Vollzugssysteme; ad 4: Erfahrungsaustausch über Arbeit und Wirkungsweise verschiedener Modellversuche, heute im Idealfall mit Hilfe von Begleitforschungen und Evaluationsstudien. Woher rührt diese Orientierung an Erfahrung, diese Frage nach der empirischen Bewährung, die gestellt zu haben Mittermaier als Ausnahmeerscheinung seiner Zeit kennzeichnet? Sie resultiert zuerst und ganz grundsätzlich aus der Zweckbestimmtheit des Strafvollzugs. Die Freiheitsstrafe als moderne Strafe 5 ist von ihren Anfängen her auf den Zweck der Besserung und auch Sicherung angelegt. Die aus calvinistischer Gesinnung heraus gegründeten ersten Zucht- bzw. Erziehungshäuser 6 wollten Besserung erreichen. Sie entstanden in einer Epoche 7 , in der die - naturrechtlich verstandene - Strafrechtslehre die Auffassung vertrat, daß Strafe nicht nur dem Schuldausgleich diene, sondern - so vor allem bei Grotius% nützliche Funktionen, in erster Linie vor allem auch für die Besserung des Täters, haben solle.
deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahrhunderts; Diss. iur. Münster 1964, S. 275. 5 Vgl. dazu Kaiser; G., Kerner, H.-J., Schöch, H.: Strafvollzug; 4. Aufl., 1991, S. 34 ff. Laubenthal, K.: Strafvollzug; 2. Aufl. 1998, S. 29 ff.; Walter, M.\ Strafvollzug; 1991, S. 40 f. 6 Vgl. etwa Radbruch, G.: Elegantiae Juris Criminalis; 2. Aufl. 1950, S. 116 ff., S. 126 ff. 7 Vgl. nur Frede, L.: Strafvollzug; in: Handwörterbuch der Kriminologie, Bd. 3, 1975, S. 253 ff. 8 Dazu Simson, G.: Hugo Grotius und die Funktion der Strafe; in: Festschrift für Günter Blau 1985, S. 651 ff.
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Ist die Strafe, insbesondere die Freiheitsstrafe, aber nicht zweckfrei, aus sich heraus gerechtfertigt, sondern in den Dienst eines Zweckes gestellt, erhebt sich zugleich notwendig die Frage, ob sie diesen Zweck auch erfüllt. Dies ist indessen nicht allein dogmatisch zu entscheiden, sondern ist - zumindest auch - Tatsachenfrage. Freiheitsstrafe als Zweckstrafe begründet daher das Bedürfnis nach empirischer Erhellung der Wirkung des Vollzugs. 2. Die wirklichkeitsorientierte Siebt des Strafvollzugs im 19. Jahrhundert Das Bewußtsein von der spezialpräventiven Funktion der Freiheitsstrafe wurde im 19. Jahrhundert zunächst unter der Herrschaft der auf Kant und Hegel zurückgehenden absoluten Straftheorie fast völlig verdrängt9, von Ausnahmen wie Mittermaier abgesehen10. Zudem war nach der liberalen Rechtsstaatsidee der Strafvollzug als Teil der Verwaltung völlig getrennt vom strafrechtlichen Bereich 11 . Es waren vor allem Praktiker in den Vollzugsanstalten, nicht zuletzt auch Gefängnisärzte12, sowie religiös und sozial gesinnte gesellschaftliche Kreise13, welche die Besserungsidee weiter verfolgten. Besonders zu nennen ist die erste internationale Versammlung für Gefängnisreform in Frankfurt im Jahre 1846, an die Krebs wieder erinnert hat. Bereits hier dominiert das Bemühen, im Wege internationalen Vergleichs und Erfahrungsaustausches zu besseren Lösungen zu kommen (die man damals allerdings überwiegend im strengen Einzelhaftsystem erblickte). Gleichzeitig zeigt sich hier wie 9 Statt vieler Schmidt, £.: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 2. Aufl. 1953, S. 283 ff. 10 Zum Wirken Mittermaiers für die Gefängniswissenschaft s. neben Bliihdorn (Fn. 4) insbesondere Kammer, J.F.: Das gefängniswissenschaftliche Werk C.J.A. Mittermaiers; Diss. iur. Freiburg 1971; Lüderssen, K.: Carl Josef Anton Mittermaier und der Empirismus in der Strafrechtswissenschaft; Juristische Schulung 1967; s. 444 ff.; außer Mittermaier ist daneben noch besonders Röder zu nennen; vgl. hierzu Blühdorn (Fn. 4) S. 202 ff. 11 So Blühdorn (Fn. 4) S. 7. 12 Hier ist vor allem Julius zu nennen, der durch seine „Vorlesungen über die Gefängniskunde oder über die Verbesserung der Gefängnisse" (1828) wesentlich an der Verwissenschaftlichung dieser Ideen mitwirkte; vgl. vor allem Blühdom (Fn. 4) S. 12 ff.; Müller-Dietz, H.\ Strafvollzugskunde als Lehrfach und wissenschaftliche Disziplin, 1969, S. 6; Krebs, Α.: Freiheitsentzug - Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung, 1978, S. 123 ff. 13 Vgl. nur Kaiser, Kerner, Schöch (Fn. 5), S. 51 ff. 14 Krebs, Α.: Die Verhandlungen der ersten internationalen Versammlung für Gefängnisreform, zusammengetreten September 1846 in Frankfurt a.M.; in: Festschrift für Günter Blau (Fn. 8), S. 659 ff.
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durchweg im 19. Jahrhundert, daß Reformvorschläge weniger auf systematisch durchgeführten empirischen Beobachtungen beruhten als auf intuitiv gewonnenen Einsichten über den Gefangenen und die Wirkung der Strafe. Im Bereich der staatlichen Administration wurde dem Bedarf an empirischen Befunden mit Hilfe von Statistiken Rechnung getragen. Neben den Kriminalstatistiken - auf der Basis von Verurteilungen - entstanden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Vollzugsstatistiken, die über Bestand und Bewegung in den Gerichtsgefängnissen und Strafanstalten Auskunft gaben 15 . Freilich dienten diese vorwiegend organisatorischen und verwaltungstechnischen Zwecken und konnten zur genaueren Beschreibung der Vollzugspopulation kaum etwas beitragen - weit weniger noch als die heutige Strafvollzugsstatistik. Ein Kritiker 16 verlangte schon damals die „Schaffung einer wissenschaftlichen Statistik der kriminellen Individuen anstatt der bisherigen Statistik der Kriminalfälle" - eine Forderung, die bis heute nicht eingelöst ist, sieht man einmal von einzelnen Teiluntersuchungen ab. Zum Ende des 19. Jahrhunderts verschafften Franz von Liszt und die sog. moderne Schule der Frage des Strafvollzugs wieder ihren Platz in der akademischen Strafrechtslehreu. Die Kritik am bestehenden Strafrechtssystem gründet sich dabei auf die als schädlich erkannte Strafwirklichkeit. Sie rekurriert also auf empirische Befunde. Konsequenterweise hat von Liszt zur Begründung seiner reformerischen Ideen auch empirische Forschung gefordert und Untersuchungen, insbesondere kriminalstatistischer Natur, initiiert 18 . Der eigentliche Bereich des Strafvollzugs blieb dabei aber weitgehend außer Betracht, ebenso wie die für von Liszt entscheidende Typisierung der Delinquenten in Gelegenheitstäter, verbesserliche und unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher 19 nicht empirisch überprüft wurde.
15 Siehe dazu Roesner, Er. Strafvollzug; in: Handwörterbuch der Kriminologie Bd. 2, 1936, S. 715 ff. 16 Zit. nach Blühdorn (Fn. 4), S. 117. 17 Vgl. dazu Sieverts, R.: Franz von Liszt und die Reform des Strafvollzuges; ZStW 1969, S. 650 ff.; Müller-Dietz, H.: Das Marburger Programm aus der Sicht des Strafvollzugs; in: ZStW 1982, S. 599 ff. 18 Vgl. Kempe, G.: Franz von Liszt und die Kriminologie; in: Franz von Liszt zum Gedächtnis, 1969, S. 270 m.w.N. 19 Vgl. dazu Müller-Dietz (Fn. 17), S. 604 ff.
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3. Anfänge kriminologischer
Forschung im Strafvollzug
Kriminologische Forschung wird im Strafvollzug eigentlich erst seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts betrieben 2 0 . Dies fällt zeitlich und sachlich zusammen mit der Etablierung des Erziehungsgedankens im Strafvollzug 2 1 , der einmal in einem abgesonderten Jugendstrafverfahren und -Vollzug seinen Ausdruck fand 2 2 , zum anderen in der Einführung des sog. „Progressiv- und Stufenstrafvollzugs" 2 3 . Die Durchführung eines solchen Vollzugs erforderte eine Differenzierung bzw. Klassifizierung der Gefangenen, die man mit Hilfe systematischer Persönlichkeitserforschung zu gewinnen suchte. Gemäß dem Geist der damaligen Zeit und dem herrschenden wissenschaftlichen Paradigma dominierte die Erfassung erbbiologischer Faktoren, körperlicher, aber auch psychischer Eigenschaften, während das soziale Umfeld und das Sozialverhalten des Gefangenen nicht ausreichend erhoben und systematisiert wurden 2 4 . Die vorwiegend von Ärzten durchgeführten Untersuchungen wurden in kriminalbiologischen Sammelstellen oder Karteien zusammengeführt, die der wissenschaftlichen Erarbeitung einer Persönlichkeitsdiagnostik, aber auch der Kriminalätiologie dienen sollten 2 5 . Die zum Teil durchaus wertvollen Bemühungen wurden diskreditiert, als im Dritten Reich die einzelnen Ländereinrichtungen zentralisiert und die gewonnenen Erkenntnisse zunehmend in den Dienst der Erb- und Rassenpflege gestellt wurden 2 6 .
Vgl. dazu nur Müller-Dietz, H.: Strafvollzugsrecht, 2. Aufl. 1977, S. 34 ff. Vgl. dazu Schmidt, E. (Fn. 9), S. 415 ff.; Radbruch, G.: Der Erziehungsgedanke im Strafvollzug; in: Zeitschrift für Strafvollzug 1952/53, S. 154 ff. 22 Vgl. nur Schaffstein, F.·. Jugendhilferecht und Jugendstrafrecht; GA 1971, S. 129 ff. 23 Vgl. dazu besonders Frede, L.\ Der Strafvollzug in Stufen; in Frede, L., Grünhut, M. (Hrsg.): Reform des Strafvollzugs, 1927, S. 102 ff. 24 Vgl. dazu Oberthür, G.-R.: Kriminologie in der Strafrechtspraxis. Kriminologischer Dienst und Zentralinstitut für Kriminologie, 1976, S. 6 ff.; Müller-Dietz, H.: Empirische Forschung und Strafvollzug, 1976, S. 7 ff. 25 Im Vordergrund standen erbbiologische Untersuchungen (so die Zwillingsforschungen von Lange, Stumpfl und Kranz) und konstitutionsbiologische Forschungen (Kretschmer); siehe dazu Oberthür (Fn. 24), S. 6 ff; Kaiser, G.: Stand und Entwicklung der kriminologischen Forschung in Deutschland 1975, S. 9; dazu auch ausführlicher Württenberger, T.: Entwicklung und Lage der Kriminologie in Deutschland; in: Juristenjahrbuch Bd. 5, S. 147 ff. 26 Vgl. Oberthür (Fn. 24) S. 16 ff.; vgl. auch Müller-Dietz (Fn. 20) S. 34; Kaiser, Kerner, Schöch (Fn. 5) S. 55 ff. 20 21
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4. Vollzugsforschung nach dem 2. Weltkrieg Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Bemühungen um Persönlichkeitserforschung27 z.T. auf der Ebene einzelner Vollzugsanstalten fortgesetzt; sie konnten aber - schon mangels ausreichenden Fachpersonals - wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügen. Von Seiten der Wissenschaft wurden in den 60er Jahren Erhebungen zu einigen Vollzugsformen, so z.B. zur Sicherungsverwahrung und zur Jugendstrafe, und zu den von ihnen betroffenen Populationen durchgeführt28. Daneben erfolgten auch unter dem Einfluß amerikanischer Vorbilder soziologische Studien, die sich mit Struktur und Organisation der Vollzugsanstalt, mit der Subkultur der Gefangenen und mit den Anstaltsbediensteten befaßten29. Besonderer Erwähnung wert ist die 1969 von Müller-Dietz und WürtenbergeP0 vorgelegte Fragebogenenquete zur Lage und Reform des deutschen Strafvollzugs, die sämtliche Strafvollzugsanstalten im Bundesgebiet umfaßte. In zeitlichem und inhaltlichem Zusammenhang mit der Schaffung eines Strafvollzugsgesetzes wurden neue Fragestellungen entwickelt und Forschungen angestoßen. Vor allem anderen hatte der Gesetzgeber selbst mit § 166 StVollzG - in einem bis zu diesem Zeitpunkt einmaligen Vorgang - eine Norm für die wissenschaftliche Begleitung des Strafvollzugs geschaffen, in der Erwartung, daß damit die Behandlungsmethoden wissenschaftlich fortentwickelt und die Forschungsergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar gemacht würden . Wenn gleichwohl der große Aufschwung der Vollzugsforschung ausblieb , so mögen dafür verschiedene Gründe verantwortlich sein. Einmal folgte das Strafvollzugsgesetz gleichsam
Vgl. Oberthür (Fn. 24) S. 27 ff.; Müller-Dietz (Fn. 20) S. 34 ff. Vgl. dazu Kaiser, Kerner, Schöch (Fn. 5) S. 60 m.w.N. 29 Freilich kranken sie, so Kaiser, Kerner, Schöch (Fn. 5) S. 60, „mitunter an dem Mangel eigener Beobachtung der Forscher"; vgl. dazu auch Müller-Dietz (Fn. 24), vor allem S. 19 ff. m.w.N. 30 Müller-Dietz, H., Würtenberger, T.\ Fragebogenenquete zur Lage und Reform des deutschen Strafvollzugs, 1969; erwähnenswert ist auch die Untersuchung von Calliess, R.P.: Strafvollzug. Institution imWandel. Eine empirische Untersuchung zur Lage des Männer-Erwachsenen-Strafvollzugs, 1970, die sich allerdings nur auf Nordrhein-Westfalen bezieht. 31 Vgl. hierzu näher Steinhilper/Jehle zu § 166 StVollzG, in: Schwind/Böhm: Strafvollzugsgesetz. Großkommentar; 3. Aufl.,1999. 32 Nach der Analyse von Feuerhelm/Jehle/Schwefel·. Die Forschungslandschaft der Kriminologie der 80er Jahre - Analyse dokumentierter Forschungen; in: Kriminologie. Forschungsdokumentation 1980-1986, hrsg. vom Informationszentrum Sozialwissenschaften und Kriminologischen Zentralstelle; 1988, S. 13 ff., hat sich die krimi27
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verspätet der großen Strafrechtsreform zu einem Zeitpunkt, als man bereits die Resozialisierung in der Krise sah, wobei zeitgleich in der Kriminologie weithin eine tiefe Skepsis, wenn nicht gar ablehnende Haltung gegenüber dem Strafvollzug verbreitet war . Zum andern aber lag es auch am mangelnden Willen vieler Landesjustizverwaltungen, den § 166 StVollzG durch (kostenträchtige) institutionelle und organisatorische Maßnahmen mit Leben zu erfüllen (s.u. IV.). III. Vollzugsziel und empirische Forschung 1. Zusammenhang zwischen Vollzugsziel und Forschung Wie der kurze Abriß der neueren Strafvollzugsgeschichte gezeigt hat, besteht zwischen dem Vollzugsziel und dem Bedarf an Vollzugsforschung eine wechselseitige Abhängigkeit 34 . Ein Strafvollzug, der die positive Spezialprävention als zentrale Zweckbestimmung kennt, muß sich fragen (lassen), ob und inwiefern er diesen Zweck erreicht - auch wenn man sich darüber streiten kann, welchen Erfolgsmaßstab man anlegen soll, insbesondere ob dafür Rückfälligkeit bzw. Legalbewährung der Strafentlassenen alleine ausreichen . Er muß vor allen Dingen prüfen, mit welchen Vollzugsformen und welchen Methoden bei welcher Klientel spezialpräventiv erfolgversprechende Resultate erzielt werden. Diese Art von Selbstkontrolle hatte der Gesetzgeber im Sinn, als er die Vorschrift zum Kriminologischen Dienst schuf, wobei er sich durchaus bewußt war, daß dies mit vollzugsinterner Forschung alleine nicht zu bewältigen, sondern nur unter Einbeziehung externer Forschung zu leisten sei. Umgekehrt hängt freilich auch die von außen an den Vollzug herangetragene Forschung vom Vollzugsziel der Resozialisierung und Legalbewährung ab, und zwar einerlei, ob sie sich institutionenkritisch mit dem Strafvollzug auseinandersetzt oder zu seiner Verbesserung beitragen will. Unter dem Gesichtspunkt des Wiedereingliederungsziels läßt sich untersuchen, ob andere, mildere Mittel eben-
nologische Forschung nur zu einem kleinen Teil Fragen des Vollzugs, und noch zu einem viel kleineren Teil Fragen der Behandlungsforschung, zugewandt. 33 Vgl. hierzu besonders Böhm (Fn. 3) S. 576 f. 34 Vgl. hierzu bereits Müller-Dietz, Η:. Empirische Forschung und Strafvollzug; 1976. 35 Kritisch hierzu bereits Böhm (Fn. 3) S. 557 f.; dazu ausführlich Böhm in Göppinger, Kriminologie, 5. Aufl., 1997, S. 798 ff.; siehe auch Kerner, H.-J.: Erfolgsbeurteilung nach Strafvollzug - Ein Teil des umfassenden Problems vergleichender Sanktionsforschung; in: Kerner/Dolde/May (Hrsg.): Jugendstrafvollzug und Bewährung, 1996, S. 3 ff.
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so erfolgreich sind wie Strafvollzug, ob ohne Einbuße an spezialpräventiver Wirkung weniger eingriffsintensive, mehr Freiheit belassende Vollzugsformen gewählt werden können oder welche kontraproduktiven Folgen von bestimmten Vollzugsstrukturen ausgehen. Die Forschungsperspektive änderte sich indes radikal, wenn die spezialpräventive Bestimmung des Vollzugs aus den Augen verloren würde. Ein Strafrecht - ganz in den Dienst generalpräventiver Zwecke gestellt - hätte zur Folge, daß auch der Vollzug der Freiheitsstrafe nur noch als Reflex der gesellschaftlichen Strafbedürfnisse wahrgenommen würde; eine Vollzugsforschung im eigentlichen Sinne wäre obsolet. Dasselbe würde auch gelten, wenn die Sicherungsfunktion des Strafvollzugs in den Vordergrund rückte und es im wesentlichen auf die sichere Verwahrung der Gefangenen ankäme. Solange es allerdings der Schuld entsprechende zeitlich befristete Freiheitsstrafen gibt, solange also Gefangene wieder in die Freiheit entlassen werden müssen und in die Gesellschaft zurückkehren, so lange gibt es auch keine vernünftige Alternative zum Wiedereingliederungsziel. Denn die sichere Verwahrung schließt lediglich für die Zeit der Inhaftierung Gefahren aus, birgt aber nach Strafentlassung größere Risiken, als wenn im Rahmen der Vollzugsplanung eine sorgfältige Entlassungsvorbereitung geschieht, ein Übergang in die Freiheit durch Vollzugslockerungen erprobt wird und die Eingliederung im Rahmen der Strafrestaussetzung durch Bewährungsaufsicht kontrolliert stattfindet. 2. Zur
Behandlungsforschung
Der Strafvollzugsgesetzgeber geht davon aus, daß zur Erreichung des Vollzugsziels Wiedereingliederung diagnostische und therapeutische Bemühungen vonnöten sind. Mit der sogenannten Behandlungsuntersuchung, die freilich nach der Verwaltungsvorschrift zu § 6 StVollzG für die Majorität der bis zu 1 Jahr inhaftierten Gefangenen nicht stattfindet 36 , soll zu Beginn der Haft ein Bild über die Persönlichkeitsdefizite und Problemlagen erstellt werden, Ansatzpunkte für Vollzugsmaßnahmen sollen entwickelt werden; auf diese diagnostischen Feststellungen ist dann der Vollzugsplan mit seinen differenzierten Maßnahmen zuzuschneiden, im Laufe des Vollzugs zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Damit ist zugleich 36 Vgl. hierzu und zu den damit verbundenen Problemen Dolde/Jehle: Wirklichkeit und Möglichkeiten des Kurzstrafenvollzugs; Zeitschrift für Strafvollzug 1986, S. 195 ff.
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die Grundlage für Lockerungsentscheidungen oder Stellungnahmen hinsichtlich einer Strafrestaussetzung geschaffen. Freilich ist die derzeitige Vollzugswirklichkeit von den idealen Vorstellungen des Gesetzgebers weit entfernt; es fehlt an systematischen und dokumentierten Versuchen, die Relevanz bestimmter diagnostischer Feststellungen zu überprüfen und die Angemessenheit bestimmter Maßnahmen vergleichend zu erproben. Erst recht mangelt es an einer wissenschaftlichen Begleitforschung hierzu. Bei den zahlreichen Evaluationsforschungen zum Strafvollzug entfallen mit einer bestimmten Art von Forschungsanlage die betroffenen Personen und die getroffenen Maßnahmen als eigentlicher Untersuchungsgegenstand 37 . In den meisten Untersuchungen über die Wirksamkeit von Sanktionen, z.B. der Sozialtherapie, werden die betroffenen Straffälligen und auch die einzelnen therapeutischen Maßnahmen gewissermaßen als black box behandelt. Gemessen wird regelmäßig nur der Input, nämlich die Art der Maßnahme: also beispielsweise Sozialtherapie versus Normalvollzug, sowie der Output, nämlich das Ergebnis in Form von Rückfälligkeit bzw. Legalbewährung. Die Unterschiede in der Rückfälligkeit werden dann als Maß für die Effizienz der Sozialtherapie verbucht 38 . Was dazwischen geschieht, bleibt weitgehend ausgeblendet. Die betroffenen Personen mit all ihren Schwierigkeiten und die sich darauf beziehenden therapeutischen Maßnahmen werden nicht genauer untersucht; allenfalls im Blick auf die Kontrollgruppenproblematik werden einige wenige Merkmale der Betroffenen aus den Akten herangezogen 39 . Die besonderen methodischen Schwierigkeiten 40 einmal außer acht gelassen, hat dieses Vorgehen ganz sicher seine Berechtigung, wenn man sich damit begnügt, die Effektivität einer bestehenden Praxis zu messen; man kann sie 37
S. dazu bereits Jehle, J.-M.: Angewandte Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland - Kriminologische Erkenntnisse für die Strafrechtspraxis; in: Göppingen H. (Hrsg.). Angewandte Kriminologie - international; 1988, S. 120ff., 121. 38 Zu den entsprechenden Untersuchungen vgl. die kritische Zusammenstellung von Egg, R.: Straffälligkeit und Sozialtherapie. Konzepte, Erfahrungen, Entwicklungsmöglichkeiten; 1984, S. 67 ff.; diese Zusammenstellung zeigt aber auch, daß es darüber hinausgreifende Forschungsansätze gibt. 39 Zumeist handelt es sich dabei um Daten der registrierten kriminellen Karrieren; vgl. z.B. Dünkel, F.: Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung; Strafrecht und Kriminologie, Band 7; 1980; freilich versucht gerade Dünkel auch eine Beschreibung der vollzuglichen und therapeutischen Bedingungen, ohne diese allerdings für seine Effizienzkontrolle nutzbar zu machen. 40 Das größte Problem ist die Gewinnung einer echten Kontrollgruppe. Vgl. dazu insbesondere die einzelnen Beiträge in: Kury, H. (Hrsg.): Methodische Probleme der Behandlungsforschung - insbesondere in der Sozialtherapie; Interdisziplinäre Beiträge zur Kriminologischen Forschung, Band 2, 1983.
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unter dem Gesichtspunkt des Erfolges bzw. Mißerfolges kritisieren oder bestätigen, und dies ist gewiß auch eine wichtige Funktion der Vollzugsforschung. Indessen hat die Ausklammerung der betroffenen Personen ihren Preis: Auf diese Weise läßt sich nur etwas aussagen zum generellen äußeren Effekt, nicht jedoch zu den inhaltlichen Kriterien der Praxis für die Auslese und die Behandlung ihrer Klientel 41 . Diese Art von Forschungsanlage, die wohl überwiegend Sanktionsforschungen überhaupt kennzeichnet, kann also wenig dazu beitragen, die eigentliche diagnostische Arbeit und den intervenierenden Umgang mit den Betroffenen zu überprüfen. Behandlungsforschung im engeren Sinne müßte letztlich dazu verhelfen, adäquatere Methoden und Kriterien zu entwickeln, so wie es dem Gesetzgeber mit der Schaffung von § 166 StVollzG vorschwebte. IV. Organisation und Gegenstände der Vollzugsforschung 1. Vollzugsforschung und Kriminologischer
Dienst
Die Vorschrift des § 166 StVollzG beschreibt gewissermaßen den Kernbereich der Strafvollzugsforschung, die freilich weit darüber hinausreicht, sowohl was ihren Gegenstand als auch ihre Organisationsform betrifft. Als Vollzugsforschung im engsten Sinne könnte man - in Anlehnung an die Definition der Frauenforschung (of, on, for women) - das bezeichnen, was der Kriminologische Dienst zu leisten hat, nämlich Forschung des Vollzugs über den Vollzug für den Vollzug. Für eine solche vollzugsinterne Forschung sind allerdings nur in wenigen Bundesländern die personellen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben 42 . Ein eigenständiger Apparat an wissenschaftlichem Personal und Sachmitteln besteht lediglich in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, was sich im übrigen auch im Ausmaß eigener Forschungsaktivitäten zeigt. Einige andere Länder haben einen Angehörigen des Fachdienstes in einer Vollzugsanstalt mit einem Teil oder der vollen Arbeitszeit (so in Hessen und Niedersachsen) mit entsprechenden Aufgaben betraut. Darüber hinaus besteht in Rheinland-Pfalz ein Landesbeirat, der sachkundig das Justizministerium in Vollzugsfragen berät und auch einschlägige
41 Freilich gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen zu therapeutischen Einrichtungen und Verfahren, die jedoch im Regelfall keine Beziehung zu der Lebensentwicklung der zu behandelnden Klientel herstellen. 42 Vgl. Steinhilper/Jeble (Fn. 35) § 166 Rdnr. 4; sowie Jeble,J.-M.: Der Kriminologische Dienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1988.
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Forschungen anregt 43 . Im übrigen werden die Aufgaben von einem Referenten in der Landesjustizverwaltung mit wahrgenommen. Empirische Untersuchungen über den Vollzug werden deshalb vorwiegend als Auftragsforschung von interessierten Landesjustizverwaltungen an außenstehende wissenschaftliche Einrichtungen vergeben, wobei der Kriminologische Dienst bzw. der Auftraggeber den Forschungsbedarf ermittelt und an der Formulierung der Fragestellungen mitwirkt 44 . Unabhängig und nicht veranlaßt von der Vollzugsverwaltung existieren - als dritte Form der Vollzugsforschung - Untersuchungen einzelner Wissenschaftler oder wissenschaftlicher Einrichtungen, die selbständig vollzugsbezogene Forschungsthemen verfolgen oder an den inhaftierten Personen interessiert sind. Hierzu gehören auch - über den eigentlichen Vollzug hinausgreifende - sanktionsvergleichende Studien 45 und Untersuchungen zur kriminellen Karriere von Inhaftierten und Vergleichsprobanden 46 . Soweit allerdings der Vollzug und die Inhaftierten nicht mehr die Gegenstände, sondern nur noch die Mittel der Forschung bilden, um völlig andere Themen und Fragestellungen zu verfolgen 47 , ist sicherlich die Grenze überschritten, was noch als Vollzugsforschung bezeichnet werden sollte. Anders als bei den Untersuchungen im Interesse der Vollzugsverwaltung stellt sich für die unabhängige Forschung das Problem des Datenzugangs. Denn regelmäßig geht es darum, die datenschutzrechtliche Genehmigung durch den Datenherrn, das zuständige Justizministerium, einzuholen. Dem bisherigen Mangel an bereichsspezifischer datenschutzrechtlicher Regelung für Forschungsvorhaben im Vollzug hat der Gesetzgeber nunmehr abgeholfen. In § 186 StVollzG in der Fassung des 4. Strafvollzugsänderungsgesetzes ist bestimmt, daß auch ohne Einwilligung des Betroffenen - was ins-
43 Siehe Böhm, Α.: Vollzugsberatung. Dargestellt am Beispiel des Landesbeirats für Strafvollzug und Kriminologie bei dem Ministerium der Justiz des Landes RheinlandPfalz; in: Büsch (Hrsg.): Gefängnis und Gesellschaft. Gedächtnisschrift Krebs, 1994, S. 230 ff. 44 Ein jüngeres Beispiel hierzu ist die im Auftrag der Landesjustizverwaltungen erstellte Studie von Neu, Α.: Betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, 1995; vgl. auch zu den zugrunde liegenden Fragestellungen Jehle, J.-M.: Arbeit und Entlohnung von Strafgefangenen, Zeitschrift für Strafvollzug 1994, S. 259 ff. 45 Vgl. hierzu Kerner (Fn. 35) 1996, S. 3 ff. 46 Prototyp dafür ist die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung; siehe vor allem Göppinger, H.: Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983. 47 Ein extremes Beispiel hierfür wäre etwa pharmakologische Forschung, die in den USA an Strafgefangenen auf freiwilliger Basis stattfinden kann.
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besondere für Aktenuntersuchungen von Bedeutung ist - die Forschung durchgeführt werden kann, wenn „das öffentliche Interesse an der Forschungsarbeit das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluß der Übermittlung (der Daten, J.-M. J.) erheblich überwiegt" 48 . So sehr zu begrüßen ist, daß nunmehr eine gesetzliche Basis für die externe Vollzugsforschung gewonnen ist, so sehr hängt infolge der Abwägungsklausel die Durchführung der Forschung von Bewertungen ab, die auf eine inhaltliche Kontrolle der Forschung hinauslaufen könnten 49 . Freilich entspricht diese Regelung dem allgemeinen gesetzgeberisch bestimmten Verhältnis zwischen Datenschutz und Forschung, so daß eine vollzugsspezifische Verbesserung der Position der Forschung insoweit künftig nicht zu erwarten ist. 2. Forschungsbedarf und
Untersuchungsgegenstände
Der Stand der Vollzugsforschung bietet heute ein deutlich erfreulicheres Bild als noch vor 30 Jahren. Einen starken Impuls hatte die Vollzugsforschung durch die große Strafrechtsreform und die nachfolgenden legislatorischen Bemühungen um ein Strafvollzugsgesetz Mitte der 70er Jahre erhalten. Neben Bestandsaufnahmen 50 wurden zunächst Fragen erforscht, die mit dem zentralen Vollzugsziel, der Resozialisierung, zusammenhängen. Paradigmatisch wandte sich das Forschungsinteresse der Gestaltung und dem Erfolg der Sozialtherapie zu. Freilich sorgten bald eine zunehmende Skepsis hinsichtlich der individualpräventiven Wirksamkeit stationärer Behandlung und zugleich der eher bescheidene, wissenschaftlich nachweisbare Ertrag der Sozialtherapie dafür, daß sich die kriminologische Forschung zunehmend auf den Bereich der ambulanten Sanktionen verlagerte. Damit konnte eine breite und systematische Erforschung der Vollzugswirklichkeit nicht stattfinden. 48 Der Gesetzgeber hat sich hier an die Formulierung des Bundesdatenschutzgesetzes angelehnt; im übrigen ist durch einen Verweis klargestellt, daß diese Vorschriften auch für die vollzugsinterne Forschung des Kriminologischen Dienstes gelten, wobei hier besonders die Abschottung der erhobenen Forschungsdaten von Verwaltungsvollzug zu gewährleisten ist. 49 Ein Beispiel für diese Gefahr bildet ein neueres Urteil ( O L G Hamm; JR 97, 170 ff.), in dem das erhebliche Überwiegen eines öffentlichen bzw. wissenschaftlichen Interesses an der Forschung zugunsten des Persönlichkeitsschutzes verneint worden ist; vgl. dazu Jehle, J.-M.: Datenschutz und kriminologische Forschung, in: Hamm, R., Möller, Κ. P. (Hrsg.): Datenschutz und Forschung; 1999, S. 69ff., 76. 50 Vgl. dazu und zur Strafvollzugsforschung generell Dünkel, F.: Empirische Forschung im Strafvollzug. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, 1996; Böhm (Fn. 35) 1998, S. 762 ff.
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Dennoch wurden zu unterschiedlichen Gebieten einzelne oder mehrere Forschungen durchgeführt, zum Teil durch den Kriminologischen Dienst selbst, zum Teil im Auftrag der Landesjustizverwaltungen oder von diesen initiiert bzw. ideell unterstützt 5 1 . Eine Reihe von Untersuchungen gruppiert sich um Fragen des Erfolgs bzw. der Rückfälligkeit bei Vollzugslockerungen und bei Strafrestaussetzung. Andere Untersuchungen richten sich auf besondere Altersbzw. Geschlechtsgruppen: junge Strafgefangene, ältere Insassen und Frauen, oder konzentrieren sich auf spezifische Straftäter und ihre Behandlung: Sexualstraftäter, Gewalttäter und Drogenabhängige. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Vollzugsbedingungen und der daraus entstehenden Subkultur unter den Gefangenen, der damit verbundenen Arbeitsunzufriedenheit der Bediensteten und schließlich den ökonomischen Voraussetzungen für Arbeitsbetriebe und den damit zusammenhängenden Fragen bezüglich der Entlohnung der Strafgefangenen. Diese und eine Reihe von anderen Forschungen, z.B. auch zu anderen Haftformen wie der Untersuchungshaft 52 , sorgten dafür, daß der Vollzug in empirischer Hinsicht keinen weißen Fleck auf der Landkarte mehr darstellt; allerdings sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse durchaus ergänzungsbedürftig und vor allem im Hinblick auf die neueren Entwicklungen zu aktualisieren. Neue Forschungen sind umso nötiger, als sich die Rahmenbedingungen des Strafvollzugs seit Erlaß des Strafvollzugsgesetzes entscheidend verändert haben. Die Anteile der Drogenabhängigen und der Nichtdeutschen an der Vollzugsklientel sind stark gewachsen; insgesamt ist die Zahl der Vollzugsinsassen in den letzten Jahren so stark angestiegen, daß es wieder - wie zu Beginn der 80er Jahre - zu einer Uberbelegungssituation kommt 5 3 . Hier bedarf es zunächst einer aktuellen Bestandsaufnahme 54 , die ein Gerüst an Strukturdaten des Vollzugs ermittelt. In dieser Hinsicht wäre auch an eine sub-
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Eine Zusammenstellung findet sich bei den in Fn. 48 genannten Autoren sowie bei Steinhilper/Jehle (Fn. 31) § 166, Rdnr. 25. 52 Vgl. dazu aus neuerer Zeit die Studie von Schock, H.: Der Einfluß der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, Baden-Baden 1997; vgl. auch die Ubersicht zur Untersuchungshaftvollzugsforschung bei Jehle, J.-M.: Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen der Untersuchungshaft, Bewährungshilfe 1994, S. 373 ff. 53 Vgl. Jehle, J.-M.: Strafrechtspflege in Deutschland. Fakten und Daten; hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1997, S. 43 ff. 54 Dies haben Dünkel/Rosner. Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970 - Materialien und Analysen; 2. Aufl.; 1982, für die 70er Jahre in hervorragender Weise getan.
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stantielle Verbesserung der Strafvollzugsstatistik zu denken 55 ; dabei wäre insbesondere darauf zu achten, daß sich die Statistikerhebung im Vollzug in eine neu zu formierende Struktur aufeinander bezogener, kompatibler Rechtspflegestatistiken einordnet, so daß zugleich aussagekräftige und zuverlässige Daten über den in- und output des Strafvollzugs im Rahmen der Strafvollstreckung geliefert werden können 5 6 . Im Hinblick auf Struktur- und Organisationsfragen des Vollzugs ist ein Blick über die nationalen Grenzen hinweg angebracht; ein systematischer Vergleich der Entwicklungen in anderen (west)europäischen Ländern 57 würde helfen, bei neuen nationalen Lösungsansätzen die ausländischen Erfahrungen negativer wie positiver Art zu berücksichtigen - auch im Hinblick auf so umstrittene Fragen wie die adäquate Entlohnung von Strafgefangenen oder die Privatisierung der Gefängnisse. Das eingangs erwähnte Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten und die ihm vorausgegangene kriminalpolitische Debatte haben deutlich gemacht, daß sich die öffentliche Wahrnehmung der Strafgefangenen von den sozial gefährdeten Rückfalldieben auf die gefährlichen Sexual- und Gewalttäter verlagert hat. Gerade im Hinblick auf diese Vollzugsklientel erweist sich, daß die Gesellschaft zunehmend weniger bereit ist, Risiken im Zusammenhang mit Vollzugslockerungen und der Aussetzung des Strafrests in Kauf zu nehmen. U m auf diesem Feld wieder eine rationale Grundlegung der Kriminalpolitik sowie der Strafrechts- und Vollzugspraxis zu gewinnen, sind Untersuchungen zu fordern, die systematisch beobachten, wie sich die für das Wiedereingliederungsziel entscheidenden Institute der Vollzugslockerungen und der Strafrestaussetzung in der praktischen Handhabung entwickeln. Für solche Untersuchungen hat Alexander Böhm mit seinen vorbildhaften Studien 58 den Boden bereitet.
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Zu den bisherigen Mängeln vgl. nur Böhm in Göppinger (Fn. 35) S. 487 ff. Vgl. zur Reform der Rechtspflegestatistiken Bundesministerium der Justiz/Kriminologische Zentralstelle: Die Zukunft der Personenstatistiken im Bereich der Strafrechtspflege; 1992. 57 Vgl. für die 70er Jahre Kaiser, G.: Strafvollzug im europäischen Vergleich; 1983; vgl. auch die vom Europarat herausgegebenen Statistiken zum Strafvollzug, siehe Tournier, Pierre: Statistique penale annuelle du Conseil d'Europe. Enquete, Strasbourg, 1992. 58 Siehe insbesondere Böhm/Ehrhardt: Strafrestaussetzung und Legalbewährung; Wiesbaden: Hessisches Ministerium der Justiz 1988, sowie Böhm/Ehrhardt: Strafrestaussetzung und Legalbewährung. Ergänzungsuntersuchung; Wiesbaden: Hessisches Ministerium der Justiz 1991. 56
Zum Stand der Behandlungsforschung oder: Vom nothing works zum something works HELMUT KURY
1. Einleitung Die Freiheitsstrafe als in vielen Ländern, so etwa auch der Bundesrepublik Deutschland, härteste Sanktionsform wurde verständlicherweise stets kontrovers diskutiert, vor allem aber die vor ca. 30-40 Jahren vorwiegend von den USA und in Europa, den nordischen Ländern, vor allem Dänemark, ferner Holland, ausgehenden Ansätze zu einer Resozialisierung der Inhaftierten. Einen wesentlichen Aufschwung nahm der Behandlungsansatz bei Straftätern in den USA vor allem in den 60er Jahren, in einer Zeit, in der man den Einflußmöglichkeiten psychologischer Interventionen auf menschliches Verhalten vor dem Hintergrund der Entwicklung zunehmend mehr psychologischer bzw. psychotherapeutischer Techniken große Chancen einräumte. In diesem Zusammenhang wurden auch vermehrt psychotherapeutische Behandlungsprogramme für die Resozialisierung von (inhaftierten) Straftätern entwickelt. Die europäischen Behandlungsansätze waren damals vor dem Hintergrund der hiesigen psychotherapeutischen Tradition noch stark am psychoanalytischen Behandlungsmodell orientiert, das man beispielsweise in Behandlungsanstalten in den Niederlanden möglichst in Reinform umzusetzen versuchte. Gerade hier entstanden jedoch ebenfalls verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze bei Straffälligen. Vor dem Hintergrund der damaligen psychotherapeutischen Situation in der Bundesrepublik verwundert es nicht, daß bei der Einrichtung der ersten bundesdeutschen, auf eine Behandlung der Straftäter ausgerichteten sozial therapeutischen Anstalt 1969 auf dem Hohenasperg/Baden-Württemberg ebenfalls die Psychoanalyse als grundlegender Behandlungsansatz zum Zuge kam (vgl. Kury 1986a). Als Leiter von behandlungsorientierten Anstalten bzw. Abteilungen wurden, wenn nicht Juristen, dann Psychiater, als kompetent angesehen, und letztere hatten und haben bis heute in aller Regel eine psychoanalytische Ausbildung.
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Auf der einen Seite erwartete man von diesen Behandlungsprogrammen unterschiedlichster Provenienz und Vorgehensweise in einer euphorischen Aufbruchsstimmung eine deutliche Reduzierung der Rückfallquoten, wobei man teilweise glaubte, die Rückfälligkeit um die Hälfte oder noch mehr senken zu können, auf der anderen Seite lehnte man den Behandlungsansatz als von vornherein zum Scheitern verurteilt ab, da man in einem so behandlungsfeindlichen Klima wie einer Vollzugsanstalt nicht sinnvoll resozialisieren könne bzw. daß all' die Behandlungsansätze eigentlich lediglich zu einer Stabilisierung eines an und für sich abzulehnenden Umgangs mit Rechtsbrechern führen würden und letztlich sei der Strafvollzug als solcher als inhumanes, ineffizientes und teueres Bestrafungssystem überhaupt abzuschaffen (vgl. Kury 1986b; Kaiser u.a. 1992). Das bedeutet, daß der Behandlungsansatz im Strafvollzug bzw. bei Straffälligen insgesamt von Anfang an kritisch und teilweise sehr ablehnend diskutiert wurde. Für die Umsetzung der Behandlungsprogramme und deren Erfolge bzw. Mißerfolge ist es nicht unwichtig zu berücksichtigen, daß diese in vielen Anstalten bei einem Großteil der Verantwortlichen und des Vollzugspersonales von vornherein auf Skepsis und nicht selten Ablehnung stießen. Nicht nur unter den Insassen genießen psychotherapeutische Behandlungsprogramme vielfach wenig Ansehen und gelten als überflüssig, auch die Vollzugsbediensteten schüren diese Einstellung teilweise mehr oder weniger offen. In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich ein gezielter Behandlungsansatz bei Straffälligen und damit im Zusammenhang die Sanktions- und Behandlungsforschung wie erwähnt erst in den 60er Jahren und auch da anfangs nur zögernd. Insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber auch in den nordischen Ländern, wie Dänemark, sowie nicht zuletzt in Holland, wurden bereits früher größere Behandlungsprogramme bei meist schwer straffällig gewordenen Rechtsbrechern in die Wege geleitet und praktiziert. Von daher verwundert es nicht, daß die frühen behandlungsorientierten Anstalten in Dänemark - etwa Herstedvester oder Horsens - und in Holland - etwa die Dr. van der Hoeven-Kliniek oder die Mesdag-Kliniek - geradezu zu „Wallfahrtsstätten aller Strafvollzugsreformer" der Bundesrepublik wurden (Blau 1976, S. 30). Das Behandlungskonzept in diesen europäischen Anstalten war - etwa im Gegensatz zu Behandlungsprogrammen in den Vereinigten Staaten i.d.R., aber nicht ausschließlich (vgl. etwa die Dr. van der HoevenKliniek in Holland) -psychoanalytisch ausgerichtet, was insbesondere damit zusammenhängt, daß sich damals das Behandlungspersonal teilweise bis hinauf zum Anstaltsleiter zu einem erheblichen Teil
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aus Psychiatern zusammensetzte und diese nahezu ausschließlich in Psychoanalyse ausgebildet waren. Inzwischen ist etwa auch in den klassischen holländischen, früher psychoanalytisch orientierten Behandlungsanstalten, wie vor allem der 1962 eingerichteten MesdagKliniek, ein deutliches Abrücken von diesem Behandlungskonzept feststellbar. Bereits 1988 überdachte man in der Mesdag-Kliniek nach einer schweren Rückfalltat eines Insassen, bei welcher eine Frau getötet wurde, das psychoanalytische Behandlungskonzept. „Bisher stand traditionell die Veränderung der Persönlichkeit im Zentrum des Behandlungskonzeptes der Klinik. Die psychoanalytische Behandlung hatte das Ziel, die Persönlichkeit im positiven Sinne zu verändern. Dabei ging man davon aus, daß das Persönlichkeitswachstum eine Verminderung der Deliktsgefährlichkeit herbeiführen würde". Vor dem Hintergrund der Analyse der schweren Rückfalltat gelangte man jedoch zu der Erkenntnis, „daß für das Verstehen der Deliktsgefährlichkeit eines Individuums nicht nur seine Persönlichkeit, sondern auch andere Faktoren, wie die psychosoziale Situation zur Tatzeit, die gesellschaftliche Einbindung des Individuums und seine ihm zur Verfügung stehenden Fähigkeiten herangezogen werden müssen. Diese Faktoren sind die Basiselemente, die das Fundament formen, auf dem das Vierfaktorenmodell aufbaut" (Haas 1997, S. 1). Ende 1993 wurden dann in Bezug auf das Betreuungs- und Behandlungsprogramm der Mesdag-Kliniek neue Grundsätze festgelegt (Haas 1997, S. 2). Die Psychoanalyse konnte also, selbst wenn sie in einer doch recht idealen Form verwirklicht wurde, wie in dieser modellhaften Behandlungsanstalt, nach Einschätzung der Verantwortlichen offensichtlich weniger zu einer Resozialisierung beitragen als neuere, spezifischere und mehr auf die konkrete Problematik des Insassen abgestellte unterstützende Behandlungsformen. Hierin fügen sich diese Resultate in die internationale Behandlungsforschung ein. In der Bundesrepublik Deutschland spielt die Psychoanalyse in der Behandlung von Straftätern im Maßregelvollzug nach wie vor eine bedeutende Rolle (vgl. z.B. Duncker 1993). Das dürfte damit zusammenhängen, daß Maßregelvollzugseinrichtungen forensisch-psychiatrische Krankenhäuser sind, die von Ärzten (Psychiatern) geleitet werden, die wiederum in aller Regel im Rahmen ihrer Ausbildung eine psychoanalytische Weiterbildung absolviert haben. Die Psychoanalyse ist auch die älteste wissenschaftliche Psychotherapierichtung, die sich bereits früh auch der Behandlung Straffälliger zugewandt hat (vgl. Aichhorn 1971; s. auch Rasch 1986). Gleichzeitig kamen allerdings von psychoanalytischer Seite auch sehr früh Hinwei-
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se, daß diese Behandlungsmethode bei Straffälligen bzw. Dissozialen nur wenig oder gar überhaupt nicht geeignet sei. Bereits S. Freud, der Begründer der Psychoanalyse, betonte in seinem „Geleitwort" zur ersten Auflage des Bandes von A. Aichhorn (1925) „Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung" ausdrücklich (1925, S. 5): „Die Möglichkeit der analytischen Beeinflussung beruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man als ,analytische Situation' zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker. Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch beim triebhaften Verbrecher, muß man etwas anderes machen als Analyse, was dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft." Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Weiterentwicklung der Behandlungsforschung, insbesondere die Entwicklung wirksamerer psychotherapeutischer Behandlungsverfahren, weitgehend am Maßregelvollzug vorbeigegangen ist, was nicht bedeuten soll, daß es nicht auch hier in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gegeben hat (s. Schalast 1998; vgl. zur Kritik etwa bereits Moser 1971). 2. Therapiekonzepte Die erste sozialtherapeutische Anstalt wurde wie erwähnt 1969 in Baden-Württemberg (Hohenasperg) eingerichtet {Manch & Manch 1971). Mit dem Ausbau der Sozialtherapie ab Anfang der 70er Jahre gewannen die Psychologen vermehrt Einfluß auf die praktizierte Behandlung. Diese wurde nun weitgehend in die Hand der vermehrt eingestellten Klinischen Psychologen gelegt, die eine breite Variation von psychotherapeutischen Behandlungsansätzen und -techniken mitbrachten, voran Gesprächspsychotherapie nach der Methode von Rogers (vgl. Rogers 1942; 1951; Tausch & Tausch 1990) und Verhaltenstherapie. Das hing zum einen damit zusammen, daß nicht genügend psychoanalytisch ausgebildete Therapeuten zur Verfügung standen, zum anderen vor allem aber auch damit, daß zunehmend deutlich wurde, daß das psychoanalytische Behandlungskonzept gerade im Strafvollzug zunehmend auf Schwierigkeiten bei dessen Umsetzung stößt (vgl. oben). Hinzu kam ein weiterer wichtiger Punkt, nämlich die zunehmende Entwicklung alternativer Behandlungsansätze, vor allem der auf der Lerntheorie basierenden Verhaltenstherapie sowie der Gesprächspsychotherapie. Beide Therapiearten wurden vor allem von Psychologen entwickelt und vertreten, versprachen kürzere Behandlungszeiten und boten adäquatere therapeutische Umgangsmöglichkeiten, vor allem
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auch mit Straffälligen. Hinzu kam, daß diese Behandlungsansätze von vornherein eine gezielte empirische Evaluation ihrer Wirkungsweise forderten und förderten, damit eine Möglichkeit der systematischen Weiterentwicklung des Treatments schufen. Böhm (1986, S. 132) weist zu Recht auf die zunehmende Differenzierung der Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug hin und betont: „Klassische psychoanalytische Therapie ist kaum indiziert. Es wird sowohl in Einzeltherapie als auch in Gruppentherapie mit gesprächstherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Methoden gearbeitet, wobei ,klientenzentriert' vorgegangen wird. Als Therapeutenverhalten wird eine emotional akzeptierende, interessierte Haltung gefordert. Gruppendynamische Übungen, Partnertherapie, Psychodrama, Gestalttherapie und Interaktionsanalyse vervollständigen die bisher erprobten Behandlungsmaßnahmen." Gleichzeitig weist er darauf hin, daß in dem Maße, in dem die Anstaltspopulation sich stärker aus erheblich auffälligen und in der Entwicklung gestörten Persönlichkeiten zusammensetzt „... die Behandlungsangebote qualifizierter und differenzierter werden" müssen (Böhm 1996, S. 238). Diese Förderung der Behandlungsansätze bei Straffälligen in der Bundesrepublik, die natürlich ohne finanzielle Investition nicht zu verwirklichen waren, ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Unterstützung des Behandlungsgedankens in breiten Teilen der Bevölkerung und entsprechend eines Rückgangs punitiver Tendenzen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen (vgl. Kury u.a. 1998). Hinzu kam als weiterer wesentlicher unterstützender Faktor der wachsende Wohlstand in der westdeutschen Bevölkerung. Trotz erheblicher Intensivierung der Behandlungsforschung ab Mitte der 70er bis etwa Mitte der 80er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gelang es hier nicht, einheitliche und anerkannte Behandlungskriterien herauszubilden, was allerdings bei der Komplexität der Problematik auch nicht überrascht. Die in den einzelnen Vollzugsanstalten angewandten Behandlungsprogramme unterschieden sich unter dem Einfluß psychologischer Psychotherapeuten bald erheblich. Versuchte man zu Beginn der Behandlung Straffälliger im Vollzug i.d.R. noch einzelne therapeutische Ansätze aus der allgemeinen Psychotherapiepraxis mehr oder weniger unverändert einfach zu übertragen, hat sich das in den letzten Jahren zumindest teilweise geändert. Psychotherapeutische Behandlung hat heute auch nicht mehr den zentralen Stellenwert in der Straftäterbehandlung, sondern wird zu Recht nur noch als ein Baustein innerhalb eines breitgefächerten Resozialisierungsprogrammes gesehen. Dieses breite Behandlungsspektrum wird i.d.R. mit dem wenig klaren Be-
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griff der „Sozialtherapie" bezeichnet. Der Siegeszug der Gesprächsund Verhaltenstherapie bei der Behandlung Straffälliger in den Sozialtherapeutischen Anstalten dürfte insbesondere damit zusammenhängen, daß hier mehr ausgebildete Therapeuten zur Verfügung standen, aber auch damit, daß sich diese Therapierichtungen aufgrund ihrer weniger dogmatischen Ausrichtung besser in den Vollzugsalltag integrieren ließen, schließlich damit, daß diese Behandlungsansätze eine Wirkung in kürzerer Zeit versprachen als die aufwendige Psychoanalyse. Eine neuere Synopse der in den inzwischen 14 bundesdeutschen Sozialtherapeutischen Anstalten bzw. Abteilungen praktizierten psychotherapeutischen Ansätze zeigt eine weitere Differenzierung des Behandlungsangebots, aber nach wie vor in aller Regel keineswegs vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte, sondern wie schon früher gesteuert vom Angebot an Psychologen mit entsprechenden Ausbildungen. Teilweise werden in einzelnen Anstalten von verschiedenen Psychologen völlig unterschiedliche Behandlungsansätze praktiziert (vgl. Egg 1993, S. 160). So wird in 12 der inzwischen 14 Anstalten u.a. Gruppendynamik oder was als solche angesehen wird, praktiziert, in 11 Gesprächspsychotherapie, in 9 Verhaltenstherapie oder Anlehnungen hieran, in 10 Social Case Work, in 7 Psychoanalyse oder psychoanalytisch orientierte Verfahren, in 8 Partnertherapie und in 3 Group Counselling. Weiterhin kommen vereinzelt zur Anwendung: Katathymes Bilderleben, Gestalttherapie, Psychodrama, Rollenspiel, nonverbale Verfahren und Musiktherapie. Die Sozialtherapeutischen Anstalten bieten somit an psychotherapeutischer Behandlung nahezu alles, was auf dem Psychotherapie-Markt ist und auch nur einigermaßen als seriös angesehen werden kann. Es entsteht der Eindruck einer verwirrenden Vielfalt an einzelnen psychotherapeutischen Ansätzen, wobei der theoretische Hintergrund für die Anwendung der jeweiligen Verfahren bzw. Methoden bei Straffälligen fraglich ist. Für den Maßregelvollzug betont etwa Nowara (1997, S. 116), daß noch bis vor 10 bis 15 Jahren sich die Unterbringung gem. § 63 StGB fast ausschließlich in einer Verwahrung erschöpfte. Die angemessenen Rahmenbedingungen für eine Therapie waren nicht gegeben, bauliche Voraussetzungen und personelle Situation waren schlecht. „Ob und welche Behandlung ein Untergebrachter erhielt, war stärker von Zufälligkeiten abhängig - etwa der Zeit und der Neigung des Personals - als von einer konsequenten Zielsetzung." War ein solches Vorgehen zu Beginn der Straftäterbehandlung beim damals noch geringen Wissen über die Wirkungsweise der einzelnen Behandlungsansätze, ins-
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besondere bei dem Klientel der Straffälligen vielleicht noch sinnvoll und begründbar, ist heute unter Berücksichtigung der inzwischen zahlreich vorliegenden Evaluationsstudien ein theoriegeleitetes Vorgehen und vor diesem Hintergrund die spezifische Auswahl einzelner Behandlungsprogramme dringend erforderlich, ja geradezu eine conditio sine qua non für die gezielte Weiterentwicklung der Behandlungsforschung (Lösel 1993). Wie dagegen andererseits die Konzentration hinsichtlich der Behandlung von Straffälligen im wesentlichen auf ein einziges „klassisches" Verfahren, die Psychoanalyse (vgl. etwa Bender 1996; Duncker 1996), die Gefahr einer Stagnation hinsichtlich der Weiterentwicklung in sich birgt, zeigen manche Erfahrungen aus dem Maßregelvollzug. Obwohl gegenüber dem Einsatz der Psychoanalyse bei Straffälligen von Anfang an erhebliche Bedenken bestanden, hält man hier bis heute zu sehr an diesem Behandlungsansatz fest. Auch hier brachte das zunehmende Vordringen der Psychologen mit ihrer vielseitigeren psychotherapeutischen Ausbildung einen frischen Wind in die Straftäterbehandlung. Gleichzeitig brachten die Psychologen auch eine eher empirisch ausgerichtete Sichtweise mit sich, was sich positiv hinsichtlich der dringend notwendigen Evaluation der Maßnahmen auswirken dürfte. Gerade die Psychoanalyse hat es mit der Erfolgsüberprüfung ihres Vorgehens schwer und noch heute bestehen ungerechtfertigte „Widerstände" gegenüber einer gezielten Evaluation, was die gezielte Weiterentwicklung des Verfahrens erheblich behindert. In vielen Einrichtungen ist eine deutliche Resistenz gegenüber Behandlungsforschung und Evaluation der eingesetzten Resozialisierungsmaßnahmen zu bemerken. 3. Evaluation Das Aufblühen der Behandlung Straffälliger in der Bundesrepublik Deutschland und die Einrichtung von Sozialtherapeutischen Anstalten sowie die Erfolgsüberprüfung der praktizierten Behandlungsprogramme fiel, wie erwähnt, zeitlich etwa zusammen mit der vermehrt einsetzenden Kritik dieses Ansatzes in den USA (vgl. Lipton u.a. 1975). Bereits Mitte der 50er Jahre waren dort allerdings kritische zusammenfassende Darstellungen zur Wirkung resozialisierender Programme in den Vollzugsanstalten erschienen, die den begrenzten Erfolg solcher Programme andeuteten (vgl. bereits Kirby 1954; zusammenfassend Kury 1986b). Die Kritik am Behandlungsansatz riß dort nicht ab. Immer wieder erschienen zusammenfassende Darstellungen der bis dahin vorliegenden Forschungsergebnisse, die weitgehend zu dem Resultat kamen, daß wenig an Er-
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folg gesichert sei, teilweise allerdings nicht, weil die Programme schlecht seien, sondern die Forschungsprojekte aufgrund methodischer Schwächen kaum differenzierte Aussagen erlaubten (vgl. etwa Bailey 1966; Logan 1972). Das Problem der Behandlungsforschung bestand somit nicht nur darin, daß die angewandten Programme nicht erfolgreich waren, sondern gleichzeitig noch darin, daß man aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft der vorliegenden empirischen Evaluationsstudien überhaupt insgesamt wenig über einen gesicherten Erfolg der Behandlungsansätze wußte. Kritiker des Behandlungsgedankens hatten es vor dem Hintergrund der Komplexität einer Evaluation von Behandlungsmaßnahmen nicht schwer, in den Forschungsprogrammen Fehler zu benennen, die eine gesicherte Aussage nicht erlaubten. Martinson (1974) stellte Mitte der 70er Jahre die kritische Frage: „What works" und beantwortete sie gleich selbst mit „nothing works", allerdings nicht in dieser Absolutheit, wie er später von Gegnern des Behandlungsansatzes nur zu gerne immer wieder zitiert wurde, auch in der Bundesrepublik. MacKenzie (1996, S. 9-21) betont: „However, despite the critiques of the work and its questionable validity, the phrase ,nothing works' became an instant cliche and exerted an enormous influence on both popular and professional thinking". Die Ausführungen Martinsons sind zwar eine harte - nicht völlig unberechtigte - Kritik, aber keineswegs ein Abgesang auf die Behandlungsforschung, sondern eher eine Aufforderung, wirksamere Behandlungsprogramme anzuwenden und diese besser zu evaluieren, vor allem müssen die „wenigen und isolierten" erfolgreichen Ansätze weiterentwickelt werden. Das ist in den Folgejahren vor allem in den USA, aber teilweise auch der Bundesrepublik Deutschland geschehen. Allerdings führte die Kritik von Martinson und seiner Co-Autoren weltweit zu einer deutlich pessimistischeren Einstellung gegenüber Behandlungsmöglichkeiten von Straftätern, auch zu einer vermehrten Ablehnung dieser Ansätze. In den USA, und nicht nur hier, wurde diese Kritik jedoch auch sehr willig aufgenommen. „The summary appeared at a time when the national media and the social climate were ripe for a shift away from the so-called .rehabilitative era'" (Lipton 1995, S. 14). Zunehmende Punitivität auf Seiten der Strafverfolgungsorgane, aber vor allem auch in der Bevölkerung, unterstützten dieses Abrücken vom Behandlungsansatz (vgl. zusammenfassend Kury u.a. 1998). Trotz dieser kritischen Stimmen aus den Vereinigten Staaten war man in den 70er Jahren in der Bundesrepublik hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten von Straftätern, gerade auch im Strafvoll-
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zug, teilweise sehr optimistisch, wobei es allerdings von Anfang an auch hier nicht an Gegnern und kritischen Stimmen fehlte (vgl. zusammenfassend Kury 1986a). Das führte nach Vorliegen der ersten empirischen Erfolgsuntersuchungen mit - im Vergleich zu den USA - zeitlicher Verzögerung zwangsläufig ebenfalls zu einer gewissen Ernüchterung und auch Enttäuschung. Mitte der 80er Jahre kam es auch hier entsprechend zu einer gewissen Abkehr vom Behandlungsgedanken, die allerdings nicht nur unter dem Einfluß der fehlenden Erfolgserlebnisse stand, sondern auch durch neue, vielfach weniger eingriffsintensive, kriminalpolitische Programme im Umgang mit Straffälligen bedingt war. Wiederum gingen die Anregungen vor allem von den Vereinigten Staaten aus. So fanden Gedanken der Diversion {Kury & Lerchenmüller 1981) und des Täter-Opfer-Ausgleichs, schließlich Programme der Kriminalprävention auf kommunaler Ebene (vgl. Kury 1997), allerdings auch der Gedanke der Abschreckung und selective incapacitation verstärkt Einfluß. Die Behandlungsforschung zeigte u.a. deutlich, wie schwierig es war, Straftäter zu resozialisieren, wobei hinsichtlich intramuraler Behandlungsprogramme noch hinzukam, daß die Maßnahmen in einem behandlungsungünstigen, ja in aller Regel geradezu behandlungsfeindlichen Klima und unter meist wenig resozialisierungsfreundlichen Bedingungen stattfanden. Die „Zusammenfassung vieler, erheblich straffälliger Personen in einer Anstalt, die künstliche Atmosphäre einer Einrichtung, in der fast alle Lebensbereiche bis ins Einzelne geregelt sind und die Trennung der Insassen von den Menschen und den Fragen, mit denen sie es .draußen' zu tun haben (sind) keine günstigen Voraussetzungen für soziales Lernen" (Böhm 1991, S. 62). Die kriminelle Karriere ist zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten und i.d.R. verfestigt, einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft stehen zahlreiche Hemmnisse, die teilweise auch in der Gesellschaft selbst und deren Einstellung und Verhalten gegenüber Straffälligen liegen, entgegen, wie etwa mangelnder Arbeitsplatz, i.d.R. keine Ausbildung, keine sozialen Bindungen bzw. lediglich zu anderen, ebenfalls straffälligen Personen, weitere Schädigung durch den Strafvollzug (Prisonisierung) und schließlich auch Stigmatisierung durch die Inhaftierung, welche den Täter zusätzlich zum Außenseiter stempelt und den Großteil der Bevölkerung von ihm abrücken läßt. Durch die wachsende Strafmentalität in breiten Teilen der Bevölkerung in den letzten Jahren sind Resozialisierungsprogramme und Wiedereingliederungsbemühungen zusätzlich schwierig geworden. Das trifft nicht nur für den Strafvollzug, sondern ebenso für den Maßregelvollzug zu, insbesondere was Sexualstraftäter betrifft. Vor dem Hintergrund des Druckes der Offent-
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lichkeit wurde etwa auch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26. Januar 1998 geschaffen, das Resozialisierungsbemühungen nicht nur bei dieser Tätergruppe, sondern aufgrund eines „Ausstrahlungseffektes" des Gesetzes auf alle im Straf- bzw. Maßregelvollzug Untergebrachten bei den Inhaftierten insgesamt wesentlich erschwert (vgl. Böhm 1989), etwas was den wichtigen Aspekt von Vollzugslockerungen betrifft. Was junge Straftäter betrifft, sah man auf der einen Seite die Möglichkeit und vor allem auch Notwendigkeit, möglichst früh mit Resozialisierungsprogrammen zu beginnen, um der Verfestigung einer kriminellen Karriere zu begegnen, auf der anderen Seite zeigten sich jedoch gerade junge Täter oft wenig behandlungsbereit, vor dem Hintergrund einer eingeschränkten Einsicht in deren Notwendigkeit (vgl. etwa Kerner u.a. 1996; Lempp 1983). Kerner und Janssen (1996, S. 217f.) sprechen in diesem Zusammenhang im Kontext eigener Längsschnittuntersuchungen bei Jugendstraffälligen von einer „kognitiven Spätresozialisierung ... Gemeint ist damit die aus Einzelfallanalysen ... sich erst in Umrissen herausschälende Einsicht, daß viele Strafgefangene und Entlassene erst dann für helfende Einflüsse zugänglich werden (können), wenn sich ihre Lebenssituation stabilisiert hat". Gerade jugendliche und heranwachsende Straftäter werden etwa nach Verbüßung einer Haftstrafe zu einem hohen Prozentsatz wieder rückfällig. Diese Rückfallquote nimmt mit zunehmendem Alter, wie die kriminellen Aktivitäten insgesamt, zumindest wenn man diese auf die „herkömmliche" Kriminalität beschränkt, etwa Wirtschafts-, organisierte und politische Kriminalität, unberücksichtigt läßt, deutlich ab (vgl. Kerner u.a. 1996; Kerner & Janssen 1996; Dolde & Grübl 1996; Maetze 1996; Berckhauer & Hasenpusch 1982). 4. Ergebnisse der Evaluationsprogramme Mittlerweile liegen insbesondere aus den USA auch verbesserte Meta-Evaluationen vor, die ein verändertes, insbesondere differenzierteres Bild von der Wirkungsweise der Straftäterbehandlung zeichnen. Einerseits wurden hier die Behandlungsmethoden weiterentwickelt und verbessert, andererseits, insbesondere aber auch die Evaluationsstudien, die mit zahlreichen methodischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, optimiert, so daß in der Zwischenzeit validere Erkenntnisse zur differentiellen Wirkung einzelner Behandlungsverfahren vorliegen. Das gilt nicht nur für die USA, sondern auch für Deutschland, wo inzwischen ebenfalls eine Meta-Analyse die bishe-
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rigen empirischen Evaluationsstudien zusammenfaßt (vgl. Lösel u.a. 1987) und einzelne, methodisch bessere Evaluationen durchgeführt wurden (vgl. Ortmann 1987). Den wohl aktuellsten und gleichzeitig umfassendsten Uberblick über die bisherigen Ergebnisse der Behandlungsforschung und deren Einschätzung, zumindest was den US-amerikanischen Bereich betrifft, gibt MacKenzie (1996). Was die Behandlungsforschung betrifft, betont MacKenzie: „Reviews of evaluations published after Martinson's essay indicated that substantial research exists showing the effectiveness of correctional treatment" und: „Today, while there is still some debate about the effectiveness of rehabilitation (...) recent literature reviews and meta-analyses demonstrate that rehabilitation programs can effectively change offenders" (S. 9-21). „The important issue is not whether something works but what works for whom" (S. 9-22). Letztere Aussage dürfte unter Behandlungsforschern international inzwischen als zentrale Fragestellung anerkannt sein. Die Frage kann beim heutigen Wissensstand nicht mehr sein, ob irgendwelche, aus inhaltlichen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar ausgewählte Behandlungsmaßnahmen bei allen Straftätern generell wirken, sondern sie muß spezifiziert werden zu der Frage, welche speziellen Programme bei welcher Tätergruppe unter welchen therapeutischen bzw. vollzuglichen Bedingungen wie wirken. In der westlichen Welt ist mittlerweile eine moderate Wiederbelebung des Behandlungsansatzes zu beobachten, der seine Hintergründe einmal in den Resultaten der neueren Meta-Evaluationen hat, aber auch in der Erkenntnis, daß andere Konzepte (vgl. oben) ebenfalls ihre Schwächen und Probleme haben. Hinzu kommt, daß zumindest alle Industriestaaten die Gefängnisstrafe praktizieren, somit mehr oder weniger Straftäter inhaftieren, die Rückfallquoten, insbesondere bei jungen Tätern, jeweils als hoch eingeschätzt werden müssen und zumindest augenblicklich eine Abschaffung der Gefängnisstrafe, wenn sie auch von manchen Kriminologen immer wieder gefordert wird, nicht in Sicht ist, somit die Forderung, die Gefängnisstrafe effizienter i.S. einer Rückfallminderung zu gestalten, bestehen bleibt. Das darf jedoch nicht so gewendet werden Kritiker weisen zurecht auf diese Gefahr hin - daß durch bestehende Behandlungsmaßnahmen im Vollzug die Anordnung einer Freiheitsstrafe im Hinblick auf eine Resozialisierung eines Straftäters sinnvoll sei. Wenn es um Resozialisierung geht sollte diese möglichst in Freiheit durchgeführt werden und nur wenn aus Sicherheitsgründen dies nicht vertretbar ist, sollte sie zumindest auch während des Vollzugs der Freiheitsstrafe versucht werden. In solchen Fällen
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sind die Resozialisierungsprogramme jedoch unbedingt über den Vollzug der Freiheitsstrafe hinaus fortzuführen (Nachbetreuung) (vgl. zur internationalen Diskussion etwa Röstad 1991). Die verschiedenen Meta-Analysen der unterschiedlichsten angewandten Behandlungsmaßnahmen kommen zu unterschiedlichen Resultaten, was die Wirkungsweise einzelner Ansätze betrifft, die übergeordneten Effekte sind jedoch insgesamt sehr ähnlich. Die mittleren Effektgrößen variieren zwischen .05 und .18, das bedeutet, daß die Behandlungsgruppen im Vergleich zu den Kontrollgruppen eine entsprechend niedrigere Rückfallquote aufweisen. Unterschiedliche Behandlungsprogramme, etwa Diversionsmaßnahmen, gemeindeorientierte Interventionen bzw. Behandlung in Institutionen bei Jugendlichen oder auch Erwachsenen bzw. Sozialtherapie, zeigen teilweise nahezu identische Mittelwerte hinsichtlich der Effektgrößen von .10 bis .11. Die angemessenste Schätzung des Insgesamteffektes der Behandlung scheint somit bei .10, also bei einer Senkung der Rückfallquote der Behandelten im Vergleich zu einer nichtbehandelten Kontrollgruppe von 10% zu liegen (Lösel 1993, S. 6). Einzelne Meta-Analysen zeigen, daß nahezu die Hälfte der berücksichtigten Einzelstudien hinsichtlich der Behandlungswirkung erfolgreich ist. Was die Behandlung von Straftätern im Maßregelvollzug betrifft, kommen etwa Hinricbs u.a. (1994, S. 38) zusammenfassend ebenfalls zu dem Ergebnis, daß Behandlung funktioniert. Trotz früher Kritik am Behandlungsansatz sei die Arbeit weitergegangen. „Nevertheless, work done in this area did not stop at all, new forms of psychotherapy including the treatment of patients with personality disorders led to a reappraisal of the Martinson-doctrine under the motto: Nothing works - but some things do work!" Es wurde immer wieder festgestellt, daß etwa Rückfalluntersuchungen bei aus dem Maßregelvollzug entlassenen bessere Ergebnisse zeigen als bei aus dem Strafvollzug entlassenen Tätern (vgl. etwa Pollähne 1996). So spricht etwa Kaiser (1990, S. 46) im Hinblick auf den Maßregelvollzug von einer „beachtlichen Erfolgsquote in der Legalbewährung ... angesichts der schwierigen Problematik der Klientel", Schöch (1995, S. 183) spricht von einer „beachtlichen Reduzierung der Unterbringungsdauer ... bei erstaunlich niedrigen Rückfallquoten" und führt das im wesentlichen auf das Institut der Führungsaufsicht zurück, Schüler-Springorum u.a. (1996, S. 187) kommen in ihrem „Gutachten der unabhängigen Expertenkommission" zur therapeutischen Behandlung von Sexualstraftätern im Maßregelvollzug und der Sicherheit der Allgemeinheit zu dem Ergebnis, daß sich der Maßregelvollzug insgesamt als „durchaus er-
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folgreich" erweise, gemessen an der „großen Zahl der ständig aus dem Maßregelvollzug entlassenen Patienten, deren soziale Wiedereingliederung sehr wohl gelingt". Diese Einschätzung ist zweifellos richtig und bestätigt, daß die bisherige Lockerungs- und Entlassungspraxis keineswegs zu einer Gefährdung der Inneren Sicherheit geführt hat. Die besseren Ergebnisse der Maßregelvollzugsbehandlung können, von Selektionsprozessen abgesehen, vor allem auch auf die günstigeren Behandlungsbedingungen in Maßregelvollzugseinrichtungen zurückgeführt werden. Diese hängen mit der in den Maßregelvollzugseinrichtungen als Krankenhäusern wesentlich günstigeren Behandlungsatmosphäre zusammen, als wir sie in den Justizvollzugsanstalten finden. Ferner ist hier die Personalsituation günstiger, dieses ist auch eher auf eine Behandlung eingestellt als in einer Vollzugsanstalt, die ja vor allem der Bestrafung dient, nicht nur nach Ansicht der breiten Bevölkerung, sondern auch eines Großteils der Bediensteten. So betont Schalast (1998, S. 43): „Der im Vergleich zum Strafvollzug erheblich bessere Personalschlüssel schafft bessere Möglichkeiten, mit Patienten in einen produktiven Arbeitskontakt zu treten und auf Stationen ein leidlich therapeutisches Klima zu realisieren." Die Art der Behandlung hat einen hohen differenzierenden Effekt. Behandlungsmaßnahmen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Strafrechtssystems, innerhalb oder außerhalb einer Vollzugsanstalt, sind erfolgreicher, wenn sie strukturiert sind, kognitiv und behavioral orientiert sind und multimodal ausgerichtet sind, aber gleichzeitig gerichtet auf das Training konkreter Fähigkeiten. Als weniger erfolgreich erwiesen sich dagegen nichtdirektive Behandlungsprogramme, klientenorientierte Gruppen- oder weniger strukturierte Fallarbeit, wie sie bisher in vielen Fällen angewandt wurden und noch werden. Gendreau u.a. (1995) fanden beispielsweise in einer neueren Metaanalyse hinsichtlich der Prüfung, welche Faktoren für den Rückfall bei erwachsenen Straftätern verantwortlich sind, daß dies etwa antisoziale Kognitionen sind, Wertvorstellungen und entsprechende Verhaltensweisen zusammen mit statischen, nicht veränderbaren Faktoren wie Lebensgeschichte, Alter, Geschlecht oder Rasse. Die veränderbaren Hintergründe der Straffälligkeit bzw. Rückfälligkeit sollten Ziel von Behandlungsprogrammen sein, die spezifisch hierauf gerichtet sind. Im Gegensatz dazu kümmern sich Behandlungsprogramme bis heute in der Regel um Faktoren wie Selbstwertgefühl, Depression, Angst u.ä., wobei das gleichzeitig Persönlichkeitscharakteristika sind, die offensichtlich wenig mit Rückfall bzw. Straffälligkeit in Verbindung stehen (vgl. Lösel 1993, S. 8; MacKenzie 1996, S. 9-23).
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Antonowicz und Ross (1994, S. 97) führten eine quantitative Analyse von 44 rigoros kontrollierten Behandlungsprogrammen bei Straffälligen, die zwischen 1970 und 1991 veröffentlicht wurden, durch. Sechs Faktoren zeigten signifikante Zusammenhänge mit dem Erfolg der Behandlungsprogramme: ,,a) a sound conceptual model, b) multifaceted programming, c) the targeting of ,criminogenic needs', d) the responsivity principle, e) role playing and modelling, and f) social cognitive skills training". Die Autoren kommen vor dem Hintergrund dieser Resultate und der Analyse der internationalen Literatur zu der zusammenfassenden Schlußfolgerung (S. 97): „A growing body of research literature attests to the fact that some rehabilitation programs are successful with some offenders in some settings when applied by some staff" (vgl. auch oben). Andrews u.a. (1990) fanden für gute Behandlungsprogramme eine Rückfallquote von 34% gegenüber 66% bei der nichtbehandelten Kontrollgruppe. Uber alle berücksichtigten 154 Behandlungsprogramme hinweg stellten sie eine Effektstärke von .21 für die Treatments fest. Diese enormen Effekte erinnern an die, wie wir inzwischen wissen, überhöhten Erwartungen an die Behandlungswirkung in den 60er und 70er Jahren und sollten daher zurückhaltend interpretiert werden. Sie zeigen aber andererseits auch, daß es realistische Annahmen gibt, daß der insgesamt moderate Behandlungseffekt von 10% durchaus nicht die Endmarke sein muß. Was die bisherigen Evaluationen auch zeigen, ist, daß schlechte Behandlungsprogramme auch negative Effekte erzielen können, d.h., daß hier die Rückfallquote durch die Behandlung erhöht und nicht reduziert wird. Nach Ansicht von Grawe u.a. (1994, S. 744f.) sind in der allgemeinen Psychotherapieforschung die kognitiv-behavioralen Therapien die mit großem Abstand am besten untersuchten Therapieformen, bei denen gleichzeitig ein Erfolg am deutlichsten belegt ist. „Besonders überzeugend nachgewiesen ist die Wirksamkeit dieser Therapien aber nicht nur deswegen, weil sie insgesamt viel intensiver und in viel mehr Anwendungsbereichen untersucht sind als alle anderen Therapiemethoden, sondern auch dadurch, daß sie sich im Direktvergleich anderen Therapien gegenüber als signifikant wirksamer erwiesen haben". Auch hinsichtlich der Weiterentwicklung der Psychotherapie geht es in Wirklichkeit nicht „um die Entwicklung innerhalb einer Therapieschule, sondern um den Beginn einer grundlegenden Veränderung im Bereich der Psychotherapie, die deren Erscheinungsbild völlig wandeln wird" (Grawe u.a. 1994, S. 745; s.a. Grawe 1998). Die Ergebnisse der allgemeinen Psychotherapieforschung bestätigen auf auffallende Weise die Resultate aus der neueren Behandlungsfor-
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schung. Auch in der Behandlungsforschung muß offensichtlich ein deutliches Umdenken hinsichtlich des Vorgehens in der Resozialisierung Straffälliger erfolgen. Nach wie vor ist auch nach den Ergebnissen neuerer Meta-Analysen zur Behandlung Straffälliger der erfolgversprechendste Weg zur resozialisierenden Behandlung ein theoriegeleitetes Vorgehen, bei welchem die Behandlungsansätze auf empirisch gesicherten Ergebnissen zu den Ursachen kriminellen Verhaltens beruhen und konkrete aktive Maßnahmen auf der Basis sozial-kognitiver Trainingsprogramme ein Umdenken bei den Straffälligen einleiten und neue Fähigkeiten vermitteln (vgl. Lösel 1993, S. 10). Gute Behandlungsprogramme sind offensichtlich sowohl im Rahmen von gemeindeorientierten Programmen als auch institutioneller Maßnahmen wirksam, allerdings schnitten die Gemeindeprogramme i.d.R. günstiger ab (Lösel 1993, S. 10). Das bedeutet einerseits, daß Resozialisierungsmaßnahmen in Freiheit offensichtlich deutlich wirksamer sind, weil sie den sehr ungünstigen Einfluß einer Inhaftierung im Strafvollzug vermeiden, weiterhin günstigere und realitätsadäquatere Trainingsbedingungen schaffen. Andererseits besagt das Ergebnis allerdings auch, daß selbst unter Strafvollzugsbedingungen Resozialisierungsmaßnahmen wirksam sein können. Hier kommt es allerdings wesentlich auf organisatorische Bedingungen sowie auf eine Unterstützung des Behandlungsprogramms durch das Strafvollzugspersonal an. Auswahl und Training des Strafvollzugspersonals kommt hinsichtlich der Resozialisierung von Straftätern in Vollzugsanstalten somit eine zentrale Bedeutung zu. MacKenzie (1996, S. 9-24) betont: „Poorly implemented programs, delivered by untrained personnel, where offenders spend only a minimal amount of time in the program, can hardly be expected to successfully reduce recidivism". Ein Mangel der meisten intramuralen Resozialisierungsprogramme besteht auch darin, daß die Behandlung der Straftäter mit der Entlassung aus der Institution abbricht, d.h. i.d.R. keine (effiziente) Nachbetreuung stattfindet und das, obwohl gerade nach Haftentlassung die entscheidende, oft Konflikte mit sich bringende, Bewährungszeit beginnt, in welcher der Straftäter besonderer Hilfe und Unterstützung bedarf (vgl. Kury 1986b). Vor dem Hintergrund aller noch bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich eines nachweisbaren Erfolges von Straftäterbehandlung zeigen neuere Untersuchungen somit doch eines ganz deutlich, daß es sich nämlich lohnt, den Behandlungsgedanken bei Straftätern weiterzuverfolgen. „Weder kriminalpolitische Dogmen, noch Moden, sondern fortgesetzte Bemühungen in Forschung und Praxis tragen
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dazu bei, daß wir etwas sicherer auf die Frage antworten: ,What works?'" {Lösel 1994, S. 34). 5. Diskussion
Bei aller Problematik und Schwierigkeit resozialisierender Maßnahmen bei Straffälligen kann aufgrund neuerer umfangreicher empirischer Resozialisierungsforschung, insbesondere vor dem Hintergrund der inzwischen vorliegenden differenzierten Meta-Analysen, unseres Erachtens gesagt werden, daß der seit den 70er Jahren gehegte Verdacht, daß „nothing works" heute nicht mehr gerechtfertigt ist (vgl. etwa auch Steller H.a. 1994). Er war schon zu Beginn der Behandlungsforschung nicht begründet. Böhm (1971, S. 19 f.) betonte bereits vor nahezu 30 Jahren, daß es in der Behandlungswissenschaft „gar nicht hoffnungslos" aussähe. Zwar stünde nach wie vor ein perfektes Modell, wie es noch Obermaier (1835) zu haben glaubte, nicht zur Verfügung. Die Behandlungsforschung hat ja steile Aufwärts- und Abwärtsentwicklungen hinter sich, die an „Modewellen" erinnern und die der Bedeutung des Themas nicht gerecht werden. So ging die Entwicklung vom „Behandlungsgedanken über die Behandlungseuphorie bis schließlich zur Behandlungsideologie" {Kerner 1996, S. 8) und nun glücklicherweise wieder zu einer um mehr Objektivität bemühten Einschätzung der Wirksamkeit resozialisierender Programme. Kerner (1996, S. 92) betont zu Recht, daß neuere Ergebnisse deutlich zeigen, „daß der vor allem in den 80er Jahren gepflegte Behandlungspessimismus nicht das letzte Wort gewesen sein kann". Resozialisierung von Straftätern, auch im Strafvollzug, kann positive Wirkungen haben, allerdings muß gleichzeitig betont werden, daß der Erfolg deutlich von den durchgeführten Programmen abhängt und meist relativ moderat ist. Damit kommt es stark auf die Weiterentwicklung der effizienten Behandlungsmaßnahmen an. Die Entwicklung der Treatments wird sich mit der Weiterentwicklung des Behandlungsgedankens auch bei Straffälligen differenzieren. „Man wird sagen können, daß differenzierte Behandlungsangebote gemacht werden müssen. Therapeutische Modelle, von der Neurosenbehandlung her entwickelt, erreichen nur einen Teil der Insassen. Es kämen aber auch Ansätze aus der Lernpsychologie in Betracht" {Böhm 1971, S. 19 f.). Böhm hatte hier vor nahezu 30 Jahren am Beginn der deutschen Behandlungsforschung die weitere Entwicklung richtig gesehen. Offensichtlich sind verhaltensorientierte, kognitiv-behaviorale Behandlungsprogramme effizienter als etwa nichtdirektive, psychoanalytische oder gruppendyna-
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mische Vorgehensweisen. So kommen neuere Studien „überwiegend zu der Auffassung, daß sich echte Behandlungswirkungen nachweisen lassen und daß dies vor allem bei Behandlungsprogrammen der Fall ist, die verhaltensorientiert sind, auf die Förderung konkreter Fähigkeiten und Fertigkeiten abzielen, die Einbindung in offene Settings fördern und Mehrmethodenmodelle anwenden" (Kerner 1996, S. 95). Das gilt interessanterweise nicht nur für die Straftäterbehandlung sondern offensichtlich für die Psychotherapie insgesamt. Unterstützende Maßnahmen, eingebettet in ein gutes Klienten-Therapeuten-Verhältnis, scheinen nicht nur wesentlich effizienter, sondern vor allem auch wesentlich schneller zu einer Verbesserung der Problematik bei Straftätern, zu einer Lebensbewältigung ohne Straftaten zu führen als etwa psychodynamisch oder tiefenpsychologisch ausgerichtete Gesprächstechniken. Diese insgesamt eher positive Bilanz der Behandlung inhaftierter Straftäter darf jedoch über Eines nicht hinwegtäuschen: Strafvollzugsanstalten bieten nach wie vor - das wird wohl auch kaum substantiell geändert werden können - das denkbar ungünstigste Milieu, in welchem eine Behandlung stattfinden kann. Selbst die Situation im Maßregelvollzug, die zwar ebenfalls als schlecht beurteilt wird, ist noch erheblich günstiger als im Strafvollzug (vgl. Bender 1996; Duncker 1996). Wenn es tatsächlich so ist, daß „im Vollzug der Freiheitsstrafe ... der Gefangene fähig werden (soll), künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" und wenn das, wie alle Kommentatoren des Strafvollzugsgesetzes betonen, das vorrangige Vollzugsziel ist und nicht bloß eine politische Good-will-Erklärung, die man so ernst nicht gemeint hat, dann müßte man die Praktizierung der Freiheitsstrafe weitgehend umorientieren. Gegenwärtig kann kaum Zweifel daran bestehen, daß Resozialisierungsmaßnahmen außerhalb des Strafvollzuges wirksamer sind. Behandlungsmaßnahmen im Vollzug und auch in der Sozialtherapie sind eingezwängt in ein durch gesetzliche Bestimmungen und Regelungen enges Korsett, hinzu kommen traditionelle Muster des Umgangs mit Gefangenen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich insbesondere in großen Anstalten eine Atmosphäre, die nicht nur nicht eine Behandlung unterstützt, sondern ihr in aller Regel zuwiderläuft. Der Eindruck, daß Resozialisierungsprogramme, zumindest im Regelvollzug, letztlich doch nur eine Alibifunktion für einen „modernen Vollzug" haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Für diese Alibifunktion spricht etwa auch der Umstand, daß wir zwar in der Bundesrepublik seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes 1977 eine der modernsten und progressivsten Regelungen haben,
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daß aber wesentliche Punkte eines modernen Vollzuges nicht umgesetzt wurden, so etwa eine auch nur einigermaßen adäquate Bezahlung für die Gefangenenarbeit. So hat das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund verschiedener Verfassungsbeschwerden mit Urteil vom 1. Juli 1998 betont: „Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Dabei ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Arbeit im Strafvollzug, die den Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muß aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindesmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist." Vor diesem Hintergrund entschied das Gericht, daß § 200 Abs. 1 StVollzG, der die Gefangenenarbeit bisher auf „fünf von Hundert des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ohne Auszubildende des vorvergangenen Kalenderjahrs" festlegte, „mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar" sei. Die Regelung des Strafvollzugs bleibt bis zu einer gesetzlichen Regelung, längstens allerdings bis zum 31. Dezember 2000, anwendbar. Immer wieder wurde in der kriminologischen Literatur auf die mit dem Resozialisierungsgedanken unvereinbar niedrige Gefangenenentlohnung hingewiesen, ohne daß sich etwas geändert hat. Es mußte wieder einmal von höchstrichterlicher Seite auf die Politik Druck ausgeübt werden, um längst fällige Veränderungen herbeizuführen. Ein Großteil der Insassen benötigt keine Behandlung, zumindest keine psychologisch-psychotherapeutische, sondern vielmehr praktische Lebenshilfen, etwa hinsichtlich Arbeitsplatz, Wohnung, Partnerproblemen u.ä. Diese Maßnahmen sollten allerdings nach Möglichkeit außerhalb des Strafvollzuges durchgeführt, zumindest über diesen hinaus fortgesetzt werden. Es ist in der Literatur immer wieder auf die Bedeutung der Nachentlassungssituation und entsprechender Hilfen und Betreuungsprogramme hingewiesen worden, ohne daß solche Programme systematisch entwickelt wurden,
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von wenigen einzelnen Ausnahmen abgesehen. So betont beispielsweise Wirth (1996b, S. 495) zu Recht, daß wir nach wie vor wenig über rückfallrelevante Bedingungen nach Haftentlassung wissen, „obwohl doch gerade in der besonders rückfallträchtigen ,Übergangsphase' unmittelbar nach der Haftentlassung ... offensichtlich ganz wesentliche Weichen für den Abbruch oder die Fortsetzung krimineller Karrieren gestellt werden". Ein Teil der Insassen ist - zumindest mit den gegenwärtigen Behandlungsansätzen - auch nicht zu erreichen, oft vor dem Hintergrund einer mangelnden Behandlungsmotivation bzw. einer nicht vorhandenen Einsicht in deren Notwendigkeit. Hier geht es auch um die Weiterentwicklung der Behandlungsprogramme für diese schwierige Klientel. Bei der Aufstellung eines Vollzugs- bzw. Behandlungsplanes, wie er nach dem Strafvollzugsgesetz vorgeschrieben ist, sollten vor dem Hintergrund einer speziellen Persönlichkeitsuntersuchung, Ausführungen zu einer geplanten Behandlung gemacht werden. Wie Mey (1996b) jedoch nachweist, werden bei einem relativ großen Teil der Insassen weder eine Behandlungsuntersuchung durchgeführt, noch ein Vollzugsplan aufgestellt. Für die Planung einer Behandlung könnten auch im Rahmen des Strafverfahrens erstattete psychologische bzw. psychiatrische Gutachten wesentliche Hinweise über die Persönlichkeitsstruktur und u.U. die Behandlungsnotwendigkeit geben (vgl. etwa Hinrichs & Werner 1996). Bei aller berechtigten und unberechtigten Kritik am Behandlungsansatz sollte auch eines nicht vergessen werden, daß zwar nicht alle, jedoch ein beachtlicher Teil der Insassen von Vollzugsanstalten dringend der Hilfe benötigt, auch bei der Lösung ihrer psychischen Probleme, die i.d.R. auch in Zusammenhang mit deren Straffälligkeit gesehen werden können. Ein Zurückziehen der Behandlungsansätze aus dem Strafvollzug könnte auch bedeuten, diese Menschen mit ihren Schwierigkeiten alleine zu lassen. So betont etwa Kerner (1992, S. 523): Trotz aller Kritik am Behandlungsgedanken „sollte festgehalten werden, daß die genannte Abkehr von der Behandlungsideologie auch mögliche ,Kehrseiten' mit sich bringen kann: Nämlich u.a. das völlige Alleinlassen gerade derjenigen Anstaltsinsassen, für die unter traditionellen Bedingungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fast keine Chancen zur Rückkehr in die Gesellschaft bestehen. Sodann ein allgemeines Nachlassen der Verbesserungsbestrebungen im Vollzugswesen, wenn die Impulse von besonderen Einrichtungen ausbleiben". Behandlung ist einerseits Hilfe, kann sie zumindest sein, bedeutet andererseits auch einen Eingriff in das Leben eines anderen Men-
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sehen und damit auch Kontrolle. Auch deshalb ist eine freiwillige Mitarbeit der Betroffenen stets vorauszusetzen. Diese Freiwilligkeit sollte weitestmöglich auch respektiert werden. Hierbei sehen wir durchaus, daß eine Freiwilligkeit im Strafvollzug durch das Gewaltverhältnis der Inhaftierung stets relativiert wird. Es wäre jedoch falsch, davon auszugehen, daß diese Freiwilligkeit idealiter bei einer Behandlung in Freiheit stets gegeben sei. Daß Behandlung trotzdem funktionieren kann, zeigen teilweise beeindruckende Ergebnisse. Die oft verkürzt geführte, vielfach ideologisch mitgeprägte Diskussion um „Prozentpunkte" hinsichtlich der Rückfallhöhe nach Behandlung übersieht solche „politischen" Gesichtspunkte allzu oft. Solange der Strafvollzug nicht abgeschafft ist, scheint es aus ethischen Gründen notwendig zu sein, Behandlungsangebote für die Inhaftierten zu machen, ganz abgesehen davon, daß das Strafvollzugsgesetz uns hierzu verpflichtet. Was wir bisher über die vielzitierte angebliche Wirkungslosigkeit des Strafvollzugs dokumentierbar wissen, bewertet Kerner (1992, S. 556) zu Recht mit „wenig!". Von daher scheint uns zumindest gegenwärtig ein Abgesang auf die Behandlungsforschung wissenschaftlich nicht gerechtfertigt zu sein. Die neueren Behandlungsprogramme, die mehr und mehr spezifisch auf die Straffälligkeit gerichtete Interventionsformen anwenden und nicht bloß allgemein psychotherapeutische Vorgehensweisen mehr oder weniger naiv auf straffällige Inhaftierte aufpfropfen, bringen offensichtlich bessere Erfolge hinsichtlich einer Rückfallsenkung. Die Frage, ob Resozialisierung im Vollzug funktioniert, kann noch nicht abschließend beurteilt werden, da wir erst damit begonnen haben, für diese Klientel in dieser Situation spezifische Treatments zu entwickeln. Die Weiterentwicklung der Behandlungsforschung muß auch berücksichtigen, daß sich die Klientel im Strafvollzug in der letzten Zeit deutlich geändert hat. Zum einen erfolgt durch den relativen Rückgang von Freiheitsstrafen eine Konzentration von schwerer straffällig gewordenen Tätern im Vollzug. Zum anderen ist insbesondere etwa auch im Jugendstrafvollzug in den letzten Jahren der Anteil der inhaftierten Ausländer deutlich angestiegen. Schließlich hat sich die Deliktsstruktur der Inhaftierten erheblich gewandelt, so wurden beispielsweise mehr und mehr Drogentäter inhaftiert (vgl. Dolde & Grübl 1996, S. 320ff.). Diese Veränderung der Vollzugsrealität erfordert selbstverständlich auch eine Anpassung der Behandlungsprogramme (vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch die intensive Diskussion um die Entwicklung von Behandlungsprogrammen bei Sexualstraftätern in den letzten Jahren vor dem Hintergrund des in der Öffentlichkeit geführten Streits um die Entwicklung von Sexualstraftaten und einer
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adäquaten Reaktion hierauf; s. Scbüler-Springorum u.a. 1996). Wenn MacKenzie (1996, S. 9-25) in ihrem zusammenfassenden Uberblick abschließend zu dem Ergebnis kommt: „In summary, there is evidence that: Rehabilitation is effective in reducing the criminal behavior of at least some offenders" scheint das eine gute Zusammenfassung des gegenwärtigen Wissensstandes zur Behandlungsforschung zu sein, die bei aller Problematik auch nicht zu viel verspricht. Literatur Aichhorn, A. (1925). Verwahrloste Jugend. Bern. Aichhorn, A. (1971). Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. 7. Aufl. Bern. Antonowicz, D.H. & Ross, R.R. (1994). Essential components of successful rehabilitation programs for offenders. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 38, 97-104. Bailey, WC. (1966). Correctional outcome. An evaluation of 100 reports. Journal of Criminal Law, Criminal and Police Science, 57, 153-160. Bender, T. (1996). Analytische Therapie im Maßreglvollzug. Werkstattschriften Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 3, 23-34. Berckhauer, F. & Hasenpusch, B. (1982). Legalbewährung nach Strafvollzug - zur Rückfälligkeit der 1974 aus dem niedersächsischen Strafvollzug Entlassenen. In: Schwind, H.-D. & Steinhilper, G. (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung (S. 281-351). Heidelberg. Blau, G. (1976). Die Entwicklung des Strafvollzugs seit 1945 - Tendenzen und Gegentendenzen. In: Schwind, H.-D. & Blau, G. (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis (S. 23-34). Berlin u.a. Böhm, A. (1971). Strafvollzug zwischen Tradition und Reform. Karlsruhe. Böhm, A. (1986). Strafvollzug, 2. Aufl. Frankfurt/M. Böhm, A. (1989). Vollzugslockerungen und offener Vollzugs zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen - zugleich eine grundsätzliche Bemerkungen zum Verhältnis von Strafrecht und Strafvollzug. In: Böhm, A. & Schäfer, K.H. (Hrsg.), Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen (S. 1754). Wiesbaden. Böhm, A. (1991). Aufgaben des Vollzugs. In: Schwind, H. -D. & Böhm, Α., Strafvollzugsgesetz. Kommentar (S. 54-68). Berlin u.a. Böhm, A. (1996). Einführung in das Jugendstrafrecht. München Calliess, R.-P. (1981). Strafvollzugsrecht. München. Calliess, R.-R & Miiller-Dietz, H. (1994). Strafvollzugsgesetz. München. Council of Europe (1987). European prison rules. Stasbourg. Dolde, G. & Grübl, G. (1996). Jugendstrafvollzug in Baden-Württemberg. Untersuchungen zur Biographie, zum Vollzugsverlauf und zur Rückfälligkeit von ehemaligen Jugendstrafgefangenen. In: Kerner, H.-J., Dolde, G. & Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung (S. 221-356). Bonn. Duncker, H. (1993). Möglichkeiten der Psychoanalyse in der forensischen Psychiatrie. Recht und Psychiatrie, 11, 63-67. Duncker, H. (1996). Psychotherapie unter Zwang - Geht das überhaupt? Werkstattschriften Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 3, 61-70. Duncker, H., Dimmer, B. & Hobhe, U. (1998). Editorial. Werkstattschriften Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 5, 3-5. Dünkel, F. (1992). Empirische Beiträge und Materialien zum Strafvollzug. Freiburg.
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Von der Unmöglichkeit, katamnestische Studien zu erstellen C H R I S T I N E SWIENTEK
1976/77 arbeitete ich in einer großen deutschen Justizvollzugsanstalt in der nebenamtlichen Betreuung selbstmordgefährdeter Untersuchungs- und Strafgefangener. Mein Arbeitsauftrag war es, die Suicidprophylaxe in der Haftanstalt wahrzunehmen und damit letztlich auch das Suicidaufkommen statistisch auf „0" zu halten. Dieses Ziel habe ich für den Zeitraum von 12 Monaten tatsächlich erreicht. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Mit mehr Glück als Verstand und Können. In den 12 Monaten „betreute" ich 21 Gefangene. Es waren Männer im Alter zwischen 16 und 53 Jahren. Zwölf von ihnen saßen in U-Haft, neun in Strafhaft. Fast die Hälfte von ihnen waren Gewalttäter (Mord, Totschlag...), auf die andere Hälfte entfielen so ziemlich alle Straftaten, die das StGB zu bieten hat. Ich arbeitete nach der Methode des „social-casework", der „Psychoanalyse des kleinen Mannes", wie sie nicht ganz zu Unrecht genannt wird. Vorausgegangen war eine jahrelange pädagogisch-therapeutische Arbeit mit Suicid-Patienten in Krankenhäusern. Als der Leitende Medizinaldirektor in der 1000-Betten-Anstalt mit der Frage an mich herantrat, ob ich mir eine ähnliche Arbeit im und für den Strafvollzug vorstellen könne, bejahte ich mit der Naivität und dem Selbstwertgefühl einer frisch diplomierten Pädagogin. Im Laufe der Arbeit fragte ich mich mehr und mehr, was ich eigentlich tat und was der Strafvollzug mit dieser Suicidgefährdung zu tun hatte. Selbstmord im Strafvollzug ist noch immer jeder Tageszeitung einen Artikel wert - stets verbunden mit der Anfrage nach den und der harschen Kritik über die Zustände in Haftanstalten im Allgemeinen und im Besonderen - je nach politischer Ausrichtung. Bei der Anamnesenerhebung, die beim social-casework kontinuierlich parallel zum therapeutischen Prozeß erfolgt, wurde mir immer deutlicher, daß ein Teil der Gefangenen eine umfangreiche
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Selbstmordkarriere hinter sich hatte, bevor es überhaupt zu einer ersten Inhaftierung gekommen war. Diese eingeschliffenen, zum Teil erlernten suicidalen Verhaltensweisen wurden selbstverständlich unter den Bedingungen der Haft reaktiviert. Und ebenso selbstverständlich hatten sie „Erfolg" im Sinne von vermehrter Aufmerksamkeit, Betreuung, Erfüllung von Wünschen... Keine totale Institution kann sich hohe Selbstmordquoten leisten - von humanitären Gesichtspunkten einmal abgesehen. So ließ sich mein Klientel schnell deutlich in zwei Gruppen unterteilen, die sich - bei näherer Untersuchung - tatsächlich in diversen biographischen, soziographischen, kriminologischen, suicidalen... Daten unterschieden: Die Gruppe „V" , die vor jedweder Inhaftierung deutlich suicidal war (vier von ihnen im Kindes-, vier im Jugendalter, bis hin zu 12 Selbstmordversuchen) und die Gruppe „W", die während der Inhaftierung erstmals suicidale Tendenzen zeigte (vgl.: Christine Swientek: .Autoaggressivität bei Gefangenen aus pädagogischer Sicht'. Göttingen 1982, Otto Schwartz Verlag). Die Gruppe V machte 12 Klienten aus, die Gruppe W umfaßte 9 Klienten. In der Gruppe V überwogen die Untersuchungsgefangenen, in der Gruppe W die Männer, die sich in Strafhaft befanden . Die Abschätzung der Suicidalität" ist eines der größten Probleme in der Arbeit mit Suicidgefährdeten. Zahlreiche Testverfahren versuchen, dem professionellen Helfer Hinweise darauf zu geben, wie groß eine Gefährdung und wie die Prognose einzuschätzen ist. Die Diagnose von Suicidgefährdung kann im Prinzip auf drei Arten vorgenommen werden: 1. Das Individuum gehört einer spezifischen Subpopulation an, in der die Suicidrate generell höher ist als im Durchschnitt der Bevölkerung (high-risk-groups). Gefangene gehören prinzipiell zu diesen Gruppen. 2. Jedes Individuum in einer Krisensituation wird als suicidgefährdet betrachtet. Dabei werden Beobachtungs- und Schätzverfahren angewendet, um das Ausmaß der Gefährdung zu bestimmen. 3. Der Primat der Persönlichkeit steht im Mittelpunkt, und über Fragebogen und projektive Tests wird die individuelle, aktuelle Disposition zu Selbstmordhandlungen ermittelt. Für meine Arbeit legte ich seinerzeit die damals gängige Pöldinger-Skala zugrunde, die alle drei Diagnosearten in einem sich potenzierenden Punktesystem vereinigt und schätzte danach die aktuelle Suizidalität meiner Klienten ein. Dieser Skala nach liegt das „geringe Risiko" bei 0 bis 50 Punkten, das „deutliche" Risiko bei 51 bis 100 Punkten und das „große Suicidrisiko" bei über 101 Punkten.
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Bei allen Vorbehalten gegen Tests im allgemeinen und der Pöldinger-Skala im besonderen: In der Arbeit mit Suicidalen waren die Ergebnisse überdeutlich (und erschreckend): In der V-Gruppe lag das durchschnittliche Risiko bei 186 Punkten, in der W-Gruppe bei 80 Punkten. Dabei wiesen alle V-Gefangenen über 100 Punkte auf, 5 von ihnen zeigten Werte zwischen 201 - 250 Punkten! Nach Beendigung meiner Arbeit mit den Gefangenen (und der daraus resultierenden Dissertation) fragte ich mich immer wieder, was aus „meinen Gefangenen" geworden war - vor allem aber in Anbetracht meines Arbeitsauftrages und meiner spezifischen Bemühungen, diese Gefangenen am Leben zu halten, wenn sie es denn wollten. Mich interessierte, ob sie noch lebten oder wie ihre suicidalen Karrieren verlaufen waren. Von einigen erfuhr ich durch Zufälle, von einigen durch Nachfragen. So wurde mir bekannt, daß einer der am stärksten Gefährdeten sich ein Jahr nach der Beendigung meiner Arbeit während eines überzogenen Urlaubs das Leben durch einen Sprung aus hoher Höhe nahm. Ein weiterer, ebenfalls sehr stark Gefährdeter, verstarb während einer Blinddarmoperation, ein Dritter - zwar sehr depressiver, aber „nur" im 100er Bereich liegender Gefangener - erlag in der Justizvollzugsanstalt einem schon älteren Herzleiden. Der Gefangene, der mich auch außerhalb de Haftanstalt (ich übernahm zeitweilig seine Bewährungshilfe) am meisten beschäftigt hatte, hatte noch viele Jahre mit Unterbrechungen eingesessen. Uber Praktikanten ließ er mir stets Grüße ausrichten. Trotz erheblicher Gefährdung und steten suicidalen Attacken lebte er seine kriminelle Karriere ohne wesentliche suicidale Unterbrechungen weiter. Der am stärksten gefährdete Gefangene, der weit über 100 Selbstverletzungen/Selbstmordversuche aufwies, war mit der Diagnose Chorea Huntington in ein Landeskrankenhaus eingewiesen worden, und der wohlhabendste unter meinen Gefangenen hatte eine Ausführung ins Krankenhaus zur Flucht in sein spanisches Feriendomizil den noch anstehenden vier Jahre Haft vorgezogen. Uber die anderen wußte ich nichts. Die Einladung, mich an der Festschrift für meinen verehrten „Doktorvater" Prof. Dr. Alexander Böhm mit einem Beitrag zu beteiligen, wollte ich nun zum Anlaß nehmen, meine Neugier zu befriedigen bzw. eine „Katamnestische Studie" über diese 21 Gefangenen anzufertigen. Die Haftanstalt - ihr Leiter, der Forschungsbeauftrage und „mein" damaliger Abteilungsleiter - gaben spontan ihre Zustimmung, legten den Datenschutz forschungsfreundlich aus und öffneten mir die Archive... und damit begann die Auseinandersetzung mit der
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Unmöglichkeit, katamnestische Studien anzufertigen: Es gab so gut wie keine Informationen mehr. Selbst die Nachforschungen, ob besagte Gefangene noch länger ... später noch einmal.. . immer noch... einsaßen, war unmöglich. Dafür hätte ich wissen müssen, daß und wann sie eingesessen haben, um jahrgangsentsprechend die Karteikarte (!) zu ziehen. Wie weit diese dann die erforderlich Daten enthalten würde, war fraglich. Selbst für das Jahr meiner Arbeit lagen für die 21 Gefangenen nur noch für 14 von ihnen Karten vor, die Selbstmordgefährdung war nur auf einer von 14 Karten vermerkt, bei einigen wurde auf ihre Verlegung hingewiesen - nicht jedoch, wohin sie verlegt worden waren. Einige Daten, die nicht auf den Karteikarten vermerkt worden waren, waren noch dem Personal bekannt (mit Fortgang desselben würden auch diese Daten nicht mehr verfügbar sein). Meine Vorstellung, einem Computer die mir zur Verfügung stehenden Personaldaten einzugeben, um dann zu erfahren, was mit den Gefangenen weiterhin geschah, ob sie noch lebten oder nicht, wohin sie verlegt worden waren, ob sie entlassen werden konnten... erwies sich als illusionär. Für den Bereich der Gefangenen-Nachuntersuchungen scheinen wir keinen Datenschutz zu benötigen, sie sind ohnehin nicht aufzufinden . Unsere gemeinsamen Überlegungen, das Zentralregister einzuschalten und zu befragen, würden letztlich für meine Fragestellung nicht weiterführen. Aus diesem Register könnte ich erfahren, wer von meinen 21 Gefangenen später noch einmal straffällig geworden wäre. Würden bestimmte Namen nach meiner Intervention seinerzeit nicht wieder auftauchen, könnte das alles Mögliche bedeuten: Sie wurden nicht mehr einschlägig bestraft; sie wurden gar nicht mehr rückfällig; sie wurden nicht erwischt; sie bekamen nur eine Geldstrafe; sie sind geflüchtet oder ausgewandert und in einem anderen Land straffällig geworden; sie sind gar nicht mehr am Leben... sei es durch natürlichen Tod, durch Unfall, Mord oder Selbstmord.... Von weiteren Sozialdaten ganz abgesehen, die im Zusammenhang mit Depressivität, Suizidalität und Sozialverhalten von Interesse wären, die jedoch nirgendwo gespeichert sind... Die den Pädagogen interessierenden Daten nach Interventionen wegen Suicidgefährdung wären nur abfragbar nach sehr exakter Aktenführung bzw. durch persönliche Gespräche mit den Betroffenen. Diese jedoch aufzufinden wäre eine detektivische Arbeit, die nicht leistbar ist, zumal bei einer Gruppe, die in der Regel nicht länger an einem Ort zu leben pflegt - oft unterbrochen durch häufige Inhaftierungen in verschiedenen Justizvollzugsanstalten der unterschiedlichen Bundesländer.
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Was ist eine katamnestische Studie? Der Begriff stammt aus der Medizin und wird im Sinne von „Abschlußuntersuchungen" verwendet. Andere Disziplinen verwenden synonym Begriffe wie Evaluation, Effizienzprüfung, Wirkungsanalyse... Sie alle haben gemeinsam: Nach Abschluß einer bestimmten Maßnahme (pädagogisch-therapeutische Intervention, Fremdplazierung, Verabreichung spezifischer Medikamente, Lehre an der Universität...) soll überprüft werden, ob und wie ihre Wirkung war: kurzfristig, mittelfristig, langfristig. Erfolg oder Mißerfolg werden überprüft, um die Maßnahmen gegebenenfalls zu modifizieren. Für den beruflichen Helfer, die Institution, die Behörde soll es ein feedback geben, um die Arbeitsmotivation zu erhöhen und in Zukunft mehr fachlich fundierte Entscheidungen treffen zu können. Im besten Falle ist es ein Lernen aus Versuch und Irrtümern: Erneute Diskussion der Interventionsstrategien, Veränderung der Orientierungsdaten, Neukonzeptionierung, gegebenenfalls Abschaffung der Maßnahme und Ersatz durch effizientere... (Daß zu einer aussagefähigen Wirkungsanalyse auch eine Untersuchung des Einsatzes von Zeit und finanziellen Mitteln gehören würde, ist professionellen Helfern ein Greuel zu hören! Arbeit am und mit Menschen dürfe nicht am Geld gemessen werden - ist der häufigste Einwand, mit dem der humanitäre Gedanke des Helfens in den Vordergrund gestellt wird. Daß kostengünstigere und kräftesparende Arbeit unter Umständen sogar humaner sein könnte, würden Vergleichsstudien zeigen - wenn es sie denn gäbe!)
Katamnestische Studien sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn vor jeglicher pädagogisch-therapeutischer Intervention ein konkretes, deutlich formuliertes, operationalisierbares Ziel definiert worden ist. Woran sonst wäre „meßbar", ob die Arbeit erfolgreich war oder nicht? Ist ein Ziel nicht definiert, kann es auch nicht (überprüfbar) erreicht werden - es sei denn, das Erreichte wird im Nachhinein zum (angeblich) ursprünglich beabsichtigten Ziel erklärt! Das Ziel ist vom jeweiligen Menschenbild abhängig und dieses wiederum verändert sich in gesellschaftspolitischen Prozessen unter Umständen vonGeneration zu Generation. Galt vor ca. 30 - 40 Jahren noch das sogenannte Legalverhalten (d.h.: die Straffreiheit) eines Heimjugendlichen oder eines ehemaligen Strafgefangenen als wesentliches oder sogar einziges Ziel pädagogischer Bemühungen, werden heute Sozialkompetenz, Arbeitsverhalten, familiäre Bemühungen, eigene Kindererziehung und in manchen Studien sogar kulturelle Interessen in die Überlegungen mit einbezogen, wie weit eine Maßnahme (re-) sozialisierend gewirkt hat. Schon allein die Dunkelfeldforschung hat uns gezeigt, daß offizielle „Legalität" kein Aus-
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weis ist für eine gute Pädagogik, Therapie, Resozialisierung. Alle Bemühungen könnten auch bewirkt haben, daß der ehemalige Klient sich in der Folgezeit nur geschickter anstellte, um so seine Straftaten zu verbergen bzw. sich nicht,erwischen' zu lassen. Ein deutlicher Wandel in der Zieldefinition bzw. der Diskussion um Erfolg oder Mißerfolg einer sozialpädagogischen Maßnahme läßt sich beispielhaft durch einen Blick auf 70 Jahre Adoptionsgeschichte ablesen. Während in den 20er Jahren ein Mißerfolg in der späteren „Auffälligkeit" des erwachsenen Adoptierten gesehen wurde (mangelnde Legalbewährung) wurde in den 40er Jahren als Mißerfolg einer Adoptionsmaßnahme die Fahnenflucht eines Soldaten bezeichnet, für die er mit dem Tode bestraft wurde. In den 60er Jahren wurde der Schulabschluß als wesentliche „Marke" gesetzt: Sonderschule = Mißerfolg, Gymnasium = Erfolg. In den 90er Jahren geht man in der Bewertung am ehestens aus vom Grad der sozialen Integration, der privaten und Berufszufriedenheit, sowie einem möglichst niedrigen Neurotizismuswert. In 20 Jahren werden Erfolg und Mißerfolg möglicherweise an uns bis heute ungeahnten „Marken"/Themen/Daten... festgemacht werden. Pädagogisch-therapeutisches Handeln innerhalb und außerhalb totaler Institutionen ist nach wie vor gekennzeichnet von (oft) sinnlosem, ziellosem, wildem Agieren: Hauptsache es „geschieht" etwas: Zur eigenen Beruhigung, zur Füllung der Akte, zum Nachweis, das Gehalt nicht umsonst bezogen zu haben, zur Rechtfertigung des eigenen (beruflichen) Daseins - in der Hoffnung, daß dieses Etwas auch irgend etwas (möglichst Gutes) bewirken möge. War das im Nachhinein nicht der Fall, kann der Klient in Schule, Heim, freier Praxis, Strafvollzug... immer noch als „therapieresistent" bezeichnet werden - mit unabsehbaren Folgen für seine Biographie. Daß die Zieldefinition eine Methodendiskussion einschließt, gehört in der pädagogisch-therapeutischen Praxis heute eher noch zu den Luxusdebatten. Es schmerzt, vor Fachfremden (zum Beispiel vor Juristen) zugeben zu müssen, daß man als Fachmann/Fachfrau nicht weiß, was wie wann in welcher Situation und unter welchen Bedingungen warum wirkt oder nicht. So bietet jeder an, was er kann und freut sich, wenn Erfolge eintreten, die zuvor mehr nebulös gehofft als präzise definiert worden sind! Weg und Ziel, Wege zum Ziel, Methoden und Erfolg, Persönlichkeit und Mißerfolg, Geldeinsatz und Effektivität, Zeiteinsatz und Wirkungslosigkeit... sind noch immer die großen Unbekannten im Spiel um Intervention und Wirkungsnalyse. Uber die Ziele in der Arbeit mit Suizidgefährdeten wird diskutiert, seit sich Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik dieser The-
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matik angenommen haben. Bei Menschen, die (sichtbar!) nur einen Selbstmord versuch begangen haben, sehr wohl aber leben wollen, wenngleich anders als bisher, ist das Ziel relativ einfach: Ich befähige sie durch gemeinsame Arbeit, dieses Anders-leben-wollen zu realisieren. Da die Abschätzung der Ernsthaftigkeit von Suicidversuchen zum Schwierigsten der gesamten suizidalen Arbeit gehört, muß ich prinzipiell davon ausgehen, daß ein Selbstmordversuch wirklich der Versuch war, sich selber zu töten. Mein sekundärprophylaktische Arbeit muß dann entsprechend einem zuvor definierten Ziel erfolgen. Die Zieldiskussion wird zwischen zwei Extremen geführt: Das Minimalziel besteht daraus, den Betreffenden am physischen Leben zu erhalten. Das Maximalziel wäre, ihm ein dauerhaft zufriedenes, glückliches Leben zu ermöglichen, das im hohen Alter automatisch seinen Abschluß findet. Zwischen dem bloßen Uber-Leben und dem Glücklichsein liegen vermutlich so viele Zielvarianten, wie es betroffene Menschen gibt. Für den Strafvollzug - für meine Arbeit vor über 20 Jahren - unterstelle ich realistisch, daß in erster Linie das Minimalziel erreicht werden soll(te): Der Gefangene sollte am Leben, die Selbstmordstatistik auf null gehalten werden. (Als mir dieses Ziel nach fünfmonatiger Arbeit mit den Gefangenen bewußt wurde, bekam ich schlaflose Nächte. Dafür hatte ich „zuviel versprochen" - mit meiner Arbeit konnte ich keine Garantien vergeben.) (Im Übrigen betrifft dieses Problem auch andere totale Institutionen. „Selbstmörder" werden nicht nur deswegen so schnell aus Allgemeinkrankenhäusern entlassen oder auf psychiatrische Stationen verlegt, weil man diese Maßnahmen als die richtigsten betrachtet, sondern weil man eventuell tödlich endende Wiederholungen im eigenen Hause vermeiden möchte. Aber nicht nur aus dem Krankenhaus , sondern auch aus Heimen und Justizvollzugsanstalten werden schwer Suicidgefährdete in die Psychiatrie verlegt, weil Suicidtote und Nachfolgesuicide befürchtet werden. Während die Psychiatrie sich jahrzehntelang sehr schwer damit tat, das Suicidgeschehen im eigenen Hause zur Kenntnis zu nehmen, zu reflektieren und zu publizieren, entlasteten sich andere Institutionen durch die Weitergabe ihres Klientel an diese Institution. Für totale Institutionen ist das Minimalziel - (den Klienten am Leben zu erhalten) - nicht nur realistisch, sondern auch weitgehend legitim. Sie haben in der Regel alle Sünden zu büßen und alle Scharten auszuwetzen, die das Leben, die Eltern, die Schule, die Freunde... dem Individuum schlug - von den Wunden, die er sich selber zufügte, ganz abgesehen. Totale Institutionen können nur relativ wenig zur Behebung lebenslanger Schädigungen, lebenslanger Mißhandlungen und lebenslanger Vernachlässigungen beitragen. Dort wo ambulante - und in der Regel personell besser ausgestattete Institutionen - versagen, haben stationäre Institutionen nicht automatisch bessere Erfolgschancen!)
Eines meiner Ziele in der Arbeit mit Suicidgefährdeten innerhalb und außerhalb von Strafanstalten war darüberhinaus stets die
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Befähigung, mit später auftretenden Krisen depressiver, aggressiver und autoagressiver Natur (sozial-) adäquater umgehen zu können. Daß sich eine solche Fähigkeit auch im Bereich der Legalität niederschlägt, liegt auf der Hand. Gewalt gegen Andere, gegen Sachen und gegen sich selbst ist beliebig austauschbar bzw. situations- und/oder persönlichkeitsabhängig. Während der therapeutischen Arbeit stellten Außenstehende mein Tun in harscher Kritik in Frage. Von „Reisende soll man nicht aufhalten" bis „Wenn wir schon keine Todesstrafe mehr haben, sollte man die Leute nicht auch noch davon abhalten, sich selber umzubringen", war alles an Kritik zu finden. Die Grundlage meiner Arbeit war hingegen die Frage, ob mein Klient leben wollte oder nicht. Der Mensch, der wirklich sterben will, wird es auch in der Justizvollzugsanstalt gegen alle suicidprophylaktischen Maßnahmen schaffen. Von denjenigen, die es auch bei wiederholten Versuchen nicht bewerkstelligten, konnte davon ausgegangen werden, daß sie lieber leben als sterben wollten. Fazit Meine Hoffnung, über den Verbleib, das Ergehen und insbesondere über die weitere Suicidkarriere „meiner" Gefangenen Auskunft zu bekommen, hat sich nicht erfüllen lassen. Der PöldingerSkala nach hätte kein Klient der V-Gruppe wesentliche Uberlebenschancen gehabt. Nicht einmal durch meine Interventionen hätte die Punktzahl unter 100 sinken können, denn das Gros der suicidauslösenden Faktoren konnte ich nicht beeinflussen. Vier Jahre nach Abschluß der therapeutischen Arbeit, als ich (illegal) einen Polizeicomputer nach meinen Klienten befragte, hatte nur einer von 21 sich selber getötet. Zwanzig Jahre nach der Arbeit kann ich nur auf das gute Gedächtnis des Vollzugspersonals zurückgreifen. Alle anderen offiziellen Möglichkeiten (Zentralregister) geben zu meiner Fragestellung keine Auskunft. Eine detektivische Kleinstarbeit wäre vonnöten, um herauszufinden, ob und wie mein Klientel heute lebt. Effizienzuntersuchungen im bzw. nach dem Strafvollzug scheinen weitgehend ausgeschlossen. Es ist nicht nur der Datenschutz, der verantwortlich gemacht werden kann, sondern die Unmöglichkeit, einzelne Etappen eines Menschen über Jahrzehnte rückwirkend zu verfolgen - zumal, wenn er selbst es nicht einmal wollen wird. Der Strafvollzug befindet sich damit in guter Gesellschaft anderer Institutionen. Bei Durchsicht zahlreicher katamnestischer „Versuche" sozialpädagogischer Institutionen konnte nur eine von ihnen auf eine hohe Quote von „Ehemaligen" zurückgreifen: 114 von
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151 Menschen, die einst in SOS-Kinderdörfern aufwuchsen, konnten ermittelt und befragt werden - trotz hoher Mobilität hatten alle von ihnen Kontakte gehalten zu ihrer Institution, zu ihren Kinderdorimüttern. Auf diese Sympathievoraussetzungen können andere totale Institutionen nicht setzen - am allerwenigsten der Strafvollzug!
Schädlich, überflüssig, schmutzig. Die Argumentationen der kriminologischen Verächter der Resozialisierung MICHAEL BOCK
1 Erschwerte Bedingungen im Vollzug Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Der Strafvollzug steht unter Druck. Einerseits sieht er sich zunehmend mit Tätergruppen konfrontiert, bei denen die traditionellen Formen von Arbeit und Therapie ins leere laufen (Ausländer; Drogenabhängige), andererseits stellt die Kampagne für mehr „innere Sicherheit" den Vollzug vor neue Herausforderungen. Öffentlichkeit und Politik stellen unüberhörbar die Forderung, mehr auf Sicherung zu setzen als auf Resozialisierung. Die schiere Uberfüllung der Anstalten tut ein übriges. Die Idee der Resozialisierung, die als Leitvorstellung in das Strafvollzugsgesetz von 1977 eingegangen war, hat ihren Glanz und ihre frühere Mobilisierungskraft, etwa für Geld und Stellen verloren.1 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Entlohnung der Gefangenen 2 wirkt da wie ein Anachronismus. Wie ein Überbleibsel aus vergangenen Epochen. Dies alles ist bekannt und braucht deshalb hier nicht noch einmal erörtert zu werden. Weniger offensichtlich ist jedoch, daß auch die Kriminologen, einst Verfechter des Resozialisierungsgedankens, nun zu seinen gehässigsten Verächtern geworden sind. 2 Der Alptraum der schädlichen Wirkungen Die Standardform, in der sich Kriminologen über den Vollzug und die Resozialisierung äußern, ist die, daß sie gebetsmühlenartig 1 Umgekehrt wird jetzt in Hessen der Behandlungsvollzug vom Rechnungshof vor allem wegen fehlender Erfolgskontrollen kritisiert, wobei man sich natürlich fragt, auf Grundlage welcher fachlichen Kompetenz dies geschieht. Vgl. Hessischer Rechnungshof (Hrsg.): Bemerkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes Hessen, 1997, dort S. 108-121 2 BverfG, Urteil vom 01.08.98, StV 1998, S. 438; ZfStrVo 1998, S. 242
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auf die schädlichen Wirkungen der Inhaftierung im allgemeinen und resozialisierender Maßnahmen im besonderen hinweisen. Prisonisierungseffekte und Stigmatisierungseffekte werden hierbei in einer Weise genannt, als ob sie selbstverständlich und unvermeidlich seien, bezüglich der Resozialisierung kommt noch ein gemischtes empirisch-dogmatisches Argumentationsbündel hinzu. Die Erörterungen von Johannes Feest vor § 2 StVollzG im Alternativkommentar sind hierfür typisch. Empirisch wird vor allem auf die sogenannte Austauschbarkeitsthese abgestellt. Eine bessere spezialpräventive Wirkung eingriffsintensiverer Einwirkungen im Vergleich zu weniger eingriffsintensiven habe sich danach nicht nachweisen lassen. Im Falle der Verbüßung von freiheitsentziehenden Maßnahmen wird auch die inzwischen geläufige Kritik an der mangelhaften Effizienz von Behandlungsprogrammen zitiert (Rdnrn. 6-8). Erklärt wird diese relative Erfolglosigkeit einerseits mit angeblich inadäquaten Vorstellungen über die Zusammenhänge der Entstehung von Kriminalität. Feest bemüht hierfür die „positivistischen Ursachenhypothesen mit der Unterstellung, daß es sich beim Straftäter um den ,ganz Anderen' handelt" (Rdnr. 10). Andererseits seien die Behandlungsprogramme ungeeignet, auf Probleme einzuwirken, die mit der sozialen Situation des Betreffenden zusammenhingen und daher nicht isoliert als sein persönliches Problem behandelt werden könnten (Rdnr. 11). Schließlich seien unter Zwang sowieso keine therapeutischen Erfolge möglich (Rdnr. 14). Zusammengefaßt ergeben diese Vorstellungen ein sogenanntes „medizinischeis) Modell des Behandlungsvollzuges", das nicht nur ineffizient, sondern darüberhinaus ein Mittel zusätzlicher Repression und daher entschieden abzulehnen sei, und zwar ausdrücklich gegen den Willen des Gesetzgebers (Rdnrn. 20/21). Hierzu ist in aller Kürze festzustellen, daß a) die Austauschbarkeitsthese keineswegs unumstritten gilt. Der naheliegende Einwand, daß Vorselektionen (den eingriffsintensiveren Maßnahmen werden auch die problematischeren Personen zugewiesen) für die nicht besseren oder gar schlechteren Erfolgsquoten der eingriffsintensiveren Maßnahmen ausschlaggebend sind, läßt sich gerade im Falle des Strafvollzugs in keiner Weise ausräumen, zumal durch die lange Zeit zunehmende Zurückhaltung der Gerichte bei unbedingten Freiheitsstrafen die Vollzugspopulation immer schwieriger geworden ist. Außerdem ist,
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b) der Jubilar hat es längst in aller Deutlichkeit ausgesprochen, 3 der sogenannte „back-drop" -Effekt zu beachten. Auch wenn dieser Effekt schwer empirisch meßbar ist, so ist er doch eigentlich unbestritten. Die ambulanten Reaktionsmittel des Strafrechts „beleihen" gewissermaßen die stationären, denn das Bewußtsein, daß bei mangelnder Kooperationsbereitschaft am Ende das Gefängnis droht, ist eine tragende Komponente des „Erfolges" der ambulanten Maßnahmen. Schließlich ist es c) einfach falsch, aus Rückfallquoten, wie immer sie auch ausfallen mögen, auf die Effizienz und damit indirekt auf die Verhältnismäßigkeit von Behandlungsmaßnahmen zu schließen. Diese können nur im Rahmen von Einzelfallbetrachtungen geprüft und beurteilt werden. Dabei ist es übrigens empirisch und dogmatisch genauso falsch, die Förderlichkeit bestimmter Vollzugsmaßnahmen (offener Vollzug, Lockerungen) für die Resozialisierung generell als gegeben zu unterstellen und daher grundsätzlich das Interesse des Gefangenen an diesen Maßnahmen mit seinem Anspruch auf Resozialisierung zu identifizieren. 4 Was die Behandlung betrifft, so ist natürlich klar, daß der Vollzug kein ideales Lernfeld ist und in vieler Hinsicht entsprechende Bemühungen erschwert, andererseits allerdings oft erst überhaupt ermöglicht, wenn man sich die völlig entstrukturierten Lebensverhältnisse vieler Gefangener in der Freiheit vergegenwärtigt. Daß Behandlung unter Zwang nicht möglich sei, kann man daher in dieser Pauschalität keineswegs behaupten. 5 Weder im Gesetz noch in der Praxis ist übrigens ein Vorrang eines „medizinischen Behandlungsmodells" ersichtlich, während allerdings die Forderung von Feest, Behandlung vorrangig als Chancenverbesserung und nicht als Persönlichkeitsveränderung zu praktizieren (Rdnr. 19), mit der kriminologischen Erfahrung im Widerspruch steht, daß es weniger die unterschiedlichen Chancen sind, bezüglich derer sich mehrfach erheblich Straffällige von der Durchschnittspopulation unterscheiden, 3 Strafvollzug, 2. Aufl., Metzner: Frankfurt 1986, S. 46; vgl. auch Jung, Heike·. Zur Problematik der Legitimation längeren Freiheitsentzuges; in: ders./Heinz MüllerDietz (Hrsg.): Langer Freiheitsentzug - wie lange noch? Forum: Bad Godesberg 1994, S. 31-41, dort S. 39 4 Böhm, Alexander: Vollzugslockerungen und offener Vollzug zwischen Strafzwecken und Vollzugszielen, NStZ 1986, S. 201-206, dort S. 205; Schneider, Hendrik: Anmerkung zu BVerfGE vom 01.04.98, NStZ 1999, im Druck 5 Vgl. nur Kröber, Hans-Ludwig; Dahle, Klaus-Peter (Hrsg.): Sexualstraftaten und Gewaltdelinquenz. Verlauf - Behandlung - Opferschutz; Kriminalistik Verlag: Heidelberg 1998, S. 153-210
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sondern Bereitschaften und Fähigkeiten, vorhandene Chancen zu nutzen 6 . Daß es hierbei nicht den Täter als „ganz Anderen", sondern fließende Ubergänge gibt und daher auch fließende Ubergänge, was Erfolg und Mißerfolg anbelangt, sollte eigentlich nicht mehr eigens betont werden müssen. Eine eigene Untersuchung wäre noch die Behauptung des „repressiven" Charakters der Behandlung wert. Feest verneint nicht nur grundsätzlich eine Mitwirkungspflicht des Gefangenen, sondern auch die Berücksichtigung der Mitwirkungsbereitschaft bei vollzuglichen Entscheidungen und bei der vorzeitigen Entlassung. Dies ist wohl insoweit richtig und auch herrschende Meinung 7 , als die Mitwirkungsbereitschaft nicht unmittelbar als Entscheidungskriterium herangezogen werden darf. Andererseits ist es - was nur im Einzelfall zu entscheiden ist - sehr wohl möglich, daß die Mitwirkungsbereitschaft im Zusammenhang mit den regelmäßig anstehenden prognostischen Fragen Bedeutung erhält. Für die rein empirische Einschätzung einer „Gefahr..." kann sie eben durchaus wichtig sein. Schließlich fragt es sich natürlich auch grundsätzlich, mit welchem Recht man sich auf den Resozialisierungsgedanken zur Vermeidung (§ 56 StGB) Verkürzung (§ 57 StGB) und Lockerung (§§ lOff. StVollzG) des Freiheitsentzuges berufen möchte, wenn sich sein Gehalt in einem schlichten „weniger" erschöpfen soll.8 Insgesamt ist die Kritik, die an Behandlung und Resozialisierung vorgetragen wird, in keiner Weise überzeugend. Umgekehrt sollte es auch den anderen Bearbeitern zu denken geben, daß der Alternativkommentar sich mit diesem Text vor § 2 eine Visitenkarte gibt, in welcher der klare Wille des Gesetzgebers mißachtet wird. Neben dieser Standardform kriminologischer Kritik am Resozialisierungsgedanken gibt es einige Argumentationsgänge, bei denen der Bezug zum Thema nicht von vornherein ersichtlich ist, die aber doch deutlich machen, wie fern vielen Kriminologen die wissenschaftlichen Themen gerückt sind, die für den Strafvollzug wichtig sind.
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Göppingen Hans·. Der Täter in seinen sozialen Bezügen; Springer: Heidelberg 1983 7 Calliess/Miiller-Dietz: Strafvollzug; 7. Aufl. 1998, § 4 Rdnr 5; Schwind/Böhm·. Strafvollzug, 2. Aufl. 1991, § 4 Rdnrn 8/9 m. w. N.; O L G Zweibrücken StV 1992, 598; Laubenthal, Strafvollzug; 2. Aufl. 1998, Rdnr 216, S. 92 8 Bezüglich des Erziehungsgedankens, bei dem es eine parallele Tendenz gibt, ihn im Sinne eines „je weniger desto besser" zu interpretieren bzw. zu entleeren, spricht Günther Kaiser zurecht von einer „Rosinentheorie" (Strafen statt Erziehen? Zur aktuellen Diskussion zur Jugendgerichtsbarkeit, ZRP 1997, S. 451-458, dort S. 455)
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3 Der Traum einer Kriminologie ohne Täter Diesen Traum träumt neuerdings Klaus Sessar 9 . Er ist die Neuauflage eines Traumes, den schon die Vertreter der Etikettierungsansätze geträumt hatten. Nicht durch das Verhalten eines Täters oder einer Täterin sollte Kriminalität entstehen, sondern durch Zuschreibungen, durch Definitionen von informellen und formellen Instanzen sozialer Kontrolle. So, wie die empirischen Fakten liegen, mußte man aus diesem Traum eigentlich erwachen, obschon es nach wie vor zur kriminologischen Folklore in Deutschland gehört, die Behauptungen der Etikettierungsansätze für bare Münze zu nehmen. So ist es auch bei Sessar. Im übrigen sollte man endlich zur Kenntnis nehmen, daß die zum Teil geradezu grotesken Behauptungen der Labeling-Theoretiker im wesentlichen auf einer falschen, durch ideologische Scheuklappen hervorgerufenen Rezeption der US-amerikanischen Vorbilder beruhen, welche durch ihre Verankerung in der breiten erfahrungswissenschaftlichen Tradition der Chicagoschule gegen derartige einseitige Übertreibungen ganz gut gerüstet waren. Die Relevanz der später, und zwar gerade in Folge des geradezu missionarischen Eifers deutscher Kriminologen, als „ätiologisch" zusammengefaßten Bedingungen wird dort nämlich keineswegs ersetzt, sondern nur ergänzt um Labelingeffekte. Wie dem auch sei, die .Kriminologie ohne Täter' hat in der Variante von Sessar ein neues Gewand. Sie kleidet sich jetzt in den Präventionsgedanken: „Alltagsaktivitäten, Lebensstile, Beziehungen und Gelegenheitsstrukturen im Koordinatensystem von Raum und Zeit erhalten plötzlich eine zentrale Bedeutung für die Entscheidung, eine unter Strafe stehende Handlung zu begehen oder zu unterlassen. Aus ätiologischen Ansätzen werden hierdurch allmählich präventive Ansätze" (S. 1). Sessar nutzt die Konjunktur von Ansätzen der sogenannten sekundären Prävention, angefangen vom Modell New York bis zu den hiesigen kommunalen Kriminalpräventionsräten, um den Täter aus der Kriminologie zu entfernen. Nicht die Zuschreibung, wie die Etikettierungsansätze behaupteten, macht Diebe, sondern die Gelegenheit. Und sie macht nicht nur Diebe, sondern auch Gewalt, Betrug und alle die schlimmen Dinge, die nicht auf der Straße, sondern im Büro passieren. Der Reiz der Situation, der Gelegenheit erzeugt die Tat, daher bleibt es kriminalpolitisch nur noch sinnvoll, diesen Reiz zu minimieren. 9 Zu einer Kriminologie ohne Täter - oder auch: Die kriminogene Tat; MschrKrim 1997, S. 1-24 (Seitenangaben im Text dieses Abschnitts beziehen sich auf diesen A u f satz).
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Wäre dies richtig, so müßte man nicht nur damit aufhören, jemand wegen Straftaten einzusperren, sondern auch insbesondere damit aufhören, an Charakter, Persönlichkeit, Verhaltensmustern derjenigen herumzutherapieren, die eingesperrt worden sind. Denn sie unterscheiden sich ja in nichts von ihren Mitmenschen und es war nur der Reiz der Situation bzw. die gute Gelegenheit, die ihr strafbares Verhalten auslöste. Im Prinzip hätte es jeden treffen können. Was aber ist dran an dieser Kriminologie ohne Täter? Zunächst sei ausdrücklich festgestellt, daß Sessar einen überaus verdienstvollen und faßlichen Uberblick über diejenigen neueren Entwicklungen in der Kriminologie gibt, in denen von der Eigenart des Täters, sei es auf Grund ererbter, körperlicher oder psychischer Disposition, sei es auf Grund lebensgeschichtlich erworbener auffälliger Verhaltensmuster bei der Erklärung kriminellen Verhaltens abgesehen wird. Es sind dies die mit dem .rational choice' arbeitenden ökonomischen Ansätze, 10 es sind aber auch Ansätze, die das kriminelle Verhalten mit Alltagsaktivitäten oder Lebensstilen in Verbindung bringen, mit einem besonderen sozialen „Klima" von Ortlichkeiten oder besonderen Tages- oder Jahreszeiten. Im weiteren Umkreis sind auch die Bindungstheorien hier anzusiedeln, die mit ihrer Frage nach den Bedingungen konformen im Gegensatz zu der Frage nach dem abweichenden Verhalten eben auch ohne eine besondere täterspezifische Erklärung auszukommen glauben. 11
10 Man wird freilich den dort gemachten, oft hochstaplerischen Behauptungen entgegenhalten, daß die Parameter, auf Grund derer sich der ja durchaus subjektiv gefaßte „rational choice" von Kosten und Nutzen ergibt (etwa Wertpräferenzen, Risikoeinschätzung, verfügbare Informationen usw.) eine verdächtige Nähe zu den Kriterien haben, bezüglich derer sich Straffällige von der Durchschnittspopulation unterscheiden. Dadurch würde freilich durch die Hintertür leise die gesamte täterorientierte Kriminologie wieder hereinkommen, die man vorne mit großem Getöse hinausgejagt hatte, sobald es nicht mehr um unverbindliches Schwadronieren über „Modelle" geht, sondern um konkrete empirische Analsysen. Vgl. zum ganzen den kritischen Uberblick bei Müller, Jens: Ökonomische Grundlagen der Generalprävention. Eine Auseinandersetzung mit kriminalökonomischen Modellen; Frankfurt/M: Lang 1996 11 Auch hier bleibt jedoch entscheidend, wie es um die „Bindungen" eines Menschen tatsächlich bestellt ist. Der Umstand, daß hier das „Fehlen" von etwas (nämlich von Bindungen) für Kriminalität verantwortlich gemacht wird, kann ja nur dann im Sinne Sessars als Abkehr von täterorientierten Sichtweisen interpretiert werden, wenn man unterstellt, diese Sichtweisen müßten notwendig mit gewissermaßen eigendynamischen (womöglich noch dauerhaft wirksamen) Faktoren arbeiten, wie sie etwa in der Vorstellung eines „Kriminalitätserregers" oder von den „Atavismen" des delinquente nato in der Frühzeit der (positivistischen) Kriminologie vertreten wur-
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Die sekundäre Prävention, der sich die genannten Ansätze ziemlich eindeutig zuordnen lassen, mag nun in der Tat in der deutschen Kriminologie etwas vernachlässigt worden sein. Insofern setzt Sessar zweifellos einen richtigen Akzent, der ja auch von der Praxis in vielfältiger Weise aufgenommen worden ist. Erst dadurch, daß Sessar diese durchaus interessanten und weiterführenden Gedanken mit einem Arrangement von zusätzlichen Argumenten umgibt, die jedes für sich und vor allem in ihrer Gesamtwirkung unhaltbar sind, entsteht ein völlig schiefes Bild von der Bedeutung dieser Ansätze im Vergleich zum bisherigen kriminologischen Erfahrungswissen. Und eben dies wirkt sich auf die Beurteilung des Vollzugs bzw. der Resozialisierung dort verheerend aus. 1) Auch Sessar operiert wie Feest mit einem Zerrbild täterorientierter Kriminologie. Als sei man über Lombroso kaum hinausgekommen, werde eine klare Unterscheidung in Kriminelle und Nichtkriminelle vorgenommen, die sich jedoch wegen der Ubiquität der Jugendkriminalität, der jetzt noch eine entsprechende Ubiquität der Erwachsenenkriminalität an die Seite gestellt werden müßte, nicht halten lasse. Lediglich bei einer sehr kleinen Gruppe von psychisch und sozial auffälligen Straftätern könne man Kriminalität mit täterbezogenen Merkmalen in Verbindung bringen. Hierzu ist nun in aller Entschiedenheit festzustellen, daß a) kein ernstzunehmender Kriminologe von einer starren Dichotomie zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen ausgeht, sondern daß es hier ein vielfach biosozial vermitteltes Kontinuum von psychischen und sozialen Auffälligkeiten gibt12 und daß
den. Diese Vorstellung ist jedoch längst entmythologisiert und man fragt vorsichtig und mühevoll nach körperlichen und psychischen Voraussetzungen, die in komplizierten biosozialen Rückkoppelungsprozessen unter Umständen auch Kriminalität begünstigen können, oft aber auch passager bleiben oder auf andere Weise kompensiert werden (vgl. Göppinger, Kriminologie, Teil III, 5. Aufl. München 1997). N u r der Vollständigkeit halber sei hier noch angeführt, daß der prominenteste Vertreter der Bindungstheorien, Travis Hirschi, in der neuesten Version seiner Theorie von der „low self control" als der entscheidenden Variable spricht und das will nun freilich gar nicht so gut in das Konzept Sessars passen (Gottfredson, MichaelR.; Travis Hirschi: Α General Theory of Crime; Stanford: Stanford University Press 1990). 12 Es bleibt allerdings ein erstaunliches Faktum, daß ein entsprechendes Feindbild immer noch von angesehenen Fachvertretern kolportiert wird. So liest man etwa bei Michael Walter in einer Rezension der Neuauflage der „Kriminologie" von
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b) die kleine Gruppe der mehrfach und erheblich auffälligen Straftäter die meisten Straftaten begeht, insbesondere die schweren. Man braucht in diesem Zusammenhang nur auf die großen Kohortenuntersuchungen aus Philadelphia13 hinzuweisen, um zu erkennen, daß der Hinweis auf die geringe Zahl dieser Straftäter gerade nichts über ihr kriminelles Potential besagt und daher schlicht irreführend ist. 2) Als zweiten argumentativen Pfeiler malt Sessar ein Horrorszenario neuer Kriminalitätsbereiche. Zu der Makrokriminalität (Jäger), der Kriminalität der Mächtigen (Scheerer), der Kriminalität der Angepaßten (Frehsee) kommt nun die Kriminalität im Büro bzw. die Berufskriminalität (Sessar) hinzu. Die Phänomene sind bekannt, wenn auch ihr Umfang völlig im dunkeln liegt und wie bei den vorgenannten Autoren mehr mit rhetorischen Mitteln beschworen als nachgewiesen wird. 14 Sämtliche methodischen Bedenken und aufwendigen Denkoperationen, mit denen die „Jugend-" und die „Straßenkriminalität" heruntergerechnet wurde, werden vergessen, wie etwa die, daß steigende Fallzahlen in der Statistik auch Zeichen einer gesteigerten Sensibilität sein können, womöglich erste Ansätze eines kommunitaristischen Revivals. Oder nehmen wir die vielbeschworenen immensen gesamtwirtschaftlichen Schäden. Wer wagt, sie zu berechnen? Die Schwarzarbeit ist jedenfalls gesamtwirtschaftlich nicht schädlich, wenn man den Experten traut, 15 übrigens individualpräventiv auch nicht 16 . Und vermutlich ist auch die Quel-
Hans Göppinger (JZ 1997, S. 1171): „Entgegen der Auffassung Göppingen sind eben Krankheit und Kriminalität grundverschieden...", eine nicht nur absurde, sondern geradezu ehrabschneidende Unterstellung ohne jeden Anhalt in dem besprochenen Werk (es seien hier nur die Seiten 3-5, 182, 213, aus der Vorauflage die Seiten 170f. genannt). Ich komme auf diesen Fall an dieser Stelle zurück, weil die Redaktion der Juristenzeitung die Publikation einer einfachen, richtigstellenden Notiz verweigert, sich dadurch aus dem Kreis der seriösen wissenschaftlichen Organe verabschiedet und mich gezwungen hat, an eigentlich unpassender Stelle für den nötigen Ehrenschutz zu sorgen. 13 Tracy, P.; Marvin Ε. Wolfgang; R. Figlio: Delinquency Careers in two Birth Cohorts; New York 1990 14 Bock, Michael·. Kriminalität der Mächtigen. Kritische Anfragen an ein in die Jahre gekommenes Konzept und Seitenblicke auf jüngere Verwandte; in: Kaiser, Günther; Jörg-Martin Jehle (Hrsg.): Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse. Teilband I; Heidelberg: Kriminalistik Verlag 1994b, S. 171-186 15 Schmidt, Kurt: Vom Nutzen und Schaden der Schattenwirtschaft. Unveröffentlichtes Manuskript aus dem Institut für Finanzwissenschaft der Universiät Mainz 16 wie Fn 14
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lensteuer gesamtwirtschaftlich schädlicher als die Delikte, die begangen werden, sie zu umgehen. So wirkt es auch wenig überzeugend, wenn man das Argument, mit dem die (angeblich) lasche Verfolgung der Berufskriminalität (angeblich) rationalisiert bzw. neutralisiert wird, daß nämlich grade die Verfolgung dieser Straftaten große gesamtwirtschaftliche Schäden hervorrufe (Standort, Wettbewerb, Arbeitsplätze usw.), als Ausdruck einer „Wirtschaftsmoral" geißelt, gleichzeitig aber auf die großen gesamtwirtschaftlichen Schäden pocht, die durch diese Art von Delikten entstehen sollen. Wie auch immer, daß diese Art von Kriminalität Schäden verursacht, ist klar, ob sie zunimmt ist fraglich, aber so gut wie nichts ist über die Täter bekannt. Wie andere unterstellt auch Sessar einfach, daß es sich hier um Frauen und Männer handelt, für die das Modell des „rational choice" paßt. Ohne Moral und Gewissen, ohne Unrechtseinsicht, in einer „Grenzmoral" agierend, in der legale und illegale Aktivitäten nach dem erwarteten Gewinn verteilt werden und die Entdeckung ebenso durch Kompetenz und soziale Stellung erschwert wie die Begehung erleichtert wird. Aber es ist empirisch unsicher, wie es um diese Grenzmoral bestellt ist! Und es ist unbekannt, was die betrügerischen Ärzte von den seriösen, die korrupten Beamten von den ehrlichen, die Subventionsbetrüger von denen unterschiedet, die tatsächlich einen Anspruch haben. Die zeitdiagnostischen Andeutungen (Außenlenkung, Wertewandel, Pluralismus, Hedonismus, Ökonomisierung von Berufsbildern) reichen jedenfalls nicht aus, um zu belegen, daß es im Prinzip alle sein könnten (sogenannte „Demokratisierung" des Täterbildes, S. 21), zumal überall auf der Welt die Religionen im Vormarsch sind und sich in den USA mächtige kommunitaristische und moralistische Bewegungen zeigen, die auch bei uns in Ansätzen zu spüren sind. Völlig unabhängig davon hat jedoch die empirische Frage nach Unterschieden in Persönlichkeit und Sozialverhalten der Menschen, die in den für Berufskriminalität anfälligen Berufen arbeiten, nichts an Aktualität und Bedeutung verloren. Auch sie kommen übrigens, man sollte es nicht glauben, gelegentlich sogar in den Strafvollzug.17
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Dem linksideologischen Moralismus in diesen Tagen habe ich mit dem Vorschlag, die Einhaltung der relevanten Reziprozitätsbeziehungen stärker zu berücksichtigen,
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3) Nicht so zentral, aber aufschlußreich genug ist ein drittes Argument, mit dem uns Sessar die Ubiquitität des Bösen, nämlich der Gewalt, ins Stammbuch schreibt, das nur eines „auslösenden Moments" (S. 5) bedarf, eben wieder des Reizes einer Situation oder einer Gelegenheit. Adolf Eichmann und der verstaubte Ladenhüter des Milgram-Experiments werden zitert, dazu die Einsicht berichtet, daß Gewalt in verschiedenen Kontexten als normal angesehen wird (und die Menschen, die sie verüben). 18 Nur was besagt dies eigentlich? Daß im Extremfall Krieg vieles anders ist, daß Menschen in einem ethisch selbst äußerst fragwürdigen Experiment außer sich geraten, daß freiwillig Schmerz gesucht oder als Dienstleistung angeboten wird, daß, wer würde das bestreiten, „irgendwie" die Gewalt in uns allen steckt? Dadurch erübrigt sich doch nicht die kriminologisch entscheidende Frage danach, bei welchen Menschen der Reiz alltäglicher oder schwieriger Situationen ausreicht. Sessar selbst wird an diesem Punkt etwas unsicher, aber nur kurz: „Zwar reagieren Menschen sehr unterschiedlich hierauf (sc. auf Impulse oder Stimuli der verschiedensten Art, die vom Opfer ausgehen), so daß die alten Merkmalsunterscheidungen gültig bleiben könnten. Denkbar ist aber auch, daß der Stimulus nicht stark bzw. die Situation dann nicht attraktiv genug war." (S. 5). Spätestens an dieser Stelle müßte sich Sessar eigentlich wütenden feministischen Protest einhandeln. Denn dort hat man sich ja darauf verständigt, daß vom Reiz der Situation, respektive von einem wie immer gearteten Tatbeitrag des Opfers jedenfalls bei Sexualdelikten nicht mehr geredet werden darf und nicht mehr geredet wird. 19 Auch daß generell das Merkmal „männlich" keine Rolle mehr spie-
eine soziologische Argumentation gegenüberzustellen versucht (Bock, wie Fn 14). Ich habe noch keine argumentative Auseinandersetzung damit gelesen, sondern nur dümmliche Polemik (Frehsee, Detlef: Besprechung des Bandes in der MschrKrim 1996, S. 28Off. dort S. 281; Sessar, wie Fn 9, S. 3). 18 Tomi Ungerer wird als Kronzeuge angerufen, denn auch er steht anscheinend fassungslos vor dem Phänomen, daß die Dominas in der Herbertstraße Gewalt ausüben. Der Kronzeuge ist schlecht gewählt, denn sowohl die Domina(o)s als auch die Freierinnen wissen genau, daß das, was sie tun, nicht „normal" ist! Ungerer sollte sein beträchtliches Talent dazu verwenden, solche Szenen zu zeichnen, davon hätte das Publikum mehr als von seinen sozialphilosophischen Platitüden! Man könnte schon darüber diskutieren, ob hier eigentlich wirklich „Gewalt" vorliegt! 19 Vgl hierzu etwa Schneider, Hans Joachim·. Schwerpunkte und Defizite im viktimologischen Denken; in: Kaiser, Günther; Jörg-Martin Jehle (Hrsg.): Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse, Teilband I; Heidelberg: Kriminalistik Verlag 1994, S. 21-42; Weigend, Thomas: Zukunftsperspektiven der Opferforschung; im selben Band, S. 43-62
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len soll, heißt ja, daß bei Frauen nur der Reiz der Gelegenheiten geringer ist! Man wird abwarten, ob dieser Protest kommt.
4 Der Traum von der „reinen" Kriminologie In einem bemerkenswerten Aufsatz hat sich Karl-Ludwig Kunz um eine wissenschaftstheoretische Klärung des Verhältnisses zwischen anwendungsbezogener und reiner Kriminologie verdient gemacht. 20 Seine Grundthese lautet, die Kriminologie könne nicht anwendungsbezogen und wertfrei zugleich sein. Anwendungsbezug und „Wissenschaftlichkeit" im Sinne von „reiner", wertfreier Wissenschaft schlössen sich wechselseitig aus. Daher plädiert er dafür, die jeweiligen Betrachtungsweisen voneinander zu trennen, wobei er wissenschaftsorganisatorische Fragen dieser Trennung (mit Recht) für nachrangig hält. Für das hier verhandelte Thema ist das insofern von Belang, als in dieser Gegenüberstellung, trotz der anderslautenden Hinweise bei Kunz (S. 177), ein Vorbehalt gegen die Wissenschaftlichkeit aller anwendungsbezogener Kriminologie steckt. U n d das für den Strafvollzug wichtige kriminologische Wissen ist zweifellos ein anwendungsbezogenes im Sinne von Kunz. Es wird kein Zweifel daran gelassen, welches die wahre, eigentliche, echte Wissenschaft ist und da möchte man natürlich schon dazugehören. Das Gegenteil von rein ist schmutzig. Es klingt zwar bei Kunz freundlicher als bei dem alten Vorwurf der „Praxisunterwerfung", aber der subtile Appell an das Selbstwertgefühl, die Eitelkeit, das Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit eines prinzipiell „kritischen" Denkens entsteht auch hier. „Staatsforschung", „Hilfswissenschaft" und ähnliche Vokabeln haben nun einmal einen schlechten Klang und wer erinnerte sich dabei nicht an das 68er-Schimpfwort, die Ökonomen seien doch nur „Optimierungknechte," so wie Quetelet seinerzeit die kameralistisch eingebundenen Universitätsstatistiker als „Tabellenknechte" bezeichnete. Alle Forschung über oder für den Strafvollzug gerät da von vornherein in ein schlechtes Licht. Nun ist Kunz zunächst einmal darin zuzustimmen, daß a) die sogenannte „kritische Kriminologie" einen vergleichbaren (nur reziproken) Anwendungsbezug hat wie die von ihm so genannte „empirische Kriminologie", worunter er den Bestand
20 Kunz, Karl-Ludwig·. Über Zusammenhänge und Distanzen zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik, MschrKrim 1997, S. 165-182 (Seitenangaben im Text dieses Abschnitts beziehen sich auf diesen Aufsatz).
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an kriminologischem Wissen einordnet, das zur Prüfung und ggf. „Optimierung" der präventiven Strafzwecke erhoben und eingesetzt wird, und daß b) diese „empirische Kriminologie", trotz ihres nach Kunz offensichtlichen Anwendungsbezuges, keineswegs etwa bloß affirmativ die bestehende Praxis der Strafrechtspflege legitimiert, sondern gerade durch ihre Effektivitätsanalysen (Stichwort wieder: Austauschbarkeitsthese) wesentlich zu der Liberalisierung und Flexibilisierung der Strafrechtspflege in den letzten 20 Jahren beigetragen hat. Dies klingt doch beträchliche differenzierter als die Pauschalangriffe mancher abolitionistischer oder „kritischer" Kriminologen. Umso enttäuschender fallen dann freilich die eigenen wissenschaftstheoretischen Darlegungen aus. So fällt gleich ein befremdlicher Mangel an terminologischer Klarheit ins Auge. Was bedeutet etwa „allgemeingültig"21 im Zusammenhang von wissenschaftlichem Wissen? Soll es heißen „nomologisch" im Gegensatz zu idiographisch, oder meint es die raum-zeitliche Invarianz bestimmter Phänomene oder kausaler Verknüpfungen oder meint es die Demonstrabilität dieser Verknüpfungen für alle Menschen dieser Erde? Leider ist auch der für Kunz hier zentrale Begriff der „Wertfreiheit" mehrdeutig. Ist damit a) die Wertariei/sfreiheit gemeint und damit der Umstand, daß nur aufgrund sogenannter naturalistischer Fehlschlüsse aus (deskriptiven) erfahrungswissenschaftlichen Sätzen (normative) Praxisanweisungen folgen? Meint Wertfreiheit b) schlicht eine Forderung an den Wissenschaftler, den Erkenntnisvorgang methodisch so zu kontrollieren, daß ihn private, persönliche, eben „subjektive" Vorlieben möglichst wenig stören können? Oder meint „Wertfreiheit" c) mindestens auch, das Enthobensein wissenschaftlichen Fragens und Forschens von „gesellschaftlichen" Wertungen und Zwecksetzungen, wie etwa gerade der, daß Kriminalität etwas „Schlechtes" und daher zu Minimierendes sei?
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„Die Suche nach möglichst allgemeingültiger; objektiver' wissenschaftlicher Erkenntnis (Hervorhebung im Text) verlangt eine Distanzierung von subjektiven Vorannahmen und sozialen Interessengebundenheiten" (S. 166).
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Kunz meint, wenn er von der „reinen" Kriminologie spricht, 22 wohl auch die dritte Bedeutung, während er für die „empirische" oder „anwendungsbezogene" Kriminologie nur die ersten beiden Bedeutungen gelten lassen würde. Dies ist nun allerdings der springende Punkt. Kunz behauptet, eine „reine" Kriminologie könne sich den gesellschaftlichen Wertungen entziehen, die „empirische" hingegen könne das nicht, noch weniger als in anderen Sozialwissenschaften, weil das Verbrechen eben das gesellschaftlich Geächtete schlechthin sei und in diese Wertung werde sie qua Anwendungsbezug hoffnungslos verstrickt, sei also nicht wertfrei. Uberzeugend ist dies nicht. Erfahrungswissenschaftliche Forschung ist niemals voraussetzungslos. Die Beziehung zu bestimmten „Werten", die im Weltbild einer Epoche verankert sind, ist vielmehr stets die Voraussetzung dafür, daß ein Phänomen überhaupt als bedeutsamer Gegenstand in den Blick der Wissenschaft kommt. Das ist in allen Wissenschaften so. Auch die wissenschaftlichen Anstrengungen zur Erforschung des Verbrechens stehen seit der Aufklärung in Beziehung zu „Werten" wie etwa „Staatsräson", „Humanität", „Gerechtigkeit" oder „Rechtsgüterschutz." Jede Epoche hat ihr Menschenbild und eine Vorstellung von der Aufgabe, die der Wissenschaft überhaupt zukommen soll. Es werden also stets nicht streng wissenschaftlich begründbare erkenntnistheoretische und methodologische Vorentscheidungen getroffen, ohne die keine Forschungsarbeit möglich ist. Die Kriminologie hat also zwar einen Gegenstand, der rechtlichen und gesellschaftlichen Wertungen unterliegt, ja, durch sie erst konstituiert wird, sie kann und muß sich von diesen rechtlichen und gesellschaftlichen Wertungen jedoch distanzieren, muß und darf sie nicht selbst vollziehen. Mit Max Weber ist eben zwischen Wertung und theoretischer Wertbeziehung zu unterscheiden. 23 Straffällige,
22 Unklar bleibt auch das Verhältnis der beiden Begriffspaare „rein/anwendungsbezogen" und „theoretisch/empirisch", was wohl daher kommt, daß sich Kunz in eine Linie Aristoteles/Kant/Popper stellen möchte, die er als „theoria-Tradition" bezeichnet und wegen ihrer „kontemplativen" Erkenntnishaltung für besonders „rein" hält (S. 166). Auch die kontemplative Enthaltsamkeit impliziert allerdings eine „Stellungnahme" und entrinnt insofern nicht der Verstrickung in werthaltige gesellschaftliche Bezüge. 23 Weber, Max: Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis; in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; 6. Aufl., Tübingen: Mohr 1985, S. 146-214, zuerst 1904
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ihr Verhalten und ihr Lebensstil können doch in ihrer empirischen Faktizität - natürlich auch „wertfrei" im Sinne von a) - untersucht werden, ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vorformung ihres Gegenstandes und ohne Rücksicht darauf, daß ζ. B. der Lebensstil mehrfach Straffälliger in der „gesellschaftlichen" Wahrnehmung als negativ sozial auffällig gewertet wird, wobei diese Wertungen ihrerseits wiederum soziale Tatsachen sind, mit denen zu rechnen ist. Aus diesen Verhältnissen folgt nun aber zwingend das Postulat der WertwriezMreiheit, denn der verantwortungsvolle Wissenschaftler wird den Erkenntnisweg und mithin auch jene Vorentscheidungen offen legen müssen, die seiner Forschung vorausgingen bzw. aus denen heraus sie Gestalt gewann und die bei jeder praktischen Anwendungsfrage natürlich erneut bedacht werden müssen. Die Aussagen kriminologischer (oder forensisch-psychiatrischer) Gutachter, etwa zu prognostischen Fragen, sprechen keineswegs für sich, sondern bedürfen einer rechtlichen Bewertung, denn aus der schlechten Prognose folgt nicht schon, daß eine bestimmte Rechtsfolge sein soll. Dies ergibt sich erst aufgrund vielfältiger zusätzlicher Wertungen dogmatischer und kriminalpolitischer Art. Ebenso folgt aus der Austauschbarkeitsthese als solcher keine kriminalpolitische Handlungsweisung, sondern erst im Zusammenhang mit übergeordneten Wertentscheidungen, nach welchen Prinzipien kriminalrechtliche Sanktionen überhaupt verhängt werden sollen, oder mit ganz einfachen finanzpolitischen Argumenten sind derartige Befunde praktisch verwertbar. Erfahrungswissenschaft ist eine von umstrittenen Wertprämissen mitstrukturierte „denkende Ordnung des Wirklichen" (Max Weber). Deshalb folgt aus ihr nicht unmittelbar das „richtige" Handeln, sondern nur eine erhöhte Klarheit über manche Bedingungen, Kosten und Nebenfolgen, unter denen die unausweichlich als Wertentscheidungen geforderten Akte des strafrechtlichen und kriminalpolitischen Handelns stattfinden. Das Postulat der Werturteilsfreiheit bedeutet also zwar einerseits die selbstkritische Bescheidung der Wissenschaft gegenüber der Praxis, andererseits verdeutlicht sie, indem sie ihre eigenen Grenzen offenlegt, den originär normativen Entscheidungszwang der Strafrechtspraxis und der Kriminalpolitik, dem auch eine ebenso originäre Entscheidungsverantwortung korrespondiert. Der Anwendungsbezug der empirischen Kriminologie, durch welchen sie nach Kunz ihre Unschuld verliert, ist insofern nur ein potentieller, dessen Aktualisierung nicht von der Kriminologie sondern von den Praktikern bzw. Kriminalpolitikern vorgenommen wird, die aufgrund ihrer eigenen Wertungen die Ergebnisse der Kriminologie bei ihren Entscheidungen in der einen oder anderen Weise berücksich-
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tigen oder auch gerade nicht. Irgendeine prinzipielle Unfähigkeit der empirischen Krimologie zur „Wertfreiheit" ist also nicht ersichtlich. Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich die Tatsache, daß in der Praxis der Forschung permanent gegen die hier entwickelten Grundsätze verstoßen wird, freilich nicht nur auf dem Felde der Kriminalpolitik. 25 Dies wird auch deutlich, wenn man von der anderen Seite her fragt, was denn nach Kunz die „reine" Kriminologie der empirischen Kriminologie voraus hat. Kriminalität soll erstens nicht in ihrer Beschaffenheit, sondern in ihrer Geschaffenheit durch Staat und Gesellschaft thematisiert werden (S. 178; Komplementarität von Konformität und Abweichung; Setzung und Durchsetzung von Normalitätsmaßstäben), es soll zweitens nicht für die Kriminalpolitik geforscht werden, sondern über die Kriminalpolitik (S. 180) und schließlich sollen die Erwartungen an Rationalität und Effizienz (S. 181) kritisch in Frage gestellt werden. Was die beiden ersten Punkte betrifft, so sind dies nicht etwa die neuen Fragestellungen einer „reinen" Kriminologie, sondern die alten Fragestellungen der Kriminalsoziologie (wie sich ja auch aus den Zitaten von Mead und Luhmann ergibt, man könnte auch Dürkheim anführen oder Heinrich Popitz). Nur ist in gar keiner Weise zu sehen, wieso denn die Kriminalsoziologie oder überhaupt die Soziologie jene Unschuld haben soll, von der Kunz behauptet, die empirische, anwendungsbezogene Kriminologie habe sie verloren. Es liegen genügend Arbeiten vor, die in unterschiedlicher Weise die weltanschaulichen, zeitgeschichtlich bedingten Vorentscheidungen thematisieren, die mit der Konstituierung einer „Wissenschaft" von der Gesellschaft einherge-
24 Bock, Michael·. Angewandte Kriminologie: Ihre praktische und wissenschaftliche Bedeutung; in: Hans Göppinger (Hrsg.): Angewandte Kriminologie - International; Forum: Bonn 1988, S. 156-176, dort S. 169f. 25 Bock, Michael: Verselbständigung von Methodenfragen, Ausklammerung von Sachfragen. Uber Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Politik seit den Tagen Gustav Schmollers; in: Bock, Michael; Harald Homann; Pierangelo Schiera (Hrsg.): Gustav Schmoller heute: Die Entwicklung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien; Bologna und Berlin: Ii Mulino/Duncker & Humblot 1990, S. 293-332
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gangen sind. 26 Allein die Geschichte des Gesellschaftsbegriffs selbst spricht hierzu Bände. 27 Es ist daher eine bemerkenswerte Naivität, zu glauben, die „reine" Kriminologie verfüge über einen Begriffsapparat und Fragestellungen, die nicht auch gesellschaftlich vorgeformt, weltanschaulich durchtränkt und mit „Erkenntnisinteressen" und „Anwendungsbezügen" verwoben sind, nur weil es keine den Strafverfolgungsorganen, der Kodifikation des StGB und Gefängnissen vergleichbaren Institutionen gibt, auf die man mit der Nase gestoßen werden kann. Und auch sie müßte diese nicht-empirischen Vorentscheidungen sich selbst und dem Publikum offenlegen und es würde dann ganz entsprechend klar werden, daß daraus, wie die Normgenese empirisch abläuft, praktisch-politisch noch nichts, aber auch gar nichts folgt, es sei denn, irgendwelche Menschen setzen dies in Beziehung zu Werten und handeln entsprechend (oder auch nicht). Es ist also in den wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen gar kein prinzipieller Unterschied zur empirischen Kriminologie zu sehen, sondern nur im Bezug auf den Gegenstand (und hier ist es wieder eine nachrangige Frage, welche wissenschaftsorganisatorischen Konsequenzen dies hat). "Wie aber kann es zu diesem Fehlverständnis kommen. Kunz selbst legt die Spuren durch seine unterwürfige Verbeugung vor Karl Popper und Hans Albert. Diese Philosophen (von den Sozialwissenschaften verstehen sie leider wenig) stehen für den selbstgefälligen, 26 Und zwar sind es nicht nur solche, in denen der jeweils anderen Schule oder Theorie des Fachs ein „Interesse", „bias" oder sonstwie politische Voreingenommenheit unterstellt oder „ideologiekritisch" nachgewiesen wird, sondern auch solche, in denen die vorgelagerten Prämissen thematisiert werden, aufgrund derer eine Wissenschaft von der Gesellschaft überhaupt entstehen konnte. Vgl. etwa Achum, Karl·. Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen; Freiburg/München: Alber 1995; Bell, Daniel·. Die Sozialwissenschaften seit 1945; Frankfurt am Main und New York: Campus 1986; Bock, Michael·. Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. Zur Entstehung des modernen Weltbildes; Stuttgart: Klett-Cotta 1980; Tenbruck, Friedrich H.: Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozess; KZfSS, Sonderheft 18, Wissenschaftssoziologie 1975, S. 19-47; Tenbruck, Friedrich Η.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen; Graz, Wien, Köln: Styria 1984; Gouldner, Alvin: Anti-Minotaur. The Myth of a Value-Free Sociology, in: Stein, Maurice; Vidich, Arthur (eds): Siciology on Trial, Englewood Cliffs Ν J. 1963, S. 35-52; Friedrichs, Robert W.: A Sociology of Sociology; New York/London 1970 27 Riedel, Manfred: Gesellschaft, Gemeinschaft; in: Brunner, Ο.; W. Conze; R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 2; Stuttgart 1979, S. 801-862; Tenbruck, Friedrich Η.: Emile Dürkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie; Zeitschrift für Soziologie 1981, S. 333-350
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sich „kritisch" nennenden Rationalismus, der glaubt, sich den Weltlauf gewissermaßen von außen anzuschauen, mit den richtigen Methoden objektive, wertfreie, allgemeingültige (bei Kunz alles in bunter Mischung) Erkenntnisse zu produzieren. Dadurch werde nun eben doch jene Objektivität der Wissenschaft erzielt, die sie über alle gesellschaftlichen Werte und Interessen hinaushebe. Ganz unvermittelt und überhaupt nicht mehr „wertfrei" geht denn auch Kunz zu einem mehr oder weniger erbaulichen Räsonnieren über: „Der Kriminalpolitik in einem freiheitlichen Rechtsstaat sollte (sie!) es freilich um mehr gehen als um optimale Ordnungsleistungen: etwa um Menschenwürde, materiale Gerechtigkeit und Bändigung der Staatsgewalt" (S. 181). Weiter geht es mit der „Wissenschaft in sozialer Verantwortung" sowie mit einer „Strategie der Humanität" (ebenda). Das alles ist sehr ehrenwert (wer wäre nicht für Humanität!), genauso wie Poppers Engagement für die offene Gesellschaft 28 oder seine Position eines „negativen Utilitarismus," 29 aber man sollte nicht so tun, als ob dies „rein" oder „wertfrei" sei. 5 Forschungsdesiderate Daß weder die üblichen noch die eher versteckten kriminologischen Argumente gegen den Resozialisierungsgedanken überzeugen, ändert nichts daran, daß von Kriminologen faktisch nicht mehr viel auf diesem Gebiet geforscht wird. Wenn überhaupt, sind es meist forensische Psychiater und Psychologen, Gegenstand ist überwiegend der Maßregelvollzug und seine stark ausgelesene Klientel. Für den „normalen" Strafvollzug an Erwachsenen und Jugendlichen interessiert man sich nicht, es sei denn in der unter 2. erörterten Weise pauschaler Kritik. Was vor allem fehlt, sind aktuelle Vergleichsuntersuchungen (und/oder Kohortenstudien). 30 Es ist zwar eine Binsenweisheit, aber nur durch solche Untersuchungen lassen sich die Charakteristika des Lebensstils erheblich Straffälliger herausarbeiten und für Resozialisierungsbemühungen im Vollzug fruchtbar machen. Dies sei an einem besonders auffallenden und besonders wichtigen Beispiel kurz erläutert. Für die Planung und Durchführung von Behandlungsmaßnahmen bedarf es bekanntlich erfahrungswisPopper, Karl R.\ Die offene Gesellschaft und ihre Feinde; zuerst London 1945 Acbam, Karl: Nachruf auf Karl Popper, Almanach der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften 1995, S. 395-414, dort S. 406 30 Bock, Michael·. Qualitative und quantitative Forschungsansätze in der Kriminologie; in: wie Fn 5, S. 119-134, dort S. 124ff. 28 29
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senschaftlicher Grundlagen der eben angesprochenen Art. Nun sind freilich rund die Hälfte, in manchen Anstalten auch noch mehr der Gefangenen Nichtdeutsche. Das kriminologische Wissen über diese Nichtdeutschen, das unter dem Stichwort „Ausländerkriminalität" verhandelt wird, ist jedoch für die Zwecke der Vollzugsplanung und Entlassungsvorbereitung und Bewährungshilfe völlig irrelevant (genauso wie für etwaige „ambulante" Maßnahmen, die ansonsten zur Vermeidung von Inhaftierungen in Betracht kommen könnten). Die bisherigen Forschungen der Kriminologie in diesem Bereich hatten vor allem die Absicht, irrationale Ängste bei der Bevölkerung abzubauen sowie Vorurteilen und Ressentiments entgegenzuwirken. Dies war und ist fraglos ein wichtiger und legitimer Zweck kriminologischer Forschung (von „Reinheit" im Sinne von Kunz freilich keine Spur). Auch war es wohl im ganzen richtig, hierbei vor allem mit Vergleichen zwischen Nichtdeutschen und Deutschen zu operieren. Für alle spezialpräventiven Überlegungen bleiben alle diese Vergleiche jedoch unzureichend. Hierzu bedarf es eines kriminologischen Erfahrungswissens ganz anderer Art. Es fehlt an einer differenzierte Erfassung des Sozialverhaltens jugendlicher Migranten in den Bereichen Herkunftsfamilie, Aufenthaltsbereich, Leistungsbereich, Freizeitbereich, Kontaktbereich und Delinquenzbereich. Von besonderer Bedeutung ist hierbei ein Vergleich zwischen straffälligen jugendlichen Migranten und nichtstraffälligen jugendlichen Migranten. Wenn man geeignete Hilfsangebote und Behandlungsangebote für den Vollzug entwickeln und Entlassungsvorbereitung betreiben möchte, so ist hierfür vor allem ein detailliertes Wissen darüber erforderlich, wie es den nichtstraffälligen jugendlichen Migranten gelingt, mit den fraglos vorhandenen Schwierigkeiten und Problemlagen ihrer Situation ohne oder doch mit weniger und geringfügigeren Straftaten fertig zu werden, als die (häufiger und erheblich) Straffälligen. Realistische Vorstellungen darüber, welche Probleme die Einwanderung mit sich bringt und vor allem, wie sie zu bewältigen sind, lassen sich nur anhand der Lebensgeschichten und Lebensverhältnisse derer gewinnen, die „erfolgreich" waren. Diese Fragestellung ist in der kriminologischen Forschung bisher kaum verfolgt worden.31
31 Eine Ausnahme stellt insoweit die Untersuchung von Hamburger und Mitarbeitern dar (Hamburger, Franz; Seues, Lydia; Wolter; Otto·. Zur Delinquenz ausländischer Jugendlicher; Bundeskriminalamt: Wiesbaden 1981). Es ist meines Wissens die einzige Untersuchung, in der straffällige ausländische Jugendliche mit nichtstraffälligen ausländischen Jugendlichen verglichen wurden. Allerdings wurde nur mit Intensivinterviews gearbeitet, das heißt es wurde versucht, festzustellen, wie sich die Pro-
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Natürlich liegen die besonderen Schwierigkeiten auf der Hand, die mit empirischer Forschung dieser Art verbunden sind (Vertrauen, Datenschutz, Sprachbarrieren usw.) und natürlich würde es Zeit brauchen, bis Ergebnisse derartiger Forschungen praktisch umgesetzt werden könnten und in die Ausbildung des Vollzugspersonals Eingang finden. Aber prinzipiell wäre das natürlich möglich, doch niemand möchte es ernsthaft. 32 Wer in der „Behandlung" nur Disziplinierung und Repression unter einem wissenschaftlichen und humanen Deckmäntelchen sieht, wird dies bei „Nichtdeutschen" umso mehr besorgen; wer nur noch den Reiz der Gelegenheit im Auge hat, wird schon die täterbezogene Kategorie absurd finden, da es, wenn überhaupt, für jugendliche Migranten eben stärkere Reize gibt; wer in kontemplativer Beschaulichkeit „reine" Kriminologie betreiben möchte, wird gerade von diesem hochexplosiven Thema tunlichst die Finger lassen.
blematik der Einwanderung bzw. des Status als Ausländer in der subjektiven Wahrnehmung und der subjektiven Vorstellungswelt der befragten Jugendlichen darstellt. Dies ist ein überaus wichtiger Aspekt, aber eben nur einer unter anderen, der die differenzierte Analyse des Sozialverhaltens im Lebenslängsschnitt und im Lebensquerschnitt nicht ersetzen kann. 32 Für die forensische Psychiatrie und Psychologie werden entsprechende Forschungsdesiderate von Hans-Jörg Albrecht (Kriminologische und rechtspolitische Desiderate in der Gestaltung der Forschungsperspektiven Forensischer Psychiatrie, in: wie Fn 5, S. 135-150, dort 141f.) aufgewiesen.
4 Spezielle Personengruppen
Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung KLAUS LAUBENTHAL*
I.
Gesellschaftliche Probleme und Konflikte werden in Justizvollzugsanstalten in massierter und potenzierter Ausprägung sichtbar. 1 Dies gilt auch für das soziale Problem der Ausländerkriminalität, das längst den Strafvollzug erreicht hat. Auch wenn in jüngeren kriminologischen Studien gerade für den Bereich der Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung Verzerrungsfaktoren herausgearbeitet werden konnten, welche die sich aus den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Verurteiltenstatistik ergebenden Unterschiede 2 verringern 3 , so läßt sich die erhöhte Delinquenzrate nicht zu einem bloßen statistischen Produkt 4 reduzieren. Vielmehr ergibt sich - trotz aller Unsi* Europäisches Rechtszentrum der Universität Würzburg. 1 Müller-Dietz, 20 Jahre Strafvollzugsgesetz - Anspruch und Wirklichkeit, ZfStrVo 1998, S. 15. 2 Während der (registrierte) Ausländeranteil an der inländischen Wohnbevölkerung Ende 1995 8,8 Prozent betrug (vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1997, S. 67) und sich bei Einbeziehung von Touristen, illegal Eingereisten und Angehörigen der Stationierungsstreitkräfte auf etwa 10 Prozent erhöhen dürfte, stand dem 1996 ein Tatverdächtigenanteil der Nichtdeutschen von 28,3 Prozent (Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 1996, S. 113) gegenüber. Im Jahr 1996 lag in den alten Bundesländern einschließlich Berlin-Ost der Anteil der verurteilten Ausländer bei 26,9 Prozent der Verurteilten insgesamt (Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1996, S. 388). 3 Siehe Heinz, Jugendkriminalität und strafrechtliche Sozialkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 107; Kammhuber, Ausländerkriminalität - Eine bittere Realität und ihre Bewältigung, Kriminalistik 1997, S. 551 ff.; Steffen/Czogalla/Gerum/Kammhuber/Luff/Polz, Ausländerkriminalität in Bayern. Eine Analyse der von 1983 bis 1990 polizeilich registrierten Kriminalität ausländischer und deutscher Tatverdächtiger, 1992, S. 27 ff.; Villmow, Ausländer in der strafrechtlichen Sozialkontrolle, BewHi 1995, S. 156 f. 4 So Geißler/Marißen, Kriminalität und Kriminalisierung junger Ausländer, KZfSS 1990, S. 663 ff.; dazu auch Walter M./Pitsela, Ausländerkriminalität in der statistischen (Re-)Konstruktion, KrimPäd. 34/1993, S. 6 ff.
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Klaus Laubenthal
cherheiten hinsichtlich der Erfassungsmodalitäten der Kriminalstatistik 5 - weiterhin eine deutlich stärkere Belastung der männlichen Nichtdeutschen über alle Altersgruppen hinweg. 6 Dabei ist es keineswegs der formale Status als Nichtdeutscher, eher sind es die mit dem Ausländerstatus verbundenen sozialen, ökonomischen, rechtlichen und sonstigen Schwierigkeiten, die in der erhöhten Kriminalitätsbelastung dieser Personengruppe erscheinen. 7 Auch Strukturverschiebungen infolge von Migrationsbewegungen 8 , sowie seit Öffnung der osteuropäischen Grenzen die sog. importierte Kriminalität, haben zu einem Ansteigen des Straffälligenanteils der Nichtdeutschen geführt. 9 Parallel zur Entwicklung der Ausländerkriminalität ist seit Mitte der achtziger Jahre eine Zunahme der Anzahl der nichtdeutschen Inhaftierten in den Justizvollzugsanstalten zu verzeichnen. Dies gilt für den Vollzug von Freiheitsstrafen ebenso wie für andere Bereiche freiheitsentziehender Unrechtsreaktionen. So weisen Haftanalysen im Unterschied zu früheren Zeiten auf deutlich höhere Anteile von Ausländern in den Untersuchungshaftpopulationen hin. Hier liegen die Zahlen in den neunziger Jahren zum Teil10 bereits bei mehr als 50 Prozent. Etwa in Bayern waren 1997 ca. 54 Prozent der Untersuchungsgefangenen ausländische Staatsangehörige. 11 Die Zunahme betrifft nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenden Tatverdächtigen. Von den am 31.3.1996 eine Jugendstrafe verbüßenden Gefangenen (einschließlich derer, bei denen gem. § 114 J G G eine Freiheitsstrafe in der Ju-
5 Dazu Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 656 ff.; Schneider, Ausländer als Täter und Opfer, in: Festschrift für Geerds, 1995, S. 201 f.; Schöch/Gebauer, Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Kriminologische, rechtliche und soziale Aspekte eines gesellschaftlichen Problems, 1991, S. 40 ff.; Steffen, Ausländerkriminalität - Notwendige Differenzierungen, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Brennpunkt Kriminalität, 1996, S. 68 ff. 6 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, 4. Aufl. 1995, S. 1011 ff.; Kaiser (Fn. 5), S. 658 ff.; Schwind, Kriminologie, 8. Aufl. 1997, S. 436 ff. 7 Göppinger/Bock/Böhm, Kriminologie, 5. Aufl. 1997, S. 537. 8 Siehe dazu Bade, Fremde im Land: Politik in der Einwanderungssituation, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Migration und Toleranz, 1993, S. 27 ff.; Wollenschläger, Kriminalität von Asylbewerbern, Arbeitsverbot für Asylbewerber, in: Festschrift für F.-W. Krause, 1990, S. 137 ff. 9 Steffen, Streitfall „Ausländerkriminalität", BewHi 1995, S. 142 f.; Streng, Die Öffnung der Grenzen und die Grenzen des Strafrechts, JZ 1993, S. 110. 10 Vgl. Dünkel, in: Dünkel/Vagg, Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvollzug. Halbbd. 1, 1994, S. 81 f.; fehle, Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen der Untersuchungshaft, BewHi 1994, S. 383. 11 Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Strafvollzug in Bayern, 1997, S. 3.
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gendstrafanstalt vollzogen wurde) waren 31,1 Prozent Nichtdeutsche. 12 Nordrhein-Westfalen meldete am 31.3.1996 sogar einen Anteil der ausländischen Inhaftierten im Jugendstrafvollzug von 43,7 Prozent. 1 3 Bundesweit betrug am 31.3.1997 die Anzahl der Nichtdeutschen im Vollzug der Jugendstrafe 28,8 Prozent. 1 4 Ein erheblicher Anstieg des Ausländeranteils ist in den letzten Jahren auch bei den zu Freiheitsstrafen verurteilten Insassen in den bundesdeutschen Vollzugsanstalten festzustellen. Bewegte sich die Quote der Nichtdeutschen in den achtziger Jahren lange im Bereich von 10 Prozent, wuchs sie seit Beginn der neunziger Jahre sprunghaft an. 1994 war bereits jeder fünfte Straffällige im Vollzug der Freiheitsstrafe Ausländer. Bis 1997 stieg der Anteil auf 24,0 Prozent an. 1 5
Tab.: Entwicklung des Ausländeranteils im Vollzug der Freiheitsstrafe seit 1982 (jeweils am 31.3.) 1 6 Jahr
Inhaftierte
Deutsche
Nichtdeutsche Anzahl Pro2
1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
38620 40819 42140 41852 39407 36987 36076 36101 34799 33392 35401 37128 39327 41353 43475 45718
34897 36845 37997 37785 35667 33325 32344 32000 30432 28757 30076 30739 31447 32428 33686 34720
3723 3974 4143 4067 3740 3662 3732 4101 4367 4635 5325 6389 7880 8925 9789 10998
9,6 9,7 9,8 9,7 9,5 9,9 10,3 11,4 12,5 13,9 15,0 17,2 20,0 21,6 22,5 24,0
12 Statistisches Bundesamt, Strafvollzug - Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen 1996, S. 8 f.
n
Justizministerium
des Landes Nordrhein-Westfalen,
Westfalen, 11. Aufl. 1997, S. 63. 14 15 16
Statistisches Bundesamt, Statistisches Bundesamt, Statistisches Bundesamt,
Strafvollzug in Nordrhein-
Pressemitteilung v. 17.3.1998. Pressemitteilung v. 17.3.1998. Strafverfolgung 1982-1997.
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II. Die Problematik der nichtdeutschen Inhaftierten beeinträchtigt zunehmend die Justizvollzugsanstalten. Dabei ist es nicht die hohe und steigende Zahl von Insassen ohne deutschen Paß an sich, die zu Belastungen des Vollzugs führt. 17 Die Schwierigkeiten erwachsen vielmehr daraus, daß es sich bei den ausländischen Gefangenen gerade nicht um eine homogene Gruppe handelt, sondern um eine Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit und Herkunft. 18 Ein bedeutender Anteil der Population entstammt Kulturund Rechtskreisen, in denen ein divergierendes Normen- und Wertverständnis herrscht. 19 Hinzu kommt als gravierendster Belastungsfaktor 20 die Sprachbarriere - nicht nur im Hinblick auf die Angehörigen des Vollzugsstabes und die inländischen Mitgefangenen, sondern auch für die Kommunikation der Nichtdeutschen untereinander. Verbale Verständigungsschwierigkeiten, zudem verschiedene Religionszugehörigkeiten, bedingen Gruppenbildungen, die durchaus subkulturellen Charakter haben können. Das Zusammenleben von Angehörigen vieler Nationalitäten mit ihren jeweils eigenen kulturellen Vorstellungen, Lebensgewohnheiten, anderen Einstellungen zur körperlichen Integrität, führt zu - für mitteleuropäische Denkweisen zum Teil nicht nachvollziehbaren 21 - Konflikten und Auseinandersetzungen, die auch mittels Gewalt ausgetragen werden. 22 Hinzu treten Diskriminierungen der ausländischen Gefangenen durch die deutschen Insassen. 23 Verschärft wird die Ausländerproblematik in den Justizvollzugsanstalten noch durch den Vollzug der Abschiebungshaft gem. § 57 AuslG in den Institutionen. Diese haben im Wege der Amtshilfe Ab-
17 Schütze, Probleme der Vollzugsanstaken mit der wachsenden Zahl der ausländischen Gefangenen, DVJJ-Journal 1993, S. 381. 18 Siehe auch Expertenkommission Hessischer Justizvollzug, StrVert 1994, S. 222; ferner bereits Nährich, Zur Situation ausländischer Strafgefangener in deutschen Vollzugsanstalten, ZfStrVo 1975, S. 145 ff. 19 Dazu Laubenthal, Strafvollzug, 2. Aufl. 1998, Rdn. 314. 20 Steinke, Ausländer im Untersuchungshaftvollzug, BewHi 1995, S. 171. 21 Winchenbach, in: Stomps/Winchenbach/Wirth, Strafvollzug: Bessern oder Verwahren? 1996, S. 13. 22 Dünkel/Kunkat, Zwischen Innovation und Restauration. 20 Jahre Strafvollzugsgesetz - eine Bestandsaufnahme, Neue Kriminalpolitik 2/1997, S. 29. 23 Nickolai/Walter ]., Rechtsorientierte gewalttätige Jugendliche in und außerhalb des Strafvollzuges - wie reagiert die Sozialarbeit? ZfStrVo 1994, S. 70; Schütze (Fn. 17), S. 381; dazu auch Böhm, Der ausländische Strafgefangene im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsauftrag und Zielsetzung des Ausländerrechts, in: Schäfer/Sievering (Hrsg.), Ausländerrecht contra Resozialisierung? 1984, S. 129.
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schiebehäftlinge aufzunehmen, weil die meisten Bundesländer nicht über eigene Abschiebehafteinrichtungen verfügen. 24 Dabei mangelt es in den Anstalten des Justizvollzugs teilweise an einer Beachtung des Trennungsprinzips, so daß Abschiebegefangene häufig zusammen mit Inhaftierten anderer Haftarten (vor allem Strafgefangenen) in einer Einrichtung untergebracht sind. 25 Gravierende Schwierigkeiten als Folgen der Ausländerproblematik sind auf der ganzen Bandbreite der Pluralität von Haftformen festzustellen. 26 Besonderheiten ergeben sich dabei für den Vollzug der Freiheitsstrafe als Behandlungsvollzug zur sozialen Reintegration der Betroffenen. 27 Im Strafvollzug tritt neben den Belastungsfaktor der Sprachbarriere die Problematik der Ausweisungserwartung. Denn gem. § 456a Abs. 1 StPO darf die Strafvollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung absehen, wenn ein Verurteilter nichtdeutscher Staatsangehörigkeit aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wird (oder eine Auslieferung wegen einer anderen Tat erfolgt). § 456a Abs. 1 StPO gestattet somit bei bestandskräftiger oder sofort vollziehbarer Ausweisungsverfügung gem. §§ 45 ff. AuslG durch die zuständige Ausländerbehörde einen vorläufigen Vollstreckungsverzicht als Ausnahme zu der aus dem Legalitätsprinzip herzuleitenden und durch § 258a StGB materiell-rechtlich gesicherten Pflicht, rechtskräftige Verurteilungen zu Freiheitsstrafen zu vollstrecken. 28 Als ratio legis wird benannt: die Schaffung eines Ausgleichs für die mit der Ausweisung (oder Auslieferung) verbundenen
24 Die Strafvollzugsstatistik verzeichnet für das Jahr 1996 am 1.1. einen Bestand von 1 690 und am 31.12. von 1 852 Abschiebehäftlingen in den Justizvollzugsanstalten. Uber das Jahr hinweg wurden jedoch 22 511 Zugänge und 22 349 Abgänge registriert {Statistisches Bundesamt, Strafvollzug - Anstalten, Bestand und Bewegung der Gefangenen 1996, S. 16 f.). 25 Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 777; Schütze (Fn. 17), S. 383. 26 Siehe speziell für die Untersuchungshaft Steinke (Fn. 20), S. 170 ff.; für den Jugendstrafvollzug Böhm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 1996, S. 238 f.; Bukowski, Benachteiligungen im Jugendstrafvollzug? Ergebnisse qualitativer Interviews mit türkischen Insassen, 1998, S. 26 ff.; Finkheiner/Karsten/Meiners, Deeskalationsgruppen mit Inhaftierten unterschiedlicher Nationalität und Kultur in der Jungtäteranstalt Vechta, ZfStrVo 1993, S. 343 ff.; Giir, Warum sind sie kriminell geworden? Türkische Jugendliche in deutschen Gefängnissen, 2. Aufl. 1991; Walter ]., Auch wenn Kassandra selten gehört wird ..., DVJJ-Journal 1993, S. 245 ff. 27 Zu den spezifischen Schwierigkeiten von Strafgefangenen fremder Staatsangehörigkeit siehe bereits Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 140 f. 28 Groß, Zum Absehen von der Strafvollstreckung gegenüber Ausländern nach § 456a StPO, StrVert 1987, S. 36; Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung, 7. Aufl. 1996, S. 160 ff.; Wetterich/Hamann, Strafvollstreckung, 5. Aufl. 1994, S. 130.
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Belastungen des Betroffenen sowie die verminderte Gefahr erneuter Deliktsbegehung durch ihn im Inland. 29 Zu den Normzwecken soll aber auch eine pragmatisch-ökonomische Entlastung der Justizvollzugsanstalten von häufig ineffektiven Strafvollstreckungen gegen Ausländer zählen 30 , wobei insoweit eine Resozialisierung von auszuweisenden Tätern als wenig sinnvoll erachtet wird. 31 § 456a Abs. 1 StPO legt keine Mindestverbüßungsdauer fest. In den Erlassen und Richtlinien der einzelnen Bundesländer ist ein Absehen von der Vollstreckung zumeist von der Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe abhängig.32 Die Vollstreckungsbehörden sind zudem angehalten, von der Regelung des § 456a Abs. 1 StPO großzügig Gebrauch zu machen. 33 Dies hat zur Folge, daß die meisten ausländischen Täter nach ihrer Entlassung nicht in Deutschland leben, sondern in den jeweiligen Kultur- und Rechtskreis ihres Heimatstaates zurückkehren. 34 Ziel des deutschen Strafvollzugs ist gem. § 2 S. 1 StVollzG die Befähigung des Strafgefangenen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dabei steht die Resozialisierung für die Summe aller Bemühungen zur Erreichung des Vollzugsziels. 35 Dieses begründet einen Anspruch des Verurteilten auf entsprechende Behandlungsmaßnahmen. 36 Damit muß der Vollzug von Freiheitsstrafen insgesamt auf eine Befähigung zu straffreiem Leben ausgerichtet sein. Resozialisierung im Sinne des Strafvollzugsgesetzes kann daher nicht nur eine Anpassung allein an die sozialen Lebensverhältnisse bedeuten, wie sie in Deutschland vorgefunden werden. 37 Mag das Vollzugsziel des § 2 S. 1 StVollzG mit nichtdeutschen Inhaftierten noch erheblich schwieriger zu erreichen sein als bei 29 Giehring, Das Absehen von der Strafvollstreckung bei Ausweisung und Auslieferung ausländischer Strafgefangener nach § 456a StPO, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein, 1992, S. 499; Paulus, in: KMRStPO, 1997, § 456a Rdn. 3. 30 Fischer, in: KK-StPO, 3. Aufl. 1993, § 456a Rdn. 1; OLG Hamm, NStZ 1983, S. 524. 31 Groß (Fn. 28), S. 36; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, 43. Aufl. 1997, § 456a Rdn. 1. 32 Siehe ζ. B. Baden-Württemberg, Justiz 1996, S. 500; Schleswig-Holstein, SchlHA 1994, S. 85; dazu auch Giehring (Fn. 29), S. 475 ff. 33 Vgl. Paulus, in: KMR-StPO, 1997, § 456a Rdn. 3. 34 Dazu auch Winchenbach (Fn. 21), S. 13. 35 Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, S. 138; Seebode, Strafvollzug. Recht und Praxis. 1. Teil, 1997, S. 99 ff.; Walter M., Strafvollzug, 1991, S. 192. 36 BVerfGE 45, S. 239; Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 128. 37 So aber Groß (Fn. 28), S. 36; Bierschwale, Wohin treibt es den Justizvollzug? ZfStrVo 1997, S. 69.
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deutschen Gefangenen 38 , so hat der Gesetzgeber sie dennoch weder von der Verpflichtung zur Vollzugszielerreichung noch überhaupt vom Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes ausgenommen. So findet sich im Strafvollzugsgesetz keine einzige N o r m , die explizit auf die Eigenschaft als Deutscher oder als Ausländer abstellt. Der Sozialisationsauftrag gilt somit auch für nichtdeutsche Verurteilte. Eine Forderung nach bloßer Verwahrung ausländischer Gefangener, die wegen mangelnder Sprachkenntnisse, fehlender familiärer Bindungen im Inland und in Erwartung einer Ausweisung dem Behandlungsvollzug nicht zuführbar seien, in Sonderanstalten für ausländische Inhaftierte 39 widerspricht der Vollzugszielbestimmung des § 2 S. 1 StVollzG. Dies gilt um so mehr, als das Sozialisationsziel des Strafvollzugsgesetzes zwei zentralen Verfassungsgrundsätzen folgt, die sich nicht nur auf Personen mit deutschem Paß beziehen: dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. Aus Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 G G ergibt sich für alle Gefangenen ein Anspruch auf Resozialisierung 40 und Art. 20 Abs. 1 sowie 28 Abs. 1 G G verpflichten den Staat, die notwendigen Ressourcen zur Realisierung von Sozialisationsbemühungen für alle Inhaftierten zur Verfügung zu stellen. 41 Die Lebensbedingungen im Strafvollzug und die Einwirkungen auf die Gefangenen sind so zu gestalten, daß sie die Chancen einer Wiedereingliederung verbessern und zur Verwirklichung einer künftigen Lebensführung ohne Straftaten geeignet erscheinen. Dies verbietet es, nichtdeutsche Verurteilte im Freiheitsentzug von der Vollzugszielerreichung auszunehmen bzw. Teile des Strafvollzugsgesetzes auf sie nicht anzuwenden. 42 Straffreie Lebensführung in sozialer Verantwortung bedeutet aber mehr als ein Leben ohne weitere deliktische Handlungen. Der Strafvollzug als Sozialisationsinstanz muß soziale Kompetenz vermitteln, also Voraussetzungen für den Erwerb von Fähigkeiten schaffen, Konflikte und andere Schwierigkeiten ohne die Begehung von Straftaten zu bewältigen. Die Behandlung - etwa mittels sozialen Trainings - hat an Problemfeldern anzusetzen, mit denen häufig Rückfälligkeit einhergeht (z.B. Arbeits- und Berufswelt, Freizeitverhalten, Rauschmittel usw.). Mittels breitgefächerter Behandlungsmaßnahmen sollen nicht nur äußere Sozialisationsbedingungen be38
Böhm (Fn. 27), S. 140; Seebode, Behandlungsvollzug für Ausländer, KrimPäd Heft 37/1997, S. 52. 39 So Rosenfeld, Schlanker Vollzug - geht das? KrimPäd Heft 36/1997, S. 10 f. 40 BVerfGE 45, S. 239; BVerfG, NStZ 1996, S. 614. 41 BVerfGE 35, S. 236. 42 Seebode (Fn. 38), S. 52.
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einflußt, sondern auch Verhaltens- und Einstellungsmodifikationen erreicht werden mit dem Ziel einer angemessenen Situations-, Konflikts- und Lebensbewältigung. 43 Im Rahmen ihrer Möglichkeiten sind die Vollzugsbehörden deshalb durchaus bemüht, die nichtdeutschen Strafgefangenen in allgemeine Behandlungsprogramme einzubeziehen bzw. spezielle Behandlungsmaßnahmen durchzuführen. 44 Dies reicht von Sprachkursen über schulische und berufliche Bildung bis hin zur Freizeitgestaltung. In Nr. 79 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze 1987 wird den Vollzugsbehörden gerade aufgegeben, der Weiterbildung ausländischer Inhaftierter ebenso wie den Insassen mit besonderen kulturellen und ethnischen Bedürfnissen spezifische Beachtung zu schenken. Das Behandlungsangebot des Strafvollzugs bleibt jedoch bei all denjenigen ausländischen Verurteilten deutlich reduziert, bei denen eine Ausweisung oder Abschiebung in Betracht kommt 45 - und die Zahl nichtdeutscher Inhaftierter, die von vornherein nicht mit einer solchen Maßnahme rechnen müssen, ist sehr gering. 46 Der Vollzug von Freiheitsstrafe an ausländischen Gefangenen bleibt somit zumeist auf einen bloßen Verwahrvollzug beschränkt. 47 Bemühungen von Anstaltsleitungen um Zusammenlegung von Verurteilten gleicher Kulturkreise, Zurverfügungstellung fremdsprachiger Informationsquellen, die Durchführung von Sprachkursen oder Bastelgruppen stellen insoweit letztlich nur Maßnahmen zur Erleichterung von Daseinsschwierigkeiten ausländischer Strafgefangener in den Justizvollzugsanstalten dar.48
Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 139 ff. Siehe Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Fn. 13), S. 64 f.; Kaiser/ Kerner/Schöch (Fn. 35), S. 286 f.; Neu, Nichtdeutsche im bundesdeutschen Strafvollzug, in: Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl. 1988, S. 331 ff.; siehe auch Miiller-Dietz, Bildungsarbeit im Strafvollzug - grenzübergreifend, ZfStrVo 1993, S. 264 f. 45 So können z.B. in Nordrhein-Westfalen grundsätzlich nur solche Strafgefangene während des Vollzugs beruflich aus- oder weitergebildet werden, mit deren Ausweisung oder Abschiebung nicht zu rechnen ist (Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen [Fn. 13], S. 63). 4 6 Siehe Koepsel, Behandlungsuntersuchungen (§ 6 StVollzG) bei ausländischen Strafgefangenen. Erfahrungen aus der westfälischen Einweisungsanstalt Hagen, ZfStrVo 1983, S. 201. 47 Dünkel/Kunkat (Fn. 22), S. 29; Finkheiner/Karsten/Meiners (Fn. 26), S. 346; Koepsel (Fn. 46), S. 201; Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 315; Schütze (Fn. 17), S. 383 f.; Villmow (Fn. 3), S. 166; siehe auch Köpcke-Duttler, Ausländergesetz und Resozialisierung, KrimPäd Heft 34/1993, S. 27 ff. 48 So schon Schaffner/Kneip, Fühlt sich der Ausländer in Haft als Gefangener zweiter Klasse? ZfStrVo 1983, S. 264. 43
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Der weitgehende Ausschluß der nichtdeutschen Straftäter von resozialisierungsorientiertem Einwirken gilt auch für den Bereich der Vollzugslockerungen. Diese stellen keine bloßen Vergünstigungen oder Belohnungen für aus Sicht der Institution erwünschtes Wohlverhalten dar. Sie sind vielmehr - nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 7 StVollzG zu den Minimalanforderungen des Vollzugsplans zählende - Behandlungsmaßnahmen und damit wesentliche Bestandteile der Vollzugsgestaltung. Die Lockerungen dienen nicht nur einer Aufrechterhaltung bzw. Schaffung sozialer Außenweltkontakte und Bindungen sowie der Vorbereitung auf ein Leben im deutschen „Lebensraum" 49 , sondern auch einer realitätsnahen Vollzugsgestaltung mit dem am Gegensteuerungsgrundsatz des § 3 Abs. 2 StVollzG orientierten Ziel, die schädlichen Auswirkungen des Anstaltsaufenthalts zu reduzieren. Die mit dem Leben in der totalen Institution Justizvollzugsanstalt verbundenen vielschichtigen Entsagungssituationen und Anpassungserfordernisse mit ihren sozialisationsfeindlichen Effekten und psychischen Beeinträchtigungsmöglichkeiten 50 betreffen gerade auch die ausländischen Inhaftierten. Für eine Vielzahl von ihnen bleibt jedoch der Zugang zu den insoweit kompensatorisch wirkenden Lockerungen versperrt. Denn die von den Landesjustizverwaltungen bundeseinheitlich vereinbarten Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (WStVollzG)schließen Strafgefangene vom offenen Vollzug ( W Nr. 1 Abs. 1 Buchst, b, c zu § 10), der Gewährung von Außenbeschäftigung, Freigang und Ausgang ( W Nr. 6 Abs. 1 Buchst, b, c zu § 11) sowie vom Hafturlaub ( W Nr. 3 Abs. 1 Buchst, b, c zu § 13) aus, sobald gegen sie Auslieferungs- oder Abschiebungshaft angeordnet ist bzw. gegen sie eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes besteht und sie aus der Haft abgeschoben werden sollen. 51 In den Fällen der bestehenden Ausweisungsverfügung bedürfen Ausnahmen einer Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde. Einweisung in den offenen Vollzug sowie Lockerungsgewährungen gem. §§11 und 13 StVollzG bleiben ausländischen Verurteilten aber nicht erst bei vollziehbarer Ausweisungsverfügung versperrt. Nach W Nr. 2 Abs. 1 Buchst, d zu § 10, W Nr. 7 Abs. 2 Buchst, d zu § 11 und W Nr. 4 Abs. 2 Buchst, e zu § 13 StVollzG gelten Strafgefangene für eine Lockerungsgewährung 49 So aber Kühling, in: Schwind/Böhm, Strafvollzugsgesetz, 2. Aufl. 1991, § 13 Rdn. 18. 50 Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 186 ff. 51 Entsprechendes gilt gem. W zu § 35 StVollzG auch bei Urlaub und Ausgang aus wichtigem Anlaß gem. § 35 Abs. 1 StVollzG.
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regelmäßig schon dann als ungeeignet, wenn gegen sie ein Ausweisungsverfahren anhängig ist, wobei die Zulassung von Ausnahmen einer vorherigen Anhörung der zuständigen Behörde bedarf. D a die Ausweisungsfrage bei der überwiegenden Zahl ausländischer Täter von Relevanz ist, die Ausländerbehörden häufig aber erst im Verlauf der Haft - teilweise erst nahe an den Endtermin des Strafvollzugs hin 5 2 - entscheiden bzw. Inhaftierte dann noch den Rechtsweg ausschöpfen können, besteht während der Strafverbüßung eine Ungewißheit hinsichtlich der ausländerrechtlichen Maßnahmen. Dies hat zur Folge, daß selbst im Hinblick auf die Flucht- und Mißbrauchsklauseln der §§ 10 Abs. 1, 11 Abs. 2 und 13 Abs. 1 S. 2 StVollzG prognostisch als günstig Einzustufende zur Sicherstellung einer eventuellen späteren Ausweisung von den Lockerungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben. 53 Denn in der Praxis ist eine recht schematische Anwendung der Verwaltungsvorschriften erkennbar, obwohl diese doch nur verwaltungsinterne Entscheidungshilfen darstellen, die keineswegs von einer Verpflichtung zu konkret einzelfallbezogener Prüfung und Begründung entbinden. Der Versagungsgrund der Fluchtgefahr kann daher weder allein auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Ausweisungsverfügung noch auf die bloße Erwartung ausländerrechtlicher Maßnahmen gestützt werden. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, daß bei Ausländern generell Fluchtgefahr bestehe, wenn gegen sie eine Ausweisungsverfügung vorliegt oder in Zukunft droht. 5 4 Die Zunahme der Ausländerpopulation und die damit verbundenen spezifischen Problemfelder bergen heute die Gefahr einer Trennung der Strafgefangenen in den Justizvollzugsanstalten in zwei Gruppen :
52 Rotthaus, Die Grundfragen des heutigen Strafvollzugs aus der Sicht der Praxis, ZfStrVo 1992, S. 43. 53 Böhm (Fn. 27), S. 140; Dünkel/Kunkat (Fn. 22), S. 29; Schaffner/Kneip (Fn. 48), S. 264; Villmow, Reaktionen von Polizei und Justiz auf Ausländerdelinquenz, in: Bundeskriminalamt, Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 47; ders. (Fn. 3), S. 166; Walter M. (Fn. 35), S. 303; Winchenbach (Fn. 21), S. 13. 54 Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 1998, § 11 Rdn. 18; Hoffmann/Lesting, in: AK-StVollzG, 3. Aufl. 1990, § 11 Rdn. 32; Laubenthal (Fn. 19), Rdn. 487; Kühling, in: Schwind/Böhm (Fn. 49), § 13 Rdn. 19; LG Hannover, NStZ 1981, S. 367; OLG Frankfurt, NStZ 1992, S. 374; einschränkend aber OLG Nürnberg, NStZ 1994, S. 376. 55 Siehe auch Finkbeiner/Karsten/Meiners (Fn. 26), S. 343; eine solche Trennung fordert sogar Bierschwale (Fn. 37), S. 69.
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- die Gruppe der (überwiegend deutschen) Insassen, die in Orientierung am Sozialisationsziel des § 2 S. 1 StVollzG am Behandlungsvollzug mit seinen vielfältigen Angeboten partizipieren; - die Gruppe der ausländischen Verurteilten, die in einem Verwahrvollzug ihre Freiheitsstrafe ganz oder teilweise bis zur Durchführung ausländerrechtlicher Maßnahmen verbüßen. III. Das Auseinanderfallen der Strafvollzugspopulation in zwei große Gruppen könnte dadurch überwunden werden, indem auch die nichtdeutschen Inhaftierten infolge einer Diversifizierung einhergehend mit der Insassenstruktur den für sie relevanten Behandlungsangeboten zuzuführen sind. Betrachtet man im Hinblick auf die durch gesellschaftliche Entwicklungen bedingten Veränderungen eine eingehendere Differenzierung als Gebot der Stunde 56 , dann setzt dies - bezogen auf den Großteil der ausländischen Insassen - voraus, daß auch ihre Strafverbüßung vollzugszielorientiert als sozialer Prozeß gestaltet werden kann. Das vermögen aber die Vollzugsbehörden in der Praxis angesichts des Anschwellens der Ausländeranteile einerseits und der sehr eingeschränkten personellen und finanziellen Ressourcen andererseits regelmäßig gar nicht mehr zu leisten. Daher erscheint es als ein Gebot der Stunde zur Lösung der vollzuglichen Ausländerproblematik: Der vermehrten Internationalisierung der Kriminalität muß eine Internationalisierung des Vollzugs von Freiheitsstrafen folgen. Internationalisierung bedeutet auf der Ebene des Strafvollzugs jedoch nicht nur das Vereinbaren gemeinsamer Standards zur Behandlung von Gefangenen. Vonnöten ist das Bemühen um einen vermehrten Vollstreckungstransfer, die Verbüßung der Freiheitsstrafen in den jeweiligen Heimatstaaten der nichtdeutschen Verurteilten. Die rechtlichen Voraussetzungen für einen Vollstreckungstransfer hat die Legislative im „Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen" (IRG) 57 geschaffen. § 71 IRG bildet die innerstaatliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für Vollstreckungsersuchen bei freiheitsentziehenden Sanktionen. Nach § 71 Abs. 1 IRG kann ein ausländischer Staat um Vollstreckung einer im Geltungsbe-
56
So Müller-Dietz (Fn. 1), S. 14. Neufassung in BGBl. I 1994, S. 1537 ff., geändert durch Gesetz v. 7.7.1997 (BGBl. I 1997, S. 1650, 1663). 57
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reich des I R G gegen einen Ausländer verhängten Strafe ersucht werden mit der Folge einer Uberstellung nichtdeutscher Strafgefangener in den Strafvollzug ihres Heimatlandes. Dabei ist die Uberstellung nur zulässig 58 , wenn keine Gefahr menschenrechtswidriger Verfolgung besteht (§ 6 Abs. 2 I R G ) und die Beachtung des rechtshilferechtlichen Spezialitätsprinzips 59 gesichert bleibt ( § 1 1 IRG). Auf der verfahrensrechtlichen Ebene bedarf es vor Stellung eines Vollstreckungshilfeersuchens gem. § 71 Abs. 4 I R G eines rechtskräftigen Beschlusses durch das Landgericht, in dem dieses die Vollstreckung in dem ersuchten Staat für zulässig erklärt. Nach § 1 Abs. 3 I R G ist die Anwendung des I R G jedoch ausgeschlossen, wenn und soweit es zu einer völkerrechtlichen Vereinbarung über einen Regelungsgegenstand des I R G kommt und diese durch Transformation gem. Art. 59 Abs. 2 G G zu unmittelbar anwendbarem innerstaatlichen Recht wird. 60 Für den Bereich der Verbüßung freiheitsentziehender Unrechtsreaktionen in den Heimatländern erleichtert und vereinfacht das „Ubereinkommen vom 21. März 1983 über die Uberstellung verurteilter Personen" (UberstUbk) 6 1 das in § 71 I R G normierte Verfahren. Das ÜberstUbk wurde in Deutschland durch Gesetz in Bundesrecht transformiert und ist seit 1.2.1992 in Kraft. 62 Seine Anwendung hat das Ziel, sowohl den Interessen der Rechtspflege zu dienen als auch die soziale Wiedereingliederung verurteilter Nichtdeutscher in ihren Heimatländern zu fördern, denn gegenüber der gesetzlichen Regelung des I R G soll eine vertragliche und multilaterale Übereinkunft höhere Akzeptanz und damit eine größere Effektivität im Vollstreckungstransfer bewirken. 63
58 Dazu eingehend v. Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe, 1989, S. 102 ff.; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl. 1998, § 71 Rdn. 15 ff.; Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Kommentar, § 71 Rdn. 19 ff., in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl. 59 Vogler, Der rechtshilferechtliche Grundsatz der Spezialität, in: Festschrift für Spendel, 1992, S. 874 ff. 60 Siehe Vogler, in: Vogler/Wilkitzki (Fn. 58), § 1 Rdn. 5 ff. 61 Zur Entstehungsgeschichte siehe Denkschrift zu dem Überstellungsübereinkommen, BT-Drs. XII/194, S. 17; Bartsch, Strafvollstreckung im Heimatstaat, NJW 1984, S. 513 ff. 62 BGBl. II 1991, S. 1006 ff. 63 Denkschrift ÜberstÜbk (Fn. 61), S. 17; Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Teil III: Mehrseitige Abkommen, Nr. 21 Rdn. 3 ff.; Schomburg/Lagodny, Richtlinien für den Strafverteidiger in Strafverfahren mit Auslandsbezug, StrVert 1992, S. 240 f.; Weber, Überstellung in den Heimatstaat. Ein internationales Konzept wider den Strafvollzug in der Fremde, 1997, S. 118 ff.
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Dem ÜberstÜbk gemäß kann der Urteilsstaat das Heimatland eines Verurteilten um die Übernahme der Vollstreckung ersuchen, wenn auch der Vollstreckungsstaat zu den Vertragsstaaten zählt. 64 Es wird aber auch der Staat, dessen Angehöriger die verurteilte Person ist, in die Lage versetzt, die Rückführung seiner eigenen Bürger anzustreben. Geht das Ersuchen vom Urteilsstaat aus, sieht das ÜberstÜbk hierfür ein zweistufig geregeltes Verfahren 65 vor: - Im Zulässigkeitsverfahren entscheidet die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde, ob beim Bundesministerium der Justiz als Bewilligungsbehörde ein Uberstellungsersuchen angeregt werden soll. Die Aufgaben der Staatsanwaltschaft sind dabei vielfältig. Sie hat die Interessen des Verurteilten an seiner sozialen Wiedereingliederung und die Belange der Rechtspflege vollstreckungsrechtlich zu würdigen. Es sind die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen und alle für die Vollstreckung relevanten Faktoren, aus denen sich die Zulässigkeit einer Uberstellung ergeben kann - auch mit Hilfe der Justizvollzugsanstalt zu ermitteln. Gem. Nr. 107 der Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten hat die Staatsanwaltschaft ferner zu prüfen, ob noch weitere Verfahren gegen den Verurteilten anhängig oder Sanktionen zu vollstrecken sind, andere Entscheidungen - wie ein Absehen von der Strafvollstreckung gem. § 456a StPO oder eine Strafrestaussetzung zur Bewährung gem. §§ 57, 57a StGB - in Betracht kommen und möglicherweise vorzugswürdig bleiben. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst, d, 7 Abs. 1 ÜberstÜbk bedarf es zur Überstellung schließlich einer Zustimmung des Verurteilten. - Auf der Bewilligungsebene hat die Exekutive dann zwischenstaatliche Belange zu sichern. Die Bewilligungsbehörde prüft die dem Vollstreckungshilfeverkehr innewohnenden außenund allgemeinpolitischen Aspekte. Sie muß mit dem Vollstreckungsstaat eine Einigung herbeiführen. Die Entscheidungskompetenz über ein Überstellungsersuchen liegt im Urteilsstaat damit bei der Bewilligungsbehörde, während der Vollstreckungsbehörde eine lediglich vorbereitende Funktion zukommt - mag ihre Stellungnahme im Einzelfall auch entscheidungsprägende Wirkung haben. An dieser Verteilung ändert sich
64 Vertragsstaaten: Verzeichnis Β zu BGBl. II 1997, Nr. 3a; siehe auch Schomburg/ Lagodny (Fn. 58), S. 598 ff. 65 Vgl. Weber (Fn. 63), S. 171 ff.; Wetterieb/Hamann (Fn. 28), S. 419 ff.; siehe auch BVerfG, NStZ 1998, S. 141; BGH, NStZ 1998, S. 142.
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auch nichts dadurch, daß auf der Zulässigkeitsstufe der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung über die Frage der Anregung eines Uberstellungsersuchens im Verhältnis zum Inhaftierten unmittelbare Rechtswirkung zukommt und insoweit der Rechtsweg eröffnet ist. 66 Zugleich mit dem ÜberstÜbk ist das „Überstellungsausführungsgesetz" (ÜAG) in Kraft getreten. 67 Das ÜberstÜbk trifft innerstaatliche Regelungen zur Anwendung des Ü A G dahin gehend, als Bestimmungen des I R G für die Fälle der Überstellung aus Deutschland in einen anderen Staat modifiziert werden. Dies betrifft vor allem gem. § 1 Ü A G die Vorschriften des § 71 Abs. 3 und 4 I R G , so daß es auch keiner gerichtlichen Zulassungsprüfung durch die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts bedarf. § 2 Ü A G konkretisiert das Zustimmungserfordernis des Art. 7 Abs. 1 ÜberstÜbk: Der Verurteilte muß sein unwiderrufliches Einverständnis zu Protokoll eines Richters erklären. Das Zustimmungserfordernis zur Überstellung gilt als eines der grundlegenden Elemente des ÜberstÜbk. 6 8 Es erwuchs aus dem Zweck des Übereinkommens, die Reintegration der Straftäter in ihren Heimatländern zu erleichtern, wobei ein Erreichen dieses Ziels gegen den Willen des Betroffenen als schwierig erachtet wurde. 69 Gründe für die Einführung des Zustimmungserfordernisses waren zudem: das Vermeiden langwieriger Rechtsmittelverfahren sowie der durch das ÜberstÜbk erfolgte Verzicht auf den Spezialitätsgrundsatz70 - der Strafgefangene soll selbst entscheiden, ob er sich im Heimatstaat dem Risiko aussetzen will, wegen einer anderen Straftat verfolgt zu werden. 71 Einen Verzicht auf das Zustimmungserfordernis enthält dagegen das das ÜberstÜbk ergänzende „Übereinkommen vom 13. November 1991 zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen" (VollstrÜbk), transformiert in Bundesrecht durch GeBVerfG, NStZ 1998, S. 140. BGBl. I 1991, S. 1954 ff. 68 Vgl. Schomburg/Lagodny (Fn. 58), S. 619. 69 Denkschrift ÜberstÜbk (Fn. 61), S. 19. 70 Explanatory Report, in: Müller-Rappard/Bassiouni, European Inter-State Cooperation in Criminal Matters, 1987, Nr. 40. 71 Bei Hinterlegung der deutschen Ratifikationsurkunde zum ÜberstÜbk hat Deutschland allerdings eine Erklärung abgegeben, wonach es sich in Einzelfällen das Recht vorbehält, einen Verurteilten nur zu überstellen, wenn im Vollstreckungsstaat die Beachtung des rechtshilferechtlichen Spezialitätsprinzips gewährleistet bleibt (BGBl. II 1992, S. 98 f.). 66
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setz vom 7.7.1997 72 . Dieses Übereinkommen verfolgt das Ziel, die durch Schaffung eines europäischen Raumes ohne Binnengrenzen und den Abbau der Kontrollen an den europäischen Grenzen notwendige Zusammenarbeit im justiziellen Bereich zu stärken. 73 Das VollstrUbk verbessert die Vollstreckbarkeit auch der in Deutschland verhängten Strafen in einem anderen Land der Europäischen Gemeinschaften, indem es die Möglichkeit eröffnet, freiheitsentziehende Maßnahmen auch ohne Zustimmung des Verurteilten durchzuführen. Vorausgesetzt wird allerdings, daß sich der Betroffene nicht mehr im Urteilsstaat aufhält und sich bereits im Vollstreckungsstaat befindet. Das VollstrUbk dient damit nur der Vollstreckungsübertragung, nicht aber der Uberstellung sanktionierter Personen aus dem deutschen Strafvollzug in denjenigen ihres Heimatstaates. 74 Gemeinsam ist sowohl dem ÜberstUbk als auch dem VollstrUbk: Sie begründen keinerlei Verpflichtungen für die Vertragsstaaten, dem Ersuchen eines Urteilsstaates um Vollstreckung oder um Uberstellung nachzukommen - die Ubereinkommen geben jeweils nur den verfahrensmäßigen Rahmen vor. 75 IV. Erwartungen einer erkennbaren Reduzierung der Ausländerproblematik in den Justizvollzugsanstalten durch eine Internationalisierung der Strafverbüßung haben sich bislang nicht erfüllt. Gestaltete sich die zunächst vertragslose Anwendung von § 71 IRG in der Praxis schwierig, vermochte auch das ÜberstUbk nicht den Durchbruch zu bringen. 76 So kam eine erste empirische Studie über die praktische Bedeutung in den Jahren nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens zum Ergebnis einer äußerst geringen Anwendungshäufigkeit. 77 Bemühungen um eine Fortentwicklung des Vollstreckungstransfers müssen deshalb zu einer Beseitigung wesentlicher Faktoren führen, welche die fehlende Akzeptanz bedingen. - Es darf nicht bei einer bloßen Regelung des Verfahrensganges bleiben und eine Vollstreckungsübernahme letztlich vom Gutdünken 7 8 des ersuchten Staates abhängen. Notwendig ist
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BGBl. II 1997, S. 1350 ff. Siehe Denkschrift zum Vollstreckungsübereinkommen, BT-Drs. XIII/5468, S. 11. Dazu auch Weber (Fn. 63), S. 124 ff. Denkschrift ÜberstÜbk (Fn. 61), S. 17; Denkschrift VollstrÜbk (Fn. 73), S. 11. Siehe auch Schomburg, NStZ 1998, S. 143. Weber (Fn. 63), S. 150 f. Weider, StrVert 1998, S. 69.
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vielmehr eine zwischenstaatliche Vereinbarung, die eine gegenseitige Verpflichtung zur Übernahme konstituiert. 79 - Das Erfordernis einer Einhaltung des justizministeriellen Geschäftswegs führt zu Verfahrensverzögerungen. Zumindest unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften sollte ein allgemeiner unmittelbarer Geschäftsweg zwischen den zuständigen Justizbehörden 80 begründet werden. - Das Vollstreckungshilferecht ist geprägt von einem Gemenge 81 aus gesetzlichen Regelungen, multilateralen Ubereinkommen, Zusatzprotokollen und Erklärungen. Höhere Akzeptanz mag insoweit durch mehr Transparenz bewirkt werden. - Ein Haupthindernis des Vollstreckungstransfers ist schließlich die Uberstellungsvoraussetzung der Zustimmung durch den Verurteilten. 82 Hat ein Verurteilter eine Wahlmöglichkeit, wird er sich eher für den Staat entscheiden, in dem er sich bessere Haftbedingungen oder eine frühzeitigere Haftentlassung verspricht. 83 Aber ebenso wie bei Auswahl und Ausgestaltung der zur Erreichung des Sozialisationsziels zweckmäßigen und erfolgversprechenden Unrechtsreaktionen dem Straftäter ein Mitspracherecht zusteht 84 , bedarf es für eine erfolgreiche Sozialisation der Einräumung eines Wahlrechts hinsichtlich der objektiven Rahmenbedingungen. Dies gilt um so mehr, als fraglich erscheint, ob unter den Realbedingungen des Lebens in der totalen Institution Justizvollzugsanstalt überhaupt eine wirklich uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit von Inhaftierten angenommen werden kann. 85 Auf dem Weg zu einer effektiven Internationalisierung der Strafverbüßung sollten deshalb die Bemühungen um einen Vollstreckungstransfer auch ohne Zustimmungserfordernis des Verurteilten anhalten.
Schomburg (Fn. 76), S. 144; Weber (Fn. 63), S. 244. Art. 6 Abs. 3 VollstrUbk läßt einen unmittelbaren Geschäftsweg nur aufgrund besonderer Vereinbarung oder im Fall der Dringlichkeit zu. 81 Schomburg (Fn. 76), S. 143 konstatiert für Europa bereits ein „Vertragschaos". 82 Krit. bereits Schroeder, Übertragung der Strafvollstreckung, ZStW 98, 1986, S. 472. 83 Weber {Fn. 63), S. 160. 84 Dazu Laubenthal, Die Einwilligung des Verurteilten in die Strafrestaussetzung zur Bewährung, JZ 1988, S. 952. 85 Siehe auch Amelung, Die Einwilligung des Unfreien. Das Problem der Freiwilligkeit bei der Einwilligung eingesperrter Personen, ZStW 95, 1983, S. 4 f. 79
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Die Väter des Strafvollzugsgesetzes (vom 16. März 1976 1 ), zu denen als einer der Vordenker 2 auch der Jubilar zählt, konnten noch nicht damit rechnen 3 , daß sich die Insassenstruktur der Haftanstalten innerhalb von nur wenig mehr als 20 Jahren grundlegend ändern würde 4 . Drogen konsumierende Straftäter saßen damals kaum ein, inzwischen wird deren Anteil an den Insassen der Strafvollzugsanstalten auf 20 bis über 30 % bei den harten Drogen und bei harten und weichen Drogen zusammen auf weit über 70 % geschätzt 5 . Der Anteil der einsitzenden Nichtdeutschen6 (Ausländer und Staatenlose), die sich am 31. März 1997 in der Sicherungsverwahrung oder Strafhaft befanden, betrug 13 011 von 51 642 Inhaftierten 7 , also über 2 5 % ; 1976 waren es erst 5,8 % und 1966 nur 2,7 % 8 . Im Jugendstrafvollzug der Bundesrepublik betrug der Anteil der Nichtdeutschen (primär hierzulande geborene junge Türken und Kurden) 1996 sogar 31,1 % 9 (1976: 4,8 % ; 1966: 2,2 % ) und 1997 z.B.
BGBl. I, 581, ber. 2088 und 1977, 436. Vgl. z.B. Böhm, Α.: Strafvollzug zwischen Tradition und Reform, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 102, Karlsruhe 1971. 3 So auch z.B. Walter, Mr. Strafvollzug, München 1991, 34. 4 Vgl. dazu die Beiträge in Müller-Dietz, H./ Walter, M. (Hrsg.): Strafvollzug in den neunziger Jahren. Perspektiven und Herausforderungen, Pfaffenweiler 1995. 5 Schätzungen von Anstaltsleitern NRW auf der Anstaltsleiterkonferenz in Recklinghausen am 4. März 1997; die JVA'en Lingen, Werl und Hameln gingen im März 1998 von noch höheren Prozentzahlen aus. 6 Der Begriff „Nichtdeutsche" ist zwar der Oberbegriff für Ausländer und Staatenlose (vgl. PKS 1997,18), er wird jedoch in diesem Beitrag synonym mit dem Begriff „Ausländer" verwendet, und zwar deshalb, weil das der deutschen Umgangssprache entspricht und Staatenlose eine zahlenmäßig geringe Rolle spielen. 7 Statistisches Bundesamt: Rechtspflege Fachserie 10, Reihe 4.1 Strafvollzug, Wiesbaden 1998, 9. 8 Statistisches Bundesamt für die erwähnten Jahre. 9 Statistisches Bundesamt aaO (Fn. 7). 1
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in Nordrhein-Westfalen 37,4 % 1 0 : die Deliktsschwerpunkte bildeten die Körperverletzungs- und Raubtaten 11 . Manche Jugendstrafanstalten sind (zeitweise) mit bis zu 50 % Nichtdeutschen belegt. Im U-Haftvollzug liegen die Prozentsätze z.T. noch wesentlich höher. Auffällig ist das Völkergemisch. So befanden sich z.B. in der JVA Werl im März 1998 Strafgefangene aus 32 Ländern und in der JVA Lingen U-Gefangene aus 42 Nationen. Die Situation darf insoweit als grundsätzlich repräsentativ auch für andere Anstalten gelten. Vor diesem Hintergrund wird man, ohne sich dem Vorwurf dramatisieren zu wollen auszusetzen, feststellen dürfen, daß die Integration eines beträchtlichen Teils der Zuwanderer in unsere Gesellschaft offenbar nicht gelungen ist und bei anhaltender Zuwanderung (schwer integrierbarer Gruppen) zu einem immer größeren kriminalpolitischen Problem heranwachsen dürfte, das ohne eindeutige Begrenzungspolitik kaum noch im Griff zu behalten sein wird. Wie ist diese Entwicklung verlaufen? Welche Zuwanderungen hat es gegeben? (I). Welche kriminellen Auffälligkeiten werden bei Zuwanderern registriert? (II). Mit welchen Problemen muß der Vollzug heute fertig werden? (III). Welche kriminalpolitischen Möglichkeiten werden genutzt und welche noch nicht? (IV). I. Zuwanderungswellen An den weltweiten Wanderungsbewegungen unserer Zeit, die vor allem mit Wohlstandsgefälle (bzw. massiver Armut), Bürgerkriegen (bzw. politischer Verfolgung) und Uberbevölkerung zu tun haben, ist Deutschland als Zufluchtsland in erheblicher Weise beteiligt. Die Magnetwirkung hat primär mit der geographischen Mittelpunktlage unseres Landes zu tun, mit dem Image von Reichtum (das auch die Schleuserringe bzw. die sog. „Schlepper" verbreiten), mit vergleichsweise hohen Sozialleistungen und einer relativ liberalen Gesetzgebung. Legt man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugrunde 12 , hat sich die nichtdeutsche Bevölkerung in Deutschland von rund
10 Vgl. Wirth, W.: Ausländische Gefangene im Jugendstrafvollzug NRW, in: ZfStrVo 5/1998, 278. " Wirth, W. aaO (Fn. 10), 280. 12 In den Jahrenl989 bis 1994 sind 5 502 029 Ausländer zugewandert; fortgezogen 3 348 195. Danach verbleibt ein Uberschuß von 2 153 834 (Statistische Jahrbücher) zit. nach Schwind, H.-D.: Kriminologie, 9. Aufl., Heidelberg 1998, 472.
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4,8 Millionen (1989) auf über 7,3 Millionen (1997) 13 , d.h. um mehr als 2,5 Millionen erhöht. Mit den rund 2,1 Millionen Aussiedlern (primär aus den GUS-Staaten) zusammen gelangt man dann für diesen Berichtsraum zu einem Zuwanderungsüberschuß von etwa 4,6 Millionen Personen. Die tatsächliche Zahl der Zuwanderer dürfte jedoch noch weit höher liegen, weil in der amtlichen Zuwanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes naturgemäß Illegale nicht mitgezählt werden. So ist es vermutlich nicht falsch davon auszugehen, daß der Wanderungssaldo seit 1989 weit über fünf Millionen Personen ausmacht. Deutschland trägt damit die Zuwanderungs-Hauptlast aller westeuropäischen Staaten. 1996 nahm unser Land z.B. 51,68 % aller Asylbewerber, die nach Europa hineinfluten, auf14; zum Vergleich: Großbritannien: 12,27 %, Frankreich: 7,61 % und Italien: 0,24 % 1 5 . Weltweit betrachtet, ist Deutschland sogar zum größten Aufnahmeland (nach den USA) aufgerückt16. 1. "Gastarbeiter"
(60er und 70er Jahre)
Der Ausländerzustrom begann Anfang der 60er Jahre, als in Deutschland noch wirtschaftliche Hochkonjunktur herrschte und (männliche) Arbeitskräfte gefragt waren17. Da die Arbeiter, die vor allem in den Mittelmeerländern angeworben wurden, nach einer (kurzen) Zeit des Geldverdienens (ihre Arbeitsverträge waren grundsätzlich befristet) in der Regel wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten (und wollten), wurden sie „Gast"-Arbeiter genannt; allerdings wurden nicht alle, die kamen, auch von deutschen Arbeitgebern gerufen. Da immer mehr Ausländer zuströmten und das vom damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagene Rotationsprinzip18 (Rückkehr nach drei bis vier Jahren) nicht funktionierte, kletterte die Gesamtzahl der Ausländer in Deutschland (auch infolge von Geburtenüberschuß und Familiennachzug)
13 So auch Bundesministerium des Innern (BMI). Aufzeichnungen zur Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: August 1997, 89. 14 BMI, zit. nach N O Z vom 30. Januar 1998. 15 BMI aaO (Fn. 14). 16 Vgl. Weber, A. in: Weber, A. (Hrsg.): Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, Osnabrück 1997, 9. 17 Vgl. dazu z.B. Schwind, H.-D.: Wie lösen wir die Ausländerfrage? Das Gastarbeiterproblem aus (kriminal-)politischer Sicht, Teil I, in: Kriminalistik 6/1983, 304. 18 Vgl. dazu Quaritscb, H.: Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland? München 1981, 20 f.
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von 200 000 (1959)19 auf 3,97 Millionen (1973) 20 . Der Ausländeranteil wuchs damit in Deutschland bis 1973 auf 6,4 % und stieg bis 1981 (trotz des Anwerbestopps vom 23. November 1973) auf 7,5 % an. Die höchste Ausländerquote wies (schon 1981) Frankfurt mit 23,2 % aus21 (1996: rund 29 %) 22 . In diesem Zusammenhang darf man daran erinnern, daß ein Runderlaß des Bundesarbeitsministers vom 22. Oktober 1974 noch davon ausging, daß Städte und Landkreise „überlastet" sind, wenn der Ausländeranteil an der „Wohnbevölkerung 12 v.H. überschreitet"23. Ahnlich führte der damalige „Ausländerbeauftragte der Bundesregierung" (Heinz Kühn, SPD) in einem Interview aus24: „Ubersteigt der Ausländeranteil die Zehnprozentmarke, dann wird jedes Volk rebellisch". 2. Neue Zuwanderungswellen
(ab Mitte der 80er Jahre)
Die neuen Zuwanderungswellen setzen sich primär aus vier (sozialen) Problemgruppen zusammen: - erstens: Asylbewerbern (bzw. Wirtschaftsflüchtlingen), - zweitens: (deutschstämmigen) Aussiedlern, - drittens: Bürgerkriegsflüchtlingen vor allem aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien (insbesondere aus Bosnien), - viertens: illegal zugereisten (oder gewordenen) Nichtdeutschen. a) Die Zuwanderung der Asylbewerber, die sich auf den Asylartikel des Grundgesetzes (Art. 16) berufen, setzte schlagartig ab Mitte der 80er Jahre ein25 (1986: 99 650; 1989: 121 318; 1992: 438 191), um dann (infolge neuer Asylgesetzgebung26) wieder abzunehmen (1995: 127 937; 1996: 116 367; 1997: 104 000) 27 . Seither liegen die Zahlen der asylsuchenden Personen zwi19 Vgl. Kaiser, G.: Gastarbeiterkriminalität und ihre Erklärung als Kulturkonflikt, in: Ansay, T./Gessner, V.: Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht, München 1974, 208. 20 BMI: aaO (Fn. 13), 10. 21 Statistisches Bundesamt: Ausländer 1981, Fachserie 1, Reihe 14, März 1982, 20. 22 Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt/M., zit. nach N O Z vom 27. Januar 1996. 23 Zit. nach Quaritsch (Fn. 18), 39. 24 Quick-Interview vom 14. Januar 1981. 25 Vgl. die entsprechenden Angaben im Statistischen Jahrbuch. 26 Aufgrund des sog. Asylkompromisses der Bonner Regierungsparteien ( C D U / C S U und F D P ) zusammen mit der SPD-Opposition (vgl. Gesetz vom 28. Juni 1993: BGBl. 1,1002) wurde ins Grundgesetz ein neuer Artikel 16a aufgenommen, der durch restriktive Ausführungsregelungen ergänzt worden ist (vgl. dazu unten IV, lb). 27 Überblick bei Schwind aaO (Fn. 12), 471.
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sehen 110 000 und 130 000 pro Jahr. Die Zahl entspricht aber noch immer der Einwohnerzahl einer Großstadt: etwa von Jena. Hauptherkunftsländer waren 1997 (in dieser Reihenfolge28): Türkei, BR-Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Sri Lanka, Iran und Georgien. b) Seit etwa 1988 sind (außer Asylbewerbern und Illegalen) verstärkt auch sog. Aussiedler in die Bundesrepublik eingereist; in den Jahren 1989 bis 1996 allein (die bereits oben erwähnten) 2,1 Millionen.29 Diese gelten, soweit sie „deutsche Volkszugehörige" sind, i.S. des Art. 116 G G als (Status-) Deutsche. Den „Status" der deutschen Volkszugehörigkeit kann nach § 6 des Bundesvertriebenengesetzes vom 2. Juni 199330 erhalten, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird". Bei den Aussiedlern handelt es sich nämlich um solche Personen (und ihre Nachkommen), die vor dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in den ehemaligen deutschen Ostgebieten (heute Polen und Rußland), der ehemaligen Tschechoslowakei (heute Tschechien und Slowakische Republik), Bulgarien, dem ehemaligen Jugoslawien, Albanien, Danzig, Estland, Lettland, Litauen usw. gehabt haben und diese Länder nach Abschluß der Vertreibungsmaßnahmen verlassen haben oder verlassen mußten31. Aussiedler, die seit dem 31. Dezember 1992 aus Aussiedlergebieten zugewandert sind, bezeichnet das Bundesvertriebenengesetz als „Spätaussiedler". Uber zwei Drittel dieser Spätaussiedler kommen aus asiatischen Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 32 : „Rußlanddeutsche" . c) Hinzu sind (ab Anfang der 90er Jahre) noch etwa 350 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina zu rechnen, von denen allerdings bis zum September 1998 (z.T. finan-
BMI, zit nach N O Z vom 30. Januar 1998. Vgl. DIE WELT vom 29. Februar 1996, 1 und Schwind aaO (Fn. 12), 496 ff. 30 BGBl. I, 829. 31 Bade, K.J.·. Aussiedler - Rückwanderer über Generationen hinweg, in: Bade, K.J. (Hrsg.): Ausländer-Aussiedler-Asyl: eine Bestandsaufnahme, München 1994, 9 und 192. 32 Vgl. z.B. BMI-Info vom 1. Januar 1996, 1. 28
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ziell unterstützt durch Rückkehrprogramme der Länder) etwa 250 000 in ihre Heimat zurückgekehrt sind33. d) Wieviel Menschen darüber hinaus illegal das Bundesgebiet erreichen, ist naturgemäß offiziell statistisch nicht zu erfassen. Wir kennen nur die Zahl der bei der illegalen Grenzüberschreitung (vom Bundesgrenzschutz) „aufgegriffenen" Personen; diese Zahl wurde vom Bundesministerium des Innern (BMI) für 1995 mit 29 600 angegeben34. Jeder Zweite stammte (1994) aus Rumänien: primär Roma-Familien. Schätzungen, die das Dunkelfeld derer erfassen, denen es gelingt, ins Bundesgebiet illegal einzusickern, reichen bis zu weit über 100 000 Personen im Jahr 35 . e) Zu den unter a) bis d) erwähnten Zuwandererzahlen addieren sich noch etwa weitere 100 000 Personen hinzu, die im Rahmen der Familienzusammenführung nachziehen durften36. Insgesamt betrachtet liegt der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in Deutschland damit inzwischen bei rund 9 % 3 7 . Die größte Gruppe bildeten (1996) die Türken und Kurden (2,04 Millionen), Jugoslawen (754 311), Italiener (599 429), Bosnier (340 526), Polen (283 356) und Kroaten (201 923) 38 . II. Kriminelle Auffälligkeiten bei Zuwanderern Vor dem Hintergrund dieser Zuwanderungswellen kann es kaum überraschen, daß bei der sozialen Eingliederung so vieler Menschen aus unterschiedlichen Sprachräumen und Kulturkreisen soziale Probleme entstanden, die schließlich auch in Form von Kriminalität (z.T. auch unter den Ausländern untereinander) eskalierten.
33 Bosnienbeauftragter Schlee zit. nach N O Z vom 18. September 1998; finanzielle Rückkehrhilfen leisten z.B. Berlin und NRW (FAZ vom 8. April 1998). 34 Zit. nach N O Z vom 16. Februar 1996. 35 Grenzschutz-Präsidium Ost, zit. nach F O C U S vom 14. November 1994; die UNO-Flüchtlings-kommission geht von 130 000 aus (zit. nach F O C U S vom 30. März 1998, 76). 36 Angaben aus: D E R SPIEGEL vom 4. Dezember 1995, 57. 37 Jahresbericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, zit. nach N O Z vom 10. Dezember 1997. 38 Jahresbericht der Ausländerbeauftragten aaO (Fn. 37).
Nichtdeutsche Straftäter - eine kriminalpolitische H e r a u s f o r d e r u n g
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Ausländerkriminalität39
Nach der PKS 40 wurden 1997 für das Bundesgebiet (einschließlich der neuen Bundesländer) insgesamt 633 480 tatverdächtige Nichtdeutsche ermittelt: das sind 27,9 % aller 2 273 560 Tatverdächtigen (TV) dieses Berichtsjahres. Bei bestimmten Straftatengruppen liegt der Prozentsatz noch höher 41 : etwa beim Wohnungseinbruch (22,5 %) oder beim Taschendiebstahl (62,5 %). Von Ausländern beherrscht werden ferner weite Teile des Rotlichtmilieus (Menschenhandel und Prostitution). Auch bei den Schwerstverbrechen: Mord und Totschlag (32,2 %), Vergewaltigung (35,7 %) und Raub (32,7 %) lag der Tatverdächtigenanteil (1997) weit überproportional hoch. 2.
Verzerrungsfaktoren
Dabei ist es im Interesse der Vergleichbarkeit aber geboten, bei der Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen die ausländerspezifischen Straftaten (illegale Einreise, Verstoß gegen Auflagen der Aufenthaltserlaubnis usw.), also Straftaten, die speziell an den Ausländerstatus anknüpfen (statusspezifische Straftaten: § 92 AuslG; §§ 8486 AsylVG), abzuziehen. Wenn man so vorgeht, gelangt man für 1997 zu einem um rund 7 Prozentpunkte niedrigeren Prozentsatz: 21,7 % 4 2 . Darüber hinaus ergeben sich weitere Verzerrungsfaktoren 43 , die den Vergleich der PKS-Zahlen für Deutsche und Ausländer erheblich erschweren. So werden zur nichtdeutschen Wohnbevölkerung nicht die ausländischen Touristen bzw. Durchreisenden, die Stationierungsstreitkräfte und solche Personen gezählt, die sich illegal im Land aufhalten. Alle diese Gruppen werden jedoch in der PKS mit registriert, wenn sie straffällig werden 44 . Ferner ist für den Vergleich relevant, daß die Ausländer in der Bundesrepublik überwiegend in den großstädtischen Ballungsgebieten leben, in denen (schon wegen der Versuchungen bzw. des Kriminalitätsangebotes) auch die 39 Behandelt wird in diesem Beitrag nicht das Thema „Ausländer als O p f e r von Straftaten". D a z u vgl. z.B. L u f f , ]. in: Kriminalistik 7/1996, 463-466 u n d Schwind a a O (Fn. 12), 566 ff. 40 PKS 1997, 103. 41 PKS 1997, 116. 42 PKS 1997, zit. nach Bulletin der Bundesregierung 1998, 411. 43 Vgl. dazu z.B. Schwind a a O (Fn. 12), 453 ff. 44 Deshalb weist die PKS seit einigen Jahren f ü r Nichtdeutsche keine Kriminalitätsbelastungsziffern (bzw. TVBZ) mehr aus. Dementsprechend werden auch in der Strafverfolgungsstatistik keine Verurteiltenziffern mehr ermittelt.
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deutsche Vergleichsbevölkerung höher (als auf dem Land) kriminalitätsbelastet ist. Die Landbevölkerung nivelliert daher mehr bei den Deutschen, weniger bei den Ausländern die Durchschnittswerte. Schließlich darf man bei Vergleichen auch nicht vergessen, daß bei den Nichtdeutschen die besonders kriminalitätsbelasteten Altersgruppen (18 bis 40 Jahre), Sozialgruppen (eher soziale Unterschichten) und Geschlechtsgruppen (überwiegend Männer) stärker vertreten sind als das in der deutschen Vergleichsbevölkerung der Fall ist. Es gibt also erhebliche demographische Unterschiede. Schließlich können sich zu Lasten der Zugewanderten „Kulturkonflikte" 4 5 und sozialstrukturelle Benachteiligungen auf die soziale Entwicklung (vor allem jugendlicher Personen) ungünstig auswirken. Ob ferner Etikettierungsprozesse eine Rolle spielen, ist umstritten. Mansel 46 , Walter 47 und Geißler 48 meinen eher ja, Killias 49 , Reichertz 50 und Schwind 51 eher nein. Der „Täterschwund" zwischen PKS und Strafverfolgungsstatistik gibt insoweit auch wenig her, weil bisher nicht gesichert festgehalten werden konnte, ob die Differenz der entsprechenden Zahlen nicht eher auf folgende Besonderheiten zurückgeführt werden muß 5 2 : geringere Geständnisbereitschaft, geringere
45 Zu den Kulturkonflikten, Selektionsmechanismen und sozialen Problemen der Zuwanderer bzw. zu den Ursachen bzw. Einflußfaktoren sozial abweichenden Verhaltens von Ausländern vgl. ausführlicher (aus z.T. unterschiedlicher fachspezifischer und politischer Sicht der 90er Jahre) z.B.: Karger, T./Sutterer, P.: Polizeilich registrierte Gewaltdelinquenz bei jungen Ausländern, in: MschrKrim 1990, 369-383; Trauisen, Mr. Delinquenz und soziale Benachteiligung der Ausländerinnen, in: MschrKrim 1990, 257-265; Kttbe, E./Koch, K.-F.: Zur Kriminalität junger Ausländer aus polizeilicher Sicht, in: MschrKrim 1990,14-21; Schöch, H./Gebauer, M.\ Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1991; Walter, M./Pitsela, Α.: Ausländerkriminalität in der statistischen (Re-)Konstruktion, in: KrimPäd 34/1993, 6-19; Finkbeiner, L./Karsten, R./Meiners, R.: Deeskalationsgruppen mit Inhaftierten unterschiedlicher Nationalität und Kultur in der Jungtäteranstalt Vechta, in: ZfStrVo 1993, 343-353; Steffen, W.: Streitfall „Ausländerkriminalität", in: BewHi 2/1995, 133154; Schwind aaO (Fn. 12), 459 ff.
Vgl. Mansel,J.: Schweigsame „kriminelle" Ausländer, in: KZfSS 1994, 302 ff. Walter, M.\ Uber die Bedeutung der Kriminalität junger Ausländer für das Kriminalrechtssystem, in: DVJJ-Journal 4/1993, 348 f. 48 Geißler, R.: Das gefährliche Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 35) vom 25. August 1995, 30 ff. 49 Killias, M.: Diskriminierendes Verhalten von Opfern gegenüber Ausländern, in: MschrKrim 1988, 156. 50 Reichertz, J.: Zur Definitionsmacht der Polizei, in: Kriminalistik 1994, 612. 51 Schwind aaO (Fn. 12), 464 ff. Ein hohes Dunkelfeld der Ausländerkriminalität ist z.B. bei der Schwarzarbeit (speziell in der Baubranche) bei der BTM-Kriminalität und im Rotlicht-Milieu zu vermuten. 52 Vgl. z.B. Schwind aaO (Fn. 12), 466. 46
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Kooperationsbereitschaft, erfolgreiche Verdunkelung (etwa Omerta), Sprach- bzw. Dolmetscherprobleme, Untertauchen der Beschuldigten und Vollstreckungsverzichte (etwa § 456 a StPO). Schon deshalb kann auch die Strafverfolgungsstatistik für die Lagebeurteilung nicht in Betracht kommen. Aber was helfen uns alle diese Erkenntnisse und Spekulationen? Die teilweise Erklärbarkeit der Phänomene beseitigt sie doch (grundsätzlich) nicht; die Strafverfolgungsbehörden (Polizei und Justiz) haben jedenfalls zunehmend mit ausländischen Tatverdächtigen bzw. Tätern zu tun 53 . 3.
Differenzierungsgebot
Allerdings muß man zwischen den verschiedenen Ausländergruppen (mehr als bisher) zu differenzieren versuchen. Als insoweit relativ unproblematisch haben sich z.B. die Gastarbeiter (Erste Generation) erwiesen sowie grundsätzlich die Ausländer aus anderen E U Staaten, die im übrigen völlige Freizügigkeit im EU-Raum genießen. Sorgen bereiten aus kriminologischer Sicht hingegen bisher vor allem folgende Gruppen 54 : - erstens: Jugendliche aus der „Zweiten" und „Dritten" Ausländergeneration (Kinder und Enkel der „Gastarbeiter"); - zweitens: Asylbewerber (bzw. Wirtschaftsflüchtlinge), die im Gegensatz zu den Gastarbeitern nicht ins Land geholt wurden, sondern von selbst kamen und auch in der Regel über keine (feste) Arbeitsstelle verfügen; - drittens: Bürgerkriegsflüchtlinge aus den jugoslawischen Nachfolgestaaten; - viertens: „Touristen" bzw. Durchreisende, die (bis zu drei Monate) z.B. aus Polen oder Tschechien einreisen, um in Deutschland mit Straftaten (oder Prostitution) „schnelles Geld zu machen" ; - fünftens: politisch aktive ausländische Extremistengruppen (Palästinenser, Iraner, Tamilen, Türken, Kurden bzw. islamische religiöse Fanatiker), die ihre Bürgerkriege (die im Heimatland geführt werden) auf deutschem Boden fortzusetzen versuchen ,
So auch z.B. Walter aaO (Fn. 47), 355. Vgl. auch Walter aaO (Fn. 47), 350. 55 Vgl. dazu Frisch, P.: Ausländischer Extremismus und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: M F D P vom April 1995, 32-36. 53
54
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- sechstens: junge (Spät-)Aussiedler aus den GUS-Staaten, die z.T. eine eigene Identität entwickeln bzw. aufrecht erhalten („Wir sind Russen!"). a) Zweite" und JDritte"
Generation
Der Großteil der Ausländerkriminalität bis hin zur Bandenkriminaltät 56 entfällt auf die Nachkommen der Gastarbeiter. Schon frühe Forschungsarbeiten hatten gezeigt, daß die registrierte Kriminalitätsbelastung der 14-18jährigen ausländischen Jugendlichen bereits in den 70er Jahren weit über der der deutschen Vergleichsbevölkerung lag. So hat nach den Untersuchungen von Albrecht und Pfeiffer 57 schon damals der Anteil der jungen Nichtdeutschen in Stuttgart um 88 %, in München um 60 % und in Hamburg um 40 % über der der deutschen Vergleichsbevölkerung gelegen. Inzwischen trägt auch die Kriminalstatistik zu entsprechenden Informationen mit bei. So finden sich in der PKS (für 199758) u.a. die folgenden Informationen: bei den jugendlichen Tatverdächtigen (14-17 Jahre) betrug der Anteil der Ausländer 21,2 % und bei den Heranwachsenden (18-20 Jahre) 29,7 %. b) Asylbewerber (bzw.
Wirtschaftsflüchtlinge)
Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen im Erwachsenenalter stellen die größte Teilgruppe die Asylbewerber bzw. Wirtschaftsflüchtlinge. Ihr Anteil an allen nichtdeutschen Tatverdächtigen betrug (1997) insgesamt 19,0 % 5 9 . Das heißt: etwa jeder fünfte nichtdeutsche Tatverdächtige gehört inzwischen zur Gruppe der Asylbewerber. Bezieht man die Beteiligung der Asylbewerber auf alle Tatverdächtigen (nichtdeutsche und deutsche zusammen), so ergibt sich das folgende Bild 60 : Asylbewerbern wurden (1997) zur Last gelegt: 10,5 % aller Tötungsverbrechen, 8,5 % aller Vergewaltigun-
56 Hermann, L.: Bandendelinquenz der sogenannten „dritten Generation" am Beispiel Frankfurt a.M., in: der kriminalist 10/1995, 453-458. 57 Albrecbt, P.A./Pfeiffer, C.: Die Kriminalisierung junger Ausländer, München 1979; in die gleiche Richtung weisen z.B. die Untersuchungen von Gebauer, M.: Kriminalität der Gastarbeiterkinder, Teil 1, in: Kriminalistik 1981, S. 2-8; Teil 2, in: Kriminalistik 1991, S. 83-86; ferner: Villmow, D.: Ausländer in der strafrechtlichen Sozialkontrolle, in: BewHi 2/1995, S. 155-169. 58 PKS 1997, 71. 59 PKS 1997, 116; vgl. zur Kriminalität der Asylbewerber z.B. Traulsen, M. in: Kriminalistik 1993, 443-446; Jahn, G.: Kriminalität der Ausländer (Asylbewerber), in: Kriminalistik 1994,255-258. 60 PKS 1996, 127.
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gen, 5,8 % aller Raubtaten, 15,2 % des Heroinhandels und 26,3 % des Kokainhandels. Den Drogenhandel dominieren (primär in den Großstädten) Schwarzafrikaner (die mit Kokain) und Kurden (die mit Heroin) handeln: etwa im Bereich des Hauptbahnhofs Hamburg. Daß Asylbewerber auch an den ausländerspezifischen Straftaten (1997) erheblich beteiligt sind (mit rund 16 % ) 6 1 , erklärt sich aus ihrer Situation. c) Deutschstämmige
Aussiedler
Die Aussiedler, die dritte große Hauptgruppe, die aus kriminalpolitischer Sicht Sorgen bereitet, rechnen nicht zu den Ausländern, obgleich sie es (zum größten Teil) de facto sind. Jedenfalls sprechen viele (insbesondere jüngere) Zuwanderer aus den GUS-Staaten, die sich auf ihr Deutschtum berufen und insoweit von Art. 116 G G Gebrauch machen, oft nicht die deutsche Sprache. 62 Auch ihr bisheriger kultureller Bezugsraum ist, etwa in Kasachstan, Kirgisien oder der Altai-Region, ein anderer gewesen. Das Grundgesetz billigt ihnen aber auf Grund der deutschen Rechtstradition (Abstammungsprinzip) die deutsche Staatsbürgerschaft zu. 63 Das bedeutet, daß sie in der PKS mit den Deutschen zusammen gezählt werden („ausländische" Deutsche). Der Kriminalstatistik ist also über ihre kriminelle Auffälligkeit nichts zu entnehmen; d.h. die Aussiedler werden statistisch in der PKS nicht gesondert geführt. Gleichwohl liegen inzwischen örtliche Erfahrungen mit den sozialen Auffälligkeiten dieser Zuwanderergruppe, die oft konzentriert untergebracht wurde 64 , vor. Auch (erste) entsprechende Forschungsergebnisse 65 zeigen, daß von den jugendlichen Aussiedlern, die oft von den Eltern gedrängt z.T. nur widerstrebend ins Land kamen, zunehmend erhebliche kriminelle Aktivitäten ausgehen, die vom Ladendiebstahl bis zum Raub reichen 66 . In diesem Rahmen spielt auch die Beschaffungskriminalität eine Rolle. Nicht wenige junge (Spät-)Aussiedler (insbesondere
PKS aaO (Fn. 59). Der Gebrauch der deutschen Sprache war in der Sowjetunion ab 1941 verboten. 63 Der Grund dafür hat auch mit Wiedergutmachung dafür zu tun, daß die nach Rußland im 18. und 19. Jahrhundert ausgewanderten Deutschen für ihr Deutschtum nach Ausbruch des 2. Weltkrieges verfolgt und (nach Kasachstan, Kirgisien, die AltaiRegion und Sibirien) verschleppt worden sind. 64 Vgl. dazu das Wohnzuwanderungsgesetz vom 26. Februar 1996 (BGBl. I, 225). 65 Vgl. Pfeiffer, C.: Steigt die Jugendkriminalität? in: DVJJ-Journal 3/1996, 215-220; Schwind aaO (Fn. 12), 498 ff. 66 Vgl. dazu Pfeiffer, C. und Pfeiffer, U. : NRW 2000 plus, Innere Sicherheit, Februar 1994. 61
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solche aus Kasachstan oder Kirgisien) kamen offenbar bereits drogenabhängig67 ins Land. Zumindest im Rahmen des organisierten Verbrechens (für das diese russisch sprechende frustrierte Gruppe mit deutscher Staatsangehörigkeit die ideale Infrastruktur bildet) sickern auch Berufskriminelle nach Deutschland mit ein. d) Banden aus Südosteuropa Seit 1993 berichten Fachzeitschriften 68 und Massenmedien zunehmend auch über die gewaltorientierten Aktionen vermögenskrimineller Einbrecher- und Raubtäterbanden aus Serbien, Bosnien, Albanien, dem Libanon und Rumänien, die z.T. mit bisher unbekannter Brutalität sog. „Blitzüberfälle" (und Tageseinbrüche) durchführen (Diebstahltourismus) 69 : d.h. solche, die nur wenige Minuten andauern. Darüber hinaus lassen (z.B. Rumänen 70 ) Kinder, die sie aus Heimen rekrutiert haben, (nach einer entsprechenden „Ausbildung") in Fußgängerzonen zum Stehlen (Laden- und Taschendiebstahl) ausschwärmen. Nicht zuletzt schicken insbesondere kurdische Banden Kinder als „Frontdealer" aus. III. Nichtdeutsche in der Haft Daß nichtdeutsche Straftäter auch die Haftanstalten mit neuen71 Problemen konfrontiert haben (auf die auch der Jubilar 72 schon relativ frühzeitig hinwies), ist in breiten Bevölkerungskreisen wenig bekannt. Viele Menschen interessiert die veränderte Situation hinter Gittern inzwischen (anders als noch in den 70er Jahren 73 ) nicht Schwind, aaO (Fn. 12), 503. Vgl. z.B. Lemmel, Η.: Einbrecher aus dem Kosovo - nur ein norddeutsches Problem? in: der kriminalist, 10/1995, 442-446. 69 Dazu Streng, F.: Die Öffnung der Grenzen und die Grenzen des Straf rechts, in: JZ 1993, 113. 70 Vgl. z.B. WAZ vom 25. März 1998: „100 Kinder wie Sklaven gehalten. Rumänische Bosse kassierten ab." 71 A. Krebs hat in der ersten Auflage von Schwind, H.-D./Blau, G. (Hrsg.): Strafvollzug in der Praxis (Berlin 1976) auf S. 344 darauf verwiesen, daß es auch schon früher Probleme nichtdeutscher Inhaftierter gegeben hat: etwa vor 1914 mit Wanderarbeitern, vor 1933 mit Immigranten aus dem Osten und nach 1945 mit den Displaced Persons. 72 Böhm, Α.: Der ausländische Strafgefangene im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsauftrag des Strafvollzugs und Zielsetzung des Ausländerrechts, in: Schäfer, K./Sievering, U. (Hrsg.): Ausländerrecht contra Resozialisierung, Frankfurt 1984, 118-134. 73 Vgl. z.B. Schwind, H.-D.: Der Resozialisierungsgedanke gewinnt an Boden, in: ZfStrVo 1976, 103-109. 67
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(mehr). Um welche Streßerfahrungen handelt es sich? Es geht vor allem um - Sprachbarrieren, - religiöse (bzw. kulturelle) Besonderheiten, - Schwierigkeiten im Verhältnis zu Mitgefangenen und auch zu Bediensteten, - Blockbildungen und Machtkämpfe, - reduzierte Außenkontakte und auch - Drogenimport. Solche Probleme, die durch (die derzeitige) Überbelegung noch erheblich verschärft werden, tauchen schon im U-Haftvollzug auf; im Strafvollzug verstärken sie sich dann in der Regel. Die bisher vorliegenden Forschungsberichte74, die sich auf beide Haftformen beziehen, untersuchen (an Hand von Interviews) meist aber nur (und zwar bezogen auf eine bestimmte JVA, also nicht länderweit), wie sich die Probleme aus der Sicht der (männlichen) Gefangenen (des geschlossenen Vollzugs) darstellen. In diesem Beitrag wird deshalb versucht, auch die Beurteilung der Mitarbeiter des Straf- und U-Haft-Vollzugs75 (insbesondere der Anstaltsleiter, der Sicherheitsdienstleiter, Fachdienste und vor allem der Ausländerbeauftragten) wenigstens ansatzweise in die Betrachtung mit einzubeziehen bzw. deren Einschätzung mit derjenigen der Gefangenen zu vergleichen und zu ergänzen. Die entsprechenden Praxisinformationen stammen (i.S. von Vorab-Recherchen für ein geplantes Forschungsvorhaben in Nordrhein-Westfalen) aus (nicht repräsentativen) Gesprächen (mit offenen Fragen) im März/April 1998 in drei niedersächsischen (Jugendstrafanstalt Hameln, JVA Hannover und JVA Lingen) und zwei nordrheinwestfälischen Anstalten (Jugendstrafanstalt Herford und JVA Werl), in denen der Ausländeranteil in der Strafhaft bei durchschnittlich 25 % und der Anteil der Ausländer an der U-Haft bei bis zu 50 % lag.
74 Vgl. dazu z.B. die neueren Studien von Bukowski, Α.: Benachteiligung im Strafvollzug? Zur subjektiven Perspektive türkischer Insassen, in: ZfStrVo 4/1996, 225232; Schütze, H.: Probleme der Vollzugsanstalten mit der wachsenden Zahl der ausländischen Gefangenen, in: DVJJ-Journal 4/1993, 381-384. Zu den älteren empirischen Arbeiten gehören z.B. die von Schaffner, PJKneip, W.: Fühlt sich der Ausländer in Haft als Gefangener zweiter Klasse? Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung bei Strafgefangenen der Vollzugsanstalt Mannheim, in: ZfStrVo 1983, 259-265; Bosetzki, H./Boschert, J./Helm, S.: Ausländer in Berliner Haftanstalten, in: Autorengruppe Ausländerforschung. Zwischen Getto und Knast. Jugendliche Ausländer in der Bundesrepublik, Hamburg 1981, 198-289. 75 Nicht Gegenstand der Gespräche war die Situation der reinen Abschiebegefangenen, die in Amtshilfe für das jeweilige Innenministerium im Vollzug untergebracht sind; dazu vgl. Eschenbacher, M.: Nordrhein-Westfalen begeht neue Wege im Bereich der Abschiebehaft, in: ZfStrVo 1994, 158-161; Göbel-Zimmermann, R.: Die Anordnung und der Vollzug der Abschiebungshaft, in: ZAR 3/1996,110-118.
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1. Nichtdeutsche
im
U-Haftvollzug
Schon der U-Haftvollzug ( § 1 1 9 StPO, § 93 J G G ) wird inzwischen durch „eine Vielzahl Gefangener unterschiedlicher Nationen, Kulturkreise und Religionen geprägt": so heißt es im Abschlußbericht der Expertenkommission Hessischer Justizvollzug, der 1994 veröffentlicht wurde 76 . Auffällig ist (wie schon eingangs erwähnt), daß der Prozentsatz der im U-Haftvollzug einsitzenden Nichtdeutschen den Ausländeranteil im Strafvollzug noch weit übertrifft. So machte der Ausländeranteil in der Strafhaft (am 31. März 1996) in NRW (im Durchschnitt) 31,3 % aus, in der U-Haft hingegen 45,1 % 7 7 . Walter78 führt diese Erscheinung, die man in allen Bundesländern beobachten kann, „auf einen in vieler Hinsicht .großzügigeren' Gebrauch der Untersuchungshaft bei Ausländern" zurück. Für diese Einschätzung spricht, daß die Anlaßdelikte, die der U-Haft von Nichtdeutschen zugrunde liegen, (anders als bei den deutschen Mithäftlingen) oft nur eine geringe Schwere aufweisen 79 : nicht selten handelt es sich lediglich um kleinere Diebstähle 80 . Auf der anderen Seite darf der Haftrichter nicht übersehen, daß die Fluchtgefahr81 (§112 Abs. 2, Nr. 2 StPO) bei ausländischen Beschuldigten (insbesondere dann, wenn ihnen die Abschiebung droht) naturgemäß größer ist als bei den deutschen Beschuldigten, die einen festen Wohnsitz angeben können. Insoweit erfüllt die U-Haft bei Nichtdeutschen oft die Funktion (so Gebauer 82 ) einer „Vor-Abschiebehaft". Walter83 spricht sogar von einer „Festhaltesanktion gegenüber reisenden Ausländern". Vor diesem Hintergrund schüren vor allem Sprachbarrieren und eingeschränkte Außenkontakte die latente Aggressionsbereitschaft der nichtdeutschen Insassen. Auf dieses Konfliktpotential sind (auch) die U-Haftanstalten in der Re-
Abgedruckt in StV 1994, 215-222. Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen, 11. Aufl., Düsseldorf 1997, 63. 78 Walter aaO (Fn. 47) 357;Jehle,J.-M.: Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen der Untersuchungshaft, in: BewHi 4/1994, 383. 79 Steinke,J.\ Ausländer im Untersuchungshaftvollzug, in: BewHi 2/1995, 172. 80 Villmow, B.\ Ausländer in der strafrechtlichen Sozialkontrolle, in: BewHi 2/1995, 161. 81 Dabei ist auch dem Grad der Verwurzelung in Deutschland Rechnung zu tragen (vgl. O L G Stuttgart, StV 1995, 258); dazu auch die Große Anfrage (Drucksache 13/ 9329) im Deutschen Bundestag zum Strafvollzug und die Antwort der Bundesregierung vom 2. Dezember 1997, 7. 82 Gebauer, M.\ Untersuchungshaft - „Verlegenheitslösungen" für nichtdeutsche Straftäter, in: KrimPäd 34/1993, 24. 83 Walter aaO (Fn. 47), 357. 76 77
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gel schon personalmäßig nicht hinreichend eingerichtet und werden es vermutlich aus finanziellen Gründen auch in Z u k u n f t kaum sein. So wird man davon ausgehen müssen, daß die Spannungen, die das Anstaltsklima belasten, nicht abnehmen werden. a) Sprachprobleme als
Kommunikationshindernis
Das „Problem fehlender oder mangelhafter Deutschkenntnisse zieht sich wie ein roter Faden durch alle wichtigen Lebensbereiche des Vollzuges" 84 . Die Sprachprobleme, die Ohnmachts- und Isolationsgefühle im Sinne einer „doppelten Isolation" auslösen können, machen sich z.B. bemerkbar 8 5 , wenn es darum geht, - Haftbefehl oder Anklageschrift 8 6 bzw. in Amtsdeutsch verfaßte Briefe zu lesen, - Anträge (an die Vollzugsverwaltung) zu schreiben, u m Briefpapier oder Zahnpasta usw. zu erhalten, - Therapiegespräche zu führen, - an Gemeinschaftsveranstaltungen teilzunehmen, die voraussetzen, daß man mit der deutschen Sprache umgehen kann, - die Drogenberatung oder Schuldenberatung usw. zu verstehen oder - andere (erlaubte) Außenkontakte zu nutzen. In einigen Bundesländern erhält der U-Gefangene allerdings schon bei seiner Aufnahme in die Anstalt ein kurzes Merkblatt in die Hand, das z.B. in Baden-Württemberg 8 8 in zehn verschiedenen Sprachen 89 zur Verfügung gestellt wird und das über die Regelungen der betreffenden Anstalt (z.B. über die Hausordnung) und über diese selbst informiert. Diese Hilfestellung (die es auch andersw o gibt) löst bei vielen Ausländern zwar Anfangsschwierigkeiten, aber grundsätzlich nicht die erwähnten Dauerprobleme. Solche stellen sich etwa dann ein, wenn Schriftsätze abgefaßt oder Formulare ausgefüllt werden sollen, die mehr (als alltagsdeutsche) Sprach-
84
Steinke aaO (Fn. 79), 171. Vgl. dazu Steinke aaO (Fn. 84). 86 Haftbefehl und Anklageschrift sind zwar in einer dem Beschuldigten verständlichen Sprache zu übersetzen (vgl. Nr. 181 Abs. 2 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren); das geschieht nach den Beobachtungen von Steinke aaO (Fn. 79), 174 aber „oft nicht"! 87 Steinke aaO (Fn. 79). 88 AV MJ Baden-Württemberg vom 1. August 1989 (Az.: 4420a-IV/257), in: Die Justiz 1989, 340. 89 Darunter folgende Sprachen: englisch, französisch, spanisch, griechisch, serbokroatisch, hocharabisch, niederländisch. 85
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kenntnisse voraussetzen. In solchen Fällen bleibt den Sprachunkundigen (je nach Anstalt etwa 30 9 0 - 70 % 9 1 ) mitunter nichts weiter übrig, als Landsleute, die besser deutsch sprechen können, um Hilfe zu bitten, für die sie allerdings (erfahrungsgemäß) „einen gewissen Tribut zollen müssen" 92 , oft die übliche „Knastwährung", die in Kaffee, Tabak 93 oder inzwischen auch Drogen besteht. Meist hilft jedoch die Anstalt beim Ausfüllen solcher Texte, wenn der Gefangene darum bittet. Auffällig ist übrigens, daß Ausländer seltener selbst drogenabhängig sind als dies bei den deutschen Mitgefangenen der Fall ist. Das gilt auch für den Strafvollzug. Deshalb sinkt bei steigendem Ausländeranteil der Anstalten erfahrungsgemäß grundsätzlich der Anteil der Drogenabhängigen ab. b) Verhältnis zu den
Mitgefangenen
Die Beziehungen zu den Mitgefangenen (deutschen und anderen) sind naturgemäß unterschiedlich entwickelt. Die Kommunikation zu einsitzenden Deutschen scheitert wiederum z.T. oft bereits an den fehlenden oder nur mangelhaft ausgeprägten Sprachkenntnissen der Nichtdeutschen; hinzu kommen auch ausländerfeindliche Tendenzen, die von außen in die Anstalt „hineinschwappen" 94 und die Distanz noch verstärken (können). Es dürfte daher plausibel erscheinen, daß sich Ausländer eher den Landsleuten anschließen, ein Verhalten, das zwangsläufig zur „Gruppenbildung unter den ausländischen Gefangenen führt" 9 5 . In diesem Rahmen machen die Ausländer dann rasch die Erfahrung, daß sie in der Gruppe als „stark" wahrgenommen werden: nicht nur von den anderen Gefangenen, sondern ebenso von den Mitarbeitern der Anstalt bis zur Anstaltsleitung. Da die U-Haft jedoch (mit einer durchschnittlichen Verweildauer von nur vier Monaten 96 ) relativ kurz ist, bilden sich in der Regel noch keine festen Strukturen heraus; das geschieht erst im Strafvollzug.
Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 45) für den Jungtätervollzug in der JVA Vechta. Schütze, H.\ Junge Ausländer im Vollzug der Straf- und Untersuchungshaft, in: Trenczek, T. (Hrsg.): Freiheitsentzug bei jungen Straffälligen, Bonn 1993, 142; Hartmann, W.: „Der Vollzug ist darauf einzurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern (§ 3 Abs. 3 Strafvollzugsgesetz)", in: BewHi 1991, 156. 92 Steinke aaO (Fn. 79), 173; Schaffner/Kneip aaO (Fn. 74), 261. 93 Steinke aaO (Fn. 92). 94 Steinke aaO (Fn. 79), 180. 95 Steinke aaO (Fn. 79), 181. 96 fehle aaO (Fn. 78), 384. 90 91
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c) Überwachte
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Außenkontakte
Als Außenkontakte kommen auch für U-Gefangene in Betracht: Besuche, Schriftverkehr, Telefonate, Zeitungen und Zeitschriften, soweit der Sicherungsgedanke der U-Haft das zuläßt; ob das der Fall ist, entscheidet der Haftrichter. Bei angeordneter akustischer Besuchsüberwachung (vgl. Nr. 27 UVollzO) muß, sofern die Gespräche nicht in deutscher Sprache geführt werden (können), ein (vereidigter) Dolmetscher 97 für den überwachenden Anstaltsbediensteten übersetzen. Das Problem besteht nicht zuletzt darin, für die verschiedenen Nationalitäten geeignete Dolmetscher ausfindig zu machen 98 . Das gilt grundsätzlich ebenfalls für die Telefonate (vgl. Nr. 38 UVollzO, § 119 Abs. 3 StPO). Auch Briefe, die nicht in deutscher Sprache abgefaßt sind, müssen grundsätzlich übersetzt und dem Haftrichter vorgelegt werden. 2. Nichtdeutsche im Strafvollzug Die Probleme des U-Haftvollzuges setzen sich im Strafvollzug grundsätzlich fort (bzw. verschärfen sich naturgemäß wegen der längeren Haftdauer noch) und erschweren die Durchführung des Resozialisierungsauftrages, den der Strafvollzug (anders als der UHaftvollzug) nach der Intention des Strafvollzugsgesetzes99 (auch gegenüber Nichtdeutschen) zu erfüllen hat. a) Ausländer im Spannungsfeld zwischen Zielsetzung des Ausländerrechts und Resozialisierungsauftrag Zu den Grundvoraussetzungen erfolgreicher Resozialisierungsbemühungen gehören - entsprechende Kenntnisse der deutschen Sprache (Sprache als „Schlüssel zur Integration"), - die Bereitschaft der Gefangenen (i.S. des § 4 Abs. I StVollzG), sich auf dem Resozialisierungswege helfen zu lassen, sowie - Behandlungsmotivation bei den Mitarbeitern der Anstalt und - (erlaubte) Außenkontakte, die für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erforderlich sind.
97 Dazu Steinke, / . : Ausländer in Untersuchungshaft sprachlos?! in: ZfStrVo 1995, 223-227. 98 Steinke aaO (Fn. 97), 223 f. 99 Vom 16. März 1976 (BGBl. I, 581, (zuletzt geändert am 26. August 1998, BGBl. I, 2461)).
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Die schon erörterten Sprachbarrieren (mitunter hilft im täglichen Umgang die englische Sprache) spielen naturgemäß auch im Strafvollzug eine Rolle: weniger bei den Nachkommen der Gastarbeiter, die in der Regel deutsch sprechen können, eher bei denen, die nicht in Deutschland aufwuchsen. Zu diesen gehören insbesondere solche, die in den letzten Jahren (mit oder ohne Eltern) - legal oder illegal ins Land kamen. So hat Schütze 100 in niedersächsischen Strafanstalten (1993) feststellen können, daß „in letzter Zeit insbesondere aus dem Ostteil Europas Jugendliche kommen, die (erst) wenige Wochen oder Monate in Deutschland leben und weder die deutsche Sprache verstehen noch reden, noch sich in der Gesellschaft zurechtfinden können": sie sind oft nicht einmal in der Lage, beim Arzt ihre eigene Befindlichkeit zu beschreiben (Erfahrung aus der JVA Lingen). Schütze 101 hat vor diesem Hintergrund die berechtigte Frage gestellt: „Welches Vollzugsziel soll für diese Klientel überhaupt erarbeitet werden?" und fährt fort 1 0 2 : „In der Regel haben diese Gefangenen eine lange Strafe zu verbüßen und müssen nach der Entlassung mit Abschiebung in ihre Heimatländer rechnen", sie wollen sich deshalb „im Vollzug nur halbherzig auf eine Integration in die deutsche Gesellschaft einlassen" 103 . Auch für Walter 1 fehlt es insoweit an der „klassischen Resozialisierungsperspektive." Bukowski 105 befürchtet sogar, daß die Resozialisierungsbemühungen „durch die (meist) drohende Ausweisung ... ad absurdum geführt werden", und zwar deshalb, weil sie vor dem Hintergrund von Statusunsicherheit und entsprechender Zukunftsängste grundsätzlich scheitern müßten; auch „der Erziehungsauftrag des Jugendstrafvollzuges (werde) auf diese Weise zur Farce" 106 . Das (schulische und berufliche) Ausbildungsangebot ist schon wegen der Sprachschwierigkeiten (die nach der Erfahrung des JVA Herford primär bei den Rußlanddeutschen bestehen) und oft fehlender Zugangsvoraussetzungen begrenzt 107 . Ferner kommen wegen der bestehenden Fluchtgefahr für einen Großteil der einsitzenden Ausländer, insbesondere für die, denen die Abschiebung droht (bzw. bei denen bereits eine
100 101 102 103 104 105 106 107
Schütze aaO (Fn. 74), 382. Schütze aaO (Fn. 100). Schütze aaO (Fn. 100). Schütze aaO (Fn. 74), 381. Walter aaO (Fn. 47), 350. Bukowski aaO (Fn. 74), 225. Bukowski aaO (Fn. 105). Bukowski aaO (Fn. 105).
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vollziehbare Ausweisungsverfügung nach § 50 AuslG vorliegt), nach der W Nr. 5 Abs. lc zu § 11 StVollzG108 grundsätzlich keine Vollzugslockerungen (Ausgang, Urlaub, Freigang) in Betracht. So droht „die Gefahr der Trennung der Insassen in zwei große Gruppen. Zum einen - in die Gruppe der Gefangenen, die mit behandlerischem Aufwand resozialisiert werden sollen ..., und zum anderen - in die Gruppe, die bis zu ihrem Abschiebetermin (nur) verwahrt wird." 109 Diese „Trennung ... bildet zusätzliches Konfliktpotential", eine Erfahrung, die nicht nur in der JVA Vechta gemacht worden ist 110 . Auch Fehre 111 weist (für die JA Hameln) darauf hin, daß „Ausländer bei besonderen Vorkommnissen deutlich überrepräsentiert sind." Das gilt aber (so die JVA Herford) auch für Rußlanddeutsche. b) Kulturell bzw. religiös bedingte
Probleme
Bei den im Vollzug einsitzenden Ausländern handelt es sich (was oft verkannt wird) also um keine homogene Minderheit, sondern „um zahlreiche nationale Gruppen sehr unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung" 112 . Die betreffenden Besonderheiten beginnen (schon in der U-Haft 1 1 3 ) mit der - Ernährung: die Anstaltsküche muß sich z.B. auf die Speisegebote der Moslems (sog. Glaubenskost oder Moha-Kost) einstellen114: Schweinefleisch wird ausgetauscht gegen Geflügel- und Rindfleisch;
108 Diese Vorschrift wird von den Gerichten allerdings grundsätzlich nicht akzeptiert, so daß auch die JVA'en (in Absprache mit den Ausländerbehörden) in solchen Fällen im Einzelfall oft anders (als die W vorschreiben) verfahren. 109 Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 45), 343. Die JVA Herford weist darauf hin, daß die Verwahrung nur die Rußlanddeutschen betrifft, an die man offenbar mit Resozialisierungsangeboten schwer herankommen kann. 110 Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 109). 111 Fehre, E. \ unveröffentl. MS aus dem Jahre 1996, 1. 112 Vgl. MJ NRW aaO (Fn. 77); Walter aaO (Fn. 3), 81. 113 Dort darf sich der Gefangene (im Gegensatz zum Strafvollzug) aber auf eigene Kosten Mahlzeiten aus einer Gaststätte kommen lassen (vgl. Nr. 50 UVollzO), eine Möglichkeit, die nur von den finanziell gut gestellten Ausländern (etwa aus dem Kreis des Organisierten Verbrechens?) genutzt werden kann. 114 In der JVA Mannheim beurteilten 70 % der befragten Ausländer (1983) das Essen gleichwohl als „schlecht" bzw. als „sehr schlecht"; bei den Deutschen waren es allerdings auch 56 % (Schaffner/Kneip aaO, Fn. 74, 264): „Nur aus religiösen Gründen darf sich der Insasse auf eigene Kosten andere als die Anstaltsverpflegung beschaffen" {Böhm, Α.: Strafvollzug, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1986, 140).
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- Freistellung von der Arbeit (auf Antrag) an speziellen religiösen Feiertagen (etwa während des Ramadans), die z.B. der Islam verlangt 115 . Die Relevanz solcher Postulate ist allerdings in der Praxis gering, weil die meisten Betroffenen lieber arbeiten wollen (z.B. in der JVA Lingen und der JVA Herford), um an Geld zu gelangen. Schwierigkeiten können sich einstellen, wenn es um die - Unterbringung in Gemeinschaftszellen zusammen mit Andersgläubigen geht, die den Gebetsgewohnheiten (der Moslems) verständnislos begegnen 116 . Insoweit wird jedoch die gemeinsame Unterbringung in der Praxis (etwa in der JVA Werl) grundsätzlich vermieden. Das ist jedoch bei (erheblicher) Uberbelegung der Anstalt oft gar nicht möglich. Auch nichtchristliche Religionen haben im übrigen das Recht von Geistlichen (zumindest an hohen Feiertagen) ihrer Glaubensrichtung aufgesucht zu werden 117 . In die JVA Werl z.B. kommt der Imam in der Regel alle zwei Wochen, in die J A Hameln sogar grundsätzlich jede Woche (unregelmäßig in Herford) zum sog. Freitagsgebet, das Gefangene (nach der Vermutung der Anstalten) nicht selten für (Tausch-) Geschäfte mißbrauchen. Eine Betreuung erfolgt in Einzelfällen auch über die entsprechende Botschaft oder das Generalkonsulat. Bei einer „Vorbefragung" von zwanzig Botschaften bzw. Generalkonsulaten (über die Steinke 118 berichtet) „ergab sich allerdings ein breites Spektrum unterschiedlichster Reaktionsweisen, die von intensiver persönlicher Betreuung bis zur Nichtbeachtung reichen". Afrikaner werden (z.B. in der JVA Werl) von ihren Auslandsvertretungen grundsätzlich überhaupt nicht besucht. c) Blockbildungen und Machtkämpfe Problematisch ist z.T. nicht nur das Verhältnis zu deutschen Mitgefangenen, sondern auch zu anderen ethnischen Gruppen. Insbesondere Türken werden von deutschen Mitgefangenen immer wieder als „Kanaken" bezeichnet 119 : umgekehrt gelten deutsche Gefangene bei Ausländern schon nach einer älteren Studie (in der
1 1 5 Vgl. Neu, G.: Nichtdeutsche im bundesdeutschen Strafvollzug, in: Schwind, H.-D./Blau, G.: Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl., Berlin 1988, 329-337 (333). 116 Nährich, W.-D.: Zur Situation ausländischer Strafgefangener in deutschen Vollzugsanstalten, in: ZfStrVo 1 9 7 5 , 1 4 5 - 1 5 2 . 117 Schaffner/Kneip aaO (Fn. 74), 263. 118 Steinke aaO (Fn. 79). I,9 Bukowski aaO (Fn. 74), 225.
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JVA Mannheim) als „arrogant" 120 ; diese hätten „Vorurteile" 121 , würden auf sie als „Menschen zweiter Klasse" 1 2 2 nicht selten „herabblicken". 123 Die Vorbehalte sind oft gegenseitig; dementsprechend verlangten die deutschen Gefangenen z.B. den „Umschluß" 1 2 4 (in der JVA Mannheim) fast nur mit deutschen Gefangenen, nicht mit Ausländern; in der JVA Herford soll das anders sein. Im selben Zusammenhang ist schon 1983 beobachtet worden 1 2 5 , „daß in dieser Situation bei Ausländern gruppendynamische Prozesse zu Gruppen mit hoher Gruppenkohäsion" führen, wobei „die Beziehung zu Gefangenen derselben Nationalität durch ein erhöhtes Maß an Solidarität und Zusammenhalt" auffallen würde 126 . Zehn Jahre später (1993) heißt es bei Schütze 127 (bezogen wiederum auf den Jugendstrafvollzug), daß es „auch erhebliche Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Ausländern gibt", und zwar „um die Herrschaft im Drogengeschäft, manchmal wegen .Ehrensachen'" 1 2 8 . Darüber hinaus kann man (1996) für die JVA Adelsheim nachlesen 129 , daß „zwischen Gefangenen unterschiedlicher Nationalitäten ... häufig Auseinandersetzungen wegen nationaler Konflikte, politischer Gegensätze oder anstaltsinterner Machtkämpfe" stattfinden. So waren z.B. bei „den großen Streitigkeiten (in der J A Hameln) häufig auf der einen Seite die Türken und auf der anderen Seite die Kurden und Libanesen zu finden"130. In der JVA Adelsheim ist beobachtet worden 1 3 1 , daß die Türken auch nichts mit Arabern und Albanern zu tun haben wollen; die Abneigung scheint wiederum gegenseitig zu sein. Schwierigkeiten sollen ferner „bei einer gemeinsamen Unterbringung von polnischen und albanischen Jugendlichen (bestehen) bzw. Rumänen und Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien" 132 . Aus der JVA Werl war zu erfahren, daß dort mit Al-
Schaffner/Kneip aaO (Fn. 117). Schaffner/Kneip aaO (Fn. 74), 262. 122 Scham, Η.: Die Situation der Ausländer in Haft, Bad Boll 1981, 60 (61). 123 Schaffner/Kneip aaO (Fn. 74), 261; anders: Neu aaO (Fn. 115), 336. 124 Ein solcher liegt vor, wenn Gefangenen die Möglichkeit eingeräumt wird, andere Gefangene, zur Verbringung gemeinsamer Freizeit, auf der (dann abgeschlossenen) Zelle zu besuchen. 125 Schaffner/Kneip aaO (Fn. 74), 261. 126 Schaffner/Kneip aaO (Fn. 125). 127 Schütze aaO (Fn. 74), 383. 128 Schütze aaO (Fn. 127). 129 Bukowski aaO (Fn. 74), 225. 130 Schütze aaO (Fn. 127). 131 Bukowski aaO (Fn. 74), 228. 132 Schütze aaO (Fn. 74), 383. 120 121
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banern („Albanergangs") überhaupt niemand etwas zu tun haben möchte und daß Rumänen sich gegenüber Schwarzafrikanern oft als Rassisten gebärden. Das Schlußlicht in der Beliebtheitsskala haben von den Türken (nach den Beobachtungen in der JVA Herford) die Rußlanddeutschen übernommen. Das sehen auch Bedienstete so (Zitat: „Seit ich die Aussiedler kenne, liebe ich die Türken"). Wirkliche „Freunde" gibt es offenbar auch unter den Ausländern grundsätzlich nicht: das gilt selbst für solche aus derselben Sprachgruppe: Manche werden „rausgebissen" (so JVA Herford). Dazu wurde in der JA Hameln z.B. in bezug auf türkische Häftlinge „festgestellt, daß immer nur bestimmte Insassen die Wohngruppe reinigten, während andere lediglich Aufträge erteilten und deren Erfüllung überwachten" 133 ; aus diesen Gründen mußten die Gruppenmitglieder (wieder) auseinandergelegt werden 134 . Schließlich: Rußlanddeutsche gelten (z.B. in der JVA Hannover und in der JA Hameln) als schwer zugänglich, weil sie sich meist bewußt abkapseln. Diese Isolierung hat jedoch damit zu tun, daß sich dieser Personenkreis (selbst in der Haft) als ausgeschlossen empfindet bzw. etwa aus Heimweh (so die JVA Herford) selbst separiert: „In der Freistunde hocken alle im Kreis". 3. Verhältnis zu den
Bediensteten
Für das „Klima" in der Anstalt ist nicht zuletzt auch das Verhältnis der Gefangenen zu den Bediensteten der Anstalt relevant: zu den Aufsichtsbeamten, zu den Werkdienstbeamten und zu den Fachdiensten. Die entsprechenden Beziehungen leiden oft wiederum an den Sprachbarrieren sowie an Vorbehalten (z.T. auch Vorurteilen), die auf beiden Seiten bestehen 135 , mitunter schaukeln sich letztere hoch. So werden manche Bedienstete in manchen Anstalten als „Nazis" beschimpft (Zitat: „Muß ich mir jeden Tag zwei- bis dreimal anhören") und durch die Blockbildung der Ausländer unter psychischen Druck gesetzt, der (z.T. berechtigte) Ängste auslösen kann 136 . Allerdings räumen Mitarbeiter auch ein, daß die meisten „Ausländer keine großen Ansprüche haben und wenig Arbeit machen" (JA Hameln). Als hochproblematisch wird hingegen der „harte Kern" beschrieben. So fallen vor allem Gefangene aus den Staaten des früheren Ostblocks (etwa Rumänien) durch hohe Gewaltbereitschaft, ver-
133 134 135 136
Schütze aaO (Fn. 132). Schütze aaO (Fn. 132). Steinke aaO (Fn. 79), 181. Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 45), 346.
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bunden mit niedriger Hemmschwelle, auf. Auch das Ausbruchsrisiko muß wohl höher eingeschätzt werden (so die JYA'en Lingen und Werl). Bestätigt findet sich in der Praxis andererseits aber auch der Abschlußbericht der Expertenkommission Hessischer Justizvollzug 137 , der „bei den Bediensteten Unkenntnis und Orientierungslosigkeit" festgestellt hat, „die wiederum Isolation und Gruppenbildung der Ausländer mit subkulturellem Charakter" auslösen würden. Zu diesem Ergebnis sind auch andere Untersuchungen gelangt138. Gemeint ist das Gefühl vieler Nichtdeutscher, durch Bedienstete schlechter als deutsche Mitinhaftierte behandelt zu werden 139 . Von „manchen Beamten (würden) nichtdeutsche Insassen ständig auch an ihren Sonderstatus erinnert" 140 . Außerdem scheinen „Geschichten über ausländerfeindliche Beamte und Ungerechtigkeiten gegenüber Nichtdeutschen zu kursieren" 141 und das Anstaltsklima zu belasten. Dementsprechend haben schon Schaffner/Kneip 142 (in der JVA Mannheim) beobachten können, daß „der Ausländer bei den Bediensteten seltener eine positive Behandlungsmotivation als der deutsche Mitgefangene vermutet". 73 % der nichtdeutschen Befragten stimmten danach (1983) der Einschätzung zu: Die Bediensteten „würden am liebsten nichts mit uns zu tun haben". Eine entsprechende Befragung würde allerdings (so vermutet man in der JVA Herford) heute anders ausfallen. Auf größere Akzeptanz dürfen die ausländischen Sozialarbeiter hoffen, die inzwischen von den Freien Wohlfahrtsverbänden für die Betreuung der Ausländer in den Anstalten eingesetzt werden 143 . IV. Kriminalpolitische Anschluß-Uberlegungen und Instrumente Die Zuwanderungen mit ihren problematischen sozialen Begleiterscheinungen bis hin zu kriminellem Verhalten gehören zu den kriminalpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Sie lösen nicht nur bei den Zuwanderern, sondern auch in der deutschen Bevölkerung Bedrohtheitsgefühle aus, die manche Zeitgenossen pauschal
137
Abgedruckt in StV 1994, 215 (222). Steinke aaO (Fn. 79), 173; Bukowksi aaO (Fn. 74), 225; Schaffner/Kneip 74), 262; Neu aaO (Fn. 115), 334. 139 Steinke aaO (Fn. 138). 140 Bukowski aaO (Fn. 74), 229. 141 Bukowski aaO (Fn. 140). 142 Schaffner/Kneip (Fn. 74), 262. 143 Vgl. Steinke aaO (Fn. 79), 175; Neu aaO (Fn. 115), 331. 138
aaO (Fn.
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mit Ausländerfeindlichkeit gleichsetzen möchten144. Obgleich diese Motivation (etwa verbreitet unter den Skinheads oder in rechtsradikalen Gruppen) nicht heruntergespielt werden darf, läßt sich kaum übersehen, daß man das Ablehnungsverhalten der Mehrheitsbevölkerung145 auch auf andere Umstände zurückführen muß. Wahl146 verweist insoweit z.B. auf folgende Einflußfaktoren: - Angstgefühle, die sich auf die Konkurrenz auf dem Wohnungsund Arbeitsmarkt beziehen, - Auslösereize, die mit schlechten Erfahrungen, die mit Ausländern gemacht worden sind, zu tun haben, und - kulturell bedingte Andersartigkeiten, die manche Deutsche verstören. Der Katalog der Ablehnungsgründe (der lange tabu war147) läßt sich unschwer verlängern. Angst macht vielen Deutschen vor allem die große Zahl der Zuwanderer, die, wenn sie sich weiter erhöht, die Angstgefühle wahrscheinlich weiter verstärkt und letztlich dann doch zur Ausländerfeindlichkeit breiter Bevölkerungsschichten führen könnte. Angst macht ferner vor allem solchen Deutschen, die von der Sozialhilfe leben müssen, die Frage, ob das Sozialnetz (das nach dem Zweiten Weltkrieg geknüpft worden ist) den Zustrom noch lange aushalten wird1 . Angst machen nicht zuletzt auch Medienberichte, die über kriminelles Verhalten der Zuwanderer zu informieren versuchen. Auch, wenn manche Vorfälle dort hochgespielt werden (manches Geschehen wird auch heruntergespielt), kann man ernsthaft nicht unterschreiben, daß die Ausländerkriminalität nur ein „gefährliches Gerücht" ist149. Gleichwohl wird immer wieder versucht, die Gefahren (unkontrollierter) 144 vgl. dazu z.B. Schwind, H.-D.: Gedanken zur Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, in: FS für K. Miyazawa, Baden-Baden 1995, 243 ff. 145 Nach einer Emnid-Umfrage, die DER SPIEGEL am 23. März 1998, 52 (Nr. 13) veröffentlicht hat, bejahen 53 % der Westdeutschen und 65 % der Ostdeutschen die Frage: „Leben in Deutschland zu viele Ausländer". 146 Wahl, K.: Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextemismus, in: KrimJ 1995, 53. 147 Das Tabu hat nicht zuletzt D E R SPIEGEL mit seiner Titelgeschichte vom 14. April 1997 gebrochen: „Gefährlich fremd: Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft" . 148 450 000 Asylbewerber sowie 470 000 weitere Ausländer (Bundesgesundheitsminister, zit. nach N O Z vom 3. Mai 1997, 4) müssen, obgleich die kommunalen und Staatskassen leer sind, schon heute durch Sozialhilfe unterstützt werden; 548 000 Nichtdeutsche sind (schon) 1997 ohne Arbeit gewesen (Statistisches Jahrbuch 1998, 123 f). Höchste Arbeitslosenquote bei den Türken mit 24,4% (BMI 1997, 10). 149 Vgl. z.B. Geißler aaO (Fn. 48), 30 ff; anders Schwind, H.-D.: Die gefährliche Verharmlosung der Ausländerkriminalität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 43) vom 20. Oktober 1995, 33.
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Zuwanderung - offenbar orientiert an dem realitätsfremden Gedanken „Was nicht sein darf, das nicht sein kann" zu verharmlosen; dabei mag auch Ignoranz mit im Spiel sein 150 . Daß der politische Spielraum jedoch schon heute gar nicht (mehr) so groß ist wie manche Ignoranten immer noch meinen, zeigen die politischen Erfolge der äußersten Rechten im Nachbarland Frankreich, die mit (vor allem aus Nordafrika importierten) vergleichbaren Zuwanderungsproblemen zu tun haben. Ahnliche Veränderungen im Parteienspektrum (die sich auf eine Verknüpfung von Immigration und Arbeitslosigkeit zurückführen lassen) zeichnen sich hierzulande zumindest tendenziell ab. So lautet der erfolgreiche Wahlslogan einer rechtsextremen Partei: „Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeitnehmer." Die Ausländerpolitik zählt aber auch (was man oft übersieht) zu den Steuerungsinstrumenten der Kriminalpolitik. Als entsprechende Möglichkeiten kommen in Frage: - Integrationspolitik, - Begrenzungspolitik, - strafrechtspolitische und - vollzugspolitische Entscheidungen sowie - Maßnahmen gegen die Fluchtursachen, die die Zuwanderer dazu treiben, ihr Land zu verlassen. Vorschläge aus dem liberalen Lager, die darauf hinauslaufen, die Kriminalitätszahlen der Deutschen und Nichtdeutschen in der PKS nicht mehr getrennt auszudrucken, würden (wenn sie realisiert werden könnten) die Situation nur vernebeln und damit die Lagebeurteilung, die auch für die Integrationsanstrengungen notwendig ist, erheblich erschweren oder unmöglich machen. 1. Integrationspolitik und
Begrenzungspolitik
Integrationspolitik kann unter den gegenwärtigen Umständen nur zum Erfolg führen, wenn gleichzeitig eindeutige Begrenzungspolitik eingesetzt wird. Dementsprechend orientierte sich die Ausländerpolitik der bisherigen Bundesregierungen 151 seit Ende der 150 Das gilt wahrscheinlich auch für manche Kirchengemeinden, die abgelehnten Asylbewerbern (problematisch erscheint immer der Einzelfall!) meinen, Kirchenasyl gewähren zu müssen. Dieses Verhalten wird auch noch durch das „Gemeinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Flucht und Migration" (Juli 1997), das auch deshalb auf harsche Kritik stieß (vgl. FAZ vom 26. September 1997), unterstützt. 151 Chronologischer Uberblick über die Ausländerpolitik in Deutschland bei Bade, K.J.: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1994, 18 ff.
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60er Jahre primär an folgenden Grundsätzen 152 , die auch die (Anti-) Gewaltkommission 153 unterstützt: - Integration der rechtmäßig in Deutschland lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen unter Einschluß der anerkannten Flüchtlinge und - Begrenzung des weiteren Zuzugs aus Staaten außerhalb der Europäischen Union und des europäischen Wirtschaftsraumes. An diesen Leitlinien will sich offenbar auch die neue Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90 / Die Grünen (Schröder/Fischer) zumindest grundsätzlich orientieren. 154 a) Integrationspolitik Wenn man von der Begriffsbestimmung von Quaritsch (1981) 155 ausgeht, ist „Integration" erreicht „bei Zufriedenheit mit der eigenen Situation - aber nicht nur bei den Zuwanderern, sondern auch bei den Eingesessenen". Das heißt, es kommt zunächst darauf an, die Bedrohtheitsgefühle der Eingesessenen abzubauen. Verharmlosungskampagnen sind allerdings ein riskanter Weg, weil sie die Probleme nur zu verdrängen versuchen, und deshalb in ihrer (verbreiteten) Aufdringlichkeit auch provozieren (können). Integration kann vielmehr nur dann erreicht werden 156 , wenn - erstens: keine Verteilungskämpfe mehr stattfinden; bei weiterer Zuwanderung ist jedoch eher eine Verschärfung der Lage schon auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt zu erwarten; - zweitens: die soziale Situation der Zuwanderer entspannt werden kann: z.B. durch Erziehungshilfen, bessere schulische und berufliche Betreuung, Arbeitsplatzangebote, angemessene
152 Vgl. BMI 1997, 5; Haberland, / . : Ist eine gemeinsame europäische Lösung des Zuwandererproblems in Sicht? in: BMI (Hrsg.): Texte zur Inneren Sicherheit, Bd. II, Bonn 1997, 122-163 (122). 153 Schwind, H.-D./Baumann, J. u.a. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, Berlin 1990,198 f. 154 Vgl. die Koalitionsvereinbarung der SPD mit den „Grünen" vom 20. Oktober 1998 und die entsprechende Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers (Gerhard Schröder) vom 10. November 1998 (z.T. abgedruckt in: FAZ vom 11. November 1998, 10). 155 Quaritsch aaO (Fn. 18). 156 Geglückt ist die Integration der (etwa eine Million) primär Polen („Ruhrpolen"), aber auch Ungarn und Italiener, die Anfang des Jahrhunderts nach Deutschland einwanderten, um vor allem im Bergbau oder in der Landwirtschaft tätig zu sein; diese Zuwanderer konnten nicht zuletzt wegen des ähnlichen kulturellen Hintergrundes assimiliert werden; das hat allerdings auch zwei Generationen gedauert (vgl. dazu Schaffer, A. in: FAZ vom 1. Oktober 1996, 5).
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Wohnbedingungen usw. Dafür fehlt aber (zumindest zur Zeit) das Geld in den Kassen, was bei weiterer Zuwanderung mit den Neuankömmlingen auch noch geteilt werden muß, und sich - drittens: die Zugewanderten in ihren Verhaltensweisen der Adoptivkultur nähern bzw. sich einfügen. Dabei kann vor allem die (erleichterte) Einbürgerung157 der (in Deutschland geborenen, etwa 700 000 158 ) Ausländer der zweiten und dritten Generation helfen.159 Die doppelte Staatsangehörigkeit160, die die neue Bundesregierung (Schröder/Fischer) zulassen will 161 , trägt jedoch grundsätzlich nicht zur Integration bei, weil sie die Identifizierung mit der neuen Heimat (durch Interessenkollisionen und Loyalitätskonflikte) eher erschwert162. Auch die große Mehrheit der Deutschen (73 % 1 6 3 ) lehnt eine Doppelstaatsbürgerschaft ab. Inzwischen haben Bund, Länder, Gemeinden sowie die Bundesanstalt für Arbeit und die freien Wohlfahrtsverbände eine Vielzahl von Integrationsaktivitäten entwickelt, die von Modellprojekten zur besseren Förderung ausländischer Kinder in Kindergärten über die Förderung von Hausaufgabenhilfen bis zu ausländerspezifischen Berufsfördermaßnahmen reichen 164 . Daß die alte Bundesregierung (Kohl/Kinkel) z.B. die Sprachkurse für Aussiedler zeitlich gekürzt hat, ist allerdings kontraproduktiv. Denn Sprachkurse bilden (wie schon oben erwähnt) den „Schlüssel für die Integration". Die „multikulturelle Gesellschaft", die manche anstreben, ist hingegen eher ein Traumziel, eine Utopie. Diese funktioniert unter den
157 So z.B. auch Hailbronner, K.: Einbürgerung erleichtern ohne Einwanderungsgesetz ? in: F O C U S 52/1997, 56. 158 BMI 1997 (Fn. 13), 19 ff. 159 Die von der Bundesregierung geplante abrupte Masseneinbürgerung von Millionen von Nicht-deutschen (vgl. Regierungserklärung vom 10. November 1998: FAZ vom 10. November 1998,1) dürfte hingegen die inneren Spannungen eher verstärken, weil selbst die Parteienlandschaft betroffen sein dürfte. 160 Trotz des Europarats-Abkommens zur Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften (1963), das 16 Staaten unterzeichnet haben, hat sich die doppelte Staatsangehörigkeit in zahlreichen EU-Staaten durchsetzen können: z.B. in den Niederlanden, Belgien, Italien, Portugal. 161 Vgl. Regierungserklärung vom 10. November 1998 (zit. nach FAZ aaO, Fn. 159). 162 Mit der Gewährung solcher Rechte (die die Deutschen nicht besitzen) würde der Staat gesellschaftliche Auflösungserscheinungen (die z.B. Heitmeyer, W. in: Beilage zum PARLAMENT vom 8. Januar 1993, 4 beschreibt) noch unterstützen. 163 Ipos-Umfrage, zit. nach BMI (Fn. 13), 57 f. 164 Vgl. dazu ausführlicher BMI aaO (Fn. 13), 19 ff; zu den Milliardenkosten, die durch Nichtintegration entstehen, vgl. RWI: Kosten der Nichtintegration ausländischer Zuwanderer, Düsseldorf 1996, 57 ff/110 ff.
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Bedingungen von Wohnungsproblemen, Arbeitslosigkeit bzw. Perspektivlosigkeit und Religionsunterschieden (weit über zwei Millionen Muslime leben inzwischen in Deutschland 165 ) auf der ganzen Welt nicht 166 . Wahrscheinlicher sind eher (kurzfristig betrachtet) „Tendenzen zum fremden Staat im Staate" und (langfristig gesehen) politische Unruhen, die von sozial unterpriviligierten ethnischen Gruppen (bzw. ihren Nachkommen) ausgehen dürften, die einen Teil am Wohlstand (wenn es dann diesen noch gibt) einfordern werden 167 . Dafür, daß solche Entwicklungen vorstellbar sind, gibt es zahlreiche Beispiele aus der Gegenwart und der Geschichte 168 . Eine multikulturelle Periode kann daher nur als Durchgangsstadium zur Integration (bzw. Assimilation) in Betracht kommen. b) Begrenz ungspolitik Gleichwohl hat der Bundespräsident (Herzog) am 21. September 1995 im Durchgangslager Friedland vor einer „das Boot-istvoll-Mentalität" gewarnt, dabei jedoch übersehen, daß zumindest die Grenzen der Integrationsfähigkeit (in unserem Lande) längst überschritten wurden 169 . Diese Position wird auch durch den neuen Bundesinnenminister (Otto Schily) geteilt 170 . Die Kriminalität der Zuwanderer, die keineswegs im Bagatellbereich liegt (sonst sähe nicht zuletzt auch die Klientel des Strafvollzugs anders aus), ist für diese Behauptung ein Beleg. Deshalb muß die weitere Immigration drastisch eingeschränkt werden. Eibl-Eibesfeld 171 hat die entsprechende Überlegung wie folgt formuliert: „Wer an der Erhaltung des inneren Friedens interessiert ist, sollte die wirtschaftliche und as165 Lerch, G. in: FAZ vom 20. Dezember 1997; Werthebach, E. in: F A 2 vom 21. Mai 1992, 5. 166 So hat selbst Rudolf Augstein Ende 1993 im SPIEGEL (Nr. 47, 22) einräumen müssen: „Wo es sie gibt (nämlich die multikulturelle Gesellschaft) funktioniert sie nicht: In Kalifornien nicht, in New York nicht, im ganzen Schmelztiegel USA nicht; im Frankreich des Charles Pasqua schon lange nicht, und auch im Frankfurt des multikulturellen Stadtrats Daniel Cohn-Bendit ist sie schwach und atmet kaum." Und was ist (kann man hinzufügen) mit den ethnischen Konflikten in den GUS, in Afrika oder in den jugoslawischen Nachfolgestaaten? Vgl. dazu auch den SPIEGEL 40/ 1995, 192 f. und Fn. 147. 167 So auch Huntington, S.: Der Kampf der Kulturen, München 1996. 168 So auch z.B. Eibl-Eibesfeld, I.: Ist der Mensch paradiesfähig? in: Berliner Debatten INITIAL 2/1992, 13. 169 So z.B. Schwind seit 1982; zuletzt 1998 (aaO, Fn. 12), 485. 170 Vgl. z.B. Frankfurter Rundschau vom 17. November 1998. Danach hat Schily dem Berliner Tagesspiegel gegenüber erklärt, daß „die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung überschritten" sei. 171 AaO (Fn. 168).
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similatorische Kraft eines Landes in seiner Immigrationspolitik in Rechnung stellen". Man bekommt Probleme nur in den Griff, wenn sie sich nicht ständig (erheblich) vergrößern. Wenn man also ohne Schaden für das Gemeinwesen nur so viele Zuwanderer aufnehmen darf, wie integriert werden können, dann stellt sich die Frage, wie die Begrenzungspolitik effektiviert werden kann. Insoweit kommen in Frage 172 : - erstens: die Verstärkung der Zuzugsbegrenzung, - zweitens: die Bekämpfung der illegalen Einreise und - drittens: die (drastische) Einschränkung von Bleiberechten bzw. die Durchsetzung von aufenthaltsbegrenzenden Maßnahmen. Zur Begrenzung des weiteren Zuzugs haben die bisherigen Bonner Regierungsparteien (CDU/CSU und FDP) zusammen mit der (damaligen) SPD-Opposition (am 6. Dezember 1992) einen sog. Asylkompromiß173 geschlossen: ins Grundgesetz wurde ein entsprechender Art. 16a eingefügt. Danach kann sich auf das Asylrecht nicht mehr berufen, wer aus einem sicheren Herkunftsland stammt oder wer über einen Drittstaat (vgl. dazu die §§ 29a und 26a AsylVfG) einreist, in dem die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind. Der Erfolg der Neuregelung läßt sich (wie schon erwähnt) an Zahlen ablesen. 1992 betrug die Zahl der Asylbewerber noch 438 191, (zwei Jahre später) 1994 „nur" noch 127 210 und 1996 schließlich 116 367. Dieser Stand entspricht jedoch immer noch der Asylbewerberzahl von 1989 (121 318), die seinerzeit noch Alarm ausgelöst hat. Wir haben uns offenbar nur an die großen Zahlen gewöhnt. Um die rein wirtschaftlichen Beweggründe der Zuwanderung zu vermindern, sieht das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) vom 30. Juni 1993 174 vor, Sozialleistungen an Asylbewerber nicht mehr in Geld, sondern in Sachleistungen, hilfsweise in Wertgutscheinen auszuhändigen, die (so z.B. in Berlin) in Sachleistungsmagazinen eingelöst werden können. Das AsylblG senkt überdies das Leistungsniveau gegenüber der Sozialhilfe, die nach dem BSHG gezahlt wird, deutlich ab 175 .
Vgl. BMI 1997 aaO (Fn. 13), 61 ff. Gesetz vom 28. Juni 1993 (BGBl. 1,1002). 174 BGBl. II, 1074. 1 7 5 Nach einer Allensbach-Umfrage (die in der F A Z vom 13. August 1997, 5 veröffentlicht wurde) treten sogar 64 % der Befragten dafür ein, nicht anerkannten Flüchtlingen (in den ersten 5 Jahren) überhaupt keine Sozialhilfeleistungen mehr zu gewähren. 172
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Im Rahmen des Asylkompromisses ist zugleich das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (vom 21. Dezember 1992176) verabschiedet worden. Dieses legt fest, daß jährlich nur noch bis zu maximal 220 000 Aussiedler (200 000 mit Abweichungsmarge von +/-10 %) in der Bundesrepublik aufgenommen werden sollen. Seither liegen die entsprechenden Zuwandererzahlen sogar noch unter den festgelegten Grenzen, was auch mit Sprachprüfungen in den Herkunftsländern zu tun hat 177 , und damit, daß die Bundesrepublik Hilfe „vor Ort" nicht nur in den GUS-Staaten leistet, sondern auch in anderen Ländern des früheren Ostblocks für die dort ansässige deutschstämmige Bevölkerung 178 . Zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung (unerlaubten Einreise) ist nicht nur die Zahl der Grenzbeamten verstärkt worden (an der polnischen und tschechischen Grenze um ca. 6000), sondern auch die Ausstattung mit (moderner) Grenzüberwachungstechnik (Radar- und Wärmebildgeräten) sowie Streifenbooten und Hubschraubern 179 . Manche Ignoranten befürchten deshalb eine „Festung Europa", die allerdings im Rahmen der „Schengener Abkommen" 180 eher ein Ziel sein sollte. Illegale Zuwanderung, Asylmißbrauch und Sozialbetrug durch Asylbewerber können z.B. auch durch Fingerabdruck-Dateien aufgedeckt werden. Die Gewährung von Bleiberechten bzw. „Duldungen" (§ 56 AusIG) sind (mehr als bisher) auf Ausnahmefälle zu beschränken; das gilt auch für Abschiebestopps 181 . Diese dürfen jedenfalls die (notwendige) Begrenzungspolitik nicht durchlöchern bzw. unterlaufen. Das sollte auch die neue Bundesregierung bedenken. Deutschland wird sich jedenfalls im Interesse der Erhaltung des Inneren Friedens von manchen lieb gewordenen liberalen Positionen in der Ausländerpolitik verabschieden müssen. Sonst wachsen uns
176
BGBl. I, 2094. Vgl. dazu das Eingliederungsanpassungsgesetz vom 22. Dezember 1989 (BGBl. I, 2398). 178 In den GUS-Staaten werden Entwicklungsfonds angelegt und „Deutsche Häuser" als Informations- und Begegnungsstätten eingerichtet (vgl. Delfs, S.: Heimatvertriebene, Aussiedler, Spätaussiedler, in: Politik und Zeitgeschichte Β 48 1993, S. 3-11); mit Polen, Ungarn und Rumänien wurden sog. Nachbarschaftsverträge geschlossen, die auch „Klauseln über Minderheitsrechte enthalten" ( D e l f s aaO, 8 f). 179 BMI 1997 aaO (Fn. 20), 62. 180 Vgl. dazu vor allem das Durchführungsabkommen vom 19. Juni 1990 (BGBl. 1993 II, 1013 f). 181 Von den Neuzuwanderern haben (bis 1996) 1,26 Mill, eine befristete Aufenthaltserlaubnis und 1,83 Mill, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten (BMI aaO, Fn. 13, 35). 177
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die Probleme über den Kopf. Die Toleranz gegenüber zugewanderten Ausländern nimmt übrigens auch in den europäischen Nachbarländern, die mit ähnlichen Problemen zu tun haben, ab 182 , und zwar deshalb, weil die mit der Immigration verbundenen Probleme dort ebenfalls zunehmen183. Zu den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gehören die Ausweisung (§ 45 AuslG) und die Abschiebung (§ 49 AuslG). Die Ausweisung begründet eine Ausreisepflicht. Folgt der Betroffene dieser nicht freiwillig, kommt die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht in Betracht: also die Abschiebung, falls keine Duldung diese verhindert. Zur Vorbereitung oder Sicherung der Abschiebung sieht § 57 AuslG die Abschiebungshaft vor. Als Abschiebungsgründe kommen z.B. in Frage: die Ablehnung des Asylantrags sowie die Begehung von Straftaten und die Ausübung der Gewerbsunzucht. Nach der Änderung des AuslG. vom 29. Oktober 1997 184 ist die Ausweisung bzw. Abschiebung in bezug auf solche Straftäter sogar zwingend, die wegen schweren Landfriedensbruchs im Rahmen einer verbotenen öffentlichen Versammlung oder eines verbotenen Aufzuges verurteilt werden, ohne daß es auf die Dauer der verhängten Verurteilung ankommt (§ 47 AuslG). 1996 wurden lediglich 32 100 Personen, darunter 14 484 (abgelehnte) Asylbewerber abgeschoben185. Da die Anerkennungsquote regelmäßig unterhalb der 8 %-Marke liegt (1997: 4,9%), fragt es sich, wohin sich der Rest der erfolglosen Asylbewerber, der keine Duldung bekommt, schließlich wendet. Mindestens jeder Fünfte
182 Beispiele: N O Z vom 18. Mai 1996: „Polen will Asylbewerber mit harten Maßnahmen abschrecken"; FAZ vom 14. März 1997: „In Osterreich geht Integration künftig vor Neuzuwanderung. Die Koalition einigt sich auf eine merkliche Einschränkung des Ausländer- und Asylrechts"; N O Z vom 3. November 1997: „Künftig weniger Doppelstaatler - Niederlande verschärfen Gesetze"; N O Z vom 30. Dezember 1997: „Großbritannien läßt Asylbewerber im Ausland warten"; WAZ vom 23. November 1998: „Polen geht hart gegen illegale Einwanderer vor." 183 Beispiele: N O Z vom 22. Februar 1993: „London: Immer mehr rassistische Ubegriffe"; DIE WELT vom 2. März 1996: „Die britische Toleranz stößt bei moslemischen Kindern an ihre Grenzen"; N O Z vom 18. März 1994: „Klima der Kälte im Süden. Zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Italien. Rechte Parteien im Aufwind"; FAZ vom 14. März 1997: „Importierte Konflikte" in den Niederlanden; FAZ vom 11. Dezember 1997: „In Frankreich korrespondiert Einwanderung mit wachsender Gewalttätigkeit" . 184 Vgl. das Gesetz zur Änderung ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29. Oktober 1997 (BGBl. I, 2584). 185 Haberland aaO (Fn. 152), 159.
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taucht wahrscheinlich186 in die Illegalität ab. Wovon leben diese Personen da? Eine nur rhetorische Frage? 21,8 % aller nichtdeutschen Straftäter sind als Illegale in der PKS 187 registriert. Da manche (abgelehnten) Asylbewerber ihre Personalpapiere vernichten, um dadurch die Abschiebung zu erschweren, hat der Bund (auch zur reibungslosen Abschiebung anderer Personen mit vollziehbarer Ausweisungsverfügung) spezielle Rückführungsabkommen z.B. mit Rumänien (1992) und188 Bulgarien (1994), Polen (1993) und Algerien (1997) geschlossen. Nach dem Entwurf einer neuen Novelle zum AsylblG hatte die alte Bundesregierung (Kohl/Kinkel) ferner geplant, Ausländern, die ihre Pässe vernichtet haben, gar keine Unterstützung zum Lebensunterhalt (keine Sozialhilfe) mehr zu gewähren189. c)
Einwanderungsgesetzf
Manche Politiker scheinen schließlich der Meinung zu sein, ein Einwanderungsgesetz (mit Quoten) könnte die Probleme der Zuwanderung lösen. Dabei wird jedoch übersehen, daß ein solches Gesetz auf den bisherigen Zustrom noch zusätzliche Einwanderungsquoten „draufsatteln" würde, es sei denn, man wollte das vom Grundgesetz garantierte Asylrecht abschaffen; aber das will bisher niemand190. Eine Quote wurde (wie schon oben erwähnt) bisher nur für die (deutschstämmigen) Aussiedler festgelegt. Im übrigen weist selbst die EU-Kommission 191 darauf hin, daß die „Festlegung von Quoten kurzfristig keine geeignete Maßnahme zur Lösung der Wanderungsproblematik" darstellen würde. Auch langfristig betrachtet „sollen Quoten (nur dann) erwogen werden, wenn feststeht,
186 Nach einer dpa-Umfrage unter den Bundesländern (zit. nach N O Z vom 10. Februar 1994) war der Aufenthalt von 15 bis 30% der abgelehnten Asylbewerber „unbekannt" . 187 PKS 1997, zit. nach Bulletin der Bundesregierung 1998, 443. 188 Beide Abkommen haben den Zustrom abbremsen können. 1992 waren noch 103 787 Asylbewerber aus Rumänien nach Deutschland gekommen; 1995 waren es nur noch 3 522. Das entspricht einem Rückgang von 96,6 % (die Zahl für Bulgarien: 96,4 %; Haberland aaO, Fn. 152, 154). Neuerdings lassen sich Rumänen ausbürgern, um nicht zurückgeführt werden zu können (FOCUS 11/1998, 66). 189 Vgl. Schuller, Κ.: Werden Flüchtlinge demnächst „ausgehungert"? in: FAZ vom 14. März 1998, 12. 190 Vgl. Hailbronner aaO (Fn. 157). 191 In „Mitteilung der Kommission zum Thema Einwanderung und zum Asylrecht" vom Februar 1994 (zit. nach Haberland aaO, Fn. 152, 122).
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daß der Nutzen die Kosten einer Zuwanderung übersteigt". Ob das schon absehbar ist, ist umstritten192. 2. Strafrechts- und vollzugspolitische a) Verstärkung des
Entscheidungen
Mißerfolgsrisikos
Zu den strafrechtspolitischen Entscheidungen, die die Ausländerpolitik flankieren (müssen), gehört die Erhöhung des Mißerfolgsrisikos für Schlepper, Menschenhändler, Schutzgelderpresser bzw. Bandenmitglieder des Organisierten Verbrechens. Die sinnvolle Richtung wird insoweit durch das OrgKG vom 15. Juli 1992193 und das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994194 bestimmt. Das erstere Gesetz führte u.a. Strafschärfungen für Bandenstraftaten ein, das zweite erhöhte die Strafdrohung für gewerbsmäßige Schleuser und für die Verleitung zur mißbräuchlichen Asylantragsstellung. In diesem Zusammenhang sollte auch daran gedacht werden, für den Täterkeis des Organisierten Verbrechens wegen seiner Gefährlichkeit die Anordnung der Sicherungsverwahrung, von der in Deutschland immer weniger Gebrauch gemacht wird , zu erleichtern. b) Vollzugspolitische
Möglichkeiten
In vollzuglicher Hinsicht muß überlegt werden, ob die Konzeption des Strafvollzuges für die einsitzenden Nichtdeutschen (nicht zuletzt auch im Rahmen des Gebots der Gleichbehandlung) der Realität noch entspricht. Fehre196 stellt darüber hinaus auch die grundsätzliche Frage, ob „die Resozialisierungskonzepte nicht fast ausschließlich an deutschen Normen und deutschen Erziehungsund Bildungsidealen orientiert sind". 192 Das Universitätsinstitut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück meint z.B., daß die Zuwanderung aus demographischen Gründen notwendig ist. Die Bevölkerung würde (so auch die K W l - F o r scher) bis zum Jahre 2020 von 81,5 Millionen auf 79 Millionen Einwohner sinken, was sich negativ aus dem Arbeitsmarkt auswirken würde (vgl. S P I E G E L 2 6 / 1 9 9 6 , 48 f.) Dagegen stehen die Zahlen über arbeitslose Ausländer bzw. solche, die schon heute von der Sozialhilfe leben (vgl. dazu Fn. 148). 193 „Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen .Organisierter Kriminalität' " (BGBl. I, 1302 ff). 194 BGBl. 1,3186. 195 Vgl. dazu Kinzig, J.: Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, Freiburg/Br. 1996, 132. 1% Fehre aaO (Fn. 111), 2; vgl. auch Koepsel, K.: Resozialisierungsziele auf dem Prüfstand, in: Kriminalistik 2 / 9 9 , 81.
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Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der bisherigen Forschung und der Erfahrungen der Praxis wird auch in der Literatur z.B. über folgende Veränderungen der Situation nachgedacht: - die Entscheidung des Ausländeramtes im Ausweisungsverfahren über die Abschiebung schon zu Beginn des Vollzuges verbindlich zu klären 197 , - lageangepaßte Verbesserungen der gegenwärtigen Situation in den Anstalten durchzuführen, - die Einrichtung spezieller Ausländeranstalten 198 oder entsprechender Abteilungen innerhalb einer Anstalt. Die ersten beiden Anregungen dürften grundsätzlich nur Anhänger finden, während die dritte eher auf die Kritik der Praktiker stößt. Im Rahmen der lageangepaßten Verbesserungen tragen Anstaltsleiter und Mitarbeiter (vor allem die Ausländerbeauftragten z.B. aus den Anstalten Werl, Lingen, Hameln und Herford) u.a. folgende (in manchen Anstalten bereits realisierten) Anregungen vor: - erstens: die Bestellung von (hauptamtlichen) Ausländerbeauftragten 199 ; vielleicht sollte man auch eigene Aussiedlerbeauftragte einsetzen; - zweitens: Rechtsvorschriften und Hausordnungen in der Landessprache verfügbar zu machen 200 ; - drittens: Sprachkurse für die Mitarbeiter des Vollzugs (etwa in Zusammenarbeit mit der örtlichen VHS 2 0 1 ), um die Sprachbarrieren (nicht zuletzt gegenüber den Rußlanddeutschen) abzubauen; - viertens: Sensibilisierung der Bediensteten für die Ausländerproblematik durch entsprechende weitere (problemorientierte) Fortbildungsmaßnahmen 202 , in deren Rahmen auch über kulturspezifische Besonderheiten informiert wird; - fünftens: Deeskalationsprogramme im Vollzug (wie sie z.B. in der Jungtäteranstalt Vechta versucht worden sind) auszuprobieren;
197 So Bukowski aaO (Fn. 74), 227, Walter aaO (Fn. 47), 303; Böhm aaO (Fn. 114), 140. 198 Vgl. Kaiser, G., in: Kaiser, G./Kerner, H.-J./Schöch, H.: Strafvollzug, 4. Aufl., Heidelberg 1992, 284. 199 Fehre aaO (Fn. 111), 4. 200 Fehre aaO (Fn. 111), 5. 201 Vgl. Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 45), 353; solche Kurse werden zur Zeit z.B. in N R W aufgebaut. 202 Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 45), 353; Fehre aaO (Fn. 111), 6. 203 Vgl. Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 202).
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- sechstens: Förderung der Beteiligung ausländischer Gefangener an der Gefangenenmitverantwortung 204 ; - siebtens: Einstellung von Bediensteten, die nicht in Deutschland geboren sind : (eingebürgerte Ausländer 206 ) obgleich nicht überall nur gute Erfahrungen gemacht worden sind: wenn z.B. die Verbundenheit gegenüber den Glaubensbrüdern größer ist als die Loyalität dem deutschen Staat gegenüber; - achtens: bessere Vernetzung der Zusammenarbeit zwischen Anstalt, Ausländeramt und Vollstreckungsbehörde, um das gemeinsame Ziel der Abschiebung besser realisieren zu können; in Betracht kommt auch eine Institutionalisierung in einem entsprechenden Gremium. Aus dem (überbelegten) Jugendstrafvollzug kommt der weitere (neunte) Vorschlag, den § 105 J G G gesetzlich deutlicher als Ausnahmeregelung zu beschreiben. In der Jugend"-Anstalt Hameln waren im März 1998 über 70% der Insassen über 20 Jahre alt (!), also keine Jugendlichen mehr, sondern Heranwachsende oder Jungerwachsene; das galt auch für die einsitzenden Ausländer. Die Wohngruppen haben sich, weil sie nicht mehr genügend betreut werden können (Personalmangel), zu kriminellen Ansteckungsherden entwickelt. Ein Anstaltsleiter: „Was sich hier abspielt, dafür reichen Horrorvorstellungen nicht aus". Reine Ausländeranstalten, also solche, in denen nur nichtdeutsche Straftäter (etwa für „jeweils einen bestimmten Sprachbereich") einsitzen, stoßen in der vollzuglichen Praxis auf nahezu 207 einhellige Ablehnung („Horrorszenario"), und zwar primär aus folgenden Gründen: - die Kommunikationsmöglichkeiten würden (schon wegen der Sprachprobleme) erschwert: die Bediensteten würden „nichts mehr mitbekommen"; die deutschen „Pufferkräfte", die (für Informationen) hilfreich wären, würden entfallen. Damit könnten die Möglichkeiten zu rascher Krisenintervention verbaut werden;
Finkbeiner u.a. aaO (Fn. 202); in der Regel bereits der Fall. Finkbeiner H.a. aaO (Fn. 202). 206 In einigen Anstalten gibt es sie schon: in der JVA Lingen sind z.B. drei Arzte (Araber, Inderin, Russin mit früher anderem Paß) und ein AVD-Mitarbeiter (früher Iraker), die auch als Dolmetscher eingesetzt werden können, mit Erfolg tätig. 207 Befürworter entsprechender Modellvorhaben verweisen z.B. darauf, daß in den reinen Abschiebeanstalten die befürchteten Spannungen ausblieben und in Ausländeranstalten Straftäter, denen die Abschiebung droht, spezifisch besser betreut werden könnten. 204
205
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- die Anstalten könnten auf diese Weise zu (unkontrollierbaren) „Brutstätten des Verbrechens" verkommen, in denen - keine Bediensteten mehr zur Arbeit bereit wären. Das „Sicherheitsrisiko wäre zu groß". So hat man in der JVA Lingen z.B. die Erfahrung (in einer Teilanstalt) gemacht, daß die Konzentration von Nichtdeutschen jedenfalls dann, wenn diese die Mehrheit der Gefangenen in der Anstalt bilden, zu erheblichen Spannungen führt: „Dann knallt's". Besser sei es daher, es bei der Durchmischung der Gefangenen (wie bisher) zu belassen. Resozialisierungsangebote, die (für Gefangene mit Ausweisungsverfügung) in der „gründlichen Vorbereitung auf die Rückkehr in die Heimat erfolgen" könnten (so Kaiser208), werden hingegen z.T. für unrealistisch209, z.T. aber auch für sinnvoll gehalten, soweit (niederschwellige) Kenntnisse vermittelt werden (etwa i.S. des vorgeschlagenen „kleinen Gesellenbriefes"), die der Abgeschobene in seinem Herkunftsland beruflich nutzen kann: wie z.B. Grundkenntnisse des Kfz-Mechanikers oder Maurers: „ein Stück Entwicklungshilfe"210. Auf der anderen Seite wird von Praktikern an die Möglichkeiten erinnert, die der - § 71 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (IRG) 211 (Strafvollstreckung im Herkunftsland) sowie der - § 456a StPO {Absehen von der Strafvollstreckung, wenn abgeschoben wird) eröffnen. Nach § 71 IRG kann ein ausländischer Staat ersucht werden, die Vollstreckung einer in Deutschland gegen einen der Staatsbürger dieses Staates verhängten Strafe (oder Reststrafe) zu übernehmen, also insoweit im Interesse des Verurteilten (der in der Heimat vielleicht öfter besucht werden kann) Vollstreckungshilfe zu leisten212. Die Relevanz dieser Vorschrift ist allerdings recht gering. So kam es z.B. in Niedersachsen 1996 lediglich zu acht solcher Uberstellungen
Kaiser aaO (Fn. 198), 287. Separierungen der Nichtdeutschen in Spezialeinrichtungen wurden übrigens (1983) von 74 % der befragten deutschen Gefangenen befürwortet, während sich die Mehrheit der Ausländer (62 %) die Beibehaltung der integrierten Unterbringung gewünscht hat (Schaffner/Kneip aaO, Fn. 74, 262). 210 Fehre aaO (Fn. 111), 6. 2 . 1 BGBl. 1982 1,2071 ff./2085. 2 . 2 Vgl. dazu Schober, T.: Vollstreckung deutscher Strafurteile im Ausland, in: ZfStrVo 1984, 298-302; nicht nur in Niedersachsen bekommen die Gefangenen ein entsprechendes Merkblatt zu § 71 IRG in die Hand. 208
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in andere Länder: sieben davon in EU-Staaten, eine in die Türkei 2 1 3 . Als Ursachen wurden (in den besuchten Anstalten) u.a. genannt: (erstens) geringes Interesse der Herkunftsländer an der Uberstellung solcher straffällig gewordenen Staatsbürger und (zweitens) geringes Interesse der in Deutschland einsitzenden Ausländer selbst, die Haft im Herkunftsland (also im Vollstreckungsstaat) fortzusetzen. Letzteres hat offenbar wiederum damit zu tun, daß der Strafvollzug im Vollstreckungsstaat in bezug auf die Haftbedingungen vergleichsweise meist schlechter abschneidet als der deutsche, und die Betroffenen darüber hinaus weiterhin daran interessiert sind, Geld nach Hause überweisen zu können, das sie in Deutschland als Arbeitsbelohnung erhalten. Um der Vorschrift mehr Relevanz zu verschaffen, müßte daher in Abs. 2 das Erfordernis der Zustimmung des Betroffenen sowie die Nachteilsklausel (Abs. 2 Nr. 3) eliminiert werden, was politisch allerdings schwer durchzusetzen sein dürfte. Die Vollstreckungsbehörde leitet im übrigen weitere Vorbehalte aus der Erfahrung ab, daß überstellte Gefangene in den Aufnahmeländern alsbald wieder (jedenfalls früher als das in Deutschland der Fall ist) auf freien Fuß gesetzt werden. Der § 456a StPO, der subsidiär 214 ist, kann zur Anwendung kommen, wenn ein ausländischer Gefangener aus Deutschland ausgewiesen werden soll bzw. eine (vollziehbare) Ausweisungsverfügung (mit Abschiebungsandrohung) der zuständigen Ausländerbehörde (Stadt/Landkreis/Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) vorliegt. Die Vollstreckungsbehörde kann dann (ohne daß der Betroffene in diesem Falle zustimmen muß) auf Antrag der Anstalt von der Vollstreckung des Strafrestes absehen. Daß auch von dieser Vorschrift im Ergebnis (bisher) z.B. wiederum in Niedersachsen kaum Gebrauch gemacht wird, hat u.a. mit folgenden Gründen zu tun: (erstens) damit, daß die Ausländerbehörde zum Zeitpunkt der Verbüßung der Halbstrafe die erforderlichen Identitätsnachweise bzw. Personalpapiere noch nicht beschafft hat, was wiederum oft mit der fehlenden Kooperationswilligkeit der Herkunftsländer zu tun hat; (zweitens) mit Bedenken der Strafvollstreckungsbehörde, die sich primär auf generalpräventive Gründe beziehen.
Unterlagen des Nds. MJ vom 16. März 1998. § 71 IRG geht allerdings § 456a StPO vor, d.h.: besteht die Möglichkeit, die Strafe gemäß § 71 Abs. 1 im Ausland vollstrecken zu lassen, kommt § 456a nicht zur Anwendung (so Kleinknecht, T./Meyer; K.\ StPO-Kommentar, 43. Aufl., München 1997, Rdn. 1 zu § 456a StPO). 213
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Kehrt im übrigen ein ausgewiesener Straftäter, dessen Strafe ausgesetzt wurde, wieder ins Bundesgebiet zurück, muß er nach Abs. 2 damit rechnen, daß die Vollstreckung seiner Strafe (gesichert durch einen Vollstreckungshaftbefehl) hierzulande nachgeholt wird. 3. Zur Asyl- und Zuwanderungspolitik
der EU
Nicht zuletzt gehören auch Maßnahmen gegen die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge (insbesondere Programme zur Armutsbekämpfung) zu einer rationalen Kriminalpolitik. Auföauhilfen können in Bürgerkriegsländern helfen (z.B. in Bosnien). Diese Aktivitäten müssen auch andere europäische Staaten (mehr als bisher) mitzutragen bereit sein. Es wirft im übrigen ein merkwürdiges Licht auf die Solidarität der EU-Staaten, wenn man Deutschland die Hauptlast der Zuwanderung überläßt (vgl. oben I). Die entsprechende Diskussion über eine gerechte Lastenverteilung in der EU hat jedoch bisher keine Ergebnisse hinsichtlich konkreter Kriterien erbracht215. Auch die Maßnahmen, die für eine gemeinsame Integrations- und Begrenzungspolitik (die der Vertrag von Amsterdam vorsieht) angezeigt sind, sind noch immer (mehr oder weniger) in der EU-Gemeinschaft umstritten217. Deshalb dürfte sich die Frage aufdrängen, ob Europa nicht (auch insoweit) viel zu früh kommt. Brauchen wir nicht eher eine Konsolidierungsphase218, um die vorhandenen Probleme zu lösen, bevor es um eine Erweiterung der Gemeinschaft219 gehen kann? Wenn man auf diese Weise Zeit gewinnt, könnte man u.a. auch die Harmonisierung der Ausländerpolitik (vielleicht im Rahmen einer „Paketlösung") zu erreichen220 versuchen, die jedoch in Nachverhandlungen so konzipiert werden sollte, daß ein EU-Mitgliedsland noch die „Notbrem-
2 1 5 Die deutsche Bundesregierung hatte (1994) zur solidarischen Lastenverteilung vorgeschlagen, „Richtwerte festzulegen, auf deren Grundlage sich die Mitgliedstaaten zur Übernahme bestimmter Quoten verpflichten" (Haberland aaO, Fn. 152). Dieser Vorschlag wurde bisher nicht akzeptiert (Haberland aaO, Fn. 152). 2 1 6 Der Bundesrat hat dieses Vertragswerk als erster EU-Staat am 27. März 1998 ratifiziert. 2 1 7 Ausführlich dazu Haberland aaO (Fn. 152), 122 ff. 2 1 8 So auch Mertes, M./Prill, N.J. in: FAZ vom 9. Dezember 1994, 11. 2 1 9 Die entsprechenden Verhandlungen begannen Ende März 1998 aufgrund eines Beschlusses der EU-Staaten vom 12. Dezember 1997 mit folgenden Ländern: Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Zypern. 2 2 0 Den Ausgangspunkt bildet der Artikel K.l des EU-Vertrages vom 1. November 1993 (Maastrichter Vertrag), der die Asyl- und Einwanderungspolitik (zusammen mit acht anderen Bereichen) wenigstens als „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" erwähnt.
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se" ziehen kann, wenn ihm die Zuwanderungsprobleme über den Kopf wachsen. Das hat auch der (damalige) Bundeskanzler (Kohl) in einem Schreiben an den EU-Ratspräsidenten (Blair) vom März 1998 noch einmal betont 221 .
221
Zit. nach N O Z vom 16. März 1998, 5.
Über die Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft von weiblichen Strafgefangenen DIETER DÖLLING u n d DIETER H E R M A N N
I. Der Begriff der sozialen Verantwortung in § 2 S. 1 StVollzG Zu den großen Verdiensten, die sich der verehrte Jubilar um die Weiterentwicklung und kritische Begleitung des Strafvollzugs in Deutschland erworben hat, gehören auch das Lehrbuch über den Strafvollzug 1 und die Kommentierung zahlreicher Vorschriften des StVollzG in dem von ihm und Schwind herausgegebenen Kommentar zu diesem Gesetz 2 . Gegenstand der Erörterungen im Lehrbuch und der Kommentierung ist auch der § 2 des StVollzG, der die Aufgaben des Vollzuges der Freiheitsstrafe festlegt und damit zu den grundlegenden Normen des StVollzG gehört. Im vorliegenden Beitrag soll daher der Blick auf einen in § 2 StVollzG verankerten Problembereich gerichtet werden. Nach § 2 S. 1 StVollzG besteht das Vollzugsziel darin, daß der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. S. 2 nennt als zusätzliche Aufgabe des Vollzuges den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Es handelt sich bei § 2 StVollzG um eine Kompromißlösung, die Elemente aus verschiedenen Vorschlägen aufnimmt, die im Rahmen der dem StVollzG vorangegangenen Reformdiskussion unterbreitet wurden. 3 Zu den nicht einfach zu interpretierenden und umstrittenen Elementen der Regelung gehört der Begriff der sozialen Verantwortung in S. 1 der Vorschrift. Es erscheint daher angebracht, der rechtlichen Bedeutung dieses Begriffs nachzugehen und nach seiner praktischen Relevanz im Alltag des Strafvollzugs zu fragen.
1 2 3
Böhm Strafvollzug, 2. Aufl. 1986. Schwind/Böhm (Hrsg.) StVollzG. Kommentar, 2. Aufl. 1991. Schöch in Kaiser/Kerner/Schöch Strafvollzug. Ein Lehrbuch, 4. Aufl. 1992, S. 136.
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Dieter Dölling und Dieter Hermann
Bei der Auslegung des Begriffs der sozialen Verantwortung ist davon auszugehen, daß das vom Vollzug letztlich anzustrebende Ziel in einem Leben des Gefangenen ohne Straftaten besteht, d. h. nach dem Jubilar ein Leben „ohne erhebliche (schwere) Straftaten und ohne ständige Kleinkriminalität" 4 . Die soziale Verantwortung steht nicht als ein weiteres Ziel gleichrangig neben dem Leben ohne Straftaten, sondern bezeichnet „die Art und Weise, in der das Leben ohne Straftaten möglich werden soll" . 5 Soziale Verantwortung ist nach der Konzeption des Gesetzes eine innere Voraussetzung für das angestrebte äußere Verhalten eines Lebens ohne Straftaten. Gemeint ist mit diesem Begriff die Achtung vor den strafrechtlich geschützten Rechtsgütern der anderen Menschen und der Allgemeinheit sowie die Einsicht, daß zum Schutz dieser Güter Rechtsnormen notwendig sind und eingehalten werden müssen.6 Es geht also - wie der Jubilar zutreffend ausgeführt hat - nicht darum, von dem Gefangenen „unangemessene moralische oder sittliche Leistungen" zu verlangen 7 , ihn „zu einem tadelfreien Bürger zu erziehen" 8 oder ihn „an alle vorherrschenden Wertvorstellungen anzupassen" 9 . Vielmehr sollen dem Gefangenen die ethischen Grundentscheidungen vermittelt werden, auf denen die Strafrechtsnormen basieren und die die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschen darstellen. In dem Begriff der sozialen Verantwortung wird weiterhin deutlich, daß der Gesetzgeber den Gefangenen als eigenverantwortliches Subjekt sieht, an den die strafrechtlich geschützten Werte in der Weise herangetragen werden sollen, daß er sie in autonomer Entscheidung akzeptiert und entsprechend handelt. 10 Der Gefangene soll also nicht Objekt der Behandlung sein, sondern es soll in der Auseinandersetzung mit dem Gefangenen Uberzeugungsarbeit geleistet werden. „Gehirnwäsche" und unfreiwillige medizinische oder pharmakologische Manipulationen des Gefangenen sind mit dieser Konzeption unvereinbar und verstoßen gegen seine Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). 1 1 Es geht somit darum, den Gefangenen zu eiBöhm in Schwind/Böhm (o. Fn. 2), § 2 Rdn. 13 a. E. Callies/Müller-Dietz StVollzG. 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 39. 6 Eser FS Peters, 1974, S. 517; Seebode Strafvollzug - Recht und Praxis. 1. Teil: Grundlagen, 1997, S. 105. 7 Böhm in Schwind/Böhm (o. Fn. 2), § 2 Rdn. 13. 8 Hiergegen zutreffend Baumann u. a. Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973, S. 57. 9 Dagegen mit Recht Seebode (o. Fn. 6). 10 Callies/Müller-Dietz (o. Fn. 5); Walter Strafvollzug. Lehrbuch, 1991, S. 56. 11 Schöch (o. Fn. 3), S. 139. 4
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nem selbstverantwortlichen Verhalten im Einklang mit den bestehenden Rechtsnormen zu befähigen. 12 Hierzu muß dem Gefangenen nicht nur der Sinn der Normen verdeutlicht werden, sondern ihm müssen auch die Handlungskompetenzen vermittelt werden, deren er bedarf, um sich normkonform verhalten zu können. Hierzu gehören die Fähigkeiten zur Existenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung ohne Rechtsbruch und zur friedlichen Lösung von Konfliken. 13 Zur Erreichung dieser Ziele kann u. a. auch eine „opferbezogene Vollzugsgestaltung" dienen, die sich bemüht, durch Auseinandersetzung mit den angerichteten Tatfolgen und Ausgleich mit dem Opfer Unrechtseinsicht und Fähigkeiten zur sozial konstruktiven Konfliktbewältigung zu fördern. 14 Die Entscheidung des Gesetzgebers, die soziale Verantwortung als Voraussetzung für ein Leben ohne Straftaten bei der Umschreibung des Vollzugsziels zu nennen, erscheint sachgerecht. Zwar wird die gesetzliche Formulierung in der Begründung des AlternativEntwurfs eines Strafvollzugsgesetzes kritisiert. Die Klausel gehe schon deswegen zu weit, „weil die Befähigung zur sozialen Verantwortung im Rechtsstaat nicht mehr legitimer Zweck eines staatlichen Strafvollzugs sein kann und weil der Vollzug unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und des Ubermaßverbotes stehen muß" 1 5 . Diese Kritik geht jedoch fehl. Aus empirisch-kriminologischer Sicht läßt sich die begriffliche Trennung zwischen „sozialer Verantwortung" und „Leben ohne Straftaten" kaum aufrechterhalten 16 . Nach empirischen Befunden ist nachhaltige Kriminalität häufig in einen durch die Vernachlässigung sozialer Pflichten gekennzeichneten Lebensstil eingebunden, 17 der die Delinquenz als Symptom mangelnder sozialer Verantwortung erscheinen läßt. Der Ubergang zu einem Leben ohne Straftaten gelingt oft über die Begründung sozialer Bindungen, die zu einer sozial verantwortlichen Lebensgestaltung führen. 18 Die innere Bejahung der strafrechtlich geschützten Normen ist nach empirischen Befunden ein Laubenthal Strafvollzug, 2. Aufl. 1998, S. 57. Collies/Müller-Dietz (o. Fn. 5), § 2 Rdn. 37. 14 Böhm in Schwind/Böhm (o. Fn. 2), § 2 Rdn. 13; Rössner/Wulf Opferbezogene Strafrechtspflege, 1984, S. 183 f.; Schöch (o. Fn. 3), S. 138 f.; Wulf ZfStrVo 34 (1985), S. 67 ff. 15 Baumann u. a. (o. Fn. 8), S. 55. 16 Schöch (o. Fn. 3), S. 138. 17 Göppinger Kriminologie 5. Aufl. 1997, S. 309 f., 394 ff.; Walters The Criminal Lifestyle, 1990; White/Walters International Journal of Offender Therapy and C o m parative Criminology 33 (1989), S. 257 ff. 18 Stelly/Thomas/Kerner/Weitekamp MschrKrim 81 (1998), S. 1 0 4 , 1 1 8 . 12 13
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wesentlicher Faktor für konformes Verhalten. 19 Auf die Förderung der Norminternalisierung zu verzichten und neben der Vermittlung persönlicher und beruflicher Fähigkeiten lediglich darauf zu setzen, der Gefangene werde aus Furcht vor Sanktionen von weiteren Straftaten absehen, erscheint weder unter dem Gesichtspunkt wirksamer Behandlung noch unter dem Aspekt der Humanität als eine empfehlenswerte Strategie. 20 Selbstverständlich dürfen die Bemühungen um Förderung der sozialen Verantwortung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht weitergehen, als es für ein Leben ohne Straftaten erforderlich ist. 21 Ahnliche Fragen wie bei der Auslegung des Begriffs der sozialen Verantwortung in § 2 S. 1 StVollzG stellen sich bei der Interpretation des § 91 Abs. 1 J G G , der die Aufgabe des Jugendstrafvollzugs festlegt. Danach soll der Verurteilte durch den Vollzug der Jugendstrafe dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandel zu führen. Den Begriff des rechtschaffenen Lebenwandels verwendet das J G G auch in § 21 Abs. 1. Nach dieser Vorschrift setzt die Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung die Erwartung eines rechtschaffenen Lebenswandels des Jugendlichen voraus. Dagegen wird dieser Begriff in dem die Aussetzung des Restes der Jugendstrafe regelnden § 88 J G G nach der Änderung von § 88 Abs. 1 und 3 durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 22 nicht mehr verwendet. § 88 Abs. 1 und 3 J G G stellen jetzt darauf ab, ob die Aussetzung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann. Auch der Begriff des rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandels in § 91 Abs. 1 J G G ist in dem Sinn auszulegen, daß der Verurteilte u. a. durch Vermittlung der der Rechtsordnung zugrunde liegenden ethischen Grundwerte zu einem Leben ohne Straftaten geführt werden soll. 23 Allerdings wird gegen den Begriff des rechtschaffenen Lebenswandels ins Feld geführt, er sei zu unbestimmt, in seiner Relevanz für die Legalbewährung zweifelhaft und biete „einen vergleichsweise breiten
19 Schock FS Jescheck, 1985, S. 1099; Dölling in Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.) Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle 1. Tb., 1983, S. 73 f. m. w. N. 20 Böhm in Schwind/Böhm (o. Fn. 2), § 2 Rdn. 13; Schock (o. Fn. 3), S. 138. 21 Schöch (o. Fn. 3), S. 139. 22 BGBl. 1,160. 23 Bmnner/Dölling JGG, 10. Aufl. 1996, § 91 Rdn. 7.
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Spielraum zur Durchsetzung solcher von der Majorität der Erwachsenengesellschaft erwünschter Ziele, die mit Bedürfnissen und Interessen der Verurteilten nichts gemein haben müssen" . 2 4 Weiterhin wird geltend gemacht, es müsse dem Staat gleich sein, aus welcher Motivation sich der Bürger rechtskonform verhalte; deshalb sei der Erziehungsauftrag in § 91 Abs. 1 J G G auf eine sozialstaatliche Verpflichtung zu Hilfeangeboten herabzustufen. 25 Gerade bei jüngeren Menschen dürfte aber Legalbewährung praktisch nur über eine innere Bejahung der Rechtsordnung zu erreichen sein, denn junge Menschen werden kaum in der Lage sein, eine rein äußere Anpassung aus Opportunität an eine innerlich abgelehnte Rechtsordnung auf längere Zeit durchzuhalten. 26 Zur Erziehung im Jugendstrafvollzug gehört daher auch die Vermittlung der Grundwerte, die für das Zusammenleben in der Rechtsgemeinschaft konstituierend sind. 27 Die hier vorgenommene Auslegung von § 2 S. 1 StVollzG und § 91 Abs. 1 J G G wird der Rechtsprechung des BVerfG zum Resozialisierungsziel des Strafvollzugs und zur erzieherischen Einwirkung nach dem J G G gerecht. Das BVerfG hat das Resozialisierungsziel dahingehend umschrieben, daß dem Gefangenen „Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung" vermittelt werden sollen und er es lernen solle, „sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen" , 28 Die Durchführung der Resozialisierung erfordert es nach dem BVerfG, durch eine entsprechende Einwirkung auf den Verurteilten „die inneren Voraussetzungen für eine spätere straffreie Lebensführung zu schaffen". 29 Zur Resozialisierung gehört somit nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur die Förderung sozialer Handlungskompetenz, sondern auch die Vermittlung des Willens, von dieser Fähigkeit in sozial verantwortlicher Weise Gebrauch zu machen. Arbeitsweisungen nach dem J G G können nach dem BVerfG einleuchtend und daher aus verfassungsrechtlicher Sicht jedenfalls nicht unvertretbar u. a. damit begründet werden, daß diese Rechtsfolgen „das Verantwortungsgefühl des Erziehungsbedürftigen schärfen" und „ihn den Wert der
Eisenberg JGG, 7. Aufl. 1997, § 5 Rdn. 3, 4. Ostendorf JGG, 4. Aufl. 1997, § 92 Rdn. 11. 26 Daliinger/Lackner JGG, 2. Aufl. 1965, § 21 Rdn. 2; Brunner/Dölling § 21 Rdn. 6 c. 27 Daliinger/Lackner, a. a. O.; Schlechter GA 135 (1988), S. 106, 125. 28 BVerfGE 35, 202, 235; 40, 276, 284. 29 BVerfGE 35, 202, 236; 40, 276, 284 f. 24 25
(o. Fn. 23),
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Rechtsgüter Dritter schätzen lehren" .30 Die Vermittlung rechtsethischer Grundwerte kann daher auch nach der Rechtsprechung des BVerfG als Bestandteil der erzieherischen Einwirkung nach dem JGG angesehen werden. Die Förderung der sozialen Verantwortung des Gefangenen erscheint daher als eine nach dem StVollzG und dem JGG gebotene Komponente der im Vollzug zu entfaltenden Bemühungen um Rückfallverhinderung. Fraglich ist jedoch, inwieweit diese Bemühungen erfolgreich sein können. Es wird vielfach angenommen, daß in den Vollzugsanstalten eine Gefangenensubkultur im Sinne eines eigenständigen Wert- und Normensystems der Gefangenen besteht, das von den allgemein geltenden Werten und Normen abweicht und dem Behandlungsziel entgegenwirkt. 31 Im Vollzug könnte es daher eher zu einer Anpassung der Gefangenen an subkulturelle Normen kommen als zu einer Stärkung konformitätsbegünstigender Einstellungen. Es ist allerdings noch nicht hinreichend geklärt, inwieweit in den deutschen Vollzugsanstalten subkulturelle Strukturen bestehen und inwieweit sich diese gegebenenfalls auf Wertorientierungen und Verhaltensweisen der Gefangenen auswirken. 32 Es erscheint daher angezeigt, der Frage nachzugehen, wie sich die mit dem Begriff der sozialen Verantwortung angesprochenen Einstellungen von Gefangenen im Verlauf des Vollzugs entwickeln. Eine Untersuchung hierzu soll im folgenden dargestellt werden. 33 II. Methoden und Befunde der empirischen Untersuchung Die vorliegende Untersuchung betrifft den Frauenstrafvollzug. 34 Sie fand in den Jahren 1991 bis 1993 in der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd statt, der einzigen Frauenstrafvollzugsanstalt in
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BVerfGE 74,102,127 f. Siehe dazu Kaiser in Kaiser/Kerner/Schöch (o. Fn. 3), S. 62. Näher zur Subkultur im Strafvollzug Kerner in Kaiser/Kerner/Schöch (o. Fn. 3), S. 425 ff.; Walter (o. Fn. 10), S. 182 ff.; Weis in Schwind/Blau (Hrsg.) Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl. 1988, S. 239 ff. 32 Vgl. die zurückhaltenden Beurteilungen von Böhm (o. Fn. 1), S. 109 ff.; Kaiser in Kaiser/Kerner/Schöch (o. Fn. 3), S. 63, und Kerner in Kaiser/'Kerner/Schöch (o. Fn. 3), S. 439. 33 Die Untersuchung wurde gemeinsam mit Dipl.-Sozialwirtin Sigrid Berger, Sozialarbeiterin in der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd, durchgeführt. 34 Die Untersuchung erfolgte mit finanzieller Unterstützung der Gustav-RadbruchStiftung. Hierfür danken wir der Stiftung herzlich. 31
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Baden-Württemberg. 35 Die Untersuchung ist somit nicht repräsentativ für den deutschen Strafvollzug. Insbesondere könnte die Entwicklung der sozialen Verantwortlichkeit bei männlichen Strafgefangenen erheblich von der Entwicklung bei weiblichen Gefangenen abweichen. Da die Thematik jedoch bisher wenig erforscht ist, erscheint es vertretbar, der Fragestellung zunächst für einzelne Gefangenengruppen nachzugehen. Umfangreiche repräsentative Untersuchungen könnten dann auf der Grundlage der in kleineren Studien gesammelten Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen werden. Die Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd verfügte 1991 über 150 Einzelhafträume sowie über Gemeinschaftszellen für 70 Frauen. 36 Im November 1991, dem Zeitpunkt der ersten Befragung im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, waren in der Anstalt 178 Frauen inhaftiert. 141 Frauen befanden sich in Strafhaft (unter Einschluß von zu Jugendstrafe Verurteilten, die im Erwachsenenstrafvollzug untergebracht waren), 22 in Untersuchungshaft und 15 im Jugendstrafvollzug. In der Anstalt lebten Frauen mit Strafen über 2,5 Jahren in kleineren Wohnbereichen zusammen, die von den Hafträumen für Frauen mit kürzeren Strafen räumlich getrennt waren. Die Anstalt verfügte über eine Mutter-Kind-Abteilung für acht Mütter und eine Freigängerabteilung für 14 Frauen. In der Anstalt wurden Hauptschul- und Realschulkurse sowie Computerkurse und Fernkurse angeboten. Es bestand die Möglichkeit, eine Lehre als Malerin oder Schneiderin zu absolvieren. Arbeitsplätze waren in den Bereichen Küche, Wäscherei, Bügelei, im Reinigungsbereich und in der Bibliothek vorhanden. Den Frauen wurden Veranstaltungen im Rahmen eines Sozialen Trainings angeboten, ζ. B. über die Bewerbung für einen Arbeitsplatz. Suchtmittelabhängige Frauen konnten an einer dreimonatigen Arbeitstherapie teilnehmen, die auf eine stationäre Therapie nach Haftentlassung vorbereiten sollte. Als Ansprechpartner standen den Inhaftierten zwei Anstaltspsychologinnen, zwei Anstaltsgeistliche, fünf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, der Suchtberater sowie die 68 Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Vollzugs- und des Werkdienstes zur Verfügung. Um die Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft während des Vollzuges zu erfassen, wurden von November 1991 bis Für die Genehmigung der Untersuchung möchten wir uns bei dem Justizministerium Baden-Württemberg bedanken. Außerdem danken wir der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd für die Unterstützung der Untersuchung. 36 Vgl. zur Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd auch Fischer-Jehle Frauen im Strafvollzug, 1991, S. 43 f. 35
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August 1993 vier Befragungen im Abstand von etwa einem halben Jahr durchgeführt. Es handelte sich um schriftliche Befragungen mit dem gleichen Fragebogen. Zielgruppe der Befragungen waren Frauen in Strafhaft mit ausreichenden Deutschkenntnissen, die bereits mehr als 30 Tage in der Anstalt Schwäbisch Gmünd waren und voraussichtlich noch mindesten sechs Monate Haft zu verbüßen hatten. In der zweiten und dritten Befragung wurden neben den Frauen, die bereits an der ersten und/oder zweiten Welle der Erhebung teilgenommen hatten, zusätzlich die inhaftierten Frauen befragt, die im jeweiligen Befragungszeitpunkt zur Zielgruppe gehörten. Die vierte Befragung richtete sich nur an Frauen, die bereits mindestens einmal befragt worden waren. Hierdurch sollte der Anteil der Mehrfachbefragten erhöht werden. Insgesamt beantworteten 143 Frauen den Fragebogen mindestens einmal, 54 mindestens zweimal und 21 dreimal. Um Merkmalsveränderungen bei einzelnen Befragten feststellen zu können, wurde die Erhebung in der Weise durchgeführt, daß die Angaben einer Befragten in verschiedenen Wellen ihr jeweils zugeordnet werden konnten. Dem besseren Verständnis der Befragungsergebnisse dienten zwei Gruppendiskussionen mit inhaftierten Frauen. Bei der Interpretation der Untersuchungsergebnisse ist zu berücksichtigen, daß in der Erhebung Frauen mit langer Strafdauer überrepräsentiert sind. Während von den befragten Frauen 85 % zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt worden waren, belief sich dieser Anteil an den weiblichen Gefangenen in den alten Bundesländern (ohne Hamburg) am 31.12.1991 auf 64 %. 3 7 Zur Erhebung des komplexen und schwer zu operationalisierenden Merkmals der sozialen Verantwortungsbereitschaft wurde den inhaftierten Frauen eine Anzahl von Sätzen vorgelegt, zu denen sie auf 6-stufigen Skalen Stellung nehmen sollten, die Antwortmöglichkeiten von „ja! stimme völlig zu" bis „nein! lehne vollkommen ab" enthielten.38 Die Konstruktion der Items beruhte auf Skalen von Diekmann zur Messung der Norminternalisierung39 und von Ort-
37 Berechnet nach Stat. Bundesamt (Hrsg.) Fachserie 10 Rechtspflege Reihe 4.2 Strafvollzug - Anstalten, Bestand und Bewegung der Gefangenen 1991,1994 S. 10 f. Inhaftierte mit einer angeordneten Vollzugsdauer von weniger als sechs Monaten wurden von der Berechnung ausgeschlossen, weil sie auch nicht zur Zielgruppe der vorliegenden Untersuchung gehörten. 38 Zum Begriff der Verantwortung und seiner empirischen Erfassung vgl. auch Enderlin Cavigelli Schweizer Frauenstrafvollzug, 1992, S. 23 ff., 59 f., 71 f. 39 Diekmann Die Rolle von Normen, Bezugsgruppen und Sanktionen bei Ladendiebstählen, 1980.
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mann zur Erfassung der Prisonisierung, insbesondere der Einstellung zum Gesetz, 4 0 auf den Umschreibungen des Begriffs der sozialen Verantwortung in § 2 S. 1 StVollzG in der juristischen Literatur 41 und auf Vorstellungen inhaftierter Frauen zu diesem Begriff, die von ihnen mittels Collagen dargestellt worden waren. Durch Faktorenanalysen der Daten der ersten Befragungswelle wurden sechs Dimensionen sozialer Verantwortungsbereitschaft herausgearbeitet: Normakzeptanz, Ordnungsakzeptanz, Wiedergutmachungsbereitschaft, Selbstbestimmung (mit den Unterdimensionen extreme Selbstbestimmung und extreme Fremdbestimmung), Rücksicht (mit den Unterdimensionen Umgang mit Angehörigen und Umgang mit anderen) und Altruismus (mit den Unterdimensionen Hilfsbereitschaft und egoistische Leistungsorientierung). Der Dimension der Normakzeptanz wurden ζ. B. folgende Items zugeordnet: „Die U n ternehmen verdienen so viel, daß es gar nicht ins Gewichts fällt, wenn einmal etwas nicht bezahlt wird", „Bei den heutigen Preisen muß man sich nicht wundern, wenn jemand einen Ladendiebstahl begeht oder seine Rechnungen nicht bezahlt" und „Der Konsum von Heroin müßte eigentlich straffrei sein, denn dadurch wird niemandem geschadet". Zur Analyse der Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft während der Haft wurde zunächst mittels linearer und nichtlinearer Regressionen der Zusammenhang zwischen Veränderungen der einzelnen Komponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft pro Jahr und der bereits verbüßten Haftdauer ermittelt. Hieraus wurde dann eine Funktion berechnet, die den Zusammenhang zwischen den Ausprägungen der einzelnen Komponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft und der Haftdauer beschreibt. 43 Dieses Vorgehen hat den Vorteil, daß auf eine Messung der Merkmale bei Haftbeginn verzichtet werden konnte. Die K o m ponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft wurden zu zwei Zeitmaßen in Beziehung gesetzt: zur bereits verbüßten Haftdauer in Jahren (absolute Haftdauer) und zum relativen Anteil der verbüßten Haftdauer an der von den Frauen erwarteten Gesamthaftdauer (relative Haftdauer). Werden nun die Beziehungen zwischen - absoluter und relativer Haftdauer und den einzelnen Dimensionen der sozialen VerantworOrtmann Resozialisierung im Strafvollzug, 1987, S. 302 ff. Siehe dazu den Abschnitt I. dieses Beitrages. 42 Zu den Items der übrigen Dimensionen vgl. Η ermann/Β erger MschrKrim 80 (1997), S. 370, 376. 43 Zu den Berechnungen im einzelnen siehe Hermann/Berger (o. Fn. 42), S. 377. 40
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tungsbereitschaft betrachtet, zeigt sich, daß nur die Ausprägung der Normakzeptanz von der Haftdauer abhängig ist. Bei allen anderen Dimensionen besteht keine Zusammenhang mit der Haftdauer. Die Beziehungen zwischen absoluter und relativer Haftdauer und Normakzeptanz sind in den Schaubildern 1 und 2 dargestellt. Wie Schaubild 1 zeigt, sinkt die Normakzeptanz in den ersten sechs Monaten der Haft, erhöht sich dann, bis etwa 3,5 Jahre verbüßt sind, und geht anschließend deutlich zurück. Ab dem vierten Jahr ist der Kurvenverlauf allerdings unsicher, weil nur wenige Frauen erheblich länger als vier Jahre inhaftiert waren. Ein ähnlicher Verlauf zeigt sich bei der Beziehung zwischen relativer Haftdauer und Normakzeptanz (Schaubild 2). Nachdem die Normakzeptanz zunächst sinkt, steigt sie an, bis etwa 80 % der Haftzeit vorüber sind, und nimmt dann wieder ab. Das Absinken der Normakzeptanz gegen Ende der Haft ist allerdings nicht zu verzeichnen, wenn nur die Frauen betrachtet werden, die Freiheitsstrafen unter vier Jahren zu verbüßen haben. Schaubild 1: Zusammenhang zwischen absoluter Haftdauer und Normakzeptanz Höhe der
Wird analysiert, welche Variablen außer der Haftdauer mit der Normakzeptanz im Zusammenhang stehen, sind Beziehungen mit dem Alter der inhaftierten Frauen, mit der Deliktsart, wegen der die Verurteilung erfolgte, und mit der Zahl der bisherigen Haftaufenthalte (Straf- und Untersuchungshaft) zu verzeichnen. Die Normakzeptanz ist bei älteren Frauen ausgeprägter als bei jüngeren. Sie fällt bei Frauen, die wegen eines Diebstahls oder eines Betäubungsmitteldelikts zu der Freiheitsstrafe verurteilt wurden, niedriger aus als bei den anderen Straftäterinnen und sie ist um so geringer, je häufiger
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Schaubild 2: Zusammenhang zwischen relativer Haftdauer und Normakzeptanz Höhe der
Haftdauer (relative)
sich die Frauen in Straf- oder Untersuchungshaft befanden. Werden die anderen Komponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft betrachtet, zeigt sich, daß sie teilweise auch mit dem Familienstand und der Berufsausbildung zusammenhängen. Bei verheirateten Inhaftierten mit Kindern und Frauen mit „höherer" Berufsausbildung ist soziale Verantwortungsbereitschaft stärker ausgeprägt. Die Befunde zur Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft während des Strafvollzugs bedürfen wegen der schwierigen Operationalisierbarkeit des Begriffs der sozialen Verantwortungsbereitschaft und einer möglichen Neigung der befragten Frauen, im Sinne einer vermuteten sozialen Erwünschtheit zu antworten, einer vorsichtigen Interpretation. Immerhin weisen die Daten darauf hin, daß einige teilweise geäußerte Annahmen über Veränderungen von konformitätsrelevanten Einstellungen im Strafvollzug zu undifferenziert sein könnten. So ist die These, mit der Dauer der Haft nehme die Prisonisierung im Sinne der Anpassung an eine Gefangenensubkultur und damit die Abwendung von den allgemein anerkannten Normen und Werten kontinuierlich zu, 44 mit den vorliegenden Daten nicht vereinbar. Auch die Annahme von Wheeler, die Prisonisierung verlaufe in Form einer U-Kurve mit verhältnismäßig hoher Ubereinstimmung der Gefangenen mit den Normen des Vollzugsstabes zu Beginn und am Ende der Haft und Entfernung von
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Vgl. Clemmer The Prison Community, 2. Aufl. 1958.
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diesen Normen in der mittleren Phase der Haft, 45 wird von den Befunden der vorliegenden Untersuchung nicht getragen. Vielmehr blieben zahlreiche Komponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft während der Haftdauer im wesentlichen konstant. Erhebliche Veränderungen waren lediglich bei der Normakzeptanz zu verzeichnen. Diese stieg nach einem Absinken zu Beginn des Vollzuges an und ging am Ende der Haft wieder zurück. Das Absinken zu Beginn des Vollzuges könnte darauf beruhen, daß die Frauen die Aufnahme in die Strafanstalt als eine gravierende Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen erleben und sich deshalb bei ihnen eine negative Einstellung gegenüber der Rechtsordnung bildet, die sich in verringerter Normakzeptanz niederschlägt. Im Verlauf des Vollzuges könnte es dann zu einer Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen kommen, die - eventuell unterstützt durch Hilfsangebote der Vollzugsbediensteten und begleitet von der Auseinandersetzung mit der Tat - u. a. dazu führt, daß den Frauen die Freiheitsstrafe in höherem Maße als legitim erscheint als zu Beginn des Vollzuges. Deshalb könnte die Normakzeptanz ansteigen. Dauert der Vollzug jedoch lange an, geht für die Frauen der Bezug der Haft zur Tat verloren. Die Auferlegung des Haftübels durch die Rechtsordnung verliert an Legitimität und die Normakzeptanz sinkt. Der Umstand, daß die Normakzeptanz um so geringer ist, je häufiger die Frauen in Haft waren, könnte u. a. damit zusammenhängen, daß die Frauen jeweils nach der Haftentlassung in schwierige Lebenssituationen kommen und dies eine ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsordnung fördert. 46 Außerdem ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß Frauen mit geringerer Normakzeptanz häufiger gravierende Straftaten begehen und deshalb häufiger inhaftiert werden. Die Tragweite der vorliegenden Befunde ist begrenzt. Die Untersuchung wurde in einer Justizvollzugsanstalt für Frauen mit weniger als 200 Inhaftierten durchgeführt. Insbesondere in Vollzugsanstalten für Männer mit hohen Gefangenenzahlen oder mit Insassen, die sehr stark mit Kriminalität belastet sind, könnten das Konfliktpotential größer und die subkulturellen Strukturen stärker ausgeprägt sein. In diesen Anstalten könnte dann auch die Entwicklung der sozialen Verantwortungsbereitschaft anders verlaufen. Ahnliche Befunde wie in der vorliegenden Untersuchung können aber für Anstalten erwartet werden, die im Hinblick auf die Zusammensetzung der In-
45 46
Wheeler American Sociological Review 26 (1961), S. 697, 706 ff. Hermann/Berger (o. Fn. 42), S. 384.
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sassen und die Ausgestaltung des Vollzuges der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd entsprechen. III. Mögliche Konsequenzen Die erhobenen Befunde geben trotz ihrer eingeschränkten Tragweite Anlaß, einige Überlegungen über mögliche Schlußfolgerungen anzustellen. Die Daten weisen zum einen darauf hin, daß es unter bestimmten Bedingungen jedenfalls nicht von vornherein unmöglich erscheint, die dem Vollzug in § 2 S. 1 StVollzG vorgegebene Aufgabe, auf soziales Verantwortungsbewußtsein der Gefangenen hinzuwirken, zu erfüllen. Es konnte bei den inhaftierten Frauen kein kontinuierliches Absinken der sozialen Verantwortungsbereitschaft während des Vollzuges festgestellt werden. Vielmehr blieben die Komponenten der sozialen Verantwortungsbereitschaft während der Haft überwiegend konstant und war bei der Normakzeptanz sogar über längere Zeit ein Anstieg erkennbar. Der Vollzug bietet daher möglicherweise Chancen für eine Förderung der sozialen Verantwortungsbereitschaft der Gefangenen. Andererseits deuten die Befunde auf die Existenz bestimmter besonders kritischer Phasen im Vollzug hin, in denen zu befürchten ist, daß der Gefangene eine ablehnende Haltung gegenüber dem Vollzug einnimmt und seine soziale Verantwortungsbereitschaft sinkt. Dies gilt zunächst für die erste Zeit der Haft, in der nach den Befunden die Normakzeptanz der befragten Frauen gesunken ist. Dies bedeutet für die Vollzugsbediensteten, daß sie dem neu in die Anstalt aufgenommenen Gefangenen durch rücksichtsvollen Umgang, Beratung und Betreuung helfen müssen, die mit dem Haftantritt verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen.47 Die Aufnahme in den Vollzug darf auf keinen Fall eine „Degradierungszeremonie" werden,48 vielmehr ist dem Gefangenen zu verdeutlichen, daß das Ziel des Vollzuges darin besteht, ihn in die Gesellschaft zu integrieren. Eine weitere kritische Phase tritt nach den erhobenen Befunden ein, wenn der Gefangene eine lange Haftzeit hinter sich gebracht hat und aus seiner Sicht der Bezug der Haft zur Tat verlorengegangen ist. Bei den befragten Frauen war etwa nach 3,5 Jahren Haftverbüßung ein Rückgang der Normakzeptanz feststellbar. Dieser Befund ist zunächst für die Strafzumessung bedeutsam. Soweit Gesichtspunkte des Schuldausgleichs, der Generalprävention und der
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Siehe Böhm (o. Fn. 1), S. 111; Kerner in Kaiser/Kerner/Schöch Vgl. dazu Kerner in Kaiser/Kerner/Schöch (o. Fn. 3), S. 403.
(o. Fn. 3), S. 404.
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Sicherung es zulassen, sollte die Straflänge auf das Maß begrenzt werden, das zur Einwirkung auf den Täter im Vollzug im Sinne der positiven Spezialprävention notwendig erscheint, und sollte eine darüber hinaus gehende Strafdauer, die zu einer Entfremdung des Verurteilten von der Rechtsordnung führen kann, vermieden werden. 49 Geht die vom Gericht verhängte Strafe über die zur Einwirkung auf den Gefangenen angezeigte Dauer hinaus, ist zu versuchen, durch die Aussetzung der Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB oder § 88 J G G die Entlassung zu dem Zeitpunkt zu erreichen, der aus spezialpräventiver Sicht geboten erscheint. 50 Soweit eine Entlassung nicht in Betracht kommt, könnten die Gewährung persönlicher Freiräume im Vollzug, Lockerungen und sonstige Maßnahmen zur Förderung der Außenkontakte möglicherweise einer Abschwächung der Normakzeptanz entgegenwirken. Die praktische Umsetzung dieser Überlegungen wird allerdings dadurch erschwert, daß die Frage, wie sich Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen von Gefangenen während der Haft entwickeln und wann der Zeitpunkt erreicht ist, an dem mögliche positive Entwicklungen sich in das Gegenteil umkehren können, bisher nicht hinreichend erforscht ist. Die vorliegende Erhebung kann möglicherweise einen kleinen Beitrag dazu leisten. Weitere Untersuchungen sind erforderlich. Sie können vielleicht zur Erreichung des in § 2 S. 1 StVollzG vorgegebenen Zieles beitragen, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.
49 Zu den Grundsätzen der Strafzumessung im allgemeinen Strafrecht siehe Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht Allg. Teil Tb. 2, 7. Aufl. 1989, S. 536 ff.; zur Zumessung der Jugendstrafe vgl. Brunner/Dölling (o. Fn. 23), § 18 Rdn. 1 ff. 50 Siehe Schöch (o. Fn. 3), S. 148 f.
5 Behandlungsansätze
Spritzenvergabe im Strafvollzug Forschung zwischen den Fronten in einem kriminalpolitischen Glaubenskrieg
ARTHUR KREUZER
Junge Straffällige und Strafgefangene stehen im Zentrum des Lebenswerks und anhaltenden Schaffens des Jubilars. Sein Wirken reicht dabei von rechtswissenschaftlicher und kriminologischer Arbeit über die Praxis im Strafvollzug und in der Rechtsprechung bis hin zur akademischen Lehre und kriminalpolitischen Beratung. In kollegialer und freundschaftlicher Verbundenheit sei ihm die folgende Darstellung gewidmet. Sie sieht sich dem moderaten, ideologiefernen, praxisnahen wissenschaftlichen und kriminalpolitischen Reformdenken des Jubilars nahe, ebenso den Gegenständen seiner Arbeit. I. Das Forschungsdesign Staatliche Spritzenvergabe an intravenös Drogenabhängige im Strafvollzug ist von kriminalpolitischer Brisanz, in den Grundlagen wissenschaftlich noch nicht erforscht, lediglich in wenigen Modellen neuestens praktiziert, vielerorts kontrovers diskutiert, überwiegend aber wegen rechtlicher, politischer und praktischer Bedenken abgelehnt. Drogenpolitisch ist sie einer Strategie der „Harm Reduction" 1 zuzuordnen, die nachteilige Wirkungen der umfassenden strafrechtlichen Drogenprohibition abzumildern versucht; konkret soll innerhalb der Haft den von gemeinsamer Benutzung infizierter Spritzen ausgehenden Gefahren der HIV- und Hepatitis-Infektionen vorgebeugt werden. Ein zur Zeit vom Verfasser und seiner Mitarbeiterin, Tanja Suleck, bearbeitetes, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenes Forschungsprojekt will die kriminalpolitischen Grundlagen, fer-
1 O'Hare et al., The reduction of drug-related harm, 1992: Bühringer, in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1998, S. 356 f.
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ner die rechtlichen - namentlich strafrechtlichen - Fragen solcher Modelle untersuchen, außerdem Fragen der praktischen Durchführbarkeit. Dabei sollen die Probleme der Voraussetzungen und Implementation eines Modells herausgearbeitet, bisherige Modelle durch Auswertung von Dokumenten und Befragung von Experten vergleichend analysiert, Rechtsfragen durch übliche rechtswissenschaftliche Methoden geklärt und letztlich Hilfen für politische Entscheidungsgremien und die Haftpraxis gegeben werden. Im Rahmen des Projekts ist Mitte 1998 ein Expertenkolloquium mit Vertretern aller Schweizer und deutschen Vergabemodelle und Begleitforschungen sowie einiger Landesministerien, Strafanstalten und eines Hauptpersonalrats durchgeführt worden. Ein zuvor konzipiertes, empirisch breiter angelegtes und exemplarisch auf den hessischen Strafvollzug bezogenes Forschungsprojekt war gescheitert; der Vorsitzende eines Hauptpersonalrats des Allgemeinen Vollzugsdienstes, ein Parlamentarier und ein Journalist hatten in grober Verkennung der Forschungsunterlagen Fehlmeldungen an ein Massenblatt lanciert; dieses hatte dann wahrheitswidrig behauptet, das Forschungsprojekt habe die Einführung einer Spritzenvergabe im hessischen Strafvollzug zum Ziel, und der Verfasser habe mit der Umsetzung bereits begonnen. Die Zugänge für Befragungen bei Bediensteten und Gefangenen der Strafanstalten waren damit verbaut. Die Beteiligten waren nicht zu einer Richtigstellung bereit. Das Forschungsvorhaben mußte daraufhin mehr theoretisch ausgerichtet werden. II. Kriminalpolitische Grundlagen des Forschungsprojekts Die gegenwärtige strafrechtliche Drogenprohibition ist umfassend angelegt. Nahezu alles auf Drogen bezogene Alltagsverhalten von Konsumenten und Drogenabhängigen ist mit Strafe bedroht. Strafrechtswissenschaftlich und kriminalpolitisch ist diese Prohibition äußerst umstritten. 2 Kritisiert werden u.a. die mittelbare Bestrafung selbstgefährdenden Verhaltens, die Konstruktion abstrakter, kaum faßbarer Rechtsgüter und abstrakter Gefährdungsdelikte, die rechtliche und tätsächliche Konzentration der Strafinstrumente auf Konsumenten und Abhängige, Erschwernisse für Therapie, die immensen durch das Prohibitionskonzept gebundenen
2 Vgl. z.B. P. A. Albrecht et al., Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, 1992; Hassemer, JuS 1992, S. 110 ff; Kreuzer, in: Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 177 ff; Nestler, in: Kreuzer, 1998, o. Fn. 1, S. 698 ff.
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Ressourcen, die mangelnde Folgenabschätzung und Wirkungsforschung hinsichtlich des Betäubungsmittelstrafrechts, schließlich die Korrumpierung des Rechts durch rechtsstaatlich fragwürdige Methoden der Untergrundfahndung. Teilweise hat der Gesetzgeber solchen Bedenken Rechnung getragen, indem er z.B. mit den §§ 35 ff BtMG Möglichkeiten geschaffen hat, drogenabhängige Beschuldigte trotz oder im Laufe des Strafverfahrens in eine Therapie überzuleiten, indem er weiterhin ein Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater in § 53 Abs. 1 Nr.3b StPO zugelassen und die Spritzenvergabe - jedenfalls außerhalb des Strafvollzugs - klärend in § 29 Abs. 1 S.2 BtMG als straflos bezeichnet hat. In der Strategiediskussion von Wissenschaft und Politik zur Drogenprohibition haben sich neben den fundamentalen, einander entgegengesetzten Richtungen der strikten strafrechtlichen Prohibition ( „Legal Approach", „War on Drugs") einerseits und deren Beseitigung („Liberal Approach", „Legalisierung") andererseits vermittelnde Richtungen herausgebildet; sie versuchen, vorsichtig Ausuferungen, Schlagseitigkeiten und Härten der Prohibition abzumildern.3 Eine dieser mittleren Richtungen wird als Konzept der „Harm Reduction" bezeichnet. Dazu zählen beispielsweise in einigen Ländern gesetzliche Reduktionen des Drogenstrafrechts, vor allem aber in der Praxis diskutierte, verwirklichte oder wieder aufgegebene Projekte wie die Methadon-gestützte Substitutionsbehandlung, die Duldung offener Drogen-Szenen, bei deren Schließung die Einrichtung von Schutzräumen für Drogenabhängige, die kontrollierte Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige, die Schaffung „niedrigschwelliger" Beratungs- und Therapieangebote, der Spritzenaustausch nahe der Drogen-Szene, schließlich auch die Spritzenvergabe in Haftanstalten. Solche Versuche, Projekte und Modelle der Praxis zur Schadensbegrenzung stoßen zwangsläufig und regelmäßig zu Anfang auf den Widerstand von einigen Strafjustiz-Juristen, Vertretern einer strikten Prohibition in der Politik und in Teilen der Bevölkerung. Sie führen oftmals auch zu Friktionen im Prohibitionssystem, das allerdings von vornherein Ambivalenzen und Brüche aufweist, weil es teils kaum vereinbare Ziele vereinen will und in fundamentalem Widerspruch zur Regelung des Umgangs mit legalen Suchtmitteln
3
Übersicht bei Gebhardt, in: Kreuzer, 1998, o. Fn. 1, S. 583 ff, 638 ff; Kreuzer, in: Neumeyer/Schaich-Walch (Hrsg.), Zwischen Legalisierung und Normalisierung, 1992, S. 179 ff.
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steht.4 Sie entbehren meist auch solider wissenschaftlicher Grundlagen und werden praktisch durchzusetzen versucht, ohne Rechts-, Akzeptanz- und Praktikabilitätsfragen vorher hinreichend geklärt zu haben. Mitunter müssen sie dann wiederum aus politischen oder aber Gründen negativer Wirkungen zurückgenommen werden. In diesen Rahmen einer „Harm Reduction" und in die drogenpolitisch kontroverse, ja polarisierte Grundsatzdiskussion („Glaubenskrieg") gehört auch die Konzeption der Spritzenvergabe im Strafvollzug. Sie geht von der empirisch belegten Tatsache aus, daß viele i.v. Drogenabhängige im Strafvollzug zu finden sind, daß viele i.v. Drogenkonsum in der Haft zumindest gelegentlich fortsetzen, daß dazu Spritzen oder Ersatzgeräte verdeckt beschafft, von vielen gemeinsam benutzt („Stationspumpe", „Needle Sharing") und auf diesem Wege Infektionen mit Tuberkulose, Hepatitis A, B, C und sogar HIV ausgelöst werden. Um solche Infektionswege zu unterbrechen, sollen sterile Spritzen für Betroffene verfügbar gemacht werden. Gegen derartige Projekte erheben sich massive Widerstände. Politiker und Juristen sowie Standesvertretungen von Strafvollzugsbediensteten behaupten, dies sei strafbar, es verstoße gegen die Ziele, Strafvollzug von Drogen freizuhalten, es trage eher zur Ausbreitung von Drogen oder zur Neugier auf Drogen bei, es sei wegen geringen Drogenumgangs oder nicht nachgewiesener Infektionen in der Haft überflüssig oder es konterkariere drogenfreie Therapien und Substitutionsansätze; Anstaltsbedienstete befürchten zudem, mit infizierten Spritzen bedroht zu werden oder sich bei Kontrollen durch versteckte Spritzen zu gefährden; außerdem verlangen sie wegen des mit Spritzenvergabe verbundenen Arbeitsaufwandes zusätzliches Personal. Die meisten europäischen Länder lehnen bislang solche Programme ab, sogar bisher die Niederlande 5 . Lediglich in der Schweiz 6 (im Kanton Bern ist jetzt flächendeckend die Spritzenver-
4 Kreuzer, in: Böker/Nelles (Hrsg.), Drogenpolitik wohin?, 2. Aufl., 1992, S. 129 ff; Schäfer/Schoppe, in: Kreuzer, 1998, o. Fn. 1, S. 1401 ff, 1417 ff. 5 Ubersicht: IURIS, Quaderns de Politica Juridica, Num. 2,1994 (Schwerpunktheft über Infektionskrankheiten im Strafvollzug, insbesondere Aids), Hrsg. Coderch/Silva, Generalitad de Catalunya, Barcelona; Kreuzer, in: Festschrift für Friedrich Geerds, 1995, S. 317 ff; Schäfer/Schoppe, o. Fn. 4. 6 Männerstrafanstalt Oberschöngrün (Solothurn); Männerstrafanstalt Realta (Graubünden); Frauenstrafanstalt Hindelbank (Bern); Nelles et al., Pilotprojekt Drogen- und HIV- Prävention in den Anstalten Hindelbank, Evaluationsbericht, 1995 (eine Auswertung für Realta wird für Ende 1998 erwartet).
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gäbe angeordnet worden 7 ), in Niedersachsen 8 und Hamburg 9 wird Spritzenvergabe seit wenigen Jahren erprobt. In Berlin 10 wird ein Modell noch 1998 umgesetzt; in Schleswig-Holstein 11 , Hessen und Baden-Württemberg 12 hat die Diskussion begonnen. Die Modellprojekte werden wissenschaftlich begleitet. Erste Evaluationsberichte liegen vor. 13 Wegen kurzer Erfahrungszeiten, kleiner Stichproben und beschränkt aussagekräftiger methodischer Ansätze erlauben diese Berichte jedoch noch kaum verallgemeinerbare Aussagen. Zudem sind viele Grundsatzfragen offen. Manche Befunde sind diskrepant oder weisen auf Ambivalenzen hin. Die Implementation der Modelle stößt verschiedentlich auf heftige Widerstände. 14 Mangels Klärung grundsätzlicher rechtlicher und tatsächlicher Fragen, auch wegen der umstrittenen Möglichkeit, Notwendigkeit und Grenzen kriminalpolitischer Fortentwicklung durch Experimente sind bestehende, geplante oder in Aussicht genommene Erprobungen zudem jedwedem Vorwurf ausgesetzt, der sie vorzeitig scheitern lassen könnte; dies selbst dort, wo sie diskutabel erscheinen oder doch im Sinne des „trial and error" bedeutsame Erkenntnisse versprechen. Die Diskussion und Erprobung von Spritzenaustauschprogrammen außerhalb der Haft - heute in Deutschland, anders als z.B. in den USA, verbreitet - oder von Methadon-Substitution - diese zuerst in den USA verbreitet, erst
7 Weisung über die Abgabe sterilen Injektionsmaterials, Polizei und Militärdirektion des Kanton Bern, 01.12.97. 8 Männerhaftanstalt Lingen I, Abt. Groß-Hesepe, Nds. Justizministerum, Erlaß vom 09.07.96; Frauenhaftanstalt Vechta, Nds. Justizministerium, Erlaß vom 26.03.96: Meyenberg/Stöver/Jakob/Pospeschill, Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug, Bd. 1,1996, Bd. 2,1997. 9 Offene Haftanstalt Hamburg-Vierlande, Einsetzungsverfügung der Justizbehörde Hamburg v. 19.02.96; Verlaufsbericht zum 31.12.96, Strafvollzugsamt Justizbehörde Hamburg, 1997; Pape/Böttger/Pfeiffer, Wissenschaftliche Begleitung und Beurteilung des geplanten Spritzentauschprogramms im Rahmen eines Modellversuchs der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Konzeption eines empirischen Forschungsprojekts, (KFN), 1996. 10 „Der Vollzugsdienst" 1997, Heft 1, S. 13, 1998, Heft 1, S. 9. 11 Koalitionsvertrag SPD/Bündnis 90/Die Grünen v. 10.05.1996, „Der Vollzugsdienst" 1998, Heft 1, S. 53. 12 „Der Vollzugsdienst" 1997, Heft 3, S. 8. 13 Nelles et al., (s.o. Fn. 6); Meyenberg/Stöver/Jakob/Pospeschill, (s.o. Fn. 8); eine erste wissenschaftliche Auswertung des Modellprojekts in Hamburg durch die Begleitforschung liegt vor, ist aber noch nicht veröffentlicht (medizinische und sozialwissenschaftliche Evaluation). 14 Vgl. statt vieler für Hessen: „Der Vollzugsdienst" 1997, Heft 5, S. 15.
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jetzt in Deutschland überwiegend akzeptiert - haben das beispielhaft gezeigt.15 Unser Forschungsprojekt soll strafrechtlich/kriminologisch/ strafvollzugswissenschaftlich Vorarbeit für die kriminalpolitische Auseinandersetzung um solche Modelle leisten. Die politische Entscheidung über derartige Modelle kann dadurch keinesfalls überflüssig oder auch nur wesentlich erleichtert, wohl aber besser fundiert und rationaler getroffen werden. Das Lernen am Modell ist nicht ersetzbar und wird letztlich über die Zukunft solcher „HarmReduction" -Richtungen mit entscheiden. III. Stand der Forschung zum Infektionsverhalten im Strafvollzug Forschung über Epidemiologie des Drogenumgangs, HIV-Ubertragungswege im allgemeinen sowie Drogen- und HIV- bzw. Hepatitis-Verbreitung außerhalb von Haftanstalten ist in der Bundesrepublik und in westlichen Ländern vielfältig vorhanden.16 Sehr lückenhaft und widersprüchlich sind noch Forschungsbefunde zur haftinternen Verbreitung i.v. Drogenumgangs und zur HIV- und Hepatitis-Übertragung in der Haft. So schwanken Angaben über die Anteile i.v. Drogenabhängiger in deutschen Haftanstalten zwischen 10 und 60%. 1 7 Die Angaben zur HlV-Prävalenz unter i.v. Drogenabhängigen in deutschen Gefängnissen reichen von 3,5% bis 20%. 1 8 Nach eigenen Schätzungen dürften 1020% der ca. 60.000 Gefangenen i.v. Drogengebraucher sein; etwa die Hälfte von ihnen setzt in der Haft i.v. Drogengebrauch fort. 19
15 Zu Methadon: Biihringer et al., Methadon-Expertise, 1995; ders., in: Kreuzer, o. Fn. 1, 1998, S. 339 ff, 411 ff; Buchta/Schäfer, ZfStrVO, 1996, S. 21 ff; zum Spritzenaustausch: Gebhardt, o. Fn. 3, S. 642 f; Kreuzer, NStZ, 1987, S. 268 ff; ZStW, 1988, S. 786 ff; Suchtgefahren, 1990, S. 214 ff. 16 Übersichten dazu bei Kreuzer, in: Kreuzer, 1998, o. Fn. 1, S. 33 ff, 98 ff, 187 ff; Schäfer/Schoppe, ebenda, S. 1402 ff; jeweils m. w. Nachw. 17 Althoff/Schmidt-Semisch, Wiener Z. f. Suchtforschung 1992, S. 23 ff; Heide, in: Stöver (Hrsg.), Infektionsprophylaxe im Strafvollzug, 1994, S. 9 ff; Jacob/Stöver, in: Jacob/Keppler/Stöver (Hrsg.), Drogengebrauch und Infektionsgeschehen (HIV/ AIDS und Hepatitis) im Strafvollzug, 1997, S. 17 ff; Kaulitzky, in: Festschrift für Thomas Mathiesen 1993, S. 215 ff; Keppler/Nolte/Stöver, SUCHT 1996, S. 98 ff; Koch/ Ehrenberg, in: Stöver (Hrsg.), AIDS und Drogen II, 1992, S. 27 ff; Stöver, KrimJ 1993, S. 184 ff. 18 Kaulitzki, o. Fn. 17, S. 219 ; Schäfer/Schoppe, o. Fn. 16, S. 1417. 19 Kreuzer, in: Kreuzer (Hrsg.), 1998, o. Fn. 1, S. 211; Höhere Schätzungen bei Keppler et al., o. Fn. 17, S. 100.
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Nach Kleiber20 waren 10% der i.v. Drogengebraucher ohne Hafterfahrung HIV-positiv, 26% derjenigen mit Hafterfahrung, 34% derjenigen mit Injizierpraxis in der Haft; dies läßt nicht notwendig auf entsprechend hohe Ansteckungsraten in der Haft schließen, sondern kann an entsprechend längerer Drogenkarriere, an Hafterhöhten Ansteckungsrisiken, aber auch an der ungünstigen Auslese inhaftierter i.v. Drogenabhängiger liegen. Bei einer vertraulichen gezielten Befragung HIV-infizierter Gefangener21 meinten 17%, sich während der Haft infiziert zu haben, 66% verneinten dies, 15% gaben Nichtwissen an. Freilich können Selbsteinschätzungen fehlsam und tendenziös sein. Derartigen eher überzogenen Schätzungen von HIV-Infektionen in der Haft stehen ähnlich tendenziöse Untertreibungen oder Verdrängungen gegenüber. So will man an offizieller Stelle in den Niederlanden bislang nichts wissen von nennenswerten entsprechenden Infektionsrisiken,22 und der Verbandssprecher hessischer Strafvollzugsbediensteter behauptet, solche Infektionen in der Haft beruhten lediglich auf unbegründeten Spekulationen.23 Dieser Palmström-Logik ist eine Expertenäußerung entgegenzuhalten: „Nur wer nicht danach sucht, findet keine während der Haft übertragenen Infektionen." 24 Sind also HIV-Übertragungen in der Haft möglich und wahrscheinlich, doch selten nachweisbar und nicht mit harten Daten belegbar, so gibt es derartige Daten aber jedenfalls über das HIV-Vorkommen in der Haftpopulation. Annähernd repräsentative Daten bietet der seit 1985 bei jeweils um 98% aller hessischen Inhaftierten durchgeführte HIV-Antikörper-Reihentest. 25 Der Test wird bei der Aufnahmeuntersuchung erstmals und weiter halbjährlich bei bislang HIV-negativ-Getesteten durchgeführt. Die Infektionsrate aller Gefangenen ist kontinuierlich rückläufig. Sie ging von 2,8% im Jahr 1985 auf 1,3% Ende 1995 zurück (bei Frauen auf 8,8% Ende 1993). Von den 1993 insgesamt 129 positiv-getesteten hessischen Gefangenen waren zwei Drittel i.v. Drogenabhängige, ein Drittel aus anderen Risikogruppen; 68% waren infiziert ohne Krankheitszeichen, 26%
In: Busch et al. (Hrsg.), HIV-/AIDS und Straffälligkeit, 1991, S. 25 ff. Gähner, Drogenreport, 1991, S. 27 ff; Stöver/Schuller, in: Stöver (Hrsg.) 1992, o. Fn. 17, S. 101 ff, 104. 22 Auskunft eines Vertreters des Niederländischen Justizminiseriums auf unserer Expertentagung 1998. 23 „Der Vollzugsdienst" 1997, Heft 5, S. 15. 24 Zit. nach Keppler et al., 1996, o. Fn. 17, S. 99. 25 Kreuzer, in: Kreuzer (Hrsg.), 1998, o. Fn. 1, S. 211; Schäfer, in : Busch et al., o. Fn. 20, S. 178 ff; Schäfer/Schoppe, in: Kreuzer (Hrsg.), 1998, o. Fn. 1, S. 1417. 20 21
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hatten Krankheitszeichen, 6 % waren manifest Aids-krank. Auf die Bundesrepublik hochgerechnet ist mit ca. 900 HIV-infizierten Gefangenen, davon 200 Frauen, zu rechnen; 600 von ihnen dürften i.v. Drogenabhängige sein. Weitaus höhere Werte werden aus einigen anderen Ländern berichtet. 26 Auch die Gefahr der haftinternen Infektion mit Hepatitisviren rückt verstärkt in den Blickpunkt. Die Hepatitiden Β und C kommen sehr viel häufiger in den Justizvollzugsanstalten vor als in der Normalbevölkerung. Insbesondere Hepatitis C führt oft und gerade bei Drogenabhängigen zu einer chronischen Ausprägung und zu Leberversagen, das tödlich enden kann. 27 Eine medikamentöse Behandlung der Hepatitis gibt es bislang nicht, die Heilungsrate bei Hepatitis C-Infektionen von Erwachsenen liegt unter 50%. 2 8 Auch die Hepatitis-Infektion erfolgt meist durch „Needle Sharing", in selteneren Fällen durch ungeschützten Geschlechtsverkehr. 29 Verhältnismäßig verläßliche Daten zur Hepatitis-Verbreitung in Frauenstrafanstalten liegen mit der exemplarischen Untersuchung von Keppler et al. 30 anhand aller Gesundheitsakten der zwischen 1992 und 1994 inhaftierten Frauen in der Haftanstalt Vechta vor. Es ist die zentrale Hafteinrichtung für Frauen in Niedersachsen. Im Sinne einer Repräsentativität ist einschränkend anzumerken, daß die Anlage einer Krankenakte eine schlagseitige Selektion der Haftpopulation bedeutet, ferner, daß wegen Freiwilligkeit und der Gefangenenfluktuation die Teilnahme an den Tests recht ungleich und bei den Folgetests deutlich geringer war. So ließen sich auf H I V 21% der als i.v. drogengebrauchend geltenden Frauen, 30% der übrigen mindestens einmal testen. Von 1.032 Krankenakten betrafen 358 (34,7%) i.v. Drogengebraucherinnen. Sonstige Drogengebraucherinnen dürften auf andere Art Drogen einnehmen. Die Prävalenzraten für untersuchte Infektionsraten betrugen (jeweils für i.v. Drogengebraucherinnen und die Gegengruppe): H I V 4,9% vs. 0,5%: Hepatitis A 65,6% vs. 34,7%; Hepatitis Β 78% vs. 12,7%; Hepatitis C 74,8% vs. 2,9%. Nur in der kleinen Untergruppe i.v. drogengebrauchender, mindestens zweimal getesteter und in der fraglichen Zeit ununterbrochen inhaftierter Frauen ergaben sich Daten über
Nachw. Kreuzer, in: Kreuzer (Hrsg.), 1998, o. Fn. 1, S. 211 f. Herold, Innere Medizin, 1996, S. 427; Keppler et al., o. Fn. 17; Stöver, in: Stöver (Hrsg.), 1994, o. Fn. 17., S. 13 ff. 28 Herold, o. Fn. 27, S. 421. 29 Keppler et al., o. Fn. 17. 30 Oben Fn. 17. 26 27
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Hepatitisinfektionen in der Haft: 20 der 41 i.v. drogengebrauchenden Frauen mit Serokonversion hatten sich in der Haft infiziert. Insgesamt kann die Forschungslage zur Drogen-Epidemiologie im allgemeinen und zu Infektionswegen für die genannten Infektionskrankheiten als sich bessernd eingeschätzt werden, jedoch als vergleichsweise defizitär im Blick auf die Lage in Haftanstalten. Erwartet man sonst in empirischer Kriminologie und Strafvollzugsforschung Erkenntnisse vorzugsweise aus angelsächsischen Ländern, insbesondere den USA, so wird man hier enttäuscht. In den USA werden die bei uns schon zurückliegenden politischen und wissenschaftlichen Diskussionen über Spritzenaustausch außerhalb der Haft geführt. 31 Wegen des rigider geführten „War on Drugs" sind Widerstände dort noch größer. Uber Drogen, Drogenbeschaffung, Gebrauch, gemeinsame Spritzenbenutzung und subkulturelle Einbindung dieses Geschehens in der Haft gibt es eigene frühere Untersuchungen und neuere Befunde aus Begleitforschungen zur Spritzenvergabe. 32 Befragt wurden in der Strafanstalt Vechta 61 drogenkonsumierende - und wohl abhängige - Frauen, in der Anstalt Lingen I 37 Männer. Da es sich anders als in eigenen Studien - nicht um Intensivinterviews handelte, muß mit eher untertriebenen Angaben gerechnet werden. 75% der Frauen und 94% der Männer nahmen in der Haft weiterhin - wenngleich deutlich weniger und seltener - Heroin, 18% bzw. 38% Kokain, 12% bzw. 4 7 % „Cocktails". Weitere Drogen - durchweg Cannabis, häufig Benzodiazepine und Barbiturate - kamen hinzu. Infektionsriskante Techniken werden überwiegend beibehalten. „Needle Sharing" soll häufiger als außerhalb der Haft vorkommen und wird von 76 % der Frauen und 87 % der Männer angegeben. Oft wird die Weitergabe der eigenen Spritze an drei bis sechs Personen berichtet. Es soll sich regelmäßig um Weitergabe wegen Mangels, nicht um subkultureller Rituale willen handeln. Desinfektionstechniken werden unzureichend angewandt. Beliebt ist das „Drug Sharing"; die aufgezogene Spritze wird nach Strich-Markierungen aufgeteilt; beispielsweise erhalten Drogen- oder Spritzen-Spender die Injektionsmenge bis zu einem Teilstrich für die unmittelbare Injektion.
Vgl. z.B. New York Times v. 05.09.1995, S. 1 und v. 20.09.1995, S. 14. Zu früheren eigenen Untersuchungen zusammenfassend Kreuzer, in: Kreuzer (Hrsg.), 1998, o. Fn. 1, S. 198 ff; neue Befunde z.B. bei Jacob/Stöver, o. Fn. 17; Stuhlmann, in: Jacob et al. (Hrsg.), 1997, o. Fn. 17, S. 31 ff. 31
32
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IV. Ausgewählte Aspekte des Forschungsprojekts 1. Kriminalpolitisches
Lernen am
Modell
Im Rahmen und in der Ausführung zumeist bundesgesetzlicher Vorgaben zum Strafrecht und Strafvollzug erproben einzelne Länder und Strafanstalten gelegentlich Modelle, die oftmals künftige gesetzgeberische Reformen anbahnen. Sie dienen teilweise also der Änderung gegenwärtig geltenden Rechts, teilweise nur seiner Ausfüllung, das Gestaltungsermessen der Justizpolitik des jeweiligen Landes oder der Strafvollzugsverwaltung wahrnehmend33. Solche Aus- und Neugestaltungen im Rahmen geltenden Rechts mit reformatorischem Impetus sind uns seit langem vertraut. Als Beispiele seien erste Jugendgerichte und Jugendstrafanstalten am Jahrhundertbeginn vor Erlaß des R J G G oder Diversionsmodelle im Jugendstrafrecht in den 70er Jahren genannt, ferner vielfältige Reformen in einzelnen Strafanstalten in Abweichung von der damaligen DVollzO in den 60er und 70er Jahren noch lange vor Erlaß des StVollzG, beispielsweise Mutter-Kind-Stationen und Vollzugsöffnungen. Ähnlich steht es um Haft-Vermeideprogramme oder informelle Regeln für Verfahrensabsprachen. Im Bereich der drogenpolitischen Gestaltungen seien die Methadon-Substitution, die Therapieüberleitungen aus der Haft, die externe Drogenberatung, die Spritzenvergabe außerhalb der Haft, die Schutzräume für Fixer in großstädtischen Drogen-Szenen noch vor Änderungen des BtMG erwähnt 34 . Fast immer stoßen solche Modelle auf Widerstände. Grundlegende Einwände stützen sich darauf, die Gesetzesbindung von Politik und Verwaltung würden durchbrochen, das geltende Recht verletzt (Gleichbehandlungsgebot, Bestandskraft des Gesetzesrechts). Rechtsdogmatisch lassen sich solche Einwände mitunter durch teleologische Restriktion in der Interpretation gesetzlicher Hürden entkräften, manchmal auch durch Hinweis auf praktische Notwendigkeiten, veränderte tatsächliche Verhältnisse und Wertungen. Das BVerfG erkennt solche Argumentation gelegentlich an und weist dann ober- oder bundesgerichtliche Verdikte zurück, wie beispielsweise bei der Anerkennung eines gewissen Freiraums für die not33 Viele Vorschläge für Reformmodelle erarbeitete Mitte der 80er Jahre eine kriminalpolitische Arbeitsgruppe des Hess. Justizministers unter Mitwirkung des Verf.; Ubersicht bei: Gross/Schädler (Hrsg.), Kriminalpolitischer Bericht für den Hess. Minister der Justiz, 1989. 34 Vgl. Kreuzer, Suchtgefahren, 1990, S. 214 ff, zur Spritzenvergabe an i.v. Drogenabhängige.
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wendigerweise auf Vertrauen zu Klienten gestützte Drogenberatung 35 . Oft genug bedeutet aber die Einrichtung kontrollierter bereichsspezifischer Erprobungsmodelle zumal im Drogenwesen eine Gratwanderung zwischen konservativem Beharren, gestützt auf vorgebliche gesetzliche Grenzen, und reformatorischer Offenheit, letztlich verbunden mit dem Risiko vorzeitigen Scheiterns, etwa wegen Strafverfolgungsdrucks, Mittelkürzungen oder Boykotts Beteiligter und Betroffener. Betrachtet man die Reformgeschichte und erkennt man, daß gesetztes und gelebtes Recht immer in einem Spannungsverhältnis stehen, dann wird man eine Lanze für die Notwendigkeit einiger Modelle kriminalpolitischen Lernens im Sinne des „trial and error" und die Notwendigkeit evolutionärer Rechtsfortbildung durch Theorie und Praxis brechen. Gesetztes Recht wird allenthalben prozeßhaft fortentwickelt und verändert, nicht immer durch gesetzgeberische Reformen, oft aber durch gezielte praktische Entscheidungen und Praxisversuche. 2. Rechtsfragen Die im Forschungsprojekt zu erörternden Rechtsfragen können hier nur stichwortartig und auswahlhaft skizziert werden. Die verfassungsrechtliche Problematik kann gekennzeichnet werden durch folgende Stichworte: Handlungspflichten des Staates zum Schutze infektionsgefährdeter i.v. drogenabhängiger, aber auch noch nicht Drogen injizierender Gefangener vor Verführung sowie zum Schutze gefährdeter Bediensteter , Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit in der ambivalenten Situation illegalen Drogengebrauchs in der Haft; abwehrrechtliche und auch leistungsrechtliche Dimension der Grundrechte. Die strafrechtlichen Probleme ergeben sich aus dem BtMG, ausserdem aus etwaiger Garantenhaftung der Strafvollzugsleitung gegenüber Gefangenen, Mitarbeitern und der Allgemeinheit in der Gefahrenabwehr 3 . Die Spritzenvergabe ist zu würdigen unter dem Gesichtspunkt strafbaren Verschaffens einer Gelegenheit zum unbefugten Drogenumgang (§ 29 Abs. 1 Nr. 10 BtMG), aber auch im Hinblick auf mögliche Anzeigepflichten von Vollzugsbediensteten
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BVerfG Ε 44, S. 353 ff; dazu Kreuzer, Suchtgefahren 1978, S. 84 ff. Höflich, ZfStrVo 1991, S. 77 ff; Hoffmeyer, G r u n d r e c h t e im Strafvollzug, 1979, S. 110. 37 Hefendehl, ZfStrVo 1996, S. 136 ff. 36
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bei Anhaltspunkten für strafbaren Drogenumgang38. In Bezug auf § 29 Abs. 1 BtMG ist die Bedeutung der Gesetzesänderung in Satz 2 (1992) auf ihre Ubertragbarkeit für den Strafvollzug zu prüfen. Hier besonders kann die Methode der am Normziel des Gesundheitsschutzes und an der Infektionsprophylaxe orientierten teleologischen Restriktion von Strafvorschriften zu Kriterien führen, die zur Straflosigkeit von Spritzenvergabe im Strafvollzug führen und damit wesentliche Einwände gegen solche Modelle neutralisieren.39 Strafvollzugsrechtlich ist eine Spritzenvergabe nach Vollzugszielen und -grundsätzen unter Beachtung von deren Ambivalenzen zu würdigen (§§ 2, 3, Abs. 1 und 2, 56, 81 StVollzG) 40 . Gerade Vollzugsgrundsätze sind aber in diesem Zusammenhang ambivalent interpretierbar; so wollen Schäfer/Schoppe aus ihnen Argumente gegen Spritzenvergabe in der Haft, andere die Verpflichtung zur Spritzenvergabe herleiten.41 Auch sind Aspekte der Vollzugslockerungen, vorzeitigen Entlassungen und Therapieüberleitungen einzubeziehen (§§ 1,15 StVollzG, 57 StGB). 42 Auf unserer Expertentagung zeigte sich hier gleichfalls eine Ambivalenz: In manchen Strafanstalten werden Spritzenbenutzer von Lockerungen generell ausgenommen; andererseits ist in Hamburg sogar ein Vergabemodell im offenen Vollzug eingerichtet worden. Strafvollzugs-organisationsrechtlich stellen sich außerdem Rechtsfragen nach den Kompetenzen von Anstaltsärzten und externer Drogenberatung. Hier und da wurde nämlich haftinterne Spritzenvergabe individuell praktiziert durch diese Dienste. Darf also, so ist rechtlich zu klären, der Gesundheitsdienst - etwa gestützt auf ärztliche Kurierfreiheit - Spritzen vertraulich vergeben? Bedarf er dabei genereller oder individueller Einwilligung durch die Anstaltsleitung? Ist er insoweit an die Schweigepflicht gebunden? Kann die Kurierfreiheit beispielsweise durch justizministerielle Anordnung eingeschränkt werden? 3 8 Vgl. z.B. die problematische Entscheidung Hans. O L G Hamburg, Urt. v. 02.08.1995 - I - 231/95, insb. S. 18 f. 3 9 Vgl. schon Kreuzer, NStZ 1987, S. 268 ff und o.Fn. 34. 4 0 Dazu Expertenkommission Niedersachsen, unter Leitung von Prof. Dr. Rüdiger Meyenberg, Aids- und Hepatitisprävention im Strafvollzug Niedersachsen, Hannover 1995, S. 16 f; testing, in: Stöver (Hrsg.), 1994, o. Fn. 17, S. 59 ff, 62; Pape/Böttger/ Pfeiffer/Luga, Konzeption eines empirischen Forschungsprojekts, K F N , Hannover 1996, S. 53 f; Schäfer/Schoppe, o. Fn. 25, S. 1417 f. 41 Schäfer/Schoppe, o. Fn. 41; andererseits z.B. Jacoh/Stöver, o. Fn. 17; Global Programme on AIDS, W H O Guidelines on H I V Infection and AIDS in Prison, Geneva, 1993; Bulletin des Bundesamts für Gesundheitswesen 1993, S. 880 ff. 42 Kreuzer, 1995, o. Fn. 5, S. 330 ff.
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3. Vergleichende Evaluation unterschiedlicher Spritzenvergabe-Modelle Der komparativen Evaluation bisheriger Spritzenvergabe-Modelle liegt ein Katalog von Vergleichskriterien zugrunde. Er kann wiederum nur stichwortartig aufgezeigt werden. a) Epidemiologische Daten: Die Relevanz von Vergabemodellen setzt Kenntnisse oder Einschätzungen voraus über die Verbreitung des Drogenkonsums und der Einnahmeformen in der Anstalt, ferner über subkulturelle Strukturen des Drogenmarktes. Nach Einführung des Modells sind die Anteile derer festzustellen, die selbst oder über andere an der Vergabe partizipieren. Ferner geht es um Entwicklungen des Drogenumgangs und der Teilnahme am Modell sowie um Daten zum Verlauf alternativer Angebote an Betroffene. b) Auswahl der Anstalt: Zu untersuchen ist, nach welchen Gesichtspunkten Anstalten für Vergabemodelle ausgesucht und welche Anstalten warum vorerst oder endgültig ausgeschlossen werden (z.B. unübersichtlich große, Männer-, Jugend-, Untersuchungshaftanstalten). c) Vergabemodalitäten: Unterschiedliche Ausgestaltungen der Spritzenvergabe-Modelle können sich etwa aus Gesichtspunkten der Anstaltsstruktur ergeben (Männer-/Frauen-/Jugend-, geschlossene und offene, mehr oder weniger gesicherte, größere und kleinere, drogentäterintensive usw. Strafanstalten); ferner können sie aus unterschiedlichen Ansätzen, Anonymität zu erreichen, folgen (z.B. Verteilung von Spritzen über Ärzte, Pfarrer, interne oder externe Beratung; Spritzen aus Automaten in Duschräumen, Spritzenaustauschautomaten, Spritzenhalter in jedem Zellenspind usw.). Nach vorläufigen Erkenntnissen kann insgesamt folgende Hypothese einer Gesetzmäßigkeit formuliert werden: Restriktive, individuelle, persönliche Spritzenvergabe führt zu weniger Verfügbarkeit und Anreiz für etwaige i.v. Drogengebraucher, weil sie sich als solche zu erkennen geben müssen, andererseits zu mehr subkulturellem Druck auf Spritzenerwerber, ihre Spritze anderen zur Verfügung zu stellen; umgekehrt können gut funktionierende Automaten den Bedarf besser abdecken, den Druck zur Weitergabe mindern, jedoch die Anreizwirkung beispielsweise für frühere i.v. Drogengebraucher verstärken, wieder intravenös zu injizieren. d) Akzeptanz: Anfängliche und im Verlauf des Modells sich ändernde Grade der Akzeptanz sind zu untersuchen im Blick auf folgende Bezugsgruppen: injizierende, nichtinjizierende oder nicht mehr injizierende Gefangene; Sozialdienste; Aufsichtsdienste; Per-
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sonalräte; Politik; Öffentlichkeit. Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, daß gut vorbereitete und begleitete Programme auf Zustimmung aller wesentlichen politischen Parteien stoßen können, am ehesten aber von konservativen Parteien und Standesvertretungen des Allgemeinen Vollzugsdienstes, teils massiv, abgelehnt werden. Widerstände bei diesen Gruppen können sich im Verlauf einer „Normalisierung" der Vergabe mindern. Bedienstete haben - sieht man von Standesvertretungen ab- durchaus differenzierte Ansichten, die sie überwiegend im Verlauf eines Modells beibehalten. e) Subkultur. Besonderes Augenmerk verdient die schwer erkundbare subkulturelle „Verarbeitung" solcher Modelle. Wie verändert sich etwa der Wert einer sterilen oder benutzten Spritze im illegalen Anstaltsmarkt? Wie verändert sich das „Needle-Sharing" ? Wie steht es um „Verführungen" durch Verfügbarkeit der Spritze? Wie steht es um das oft beschworene Gefährdungspotential durch legal vergebene Spritzen? Eine erste Annahme wurde unter c) formuliert. Zu Bedrohungen mit vergebenen Spritzen oder versehentlichen Verletzungen ist es bislang in keinem Vergabeprojekt gekommen. Weitergabe regelgemäß erhaltener Spritzen kommt verhältnismäßig häufig vor, seltener allerdings das infektionsriskante „Needle-Sharing". Viele scheuen es, sich durch Teilnahme am Programm als i.v. Drogengebraucher erkennen zu geben. Einzelne Äußerungen belegen zudem einen gewissen Gebrauchsanreiz angesichts leichterer Verfügbarkeit. Andererseits scheint das Infektionsrisiko mit der Spritzenvergabe insgesamt zu sinken. f) Vergabereglement·. Bedeutsam dürfte weiterhin sein, ob und wie ausführlich Bedienstete, Gefangene insgesamt und interessierte Gefangene über Regeln der Vergabe informiert, wie Regelverstöße festgestellt, festgehalten werden, welche Sanktionen für Regelverstöße vorgesehen und tatsächlich angeordnet werden. Regelverstöße können vielfältig sein (z.B. Weitergabe regelgemäß erhaltener Spritzen, Demolieren von Automaten, ordnungswidriges Aufbewahren der Spritze). g) Kontrollniveau: Besonders kritisch ist die Frage zu beurteilen, ob durch Spritzenvergabe das Kontrollniveau in der Anstalt zwangsläufig verändert, abgesenkt oder gegenüber Betroffenen verstärkt wird. Würden Teilnehmer stärker auf den Besitz verbotener Drogen hin durch Zellen-, Personen- oder Urinkontrollen untersucht werden, würde man dem Projekt die Basis entziehen. Kontrollierte man sie weniger, könnte das Projekt Anreizwirkungen für verstärkten Drogengebrauch entfalten. Allgemein wird behauptet, das Kontrollniveau bleibe unverändert oder werde aus anderen Gründen als denen der Spritzenvergabe verändert; beispiels-
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weise kann rigide Urinkontrolle an sich dazu führen, daß Betroffene eher „harte" Drogen als Cannabis nehmen, weil sich Cannabis im Urin wesentlich länger nachweisen läßt; dies kann zu der Konsequenz führen, Urinkontrollen insgesamt seltener oder nicht mehr bezüglich Cannabis zu veranlassen. Die Verläßlichkeit von Auskünften zur Kontrolle und zu ihren Wirkungen dürfte zurückhaltend zu beurteilen sein wegen unterschiedlicher Interessen und Betroffenheit. Weitergabe offiziell erhaltener Spritzen und das Kontrolldilemma für Bedienstete könnten wohl nur vermieden werden, wenn i.v. Drogenabhängige im Sanitätsraum die Spritze zur sofortigen Benutzung und Rückgabe erhielten. h) Verhältnis zu therapeutischen Ansätzen: Zu prüfen ist schließlich, wie sich ein Spritzenvergabeprojekt auf therapeutische Angebote auswirkt: Wie wirkt es sich etwa auf Teilnehmer von haftinterner Methadon-Substitution aus, wie auf Vollzugslockerungen zur Anbahnung externer Therapie, wie auf die Bereitschaft von Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern, an therapeutischer Beratung teilzunehmen? Werden besondere Stationen für Projektteilnehmer gefordert oder umgekehrt für ehemalige i.v. Drogengebraucher, die vor Rückfällen geschützt werden wollen? Entsteht durch Spritzenvergabe ein Druck, auch die injizierte Droge verfügbar zu machen, beispielsweise durch haftinterne Heroinvergabe (sie wird bereits praktiziert in der Schweizer Haftanstalt Oberschöngrün 43 )? V. Zusammenfassung, vorläufige Ergebnisse und Empfehlungen in Thesen 1. These: Spritzenvergabe in der Haft ist als verantwortbarer Beitrag zur „Harm Reduction" zu verstehen. Sie hat keine therapeutische, sondern eine Infektions-präventive Funktion. Sie ist eine gesundheitspolitische Maßnahme. Das schließt nicht aus, daß bestimmte Verteilungsmodalitäten Anknüpfungspunkte für Therapiegespräche und therapeutische Maßnahmen bieten. Man muß betroffenen drogenabhängigen Straftätern außerhalb und erst recht innerhalb der Haftanstalt helfen, selbst wenn sie weiter Drogen nehmen, und zugleich Mitgefangene vor vermeidbaren Infektionen schützen. 2. These: Ohne Ambivalenzen, Konflikte und Widersprüche sind Spritzenvergabeprojekte nicht möglich, aber ebensowenig Verwei43 Kaufmann/Dobler-Mikola, in: Nelles/Fuhrer (eds.), Harm Reduction in Prison, 1997, S. 135 ff; Lichtenhagen, Medical Prescription of Narcotics Research Programme; Final Report of the Principle Investigators, Synthesis Report, Ziirich, 1998, S. 8, 104 ff.
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gerungen haftinterner Abgabe steriler Spritzen. Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber Konflikten und auch negativen Begleiterscheinungen sind in der Organisation, politischen Diskussion und wissenschaftlichen Begleitung solcher Projekte nötig. 3. These: Spritzenvergabeprojekte müssen mit allen relevanten Entscheidungsträgern und Betroffenen vorbereitet und von ihnen mitgetragen sein: politische und Verwaltungsträger, Staatsanwaltschaft, Vollzugsmitarbeiter, externe und interne Drogenberatung, Gefangene. Solche Programme sollten möglichst auch politisch konsensual getragen sein. Sie könnten besser betrieben und untersucht werden, wenn es keine Kampagnen Für oder Wider gäbe, die einen Versuch verfälschen, torpedieren. Hamburg und Berlin zeigen, daß es möglich ist, ebenso die Schweiz. Alle Gruppen sollten sich „lernfähig" und „lernbereit" zeigen. Erfahrung zeigt, daß eine gewisse Normalisierung in der Diskussion, im Klima, in der Akzeptanz mit kontrollierter Handhabung in der Praxis eintritt. Rechtliche Bedenken erscheinen überwindbar. 4. These: Ein neues Spritzenvergabeprojekt muß auf die Gegebenheiten vor Ort in der konkreten Haftanstalt und Gefangenenpopulation, ebenso auf die Bereitschaft der Gruppen (Arzte, Vollzugspersonal, Drogenberatung, Gefangene) abstellen, nicht allein von einem abstrakten Therapiemodell her konzipiert sein. 5. These: In der Gestaltung sollten Einzelgespräche und Aufklärung bezüglich aller Gefangenen ermöglicht werden zu Gesundheitsbelangen, Risiken des Drogengebrauchs und der Infektionen, Spritzenvergabemodalitäten, dies schon in der Eingangsuntersuchung. Ein klares Reglement mit Sanktionen für Regelverstöße sollte vermittelt werden. Bedienstete müssen entsprechend fortgebildet werden. 6. These: Spritzenvergabe und Drogenkontrolle infolge der Drogenprohibition stehen zueinander in einem pragmatisch zu lösenden Widerspruch. Dieser ist einer von vielen Widersprüchlichkeiten in der Drogenpolitik und Haftgestaltung. Die Drogenkontrolldichte muß trotz Spritzenvergabe normal bleiben. Spritzenempfänger dürfen nicht stärker, aber auch nicht nachsichtiger kontrolliert werden. 7. These: Ängste bei Bediensteten, bei i.v. injizierenden Drogengebrauchern, bei nicht oder nicht mehr i.v. injizierenden Gefangenen sind ernst zu nehmen, aber teilweise unbegründet oder minderbar. 8. These: Ein gewisser „Verführungscharakter" freizügigen Angebots steriler Spritzen ist wahrscheinlich; dem steht das wohl größere Risiko des gemeinsamen Gebrauchs infizierter Spritzgeräte mangels verfügbaren sterilen Geräts gegenüber.
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9. These·. Nach wie vor sind einige Fragen der Praxis und für neue Begleitforschungen offen, beispielsweise folgende: Notwendigkeit und Handhabbarkeit von Anonymität im Rahmen der Spritzenvergabe angesichts unentbehrlicher Vertrauensatmosphäre einerseits, subkultureller Kommunikation andererseits; Informationspflichten bei ärztlicher Vergabe gegenüber Anstaltsleitung und Vollzugspersonal; Geeignetheit von Vergabemodellen in Jugend- und Untersuchungshaftanstalten sowie im offenen Vollzug; Struktur und Veränderungen des Kontrollniveaus; Spritzenvergabe im Verhältnis zu Vollzugslockerungen und Therapieüberleitungen; Sonderstationen für Drogenabhängige oder an der Spritzenvergabe partizipierende Gefangene; Spritzenverfügbarkeit im Verhältnis zu „Needle Sharing"; subkulturelle „Verarbeitung" der Spritzenvergabe; „Verführungscharakter" freizügiger Spritzenvergabe. Ansatzweise Klärungen wären bereits möglich, wenn sich für Spritzenvergabe Verantwortliche und Begleitforscher öfter zum Erfahrungsaustausch träfen. Neue Projekte und Begleitforschungen sollten sich akzentuiert noch offener Fragen annehmen, insbesondere prüfen, ob eine individuelle Spritzenvergabe ohne oder mit Heroinverteilung in einem Gesundheitsraum akzeptiert wird und manche der bisher festgestellten negativen Wirkungen vermeiden kann.
Straftäterbehandlung unter Bedingungen äußeren Zwanges RUDOLF EGG
1. Allgemeines zu „Therapie unter Z w a n g " Das Begriffspaar „Therapie" und „Zwang" erscheint vielen Personen sicherlich wie „Wasser" und „Feuer", wie zwei völlig verschiedene, unvereinbare Dinge also, und das naheliegende Wort „Zwangstherapie" löst bei einigen vermutlich sogar Assoziationen an Gehirnwäsche oder andere Foltermethoden aus. Ein Blick in die Fachliteratur zu therapeutischen Verfahren macht deutlich, daß es sich bei dieser negativen Bewertung nicht bloß um spontane, gefühlsmäßige Reaktionen handelt, vielmehr wird der Aspekt der Freiwilligkeit allgemein als ein wesentliches Postulat jedweder Therapie angesehen (vgl. z.B. Heigl-Evers & Heigl, 1989). Umgekehrt gilt Zwang in aller Regel als inakzeptables Mittel zur Förderung, Inanspruchnahme oder Aufrechterhaltung therapeutischer Maßnahmen (vgl. Kette, 1987, S. 252). Als Gründe hierfür werden einmal rechtliche oder rechtsstaatliche Bedenken geäußert. So kommt Franziska Lamott (1984) in ihrer subtilen „Kritik des therapeutischen Strafvollzugs" zu dem Ergebnis, daß eine Behandlung unter Zwangsbedingungen des Justizvollzugs, die sie als „erzwungene Beichte" bezeichnet, letztendlich nur „zur Sublimierung der Gewalt im Gefängnis" beiträgt (a.a.O., S. 263). Auf der anderen Seite ist auch schon aus primär therapeutischer Sicht die Freiwilligkeit der Behandlung eine selbstverständliche Grundvoraussetzung therapeutischen Handelns. Was allerdings ist mit diesem Postulat der Freiwilligkeit gemeint? Konkret geht es um zwei Dinge: • Zunächst heißt Freiwilligkeit in der Therapie, daß ein Klient oder Patient von sich aus, also ohne äußeren Druck, einen Therapeuten aufsucht und mit diesem Ablauf, Dauer, Art, Möglichkeiten und Risiko der Behandlung usw., gegebenenfalls auch die Bezahlung, bespricht und vereinbart. • Ferner bedeutet Freiwilligkeit, daß auch die Beendigung der Therapie, sei es ein regulärer, vorher festgelegter Abschluß oder
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ein vorzeitiger Abbruch, von dem Klienten frei bestimmt werden kann. Demgegenüber schließt Freiwilligkeit der Behandlung eventuelle innere Zwänge eines Klienten in keiner Weise aus. Freiwilligkeit ist in diesem Kontext also nicht gleichzusetzen mit dem Bild eines absoluten, von anderen Kräften nicht beeinflußten freien Willens.1 Im Gegenteil werden ja in einem subjektiven Leidensdruck und in ausgeprägten Anderungswünschen eines Klienten wichtige Voraussetzungen erfolgreicher Therapien gesehen (vgl. z.B. Stemmer-Lück, 1980, Dahle, 1995a). Ausgeschlossen sind bei diesem Verständnis dagegen lediglich äußere Zwänge, also direkte Beeinflussungen durch den Therapeuten, durch dritte Personen oder durch Institutionen in Form von (möglichen) Bestrafungen oder auch positiven Anreizen. Das Paradigma dieser freien Behandlung ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient in ambulanten Praxen, also jenem Bereich therapeutischer Maßnahmen, in dem auch die Psychoanalyse, die klassische Form der Psychotherapie, vor etwa 100 Jahren ihren Ausgangspunkt hatte. Der Hauptgrund für das Freiwilligkeitspostulat ergibt sich bei der Psychoanalyse schon aus dem Kernstück der Behandlung, der freien Assoziation. Diese kann per definitionem nicht erzwungen werden, sondern ist untrennbar gebunden an eine entsprechende innere Bereitschaft des Patienten. Ahnliches gilt für andere, jüngere Formen oder Techniken der Therapie. Unabhängig davon, ob diese auf Prinzipien der Konditionierung beruhen (klassische Verhaltenstherapie), Methoden sozialen Lernens anwenden (Soziales Training) oder humanistisch-psychologische Grundsätze verfolgen (Klientenzentrierte Therapie): In nahezu allen Fällen gilt eine direkte Beeinflussung, ein Zwang zur Therapie, schon methodisch als unmöglich, in jedem Falle aber als ethisch nicht vertretbar. Im strengen Sinne ist dieses Freiwilligkeitspostulat freilich nur für den eigentlichen therapeutischen Prozeß gültig. Dieser läßt sich nicht zwangsweise herbeiführen, sondern bedarf stets der inneren Zustimmung, der Bereitschaft des Klienten. Die Frage der Möglichkeit oder Zulässigkeit äußeren Zwanges ist daher für dieses Kernstück der Therapie im Grunde entbehrlich. Anders sieht es aus mit den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer 1 Sofern ein solch freier Wille überhaupt vorstellbar ist, wäre die betreffende Person sicherlich jenseits einer üblichen Therapieindikation. 2 Die Grundregel lautet, der Patient möge spontan, was immer ihm einfalle, aussprechen: gleichgültig, ob es als unsinnig, unwichtig, peinlich eingeschätzt würde oder den Analytiker und mit ihm zusammenhängende Inhalte beträfe (vgl. Toman, 1978, S. 144).
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Therapie: Dazu zählen die Umstände, die zur Aufnahme einer Behandlung führen oder ihre Inanspruchnahme beeinflussen, ferner die möglichen Konsequenzen, die mit dem Abschluß einer Therapie verknüpft sind. Auch darauf bezieht sich in der Regel, wie oben erwähnt, das Freiwilligkeitspostulat. Allerdings müssen hier in der Praxis, wie sich leicht zeigen läßt, schon bei dem klassischen Setting der ambulanten Psychotherapie verschiedentlich Abstriche gemacht werden. Zur Veranschaulichung ist nach den Umständen zu fragen, die üblicherweise gegeben sind, wenn ein Patient eine psychotherapeutische Praxis aufsucht. Kommt er wirklich aus freien Stücken, veranlaßt ihn zu diesem Schritt also nur sein Leiden, seine psychische oder soziale Problematik sowie die Hoffnung, in der Therapie eine geeignete Hilfe zu finden? Solche Fälle mag es geben, die Regel dürften sie freilich nicht sein. Schon im therapeutischen Erstgespräch wird häufig erkennbar, daß der Ratsuchende zumindest auch, wenn nicht gar überwiegend oder ausschließlich, auf die dringende Empfehlung oder Veranlassung dritter Personen in die Behandlung gekommen ist. Dazu zählen nicht nur wohlmeinende Ratschläge von Bekannten oder Freunden, sondern auch und gerade massive oder ultimative Forderungen, etwa von Partnern, Eltern oder Arbeitskollegen, die es mit dem Betreffenden und seinen Proble men nicht mehr aushalten können oder wollen. Nicht selten versprechen sich diese Personen von der Therapie auch einen gewissen eigenen Gewinn. In der gesamten Erziehungsberatung und Kindertherapie sind solche von anderen veranlaßten (erzwungenen) Therapiesituationen gang und gäbe; und Suchttherapeuten könnten vermutlich weite Teile ihrer Klientel abschreiben, wenn sie auf die tatkräftige Unterstützung von Angehörigen und Freunden ihrer Patienten verzichten müßten. Somit ergibt sich die scheinbar paradoxe Situation, daß Psychotherapie (im engeren Sinne) einerseits von dem Postulat der Freiwilligkeit ausgeht und ausgehen muß, andererseits aber oft auch an ein gewisses Maß an äußeren Druck oder Zwang gebunden ist. Aus diesem Grunde erscheint es falsch und praxisfremd, in idealtypischer Weise zu trennen zwischen einerseits guten, das heißt freiwilligen, ohne jeden äußeren Zwang arbeitenden Therapien und andererseits schlechten, von vornherein abzulehnenden Zwangstherapien. Vielmehr gilt, daß äußerer Druck und Veranlassung durch Dritte, also Fremdbestimmung und Unfreiwilligkeit, oft genug einen wesentlichen Bestandteil des Vor- und Umfeldes therapeutischer Maßnahmen bilden. Keineswegs aber sollte Therapien, die unter Bedingungen äußeren Zwanges veranlaßt werden, generell unterstellt werden,
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daß die Behandlung nicht durchführbar sei oder gegen unabdingbare methodische und ethische Prinzipien der Therapie verstoße. Diese Feststellung sollte freilich nicht dazu führen, den im Grunde richtigen und notwendigen Anspruch auf Freiwilligkeit der Behandlung gänzlich in Frage zu stellen oder gar für entbehrlich zu erklären. Zwangsmaßnahmen und Therapie gehören grundsätzlich nicht zusammen. Allerdings bedarf das Freiwilligkeitspostulat der Präzisierung und Differenzierung, wenn wir nicht bloß bei abstrakten Aussagen über Grundregeln der Therapie stehenbleiben möchten, sondern zu sachlich vertretbaren, praktikablen Wegen kommen wollen. Dazu zählt, den Aspekt der Freiwilligkeit nicht isoliert als eine persönliche Eigenschaft des Klienten oder Patienten zu betrachten, sondern konkret auf jene Interaktionen zu beziehen, die zwischen Therapeut und Klient stattfinden. Des weiteren sollte dabei auch berücksichtigt werden, in welcher Weise die jeweilige Therapie eingebunden ist in einen komplexen Gesamtrahmen, in die Lebensumstände des Klienten. Vor diesem Hintergrund sollten Therapien folgendes gewährleisten: • Die formale Gestaltung der Therapie, also z.B. die Festlegung von Beginn, Ende, Frequenz der Sitzungen etc., kann so zwischen Therapeut und Klient vereinbart werden, daß dabei äußere Vorgaben keine maßgebliche Rolle spielen. • Der Inhalt der therapeutischen Gespräche und Maßnahmen sowie der Verlauf einzelner Schritte sind ebenfalls unbeeinflußt von externen Regelungen. • Eine gewisse Ausnahme dieser von äußeren Zwängen freien Bereiche der Therapie bilden lediglich technische Details wie räumliche, zeitliche und finanzielle Begrenzungen. Sofern diese Bedingungen gegeben sind, wäre es nicht angemessen, pauschal von einer (abzulehnenden) Zwangstherapie zu sprechen. Dies gilt auch dann nicht, wenn die Therapie im Rahmen einer Zwangssituation, also etwa in einem Gefängnis, stattfindet. Dennoch lohnt es sich, in jedem Einzelfall genau hinzusehen und zu prüfen, in welchem Ausmaß Freiwilligkeit des Klienten noch oder nicht mehr gegeben ist und was dies für die konkrete Behandlung bedeutet. Die hier vertretene Position gilt auch - und vielleicht sogar in besonderer Weise - für therapeutische Ansätze, die sich gezielt absetzen wollen von üblichen Handlungsweisen. So wurde in Frankfurt/M. in den 80er Jahren am „Institut für Psychoanalytische Soziotherapie und Kriminalsoziologie" ein Modellprojekt zur Resozialisierung entlassener Strafgefangener durchgeführt, das sich als
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Alternative zum herkömmlichen Strafvollzug verstand (vgl. Reinke &Toussaint 1982). Eine erst nach Beendigung des Therapieprojektes verfaßte juristische Dissertation befaßte sich speziell mit dem Freiwilligkeitsaspekt dieser Behandlungsform (Gutmann 1993). Dabei wird deutlich, daß von den insgesamt 21 aufgenommenen Klienten lediglich fünf ohne richterliche Weisung an dem Projekt teilnahmen. Diese fünf Klienten beendeten die Therapie ausnahmslos vorzeitig durch Abbruch oder Kündigung. Die übrigen 16 Klienten unterzogen sich der Soziotherapie aufgrund einer richterlichen Weisung gem. § 56c Abs. 3 StGB. Diese Weisung durfte zwar damals nur mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden3, doch konnte wegen der damit verbundenen vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft von einer freiwilligen Entscheidung im engeren Sinne sicher keine Rede sein. Alle Klienten mußten außerdem einen Aufenthaltsvertrag unterschreiben, dessen Nichtbeachtung zur Kündigung führen konnte. Bei zwei besonders aggressiven Klienten griff das therapeutische Team zudem zu dem Mittel einer kurzfristigen Einweisung in eine psychiatrische Klinik (a.a.O., S. 136-140). Es ist offensichtlich, daß es bei der Behandlung von Straftätern wie auch bei vielen anderen Therapien unmöglich ist, vollständig ohne äußere Zwänge auszukommen. Gutmann (1993) formulierte dies im Klappentext treffend so: „In Strafrecht und Strafvollzug (kann es) immer nur um ein Mehr oder Weniger, nicht um ein EntwederOder gehen". Im nächsten Abschnitt sollen verschiedene Möglichkeiten der Straftäterbehandlung in Deutschland kurz vorgestellt werden. Dabei werden die rechtlichen Grundlagen sowie die konkrete Umsetzung des jeweiligen Ansatzes Beachtung finden. 2. Straftäterbehandlung - rechtliche Regelungen Welche rechtlichen und praktischen Möglichkeiten der Straftäterbehandlung4 gibt es in Deutschland derzeit? Die nachfolgende Abbildung zeigt eine kurzgefaßte Ubersicht, die nach dem übli-
3 Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl 1998, Teil I, Nr. 6, S. 160) beschränkt diese notwendige Einwilligung des Verurteilten auf Heilbehandlungen, „die mit einem körperlichen Eingriff verbunden" sind. 4 Der Begriff „Straftäter" wird hier der Einfachheit halber untechnisch für all jene Personen verwendet, die (mutmaßlich) eine oder mehrere Straftaten begangen haben, unabhängig von einer bereits erfolgten Verurteilung oder der Frage der rechtlichen Bewertung der Schuldfähigkeit.
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chen Gang eines Strafverfahrens geordnet ist und lediglich Hauptströmungen aufzeigen will. Straftäterbehand I u ng - rechtliche Regelungen -
I
Untersuchungshaft §§ 112 ff StPO
I Einstw. Unterbringung § 126a StPO
2.1 Untersuchungshaft,
Bewährungshilfe
Zu Beginn eines Strafverfahrens steht bei schweren Delikten oder rückfallgefährdeten, behandlungsbedürftigen Personen meist
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die Anordnung von Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) oder die einstweilige Unterbringung in eine psychiatrische Klinik oder eine Entziehungsanstalt (§ 126a StPO). Bereits in dieser Zeit können verschiedene therapeutische oder helfende Maßnahmen einsetzen oder zumindest eingeleitet werden (vgl. Jehle 1985, Kury 1987/88). Das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung ist dabei kein zwingender, oft nur ein vorgeschobener Hinderungsgrund für erforderliche Kriseninterventionen. 5 Im Falle einer Verurteilung sind bei den stationären Sanktionen zwei Hauptrichtungen zu unterscheiden: Jugend- und Freiheitsstrafen sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung (insbesondere §§ 63, 64 StGB). Sowohl Jugend- und Freiheitsstrafen wie auch Maßregelanordnungen gem. §§ 63, 64 StGB können „zur Bewährung" ausgesetzt werden (§ 21 J G G , § 56 StGB bzw. § 67b StGB). Während im zweiten Falle regelmäßig Führungsaufsicht eintritt (§ 67b Abs. 2 StGB), ist die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer (bei Erwachsenen) lediglich eine Kann-Vorschrift (§ 56d Abs. 1: „... wenn dies angezeigt ist, um ihn von Straftaten abzuhalten"). Bei Bewährungshilfe wie bei Führungsaufsicht kann vom Gericht u. a. die Weisung erteilt werden (§ 56c Abs. 3 StGB), - sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen oder - in einem geeigneten Heim oder einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen. Für die gerichtliche Weisung zur Durchführung einer psychooder soziotherapeutischen „Heilbehandlung" (ohne körperlichen Eingriff) ist eine Einwilligung des Verurteilten neuerdings nicht mehr erforderlich (vgl. Fn. 3). Es bleibt abzuwarten, ob diese Neuregelung zu einem Anstieg entsprechender Therapieweisungen führen wird. Zwar läßt sich die genaue Zahl dieser Weisungen den amtlichen Rechtspflegestatistiken nicht entnehmen, doch dürfte es sich dabei in der Vergangenheit, abgesehen von dem ehemaligen Frankfurter Soziotherapie-Projekt (siehe oben), eher um Einzelfälle, nicht um gezielte Programme gehandelt haben. Aus therapeutischer Sicht bedeutet die neue Gesetzeslage übrigens keine wesentliche Veränderung.6 Einerseits wird die Herstellung oder Förderung einer geeig-
5 So ist die Zeit der Untersuchungshaft häufig gekennzeichnet durch Beziehungsabbrüche, Orientierungsprobleme, Suizidgefahren und andere Belastungen. Hier angebotene Hilfen können die aktuelle Situation stablisieren und spätere Behandlungsmaßnahmen vorbereiten und erleichtern. 6 Auch die früher notwendige Einwilligung in die Behandlung dürfte vielfach eher der Hoffnung auf eine günstigere Sanktion (Strafaussetzung statt Strafvollzug) ent-
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neten Therapiemotivation als erstes Ziel und nicht als bereits gegebene Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie von Straftätern in zunehmendem Maße thematisiert (vgl. Dahle 1998, S. 99), andererseits brauchen dauerhaft therapieunwillige Verurteilte nicht befürchten, zwangsbehandelt zu werden, wenngleich sie bei einer Therapieverweigerung mit dem Widerruf der Straf(rest)aussetzung rechnen müssen. 2.2 Strafvollzug,
sozialtherapeutische
Anstalten
Innerhalb des Strafvollzuges gibt es Therapie insbesondere in den sozialtherapeutischen Anstalten und Abteilungen (gem. § 9 StVollzG), aber auch in anderen behandlungsorientierten Abteilungen oder im Rahmen spezieller Kurse, Gruppen, Gemeinschaften etc. Daneben findet in Einzelfällen eine therapeutische Betreuung durch externe Fachkräfte statt. Die Behandlung Strafgefangener ist nicht Selbstzweck, sondern dient - entsprechend dem in § 2 StVollzG festgelegten Vollzugsziel 7 - der Verhinderung neuer Straftaten und damit dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. dazu Böhm, 1986, S. 27ff.). Sozialtherapeutische Anstalten waren zunächst (1969) als weitere Maßregeleinrichtung gem. § 65 StGB a.F. konzipiert worden (vgl. Mauch & Mauch 1971, Rasch 1977, Egg 1984), doch scheiterte dieses Vorhaben Ende 1984 kurz vor dem geplanten Inkrafttreten an verschiedenen, primär finanziellen Schwierigkeiten (vgl. Rasch 1985). In der Folge war dennoch eine Stabilisierung der in den sozialtherapeutischen Einrichtungen geleisteten Arbeit zu verzeichnen, wenngleich sich die Zahl der bestehenden Anstalten und Abteilungen und auch der verfügbaren Haftplätze nur mäßig weiterentwickelte (vgl. Egg 1996a, S. 276). Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung erfolgte bislang lediglich auf Meldung eines interessierten Gefangenen, „wenn die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen einer solchen Anstalt zu seiner Resozialisierung angezeigt sind" (§ 9 StVollzG). Ein Anspruch auf eine solche Behandlung bestand nach dieser Regelung freilich nicht. 8
sprungen sein als einem inneren Leidensdruck und therapiebezogenen Änderungswünschen. 7 § 2, Abs. 1 StVollzG: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen." 8 Zur 1998 erfolgten Reform dieser Regelung siehe unten.
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Eine im Frühjahr 19989 von der Kriminologischen Zentralstelle veranlaßte Umfrage unter allen damals bestehenden 21 sozial therapeutischen Einrichtungen ergab, daß am Stichtag 31.03.1998 850 der insgesamt 917 verfügbaren Haftplätze belegt waren (entspr. 93%). Dabei handelte es sich überwiegend um erwachsene Männer, lediglich 6% der Insassen waren jünger als 21 Jahre, knapp 4% waren Frauen. Bei den Deliktsgruppen der jeweiligen Bezugentscheidungen dominierten Eigentums- und Vermögensdelikte (40%),wobei es sich überwiegend (58%) um Raub und Erpressung handelte. Weitere Hauptgruppen waren Sexualdelikte (überwiegend Vergewaltigung und sexuelle Nötigung) mit einem Anteil von 26% und Tötungsdelikte (23%). Mehr als die Hälfte der Gefangenen verbüßte Freiheitsstrafen über 5 Jahre. Diese Zahlen zeigen, daß es sich bei den Insassen sozialtherapeutischer Einrichtungen nicht um eine Durchschnittspopulation des regulären Strafvollzuges handelt; die gesetzgeberische Intention, Sozialtherapie primär für besonders gefährliche Straftäter vorzusehen, scheint zumindest bezüglich dieser formalen Kriterien erfüllt zu sein.10 Bei den angewandten therapeutischen Verfahren handelt es sich um eine breite Palette unterschiedlicher Verfahren und Methoden, die nach dem Eindruck des Verfassers mehr oder minder gut zu einem „integrativen" Ansatz verknüpft werden (vgl. Baulitz et al., 1980). Die in den Anfangsjahren wiederholt zu beobachtende Haltung, jeder macht das, was er gerade kann, scheint aber inzwischen mehr und mehr gemeinsam entwickelten, differenzierten Therapiekonzepten gewichen zu sein. Ein genauer Vergleich der praktischen Arbeit ist jedoch aufgrund solcher schriftlichen Konzepte kaum möglich, da Gestaltung und Begrifflichkeit sehr heterogen sind und auch viel Interpretationsspielraum lassen. Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) enthält für die Gestaltung der sozialtherapeutischen Einrichtungen nur einige wenige Sonderregelungen. Dazu zählt insbesondere § 124 StVollzG: Urlaub zur Vorbereitung der Entlassung. Dieser durch den Anstaltsleiter erteilte Sonderurlaub kann sich auf einen Zeitraum bis zu 6 Monate erstrecken und wird nach den Ergebnissen einer 1992 durchgeführten Umfrage der Kriminologischen Zentralstelle (s. Egg & Schmitt, 1994) offenbar häufig genutzt. Dagegen findet § 125 StVollzG, der eine Aufnah-
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Zur Stichtagserhebung 1997 vgl. Egg & Schmidt (1998). Allerdings folgt aus dem Strafmaß und der Schwere des Bezugsdelikts selbstverständlich noch keine eindeutige Therapieindikation und auch keine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit. 10
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me Entlassener auf freiwilliger Grundlage ermöglicht, praktisch keine Anwendung (a.a.O., S. 40). Ein Schattendasein fristet auch § 126 StVollzG, der die nachgehende Betreuung Entlassener regelt (vgl. auch Egg & Schmidt, 1998, S.133). Dies scheitert meist schon an den dafür nicht vorhandenen Fachkräften, doch auch das traditionelle Denken in festen Zuständigkeiten (stationär/Strafvollzug - ambulant/Bewährungshilfe) dürfte ein nicht geringes Hindernis sein. Nach Jahren relativer Ruhe und einem nur mäßigen Ausbau der sozialtherapeutischen Einrichtungen geriet mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26.01.1998 unerwartet Bewegung in die Diskussion dieser Form der Straftäterbehandlung (vgl. Dessecker, 1998, Schöch, 1998). So wurde § 9 StVollzG, der bisher lediglich eine Verlegung auf Antrag des Gefangenen und mit Zustimmung des Anstaltsleiters vorsah, dahingehend ergänzt, daß Sexualstraftäter mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden sollen (ab dem Jahre 2003 zu verlegen sind), wenn diese Behandlung angezeigt ist. Damit wird die sozialtherapeutische Behandlung für zahlreiche Sexualstraftäter zu einer verpflichtenden Maßnahme im Interesse eines verbesserten Opferschutzes. Dennoch wäre es verfehlt, pauschal von einer Zwangstherapie zu sprechen. Zum einen sieht das Gesetz eine individuelle Indikationsstellung vor; dazu zählt üblicherweise die grundsätzliche Bereitschaft des Gefangenen (BehandlungsWilligkeit). Zum anderen sind dauerhaft therapieunwillige Gefangene gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 in den Regelvollzug zurückzuverlegen. In jedem Falle aber wird dieses Gesetz die Praxis der sozialtherapeutischen Einrichtungen nachhaltig verändern: Das bestehende Angebot an Therapieplätzen ist nicht ausreichend und muß durch Ausbau oder neue Einrichtungen erweitert werden. Der Anteil an Sexualstraftätern in sozialtherapeutischen Anstalten (vgl. oben) wird ansteigen; dies dürfte sich auch auf das Klima und die Arbeitsmöglichkeiten (z.B. Lockerungspraxis) in den Häusern auswirken. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob die Länder bis zum Jahre 2003 tatsächlich die benötigten Therapieplätze bereitstellen werden oder ob dem geänderten § 9 StVollzG ein ähnliches Schicksal bevorsteht wie dem zwar einstimmig verabschiedeten, aber nie in Kraft getretenen § 65 StGB (vgl. oben).11
11 Ein im Frühjahr 1998 durchgeführte Umfrage der Kriminologischen Zentralstelle unter allen Landesjustizverwaltungen zur geplanten Umsetzung des geänderten
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2.3 Therapeutischer Maßregelvollzug (§§ 63, 64 StGB) Die historisch älteste Form der justitiell veranlaßten und kontrollierten Straftäterbehandlung ist der 1933 eingeführte therapeutische Maßregelvollzug gem. §§ 63,64 StGB. In der heute gültigen Fassung handelt es sich dabei einmal um • die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) für Personen, die eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit ( § 2 1 StGB) begangen haben, „wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist". Die zweite Form des Maßregelvollzuges ist • die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) für alkohol- oder drogenabhängige Verurteile oder nur deshalb nicht Verurteilte, weil die Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, „wenn die Gefahr besteht, daß er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begeht". Anders als der Strafvollzug untersteht der Maßregelvollzug nicht der Justiz-, sondern der Gesundheitsverwaltung. Für die inhaltliche Ausgestaltung des Maßregelvollzuges gibt es auch - abgesehen von den allgemeinen Vorschriften der §§ 136-138 StVollzG - keine bundeseinheitlichen Bestimmungen. Vielmehr obliegt es den Ländern, den Maßregelvollzug gesetzlich zu regeln, entweder in spez. Maßregelvollzugsgesetzen oder innerhalb eines PsychKG (vgl. Volckart, 1997). Dies bedingt teilweise sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, z.B. bezüglich der Gewährung von Lockerungen. Die Zahl der Untergebrachten im psychiatrischen Maßregelvollzug (§ 63 StGB) ging in der Folge einer breit geführten Reformdiskussion seit den 60er Jahren deutlich zurück und lag ab etwa 1980 bei rd. 2.500 Personen. Seit einigen Jahren ist jedoch wieder ein Anstieg auf über 2.900 Personen (in den alten Bundesländern 12 ) zu verzeichnen. Im Maßregelvollzug für Suchtkranke (§ 64 StGB) waren dagegen bis in die 70er Jahre deutlich weniger Personen untergebracht. In der Folgezeit stiegen die Belegungszahlen jedoch deutlich an - von vorher etwa 150-200 Personen auf knapp 1.500 Personen § 9 StVollzG ergab jedoch durchwegs positive Signale in Richtung auf einen zügigen Ausbau der sozialtherapeutischen Anstalten. 12 Zur Situation in den neuen Bundesländern siehe Dahle (1995b), Egg (1996b).
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(vgl. Dessecker, 1997, S. 28-31). In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei nach der Strafvollzugsstatistik um alkoholabhängige Personen, wenngleich mit zahlenmäßig abnehmender Tendenz (vgl. Leygraf, 1996, S. 62). Die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug (§ 63 StGB) erfolgt im wesentlichen in drei verschiedenen Einrichtungstypen (vgl. Leygraf, 1988, S. 138ff.): • gesicherte Stationen psychiatrischer Landeskrankenhäuser, in denen oft auch besonders „schwierige" Patienten der Allgemeinpsychiatrie untergebracht sind (ca. 20% aller Plätze), • selbständige forensisch-psychiatrische Abteilungen in psychiatrischen Großkrankenhäusern (ca. 40%), • eigenständige, d.h. unabhängig von der Allgemeinpsychiatrie arbeitende forensisch-psychiatrische Spezialkrankenhäuser (z.B. Haina (Hessen), Düren (Rheinland) und Eickelborn (Westfalen-Lippe). Mit der Praxis des psychiatrischen Maßregelvollzuges befaßte sich eine Mitte der 80er Jahre durchgeführte Studie von Leygraf (1988). Dabei wurden zahlreiche Mängel der Einrichtungen deutlich, von denen hier nur einige wenige genannt seien: - Ausgrenzung der Maßregelvollzugskliniken aus der allgemeinen Psychiatrie statt Integration (wie von der Psychiatrie-Enquete 1975 gefordert), - geringe personelle Ausstattung (für akademische Mitarbeiter: 1:25 statt 1:12,5), vor allem bei den forensischen Stationen, - schlechte räumliche Verhältnisse (große Schlafsäle, mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, überalterte Gebäude). - Neben Bemühungen um ein therapeutisches Gesamtkonzept war häufig ein antitherapeutisches Klima feststellbar: meist galten sehr strenge und feste Regeln. - Aus den Krankenakten war eine negative Voreingenommenheit gegenüber den Patienten ersichtlich. In der Folgezeit war an mehreren Orten eine positive Weiterentwicklung der Maßregelvollzugseinrichtungen feststellbar. So wurden einige Einrichtungen völlig neu gebaut, andere durch Umbauten und Renovierungen modernisiert. Auch die personelle Situation konnte durch Aufstockung von Planstellen und die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter z.T. deutlich verbessert werden. Schließlich gab und gibt es Bemühungen, den traditionellen Stationsstil der Kliniken durch ein sozialtherapeutisch orientiertes Wohngruppenkonzept zu ersetzen. Dennoch besteht weiterhin Bedarf an einer zügigen Fortentwicklung von Unterbringungsweise, Personalausstattung und Therapiekonzept, namentlich bei den klei-
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nen forensischen Abteilungen bzw. Stationen (zu Einzelheiten siehe Leygraf, 1996).13 2.4 Sonderregelungen für drogenabhängige
Straftäter
Die drei bisher genannten rechtlichen Modelle für „Therapien unter Bedingungen äußeren Zwanges" - Bewährungslösung, Vollzugslösung, Maßregellösung - gelten im Prinzip auch für die zunehmend größer werdende Sondergruppe drogenabhängiger Straftäter (vgl. Rautenberg 1998). Allerdings bestehen hier seit der Reform des Betäubungsmittelgesetzes 1982 einige Sondervorschriften (vgl. Egg, 1988, 1992, Kurze, 1994). Dabei geht es einmal um die Möglichkeit eines „Absehens von der Verfolgung" gem. § 37 BtMG. Dies ist eine vorläufige Einstellung des Verfahrens, die dann angewandt werden kann, wenn der Beschuldigte sich bereits in einer drogentherapeutischen Einrichtung befindet, wenn seine Resozialisierung und auch keine höhere Strafe als zwei Jahre Freiheitsentzug zu erwarten ist. Diese relativ engen Voraussetzungen führten - nicht ganz unerwartet - dazu, daß § 3 7 BtMG in der Praxis eine ausgesprochen geringe Rolle spielt. Allerdings dürfte dies vom Gesetzgeber im Prinzip auch so gewollt gewesen sein, denn im Zentrum der Reform stand eindeutig die in den §§ 35, 36 und 38 BtMG geregelte „Zurückstellung der Strafvollstreckung" . Diese Regelung sieht vor, daß die Staatsanwaltschaft (bei Jugendlichen das Gericht) die Zurückstellung der Strafvollstreckung verfügen kann, wenn die Verurteilten eine Jugend- oder Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren zu verbüßen haben und eine Straftat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit vorliegt. Dasselbe gilt für einen entsprechenden Strafrest bei Verurteilten mit längeren Strafen. Die Zurückstellung bedeutet, daß der Verurteilte aus der Vollzugsanstalt entlassen wird und an einem Therapieprogramm zumeist in einer stationären Einrichtung mit staatlicher Anerkennung - teilnehmen kann. Die dort verbrachte Zeit kann gem. § 36 BtMG (teilweise) auf die Strafe angerechnet werden. Voraussetzung für die Zurückstellung ist nicht etwa eine günstige Prognose für den Therapieerfolg, was die Anwendbarkeit stark einschränken würde; es genügt vielmehr, daß der Verurteilte zusagt, sich einer geeigneten Therapie zu unterziehen. Selbstverständlich muß auch deren Be13 Zur Praxis der Anordnung und Vollstreckung der Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB siehe die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung der Kriminologischen Zentralstelle (Dessecker, 1996,1997, Dessecker & Egg, 1995, Gebauer & Jehle, 1993).
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ginn und Durchführung gewährleistet sein, d.h., der Verurteilte muß einen Therapieplatz zur Verfügung haben, und die Finanzierung der Behandlung muß gesichert sein. Wird die Therapie vom Verurteilten abgebrochen, oder wird er aus disziplinarischen Gründen entlassen, so wird die Zurückstellung widerrufen, sofern die Behandlung nicht in einer anderen Einrichtung fortgesetzt wird. Auch danach ist eine erneute Zurückstellung, also ein weiterer Therapieversuch, möglich. Das gesetzgeberische Ziel dieser Vorschrift war nicht, wie dies manchmal formuliert wird, Strafe durch Therapie zu ersetzen („Therapie statt Strafe"), vielmehr wollte der Gesetzgeber an der Strafbarkeit des Drogenumgangs auch bei Drogenabhängigen ausdrücklich festhalten. Eine Strafe sollte jedoch einer Therapie nicht entgegenstehen, sondern als zusätzliches Mittel zur Therapiemotivation dienen („Therapie und Strafe"). Für die Durchführung dieser Drogentherapien stehen bundesweit ca. 120 Einrichtungen verschiedener Träger und unterschiedlicher Größe und Konzeption zur Verfügung (siehe Egg & Kurze, 1991). Wesentliches Element für die staatliche Anerkennung einer entsprechenden Einrichtung ist die Vorlage eines formellen Konzeptes sowie die Bereitschaft, einen Behandlungsabbruch an die zuständige Staatsanwaltschaft zu melden. Die Zahl der jährlichen Zurückstellungen gem. § 35 BtMG stieg seit Mitte der 80er Jahre kontinuierlich an und betrug zuletzt (1997) 4.329. 14 Insgesamt hat sich diese Form der Straftäterbehandlung, die bei ihrer Einführung teilweise deutlich kritisiert wurde (vgl. dazu die Beiträge in Egg, 1988), offenbar praktisch bewährt. Allerdings sind immer wieder geäußerte Überlegungen, eine ähnliche Form der Behandlung auch für die große Zahl der alkoholabhängigen Straftäter zu ermöglichen, bislang noch wenig konkret geworden. 3. Evaluation von „Therapie unter Zwang" Die Therapie von Straftätern soll nicht nur den Betroffenen helfen, einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, sondern dient primär der Verbesserung des Schutzes der Allgemeinheit vor erneuten Straftaten. Insofern muß sich jede Form der Straftäterbehandlung der Frage ihrer Bewährung stellen. Freilich kann es hier schon wegen der verschiedenen Personengruppen, der unterschiedlichen
14 Quelle: Daten zur Betäubungsmittelkriminalität '97. Berlin: Dienststelle Bundeszentralregister, 1998.
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rechtlichen und praktischen Regelungen sowie der jeweils angewandten Therapiemaßnahmen keine einheitliche, allgemeingültige Antwort auf die scheinbar einfache Frage „Ist Straftäterbehandlung erfolgreich?" geben. Für empirische Untersuchungen besser geeignet sind etwa Fragen nach Kriterien eines Behandlungserfolges, nach adäquaten Therapieverfahren für konkrete Gruppen von Straftätern oder nach Vergleichen einzelner Behandlungsansätze. Bezüglich der oben dargestellten Regelungsformen ist die Evaluations- oder Wirkungsforschung bei den sozialtherapeutischen Einrichtungen am stärksten ausgeprägt. Dies liegt zum einen daran, daß es sich hierbei um einen zahlenmäßig überschaubaren Arbeitsbereich handelt. Ferner war dieser seit knapp 30 Jahren bestehende Behandlungsansatz in der Anfangszeit als Versuchs- und Erprobungsweg einer ursprünglich geplanten Maßregellösung gedacht (siehe oben) und wurde deshalb mehrfach von Wissenschaftlern und Institutionen empirisch untersucht. Bereits 1987 legte Lösel eine Meta-Evaluation der bis dahin veröffentlichten Studien zu den Ergebnissen der sozialtherapeutischen Behandlung vor (Lösel et al., 1987). Danach sind die dort zusammengetragenen Ergebnisse zur der Frage der Wirksamkeit der Sozialtherapie „zwar erwartungsgemäß nicht einheitlich, aber doch bemerkenswert konsistent" (a.a.O., S. 263). Es wurde ein moderater Haupteffekt der Sozialtherapie festgestellt, der bei den aus sozialtherapeutischen Anstalten entlassenen Gefangenen im Durchschnitt um 8 - 14 % häufiger positive Veränderungen (z.B. kein Rückfall) erwarten läßt als bei den Entlassenen des „Normalvollzuges" . Die dort berücksichtigten Legalbewährungsstudien von Dolde (1981, 1982), Dünkel (1980), Rasch & Kühl (1978) sowie Rehn (1979) beziehen sich ausschließlich auf Behandlungszeiträume zwischen 1970 und 1974, fallen also in die Anfangszeit der Modellversuche; die Follow-up-Zeiträume schwanken in der Regel zwischen drei und vier Jahren bis maximal sechs Jahren. Zwei weitere Evaluationsstudien zur Sozialtherapie konnten erstmals auch längerfristige Effekte dieser Behandlungsmaßnahmen analysieren: So fanden Dünkel & Geng (1994) für einen durchschnittlichen Bewährungszeitraum von 10 Jahren bei ehemaligen Klienten der sozialtherapeutischen Anstalt in Berlin-Tegel im Vergleich zu Entlassenen des Regelvollzugs deutlich günstigere Rückfallquoten, insbesondere weniger Rückkehrer in den Strafvollzug (47 % zu 70%, Gesamt-N = 510). Egg (1990) stellte bei einer Gruppe ehemaliger Klienten der Erlanger Sozialtherapie ähnliche Quoten für einen erneuten Aufenthalt im Strafvollzug fest (46,4%), allerdings war dabei am Ende des Follow-up-Zeitraums von acht Jahren kein signifikan-
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ter Unterschied zu einer Vergleichsstichprobe des Regelvollzuges (50,7%, Gesamt-N = 101) feststellbar. Betrachtet man dagegen den Zeitpunkt der erneuten Straffälligkeit anhand des im Bundeszentralregister eingetragenen Datums der letzten Tat, so ergeben sich auch hier für die behandelte Gruppe in den ersten Jahren nach der Entlassung günstigere Rückfallquoten als für die Vergleichsgruppe. Erst nach etwa vier Jahren gleichen sich die Werte beider Gruppen allmählich an. Die sozialtherapeutische Behandlung bot hier offenbar gute Startchancen nach der Entlassung, hatte aber keine langfristigen Effekte. Dies verweist auf die Notwendigkeit der Verbesserung der nachgehenden Betreuung Entlassener (vgl. oben). In späteren Veröffentlichungen integrierte Lösel diese neueren Befunde in die von ihm 1987 vorgenommene Meta-Analyse und kam dabei zu einer nur wenig veränderten Gesamteffekt-Schätzung von r = .11 (vgl. Lösel & Bender, 1997, Lösel & Egg, 1997). Auch mehrere ausländische Meta-Analysen (z.B. Lipsey, 1992) belegen tendenziell positive Effekte sozialtherapeutischer Maßnahmen bei Straffälligen. Lösel (1994, S. 20 ff.) ermittelte für insgesamt 449 Evaluationsstudien aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum zur Behandlung von jugendlichen und erwachsenen Delinquenten eine zwar nicht sehr hohe, aber relativ konstante mittlere Effektstärke von r = .10. Dies bedeutet, daß die behandelten Straftäter im Durchschnitt um etwa 10% günstigere Werte (insbesondere geringere Rückfälligkeit) erreichten als Vergleichspersonen ohne Behandlung. Insgesamt zeigen diese Forschungsergebnisse, daß von sozialtherapeutischen Anstalten zwar keine Wunder erwartet werden dürfen, daß es sich aber lohnt, auf diesem Wege weiterzumachen (vgl. Müller-Luckmann, 1994). Ahnliches dürfte für den Maßregelvollzug gelten, zu dessen Behandlungsergebnissen es ebenfalls eine Reihe einschlägiger Forschungsarbeiten gibt. So stellten Dimmek & Duncker (1996) für die von ihnen untersuchten Entlassungsjahrgänge 1984 bis 1991 eine erneute Straffälligkeit von 15-20% fest. Die Rückfallgefährdung ist danach geringer als bei ehemaligen Insassen des Strafvollzuges. Gretenkord (1994) berichtete für Entlassene der Maßregelvollzugklinik in Haina eine mit 11,2% eher geringe Rückfälligkeit von Gewaltdelikten (Follow-up-Zeitraum von durchschnittlich achteinhalb Jahren). Miiller-Isberner et al. (1997) stellten in einer Vergleichsuntersuchung die Wirksamkeit einer forensisch-psychiatrischen Nachsorge bei Entlassenen aus dem Maßregelvollzug fest. Eine differenzierte Analyse von Ergebnissen der Behandlung drogenabhängiger Straftäter in der Entziehungsanstalt legten Stosberg et al. (1991) vor.
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Danach wurden 2 6 % der Entlassenen erneut wegen drogenbezogener Delikte auffällig. Zur Bewährung der Zurückstellung der Strafvollstreckung bei drogenabhängigen Straftätern wurde von der Kriminologischen Zentralstelle eine umfangreiche Studie auf der Basis von Bundeszentralregisterauskünften und einer Analyse von rd. 250 Strafakten durchgeführt {Kurze, 1994). Danach ergab sich zwar für ein U n tersuchungsintervall von drei Jahren eine mit über 5 0 % relativ hohe erneute Verurteilung der ehemaligen Patienten, sie unterschieden sich jedoch deutlich und positiv von Therapieabbrechern und -Verweigerern, auch hinsichtlich der Schwere und der Anzahl neuer Delikte. Als interessantes Teilergebnis wurde dabei festgestellt, daß ein vollständiges Absolvieren der justitiell eingeleiteten Therapie dann wahrscheinlicher ist, wenn der Strafrest z u m Zeitpunkt des (möglichen) Antritts der Therapie nicht zu gering ist (mind. 6-12 Monate). O f f e n b a r ist die dann mögliche Vermeidung von längerer Strafhaft ein deutlicher Anreiz z u m Durchstehen der Therapie (vgl. Egg, 1993, S. 34f.).
Abschluß: Fazit - Aktuelle Fragen Die obigen Ausführungen zeigen, daß die Behandlung von Straftätern unter Bedingungen äußeren Zwanges grundsätzlich machbar ist und nicht von vornherein gegen therapeutische oder ethische Prinzipien verstößt, daß es für die praktische U m s e t z u n g einer solchen Behandlung unterschiedliche rechtliche Wege gibt, die sich in der Praxis trotz zahlreicher Schwierigkeiten bewährt haben und daß die wissenschaftliche Evaluation der Straftäterbehandlung insgesamt positive Ergebnisse belegt, die für einen relativ konstanten, wenngleich nicht sehr hohen Haupteffekt sprechen. Dennoch war das Gebiet der Straftäterbehandlung lange Zeit umstritten und erfuhr erst in jüngster Zeit eine „Revitalisierung" (vgl. Steller et al., 1994). N a c h wie vor bestehen auch mehrere offene Fragen und Problemfelder, von den abschließend einige thesenartig genannt werden sollen: • A u s der grundsätzlichen Machbarkeit einer justitiell veranlaßten und kontrollierten Straftäterbehandlung darf nicht der falsche Schluß gezogen werden, daß solche Behandlungsformen einer Behandlung in Freiheit (bzw. mit größeren Freiheitsgraden) vorzuziehen seien. Justitieller Z w a n g kann hilfreich und erforderlich sein, z.B. u m eine Behandlung überhaupt einleiten zu können, bedeutet aber immer auch eine Einschränkung und ist daher auf das unabdingbare Maß zu begrenzen.
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• Entsprechendes gilt für die Gefahr der Verhängung härterer oder längerer Sanktionen, um etwa eine erforderliche umfangreiche Therapie zu ermöglichen. Behandlungsbedürftigkeit ist kein Strafzumessungsgrund. Im Zweifel wird man daher auf eine (stationäre) Therapie verzichten oder sich auf vorbereitende, motivierende Maßnahmen beschränken müssen. • Straftäterbehandlung - egal, ob ambulant oder stationär, ob im Straf- und Maßregelvollzug oder in Einrichtungen freier Träger - kostet Geld. Dies beschränkt in Zeiten knapper Ressourcen das kriminalpolitisch Wünschenswerte und kriminologisch Sinnvolle oft auf das haushaltsmäßig Durchsetzbare. Dennoch sollte kein Etikettenschwindel betrieben werden, etwa dergestalt, daß Vollzugsabteilungen vorschnell als „sozialtherapeutisch" bezeichnet werden, ohne den Mindeststandards solcher Einrichtungen (vgl. Arbeitskreis ..., 1988) zu entsprechen. • Dies bedeutet nicht, daß preiswertere Alternativen zu bisher erprobten Behandlungsformen grundsätzlich schlechter sein müssen. Die Wahl der therapeutischen Maßnahmen sollte jedoch aufgrund gesicherter Erkenntnisse und auf der Basis eines wissenschaftlich fundierten Gesamtkonzepts erfolgen. • Das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26.01.1998 erweitert, wie oben dargestellt, die Möglichkeiten der Verlegung in sozialtherapeutische Einrichtungen, allerdings eingeschränkt auf Sexualstraftäter. Der jetzt zu erwartende Anstieg sozialtherapeutisch behandelter Sexualstraftäter verändert einerseits die Arbeitsweise der betroffenen Einrichtungen und begrenzt andererseits notwendige Behandlungsmaßnahmen für Straftäter mit anderen Bezugsdelikten. Diese einseitige Betonung einer speziellen Tätergruppe sollte überdacht und baldmöglichst korrigiert werden. • Eine seit langem in der Straftäterbehandlung kontrovers diskutierte Problematik, das Spannungsverhältnis zwischen Schweigen und Offenbaren (vgl. z.B. die Sankelmarker Thesen in Beter & Hinrichs, 1995), wurde in dem neu geschaffenen § 182 Abs. 2 StVollzG überraschend klar zugunsten einer relativ breiten Offenbarungspflicht für Ärzte und Psychologen gegenüber dem Anstaltsleiter geregelt {Wulf, 1998). Hier sollte ein Diskussionsprozeß zwischen Justizverwaltung und den betroffenen Therapeuten eingeleitet werden, mit dem Ziel einer Präzisierung und Klärung der jetzt gegebenen Situation, die den Er-
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fordernissen der Therapie von Straftätern im Strafvollzug sowie den Belangen des Vollzuges gerecht wird. • Die bisher entwickelten und erprobten Verfahren der Straftäterbehandlung zielen meist auf intellektuell und sprachlich differenzierte Personen mit klar definierten Problem- bzw. Störungsbildern. In der Praxis gibt es jedoch zahlreiche Mischgruppen sowie Personen mit mehrfacher Belastung (z.B. Drogenabhängige mit Minderbegabung oder psychotischen Störungen). Hinzu kommt, daß nur ein Teil der Straffälligen über hinreichend deutsche Sprachkenntnisse für eine auf verbalen Verfahren basierende Therapie verfügt. In Zukunft sollte der Behandlung solcher Problemgruppen verstärkt Beachtung gewidmet werden. • Zahlreiche empirische Studien belegen die Bedeutung der Nachsorge sowie der Vernetzung von Hilfsmaßnahmen für eine effektive Straftäterbehandlung. Das Haupthindernis, ein zu enges Ressort- bzw. Zuständigkeitsdenken, sollte durch geeignete Zusammenschlüsse auf lokaler bzw. regionaler Ebene schrittweise überwunden werden. • Zur Fortentwicklung und Verbesserung der Straftäterbehandlung sind - ähnlich wie in der Pionierphase der sozialtherapeutischen Anstalten - gezielte Modellprojekte sowie entsprechende praxisbegleitende Forschungsvorhaben notwendig. Dabei kommt es weniger auf breit angelegte Langzeitstudien, sondern vielmehr auf thematisch eingegrenzte Projekte mit konkreten Fragestellungen an. Dazu sollte das weitgehend vernachlässigte Instrument des Kriminologischen Dienstes gem. § 166 StVollzG verstärkt genutzt werden (vgl. Dolde, 1999). Literatur Arbeitskreis Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug (1988). Mindestanforderungen an sozialtherapeutische Einrichtungen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 71, 334-335. Beter, K.M. & Hinrichs, G. (1995). Psychotherapie mit Straffälligen. Standorte und Thesen zum Verhältnis Patient-Therapeut-Justiz. Stuttgart [u.a.]: G. Fischer. Baulitz, U., Driebold, R., Eger, H. etal. (1980). Integrative Sozialtherapie. Innovation im Justizvollzug. Bad Gandersheim: Selbstverlag. Böhm, A. (1986). Strafvollzug. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Metzner. Dahle, K.-P. (1995a). Therapiemotivation inhaftierter Straftäter. Regensburg: Roderer. Dahle, K.-P. (1995b). Zur Versorgung forensisch-psychiatrischer Patienten in den neuen Bundesländern. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Baden-Baden: Nomos. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 53. Dahle, K.-P. (1998). Therapiemotivation und forensische Psychotherapie. In E. Wagner & W. Werdenich (Hrsg.), Forensische Psychotherapie: therapeutische Arbeit
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Die Behandlung von Sexualstraftätern im Strafvollzug H A N S JOACHIM SCHNEIDER
I. Sexualkriminalität: Hell- und Dunkelfeld Die Behandlung von Sexualstraftätern ist ein kriminalpolitisches Zentralproblem. Denn Sexualstraftaten sind weit verbreitet. Sie verursachen beträchtliche Opferschäden, und der unbehandelte Sexualstraftäter bleibt viele Jahre lang stark rückfallgefährdet. Es ist immer noch die Meinung weit verbreitet, Sexualstraftaten seien sehr seltene Ereignisse. Diese Ansicht trifft allein auf das Hellfeld der angezeigten, bekanntgewordenen Sexualkriminalität 1 zu. Der größte Teil der Sexualstraftaten bleibt indessen im Dunkelfeld der nichtangezeigten, verborgen gebliebenen Delikte. Frauen und Kinder zeigen ihre sexuelle Viktimisierung, ihr sexuelles Opferwerden, nicht an, weil ein beträchtlicher sozialer Druck zur Nichtenthüllung und Nichtanzeige auf ihnen lastet. Als Vergewaltigungsopfer werden Frauen bei der Aufdeckung der Vergewaltigung sozial gebrandmarkt (Stigma: „beschädigtes Gut"). Sie haben die Hauptbürde des Strafverfahrens zu tragen („Opferbeschuldigung"). Die Kriminaljustiz hat sich bei der Kontrolle der Vergewaltigung als weitgehend erfolglos erwiesen. Das beweisen die niedrigen Anklageund Verurteilungsraten 2 . Weniger als die Hälfte der kindlichen O p fer sexuellen Mißbrauchs erzählt irgend) emandem etwas während der Zeit des Mißbrauchs. Selbst wenn der sexuelle Kindesmißbrauch aufgedeckt worden ist, werden nur 6 bis 12 Prozent der Fälle der Polizei gemeldet. 3 Fast drei Viertel der sexuell mißbrauchten Kin-
1 Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1996. Wiesbaden 1997, 139. 2 Statistisches Bundesamt: Rechtspflege Reihe 3: Strafverfolgung 1996. Stuttgart 1997, 16, 22. 3 Lucy Berliner/Diana M. Elliott: Sexual Abuse of Children. In: John Brieve/Lucy Berliner/Josephine A. Bulkley/Carole Jenny/Theresa Reid (Hrsg.): The APSAC Handbook of Child Maltreatment. Thousand Oaks, London, New Delhi 1996, 5171, bes. 54. APSAC = American Professional Society on the Abuse of Children.
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der streiten ihre Viktimisierung ab, wenn sie danach gefragt werden. Die kindlichen Opfer, die sich hilflos und gefangen fühlen, halten den Mißbrauch geheim, weil sie - nicht unberechtigt - die dramatisierenden emotionalen Reaktionen der Erwachsenen fürchten. Das wahre Ausmaß der Sexualkriminalität ergibt sich aus Dunkelfelduntersuchungen zur sexuellen Gewalt an Frauen und zum sexuellen Opferwerden von Kindern: Nach einer repräsentativen mündlichen und zum Teil schriftlichen Befragung von 5.832 Frauen ab 16 Jahren, die das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen" in Hannover im Jahre 1992 durchgeführt hat 4 , berichteten 8,6 Prozent der befragten Frauen über sexuelle Gewalterfahrungen. Hierbei ereigneten sich 66 Prozent aller Vergewaltigungsdelikte im sozialen Nahbereich. Die Anzeigequote betrug nur 18,9 Prozent. Vergleicht man diese Zahlen mit denen aus entsprechenden Dunkelfelduntersuchungen der USA 5 , so kommt die deutsche Studie eher zu gemäßigten Ergebnissen: Im Durchschnitt waren 14 Prozent der befragten Frauen in den USA während ihrer bisherigen Lebenszeit Vergewaltigungsopfer geworden. Mit 16 Prozent war die Anzeigequote noch niedriger als die deutsche. 61 Prozent aller Vergewaltigungen ereigneten sich zwischen Intimpartnern und Bekannten. Nach 19 Dunkelfelduntersuchungen in den USA geht man von einem sexuellen Opferwerden von Kindern bei mindestens 20 Prozent der nordamerikanischen Frauen und bei 5 bis 10 Prozent der nordamerikanischen Männer aus.6 Auf der Grundlage eines internationalen Vergleichs von Dunkelfelduntersuchungen über den sexuellen Mißbrauch an Kindern in 21 Ländern 7 äußert man Zweifel, ob das Problem in den USA besonders schwerwiegend ist. Je nach Begriffsdefinition und methodischem Vorgehen, z.B. Erhebungszeitraum, -methode und -auswertung, stellte man nämlich im internationalen Vergleich, an dem auch Deutschland beteiligt war, ein sexuelles Opferwerden als Kinder bei 7 bis 36 Prozent der Frauen und bei 3 bis 29 Prozent der Männer fest. Bei behutsamer Beurteilung
4 Peter Wetzeis/Christian Pfeiffer: Sexuelle Gewalt gegen Frauen im öffentlichen und privaten Raum. Hannover 1995. 5 Mary P. Koss: Detecting the Scope of Rape. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 198-222; National Victim Center: Rape in America. A Report to the Nation. Arlington/Va. 1992. 6 David Firtkelhor: Current Information on the Scope and Nature of Child Sexual Abuse. In: The Future of Children. 4 (1994), 31-53. 7 David Finkelhor: The International Epidemiology of Child Sexual Abuse. In: Child Abuse and Neglect. 18 (1994), 409-417.
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liegt die Viktimisierungsquote (bezogen auf sexuellen Mißbrauch an Kindern) im deutschsprachigen Raum bei etwa 10 bis 20 Prozent der Frauen und bei etwa 5 bis 10 Prozent der Männer.8 Hierbei sind die Altersgrenze (bis 14 Jahre) und die Erscheinungsform (sexuelle Handlung mit Körperkontakt) berücksichtigt. Nur eine Minderheit von Sexualstraftätern steht zur Behandlung an. Denn die Mehrheit der Sexualdelikte wird nicht angezeigt oder nicht verurteilt. Die Minderheit der angezeigten und verurteilten Sexualstraftäter ist allerdings besonders gefährlich. II. Behandlungs-Notwendigkeit 1.
Behandlungsbegriff
Unter Behandlung versteht man die Einwirkung auf eine Person zum Zwecke ihrer Verhaltensänderung. Bestrafung im Sinne einer körperlichen, psychischen oder sozialen Ubelzufügung ist keine Behandlung. Denn eine solche Bestrafung macht den Täter zum Objekt. Sie fügt ihm in ihren praktischen Auswirkungen (z.B. Degradierung, Stigmatisierung) Schaden zu. Ziel der Behandlung von Sexualstraftätern im Strafvollzug ist nicht nur die Humanisierung des Strafvollzugs, sondern die Rückfallverhinderung oder -minderung. Behandlung ist hierbei nicht allein Therapie, Heilung von Persönlichkeitsstörungen, von intra-psychischen Konflikten (Pathologisierung). Behandlung ist vielmehr auch und vor allem Training, Verlernen alter devianter Kognitionen (Erkenntnisse) und Verhaltensweisen und Erlernen neuer prosozialer Kognitionen und Verhaltensweisen, um die Verhaltens-Selbstkontrolle und die Eigenverantwortlichkeit des Sexualstraftäters zu entwikeln (Entpathologisierung).9 Die Sexualstraftat ist kein Symptom einer Persönlichkeitsstörung, einer Psychopathie, sondern sie beruht nach der kognitiv-sozialen
8 Berl Kutchinsky: Sexueller Mißbrauch an Kindern: Verbreitung, Phänomenologie und Prävention. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 4 (1991), 33-44; Franz Moggi: Sexuelle Kindesmißhandlung: Definition, Prävalenz und Folgen. In: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie. 39 (1991), 323-335. Dirk Bange und Günter Deegener (Sexueller Mißbrauch an Kindern. Weinheim 1996) haben in ihren empirischen Studien in Dortmund und Homburg Häufigkeitszahlen von 22% bis 25% bei Frauen und 5% bis 8% bei Männern gefunden. 9 W.L. Marsball/D.R. Laws/H.E. Barbaree: Present Status and Future Directions. In: W.L. Marshall/D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): Handbook of Sexual Assault. New York, London 1990, 390/391.
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Lerntheorie auf eingelerntem Fehlverhalten. 10 Sexualstraftäter sind keinen mächtigen biologischen Trieben und Impulsen („Triebtäter") ausgeliefert.11 Der Anteil der geisteskranken Sexualverbrecher wird mit fünf Prozent angegeben.12 Psychosen und hormonale sowie chromosomale Abnormitäten sind selten. 13 . Gegenüber dem Konzept der Psychopathie wird Skepsis angemeldet. 14 Sexualstraftäter sind eine heterogene Population. Aufgrund sozialstruktureller Mängel (z.B. aufgrund von Gemeinschaftszerfall, sozialer Billigung von Gewalt, Familienpathologie) haben die meisten von ihnen ihre sexuelle Deviation in defizitären Sozialisationsprozessen fehlerhaft gelernt. Deshalb muß die Verbrechenskontrolle über die Behandlung des Einzeltäters hinausgehen, und sie muß auch versuchen, die gesellschaftlichen Verbrechensursachen zu beseitigen. 15 Gleichwohl kann auf die Behandlung des Sexualstraftäters im Strafvollzug nicht verzichtet werden. Denn die Opferschäden der Sexualstraftaten sind verheerend, und die Sexualstraftäter bleiben viele Jahre lang stark rückfallgefährdet. 2. Opferschäden bei Sexualstraftaten Es gibt kein einheitliches Syndrom der Opferschädigungen nach Sexualstraftaten. Vielmehr sind die körperlichen, psychischen und sozialen Opfereinbußen höchst verschiedenartig. Umfang und Art der Leiden richten sich nach unterschiedlichen Einflüssen, z.B. nach dem Ausmaß der angewandten Gewalt, nach der Nähe der TäterOpfer-Beziehung und nach der Reichweite des verständnisvollen Halts und der psychischen Unterstützung, die das Opfer der Sexualstraftat nach Tataufdeckung in seiner Familie, bei Verwandten, Nachbarn, Freundinnen und Freunden erfährt. Körperliche Schäden, z.B. Verletzungen, ungewollte Schwangerschaften, Infizie10 Vgl. Hans Joachim Schneider: Kriminalitätstheorien. In: Rudolf Sieverts/Hans Joachim Schneider (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie. 2. Aufl., 5. Band. Berlin, New York 1998, 645-668, bes. 652/653. 11 CurtR. Bartol: Criminal Behavior. 4. Aufl. Englewood Cliffs/N.Y. 1995,287/288. 12 Kevin Epps: Sex Offenders. In: Clive R. Hollin (Hrsg.): Working with Offenders. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapore 1996,160. 13 Robert J. Kelly/Rob Lusk: Theories of Pedophilia. In: William O'Donohue/James H. Geer (Hrsg.): The Sexual Abuse of Children: Theory and Research. Band 1. Hillsdale/N.J., Hove, London 1992,181/182. 14 Ronald Blackburn: On Moral Judgements and Personality Disorders. The Myth of Psychopathic Personality Revisited. In: British Journal of Psychiatry. 153 (1988), 505-512. 15 Vgl. hierzu Hans Joachim Schneider: Kriminologie. Berlin, New York 1987, 836/ 837.
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rung mit Geschlechtskrankheiten, sind nicht unbeträchtlich. Allerdings sind die psychischen und sozialen Beeinträchtigungen erheblich weiter verbreitet. Die Herausarbeitung des „Vergewaltigungs-Trauma-Syndroms" 16 war ein wesentlicher Fortschritt für die Entwicklung eines Problembewußtseins der psychischen und sozialen Opferschädigung: Gedanken an die Viktimisierung kehren ständig zwanghaft zurück. Schlafstörungen und Alpträume sind Versuche des Unbewußten, mit dem traumatisierenden Erlebnis fertig zu werden. Das Opfer hat furchtbare, entsetzliche Angst. Anhaltende nervöse Spannungen und emotionale Störungen, Depressionen, Selbstmordgedanken 17 und sexuelle Dysfunktionen quälen es. Sein Verhältnis zum männlichen Geschlecht ist nachhaltig beeinträchtigt. Sein Sicherheits- und Selbstwertgefühl sind empfindlich gestört. Seine mitmenschlichen Beziehungen sind für Monate und Jahre stark behindert. 18 Die psychischen Opferschäden beim sexuellen Mißbrauch an Kindern können in vier Dimensionen eingeteilt werden: 19 - In psychodiagnostischen Testverfahren hat man bei sexuell mißbrauchten Kindern erhöhte Werte an Depression und Angst gefunden. Emotionale Beeinträchtigungen äußern sich ferner in Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen. - Kindliche Opfer sexueller Viktimisierung haben in vermehrtem Umfang Verhaltensprobleme. Traumatische Sexualisierung 20 ist ein Prozeß, durch den die Sexualität des kindlichen Opfers entwicklungsmäßig unangemessen und zwischenmenschlich dysfunktional geformt wird. - Durch die sexuelle Viktimisierung entstehen kognitive (erkenntnismäßige) Verzerrungen, z.B. Selbstvorwürfe, Vertrauensverlust, Verinnerlichung negativer sozialer Stigmatisierung,
16 Ann Wolbert Burgess/Lynda Lytle Holmstrom: Rape Trauma Syndrome and Post Traumatic Stress Response. In: Ann Wolbert Burgess (Hrsg.): Rape and Sexual Assault. New York, London 1985, 46-60. 17 Susan Leslie Bryant/Lillian Μ. Range·. Suicidality in College Women Who Were Sexually and Physically Abused and Physically Punished by Parents. In: Violence and Victims. 10 (1995), 195-201. 18 Patricia A. Resick: The Psychological Impact of Rape. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 223-295. 19 John Briere/Marsha Runtz: Childhood Sexual Abuse: Long-Term Sequelae and Implications for Psychological Assessment. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 312-330. 20 William N. Friedrich·. Sexual Victimization and Sexual Behavior in Children: A Review of Recent Literature. In: Child Abuse and Neglect. 17 (1993), 59-66.
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ablehnende Selbstzuschreibungen, in der Psyche des kindlichen Opfers. - Sexueller Mißbrauch an Kindern greift in den Entwicklungsprozeß ihres Selbstkonzepts ein, das die verschiedenen Elemente ihrer Persönlichkeit koordiniert und integriert. Durch die Schädigung ihres Selbstkonzepts werden psychische Spannungen hervorgerufen, die zu Selbstschädigungen und -Verstümmelungen führen können. Indirekte, mittelbare Opfer (Mitopfer), Intim- und Ehepartner, Familienmitglieder der Opfer, ihnen nahestehende Personen, haben dieselben Persönlichkeitsschäden wie die Opfer selbst: 21 - Familienmitglieder von Sexualmord-Opfern erleiden eines der tiefgründigsten psychischen Traumen, das Verbrechensopfern überhaupt zugefügt werden kann. 22 Nach dem plötzlichen traumatischen Tod eines Ehepartners oder Kindes fühlt sich das überlebende Mitopfer völlig hilflos, verwirrt, außer Kontrolle und unfähig, die Auswirkungen des traumatisierenden Ereignisses zu verstehen. Aufgrund des traumatischen Sterbens tritt häufig eine Persönlichkeitsveränderung des überlebenden Mitopfers ein: Es stellt seinen Lebensstil völlig um. 23 - Ehemänner und Intimpartner von Frauen, die von einem anderen Mann vergewaltigt worden sind, reagieren mit Arger oder leiden an Gefühlen der Machtlosigkeit, der Verwundbarkeit und der Schuld. 24 Sie sind in ihrem Selbstwertgefühl schwer getroffen. Sie werfen sich vor, darin versagt zu haben, ihre Partnerin zu beschützen. - Die Aufdeckung des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes stürzt die Mutter des Opfers in eine Identitätskrise, die durch eine starke Selbstwertproblematik und große Selbstzweifel gekenn-
21 Rob Davis/Bruce Taylor/Sarah Bench: Impact of Sexual and Nonsexual Assault on Secondary Victims. In: Violence and Victims. 10 (1995), 73-84. 22 Deborah Spungen: Homicide: The Hidden Victims. Thousand Oaks, London, N e w Delhi 1998. 23 Camille B. Wortman/Esther S. Battle/Jeanne Parr Lemkau·. Coming to Terms With the Sudden, Traumatic Death of a Spouse or Child. In: Robert C. Davis/Arthur J. Lurigio/Wesley G. Skogart (Hrsg.): Victims of Crime. 2. Aufl. Thousand Oaks, London, N e w Delhi 1997, 108-133. 24 David S. Riggs/Dean G. Kilpatrick: Families and Friends: Indirect Victimization by Crime. In: Arthur]. Lurigio/Wesley G. Skogan/Robert C. Davis (Hrsg.): Victims of Crime. Newbury Park, London, N e w Delhi 1990, 120-138.
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zeichnet ist.25 Sie fühlt sich in ihrer Kompetenz als Mutter verunsichert und infrage gestellt. 3. Rückfälligkeit
bei
Nichtbehandlung
In der älteren psychiatrisch ausgerichteten Kriminologie wurden die Rückfallraten von Sexualstraftätern als niedrig beurteilt. 26 Dieses Forschungsergebnis kann nicht mehr aufrechterhalten bleiben. Inzwischen sind neue Rückfalldaten bekanntgeworden: 27 Man hat 265 Vergewaltigungstäter und pädophile Rechtsbrecher über einen Zeitraum von 25 Jahren beobachtet. Vergewaltiger verübten in 39 Prozent der Fälle neue Sexualstraftaten, in 74 Prozent der Fälle neue Delikte überhaupt. 52 Prozent der pädosexuellen Rechtsbrecher begingen neue Sexualstraftaten; für neue Delikte überhaupt waren 75 Prozent von ihnen verantwortlich. Hierbei wurden nur angezeigte, bekanntgewordene Straftaten als Rückfälle gewertet. Die Rückfallneigung der Sexualstraftäter ist hoch und dauert lange an. Denn es darf nicht vergessen werden, daß das Dunkelfeld krimineller Karrieren bei Sexualrechtsbrechern besonders ausgeprägt ist. Sexualstraftäter gaben an28, daß sie durchschnittlich zwei- bis fünfmal mehr Sexualstraftaten verüben als polizeilich registriert werden. Obgleich der Sexualstraftäter mehrfach rückfällig wird, bleiben seine Rückfalltaten zum größten Teil unentdeckt im Dunkelfeld. Denn Vergewaltigung und Pädophilie sind häufige, unterberichtete, schlecht kontrollierte Delikte. Sexualstraftäter müssen grundsätzlich als rückfallgeneigt angesehen werden. Chronische sexuelle Deviation ist nämlich ein robuster Hang, eine Neigung, die sich jahrelang eingelernt hat
25
Ute Gerwert/Claudia Thum/Jörg Fegert: Wie erleben und bewältigen Mütter den sexuellen Mißbrauch an ihren Töchtern? In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 42 (1993), 273-278; Carolyn Moore Newberger/Isabelle M. Gremy/ Christine M. Waternaux/Eli H. Newberger. Mothers of Sexually Abused Children: Trauma and Repair in Longitudinal Perspective. In: American Journal of Orthopsychiatry. 63 (1993), 92-102. 26 Benjamin Karpman: The Sexual Offender and his Offenses. N e w York 1954, 277/ 278; Donald J. West: Sex Offenses and Offending. In: Michael Tonry/Norval Morris (Hrsg.): Crime and Justice. Band 5. Chicago, London 1983, 183-233, bes. 195/196. 27 Robert A. Prentky/Austin F.S. Lee/Raymond A. Knight/David Cerce: Recidivism Rates Among Child Molesters and Rapists: A Methodological Analysis. In: Law and Human Behavior. 21 (1997), 635-659. 28 Mark R. Weinrott/Maureen Saylor: Self-Report of Crimes Committed by Sex O f fenders. In: Journal of Interpersonal Violence. 6 (1991), 286-300; N. Nicholas Groth/ Robert E. Longo/]. Bradley McFadin·. Undetected Recidivism among Rapists and Child Molesters. In: Crime and Delinquency. 28 (1982), 450-458.
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und die - unbehandelt - 15 bis 20 Jahre nach der Entlassung des Strafgefangenen anhält. III. Behandlungs-Voraussetzungen 1. Gesetzliche Vorgaben extra- und intramuraler Behandlung Sexualstraftäter können sowohl außerhalb wie innerhalb einer Strafanstalt behandelt werden. Die ambulante Behandlung ist erfolgversprechender als die stationäre. Denn der Behandlungsprozeß ist leichter in Freiheit zu verwirklichen. Da indessen das Risiko eines Rückfalls bei extramuraler Behandlung groß ist und da gerade gefährliche, rückfallgefährdete Sexualstraftäter der Behandlung bedürfen, kann auf die intramurale Form der SexualstraftäterBehandlung nicht verzichtet werden 29 . Behandlung innerhalb geschlossener Institutionen ist in Sozialtherapeutischen Anstalten und im Regelvollzug möglich. Nach dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten30 kann das Gericht dem Verurteilten bei der Strafaussetzung zur Bewährung die Weisung ohne seine Einwilligung erteilen, sich einer Heilbehandlung zu unterziehen. Die Verpflichtung zur Behandlung kann gegenüber einem Täter einwilligungslos über den Anwendungsbereich des § 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB hinaus kraft gesetzlicher Verweisung nunmehr auch ausgesprochen werden bei: - der Strafrestaussetzung zur Bewährung (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB), - der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59a Abs. 2 Satz 3 StGB), - der Führungsaufsicht (§ 68b Abs. 2 Satz 2 StGB) und - der Aussetzung des Berufsverbots (§ 70a Abs. 3 Satz 1 StGB). Nach der neuen Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVollzG ist ein Gefangener in eine Sozialtherapeutische Anstalt zu verlegen, wenn er wegen einer Sexualstraftat zu zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist und wenn man seine Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit in seiner Behandlungsuntersuchung festgestellt hat. Da sich gegen diese gesetzliche Bestimmung wegen Fehlens qualifizierten Personals und der baulichen Rahmenbedingungen von seiten der Länder Bedenken erhoben, ist
29 Rudolf Egg: Institutionen der Straftäterbehandlung. In: Max Steller/Renate Volbert (Hrsg.): Psychologie im Strafverfahren. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1997, 160-170. 30 Gesetz vom 26. Januar 1998, BGBl. 1,160-163.
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sie bis zum 31. Dezember 2002 als Soll-Vorschrift ausgestaltet worden (§ 199 Abs. 3 StVollzG). Jedenfalls ist bei Strafantritt von Sexualstraftätern frühzeitig besonders gründlich zu prüfen, ob Behandlungsmaßnahmen ergriffen werden müssen (§ 6 Abs. 2 Satz 2 StVollzG). Der Vollzugsplan von Sexualstraftätern, die zu mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, ist jedes halbe Jahr daraufhin zu kontrollieren, ob eine Einweisung in eine Sozialtherapeutische Anstalt erforderlich ist (§ 7 Abs. 4 StVollzG). Der Gesetzgeber will durch diese neuen Vorschriften sicherstellen, daß gefährliche Sexualstraftäter in Sozialtherapeutischen Anstalten behandelt werden. Eine Behandlung im Regelvollzug sieht er nicht für ausreichend gewährleistet an. 2. Angemessenheit
der
Behandlung
Sexualstraftäter haben sexuelle und nichtsexuelle Probleme, und eine umfassende diagnostische Untersuchung muß in jedem Einzelfall bestrebt sein, die individuellen sozialen, kognitiven, affektiven und physiologischen Defizite zu erfassen und relevante Behandlungsziele zu formulieren. Es geht nicht allein darum, den Sexualstraftäter durch die Behandlung in irgendeiner beliebigen Weise zu fördern oder seine „Persönlichkeitsstörung"31 zu heilen. Die Behandlungsmethoden müssen vielmehr gezielt seine „kriminogenen Bedürfnisse"32 ansprechen und an seinen Lernstilen und persönlichen Fähigkeiten ausgerichtet sein33. Unangemessene Behandlungsprogramme können wirkungslos bleiben oder sogar negative Folgen haben, die den Sexualstraftäter hinsichtlich seiner Legalbewährung ungünstiger beeinflussen, als wenn er unbehandelt geblieben wäre. Das Ansprechen „kriminogener Bedürfnisse" ist wesentlich für den Erfolg des Behandlungsprogramms. Das Training sozial-kognitiver Fähigkeiten ist hierbei entscheidend für seine Wirksamkeit. Die Behandlung einer „Persönlichkeitsstörung" durch einen psychodynamischen Behandlungsansatz ist ungeeignet. Die Behandlungsmetho-
31 Andreas Kembichler. Stationäre Psychotherapie mit Straffälligen. In: Klaus M. BeierlGünter Hinrichs (Hrsg.): Psychotherapie mit Straffälligen. Stuttgart, Jena, N e w York 1995, 64-70. 32 Don Andrews: The Psychology of Criminal Conduct and Effective Treatment. In: James McGuire (Hrsg.): What Works: Reducing Reoffending. Chichester, N e w York, Brisbane, Toronto, Singapore 1995, 35-62; D.A. Andrews/James Bonta: The Psychology of Criminal Conduct. Cincinnati/OH 1 9 9 4 , 1 8 9 , 200. 33 Daniel H. Antonowicz/Robert R. Ross: Essential Components of Successful Rehabilitation Programs for Offenders. In: International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology. 38 (1994), 97-104, bes. 99.
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de muß ursachenorientiert sein; sie muß sich auf die kriminogenen Faktoren konzentrieren: Sowohl für die Verursachung der Vergewaltigung 34 wie für die des sexuellen Mißbrauchs an Kindern 35 ist ein Vier-Ursachen-Modell entwickelt worden: - Deviante Sexualphantasien, in denen Vergewaltigung oder Sexualität mit Kindern mit sexueller Erregung (Masturbation) verbunden wird, können Vorläufer und Vorboten der Sexualkriminalität sein. Beim Vergewaltigungstäter werden z.B. sexuell gewaltsame Bilder in Masturbationsphantasien aufgenommen und mit selbst herbeigeführter Erregung im masturbatorischen Konditionierungsprozeß verknüpft und verschmolzen. Der pädophile Straftäter zieht sich beispielsweise in masturbatorische Phantasien zurück, die den sexuellen Kontakt mit Kindern zum Gegenstand haben (pädophile Vorzugshypothese). Da es dem Sexualstraftäter auch an männlichem Selbstvertrauen und an maskulinem Selbstwertgefühl mangeln kann, konzentrieren sich seine Phantasien mitunter auf Wünsche nach Domination, nach Demütigung und Erniedrigung. - Kognitive Verzerrungen und Verdrehungen (Neutralisationen, Rationalisationen) sind „Enthemmer" („Disinhibitors"); sie sind „irrationale Ideen", Gedanken und Einstellungen, die dem Sexualstraftäter dazu dienen, seine sexuelle Deviation aufrechtzuerhalten, die seinem Opfer entstehenden Schäden seiner sexuellen Deviation zu leugnen oder wenigstens zu trivialisieren und seine sexuelle Deviation als unkontrollierbaren Impuls zu rechtfertigen und zu beschönigen. Im frühen Kindesalter, in der Subkultur gleichaltriger Freunde und in einem weit verbreiteten frauen- und kinderfeindlichen sozialen Klima lernt der Sexualstraftäter die Rechtfertigung sexueller Viktimisierung von Frauen und Kindern. Vergewaltigungs-unterstützende Einstellungen sind mit seiner Vergewaltigungsneigung verbunden. Er sagt sich z.B.: Frauen wollen sexuell erobert werden; sie genießen die maskuline sexuelle Gewalt. Pädosexuelle Täter lassen sich von einer pädophilen Ideologie leiten: Sexualität mit Kindern ist normal; sie ist für Kinder unschädlich. Das Kind hat der Tat zugestimmt; es hat die Tat provoziert; es war selbst an Se34 Gordon C. Nagayatna Hall/Richard Hirschman: Toward a Theory of Sexual Aggression: A Quadripartite Model. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology. 59 (1991), 662-669. 35 Gordon C. Nagayama Hall/Richard Hirschman·. Sexual Aggression Against Children. In: Criminal Justice and Behavior. 19 (1992), 8-23.
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xualität äußerst interessiert. Durch Rationalisierungs- und Verleugnungsmechnismen wird die Täterverantwortung vernebelt, oder die Schuld wird dem Opfer der Sexualstraftat zugeschrieben.36 Zahlreiche Sexualstraftäter halten ihre Delikte für eine Behauptung ihrer männlichen Rolle; sie betrachten Frauen und Kinder als Objekte, als ihr Eigentum. - Ein realistisches Selbstwertgefühl und eine wirksame Selbstkontrolle fehlen dem Sexualstraftäter weitgehend. Seine Affektund Impulskontrolle sind häufig mangelhaft. Diese LebensstilImpulsivität ist gelernt und deshalb keineswegs unkontrollierbar. In depressiven Zuständen und in Streß-Situationen kann der Sexualstraftäter Wut, Arger und Zorn nur schlecht zurückhalten. Hierbei geht der Vergewaltigung nicht selten Haß auf Frauen als motivationaler Vorläufer voraus, während depressive Verstimmung häufig zu sexuellem Mißbrauch an Kindern führt. - Sexualstraftäter haben Persönlichkeitsprobleme, die auf ihre defizitäre Entwicklung und auf negative Sozialisationserfahrungen zurückzuführen sind. Sie haben ein unzureichendes mitmenschliches Einfühlungsvermögen, eine ungenügende Beziehungsfähigkeit und nur mangelhafte soziale Fähigkeiten entwickelt, die sie in soziale Isolation, in Einsamkeit und in Depression führen. Sie haben Interaktionsschwierigkeiten mit Erwachsenen und empfinden Frauen nicht selten als dominierend und bedrohlich. Kreatives zwischenmenschliches Problem-Lösen haben sie nicht gelernt. Die negativen Folgen ihrer Sexualstraftat für ihre Opfer vermögen sie nicht zu übersehen. Es mangelt ihnen an Einfühlung für ihr Opfer. Eine Sexualstraftat entsteht aus einer Kombination dieser vier motivationalen Vorläufer und aus situativen Faktoren, die der Täter fehlinterpretiert. Für die Behandlung des Sexualstraftäters ist es unerläßlich, diagnostisch herauszuarbeiten, welche der vier Ursachen-Faktoren bei ihm vorherrschend sind und zu welchem Sexualstraftäter-Subtyp er gehört. 3. Behandlungsklima
und -Integrität in der
Institution
Für die Behandlung von Sexualstraftätern ist ein zwischenmenschlich sensibles, zugleich antikriminelles, prosoziales und be36 Robert R. Ross/Elizabeth A. Fabiano/Crystal D. Ewles: Reasoning and Rehabilitation. In: International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology. 32 (1988), 29-35.
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handlungsorientiertes Institutionsklima erforderlich, dem das Strafvollzugspersonal keine unüberwindlichen Widerstände entgegensetzt. Behandlung kann nicht am Rande der Institution existieren, sie muß die gesamte Anstalt beherrschen 37 . Sie kann nicht in einer AntiBehandlungs-Atmosphäre durchgeführt werden, die durch punitive Einstellungen des Personals gekennzeichnet ist. Die behandelnden Psychologen dürfen keine Randrolle spielen; sie müssen die wesentlichen Entscheidungen in der Anstalt mitbestimmen können. Die Strafvollzugsziele der Sicherheit und Ordnung dürfen den Behandlungsprozeß nicht stören oder gar ersticken. Die Rahmenbedingungen einer Strafanstalt, die auch auf Sicherheit und Ordnung ausgerichtet sein müssen, erfordern allerdings spezielle Behandlungskonzepte, die dem Strafvollzugs-Zusammenhang Rechnung tragen. Eine simple Übertragung von Therapie-Methoden, die sich bei der Behandlung von psychisch kranken Patienten in Freiheit bewährt haben, wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Deshalb sind kognitivbehaviorale Trainings-Methoden für die Behandlung von Sexualstraftätern in der Strafanstalt wesentlich besser geeignet als tiefenpsychologisch orientierte Therapien, die die Einsichts- und Verbalisierungsfähigkeiten der Mittel- und Oberschichten voraussetzen. Sexualstraftäter aus diesen Schichten kommen indessen kaum in den Strafvollzug, weil ihre Straftaten - unangezeigt - im Dunkelfeld bleiben. Vor allem Sexualstraftäter aus der Unterschicht sind in der Strafanstalt zu behandeln. Behandlungs-Integrität ist eine weitere wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Trainings von Sexualstraftätern. Das Behandlungs-Personal muß sorgfältig ausgebildet, das Training angemessen überwacht werden. Die Therapeuten, die zwischenmenschlich warmherzig, flexibel und empfindsam für prosoziale Werte und Verhaltensweisen sein müssen, stellen in überzeugender Weise ihre eigenen antikriminellen und prosozialen Einstellungen dar. Sie dienen als Modelle für prosoziales Verhalten; sie unterstützen und fördern die antikriminellen Bemühungen der Sexualstraftäter; sie betonen die negativen Folgen der Gesetzesverletzungen für den Täter. Behandlung mit Respekt stärkt das Selbstvertrauen des Täters. Zwar geht „kontrollierte Parteilichkeit für den Gefangenen" 38 als Einstel37 Cynthia McDougall: Working in Secure Institutions. In: Clive R. Hollin (Hrsg.): Working with Offenders. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapore 1996, 94-115. 38 Gerhard Rehn: Thesen über Psychotherapie im Stafvollzug. Grundsätze am Beispiel der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg-Altengamme. In: Beier/Hinrichs (Hrsg.): aaO. (Fn. 31), 1995, 79-84, bes. 82.
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lung des Therapeuten gegenüber dem Sexualstraftäter über das erstrebenswerte Ziel hinaus. Die Beziehung zwischen Behandler und Straftäter sollte freilich durch wechselseitige Anerkennung charakterisiert sein, die zwar deviantes Verhalten als unannehmbar strikt ablehnt, den Straftäter als Mitmenschen aber gleichwohl akzeptiert. Der Therapeut sollte sich vor jeder Art von Domination seiner Beziehung zum Strafgefangenen ebenso hüten wie vor einer zynischen Einstellung gegenüber dem Kriminaljustizsystem. 4.
Behandlungs-Erwartung
Die Behandlung von Sexualstraftätern muß ausreichenden Erfolg versprechen. Denn jede Behandlung ist personal- und kostenintensiv; sie erfordert erhebliche psychische und soziale Anstrengungen der Therapeuten und der Sexualstraftäter, die behandelt werden. Auf keinen Fall darf Behandlung schädlich sein. Nach dem 2. Weltkrieg herrschte in den Ländern der westlichen Welt das Resozialisierungs- oder Behandlungs-Modell im Strafvollzug vor. Man nahm an, daß jede medizinisch, psychologisch oder pädagogisch anerkannte Behandlung für den Straftäter nützlich sei und seine Rückfälligkeit mindere. Mitte der 70er Jahre geriet dieses ResozialisierungsModell in die Krise. Eine umfassende Evaluationsforschung 39 hatte nämlich herausgefunden, daß bisher nicht habe nachgewiesen werden können, daß Behandlungsprogramme eine rückfallmindernde Wirkung haben. Zwar hatte man Behandlungs-Programme verschiedener Therapie-Methoden und Begleitforschungen unterschiedlicher methodischer Exaktheit alle unterschiedslos zusammen evaluiert. Zwei Forschungsteams der „Nationalen Akademie der Wissenschaften" in Washington D.C. bestätigten gleichwohl das erzielte Ergebnis. 40 In den achtziger und neunziger Jahren hat man zwar die Krise des Behandlungs-Modells überwunden; man ist aber keineswegs zur Behandlungs-Euphorie der 50er und 60er Jahre zurückgekehrt. Man folgt vielmehr einem differentiellen Behandlungs-Modell: - Es dürfen keine unrealistisch hohen Erwartungen an die Behandlung von Straftätern gestellt werden. Die neuere Evaluati-
39 Douglas Lipton/Robert Martinson/Judith Wilks: The Effectiveness of Correctional Treatment. N e w York, Washington D.C., London 1975. 40 Lee Sechrest/Susan O. White/Elizabeth D. Brown: The Rehabilitation of Criminal Offenders: Problems and Prospects. Washington D . C . 1979; Susan E. Martin!Lee B. Sechrest/Robin Redner. New Directions in the Rehabilitation of Criminal Offenders. Washington D . C . 1981.
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onsforschung durch Meta-Analysen hat lediglich eine mäßige Rückfall-Verminderung durch Behandlung festgestellt. Wenn man alle Behandlungs-Programme berücksichtigt, so liegt die Rückfallverminderung bei einer bescheidenen, aber keineswegs bedeutungslosen Wirkung von 10 bis 12 Prozent. 41 Nimmt man nur die erfolgreichen Resozialisierungs-Projekte, so steigt die Rückfallreduzierung auf eine mäßige, aber beachtliche Effektstärke von 17 bis 22 Prozent. 42 - Man muß zwischen verschiedenen Behandlungs-Methoden unterscheiden: Einige Behandlungs-Programme haben einen positiven, rückfallvermindernden Effekt, einige haben überhaupt keine Wirkung, und einige erhöhen die Rückfälligkeit. Der rückfallvermindernde Effekt hat - je nach unterschiedlichen Behandlungs-Modulen - verschiedene Ausprägungsgrade. - Die Behandlungs-Methoden, die rückfallvermindernden Einfluß haben, müssen individuell nach den „kriminogenen Bedürfnissen" des jeweiligen Straftäters selektiv angewandt werden. Diese drei Prinzipien sind bisher in den Sozialtherapeutischen Anstalten, in denen die Sexualstraftäter behandelt werden sollen, nicht verwirklicht worden. Man hat zwar in diesen Anstalten eine rückfallreduzierende Effektstärke von etwa 11 Prozent gefunden. 43 Diese Wirkung relativiert sich freilich unter folgenden drei Erwägungen: - Die sozialtherapeutischen Einrichtungen verfügen über keine einheitliche und systematische Behandlungskonzeption 4 4 Für sie ist vielmehr eine heterogene Mischung aus verschiedenen Behandlungs-Ansätzen und Therapie-Schulen charakteristisch. Das Behandlungs-Programm wird von den mehr oder minder zufällig verfügbaren Spezialkenntnissen der in der jeweiligen Anstalt tätigen Therapeuten bestimmt. - Die Effektstärke von 11 Prozent, die in den Sozialtherapeutischen Anstalten ermittelt worden ist, kann durch Selektion, 41 Ted Palmer: The Re-Emergence of Correctional Intervention. Newbury Park, London, New Delhi 1992, 158. 42 Ted Palmer. Α Profile of Correctional Effectiveness and New Directions for Research. Albany/N.Y. 1994, 45. 43 Friedrich Lösel·. Ist der Behandlungsgedanke gescheitert? Eine empirische Bestandsaufnahme. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe. 45 (1996), 259267, bes. 260. 44 Rudolf Egg: Sozialtherapeutische Einrichtungen im Strafvollzug. In: Max Steller/Klaus-Peter Dahle/Monika Basque (Hrsg.): Straftäterbehandlung. Pfaffenweiler 1994, 186-200, bes. 191.
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durch eine systematische Auswahl- und Rückverlegungspraxis, entstanden sein. Nimmt man nämlich - wie es geschieht - in den Regelvollzug zurückverlegte Behandlungsabbrecher („InProgramme Failures"), die zwischen 2 0 % und 60% der Population ausmachen 45 und die hoch mit Rückfall belastet sind, aus der sozialtherapeutischen Untersuchungsgruppe heraus, so begünstigt man die Erfolgshypothese in unzulässiger Weise. Berücksichtigt man die Therapie-Auswahl und den Behandlungs-Abbruch, so besitzt die Sozialtherapie keinerlei rückfallvermindernde Wirkung. 46 - Zu bedenken ist schließlich, daß das Rückfallkriterium lediglich in einer angezeigten, bekanntgewordenen Straftat besteht. 47 Das Dunkelfeld der nicht-angezeigten, verborgen gebliebenen Rückfälle, das bei Sexualstraftätern groß ist, wird nicht erfaßt. Zur Behandlung von Sexualstraftätern gibt es gleichwohl keine Alternative. Denn die unbehandelten Rechtsbrecher sind gefährlich, weil hochrückfallgeneigt. Sie verursachen große Opferschäden. Zwar kann nur einem kleinen Teil von Sexualstraftätern Behandlung angeboten werden. Denn das Dunkelfeld der Sexualkriminalität ist enorm. Gleichwohl ist jede auch nur mäßige Rückfallverminderung schon ein Erfolg, zumal die verurteilten Sexualstraftäter zu den rückfallgefährdetsten und damit gefährlichsten gehören. Die Behandlungs-Bedingungen in Sozialtherapeutischen Anstalten müssen daher auf die wesentlichsten Gesichtspunkte konzentriert werden: - Nur die erfolgreichsten Behandlungs-Methoden, zur Zeit die kognitiv-behavioralen Trainings-Methoden unter Einschluß des Rückfall-Verhinderungs-Trainings, sind anzuwenden. Denn sie erreichen Effektstärken bis zu 25 Prozent. 48 - Die Behandlungs-Methoden müssen in einem ständigen Evaluierungs-Prozeß überprüft werden. Erfolglosere Methoden sind durch erfolgreichere zu ersetzen.
45 Friedrich Lösel/Rudolf Egg: Social-therapeutic Institutions in Germany: Description and Evaluation. In: Eric Cullen/Lawrence Jones/Roland Woodward (Hrsg.): Therapeutic Communities for Offenders. Chichester, New York, Weinheim, Brisbane, Singapore, Toronto 1997, 181-203, bes. 188. 46 Rüdiger Ortmann·. Zur Evaluation der Sozialtherapie. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. 106 (1994), 782-821. 47 Rudolf Egg: Zur Rückfälligkeit von Sexualstraftätern. In: Hans-Ludwig Kröber/ Klaus-Peter Dahle·. Sexualstraftaten und Gewaltdelinquenz. Heidelberg 1998, 57-69, bes. 67. 48 Friedrich Lösel/Doris Bender. Straftäterbehandlung: Konzepte, Ergebnisse, Probleme. In: Max Steller/Renate Volbert (Hrsg.): Psychologie im Strafverfahren. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1997,171-204, bes. 183.
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- Die „kriminogenen Bedürfnisse" der Sexualstraftäter, die psychodiagnostisch zu ermitteln sind, bilden die Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung. - Falls der Sexualstraftäter seine Behandlung abbricht und seine Verantwortlichkeit für seine Rechtsbrüche ablehnt, muß erwogen werden, ob Sicherungsmaßnahmen gegen ihn zu ergreifen sind. Denn das erhöhte Rückfallrisiko darf nicht allein dem potentiellen Verbrechensopfer angelastet werden. 5. Verantwortungs-Übernahme:
Motivation, Freiwilligkeit
Zu jeder erfolgreichen Behandlung von Sexualstraftätern gehört die Behandlungs-Motivation der Rechtsbrecher als Grundvoraussetzung. Denn jede Art von Behandlung beruht auf sozialer Interaktion und ist deshalb ohne Kooperation zwischen dem Therapeuten und dem Sexualstraftäter zum Scheitern verurteilt. Nicht-Motivation, Leugnung und Bagatellisierung der Sexualstraftat, kommt sehr häufig vor: 50 bis 70 Prozent der Population wollen sich nicht ändern. 49 Sie wollen ihre Zeit in der Strafanstalt absitzen und danach so weiterleben wie zuvor. 50 Deshalb ist es eine zentrale Aufgabe des Therapeuten, den Sexualstraftäter zur Behandlung zu motivieren. Er soll die Leugnung seiner Tat aufgeben und die Verantwortung für sie übernehmen. Die ältere psychiatrisch orientierte Kriminologie nahm an, daß zur Behandlungs-Motivation Krankheits-Einsicht und Leidensdruck gehöre. Diese Ansicht kann nicht mehr bestehen bleiben. Denn die Sexualstraftat ist in der Regel kein Symptom einer Krankheit. Sie ist kein „Ergebnis ungebremster aggressiver Impulse" , 52 sondern sie beruht auf Lernfehlern, die in schwierigen sexuellen Entwicklungsphasen entstanden sind. Der Sexualstraftäter leidet auch nicht unter einer Krankheit oder einer Persönlichkeitsstörung, nicht unter einem intra-psychischen Konflikt, sondern darunter, daß er bestraft und eingesperrt worden ist.
49 William L. Marshall/Anthony Eccles: Cognitive-Behavioral Treatment of Sex Offenders. In: Vincent Β. van Hasselt/Michel Hersen (Hrsg.): Sourcebook of Psychological Treatment Manuals for Adult Disorders. New York, London 1996, 295-332, bes. 297. 50 Curt R. BartolJAnne M. Bartol: Psychology and Law. 2. Aufl. Pacific Grove/Cal. 1994, 355. 51 Danya Glaser. Treatment Issues in Child Sexual Abuse. In: British Journal of Psychiatry. 159 (1991), 769-782, bes. 776. 52 So aber Friedemann Pfäfflin: Angst und Lust. Zur Diskussion über gefährliche Sexualtäter. In: Recht und Psychiatrie. 15 (1997), 59-67, bes. 64.
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Das medizinische Konstrukt der Behandlungs-Motivation ist zu eindimensional und zu statisch. Simple Beurteilungen einer guten, unzulänglichen oder schlechten Motivation machen heute keinen Sinn mehr.53 Ein solches Konzept behindert eine Behandlung eher, als sie zu unterstützen. Wenn der Sexualstraftäter nämlich - wie das medizinische Modell behauptet - unter einem unkontrollierbaren Trieb oder Impuls leidet, so benutzt er diesen angeblich „unwiderstehlichen Kontrollverlust", um seine Taten zu rechtfertigen und sich seiner Verantwortung zu entziehen.54 Außerdem fürchtet der Sexualstraftäter, der behandelt werden soll, das Stigma des „seelisch Kranken" und „Hilfsbedürftigen" bei seinen Mitgefangenen.55 Motivation ist ein vielschichtiges, mehrdimensionales, dynamisches Konzept, das nicht nur in einer der Behandlung vorgeschalteten Motivationsphase Bedeutung besitzt, sondern das während des gesamten Behandlungs-Prozesses vom Therapeuten weiter verfolgt werden muß. 56 Der Sexualstraftäter muß von seinem Therapeuten ständig aufs neue motiviert werden. Denn er ist in der Gesellschaft und in der Strafanstalt stark abgewertet. In der Strafanstalt nimmt er die unterste Stelle in der Gefangenen-Hierarchie ein. Ein extremer gesellschaftlicher Druck zur Leugnung und Bagatellisierung seiner Taten liegt auf ihm. Außerdem hegt er Mißtrauen gegenüber der Strafanstalt, deren Hilfs-Rolle ihm unvertraut ist. Deshalb versuchen die meisten Sexualstraftäter, ihre Taten selbst dann zu leugnen, wenn sie rechtskräftig verurteilt worden sind. Die einen behaupten, das Opfer habe keinen Schaden erlitten; die anderen beschönigen Häufigkeit, Schwere und Planung ihrer Delikte. Ganz typisch versuchen Sexualverbrecher, ihre Verantwortlichkeit von sich abzuschieben, indem sie behaupten, ihr „abnormer Trieb" sei für sie unkontrollierbar. Sie spielen ihre Schuld herunter. Sie behaupten, Pädophilie sei angeboren, oder ihre Straftat sei eine spontane, isolierte Verirrung gewesen, oder ihre Behandlung sei nicht notwendig, da sie alles zugäben und da sie sich entschieden hätten, nicht mehr rückfällig zu 53 Klaus-Peter Dahle: Therapy Motivation in Prisons: Towards a Specific Construct for the Motivation to Enter Psychotherapy for Prison Inmates. In: Santiago Redondo/Vincente Garrido/Jorge Perez/Rosemary Barberet (Hrsg.): Advances in Psychology and Law. Berlin, N e w York 1997, 431-441, bes. 435. 54 Gail McGregor/Kevin Howells: Addiction Models of Sexual Offending. ]ohn E. Hodge/Mary McMurran/Clive R. Hollin (Hrsg.): Addicted to Crime? Chichester, N e w York, Weinheim, Brisbane, Singapore, Toronto 1997, 107-137. 55 Klaus-Peter Dahle·. Therapiemotivation inhaftierter Straftäter. In: Max Steller/ Klaus-Peter Dahle/Monika Basqui (Hrsg.): aaO. (Fn. 44). 1994, 227-246, bes. 244/5. 56 F. Pfäfflin/T.Roß/N.Sammet/M. Weber. Psychotherapie mit Straftätern. In: Kröber/Dahle (Hrsg.): aaO. (Fn. 47). 1998, 153-168, bes. 156/7.
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werden. Sie bezweifeln, ob die Behandlung realistisch und angemessen ist, und es mangelt ihnen an Selbstvertrauen, ob sie der Behandlung überhaupt gerecht werden können. Es fehlt ihnen an Wissen über ihre Behandlung; sie haben über sie nur diffuse, verzerrte Vorstellungen. Sie mißtrauen der Integrität und Professionalität ihres Therapeuten. 57 Die kognitiven Verzerrungen, Denkfehler und -irrtümer des Sexualstraftäters müssen umstrukturiert werden. 58 Denn sie verhindern es, daß sich der Täter der Verantwortung für seine eigene Gefährlichkeit stellt (Externalisierung der Verantwortung für seine Tat, für seine Behandlung und für seinen Rückfall). Seine deviante Selbst-Identität, seine Fehlkonstruktion seines Opfers und seines devianten Verhaltens müssen geändert werden. Hierbei trägt er Mitverantwortung für den gesamten Wandlungsprozeß. Der Therapeut hat nicht alle Antworten; er ist nicht allein für Erfolg und Mißerfolg der Behandlung verantwortlich. Die Verantwortungs-Übernahme des Sexualstraftäters ist der erste notwendige Schritt für den Erfolg seiner Behandlung. Auf sie muß hingearbeitet werden. Denn die Sexualstraftäter besitzen das größte Rückfallrisiko, die die Behandlung verweigern. 59 Die erforderliche Kooperation zwischen dem Therapeuten und dem Rechtsbrecher kann auf zweierlei Weise gefördert werden: - Man informiert den Gefangenen über seine Behandlung und stellt im Falle seiner Kooperation Vollzugslockerungen in Aussicht. Je mehr der Gefangene mitarbeitet, desto mehr Motivations-Förderungs-Maßnahmen ergreift man. Die Chancen seiner vorzeitigen Entlassung verbessern sich. - Man konfrontiert den Gefangenen, der seine Taten negiert oder beschönigt, mit den Aussagen seines Opfers und den Feststellungen des Gerichts. In der Behandlungs-Gruppe von Sexualstraftätern fordert man ihn auf, seine eigene Tat-Version darzustellen, die dann von den Gruppenteilnehmern infrage gestellt wird (unterstützende Herausforderungen). Man geht hierbei von dem Behandlungs-Prinzip aus, daß nur der Sexualstraftäter die Tat-Versionen anderer Sexualrechtsbrecher infrage stellen
57
Klaus-Peter Dahle: Therapie und Therapieindikation bei Straftätern. In: Steller/ Volbert (Hrsg.): aaO. (Fn. 48). 1997, 142-159. 58 Julia Houston·. Making Sense with Offenders. Chichester, N e w York, Weinheim, Brisbane, Singapore, Toronto 1998, 27,145-173. 59 Robert ]. McGrath/Stephen E. Hoke/John E. Vojtisek: Cognitive-Behavioral Treatment of Sex Offenders. In: Criminal Justice and Behavior. 25 (1998), 203-225, bes. 221.
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kann, der die Verantwortung für seine eigenen Taten übernimmt. 60 Dem Sexualstraftäter, der seine Taten verneint oder trivialisiert, sagt man, daß man das Verbergen der Wahrheit und die Vermeidung der Verantwortlichkeit erwartet, aber nicht akzeptiert. Jeder Rechtsbrecher wiederholt die Enthüllung seiner Taten so lange, bis die Gruppe und der Therapeut seine Tat-Version für annehmbar hält. Die Sexualstraftäter, die sich in mehreren aufeinander folgenden Behandlungssitzungen ständig weigern, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, müssen aus dem Behandlungsprogramm entlassen werden. IV. Behandlungs-Methoden 1. Organische Behandlung Organische Behandlung umfaßt die Psychochirurgie, die chemische und chirurgische Kastration und die Medikation mit Antiandrogenen und Antidepressiva. Diese Behandlungsform geht von der (falschen) Annahme aus, daß sexuelle Deviation eine Funktion eines überstarken Sexual-„Triebs" ist. Sexualstraftäter begehen ihre Delikte indessen aus noch überwiegend anderen Motiven als nur ihrem Wunsch nach sexueller Befriedigung.61 Sexualität ist nicht nur ein körperliches, sondern ein geistig-seelisches, zwischenmenschliches Problem. Triebdämpfung reicht deshalb notwendigerweise allein nicht zur Rückfallverhinderung aus.62 Legalisierte Kastration ist vielmehr eine ideologisch begründete Strafe, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. In den meisten westlichen Ländern bestehen deshalb gegen die Kastration als „Behandlung" ethische Einwände. Hormonale und Antiandrogen-Behandlung werden als „Ergänzungstherapie" bisweilen für erfolgreich gehalten.64
Marsball/Eccles: aaO. (Fn. 49), 1996, 300. Mary Barker: What Works with Sex Offenders? In: Gill Mclvor (Hrsg.): Working with Offenders. London, Bristol/Penn. 1996, 107-119, bes. 108. 62 Derek Perkins: Clinical Work with Sex Offenders in Secure Settings. In: Clive R. Hollin/Kevin Howells (Hrsg.): Clinical Approaches to Sex Offenders and Their Victims. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapore 1991, 151-177, bes. 164/5. 63 Ronald Blackburn: The Psychology of Criminal Conduct. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapore 1993, 370. 64 J.M.W. Bradford: The Antiandrogen and Hormonal Treatment of Sex Offenders. In: W.L. Marsball/D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 297-310. 60 61
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2. Psychodynamische
Therapie
Psychotherapie wird meist in Form der Gruppentherapie durchgeführt. Ihre Grundlage ist die psychodynamische Theorie, die voraussetzt, daß die Sexualstraftat ein Symptom innerpsychischer Probleme ist und daß sie im wesentlichen auf frühkindliche Traumen zurückgeführt werden muß. Die Gruppe Gleichbetroffener wird hierbei als Mittel wechselseitiger psychischer und sozialer Unterstützung eingesetzt. Das Hauptziel der Psychotherapie besteht darin, die Ursachen der Straftaten der Gruppenmitglieder aufzudecken und zu analysieren. Man geht davon aus, daß mit dieser Aufdeckung und Analyse die Einsicht in die eigenen innerpsychischen Probleme wächst, so daß die deviante sexuelle Erregung als Symptom verschwindet. Es ist zweifelhaft, ob der Sexualstraftäter mit der Einsicht in seine eigenen innerpsychischen Probleme von seinem Rückfall abläßt. Er kann die Erkenntnis seiner unerledigten psychodynamischen Konflikte auch zur Rechtfertigung seiner Tat und zur Verleugnung seiner eigenen Verantwortlichkeit benutzen. Das gilt insbesondere für die eigene Viktimisierung des Täters, die er nicht selten wahrheitswidrig behauptet, um Beachtung zu bekommen und Sympathie zu erwecken.65 Die Psychotherapie, die auf eine langfristige Veränderung der Persönlichkeitsstruktur abzielt,66 hat sich als ineffektiv,67 sogar als kriminogen (rückfallverursachend) erwiesen.68 Die Sexualstraftäter müssen ihre Lernirrtümer revidieren. Hierzu ist es notwendig, daß sie sich zu ihren Taten bekennen und sie nicht als unvermeidbare Folge ihrer eigenen Viktimisierung ansehen.
65 Kurt Freund/Robin Watson/Robert Dickey·. Does Sexual Abuse in Childhood Cause Pedophilia: An Exploratory Study. In: Archives of Sexual Behavior. 19 (1990), 557-568. 66 Lorenz Böllinger·. Ambulante Psychotherapie mit im Maßregelvollzug untergebrachten Sexualstraftätern. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 8 (1995), 199-221, bes. 218. 67 Barry Anechiarico: A Closer Look at Sex Offender Character Pathology and Relapse Prevention: An Integrative Approach. In: International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology. 42 (1998), 16-26, bes. 17; Paul Gendreau: The Principles of Effective Intervention With Offenders. In: Alan T. Harland (Hrsg.): Choosing Correctional Options That Work. Thousand Oaks, London, New Delhi 1996,117-130, bes. 126; Gendreau: Offender Rehabilitation. In: Criminal Justice and Behavior. 23 (1996), 144-161, bes. 149. 68 Andrews/Bonta: aaO. (Fn. 32). 1994, 195.
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3. Kognitives
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Verhaltens-Training
Kognitiv-behaviorales Training (mit Rückfall-Verhütungs-Training) ist die modernste und die in den USA 69 wie in Europa 70 am meisten angewandte und für erfolgreich gehaltene Behandlungsmethode für Sexualstraftäter. Es zielt nicht auf Heilung ab. Denn Sexualrechtsbrecher sind in der Regel nicht krank. Es beabsichtigt vielmehr, daß Sexualstraftäter ihre devianten sexuellen Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Verhaltens verlernen und durch nichtdeviante Verhaltensstile ersetzen. Es ist ein mehrstufiger VerhaltensAnderungs- und Erhaltungs-Prozeß, der sich aus vier BehandlungsModulen zusammensetzt: aus dem Auslöschen devianten und aus der Verstärkung prosozialen Sexualverhaltens, aus der Veränderung devianter Einstellungen und Denkmuster (Skripte), aus der Verbesserung der Kontrolle von Wut und Arger und aus der Einübung sozialer Fähigkeiten (z.B. Einfühlung in das Opfer): Mit dem Verhaltens-Training versucht man, deviante sexuelle Vorlieben (deviante Sexualphantasien, deviante sexuelle Erregung) auszulöschen und prosoziale Muster sexueller Stimulation zu verstärken (orgastische Rekonditionierung). Bei der Aversionstherapie wird z.B. eine deviante sexuelle Erregung durch Dias, Bilder, Filme, Geschichten mit aversiven Konsequenzen, ekelerregendem Geruch oder Geschmack, verbunden. Deviante Phantasien werden durch sozialadäquate ersetzt. Nicht-deviante sexuelle Erregung wird verstärkt. 71 Da Sexualstraftäter indessen auch nicht-sexuelle Motive (z.B. Domination und Kontrolle über das Opfer) haben, kann sich ihre Erregung überdies auf das Hochgefühl beziehen, das die Täter mit Domination, Kontrolle und Entwürdigung ihrer Opfer verbinden. In diesem Fall müssen sie in der Behandlung dieses Hochgefühl verlernen. Kognitive Umstrukturierungs-Techniken verfolgen das Ziel, gedankliche Verzerrungen und Verdrehungen, z.B. vergewaltigungsunterstützende Stereotype, pädophile Neutralisationen, infrage zu stellen und umzuformen, die es Sexualstraftätern bisher erlaubt haben, ihr kriminelles Verhalten zu rechtfertigen und zu beschönigen
69 Ted Palmer. Programmatic and Nonprogrammatic Aspects of Successful Intervention. In: Alan T. Harland (Hrsg.): aaO. (Fn. 67). 1996, 131-182, bes. 141/2. 70 Santiago Redondo/Vicente Garrido/Julio Säncbez-Meca: What Works in Correctional Rehabilitation in Europe: A Meta-Analytical Review. In: Redondo/Garrido/ Perez/Barberet (Hrsg.): aaO. (Fn. 53). 1997, 499-523, bes. 514. 71 Vernon L. Quinsey/Christopher M. Earls: The Modification of Sexual Preferences. In: W.L. Marshall/D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 279-295.
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(Neutralisation von Selbstbestrafung). Neue sozialadäquate Denkmuster werden mit ihnen eingeübt. Die Gedankenkette, die kriminelles Verhalten belohnt, wird z.B. unterbrochen (Technik des Gedankenanhaltens). Die Änderung der Kern-Rollen-Struktur, der devianten Selbst-Identität, der Täter-Ansicht über sich selbst, über seine Opfer und über deren Verhalten ist zentraler Teil der Behandlung.73 Sexualstraftäter müssen lernen, daß sie ihre Emotionen beherrschen können und daß sexuell aggressives Verhalten nicht das einzige Mittel ist, um mit negativen Affektzuständen (z.B. Wut, Arger) fertig zu werden. 74 Physiologische Erregung, die häufig mit mangelnder affektiver Kontrolle verbunden ist, kann durch Muskel-Entspannungs-Training wirksam vermindert und kontrolliert werden. Alternative Interpretationen und kontrollierte Reaktionen auf anscheinend bedrohliches Verhalten werden mit kognitivem Training ermutigt. Streß-Impfungs-Training ist speziell nützlich, um schlecht angepaßte Reaktionen auf fehlinterpretierte situative Provokationen unter Kontrolle zu bringen. Situationen, die einen negativen Affekt und eine sexuelle Aggression auslösen, werden im Rollenspiel möglichst wirklichkeitsgetreu nachgeahmt. Ein anderer Sexualstraftäter spielt die Rolle des Provokateurs. Videoaufnahmen solcher Rollenspiele machen Probleme, z.B. Ärger und Haß auf Frauen, sichtbar, die dem Sexualstraftäter bisher unbewußt waren. Die Videoaufnahmen der Rollenspiele werden sorgfältig analysiert und besprochen; Verbesserungsvorschläge für prosoziales Verhalten werden gemacht. Unter Beachtung der Empfehlungen wird das Rollenspiel wiederholt. 75 Mit dem Training sozialer Fähigkeiten 76 eignet sich der Sexualstraftäter die Fertigkeiten an, soziale Kontakte einzugehen, aufrechtzuerhalten und wieder zu lösen und die Ansichten und Gefühle seiner Mitmenschen zu verstehen. Seine Selbstsicherheit wird gestärkt, kreatives Problemlösen wird eingeübt, und seine Beziehung zu
72 William D. Murphy: Assessment and Modification of Cognitive Distortions in Sex Offenders. In: W.L. Marshall/D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 331-342. 73 Houston: aaO. (Fn. 58). 1998, 147/164. 74 Robert Prentky: A Rationale for the Treatment of Sex Offenders: Pro Bono Publico. In: McGuire (Hrsg.): aaO. (Fn. 32). 1995, 155-172, bes. 162/3. 75 Gordon C. Nagayama Hall: Theory-Based Assessment, Treatment, and Prevention of Sexual Aggression. New York, Oxford 1996, 152-154. 76 Richard M. McFall: The Enhancement of Social Skills. In: W.L. Marshall/D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 311-330.
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Frauen wird verbessert. 77 Nicht weniger als 94 Prozent aller 1.500 Behandlungs-Programme f ü r Sexualstraftäter in den USA wenden Opfer-Einfühlungs-Training an: 78 In Rollenspielen muß der Sexualstraftäter die Perspektive seines eigenen Opfers oder eines Opfers der Deliktsart einnehmen, die er verübt hat. Er hat Bücher und Aufsätze zu lesen, die von O p f e r n geschrieben worden sind. Diese Opferberichte werden in der G r u p p e der Sexualstraftäter diskutiert. Er hat zwei Briefe zu schreiben: einen von seinem O p f e r und einen Antwortbrief an sein Opfer. Der Opferbrief soll den U n m u t des Opfers, seinen Vertrauensverlust, seine Selbstbezichtigung und seine anderen emotionalen, kognitiven und Verhaltens-Probleme enthalten. Der Therapeut liest einen Opfer-Brief oder zeigt eine Videoaufnahme, in der das O p f e r die Folgen der Sexualstraftat beschreibt. Brief und Aufnahme werden in der G r u p p e besprochen. Der Sexualstraftäter trifft mit Opfer-Anwälten und -beratern oder mit einem O p f e r selbst zusammen. Solche Opfer-Begegnungen dürfen zu keiner Konfrontation führen, in der die Handlungsfreiheit des Täters zwanghaft eingeengt wird. Denn ein solches In-die-Enge-Treiben kann über den psychologischen Mechanismus der Reaktanz zu einer Verstärkung des Täter-Widerstands und damit z u m Scheitern der Behandlung führen. 7 9 4. Rückfall- Verhütungs- Training Das Rückfall-Verhütungs-Training („Relapse Prevention") ist ein Selbst-Steuerungs-Modell zur Erhaltung des Trainings-Gewinns und zur Verbesserung der äußeren Überwachung des Sexualstraftäters. 80 Das Erlernen von Rückfall-Verhütungs-Strategien und -Konzepten ist zu einem integrierten Bestandteil des kognitiven Verhaltens-Trainings geworden. Allerdings setzt es voraus, daß der Rechtsbrecher seine Tat nicht leugnet, sondern daß er die volle Verantwortung für sein kriminelles Verhalten übernimmt. 8 1 Bei der Rückfallverhütung wird dem Sexualrechtsbrecher ein ProblemLösungs-Ansatz nahegebracht. Man stattet ihn mit Methoden aus,
77 Sabine Eucker: Verhaltenstherapeutische Methoden in der Straftäterbehandlung. In: Kröber/Dahle (Hrsg.): aaO. (Fn. 47). 1998, 189-223, bes. 192/3. 78 Marsball/Eccles: aaO. (Fn. 49). 1996, 302-305. 79 Nagayama Hall: aaO. (Fn. 75). 1996, 147/8. 80 William D. Pithers: Relapse Prevention with Sexual Aggressors. In: W.L. Marshall/ D.R. Laws/H.E. Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 343-361. 81 D.J. van Beek/J.R. Mulder. The Offense Script: A Motivational Tool and Treatment Method for Sex Offenders in a Dutch Forensic Clinic. In: International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology. 36 (1992), 155-167.
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die es ihm erlauben, Warnzeichen und Risikosituationen zu erkennen und zu analysieren sowie Strategien zu entwickeln, solche Situationen entweder zu vermeiden oder mit ihnen fertig zu werden. Die beiden grundlegenden Lehrsätze des Rückfall-Verhütungs-Trainings lauten: 82 Die Sexualstraftat ereignet sich nicht „aus dem Blauen", aus dem Vakuum heraus. Der Täter ist nicht außer Kontrolle. Sein Rückfall-Prozeß besteht aus einer Rückfall-Ereignis-Kette: Zunächst fühlen sich die Täter „einsam" und „verwirrt". Ein innerer Drang, ein flüchtiger Gedanke oder ein Traum quälen sie, eine deviante sexuelle Handlung zu begehen. Sie können diesen emotionalen Zustand psychisch nicht verarbeiten. In der zweiten Phase führen sie Masturbations-Phantasien herbei, in denen sie sich durch die Vorstellung einer devianten sexuellen Handlung erregen. Im dritten Schritt gehen die Phantasien in verzerrte Gedanken über. Die Täter stellen sich häufig Rechtfertigungen für ihre Sexualstraftaten vor, die sie zu begehen gedenken. Verzerrte Gedanken schreiben potentiellen Opfern unzutreffende Eigenschaften zu. In der vierten Phase entwickeln die Täter einen Plan, wie ihr phantasiertes Verhalten in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Im fünften und letzten Schritt des Rückfall-Prozesses wird ihr Plan ausgeführt. Die Rückfall-Verhütung ist ein kognitiver, individualisierter Trainings-Ansatz, der fünf Aufgaben verfolgt. 83 - Zunächst werden anfällig machende, beschleunigende und fortdauernde Risiko-Faktoren, frühe Vorläufer („Warnzeichen") des Rückfall-Prozesses mit dem Täter zusammen ermittelt. Er wird über die Ereignis-Abfolge seines Rückfall-Prozesses (Emotion, Phantasie, kognitive Verzerrung, Plan, Handlung) informiert. Es wird ihm gesagt, daß seine Behandlung sein deviantes Sexualverhalten ändern wird, daß aber gleichwohl in Zukunft - mindestens vorübergehend - seine devianten sexuellen Phantasien zurückkehren können. - Als zweite Aufgabe werden mit ihm zusammen BewältigungsStrategien erarbeitet, die in Risikosituationen benutzt werden können, um die Wahrscheinlichkeit seines Rückfalls zu min-
Marshall/Eccles: aaO. (Fn. 49). 1996, 314. William H. George/G. Alan Marlatt: Introduction. In: D. Richard Laws (Hrsg.): Relapse Prevention with Sex Offenders. N e w York, London 1989, 1-31; Janice K. Marqu.es/Craig Nelson: The Relapse Prevention Model: Can It Work With Sex Offenders? In: Ray DeV.Peters/Robert J. McMabon/Vernon L. Quinsey (Hrsg.): Aggression and Violence Throughout the Life Span. Newbury Park, London, N e w Delhi 1992, 222-243. Hilary Eldridge: Therapist Guide for Maintaining Change. Thousand Oaks, London, N e w Delhi 1998. 82
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dem. Jeder Täter zeigt Einzelheiten auf, wie er jedem Risikofaktor begegnen wird, den er in seiner Verhaltensabfolge vor seiner Tatbegehung erkannt hat. Er muß sich Mittel und Wege einfallen lassen, wie er solche Risikosituationen vermeiden wird. Er muß sich ferner einige Strategien überlegen, wie er mit jedem Faktor fertig wird, sollte er unvermeidbar auftauchen. - Drittens werden Fehltritte, z.B. deviante sexuelle Gedanken, Gefühle und Phantasien, nicht als Zeichen absoluten Versagens, sondern als Gelegenheiten definiert, die die Selbststeuerung des Täters verbessern, indem er aus Irrtümern lernt. Man will auf diese Weise einer negativen Abstinenz-VerletzungsWirkung, einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung entgegenwirken. Ein Lapsus, ein Abgleiten in alte deviante sexuelle Denk- und Phantasie-Gewohnheiten, kann zum unumkehrbaren Verlust an Selbstkontrolle und zum Rückfall führen. Er kann aber auch eine wertvolle Lernerfahrung, ein Übergangsstadium zur Verbesserung der Selbststeuerung des Täters sein und damit ein vereinzeltes Ereignis bleiben. - Als vierte Aufgabe werden Sexualstraftäter daran gewöhnt, ihre Ausrutscher (deviante sexuelle Gedanken, Gefühle und Phantasien) als Irrtümer zu betrachten, die ihnen Gelegenheiten eröffnen, neue Bewältigungs-Fähigkeiten herauszubilden und ihre Selbstkontrolle zu verbessern. Wenn man Fehltritte als persönliches Versagen beurteilt, entwickelt man die Erwartungshaltung fortgesetzten ständigen Versagens, die in einer möglichen endgültigen Niederlage, dem Rückfall, endet. Wenn dagegen ein Täter einen Lapsus, ein Straucheln, eine Fehlleistung als ein erwartetes Ereignis, als Herausforderung betrachtet, das ihm die Gelegenheit eröffnet, neue SelbststeuerungsFähigkeiten durch die Analyse umkehrbarer Irrtümer (Versehen) herauszubilden, können Fehltritte, deviante sexuelle Gedanken und Phantasien, produktive Ergebnisse hervorbringen. - Fünftens werden mit dem Rechtsbrecher zusammen Interventionen entworfen, die ihn lehren, Fehltritte zu vermeiden und darauf hinzuwirken, daß sich aus Fehltritten keine Rückfälle entwickeln. Dem Täter wird beigebracht, wie man eine Rückfall-Ereignis-Kette erkennt und unterbricht, damit sie nicht zum Rückfall führt. Neben dem Selbst-Steuerungs-Ansatz zur Erhaltung des Trainings-Gewinns besteht die Rückfall-Verhütung aus einer zweiten Dimension: aus der Schaffung eines ausgedehnten informellen Uberwachungs-Netzwerks für eine erhebliche Zeit nach Abschluß des kognitiven Verhaltens-Trainings und nach Entlassung aus dem Pro-
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gramm. Der Täter hat selbst dafür zu sorgen, daß seine innere Selbststeuerung durch äußere Überwachung ergänzt wird. 84 Die Therapeuten arbeiten mit vier oder fünf Personen (z.B. mit der Ehefrau, dem Arbeitgeber, mit Berufskollegen, mit Freunden, mit dem Bewährungshelfer) zusammen, die der Täter selbst benennt, die in regelmäßigem Kontakt mit dem Entlassenen stehen und die sein Verhalten ständig beobachten. Entdecken sie Rückfall-Vorläufer (Warnzeichen), so informieren sie die Therapeuten, die NachbehandlungsInterventionen veranlassen. V. Behandlung jugendlicher Sexualdelinquenten Die Hälfte erwachsener Sexualverbrecher beginnt mit ihren Delikten in früher Jugend. 20 Prozent der Vergewaltigungen und 30 bis 50 Prozent der sexuellen Mißbrauchsdelikte an Kindern werden von männlichen Jugendlichen begangen. 85 Für viele jugendliche Sexualdelinquenten bleibt ihre sexuelle Deviation allerdings eine Episode. Wenn jugendliche Sexualdelinquenten gefaßt werden, sind alle an der Jugendstrafrechtspflege Beteiligten bestrebt, daß sie mit einer möglichst milden Sanktion („Diversion") davonkommen. Man rechtfertigt die Sexualdelikte Jugendlicher als „sexuelles Experimentieren" und als „Teil normaler Sexualentwicklung". Mit solchem Vorgehen tut man jugendlichen Sexualdelinquenten und deren potentiellen Opfern keinen Gefallen. Denn man ermutigt die jungen Sexualstraftäter und deren Familien, die sexuellen Rechtsbrüche nicht als Straftaten zu beurteilen, sie nachhaltig zu rechtfertigen und zu trivialisieren.86 Hierdurch kann die frühe deviante Vorliebe im Jugendalter zu einem resistenten devianten Hang im Erwachsenenleben verfestigt werden. Jugendliche Sexualdelinquenten sollten jugendgerichtlich verantwortlich gemacht und mit kognitivem Verhaltens-Training (mit Rückfallverhütungs-Training) 87 möglichst
84 Uta Kröger. . . . N o Cure, But Control. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 10 (1997), 138-146, bes. 138. 85 Judith V. Becker/Bradley R. Johnson/John A. Hunter. Adolescent Sex Offenders. In: Clive R. Hollin/Kevin Howells (Hrsg.): Clinical Approaches to Working with Young Offenders. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapore 1996, 183195. 86 Howard E. Barbaree/Franca A. Cortoni: Treatment of the Juvenile Sex Offender within the Criminal Justice and Mental Health Systems. In: Howard E. Barbaree/ William L. Marsball/Stephen M. Hudson (Hrsg.): The Juvenile Sex Offender. New York, London 1993, 243-263, bes. 249/250. 87 Judith V. Becker/Meg S. Kaplan: Cognitive Behavioral Treatment of the Juvenile Sex Offender. In: Barbaree/Marshall/Hudson (Hrsg.): aaO. (Fn. 86). 1993, 264-277;
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frühzeitig behandelt werden. Denn nicht nur der Opferschutz muß auch bei ihnen im Vordergrund stehen. Es ist ebenso wichtig, daß ihre deviante Sexualentwicklung möglichst früh erkannt und durch Behandlung angehalten wird. 88 VI. Behandlungs-Erfolg Es ist außerordentlich schwierig, die Rückfälligkeit von Sexualstraftätern nach ihrer Behandlung zu ermitteln. Denn die Rückfallkriterien der Wiederverhaftung und -Verurteilung sind nicht sehr zuverlässig. Ein Großteil der Sexualstraftäter wird rückfällig, ohne daß ihre Rückfalltat bekannt wird (Dunkelfeldproblematik!). Die Behauptung, daß jede Art von Behandlung den Rückfall von Sexualstraftätern mindert, 89 kann nach einer umfassenden Evaluations-Forschung 90 nicht mehr bestehen bleiben. Insbesondere organische und psychodynamische Behandlungs-Methoden haben sich nicht als ausreichend erfolgversprechend erwiesen.91 Nach dem derzeitigen internationalen Forschungsstand folgt man mehrheitlich einem differentiellen Behandlungs-Modell, das das kognitiv-behaviorale Training mit Rückfall-Verhütungs-Training befürwortet 92 und das auf die „kriminogenen Bedürfnisse" der Sexualstraftäter abstellt. Die mit dieser kombinierten Methode behandelten Täter verübten weniger Sexualdelikte und weniger andere Straftaten.93 Eine rück-
Alison Stickrod Gray/William D. Pithers: Relapse Prevention with Sexually Aggressive Adolescents and Children: Expanding Treatment and Supervision. In: Barharee/ Marshall/Hudson (Hrsg.): aaO. (Fn. 86). 1993, 289-319; Mark R. Weinrott/Michael Riggan/Stuart Frothingham·. Reducing Deviant Arousal in Juvenile Sex Offenders Using Vicarious Sensitization. In: Journal of Interpersonal Violence. 12 (1997), 704728. 88 Nagayama Hall: aaO. (Fn. 75). 1996, 43/178. 89 Friedemann Pfäfflin·. Rückfallprognose bei Sexualdelinquenz. In: Recht und Psychiatrie. 13 (1995), 106-114, bes. 112; Norbert Leygraf: Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags. Protokoll der 59. Sitzung vom 9.10.1996. Deutscher Bundestag, Rechtsausschuß Protokoll Nr. 59, Stellungnahmen Seite 8. 90 Lita Furby/Mark R. Weinrott/Lyn Blackshaw. Sex Offender Recidivism: Α Review. In: Psychological Bulletin. 109 (1989), 3-30. 91 Barker. aaO. (Fn. 61). 1996, 108/109. 92 Nagayama Hall·. aaO. (Fn. 75). 1996, 121-157; Marshall/Eccles: aaO. (Fn. 49). 1996, 295-332. 93 McGrath/Hoke/Vojtisek: aaO. (Fn. 59). 1998, 220; Kris R. Henning/B. Christopher Frueh: Cognitive-Behavioral Treatment of Incarcerated Offenders. In: Criminal Justice and Behavior. 23 (1996), 523-541; W.L. Marshall/W.D. Pithers·. A Reconsideration of Treatment Outcome with Sex Offenders. In: Criminal Justice and Behavior.
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fallvermindernde Effektstärke bis zu 27% konnte erreicht werden.94 Besonders günstig erwies sich die Behandlung jugendlicher Sexualrechtsbrecher.95 Interventionen während der Jugendzeit - bevor die Sexualstraftäter ihre chronischen, persistenten devianten Verhaltensstile entwickeln - versprechen, eine effektive Methode der Prävention gegen Sexualkriminalität zu werden. Das kognitiv-behaviorale Training mit Rückfall-Verhütungs-Training sollte mindestens 9 bis 12 Monate dauern. Mit der Länge der Behandlungsdauer wächst die Höhe der Rückfallminderung. Besonders rückfallgefährdet sind Behandlungs-Verweigerer und -abbrecher sowie Rezidivisten. Insofern wählen sich die gefährlichen Sexualstraftäter mit schlechter Prognose selbst aus. Wesentlich ist die Verantwortungs-Ubernahme für die Tat, die Behandlung und den Rückfall. Mit dem kognitiven Verhaltens-Training (mit Rückfall-Verhütungs-Training) werden bei pädosexuellen Rechtsbrechern bessere rückfallvermindernde Erfolge erzielt als bei Vergewaltigungstätern.96 Die geringere Wirkung bei Vergewaltigungstätern wird darauf zurückgeführt, daß vergewaltigungsfördernde Einstellungen in der Gesellschaft größere Unterstützung finden als Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern.97 Die Vergewaltigungs-Täter erhalten mehr gesellschaftlichen Rückhalt. Obwohl das kognitive Verhaltens-Trainung mit Rückfall-VerhütungsTraining auf der kognitiv-sozialen Lerntheorie - der derzeit inter21 (1994), 10-27; Janice K. Marques/David M. Day/Craig Nelson/Mary Ann West: Effects of Cognitive-Behavioral Treatment on Sex Offender Recidivism. In: Criminal Justice and Behavior. 21 (1994), 28-54; W.L. Marshall: The Treatment of Sex Offenders. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 524-530; Barry M. Maletzky/ Kevin B. McGovern: Treating the Sexual Offender. Newbury Park, London, New Delhi 1991, 257; skeptisch: Vernon L. Qumsey/Grant T. Harris/Mamie E. Rice/Martin L. Lalumiere: Assessing Treatment Efficacy in Outcome Studies of Sex Offenders. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 512-523. 94 Redondo/Garrido/Sanchez-Meca: aaO. (Fn. 70) 1997, 514/516; Friedrich Lösel: What Recent Meta-Evaluations Tell us About the Effectiveness of Correctional Treatment. In: Graham Davies/Sally Lloyd-Bostock/Mary McMurran/Clare Wilson (Hrsg.): Psychology, Law, and Criminal Justice. Berlin, N e w York 1996,537-554, bes. 545/6. 95 Gordon C. Nagayama Hall: Sexual Offender Recidivism Revisited: A Meta-Analysis of Recent Treatment Studies. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology. 63 (1995), 802-809, bes. 807. 96 W.L. Marshall/Robin Jones/Tony Ward/Peter Johnston/H.E. Barbaree: Treatment Outcome with Sex Offenders. In: Clinical Psychology Review. 11 (1991), 465-485; W.L. Marshall/H.E. Barbaree: Outcome of Comprehensive Cognitive-Behavioral Treatment Programs. In: Marshall/Laws/Barbaree (Hrsg.): aaO. (Fn. 9). 1990, 363385, bes. 382. 97 Barker: aaO. (Fn. 61). 1996, 113.
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national vorherrschenden kriminologischen Ursachentheorie 98 - beruht, muß durch einen ständigen Evaluations-Prozeß diese Behandlungs-Methode noch wirksamer ausgestaltet werden. Neue theoriegeleitete Behandlungs-Methoden sind zu erproben. VII. Sicherungsverwahrung für nicht-behandelbare, gefährliche Sexualstraftäter Aufgrund des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten kann das Gericht bei gefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern, die zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt werden, neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn sie wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die sie vor der neuen Tat begangen haben, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sind (§ 66 Abs. 3 StGB). Das Gericht kann sogar einen gefährlichen Rechtsbrecher, der wegen zwei Gewalt- oder Sexualstraftaten jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat, neben der Strafe in Sicherungsverwahrung - auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentzug - einweisen, wenn er wegen einer oder mehrerer dieser Gewalt- oder Sexualstraftaten zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. Es kann also bereits nach einer Vorverurteilung, sogar nur nach Begehung von zwei Sexualstraftaten Sicherungsverwahrung angewandt werden. Entgegen der bisherigen Regelung kann auch die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug vom Gericht nicht für erledigt erklärt werden, wenn die Gefahr besteht, daß der Untergebrachte infolge seines kriminellen Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (§ 67d Abs. 3 StGB). Damit wird die Möglichkeit geschaffen, bei besonders gefährlichen Straftätern die Sicherungsverwahrung auch lebenslang zu vollstrecken. Diese Neuregelung wird mit dem Argument begründet, es sei mit den berechtigten Sicherheitsinteressen der Bevölkerung nicht in Einklang zu bringen, einen Straftäter zwingend nach Ablauf von zehn Jahren aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen, auch wenn seine hochgradige Gefährlichkeit fortbesteht. Zur Verlängerung der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus ist eine Uberprüfung notwendig, bei der ein Sachverständiger zu hören ist (§ 463 Abs. 3 Sätze 3 und 4 StPO).
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aaO. (Fn. 10). 1998, 652/3.
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Gegen diese Erweiterung der Unterbringung von gefährlichen, rückfälligen Sexualstraftätern in der Sicherungsverwahrung werden beachtliche Einwände vorgebracht: Allein auf der Grundlage einer vagen Prognose über die zukünftige Gefährlichkeit des Rechtsbrechers und ohne zureichende Indizwirkung früherer Taten, Verurteilungen und Verbüßungen könne man keinen Freiheitsentzug von zehn und mehr Jahren aussprechen; eine solche Entscheidung entbehre jeder Verhältnismäßigkeit und Rationalität. Da die Gefährlichkeitsprognose unsicher sei, bestehe die Gefahr, daß zahlreiche ungefährliche Rechtsbrecher unberechtigterweise ihre Zeit in der Sicherungsverwahrung verbrächten." Von ihrer erleichterten Anwendung müsse so lange abgesehen werden, bis die Rückfälligkeit von Sexualstraftätern und die Rückfall-Reduktions-Wirkung von Therapiemaßnahmen ausreichend geklärt seien.100 Diese Einwände müssen als unberechtigt zurückgewiesen werden. Allein die Verbesserung der Täterbehandlung bietet keinen ausreichenden Schutz vor gefährlichen Sexualstraftätern, die hoch und lange rückfallgefährdet sind. Zwar ist die Sicherungsverwahrung die ultima ratio, die letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik. Sie ist aber bei gefährlichen Sexualstraftätern unentbehrlich notwendig, weil sie nicht selten behandlungsunfähig und -unwillig sind und weil sie die Verantwortungs-Übernahme für ihre Taten, für ihre Behandlung und für ihren möglichen Rückfall ablehnen. Die hohen Rückfallraten, die lange andauernde Tätergefährlichkeit (Rückfallneigung), die bescheidenen Behandlungserfolge und die verheerenden psychischen und sozialen Folgen von Sexualstraftaten machen eine neue Abwägung der Sicherheitsinteressen der potentiellen Opfer und der Freiheitsinteressen der Täter erforderlich. Die Erhöhung der Freiheitsstrafen, wie sie im Ausland praktiziert wird, ist hierbei keine Alternative, weil sie viel zu teuer und zu ungezielt ist. Die Verbesserung der kriminologischen Prognosemethoden bietet durchaus eine reelle Chance, den richtigen Personenkreis gefährlicher Sexualstraftäter zu erfassen. Durch die gesetzlichen Neuregelungen wird der Freiheitsanspruch des Täters zum körperlichen, psychischen und sozialen Unversehrtheitsanspruch potentieller Opfer unabweislich ins angemessene Verhältnis gebracht. 99 Jörg Kinzig·. Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags. Protokoll der 93. Sitzung vom 8.9.1997. Deutscher Bundestag, Rechtsausschuß Protokoll Nr. 93, Stellungnahmen Seiten 2 bis 8; vgl. auch Kinzig·. Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br. 1996. 100 Hero Schall/Marcus Schreibauer: Prognose und Rückfall bei Sexualstraftätern. In: Neue Juristische Wochenschrift. 1997, 2412-2420, bes. 2418.
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VIII. Opferhilfe und -behandlung als notwendige Ergänzung der Täter-Behandlung Opfer von Sexualdelikten bedürfen der Hilfe, und sie streben nach psychosozialer Unterstützung. Eine moderne Kriminalpolitik kann ihnen diese Unterstützung nicht verweigern. Es muß vielmehr ein Netz professioneller, staatlicher Opferhilfs- und -behandlungszentren aufgebaut werden. Opferhilfs- und -behandlungsprogramme sind erforderlich, um die sexuelle Reviktimisierung zu vermeiden und um die psychosoziale und psychosomatische Traumatisierung der sexuellen Viktimisierung zu heilen. Nicht nur Gründe einer humanen und gerechten Kriminalpolitik sprechen dafür, das Opfer nicht mehr mit den Verletzungen allein zu lassen, die es als Sonderleistung für die Kriminalitätskontrolle erbracht hat. Viele Opfer sind durch ihre sexuelle Viktimisierung in ihrem Selbstkonzept so schwer getroffen, daß sie in einem Prozeß der erlernten Hilflosigkeit dazu neigen, wegen ihrer Selbstbehauptungsschwäche von Kriminellen erneut zum Opfer ausgewählt zu werden (Opferverwundbarkeit). Durch verschiedene Behandlungsmethoden muß sich das Opfer systematisch der traumatischen Erinnerung in einer sicheren und verständnisvollen Umgebung aussetzen und Gefühle der Selbstbeschuldigung und der Stigmatisierung mit der Methode der kognitiven Umstrukturierung überwinden.101 - Selbstbehauptungs-Training und unterstützende Gruppentherapie gehören zu den traditionellen Behandlungsformen. Im Selbstbehauptungs-Training werden die Durchsetzungsfähigkeit und der Selbstbehauptungswille des Verbrechensopfers gestärkt. Die Gruppentherapie trägt dazu bei, daß sich Verbrechensopfer durch die Mitteilung ihrer Erfahrungen wechselseitig unterstutzen. - Die systematische Desensibilisierung dient der emotionalen Verarbeitung der sexuellen Viktimisierung. In sicherer, entspannter Atmosphäre müssen die Opfer in ihrer Vorstellung die Tat mit all ihren Emotionen und Befürchtungen erneut durchleben, die sie während ihrer sexuellen Viktimisierung gehabt haben. Das Verbrechensopfer erhält die Unterweisung, sich die
101 Edna Β. Foa/Barbara Olasov Rothbaum/Gail S. Steketee: Treatment of Rape Victims. In: Journal of Interpersonal Violence. 8 (1993), 256-276; Esther Deblinger/Anne Hope Heflin: Treating Sexually Abused Children and Their Nonoffending Parents. Thousand Oaks, London, New Delhi 1996. 102 Cheryl L. Karp/Traci L. Butler. Treatment Strategies for Abused Children. Thousand Oaks, London, New Delhi 1996.
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Angriffsszene so lebensnah wie möglich vorzustellen, sie laut in der Gegenwartszeitform zu beschreiben und seine Gefühle und Ängste auszudrücken. 103 - Die kognitive Umstrukturierung hilft Verbrechensopfern, Erkenntnisverzerrungen wahrzunehmen und psychisch zu verarbeiten. Bestimmte beharrliche Vorstellungen (Opferneutralisationen) 104 können für Angst und Depression anfällig machen. Das Verbrechensopfer kann sich z.B. auf verzerrte Wahrnehmungen über seine Unzulänglichkeit, über seine Unfähigkeit und über seine Hilflosigkeit stützen. Es kann den Gedanken haben, daß es für seine eigene sexuelle Viktimisierung selbst verantwortlich ist, und es kann sich als Ergebnis des Angriffs für wertlos halten. Kognitive Techniken helfen ihm, solche verzerrten Glaubenssätze zu erkennen, an der Realität zu messen und psychisch zu handhaben. Verbrechensopfer sind nicht geisteskrank und bedürfen keiner psychiatrischen Behandlung. 105 Ihre sexuelle Viktimisierung hat sie vielmehr schwer seelisch verletzt. Durch eine speziell auf diese Traumatisierung zielende psychologische Behandlung kann ihnen wesentlich geholfen werden. Für das Gelingen ihres Heilungsprozesses ist es erforderlich, daß die Personen ihres sozialen Nahraums zu ihnen stehen und sie unterstützen. 106 Erforderlichenfalls müssen auch diese Personen psychologisch beraten werden. 107 Ganz wesentlich ist, daß sich die Therapie auf die sexuelle Viktimisierung selbst bezieht. Opferhilfsprogramme haben sich als hilfreich erwiesen, wenn sie mit den notwendigen viktimologischen Kenntnissen und Fähigkeiten durchgeführt worden sind.1 Mit psychologischen Behand-
103 Patricia A. Resick/Monica Κ. Schnicke: Cognitive Processing Therapy for Sexual Assault Victims. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology. 60 (1992), 748756; Edna B. Foa/Barbara Olasov Rothbaum/David S. Riggs/Tamera B. Murdoch·. Treatment of Posttraumatic Stress Disorder in Rape Victims: A Comparison Between Cognitive-Behavioral Procedures and Counseling. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology. 59 (1991), 715-723. 104 Robert S. Agnew. Neutralizing the Impact of Crime. In: Criminal Justice and Behavior. 12 (1985), 221-239. 105 Mike Maguire: The Needs and Rights of Victims of Crime. In: Michael Tonry (Hrsg.): Crime and Justice. Band 14. Chicago, London 1991, 363-433, bes. 414. 106 Kelle Chandler Ray/Ivan L. Jackson: Family Environment and Childhood Sexual Victimization. In: Journal of Interpersonal Violence. 12 (1997), 3-17. 107 Fran H. Norris/Krzysztof Kaniasty/Martie P. Thompson: The Psychological Consequences of Crime. In: Davis/Lurigio/Skogan (Hrsg.): aaO. (Fn. 23). 1997, 146-166, bes. 162. 108 Albert R. Roberts: Delivery of Services to Crime Victims: A National Survey. In: American Journal of Orthopsychiatry. 61 (1991), 128-137.
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lungsprogrammen für Opfer von Sexualdelikten hat man erst in den 90er Jahren begonnen. Ihr Erfolg ist nach der klinischen Erfahrung wahrscheinlich, konnte allerdings durch Evaluationsforschung noch nicht einwandfrei nachgewiesen werden. 109 Immerhin erscheint sicher, daß die Symptome, die durch die sexuelle Viktimisierung hervorgerufen worden sind, durch ein psychologisches Training, das sich auf diese Viktimisierung bezieht, bei zahlreichen Verbrechensopfern verschwinden. 110 Das auf die sexuelle Viktimisierung konzentrierte psychologische Training hat für viele Opfer eine entlastende Wirkung.
109 David, Finkelhor/Lucy Berliner·. Research on the Treatment of Sexually Abused Children: A Review and Recommendations. In: Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry. 34 (1995), 1408-1423. 110 Cheryl B. Lanktree/John Briere: Outcome of Therapy for Sexually Abused Children: A Repeated Measures Study. In: Child Abuse and Neglect. 19 (1995), 1145-1155.
Resozialisierung durch Sport im Jugendstrafvollzug DIETER RÖSSNER
Unter (Re-)Sozialisierung versteht man alle Bemühungen um die soziale Integration eines Menschen, nachdem er durch abweichendes oder kriminelles Verhalten als antisozial aufgefallen ist. Er soll in die Gemeinschaft wieder eingegliedert werden und in Zukunft deren Verhaltensregeln erfüllen. Inhaltlich geht es bei der Resozialisierung um ein zeitlich erst nach einer sozialen Auffälligkeit einsetzendes Element der Sozialisation, d. h. des lebenslangen Prozesses der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Lebensbedingungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren.1 In jedem Lebensalter ist der Leib das Fundament der Sozialisation. 2 Die Ausbildung der Körperlichkeit und der Bewegung erfolgen immer in sozialen Zusammenhängen.3 Daher ist zu bedauern, daß den komplexen Zusammenhängen zwischen Körperlichkeit, motorischen Fertigkeiten und Persönlichkeitsentwicklung in der Sozialforschung bis heute nicht genügend nachgegangen wird. Eine Kursänderung in Richtung der Einbeziehung körperlicher Entwicklungsprozesse ist daher zu fordern. Dies dürfte dem durchgängigen Anliegen und Engagement des verehrten Jubilars entsprechen, der sich immer um eine altersorientierte Gestaltung des Jugendvollzugs bemüht. Tatsächlich gibt es verschiedene globale Hinweise für resozialisierende Wirkungen des Sports gerade im Jugendalter. Die sozialisationsrelevanten Grundbedürfnisse umfassen drei Elemente: emotionale Zuwendung, Rang und Einfluß in der Gruppe sowie Bewegungsbedürfnisse im Sinne von Erregung und Akti-
Hurrelmann, K.\ Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim u.a. 1995, 14. Vgl. Meinberg, E. \ Sozialverhalten im Sport. In: Pühse, U. (Hrsg.): Soziales Handeln im Sport und Sportunterricht. Schorndorf 1994, 62 ff. 3 Baur, J./Miethling, W. D.: Die Körperkarriere im Lebenslauf. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 1991, 165-188. 1
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vität.4 Der zuletzt genannte Basisbereich steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der körperlichen Entfaltungsmöglichkeit des Menschen, die beiden anderen enthalten körperbezogene Dimensionen. Erkundungs- und Neugiermotivation 5 sind insbesondere bei Kindern und Jugendlichen stark körperbezogen und bewegungsorientiert. In dem ersten Stadium tragen alle möglichen Formen freier Bewegung und das Spiel zum Aufbau der Motorik im sozialen Kontext bei. 6 Entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten sind dagegen beängstigend klein. 7 Die Zerstörung lokaler Lebensräume, die Entwertung des sozialen Nahraums und die Mediatisierung der kindlichen Erfahrungswelt stehen dem entgegen8 und lassen allenfalls verinselte Lebensräume und Bewegungsghettos. 9 Daraus können negative Auswirkungen für das Bewegungs- und Körpererleben und damit auch die Identitätsentwicklung entstehen, die nur sehr begrenzt durch punktuelle und gezielte Resozialisierungsmaßnahmen a b z u gleichen sind. Freilich machen die modernen Lebensbedingungen mehr und mehr institutionellen Sport zur Erfüllung des Grundbedürfnisses notwendig. So wird der Sport eine unverzichtbare Instanz der nachholenden Sozialisierung (Resozialisierung), die darauf abzielt, Verhaltens- und Wertorientierungen in sozialen Situationen zu vermitteln. Wesentliches Ziel der Resozialisierung ist das Erkennen und Einhalten von sozialen Regeln nach entsprechendem Versagen. Für das Sportspiel sind Regeln fundamental. Sie können als typische Handlungsmuster beschrieben werden, die bei häufig gleichgerichteter sozialer Erfahrung Regelkompetenz und Regelbewußtsein als Basis
4 Rolinski, K.\ Politische Gewalt und Grundbedürfnisse. In: Rolinski, K./Eibl-Eibesfeldt, I. (Hrsg.): Gewalt in unserer Gesellschaft. Berlin 1990, 18-50. 5 Fowler, H. \ Curiosity and Exploratory Behavior. New York 1965. 6 Grupe, O.: Zur Bedeutung von Körper-, Bewegungs- und Spielerfahrungen für die kindliche Entwicklung. In: Altenberger, H./Maurer, F. (Hrsg.): Kindliche Welterfahrungen in Spiel und Bewegung. Sportpädagogische Perspektiven. Bad Heilbrunn 1992, 19. 7 Hurrelmann, K.: Probleme mit dem sozialen Verhalten: Kann die Schule Kindern und Jugendlichen mit aggressiven Impulsen helfen? In: Pühse, U. (Hrsg.): Soziales Handeln im Sport und Sportunterricht. Schorndorf 1994, 18. 8 Hildebrandt, R.\ Lebensweltorientierung - eine didaktische Kategorie für eine Bewegungserziehung in der Grundschule. In: Brettschneider, W.-D./Schierz, M. (Hrsg.): Kindheit und Jugend im Wandel - Konsequenzen für die Sportpädagogik. St. Augustin 1993, 179 ff. 9 Schmidt, W.: Zur Komplexität des Lehrens und Lernens im Sportspiel. In: Schirz, R./Hummel, A./Balz, E. (Hrsg.): Sportpädagogik - Orientierungen - Leitideen Konzepte. St. Augustin 1994, 300 ff.
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sozialen Verhaltens vermitteln. 10 Die Spielregeln lassen genügend Raum für auszuhandelnde Interaktionsprozesse bei denen es auf die Erfassung von Sinn und Zweck des Spiels und die Einbeziehung des Gegners in das Gesamtsystem ankommt. Der Teilnehmer wird so für die Belange der anderen Mitwirkenden sensibilisiert. Es ist ein Trainingsfeld für Konfliktregelungen. Häufiger Perspektivenwechsel erhöht die Kompetenz zur situativen Bewilligung bestimmter sozialer Situationen. So umfaßt der Sport unterschiedliche Situationen wie Verlieren und Gewinnen, Konkurrenz und Kooperation, Siegen und Verlieren, Gemeinschaft und Individualismus, Großzügigkeit und Egoismus. Vielfach wird der Sportler als Schiedsrichter auch in die Position der Neutralität gesetzt. Akteur und Schiedsrichter zugleich ist eine ideale Lernposition für soziale Normen. Der Sportler wird in emotional höchst unterschiedlich gefärbten Situationen mit seinen unmittelbaren Reaktionen konfrontiert und lernt sie kennen. Er kann lernen, Emotionen zu kontrollieren und zu verarbeiten. 11 Die gemeinsame sportliche Tätigkeit führt zu sachlicher und persönlicher Bindung, die für den Prozeß der Resozialisierung als Wiedereingliederung eminent wichtig sind. Entsprechende Bindungen können vor einem Abgleiten bewahren. Durchaus von Vorteil ist das handlungsprakische Motto „Erleben statt Reden". Damit werden Menschen angesprochen, die auf sozialkognitiver Ebene Schwierigkeiten haben. Das zunächst nur sportliche Training ist zugleich soziales Training.12 Am Beispiel des Streetballs lassen sich die resozialisierenden Wirkungen sportlichen Regellernens demonstrieren. Es ist ein dem Basketball ähnelndes Spiel, dessen Regeln mit der Ausnahme gelten, daß üblicherweise drei gegen drei gespielt wird und es vor allem keine Schiedsrichter gibt. Regelverstöße werden stets und immer von den Spielern selbst angezeigt. Diese Selbstverpflichtung wird mit der Spielaufnahme eingegangen. Beobachtungen bei Streetballturnieren mit großer Besetzung von einigen hundert Jugendlichen zeigen, daß auch gewaltbereite Jugendliche Aggressionen beherrschen
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Rigauer, B.: Sportsoziologie. Reinbek 1982. " Vgl. Rössner, D.: Sportliches Handeln zwischen Aggression, Regel und Fairneß. In: Conzelmann, A./Gabler, H./Schlicht, W. (Hrsg.): Soziale Interaktion und Gruppen im Sport. Köln 1996,163 ff. 12 Nickolai, W.·. Soziale Aspekte des Sports im Strafvollzug. In: DVJJ-Journal 6 (1995), 124-129; Quensel, 5.: Eine alternative Pädagogik für sozial behinderte Jugendliche - Prinzipien und Hindernisse. In: Nickolai, W./Quensel, S./Rieder, H. (Hrsg.): Sport in der sozialpädagogischen Arbeit mit Randgruppen. Freiburg 1982, 13-40.
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und friedlich regeln können. Insbesondere die Selbstverantwortlichkeit für die Regelverletzung führt dazu, daß eine viel stärkere Selbstidentifikation mit der Regelnorm besteht als bei nur externer Kontrolle. Ein Täuschungsversuch würde hier immer einen Selbstbetrug bedeuten. 13 Noch spezifischer im Sinne von Resozialisierung wird bei verurteilten Gewalttätern asiatische Kampfkunst als Mittel zur systematischen Förderung psychophysischer Selbstbeherrschung zur Reduktion der Gewaltaffinität und Aggressivität eingesetzt. 14 Stärkung des Selbstbewußtseins, Selbstbeherrschung und Einstellungs- und Verhaltensänderungen der Teilnehmer in Richtung prosozialen Verhaltens konnten im Test nachgewiesen werden. Entscheidender Faktor der Resozialisierung bei Straffälligen ist neben dem Regellernen die Entwicklung tragfähiger Beziehungen zu konformen Erwachsenen und die Kontrolle über den Gefährdeten. Gemeinsames Sporttreiben ist eine hervorragende Möglichkeit, entsprechend konform-integrierende Beziehungen hervorzubringen. Bei Jugendlichen mit ihrem Bewegungsdrang kann der Sportverein der Ort sein, wo sich aus der Vollzugsanstalt heraus im Freigang mit der Einbindung des Gefährdeten in konforme Bezüge wieder beginnen läßt. Wenn es sich dabei um ein forderndes und verbindliches Angebot handelt, ist dies wirksamer als das heute häufig verfolgte Konzept der „offenen Jugendarbeit". In diesem Sinne kann sportliche Betätigung als wesentlicher Faktor kommunaler Kriminalprävention verstanden werden. 15 Sportliche Regeln eignen sich zur Einübung von Fairneß besonders wegen ihrer überschaubaren, einfach nachvollziehbaren und auf unmittelbare Zwischenmenschlichkeit zielenden Form. 16 Die Ziele des Sports und der Resozialisierung sind weithin gleichlaufend.17 Aus der starken Sportaffinität der Jugend ergibt sich, daß der Sport in seiner aktiven wie passiven Form eine der bevorzugten Freizeitaktivitäten im Jugendstrafvollzug darstellt. Für entsprechende Angebote - seien es populäre Spielmöglichkeiten, Krafttraining oder 13 Caliess, P.: Motorisches und soziales Lernen im Basketball. In: Sport im Strafvollzug. Materialien der Evangelischen Akademie. Bad Boll 1995, 54-57. Mitzel, W.: Einfache Dinge haben auch Wirkung. In: DVJJ-Journal 6 (1995), 130-131. 14 Wolters, J.-M.: Kampfkunst als Therapie. Frankfurt M. 1992. 15 Vgl. Rössner, D.: Soziale Bindungen und Kriminalitätsvorbeugung in der Stadt. In: Kury, H. (Hrsg.): Konzepte kommunaler Kriminalprävention. Freiburg 1997. 16 Brumlik, M.\ Fairneß und Gerechtigkeit in entwicklungspsychologischer Perspektive. In: Nickolai, W./Rieder, H./Wolter, J. (Hrsg.): Sport im Strafvollzug, Freiburg 1992, 43. 17 Vgl. Kofier, G.: Sport und Resozialisierung. Sportpädagogische Untersuchungen im Jugendstrafvollzug. Schorndorf 1976.
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sportliche Medienereignisse - muß unter solchen Umständen nicht besonders motiviert werden. Möglicherweise stärker noch als vor den Mauern sind Spiel und Sport teilweise Ersatz für die weitgehend verlorengegangene Mobilität insbesondere in der Freizeit. Insoweit behält der Sport seine ursprüngliche Wortbedeutung, nämlich die eines vergnüglichen Zeitvertreibs durch Spiel, Bewegung und mediale Vermittlung, um Bewegungsbedürfnisse zu erfüllen und der Langeweile zu entgehen. Dieser Ansatz wird der aktuellen Diskussion in Erziehungs- und Sportwissenschaft nicht mehr gerecht. Vielmehr wird der Sport heute zu Recht als erfolgversprechendes Resozialisierungs- und Behandlungsmittel gesehen (Persönlichkeit). Der baden-württembergische Sportleitplan stellt die insoweit bahnbrechenden Erkenntnisse pragmatisch heraus: Der Sport habe mit seinem optimistischen Grundzug eine erhebliche Kraft im Strafvollzug. Er sei Experimentierfeld für die Verarbeitung von Erfolg und Mißerfolg. Persönlichkeitsformende Grundbedürfnisse wie soziale Akzeptanz, Selbstachtung und ein Gefühl für Selbstkontrolle könnten dabei geübt und gebildet werden. 18 Geweckt werden sollen überdies Leistungsfreude, Fairneß, Selbst- und Gruppendisziplin. Schließlich soll die Integration in die konforme Gesellschaft über die gemeinsame Aktivität in einem freien Sportverein leichter erreicht werden. 19 Trotz der gewachsenen Bedeutung des Sports für die Resozialisierung fällt auf, daß das geltende Recht dem Sport weder im Erwachsenen- noch im Jugendvollzug eine selbständige Vorschrift, geschweige denn eine Paragraphenfolge widmet. Die Abstinenz des Gesetzes mag ihre Wurzel in dem traditionellen Gefühl haben, es handle sich beim Sport um ein freies, spielerisch-vergnügliches Element des Lebens, das zu einem rechtsfreien Raum gehört. Hier ist ein Umdenken zu fordern, wenn man den Sport als gezieltes Resozialisierungsmittel im hier verstandenen Sinn einsetzen will.
18 Vgl. Kojler a.a.O. 1976; Nickolai, W.: Sozialpädagogik im Jugendstrafvollzug. Freiburg 1985; Schröder; / . : Die physische, soziale und psychische Bedeutung des Sports. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1984, 19 ff; ders.: Körpererfahrung, Sinneserfahrung. Erweiterte Bewegungskultur für den Strafvollzug. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1995, 204 ff. 19 Zum Sinn des Sports im Umgang mit Randgruppen vgl. Rieder, Η.: Sportpädagogik im Jugendstrafvollzug. Eine Bilanz und Abschätzung von Chancen. In: Kürten, D./Nickolai, W. (Hrsg.): Chancen einer Sportpädagogik im Jugendstrafvollzug. Adelsheim 1987, 30 ff; zu kriminalitätstheoretischen und kriminologischen Aspekten vgl. Dölling, D.: Die resozialisierende Wirkung des Sports. Eine Bilanz und Abschätzung von Chancen. In: Kürten, D./Nickolai, W. (Hrsg.) 1987, 68 ff.
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Für den Jugendstrafvollzug gibt es im Gegensatz zum Erwachsenenvollzug zwar keine umfassende rechtliche Regelung, aber immerhin finden sich in den gesetzlichen Vorgaben der §§ 91, 92 JGG und deren verwaltungsmäßiger Ausfüllung durch die bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug ( W J u G ) einige Anhaltspunkte. Die für die Gestaltung des Jugendstrafvollzugs grundlegende Norm des § 91 Abs. 2 JGG hebt, anders als das StVollzG, den Sport als eigenständiges Erziehungselement gegenüber Unterricht und Freizeitgestaltung hervor. Es finden sich hier keine Hinweise für eine Unterordnung des Sports unter andere Behandlungselemente. Der Sport ist daher im Jugendstrafvollzug grundsätzlich als Erziehungsmittel gesetzlich anerkannt. Die stärkere Position findet ihren Niederschlag auch in der Rechtspraxis, denn Nr. 3 Abs. 2 Ziff. 8 W J u G sieht vor, daß Angaben zur Teilnahme am Sport obligatorischer Bestandteil des Vollzugsplans sind. Soweit aber Nr. 58 Abs. 1 Satz 3 W J u G fordert, daß der Gefangene zur Teilnahme angehalten und aus erzieherischen Gründen sogar verpflichtet werden soll, ist die rechtliche Regelung fragwürdig. Die zwangsweise Verordnung des Sports steht im Widerspruch zu sportpädagogischen Prinzipien. Dennoch zeigen sich auch in der Praxis des Jugendvollzugs Unsicherheiten und Ermessenspielräume, die bei der Installierung verschiedener Projekte, ζ. B. im Bereich der Erlebnispädagogik, des Kampfsports usw. zu Konflikten zwischen Sportpädagogen und Verwaltung führen. Klare Vorgaben oder auch eine Bestimmung in einem künftigen Jugendvollzugsgesetz könnten hier Abhilfe schaffen.20 Ein möglichst breiter Einsatz des Sports als Resozialisierungsmittel benötigt die entsprechende personelle Basis. Neben der Einstellung von Sportpädagogen ist dazu die Ausbildung aller interessierten Vollzugsbeamten zum Übungsleiter und die geförderte Mitwirkung engagierter ehrenamtlicher Mitarbeiter aus Sportvereinen notwendig. Hier besteht in jeder Hinsicht erheblicher Bedarf. In Zukunft sollten besonders resozialisierungsrelevante Sportarten für die Gruppe der Straffälligen weiterentwickelt werden, wie ζ. B. Erlebnispädagogik 21 , asiatische Kampfsportarten 22 oder Entspannungsübungen. Für neue Entwicklungen und für kreatives Gestalten durch das Fachpersonal muß das Recht aber Freiraum lassen. Es 20 Vgl. Rössner, D. \ Die gesetzliche Regelung des Sports im Strafvollzug. In: Nickolai, W./Rieder, Η./ Walter, J. (Hrsg.) Freiburg 1992, 8 ff. 21 Vgl. Quensel: a.a.O. 1982, 13-40. 22 Wolters a.a.O. 1992. 23 Schröder a.a.O. 1995, 208.
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ist Rieder24 beizupflichten, daß Sport sich ereignen muß und nicht nur veranstaltet werden darf, wenn Resozialisierung gewollt ist.
24
Rieder a.a.O. 1987, 37
6 Probleme der Entlassung
Pauschaler Sicherheits-Check statt individueller Prognose? Die Neuregelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung
W O L F G A N G FEUERHELM
1. Einleitung Die Idee, einem zu Freiheitsstrafe verurteilten Straftäter die Chance einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug zu geben, gehört seit über 100 Jahren zum Grundbestand unserer sanktionenrechtlichen Uberzeugungen. Obwohl die bedingte Entlassung, die im allgemeinen Strafrecht in den §§ 57, 57a StGB gesetzlich normiert ist, eine im Grundsatz akzeptierte Umsetzung dieses Gedankens darstellt, hat der Gesetzgeber in jüngster Zeit hier einige Änderungen vorgenommen, die im folgenden näher beleuchtet werden sollen. Wie in vielen anderen Bereichen des Sanktionenrechts, so steht auch bei der Strafrestaussetzung der öffentlichen und auch der kriminalpolitischen Aufmerksamkeit ein Defizit an empirischem Wissen über die tatsächliche Anwendung und die „Erfolge" dieses Instituts gegenüber. Dieser Mangel mag den Jubilar dazu bewogen haben, in mehreren zu Recht bekannt gewordenen Studien die Entlassungspraxis und ihre Folgen empirisch zu durchleuchten 1 . Deutlich geworden sind durch diese Studien vor allem die erheblichen Probleme, die schon mit dem Versuch verbunden sind, deskriptive Grundaussagen über die Häufigkeit der Strafrestaussetzung zu treffen. Der Grund d a f ü r - v o m Jubilar etwa anhand des Phänomens der Zustimmungsverweigerung belegt 2 - liegt auch in der teilweise nur mangelhaften Dokumentation der relevanten Entscheidungsprozesse.
1 2
Böhm / Erhard. 1984, Seite 365 ff.; Böhm / Erhard 1988; Böhm / Erhard 1991. Böhm / Erhard 1988, Seite 228.
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2. Die gesetzliche Neuregelung Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26.01.1998 3 wurden u.a. die gesetzlichen Regelungen im Bereich der Sicherungsverwahrung, bei der Therapieweisung sowie für die Sozialtherapie von Sexualstraftätern geändert. Den Hintergrund für dieses Gesetz bilden einige schwere und in der Öffentlichkeit stark diskutierte Sexualstraftaten an Kindern, die von rückfälligen Straftätern begangen worden waren 4 . Auf Initiative Bayerns wurde Ende 1996 der Entwurf eines Gesetzes „Zur Verbesserung des Schutzes der Gesellschaft vor gefährlichen Sexualstraftätern" im Bundesrat eingebracht 5 , der nach Beratungen des Rechtsausschusses 6 schließlich zum oben angegebenen Gesetz führte. Die Gesetzesänderungen betreffen jedoch nicht nur den Kreis der Sexualstraftäter. Nicht auf diese Gruppe beschränkt ist die Neuregelung der Strafrestaussetzung zur Bewährung 7 . Sie erfaßt alle bedingten Entlassungen aus der Freiheits- und der Jugendstrafe und ist insofern von ganz erheblicher strafrechtlicher, aber auch kriminologischer Bedeutung. Gerade weil die Änderungen der Voraussetzung einer Strafrestaussetzung nicht das Ergebnis einer intensiven Diskussion und eines einmütig bekundeten Änderungsbedarfs waren, sondern eher beiläufig im Zusammenhang mit verschärften Regelungen für Sexualstraftäter zustandegekommen sind, erscheint es wichtig, zunächst kurz die dogmatische Ausgestaltung (s.u. 3) und die praktischen Erfahrungen mit diesem Institut (s.u. 4) darzustellen. Anschließend (s.u. 5) soll die Neufassung des Gesetzes untersucht werden, wobei die besondere Aufmerksamkeit auf die Gründe des Gesetzgebers für diese Änderung gerichtet ist. In einem letzten Punkt (s.u. 6) werden die bisherigen Überlegungen zusammengefaßt und damit der Versuch unternommen, die Bedeutung der neuen gesetzlichen Vorschriften für die Zukunft der Strafrestaussetzung einzuordnen.
3 4 5 6 7
BGBl I 1998, Seite 160. Schöch 1998, Seite 1257; Schmidt-]orzig 1998, Seite 441 ff. BR-Dr. 876/96 vom 19.11.1996. hierzu im einzelnen Schöch 1998, Seite 1257 f. neu gefaßt wurde insbesondere § 57 Abs. 1 StGB, siehe hierzu unten 5.
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Pauschaler Sicherheits-Check statt individueller Prognose?
3. Die bisherige Ausgestaltung der Strafrestaussetzung zur Bewährung Die bedingte Entlassung von Strafgefangenen hat sich nach ihrer gesetzlichen Normierung im StGB des Jahres 18718 zu einem wichtigen Instrument des Sanktionenrechts entwickelt. Zu ihrer Akzeptanz trug wesentlich der Gedanken bei, daß die Strafrestaussetzung einen begleiteten und überwachten Ubergang vom Gefängnis in die Freiheit ermögliche. Als spezialpräventiv besonders günstig wird es angesehen, daß der Verurteilte nicht übergangslos in die Freiheit entlassen wird, sondern während der Bewährungszeit, die durch Bewährungsanordnungen zusätzlich strukturiert werden kann, durch die Bewährungshilfe begleitet wird. Zentrale Voraussetzung für eine bedingte Entlassung war nach dem bis Janaur 1998 geltenden Recht, daß „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteile außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird" (§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB), wobei bei der Entscheidung „namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen" sind, „die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind" (§ 57 Abs. 1 S. 2 StGB). Materiell wird vom Gericht die Erstellung einer Legalprognose verlangt. Die Kriminologie hat zwar diesen Bereich für sich reklamiert, dennoch sind allgemein akzeptierte Prognoseverfahren bislang nicht entwickelt 9 . Ein obligatorische Hilfe von Sachverständigen sah das Gesetz nur bei der Strafrestaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vor; hier forderte § 454 Abs. 1 S. 5 StPO, daß der Gutachter auch zum Fortbestehen der Gefährlichkeit des Verurteilten 10 Stellung zu nehmen hatte. In allen anderen Verfahren, in denen das Gericht die Prognose ohne Hilfe von Sachverständigen anfertigt, erlangten die Vorgaben durch das Gesetz selbst erhebliche Bedeutung. Bei der Auslegung des bisherigen § 57 Abs. 1 StGB war allgemein akzeptiert, daß bei der Strafrestaussetzung zur Bewährung hinsichtlich der Rückfallprognose ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung als bei der anfänglichen Strafausset-
8 zur Geschichte der bedingten Entlassung Mittermaier 1908, Seite 515 ff.; er 1928, Seite 392; Damian 1990, Seite 58 f.; Tögel 1990, Seite 11 f.; Speiermann Seite 8 ff. 9 hierzu Schneider 1998, Seite 440 f. 10 kritisch hierzu Eisenberg 1995, § 36 Rnr. 169.
Umhau1995,
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zung zur Bewährung ausreichte11. Inhaltlich wurde darauf abgestellt, daß für eine Strafrestaussetzung die sichere Erwartung einer künftigen Legalbewährung nicht gefordert werden konnte. Für ausreichend wurde es vielmehr gehalten, wenn nach der Überzeugung des Gerichts eine Bewährungschance besteht 12 . Die Aussetzungsentscheidung war ausschließlich spezialpräventiv begründbar, Aspekte der Generalprävention und des Schuldausgleichs durften hier nicht berücksichtigt werden 13 . Erwähnenswert ist ein zusätzliches Kriterium, das von der Rechtsprechung schon bald nach Einführung der Erprobungsklausel 1969 entwickelt wurde und durch die jüngste Gesetzesänderung eine besondere Bedeutung erhalten hat. Der für die bedingte Strafentlassung erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad der Legalbewährung sollte zusätzlich zu den übrigen Erfordernissen davon abhängig sein, welche Rechtsgüter bei einem Rückfall des Betroffenen bedroht sind 14 . Nach einer auch weitgehend in der Literatur gebilligten Formel sollte der geforderte Grad an Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung als proportional zur Schwere eines eventuell drohenden neuen Delikts betrachtet werden 15 . 4. Erfahrungen aus der Praxis Die Strafrestaussetzung in ihrer alten Form hatte sich im wesentlichen in der Praxis bewährt. Zwar bereitet aufgrund methodischer Probleme der einschlägigen amtlichen Statistiken16 schon die Frage Schwierigkeiten, wie viele der vollstreckten Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden. Generell gilt, daß die Aussetzung nach zwei Dritteln der Strafe (§ 57 Abs. 1) von der Praxis häufig 11 deutlich wurde dies schon an den gesetzlichen Formulierungen; so auch Lackner 1995, § 57 Rnr 7 f.; Schall / Schreibauer 1997, Seite 2416, hierzu genauer unten 4. 12 Lackner 1995, § 57 Rnr 7 mwN. 13 st Rspr, so auch BVerfG NJW 1994, 378 und zuletzt O L G Koblenz, NStZ-RR 1998, 9. 14 so zuerst wohl O L G Köln MDR 70, 861; die etwa zeitgleich ergangene Entscheidung KG JR 1970, 428 stellt ähnliche Überlegungen für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung an. 15 Eisenberg NStZ 1989, Seite 366; so auch O L G Hamm, StraFo 1998, Seite 174. 16 die Untersuchung von Böhm / Erhard hat gezeigt, daß der Begriff des Abgangs aus der Anstalt unklar und in der Praxis völlig verschieden ausgelegt wird; zudem verbietet sich eine prozentuale Berechnung aufgrund der Strafvollzugsstatistik, weil die dort wiedergegebene Grundgesamtheit auch Freiheitsstrafen von unter zwei Monaten und Ersatzfreiheitsstrafen enthält und somit als Maß für die Berechnung von Aussetzungsquoten ungeeignet ist, vgl. Böhm / Erhard 1984, Seite 366 ff.; Eisenberg / Ohder 1987, Seite 10.
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genutzt wird - einschlägige empirische Erhebungen gehen von etwa 50% Restaussetzungen bei den in Frage kommenden Strafen aus 17 . Dagegen fristet die Halbstrafenaussetzung (§ 57 Abs. 2) eher ein Schattendasein 18 , was aus kriminalpolitischer Sicht z.T. kritisch gesehen wird 19 . Die grundsätzliche Akzeptanz der Strafrestaussetzung in ihrer bisherigen Form stützt sich auch auf die Legalbewährung der Entlassenen. Ungeachtet methodischer Unterschiede in Einzeluntersuchungen kann man hier davon ausgehen, daß die Rückfallquoten nach Strafrestaussetzung jedenfalls niedriger liegen als bei Vollverbüßung. Tendenziell sind die Rückfallquoten bei den Vollverbüßern um 10 bis 20% höher als die entsprechenden Quoten bei der Strafrestaussetzung 20 . Zudem scheint sich die Bestellung eines Bewährungshelfers positiv auf die Legalbewährung auszuwirken 21 . Gegenstand der Kritik sind bei der Strafrestaussetzung weniger die rechtlichen Regelungen als vielmehr die unterschiedliche Anwendung durch die Gerichte. Ein Beispiel hierzu hat der Jubilar selbst beigetragen: in Hessen schwankten die Aussetzungsquoten je nach Anstalt zwischen 3 3 % und 93% 2 2 . Sogar innerhalb eines Gerichts wurden divergierende Aussetzungsquoten zwischen 57% und 75% ermittelt 23 . Auf der Suche nach den Elementen, die die Entscheidung über die Restaussetzung dominiert, fand man heraus, daß die Stellungnahme der Anstalt, der Staatsanwaltschaft sowie der Eindruck des Gefangenen bei der Anhörung die größte Bedeutung haben 24 . Grundsätzliche Kritik am Umgang der Gerichte mit der Strafrestaussetzung wurde in jüngerer Zeit und wohl erst unter dem Eindruck des bereits begonnenen Reformvorhabens laut. So äußern Schall und Schreibauer die Ansicht, daß dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit bei den Prognoseentscheidungen nicht ausreichend
Böhm / Erhard 1984, Seite 369. Eisenberg / Ohder 1987, Seite 13. 19 Walter u.a. 1989, Seite 405 ff. 20 Baumann / Maetze / Mey 1983, Seite 146: 75% zu 63% bei Berücksichtigung jeder neuen Verurteilung; Böhm, in Göppinger 1997, Seite 801: 67% zu 42% bezogen auf Hessen und neuen Verurteilungen zu Freiheitsstrafe; Walter u.a. 1989, Seite 409 mwN; Walter 1990, Seite 19. 21 Rehn / Jürgensen 1979, Seite 60. 22 Böhm / Erhard 1984, Seite 371. 23 Böhm / Erhard 1988, Seite 63; ähnlich die Ergebnisse der Untersuchung von Dünkel/Ganz 1985, Seite 157. 24 Dünkel / Garz 1985, Seite 170 f.; zur Sicht der Beteiligten Diekmann 1992, Seite 202 ff. 17 18
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Rechnung getragen werde. Dies lasse sich an revisionsgerichtlichen Entscheidungen festmachen 25 . Zumindest als empirische Aussage überzeugt diese Kritik nicht. Zwar betreffen die von den Autoren zitierten Entscheidungen tatsächlich Fälle, in denen die obergerichtliche Uberprüfung von gewährten Strafrestaussetzungen zu deren Aufhebung führte 26 . Da im Bereich der veröffentlichten Entscheidungen aber ebenfalls Beispiele von zu Unrecht versagten Aussetzungen existieren 27 , kann die von Schall und Schreibauer aufgestellte Behauptung nicht als belegt angesehen werden. 5. Die Neufassung des § 57 Abs. 1 StGB 5.1 Überblick über die Änderung Durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998"28 wurde die für die bedingte Entlassung zentrale Vorschrift des § 57 Abs. 1 StGB grundlegend geändert. Neu und für das weitere Schicksal dieses Rechtsinstituts entscheidend ist die Neufassung des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB, wonach eine Aussetzung des Strafrestes nunmehr erfolgt, wenn „dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann". Bei den Umständen, die gem. § 57 Abs. 1 S. 2 StGB zu berücksichtigen sind, wird an vierter Stelle, also nach der Persönlichkeit des Verurteilten, seinem Vorleben und den Umständen der Tat aufgenommen „das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes". Die übrigen Voraussetzungen ändern sich nicht. Es ist also weiterhin die 2/3-Zeitgrenze zu beachten sowie das Einverständnis des Verurteilten 29 nötig. Bislang liegen erst wenige Einschätzungen zu dieser Gesetzesänderung vor. Schöch stellt in einer ersten Bewertung fest, daß mit der Neuregelung eine „problematische Einengung des Spielraums der Strafvollstreckungskammern festzustellen" sei; er hat aber andererseits die Hoffnung, daß bei der Strafrestaussetzung die Pra-
25 Schall / Schreibauer 1997, Seite 2416; eine mangelnde Opferorientierung des alten Rechts moniert Schneider 1998, Seite 440. 26 wobei die zitierte Entscheidung des O L G Köln, MDR 1971, Seite 154 einen Fall der Aussetzung einer Sicherungsverwahrung betraf; von der zweiten zitierten Entscheidung O L G Koblenz NJW 1981, Seite 1522 ist nur der Leitsatz veröffentlicht, die Struktur der Entscheidung ist nicht bekannt. 27 so KG M D R 73, Seite 1420 f.; O L G Ffm NStE § 57 Nr. 40; B G H R § 57 Abs. 1 Erprobung 1. 28 BGBl I 1998, Seite 160. 29 hierzu Laubenthal, JZ 1988, Seite 951.
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xis „vernünftige Wege" finden werde, die Funktion des § 57 StGB zu erhalten 30 . Ungeachtet der Frage, ob man dieser optimistischen Einschätzung zustimmen mag, befriedigt sie in ihrer Pragmatik jedenfalls nicht. Deshalb erscheint es nötig, die gesetzliche Neuregelung genauer zu untersuchen. Drei Elemente sind es, die es im folgenden zu bewerten gilt: das als Gesetzesbegriff neu eingeführte „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit" (s.u. 5.2), der gleichzeitige Wegfall der „Erprobungsklausel" (s.u. 5.3) sowie das Gewicht des bedrohten Rechtsgutes in Satz 2 (s.u. 5.4). 5.2 Das jSicherheitsinteresse der
Allgemeinheit"
Für die Bewertung der Neuregelung der Strafrestaussetzung erscheint es erforderlich, sich mit dem Zentralbegriff des neuen Rechts, dem „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit" auseinanderzusetzen, wobei es einmal um den Inhalte des Begriffes selbst und dann über die Einbettung in § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB gehen muß. Zunächst einmal gilt es festzustellen, daß der Gesetzgeber mit dem „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit" einen Begriff ins StGB aufgenommen hat, der hier bislang noch keine Verwendung gefunden hat. Ein Rückgriff auf strafrechtliche Begriffsbestimmungen scheidet also aus. 5.2.1 Ubernahme einer gefestigten Rechtsprechung" ? - Sicherheit oder Sicherung? Die nächste Hoffnung richtet sich auf den Gesetzgeber selbst. Der Rechtsausschuß des Bundestages hat in seinem Bericht vom 13. N o vember 199731 zu den einzelnen Änderungen Stellung genommen und diese auch begründet. Zur Neufassung des § 57 Abs. 1 StGB werden im wesentlichen zwei Punkte angemerkt. Die Änderung insgesamt wird damit begründet, daß die bisherige Fassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB „in der Öffentlichkeit den unzutreffenden Eindruck erweckt" habe, „als sei eine vorzeitige Entlassung von gefährlichen Tätern, die z.B. gewaltsame Sexualstraftaten gegen Kinder begangen haben, auch ohne günstige Sozialprognose zu Lasten der öffentlichen Sicherheit möglich" ? 2 Der Bericht sieht die Neufassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB als Klarstellung an, weil schon bisher 30 Schöch NJW 1998, Seite 1258; die Opferorientierung des neuen Gesetzes begrüßt Schneider 1998, Seite 440. 31 BT-Dr. 13/9062. 32 BT-Dr. 13/9062, Seite 9.
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eine Abwägung zwischen dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu erfolgen hatte. „Damit wird eine seit langem bestehende Rechtsprechung im Gesetz festgeschrieben, die auch in der Literatur uneingeschränkte Zustimmung gefunden hat" .33 Mit diesen Bemerkungen ist auf den ersten Blick das Motiv des Gesetzgebers klar umrissen und unser Problem, wie denn das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu umschreiben sei, scheint sich zu erledigen: es soll nicht um eine grundlegende Neuorientierung, sondern lediglich um eine gesetzgeberische Aufwertung einer bisher schon einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Literatur gehen. Zwei Fragen tauchen an dieser Stelle auf: (1) Welchen Sinn kann es haben, wenn eine bisher schon übereinstimmende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nunmehr im Gesetz festgeschrieben wird? und (2) Stimmt es wirklich, daß mit der neuen gesetzlichen Formulierung die bisherige allgemeine Auffassung Gesetz wird? (1) Für die erste Frage scheinen Gründe schnell gefunden und aus der Berichtsbegründung selbst hervorzugehen. Der Öffentlichkeit, der anscheinend die bisherige Linie in Rechtsprechung und Literatur unbekannt war, wird durch die Neuregelung klargemacht, wie restriktiv in Wahrheit die Strafrestaussetzung betrieben wird. Könnte man dies in Wahlkampfzeiten noch unter dem Begriff einer „P-R-Maßnahme" verbuchen, so scheint darüberhinaus ein weiteres Motiv denkbar. Auch wenn mit der Übernahme einer einhelligen Meinung ins Gesetz nur eine klarstellende Funktion angestrebt wird, so kommt diesem Akt doch möglicherweise eine weitere Aufgabe zu. Auch eine bislang einhellige Meinung kann sich im Laufe der Zeit ändern, durch neue Beiträge oder Entscheidungen differenziert werden. Dieser Gefahr, auch wenn sie im Moment vielleicht nicht aktuell sein sollte, begegnet man mit der gesetzlichen „Aufwertung". (2) Wenden wir uns dem zweiten Aspekt zu. Hier behauptet die Berichtsbegründung, mit der Änderung des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB werde nur die einhellige Meinung in Rspr. und Literatur zum Gesetz gemacht. Auch hier erscheint eine genauere Betrachtung nötig. Bei dieser fällt zunächst auf,
33 BT-Dr 13/9062, Seite 9; die These, daß die Gesetzesänderung nur eine Klarstellung sei, wird weiter vertreten von Hammerschlag / Schwarz 1998, Seite 323; so auch O L G Frankfurt, StV 1998, Seite 500, 501; O L G Hamm, NStZ 1998, Seite 376.
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daß der Rechtsausschuß hier selbst begrifflich nicht eindeutig formuliert. Während im Gesetz nunmehr die Berücksichtigung des „Sicherheitsmieresses der Allgemeinheit"34 gefordert wird, hebt die Begründung bei der Darstellung der Einigkeit in der Sache darauf ab, daß das Maß der Erfolgswahrscheinlichkeit vom Gewicht des bedrohten Rechtsgutes35 und von „dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit"36 abhängig sei. Man mag hier einwenden, daß diese Unterscheidung spitzfindig und wenig weiterführend sei. Sie ist jedoch erst die Spitze eines Eisbergs der Sprachverwirrung. Betrachtet man die von der Entwurfsbegründung selbst zitierten Quellen - insgesamt sind dies 12 Entscheidungen und 8 Stellungnahmen aus der Literatur, so zeigen sich neuerliche Probleme, die eine Hoffnung auf eine tragfähige Umschreibung des fraglichen Begriffs zunichte machen. So geht es in vielen Entscheidungen nicht um die Sicherheit und ein darauf gerichtetes Interesse oder Bedürfnis, sondern um Sicherung. Als Beispiel sei hier die Entscheidung des O L G Karlsruhe vom 11.05.1992 (2 Ws 75/92) erwähnt, wo klargestellt wird, daß im Rahmen der Prognose bei besonders gefährlichen Delikten dem „Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit"37 erhöhte Bedeutung zukomme. Vom einem „Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit" sprechen indessen andere Entscheidungen38. Und schließlich existiert sogar eine Entscheidung, in der beide Begriffe Verwendung finden39. Auch im Schrifttum ist die Begrifflichkeit nicht eindeutig. Allerdings scheint der Begriff des „Sicherungsbedürfnisses"40 gegenüber dem „Sicherheitsinteresse"41 zu dominieren, wobei man auch hier nach näheren Umschreibungen des Begriffs vergeblich sucht. Es bleibt festzuhalten: Der Gesetzgeber hat eine einhellige Meinung in Rechtsprechung und Literatur zum Gesetz gemacht, die so nicht existiert, was schon aus der verwendeten uneinheitlichen Be-
§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB. hierzu siehe unten 5.4. 36 BT-Dr. 13/9062, Seite 9. 37 O L G Karlsruhe, StV 1993, Seite 260 f. die gleiche Formulierung verwenden auch das O L G Schleswig, SchlHA 1990, Seite 110; O L G Karlsruhe, Die Justiz 1982, Seite 437 (LS). 38 so O L G Koblenz, N J W 1981, Seite 1522, wobei von dieser Entscheidung nur der Leitsatz bekannt ist. 39 O L G Düsseldorf, VRS 81, 1991, Seite 368 („Sicherungsbedürfnis") und Seite 369 („Sicherheitsinteresse"). 40 ]escheck / Weigend 1996, Seite 850; Streng 1991, Seite 100 f.; Horn SK § 57 Rnr 9. 41 Lackner 1995, § 57 Rnr 7; Hammerschlag / Schwarz 1998, Seite 323. 34
35
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grifflichkeit deutlich wird. Versucht man dennoch, zu den beiden Begriffen inhaltlich vorzustoßen, so kann zumindest folgende Unterscheidung getroffen werden: Der Begriff des Sicherungsinteresses weist auf eine Nähe zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung hin, wo das Ziel der Anordnungen eben - etwa bei der Sicherungsverwahrung - in der Sicherung der Allgemeinheit durch das Einsprerren eines konkreten Täters besteht 42 . Vom Täter geht eine Gefahr aus, die ein Eingreifen im überwiegenden öffentlichen Interesse rechtfertigt. Man kann nur darüber spekulieren 43 , was den Gesetzgeber veranlaßt hat, den Begriff der Sicherung hier nicht zu verwenden; möglicherweise fürchtete man, mit der Nähe zur Maßregel die Strafvollstreckungskammern zu einer verschärften - eben an Maßregelvoraussetzung orientierten - Prüfung zu veranlassen. 5.2.2 Der polizeirechtliche Einschlag Der Begriff der „Sicherheit" scheint gegenüber dem Begriff der „Sicherung" einen weiteren Begriffsinhalt zu haben. In verschiedenen Ausprägungen - mit verschiedenen Zusätzen - ist er aus dem Polizeirecht bekannt und bezeichnet dort als öffentliche Sicherheit die umfassende Gefahrenabwehraufgabe der Polizei. Hiervon ist umfaßt „die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechtsgüter und Rechte des einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger der Hoheitsgewalt" 44 . Straftaten stellen hier stets einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit dar.45 Während man im Polizeirecht über den Begriff und die unterschiedlichen Stufen der Gefahr 46 eine handhabbare Eingrenzung erreicht, fällt eine solche Präszisierung in unserem Zusammenhang aus zwei Gründen schwerer. Zum einen geht es bei der Strafrestaussetzung nicht um eine objektive Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit, sondern nur um die Berücksichtigung eines entsprechenden Interesses der Allgemeinheit. Zum anderen scheint der Begriff der öffentlichen Sicherheit auch deshalb begrenzter und handhabbarer, weil dieser mit dem abgestuften Begriff der Gefahr und darüber-
42
vgl. Roxin 1994, § 3 Rnr. 12. aus den Materialien geht nicht hervor, daß der Begriff des Sicherungsbedürfnisses im Gesetzgebungsverfahren eine Rolle gespielt hat. 44 Götz 1995, Rnr. 89. 45 Denninger 1996, Rnr. 7. 46 Gusy 1994, Rnr. 123 ff.; Götz 1995, Rnr. 140 ff., beide mwN. 43
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hinaus mit differenzierten polizeilichen Eingriffsgrundlagen 47 verbunden ist. Es bleibt festzuhalten, daß der Begriff des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit diffus und in seiner Tendenz auf eine umfassende Freiheit von Straftaten gerichtet ist. Anders ausgedrückt: während die Allgemeinheit nur dort ein Sicherungsinteresse geltend machen kann, wo überwiegende öffentliche Interessen vorliegen, besteht ein Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit jederzeit und zunächst einmal ohne eine Interessenabwägung. Das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit erfordert auch bei der Feststellung seines Vorliegens keine Orientierung an der konkreten Person. Dieses Ergebnis, also die Verwendung eines Vokabulars, das in die Nähe polizeirechtlicher Regelungen geht und grundsätzlich von dem konkreten Gefangenen abstrahiert, bleibt auch erhalten, wenn man sicher verfahrensrechtlich vergegenwärtigt, daß bei den Entscheidungen der Vollstreckungskammern immer um konkrete Fälle geht. Auch hier bleibt - als wesentlicher Faktor - das Sicherheitsinteresse ein Fremdkörper. 5.2.3 Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit gleich Verbrechensfurcht der Bevölkerung? Nur kurz einzugehen ist auf einen Aspekt, der in unseren Zusammenhang zu gehören scheint. Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Kriminologie in empirischen Untersuchungen mit der Frage, welche Viktimisierungsängste und Bestrafungswünsche in der Bevölkerung vorzufinden sind. Ein hierbei verwendeter Oberbegriff ist auch das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung 48 . Auch wenn dieser Bereich der Kriminologie durchaus wichtige und auch kriminalpolitisch bedeutsame Erkenntnisse zusammengetragen hat 49 , so vermögen diese Untersuchungen für unser Thema nichts bedeutendes beizutragen. Eine Gleichsetzung des Begriffs des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit mit den Viktimisierungsängsten der Bevölkerung würde das Institut der Strafrestaussetzung letztlich einer populistisch ausgerichteten Beliebigkeit aussetzen. 5.2.4 Der prozessuale
Aspekt
Kehren wir zum Aussetzungsverfahren zurück: U m den Stellenwert des neuen gesetzlichen Merkmals - des Sicherheitsinteresses
47 48 49
Gusy 1994, Rnr. 164 ff. m w N . so bei Sessar 1993, Seite 376 ff. hierzu insgesamt Kaiser 1996, § 100.
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der Allgemeinheit - einschätzen zu können, bedarf es eines kurzen Eingehens auf das Verfahren. Hier zeigen sich nach neuem Recht wesentliche Differenzierungen. In allen Aussetzungsverfahren, denen ein Verbrechen oder eine der in § 66 Abs. 3 StGB bezeichneten Taten (dies sind im wesentlichen schwere Sexualdelikte und Körperverletzungen) zugrunde lag, muß das Gericht nach neuem Recht einen Sachverständigen heranziehen, der Einschätzungen zur Prognose vorzunehmen hat 50 . Nur am Rande sei erwähnt, daß der Maßstab für diese Prognose nach § 454 Abs. 2 S. 2 StPO deutlich verschärft wurde. Es geht in diesen Fällen nicht mehr um die Frage, ob eine realistische Chance auf einen Bewährungserfolg besteht , sondern der Gutachter hat sich zur Frage zu äußern, „ob keine Gefahr mehr besteht". Nicht zu den Aufgaben des Gutachters gehört es, das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit einzuschätzen. Dies soll offensichtlich dem Gericht überlassen bleiben. In allen anderen Fällen, in denen das Gesetz eine Gutachterbestellung nicht vorsieht, bleibt die Gesamtbeurteilung dem Gericht überlassen. Hier fehlen nun allerdings mit dem Wegfall der Erprobungsklausel Maßstäbe, welche Risiken bei der bedingten Entlassung eingegangen werden können. So muß das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vorrangige Bedeutung erhalten. Nur am Rande sei erwähnt, daß die Vorschrift des § 454 StPO in ihrer neuen Fassung einen weiteren Beleg für das Einsickern polizeirechtlicher Grundsätze in das Vollstreckungsrecht bietet. Für den Kreis der oben erwähnten zeitigen Straftaten ist dann ein Gutachter zu bestellen, wenn „nicht auszuschließen ist, daß Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen" (§ 454 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO). Neben der Prognose, daß mit dieser Klausel wohl keine echte Begrenzung der Gutachtenfälle erzielt werden kann 52 , ist die Feststellung beachtlich, daß sich der Gesetzgeber hier genuin polizeirechtlicher Begriffe bedient, ohne in Gesetzesbegründung oder -materialien einen Weg zur Auslegung dieses Merkmals im Verfahren der Strafrestaussetzung zu eröffnen.
50
Schneider 1998, Seite 440. s.o. 3. 52 ähnlich die Einschätzung des O L G Frankfurt, StV 1998, Seite 500: „kaum noch Spielraum für eine bedingte Entlassung ohne vorherige Begutachtung des Verurteilten" . 51
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5.3 Wegfall der Erprobungsklausel Kehren wir zur Neufassung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 zurück. Hier wurde nicht nur das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit aufgenommen, festzustellen bleibt auch, daß die sog. Erprobungsklausel entfallen ist. Diese Änderung kann sicherlich nicht so gedeutet werden, daß eine Legalprognose nunmehr keine Rolle spielt. Dennoch bleibt anzumerken, daß mit der Änderung die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich des nötigen Wahrscheinlichkeitsgrades weggefallen sind. Bemerkenswert erscheint, daß gerade der Wegfall der Erprobungsklausel im Gesetzgebungsverfahren selbst kurz thematisiert wurde. Auf Antrag des Landes Brandenburg 53 , den der Bundesrat in seine Stellungnahme54 übernommen hatte, wurde vorgeschlagen, bei der Formulierung des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Erprobungsklausel im Gesetz zu belassen und nur die Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit zusätzlich aufzunehmen. In der Begründung heißt es hierzu: „auf sie (die Erprobungsklausel) sollte nicht verzeichtet werden, um den bisherigen Prüfungsmaßstab nicht vollständig zu verändern" 55 . Weitere inhaltliche Auseinandersetzungen mit dieser Frage finden sich nicht, so daß davon auszugehen ist, daß der Gesetzgeber - wenn auch ohne Begründung - hier tatsächlich den Prüfungsmaßstab der Prognose wesentlich verändern wollte. Die Richtung dieser Änderung liegt auf der Hand: das inhaltlich diffuse Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit scheint auch deshalb zum dominierenden Faktor geworden zu sein, weil das Gesetz auf Maßstäbe für die Erfolgswahrscheinlichkeit der Prognose nunmehr verzichtet. 5.4 Die Änderung in § 57 Abs. IS. 2 StGB Im neuen Recht ist eine weitere Änderung anzusprechen, die allerdings weit weniger Probleme macht als die Neufassung der Nr. 2 des § 57 Abs. 1 StGB. Zu den Faktoren, die das Gericht bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat, zählt nun auch das „Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts". Dieses Element war in der Tat von den Gerichten seit langem berücksichtigt worden. 56 Das Gesetz gibt zwar keine Grenze an, bei welchem Gewicht dieses
53 54 55 56
BR-Dr. BR-Dr. BR-Dr. Tröndle
163/2/97. 163/97. 163/97, Seite 2. 1997, § 57 Rnr. 6 mwN.
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Element dominierend werden kann, jedoch scheint hier ein angemessener Umgang durch die Praxis denkbar. 5.5 Die Änderung
des 5 88 JGG
Der Gesetzgeber hat es nicht bei einer Änderung des § 57 Abs. 1 StGB belassen, der auch die Grundlage der Halbstrafenaussetzung und der Entlassung aus lebenslanger Freiheitsstrafe bildet. Ahnliche Formulierungen wie in § 57 Abs. 1 finden sich jetzt auch bei der Aussetzung des Restes eines Jugendstrafe und parallel dazu auch im Betäubungsmittelstrafrecht. Zunächst zu § 88 J G G : Für die Änderung des J G G scheint bemerkenswert, daß die Aussetzungsentscheidung nach § 88 J G G bisher als rein spezialpräventiv ausgerichtetes Verfahren betrachtet wurde. Ganz überwiegend wird angenommen, daß trotz der gesetzlichen Formulierung eines Ermessenes generalpräventive Gründe und Aspekte des Schuldausgleichs nicht berücksichtigt werden dürfen. 57 Die Änderung bei § 88 J G G die Aufnahme des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit und der Wegfall der Erprobungsklausel - erscheint im Jugendstrafrecht als einscheidender Eingriff, der tendenziell noch schwerer wiegt als die Neufassung des § 57 Abs. 1 StGB. Bisher gab es nämlich keine Rechtsprechung, die - ähnlich wie im Allgemeinen Strafrecht - die Berücksichtigung eines Sicherungs- bzw. Sicherheitsinteresses forderte. Noch gänzlich ungeklärt erscheint im übrigen, wie sich das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zum Erziehungsauftrag des J G G verhält. 5.6 Restaussetzungen
nach dem BtMG
Auch in § 36 B t M G hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafaussetzung geändert. Die nunmehr bestehende Regelung erscheint bedenklich und ist nur schwer in das System der Therapieregelungen des B t M G einzupassen. Hier war bislang schon anerkannt, daß die Prognoseentscheidung abweichend von den Maßstäben des § 57 Abs. 1 S t G B erfolgen müsse 58 . Die Prognose müsse sich vor al-
57 Ostendorf 1998, § 88 Rnr. 3 und 7f. m w N ; Eisenberg 1997, § 88 Rnr 9; Böhm, 1977, Seite 2198 ff.; selbst die bekannten und umstrittenen Entscheidungen des L G Bonn N J W 1977, Seite 2226 und StV 1984, Seite 256 beziehen lediglich die Schwere der Schuld oder Sühneaspekte in die Ermessensentscheidung ein, Sicherheits- oder Sicherungsbedürfnisse bleiben selbst hier unberücksichtigt. 58 Körner 1994, § 36 Rnr. 38.
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lern an der Behandlung orientieren, das Vorleben und die Umstände der Tat seien von untergeordneter Bedeutung59. Für das System der strafrechtlichen Behandlung betäubungsmittelabhängiger Straftäter könnte die Neuregelung erhebliche Konsequenzen haben, ja das gesamte System gefährden. Bislang wurde bei der Auslegung der Regelungen zur Anrechnung von Therapiezeiten und zur Aussetzung der Strafe einhellig von dem Ziel ausgegangen, einen Übergang von einer erfolgreichen Therapie in den Strafvollzug möglichst auszuschließen60. Dies äußerte sich etwa darin, daß im BtMG im Gegensatz zu den Regelungen im StGB Mindestverbüßungszeiten oder -quoten nicht vorgesehen sind. Durch die Aufnahme des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit in das Gesetz ist dieses System gefährdet. Nimmt man die gesetzliche Formulierung ernst und gesteht damit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit eine eigenständige Funktion zu, so wären jetzt Fälle nicht mehr auszuschließen, in denen ein Täter, der seine Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit (§ 35 BtMG) begangen hat, nach erfolgreicher Behandlung trotz Anrechnung der Therapiezeiten den Rest der Freiheitsstrafe verbüßen muß, wenn das Gericht ein entsprechendes Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit bejaht. Letztlich verstärkt sich der Eindruck, der schon oben gewonnen wurde. Die Verbüßung der Freiheitsstrafe in einem solchen Fall würde zur reinen Sicherungsmaßnahme verkommen und wäre kaum noch versteckt - eine Art „kleiner Sicherungsverwahrung", wobei - um es zu wiederholen - der Begriff des „Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit" sogar noch weitere Auslegungen zuläßt. 5.7 Erste Entscheidungen
der Gerichte
Bislang liegen erst wenige Entscheidungen zum neuen Recht vor. Insgesamt lassen sich aus diesen verläßliche Konturen einer Auslegung des neuen Rechts noch nicht ableiten. Das O L G Hamm fordert eine besonders sorgfältige Prüfung der Prognose bei einem Verurteilten, der sich als gefährlich erwiesen hat 61 ; über das Maß bzw. die Kritierien der Gefährlichkeit wird nichts mitgeteilt. Besondere Erwähnung verdient eine Entscheidung des BVerfG vom 22.03.1998 62 . Anläßlich einer Uberprüfung der verweigerten 59 60 61 62
Kömer a.a.O. vgl Joachimski 1996, § 36 Rnr 10.
O L G Hamm, StraFo 1998, Seite 174. BVerfG, NStZ 1998, Seite 373.
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Ausssetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe äußert sich das Gericht auch zum neuen § 57 Abs.l StGB. Die wesentlichen Punkte sind hier: auch das neue Recht billigt das Eingehen eines vertretbaren „Restrisikos" 63 . Zum Begriff des Sicherheitsinteresses wird nicht Stellung genommen; dagegen finden sich Anhaltspunkte für eine pauschale, an Deliktsgruppen orientierten Auslegung: „da es sich um Mord handelt, ist auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit hoch zu veranschlagen" 64 . Eine Änderung der Strafrestaussetzungspraxis scheint sich nach einer Entscheidung des O L G Koblenz vom 28. Mai 1998 65 abzuzeichnen. Das Gericht geht davon aus, daß - trotz der Klarstellungsthese in der Begründung des Gesetzes - in der Neufassung des § 57 Abs. 1 StGB eine „deutliche Verschärfung der Aussetzungsvoraussetzungen" liege. Erforderlich sei nunmehr, daß es „in jedem Falle wahrscheinlich sein muß, daß der Verurteilte in Freiheit keine neuen Straftaten mehr begeht". 6. Zusammenfassende Bewertung Insgesamt lassen sich die vorangegangenen Überlegungen wie folgt zusammenfassen: 1. Die Neuregelungen beseitigen bisherige Kritikpunkte, wie die schematische Anwendung der Strafrestaussetzung nicht. 2. Die bisherige Systematik der vom Gesetz vorgegebenen Wahrscheinlichkeitsgrade ist zerstört. Diese ersetzte zwar keine Prognoseinstrumente, war aber in sich überzeugend. 3. Der Begriff des „Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit" ist diffus und entzieht sich einer handhabbaren Umschreibung. Die Gefahren liegen auf der Hand: die Praxis wird sich behelfen, eventuell mit einem Rückgriff auf bestimmte Straftatengruppen66, etwa die des § 66 Abs. 2 StGB. Damit wird einem neuen Schematismus Vorschub geleistet, der sich in der Praxis nur als Abkehr von einer individuell ausgerichteten Entscheidung niederschlagen kann. 63 dieser Begriff wird auch gebraucht von Schneider 1998, Seite 440 sowie von O L G Frankfurt StV 1998, Seite 501 und O L G Bamberg N J W 1998, Seite 3508; an anderer Stelle mag vertieft werden, ob diese Begrifflichkeit, die sich im Sprachgebrauch der letzten Jahre für unvermeidbare technische Gefahren, etwa in der Luftfahrt oder bei der Atomenergienutzung eingebürgert hat, in unserem Bereich angemessen ist. 64 BVerfG, NStZ 1998, Seite 374. 65 O L G Koblenz, NStZ 1998, Seite 591. 66 ein Vorgehen, das etwa vom O L G Koblenz in NStZ-RR 1998, Seite 9 für das alte Recht noch ausdrücklich abgelehnt wurde.
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4. Es besteht die Gefahr, daß sich die Funktion der Freiheitsstrafen in Richtung auf eine „kleine" und „große" Sicherungsverwahrung verschiebt. Setzt sich der hier angedeutete Trend fort, so könnten Sicherheits- bzw. Sicherungsfragen auch bald bei der Entscheidung über die anfängliche Strafaussetzung zur Bewährung zum entscheidenden Kriterium gemacht werden. Anfänge hierfür sind vorhanden, schließlich kann im Spezialgebiet des § 36 B t M G die heute gültige Formel auch zur Klärung der Frage eingesetzt werden, ob nach erfolgreicher Therapie, die vor dem Strafantritt stattgefunden hat, die Strafe ausgesetzt werden kann. 5. Natürlich kann auch nach den hier angestellten Überlegungen nicht exakt vorhergesagt werden, wie die gerichtliche Praxis vor Ort auf die Neuregelung reagiert. Denkbar sind mehrere Alternativen. Einmal könnte es sein, daß die Gerichte sich mit der neuen gesetzlichen Begrifflichkeit auseinandersetzen. Dann wäre in der Tat ein zurückhaltenderer Umgang mit der Strafrestaussetzung zu erwarten. Andererseits erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die Praxis sich durch die Formel der Gesetzesbegründung von der „klarstellenden Funktion" der Neufassung in ihrer bisherigen Verfahrensweise bestätigt fühlt und es beim bisherigen Umgang mit der bedingten Entlassung beläßt. Problematisch erscheint zusätzlich, daß die Auswirkungen der Reform empirisch nur schwer fassbar sind. Schon bisher bestand zu Recht die Vermutung, daß sich wesentliche Überlegungen der Gerichte bei den Aussetzungsentscheidungen nicht in den Akten finden lassen, da sie sich nicht an den prognostischen Kriterien orientieren, sondern allgemeine Zweckmäßigkeitsüberlegungen darstellen. Eine umfassende Überprüfung der Neuregelung müßte auch die Frage einbeziehen, ob Auswirkungen auf diesen „second code" der Praxis vorfindbar sind. 6. Insgesamt besteht kein Anlaß, die Neufassung der Vorschriften über die Strafrestaussetzung als glücklich zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund der oben angestellten Überlegungen bleiben zwei gleichermaßen negative Bewertungen übrig. Entweder schlägt die Reform auf die Praxis durch, dann ergeben sich die oben geschilderten Akzentverschiebungen in Richtung auf eine diffuse polizeirechtliche Ausrichtung dieser wichtigen vollstreckungsrechtlichen Entscheidung. Ergeben sich keine Änderungen in der Praxis, dann bliebe nur, die Reform als Teil einer gleichermaßen bedenklichen „symbolischen Kriminalpolitik" einzuordnen.
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Zur Geschichte der Strafrestaussetzung in Polen (1917-1997)*
J O Z E F JAKUB WASIK
Die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe ist Thema einer großen Zahl von Monographien und Aufsätzen. Es ist daher nicht notwendig, die Grundlagen dieses Rechtsinstituts hier zu erläutern. Auch soll im folgenden darauf verzichtet werden, die Strafrestaussetzung vergleichend darzustellen, obwohl jeder Staat eigene historische und aktuelle Konzeptionen dieses Rechtsinstituts besitzt, die sich meist sowohl auf fremde als auch auf bereits früher existierende Ausgestaltungen bezieht. Auch in Polen besteht eine solche Tradition. Weniger bekannt sind hingegen die historischen Umstände, die zu den Veränderungen dieses Rechtsinstituts geführt haben. Auf diese soll im folgenden Beitrag eingegangen werden. Die weltweit bestehende weitgehende Ubereinstimmung hinsichtlich der Geschichte der Entstehung der bedingten Aussetzung spiegelt sich auch in Polen wieder. Verwurzelt ist sie im Gnadenrecht. Als erster trat in Polen Julian Ursyn Niemcewicz mit einer Konzeption der frühzeitigen Befreiung von der Verbüßung der Gefängnisstrafe hervor; der unterbreitete im Oktober 1807 dem König von Sachsen und Herzog von Warschau Friedrich August einen entsprechenden Vorschlag.1 In dieser Arbeit forderte er die frühzeitige Befreiung von der Verbüßung der Reststrafe im Wege eines Gnadenakts des Souveräns, dies jedoch nicht vor Ablauf von 7 Jahren verbüßter Freiheitsstrafe im Falle der Verurteilung zu lebenslanger Haft, bei kürzeren Freiheitsstrafen hingegen schon nach Ablauf von 4 oder 5 Jahren, es sei denn, der Delinquent hat bereits vorher von seinen verbrecherischen Gewohnheiten abgelassen. Die-
* Übersetzt von Agnieszka Czarnecka und Dr. Jens Müller. 1 J. U. Niemcewicz, Memorial ο nowym systemie wiezien ustanowionym w Stanach Zjednoczonych Ameryki, Warszawa 1807; ein Manuskript auf französisch, das vom Verfasser als verloren angesehen wurde, fand sich erst nach 150 Jahren im Archiv der Dresdner Bibliothek, wurde von S. Walczak bearbeitet und 1962 in Warschau veröffentlicht.
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se komme nach Niemcewicz aber nur ausnahmsweise in Frage. Bei der Beurteilung der Gefangenen solle die auf der Grundlage von unzweifelhaften Beweisen festgestellte Schuld des Täters, das Maß seines Sittenverfalls sowie die Tatsache der Verbüßung eines Teils der Strafe berücksichtigt werden. Wichtig sei hierbei, daß eine Genugtuung der Gesellschaft durch die Strafverbüßung bereits eingetreten sei; nur so sei zu verhindern, daß in der Bevölkerung ein Gefühl der Straflosigkeit entsteht. Zu berücksichtigen sei außerdem, ob der Gefangene sich bei Verbüßung der Strafe angemessen verhalten hat, also fleißig und enthaltsam war und nicht versucht hat, gegen die Gefängnisordnung zu verstoßen. Gut zwanzig Jahre später, im Jahre 1819, äußert sich Ksawery Potocki zur Verkürzung der Verbüßung der Gefängnisstrafe durch Gnadenentscheid des Statthalters. Hiervon sollten diejenigen Inhaftierten profitieren, bei denen unzweifelhafte Beweise einer Besserung vorlagen. Eine vorzeitige Haftentlassung könne bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach Verbüßung von 15 Jahren der erkannten Strafe und bei kürzeren Freiheitsstrafen nach Verbüßung der Hälfte der Strafe gewährt werden. 2 Das Rechtsinstitut der vorzeitigen Haftentlassung war, wie allgemein bekannt, der letzte Teil eines progressiven Sanktionensystems. Zuerst entwickelte es sich in diesem Zusammenhang, obgleich wir frühere Anfänge in der englischen Verbannung finden. Dort jedoch, wo es im Vollzugssystem der Gefängnisstrafe nicht vorkam, konnte es auf der Grundlage einer gesetzlichen Normierung angewandt werden. So war es auch in Polen. Sehen wir uns nun an, wie häufig es zu Gesetzesänderungen gekommen ist. Nach dem Ersten Weltkrieg galt noch für eine Reihe von Jahren die Gesetzgebung der Teilungsmächte auch bezüglich des Rechtsinstitutes der bedingten Haftentlassung. Jedoch begann die polnische Obrigkeit recht schnell damit, diese zu ändern und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Die ersten Veränderungen wurden am 7. September 1917 eingeführt. Weitere Veränderungen brachte das Gesetz vom 16. März 1920. Das erste Gesetz - das Provisorische Gesetz genannt - bezog sich auf das russische Strafgesetzbuch, das zweite Gesetz auf die österreichischen Regelungen. Die vollständige Vereinheitlichung des Instituts der Befreiung vom Rest der Strafe für ganz Polen folgte
2
M. Senkowska, Projekt Ksawerego Potockiego ulepszania administracji i stanu wiezien publicznych w Krolestwie Polskim 1819, Przeglad Wieziennictwa 1960, Nr. 1.
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1927. Das nächste einschlägige Gesetz war das Strafgesetzbuch von 1932, dessen Grundlagen bis Ende 1969 galten. Innerhalb dieser 37 Jahre wurde dieses Institut dreimal verändert: im Jahre 1951, dann 1957 und schließlich 1960. In dieser Zeit wurde das Institut der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus dem Strafgesetzbuch von 1932 herausgenommen und in neuen Gesetzen geregelt. Die nächste Änderung folgte 1969. Hierbei wurde das Institut sowohl im Strafais auch im Strafvollstreckungsgesetzbuch geregelt. Obwohl beide Gesetzbücher bis zum heutigen Tage gelten, folgten in dieser Zeit weitere Veränderungen. Diese Novellierungen erfolgten durch die Gesetze von 1985 und 1988, von 1995 sowie durch das neue Strafgesetzbuch von 1997. 1. Die Voraussetzungen und Grundlagen der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zwischen den Kriegen ( 1917 - 1939 ) Wenn man zwischen den formellen und den materiellen Voraussetzungen der Strafrestaussetzung unterscheidet, so ergibt sich folgendes: Die formelle Voraussetzung im Falle einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe war die Verbüßung von mindestens 15 Jahren der Strafe. So bestimmten es die Gesetze von 1920, 1927 und 1932. Bei den zeitigen Freiheitsstrafen mußte einheitlich 2/3 der Strafe verbüßt sein. Unterschiedliche Regelungen wurden nur hinsichtlich der Mindestverbüßungszeiten getroffen. Die kürzeste Mindestverbüßungszeit von 6 Monaten wurde in den Gesetzen von 1920 und 1927 vorgesehen. Ein wenig höhere Mindestverbüßungszeit - 8 Monate - normierte das Strafgesetzbuch von 1932. Ein Jahr verbüßte Freiheitsstrafe setzte schließlich das Gesetz von 1917 voraus. Die Gesetze aus dieser Zeit verlangten als weitere Voraussetzung für die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung eine positive soziale Prognose. Hierunter hat man verstanden, daß sich der Inhaftierte „auf dem freien Fuß gut zu führen hat" (1917 und 1920 ). Der Begriff der „guten Führung" sollte im Hinblick auf das Verhalten des Gefangenen in der Strafvollzugsanstalt, auf das frühere Leben und auf andere persönliche Verhältnisse beurteilt werden. Diese Vorhersage basierte auch auf Erkenntnissen darüber, ob dem Kandidat eine für seinen Lebensunterhalt ausreichende Arbeit zur Verfügung stand oder ob feststand, daß sich jemand um ihn kümmerte und dafür sorgte, daß der Entlassene Obdach und Unterhalt hatte. Einzig das Gesetz von 1927 verlangte lediglich, daß sich der Kandidat „in der Zeit der Abbüßung der Strafe gut führt". Das Strafgesetzbuch von 1932 dagegen definierte die positive soziale Prognose genau da-
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mit, daß „der Entlassene keine neue Straftat begehen wird". Bei dieser Legalprognose soll das Gericht das Verhalten des Verurteilten im Vollzug und seine persönlichen Verhältnisse berücksichtigen. Diese Voraussetzung für die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung galt auch für die zu einer zeitigen Freiheitsstrafe Verurteilten nach der Verbüßung von 2/3 der Strafe. Zwischen den Kriegen war hauptsächlich der Justizminister das Organ, das über die Aussetzung entschied und diese auch wiederrufen konnte (1920, 1927 und 1932). Die Zuständigkeit dieses Exekutivorgans ist oft kritisiert worden. Uberwiegend war man der Meinung, daß diese Aufgabe dem Kreisgericht zustehen sollte. Nur das Provisorische Gesetz von 1917 hatte diese Kompetenz dem Kreisgericht eingeräumt. Die Gesetzesvorschriften verlangten, daß man vor der Entscheidung über die Aussetzung die Stellungnahme der Gefängnisverwaltung und der zuständigen Staatsanwaltschaft einholte. Das Gesetz von 1927 sah keine Möglichkeit vor, die Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe anzufechten. Eine solche Unanfechtbarkeit war einmalig in der Geschichte des polnischen Strafrechts. In der untersuchten Zeitperiode wurden weitere Beschränkungen eingeführt. Das Gesetz von 1920 verlangte eine Zustimmung des Verurteilten zur vorzeitigen Entlassung auf Bewährung. Die Regelung von 1927 bestimmte, daß die Zeit der Untersuchungshaft nicht auf die zu verbüßende Strafe angerechnet wurde. In allen Regelungen war die Möglichkeit eines Widerrufs der Aussetzung vorgesehen. In den ersten drei Gesetzen war diese Entscheidung fakultativ. Das zuständige Organ konnte über den Widerruf entscheiden, wenn sich der Entlassene schlecht geführt oder sein Verhalten den Verpflichtungen, die er bei der Entlassung auf sich genommen hatte, widersprach (1917). Ähnlich regelten das Problem zwei weitere Gesetze (1920 und 1927). Das Gesetzbuch von 1932 dagegen führte auch die Form eines obligatorischen Widerrufs ein, wenn der Entlassene in der Probezeit eine neue Straftat aus den selben Beweggründen oder eine ähnliche Tat begangen hatte. Die Möglichkeit des Widerrufs konnte, mußte aber nicht, eintreten, wenn der Verurteilte während der Probezeit eine andere Straftat begangen, sich der Aufsicht entzogen oder sich sonst schlecht geführt hatte. Nur das Gesetz von 1920 stellte fest, daß der Widerruf der Aussetzung „zu jeder Zeit" erfolgen konnte.
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2. Die Voraussetzungen und Grundlagen der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 - 1 9 8 9 ) Das in dem Strafgesetzbuch von 1932 bestimmtes Institut der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung galt bis zum Jahre 1951. In diesem Jahr wurde die Materie aus dem Strafgesetzbuch ausgesondert und in einem Sondergesetz über die Aussetzung der Rest der Freiheitsstrafe zur Bewährung geregelt. Bei der Aussetzung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe wurde hier eine weitgehende Änderung bezüglich der Mindestverbüßungszeit eingeführt. Die bisherige Frist von 15 Jahren wurde auf 10 Jahre herabgesetzt. Man ging von dem Grundsatz aus, daß das Ziel der Strafe die Verhinderung der Begehung der Straftaten ist, was hauptsächlich durch ein System von Erziehungsmaßnahmen zu erreichen sei. Hierbei spielt die Arbeit des Verurteilten die entscheidende Rolle. Wichtig war hierbei die Überlegung, daß die Zeit der Resozialisierung der Verurteilten meist kürzer ist als die verhängte Strafe. Besonders bei den langfristigen Freiheitsstrafen ist eine größtmögliche Annäherung der in der Strafvollzugsanstalt verbrachten Zeit und der Zeit, in der eine Besserung erreicht wird, erforderlich. Dies kann besonders mit Hilfe der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung erreicht werden. Das nächste Gesetz im Bereich der Aussetzung der Reststrafe von 1957 hat die Mindestverbüßungzeit von 10 Jahren bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe beibehalten.3 Diese Frist wurde erst durch ein Nachtragsgesetz von 1960 geändert, das nunmehr eine Mindestverbüßungzeit von 15 Jahren verlangte. Zur Begründung dieser Änderung wurde auf die Notwendigkeit der Verschärfung der Sanktionen verwiesen, weil der bisherige Strafvollzug keine ausreichende Auswirkung auf die Kriminalitätsvorbeugung gehabt hätte. Die Gerichte verhängten Strafen, die näher an der unteren als an der der durchschnittlichen gesetzlichen Strafandrohung lagen.4 Die These von der nicht ausreichenden kriminalpräventiven Wirkung des Strafsystems wurde zusätzlich mit den niedrigen Mindestverbüßungzeit (Möglichkeit der Halbstrafenverbüßung bei NichtWiederholungstätern und der Entlassung nach 10 Jahre bei lebenslanger Freiheitsstrafe) begründet.
3 Zum Thema des Ursprungs und der Anwendung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht nur in Polen schreibt J. Wasik, Kara dozywotniego wiezienia w Polsce, Warszawa 1963, S. 190. 4 K. Buchala, Dyrektywy sadowego wymiaru kary, Warszawa 1964.
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Ab 1. Januar 1970 hat das Strafgesetzbuch keine lebenslange Freiheitsstrafe mehr vorgesehen.5 An ihre Stelle führte der Gesetzgeber eine neue, bisher nicht bekannte absolute Strafe von 25 Jahren ein, wobei die Mindestverbüßungszeit, die bisher für die lebenslängliche Freiheitsstrafe gegolten hatte, aufrechterhalten wurde. Wie bereits dargestellt, folgte die entscheidende Änderung 1951, als die bisherige Voraussetzung der Verbüßung von mindestens 15 Jahren der verhängten Strafe auf 10 Jahre gesenkt worden war. Die Grundlage einer solchen Aussetzung wurde hier auch verändert. Die Änderung beruhte auf einer „Annahme, daß der Verurteilte nach seiner Entlassung ein ehrliches Leben eines Menschen der Arbeit führen wird". Eine solche Beurteilung mußte sich der Verurteilte durch eine besonders ergiebige und gewissenhafte Arbeit, die bestimmten Normen überschritt, verdienen. Dieselben Voraussetzungen galten damals für die zu einer zeitigen Freiheitsstrafe Verurteilten, wenn sie eine frühzeitige Entlassung anstrebten. Insgesamt findet sich in dieser Periode eine Nachahmung sowjetischer Normen und Ideen sogar auf dem Gebiet des Strafrechts. Sie basierte auf einer falschen Uberzeugung, daß man durch Arbeit in einer Strafvollzugsanstalt einen erwünschten Zweck erreicht, indem man den Täter so resozialisieren kann, daß er auf freiem Fuß ein ehrliches Leben führen wird. Dieses Ziel sei unabhängig von der Länge der zu verbüßenden Strafe oder von der Tatsache, ob die Person zum erstenmal oder schon mehrmals verurteilt wurde, zu erreichen. 6 Selbst der Begriff „des ehrlichen Lebens eines Menschen der Arbeit" wurde nie definiert und führte deshalb zu Schwierigkeiten in seiner Anwendung. Bei dieser - obligatorischen - Form der Aussetzung der Reststrafe war die Besserung des Täters ohne Bedeutung, das einzige, was zählte, war die Anzahl der Tage, Monate oder Jahre, in denen der Täter gearbeitet und die Produktionsnormen erfüllt hat. Problematisch war insbesondere die Situation bei vielen Wiederholungstätern, die am häufigsten das Institut der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung in Anspruch nahmen und immer wieder rückfällig wurden. Diese Wiederholungstäter, die mit der Verbüßung der Strafe vertraut waren, haben solche Tätigkeiten ausgeübt, bei denen das Erreichen der Erzeugungsnormen re-
5 ]. Sliwowski schrieb, daß die von Wasik vorgelegten Voraussetzungen der Abschaffung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe im Laufe der vorgenommenen Gesetzesreformen realisiert wurden ( Polska mysl penitencjarna 1946 - 1971, Warszawa 1972, S. 35 und 81). 6 Eine weitgehende Kritik dieses Instituts wurde v o n / . Bafia und K. Buchala durchgeführt (Warunkowe zwolnienie, Warszawa 1 9 5 7 ) .
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lativ einfach war. Von dieser obligatorischen Form der Aussetzung konnten die Schwachen, die Kranken, die Behinderten sowie diejenigen, die solche einfachen Tätigkeiten nicht zugewiesen bekamen, nicht profitieren. Der oben beschriebene Zustand hat dazu geführt, daß die Wiederholungstäter relativ oft entlassen und die Strafen häufig bis zur Hälfte gekürzt wurden. Um diesem Trend entgegenzuwirken, verhängten die Gerichte immer häufiger entsprechend höhere Strafen. Das Gesetz von 1951 hat das Verbot eingeführt, Straftäter, die wegen Spionage, Terroranschlägen oder Sabotage verurteilt wurden, vorzeitig zu entlassen. Hier wird ein deutlicher Einfluß der sowjetischen Gesetzgebung deutlich, die auf einer falschen stalinistischen Theorie über den sich zuspitzenden Klassenkampf während des Aufbaus des Sozialismus beruhte. Verurteilten, die nicht imstande waren, die Produktionsnormen zu erfüllen und sich dadurch die obligatorische Entlassung zu verdienen, konnten im Wege einer fakultativen Entscheidung entlassen werden, wenn die Gefängnisbehörde ihnen Wohlverhalten und ein gewissenhaftes Verhältnis zur Arbeit bestätigen konnte. Eine solche Entlassung konnte jedoch nicht früher als nach der Verbüßung der Hälfte der Strafe erfolgen. Es stellt sich die Frage, ob die Voraussetzungen des Gesetzes von 1951 das erwünschte Ergebnis hinsichtlich der individuellen Prävention gebracht hat. Untersuchungen zu diesem Thema wurden erst 1962 und 1963 veröffentlicht. 7 Es stellte sich heraus, daß von 116 nur wegen Mordes Verurteilten keiner seine Strafe zur Ende verbüßt hat, d.h. spätestens nach 15 Jahren entlassen wurde. Aufgrund von Amnestie, Gnadenerweisen und vor allem aufgrund der Aussetzung der Reststrafe zu Bewährung betrug die durchschnittliche Dauer der verbüßten Freiheitsstrafe 7,5 Jahre. Nach einer solchen Verkürzung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe haben von 101 Gefangenen 8 sieben (6,9 %) innerhalb von 5 Jahren nach der Entlassung weitere Straftaten begangen. Diese weiteren Straftaten kann man jedoch als nicht bedeutend bezeichnen. Von 101 Untersuchten wurden 80 auf Bewährung entlassen, davon wurden 4 Personen, also 5% rückfällig. Solche positiven Ergebnisse hat keine andere Strafe in Polen oder in der Bun-
7 ]. Wasik, Kara dozywotniego wiezienia w Polsce, Warszawa 1963 und Zmierzch kary dozywotniego wiezienia, N o w e Prawo 1962, Nr. 3. 8 J. Wasik...op.cit.
derselbe
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desrepublik Deutschland gebracht. 9 Vergleichende Untersuchungen über eine kleinere Gruppe von Tätern, die zu einer Strafe zwischen 12 und 15 Jahren verurteilt wurden, haben gezeigt, daß keiner von ihnen nach der Verbüßung von durchschnittlich 8 Jahren der Strafe rückfällig geworden ist. Es ist erwähnenswert, daß viel weniger Straftäter nach einer Entlassung auf Bewährung als nach der Verbüßung der Gesamtstrafe rückfällig werden und das unabhängig davon, wie hoch die Strafe war, für welche Straftat sie verhängt wurde und ob der Täter zu den Wiederholungstätern zählt. Hierin sind sich alle Wissenschaftler einig. 10 Zu ähnlichen Ergebnissen kam man auch in der Bundesrepublik. 11 Das Gesetz von 1957 hat die Mindestverbüßungszeit von 10 Jahren bei der lebenslänglichen Freiheitsstrafe sowie die Halbstrafenverbüßung bei zeitigen Freiheitsstrafen, die vom Gesetz von 1951 vorgesehen worden war, aufrechterhalten. Sie hat dagegen die obligatorische Halbstrafenverbüßung bei Erfüllung der Produktionsnormen für die Zukunft abgeschafft. Das Gesetz führte auch die erhöhte Mindestverbüßungszeit für Wiederholungstäter - mindestens 2/3 der Strafe, jedoch nicht früher als nach einem Jahr - ein. Es wurde hier eine wichtige Begrenzung eingeführt in Form „der besonderen Fälle". Weder das Gesetz noch seine Kommentatoren haben jedoch diesen Begriff definiert. 12 Es wurden hier auch die materiellen Voraussetzungen und die Grundlagen der Entlassung verändert. Entscheidend sollen jetzt „die Lebensweise, der Charakter des Täters und seine persönlichen Verhältnisse" sein. Die „Gute Führung" wurde zwar als Bedingung aufrechterhalten, aber auf die Zeit der Verbüßung der Strafe beschränkt. Diese vier Voraussetzungen galten sowohl für die zu einer lebenslänglichen als auch für die zu einer zeitigen Freiheitsstrafe Verurteilten. Die dargestellten Inhalte bildeten auch die Bestandtei-
9 A. Böhm, Strafvollzug, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1986, S. 39, siehe auch Kaiser, Kerner, Schöch, Strafvollzug, 4. Auflage, Heidelberg 1991. 10 E. Janiszewska - Talago, Powrotnosc skazanych po odbyciu dlugoterminowych kar pozbawienia wolnosci, PPiK 1971, Nr. 2, dieselbe Wykonanie dlugoterminowych kar pozbawienia wolnosci, Warszawa 1980,/. Wasik, Efektywnosc srodkow karnych stosowanych w Polsce mierzona powrotnoscia do przestepstwa, PPiK 1972, Nr. 4 , T. Szymanowski, Powrotnosc do przestepstwa po wykonaniu kary pozbawienia wolnosci, Warszawa 1976. " K.H. Baumann, W. Maetze, H.G. Mey, Zur Rückfälligkeit nach Strafvollzug, MschrKrim 1983, S. 133 - 148. 12 J. Bafia, K. Buchala, Warunkowe zwolnienie. Wprowadzenie i komentarz do ustawy ζ dnia 29.05.1957, Warszawa 1957.
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le der Entlassungsvoraussetzung, nämlich daß „der Verurteilte die Prinzipien des sozialen Zusammenlebens befolgen wird und besonders, daß er keine neue Straftat begeht". Diese letzte Bedingung ist gleichzeitig ein Grundziel der Strafandrohung. Das Gesetz stellte schließlich auch die Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung der Täter, die wegen Spionage, Terroranschlägen oder Sabotage verurteilt wurden, wieder her. Das Gesetz von 1960 erhöhte als Novelle zum Gesetz von 1957 die Mindestverbüßungszeit von 10 auf 15 Jahre bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe und auf den Halbstrafenzeitpunkt bei einer zeitigen Freiheitsstrafe, behielt aber die absolute Mindestverbüßungszeit von 6 Monaten bei. Gleich blieben auch die materiellen Voraussetzungen für die vorzeitige Entlassung. Beide Gesetze ermöglichten im übrigen eine Aussetzung zur Bewährung bei einer Ersatzfreiheitsstrafe. Eine wesentliche Änderung in dieser Novelle war der Ausschluß der Wiederholungstäter von der Möglichkeit einer Aussetzung, wobei zu den Wiederholungstätern diejenigen zählten, die innerhalb von 5 Jahren nach der Entlassung und nach der Verbüßung der ganzen oder mindestens eines Drittels der Strafe, eine neue ähnliche Straftat oder eine Straftat aus denselben Beweggründen begingen. Es stellte sich heraus, daß die „besonderen Verhältnisse" aus dem Gesetz von 1957 kein „Hintertürchen" offenhielten, sondern ein weites Tor zur frühzeitigen Entlassung darstellten. Der Ausschluß der Wiederholungstäter von der Möglichkeit der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung ist auf entschiedenen Widerspruch in der Wissenschaft gestoßen. Das Strafgesetzbuch, das am 1. Januar 1970 in Kraft trat, hat wiederum den materiellen Teil des Instituts der Reststrafenaussetzung geregelt, während der formelle Teil im Strafvollzugsgesetz unverändert belassen wurde. Das Gesetzbuch wies eine Reihe von Änderungen im Vergleich zum früheren Rechtszustand auf. Es verzichtete auf die lebenslange Freiheitsstrafe.14 An ihrer Stelle führte es die 25-jährige Strafe ein. Gleichzeitig blieb es bei der Mindestverbüßungszeit von 15 Jah-
13
K. Daszkiewicz, Prawo Karne, warunkowe zawieszenie wykonania kary, warunkowe zwolnienie, srodki zabezpieczajace, Poznan 1961. S. Lelental, W zwiazku ζ warunkowym zwolnieniem w projekcie k.k. N P 1963, Nr. 9. M. Ryba, Warunkowe zwolnienie w polskim prawie karnym. Warszawa 1966. ]. Sliwowski, Warunkowe zwolnienie w projekcie kodeksu karnego PiP 1963, z. 7. S. Walczak, Warunkowe zwolnienie w projektach kodyfikacji N P 1963, nr. 6,J.Wasik ο dalsze usprawnienie instytucji warunkowego zwolnienia. PiP 1966, z. 4 - 5 14 /. Sliwowski, Polska mysl...op.cit,/. Wasik, Kara dozywotniego...op.cit.
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ren, wie es bei der abgeschafften Strafe der Fall gewesen war. Die vorzeitigen Entlassung von Wiederholungstätern wurde weiterhin ermöglicht, wobei hier nunmehr drei wesentliche Einschränkungen bestanden. Erstens galt das Prinzip, daß mehrmalige Wiederholungstäter nicht in den Genuß der vorzeitigen Entlassung kamen. Diese Tätergruppe, die trotz der Einschränkung auf „besondere Fälle" im Gesetz von 1957, viel zu häufig von der vorzeitigen Entlassung profitiert hatte, sollte von der Regelung ganz ausgeschlossen werden. Zweitens hing die Möglichkeit einer solchen Entlassung vom Vorliegen „besonderer Umstände" ab. Der Begriff wurde vom Gesetzgeber jedoch nicht definiert. 15 Drittens konnte die vorzeitige Entlassung bei Vorliegen „besonderer Umstände" erst nach der Verbüßung von mindestens 3/4 der Strafe erfolgen. Die materiellen Voraussetzungen und die Grundlage der Reststrafenaussetzung wurden ebenfalls geändert. Statt die Lebensführung und den Charakter des Verurteilten zu untersuchen, prüfte man seine „Eigenschaften". Als neue Voraussetzung wurde die Lebensführung vor der Begehung der Straftat eingeführt. Die bereits vorhandene Bedingung des „Verhaltens" des Täters wurde erweitert um „ das Verhalten des Täters nach der Straftat und besonders in der Zeit der Verbüßung der Strafe". Diese letzte Voraussetzung wurde vom Gesetz als die bedeutendste für die Entscheidung über die vorzeitige Entlassung bestimmt. Die Einbeziehung der Lebensführung des Täters vor Begehung der Straftat war umstritten. 16 Die Grundlagen der Reststrafenaussetzung zur Bewährung wurden erweitert und geändert. Erweitert wurden sie um die begründete Vermutung, daß trotz Absehens von der vollständigen Verbüßung der Strafe ihre Ziele erreicht wurden. Diese Formulierung bezieht sich auf Art. 50 § 1 des StGB von 1969, wonach eines der Ziele der Strafzumessung ihre „soziale Einwirkung" ist (Elemente der Generalprävention). Die neue Basis für die Reststrafenaussetzung war m.E. falsch, weil die Einstellung des Täters in einem anderen Stadium des Strafverfahrens geprüft und beurteilt wird. Auch dient das Institut der Reststrafenaussetzung vornehmlich durch seine individuelle Präventionswirkung dem Strafziel der Verbrechensbekämpfung. 15 Sie wurden erst von Wasik definiert: Praktyka sadowa w zakresie szczegolnych okolicznosci warunkowego zwolnienia wielokrotnych recydywistow, PPiK 1973, Nr. 2. 16/. Wasik, Warunkowe przedterminowe zwolnienia w siedemdziesiecioleciu Polski /w:/ Problemy ewolucji prawa karnego, Lublin 1990 pod red. Τ. Bojarskiego, S. 1 8 7 - 2 0 6 .
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Die bisherige Grundlage „der Anpassung an die Regeln des sozialen Lebens" wurde in die präzisere und justitiablere Formulierung „des Befolgens der rechtlichen Ordnung" abgeändert. Zunächst war die Möglichkeit der Aussetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung überhaupt nicht vorgesehen. Später wurde sie mit der Einschränkung auf das Vorliegen „besonderer Umstände" eingeführt. Dieser Begriff wurde im Gesetz nicht definiert. Von den zu einer zeitigen Freiheitsstrafe Verurteilten verlangte das Gesetz die Verbüßung von mindestens 2/3 der Strafe (bei jugendlichen Tätern die Hälfte), jedoch mindestens von 6 Monaten. Das Gesetz von 1985 führte weitere Gruppen von Verurteilten ein, die schon nach Verbüßung der Hälfte der Strafe entlassen werden konnten: Alleinerziehende mit Kindern unter 15 Jahren und Frauen, die bei der Entscheidung über die Entlassung 60 Jahre, und Männer, die bei dieser Entscheidung das 65. Lebensjahr vollendet hatten. Drei Jahre später hat das Gesetz von 1988 die Mindestverbüßungszeit herabgesetzt. Für Ersttäter von 2/3 auf die Hälfte, für die, die bereits zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden waren, von 3/4 auf 2/3. Darüber hinaus senkte das Gesetz die Mindestverbüßungszeit für Jugendliche, Alleinerziehende mit Kindern unter 15 Jahren, Frauen über 60 und Männer über 65 Jahren von der Hälfte auf 1/3 der Strafe. Zusätzlich wurde eine Gruppe von wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts Verurteilten gebildet, die ebenfalls nach Verbüßung von 1/3 der Strafe entlassen werden konnten. 3. Die Voraussetzungen und Grundlagen der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung in den 90er Jahren (1990-1997) In dem neuen politischen System folgten die nächsten Änderungen des Instituts der Reststrafenaussetzung. Das Gesetz von 1995 führte eine Reihe von wesentlichen Änderungen ein. Zunächst wurde das Verbot der Anwendung der Reststrafenaussetzung auf mehrmalige Wiederholungstäter, das seit 1970 galt, abgeschafft. Aus diesem Grunde wurden selbstverständlich auch die Ausnahmen von diesem Verbot in Form des Vorliegens „besonderer Umstände" gestrichen. Die Mindestverbüßungszeit von 3/4 der Strafe wurde für die Gruppe der mehrmaligen Wiederholungstäter beibehalten. Im Zusammenhang mit der Wiedereinführung der lebenslangen Freiheitsstrafe bestimmte das Gesetz die Möglichkeit der Entlassung nach Verbüßung von 25 Jahren. Die Wiedereinführung der lebens-
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langen Freiheitsstrafe in Verbindung mit einer sehr langen Mindestverbüßungszeit ist auf scharfe Kritik gestoßen. Grund dieser Wiedereinführung der lebenslangen Freiheitsstrafe war die Schaffung günstigerer Bedingungen für die geplante Abschaffung der Todesstrafe, 17 aber auch die Möglichkeit, diese höchste Freiheitsstrafe in einer Situation zu verhängen, in der vom Sejm ein Moratorium der Vollstreckung von Todesstrafen beschlossen worden war. Die Verfasser des Entwurfes zur Wiedereinführung der lebenslangen Freiheitsstrafe begründeten ihren Vorschlag damit, daß erstens diese Strafe nur in Ausnahmefällen verhängt werden sollte, zweitens der zu dieser Strafe Verurteilte die Möglichkeit haben sollte, nach Verbüßung von 25 Jahren auf Bewährung entlassen zu werden, drittens das Strafbedürfnis der Bevölkerung trotz Abschaffung der Todesstrafe befriedigt werden müssen und viertens die Notwendigkeit einer dauerhaften Aussonderung der besonders gefährlichen Straftäter aus dem sozialen Leben bestünde. Diese Argumente haben einen sehr geringen Wert. 18 Meinungsumfragen haben ergeben, daß die Mehrheit der Bevölkerung für die Aufrechterhaltung der Todesstrafe plädierte, was in einer Zeit sich häufender Mordfälle zu verstehen ist. Im Jahre 1990 wurden 262 Personen wegen Mordes verurteilt, 1995 waren es bereits 523 Personen bei einer starken Erhöhung der Zahl unaufgeklärter Fälle. 19 Weiterhin stellt sich die Frage, ob die lebenslange Freiheitsstrafe ein taugliches Mittel sein kann, um die gefährlichsten Täter dauerhaft aus der Gesellschaft auszusondern. Die Antwort ist wieder negativ. Das Gesetz selbst sieht eine Reihe von vorzeitigen Entlassungsmöglichkeiten vor: Die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung, Amnestie, Gnadenerweis, Strafunterbrechung und Hafturlaub. Darüber hinaus kann dem Straftäter die Flucht aus der Strafanstalt gelingen.20 Schließlich kann der zu einer lebenslangen
17 /. Wasik, A. Bentkowski, Zwiazki kary smierci ζ kara dozywotniego pozbawienia wolnosci w ostatnim projekcie kodeksu karnego /w:/ Wspolczesna przestepczosc, Problemy prawnokarne, kryminalistyczne i kryminologiczne, pod red. K. Slawika, Szczecin 1996. 18 Zu diesem Thema J. Wasik, Projekt „reanimacji" kary dozywotniego pozbawienia wolnosci /w:/ Problemy reformy prawa karnego. Lublin 1993 pod red. Τ. Bojarskiego i Ε. Skretowicza. 19 Statistisches Jahrbuch 1997, S. 79. 2 0 Statystyka sadowa i penitencjarna. Warszawa 1997, S. 677.
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Freiheitsstrafe Verurteilte jederzeit einen (weiteren) Mord begehen, ohne hierfür zusätzlich bestraft werden zu können. 21 Die Notwendigkeit der Verbüßung von 25 Jahren, um in den Genuß der Reststrafenaussetzung zu kommen, ist zumindest umstritten. Nicht berücksichtigt wird nämlich die Zeit der Resozialisierung, die - wie bereits erwähnt - viel kürzer als 15, also auch als 25 Jahre ist. Man soll diese Zeit nicht überschreiten, weil die Gefangenen zwar wissen, weshalb sie verurteilt worden sind, aber nicht, weshalb sie noch länger im Gefängnis bleiben müssen. Die oben erwähnten Bestimmungen sowohl zur Mindestverbüßungszeit von 25 Jahren bei der lebenslangen Freiheitsstrafe als auch die übrigen gelten weiterhin, nachdem das Strafgesetzbuch vom 7. Juni 1997 in Kraft getreten ist. Das neue Strafgesetzbuch führte jedoch auch einige Änderungen ein. 22 Im Bereich der formellen Voraussetzungen betreffen die Änderungen die Halbstrafenverbüßung, die nicht mehr nur für Ersttäter gilt, sondern auch für den gewöhnlichen Wiederholungstäter. Dagegen müssen besondere Wiederholungstäter (Art. 64 § 1) 2/3 der Strafe und die besonderen mehrmaligen Wiederholungstäter (Art. 64 § 2) 3/4 der Strafe verbüßen. Die absolute Mindestverbüßungszeit von 6 Monaten wurde beibehalten. Nur bei besonderen mehrmaligen Wiederholungstätern beträgt die Mindestverbüßungszeit 1 Jahr. Völlig neu ist die Befugnis des erkennenden Gerichts, die formellen Voraussetzungen strenger zu formulieren. Zu den materiellen Voraussetzungen hat das neue Strafgesetzbuch eine neue hinzugefügt, nämlich die „Einstellung" des Verurteilten und die „Umstände der Begehung der Straftat". Es verzichtete darüber hinaus auf die besondere Hervorhebung des Verhaltens des Verurteilten während der Zeit der Strafverbüßung. Weiterhin wurde die Bedingung, daß der Täter die Rechtsordnung befolgen und besonders keine neue Straftat begehen wird, beibehalten, wobei statt einer „begründeten Vermutung" eine „begründete Uberzeugung" vorliegen muß.
21 Darüber schreibt E. Hansen, Przestepstwa wiezniow w okresie izolacji penitencjarnej, Warszawa 1982. 22 Aufmerksam auf die macht ]. Wasik, Warunkowe przedterminowe zwolnienie ζ reszty kary pozbawienia wolnosci w uchwalonym nowym kodeksie karnym ζ 1997 roku /w:/ N o w a kodyfikacja karna, Wroclaw 1997, S. 249 - 257, pod red. L. Boguni.
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Schlußfolgerungen Aus der dargestellten Materie ergibt sich, daß das Institut der Reststrafenaussetzung zur Bewährung, obwohl es bereits seit Jahrzehnten besteht, nicht perfekt ist und deshalb auch oft verändert wurde. Es könnte so erscheinen, als ob jede Änderung zu einer Verbesserung geführt hätte. Das war zwar manchmal, jedoch keineswegs immer der Fall. Einige Änderungen sind fehlgeschlagen. Die Ergebnisse der Änderungen waren immer dann unbefriedigend, wenn sie mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen in Widerspruch standen. Auch hat es der Gesetzgeber versäumt, aus seinen vorangegangenen Fehlern zu lernen. Die Reform des Rechtsinstituts sollte von kompetenten Fachleuten durchgeführt werden, die nicht nur die geltenden Vorschriften, sondern auch die Geschichte des Rechtsinstituts kennen. Es besteht auch kein Zweifel, daß die Grundlage einer solchen Reform ein fundiertes Wissen über die Wirksamkeit des untersuchten Instituts voraussetzt. Zuletzt muß bemerkt werden, daß kein Rechtsinstitut unverändert bleiben darf, sondern immer behutsam den aktuellen Bedingungen angepaßt werden muß. 23 Die Anwendung der Rechtsvorschriften sollte man gut ausgebildeten Personen überlassen, die nicht nur ein gründliches Wissen in verschiedenen Rechtsgebieten, sondern auch große Lebenserfahrung und Berufspraxis besitzen. Diese Fachleute werden den vorgegebenen Rahmen der Rechtsnormen nutzen, um ihn den unterschiedlichen Verhältnissen im Einzelfall anzupassen.
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Siehe A. Marek, Prawo käme. Warszawa 1997.
Bemerkungen zur nichtstaatlichen Entlassenenhilfe G Ü N T E R BLAU
1 Eine definitorische Bemerkung sei vorausgeschickt: Entlassenenhilfe ist ein Teil der Straffälligenhilfe. Diese ist der weitere Begriff. Trotzdem werden beide Begriffe meistens - und auch im folgenden Text - synonym gebraucht (Kerner 1992, S. 552). Inhaltlich richtet sich „freie" Straffälligenhilfe und insbesondere die Entlassenenhilfe an Menschen, „die strafrechtlichen Eingriffen unterliegen. Sie umfaßt alle Hilfsangebote, die auf Verbesserung von Lebenssituationen und Lebensbewältigung dieser Menschen gerichtete sind. Sie versucht, straffällig gewordene Menschen bei ihrem Integrationsprozess zu begleiten und zu unterstützen" (Kawamura 1997), mit dem Ziel der Stärkung der psycho-sozialen Kompetenz ihrer Klientel. 1.1 Thema dieses Beitrages sind nicht alle Gruppierungen, Arbeitsfelder und Methoden der „freien" Entlassenenhilfe. Ausgeklammert sind außerdem alle staatlich etablierten und normierten Einrichtungen der Straffälligenhilfe, also Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht, justizeigene Sozialarbeit in den Justizvollzugsanstalten, aber auch der Grenzfall der Anstaltsbeiräte, ferner die J u gendhilfe sowie Spezialdienste wie die Drogenberatung. 1.2 Meine Legitimation zur Erörterung der dann verbleibenden Veranstaltungen der nichtstaatlichen Straffälligenhilfe mag manchen zweifelhaft erscheinen. Sie leitet sich aber nicht nur aus theoretischem Interesse sondern auch aus praktischen Erfahrungen her, und zwar aus meiner Vorstandstätigkeit im Niedersächsischen Gefangenenfürsorgeverein in den 60er Jahren (so hieß es damals!), aus meiner Kuratoriumszugehörigkeit in der Frankfurter „Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen" und aus meiner Mitgliedschaft im
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„Hessischen Verein zur Förderung der Bewährungshilfe". Auf die Tätigkeit dieser beiden hessischen Vereinigungen soll am Schluß dieses Beitrages noch eingegangen werden. Der Jubilar hat sein Interesse für das hier behandelte Thema wiederholt bekundet. Er hat nicht nur wie kein anderer Theorie und Praxis des Strafvollzuges gründlich durchdacht und als Anstaltsvorstand durchlebt, er ist nicht nur Vorsitzender eines „freien" Vereins für Entlassenenhilfe, des Fliedener Vereins Rockenberg, er hat in seinem „Lernbuch" „Strafvollzug" - anders als andere Autoren von Strafvollzugslehrbüchern, die die Entlassenenhilfe eher stiefmütterlich behandeln - der „sozialen Hilfe und Entlassung" ein umfangreiches Kapitel (S. 221-237) gewidmet. Denn - so der Jubilar - im Grunde diene das ganze Vollzugsgeschehen „vornehmlich der Vorbereitung der Entlassung und der Zeit danach. Mit dem Verlassen der Anstalt sei Resozialisierung noch nicht erreicht. Es bedürfe eines Konzeptes der „durchgehenden sozialen Hilfe". 2 Nun mag fraglich erscheinen, ob eine effiziente Entlassenenhilfe ein bundesweit geltendes theoriebegleitetes Konzept oder gar darüber hinaus ein verbindliches organisatorisches Modell voraussetzt. Offenkundig wäre letzteres mit der bunten Vielfalt nichtstaatlicher Entlassungshilfegruppierungen und Zusammenschlüsse nicht vereinbar. Auch würden viele private Impulse und Aktivitäten bei einem solchen notwendigerweise technokratischen Modell verkümmern. In systemtheoretischer Terminologie bilden abweichendes Sozialverhalten und als Reaktion hierauf strafrechtliche Sanktionierung und die Bemühung um Wiedereingliederung, - die schon in der Sanktionierungsphase u.a. durch Bewährungsstrafen, Täter/OpferAusgleich usw. beginnt - , ein „komplexes System". Hiervon ist die staatliche wie die nichtstaatliche Entlassenenhilfe ein Teil. Dabei fällt auf, daß die staatlichen Dienste bis in die Details durchnormiert sind (im StGB, StVollzG, Verordnungen und Erlassen), nicht aber die nichtstaatliche Entlassenenhilfe. An einer normativen Verankerung fehlt es zwar gleichwohl nicht. Die §§ 74 und 75 StVollzG regeln zwar nur die staatliche Entlassenenhilfe; § 154 Abs. 2 ebenda verpflichtet aber darüber hinaus die Vollzugsangehörigen auch zur Zusammenarbeit mit Stellen der „freien" Entlassungshilfe (hierüber unten!). Die eigentliche sedes materiae ist jedoch § 72 Bundessozialhilfegesetz in Verbindung mit § 5 der D V O vom 09.06.76. Hier werden die aus richterlich angeordneter Freiheitsentziehung „in un-
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gewisse Lebensverhältnisse Entlassene" ausdrücklich zu den potentiellen Hilfeempfängern „zur Uberwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten" gezählt (näheres bei Reindl, 1998). Indessen haben diese Vorschriften nach Maelicke (1988, S. 372) eher programmatischen Charakter. Eine vergleichbare Regelungsdichte wie im staatlichen Bereich würde wohl auch Kreativität und Innovationsbereitschaft der „freien" Gruppierungen abblocken. Gleichwohl kann man von einer Deregulierung nicht sprechen. Die Vielzahl einschlägiger D V O und Ministerialerlasse (aufgelistet etwa bei Block, 1997 und Gehring, 1998) spricht dagegen. Das Arbeitsfeld der freien Helfer und Hilfsorganisationen ist also kein rechtsfreier Raum. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, daß dies verkannt wird, besonders im Bereich des hier nicht näher zu erörternden Jugendhilferechts. So wurde kürzlich im Hessischen Landtag die bedenkliche Praxis mancher Jugendämter diskutiert, straffällige aber noch nicht strafmündige oder auch nur „straftatgeneigte" Jugendliche in Begleitung von Sozialarbeitern auf lange Auslandsreisen zu schicken, um eine Heimeinweisung zu vermeiden. Auslandsreisen - aber in zeitlich und räumlich weit geringerem Ausmaß - haben auch schon Bewährungshelfer mit erwachsenen Probanden veranstaltet, mit vertretbarer „erlebnispädagogischer" Motivation. Es fällt aber auf, daß die rechtlichen Grenzen solcher Aktivitäten nicht ins Blickfeld geraten sind, geschweige denn reflektiert wurden (Blau, 1997).
Erklärungsansätze für Rechtsfremdheit oder Rechtsgleichgültigkeit bietet die oben zitierte Systemtheorie: Die freie Straffälligenhilfe erweist sich als selbst steuerndes, eigendynamisches „selbstreferentielles" Teilsystem des hochkomplexen Systems „Strafrechtspflege" und entgleitet so der rechtlichen Steuerung durch übergeordnete, am geltenden Recht orientierte Instanzen. 3 3.1
Die Arbeitsfelder der staatlichen und der nichtstaatlichen Entlassungshilfe überschneiden sich teilweise, im intramuranen Bereich dann, wenn die freien Helfer wie üblich schon Monate vor der mutmaßlichen Entlassung ihrer künftigen Klienten diese in der JVA regelmäßig aufsuchen; außerhalb der Anstalt bei Bewährungsstrafen. Positive Kompetenzkonflikte bleiben daher nicht aus. Im allgemeinen dürfte aber heute die Zusammenarbeit, zu der gemäß §154 StVollzG „alle im Vollzug Tätigen" verpflichtet sind, konfliktfrei verlaufen. Soweit in der Vergangenheit Konflikte zwischen den staatlichen und den nichtstaatlichen Diensten darauf beruhten, daß
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den professionellen Sozialarbeitern einzelne idealistisch gesonnene, mit der Lebenswelt der Gefangenen aber kaum vertraute Helfer aus dem gehobenen Bürgertum gegenüberstanden, sind sie weitgehend gegenstandslos geworden, da die freie Straffälligenhilfe parallel zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung immer mehr professionalisiert wurde (Busch 1976, S. 378). Heute liegt sie überwiegend in den Händen von auf Fachhochschulen und Universitäten ausgebildeten Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, die dieselbe Sprache sprechen wir ihre vom Staat angestellten Kollegen. Auch ihre Arbeitgeber sind meistens Großorganisationen, kommunale und kirchliche Vereinigungen, insbesondere die Freien Wohlfahrtverbände. 3.2
Gleichwohl sind die „echten" ehrenamtlichen Helfer, Abgesandte von Bürgerinitiativen oder Vereinen wie „Unihelp" in Berlin oder „Phoenix" in Mecklenburg/Vorpommern (Kurz 1996) durch die Professionalisierung nicht völlig aus der Straffälligenhilfe verdrängt worden. Glücklicherweise! Sie bilden, insbesondere innerhalb der JVA, eine wichtige Brücke zwischen den Eingesperrten und der gesellschaftlichen Wirklichkeit „draußen", für die die Gefangenen ja laut Gesetzesbefehl (§ 2 StVollzG) tauglich gemacht werden sollen. Konflikte mit Fachkräften dürften schon deshalb eher selten sein, weil die freiwilligen Helfer mittlerweile für ihre Aufgaben ausgewählt und geschult werden (Oliva/Sommer 1997, S. 32). Aus welchen Schichten rekrutieren sich die ehrenamtlichen Vollzugs· und Entlassungshelfer? Den typischen Vertreter dieser Sparte gibt es nicht (ebenso Marks, 1985). Oliva und Sommer haben im Anschluß an eine von G. Jakob durchgeführte „biographie-analytische" Untersuchung (Zwischen Dienst und Selbstbezug, Opladen 1993) fünf Typen mit dem Blick auf Entstehung und Wahrnehmung ehrenamtlichen Engagements in der postindustriellen Gesellschaft herausgearbeitet. Dabei stellte sich heraus, daß die früher für eine ehrenamtliche Tätigkeit oft maßgebenden Standes- oder Geschlechterrollen heute bedeutungslos sind. Die biographisch bedingten Motivationen sind so pluralistisch wie unsere Gesellschaft insgesamt. Dementsprechend vielfältig sind auch die Hilfsangebote. 3.3
Für die Einbeziehung einer durch eigene „Knast"-Erfahrungen besonders qualifizierten Gruppe potentieller ehrenamtlicher Helfer, nämlich der in den USA vielfach eingesetzten „Ex-offenders", gibt es in Deutschland bisher, soweit ersichtlich, nur ein Beispiel: den
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Darmstädter Verein „Mit-Mensch e.V.". M.E. sollte dieses Modell unter Effizienzaspekten einmal überprüft werden und dann gegebenenfalls der Versuch unternommen werden, es z.B. im Einzugsgebiet einer größeren Anstalt weiter zu entwickeln. Natürlich sind die Rahmenbedingungen, auch die mentalen, hier andere als in den USA. Aber „Resozialisierung durch Resozialisierte" könnte auch bei uns eine reizvolle Variante der Entlassungshilfe sein. 3.4
Scharf umrissene Frontstellungen zwischen „Profis" und Ehrenamtlichen als Folgeerscheinung der 68er-„Revolution" - zwischen radikalen Strafvollzugsabolitionisten und Reformern - blieben, soweit ersichtlich, aus. Die Fronten verliefen mitten zwischen beiden Gruppen. Beide waren in hohem Maß vollzugskritisch. Nachdem „Rote Hilfe" und Gefangenengewerkschaft keine Themen mehr sind, ist diese - notwendige! - Kritik nur mehr systemimmanent. Kooperationshindernisse bewirkt sie nicht. 3.5
Bei der Frage, ob die Ehrenamtlichen i.S. von § 154 Abs. 2 StVollzG einen Rechtsanspruch auf Zulassung als Vollzugshelfer innerhalb der Anstalt haben, ist zu differenzieren: Nach Müller-Dietz (1997) haben sie nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Dabei ist wiederum zu unterscheiden zwischen „institutionsbezogenen" Fachkräften der in § 154 Abs. 2 Satz 1 StVollzG erwähnten freien Wohlfahrtsverbänden, bei denen es keinen Entscheidungsspielraum geben sollte: mit ihnen ist zusammenzuarbeiten! - und Einzelpersonen und anderen freien Gruppierungen, bei denen zu prüfen ist, ob sie objektiv geeignet sind, die Eingliederung der straffällig Gewordenen zu fördern (Jost, 1998; Gehring, 1998, S. 146 f.). Genügen sie diesem Kriterium, sind sie m.E. als Vollzugshelfer zuzulassen (anders wohl Callies-Müller-Dietz, 1994, die meinen, die Zulassung sei in den Fällen des § 154 Abs. 2 Satz 2 generell nicht „zwingend"). 4 4.1
Noch ein paar Bemerkungen zum Kooperationsgebot des § 154 StVollzG: Es gilt natürlich nicht nur für die leitenden Funktionäre der Straffälligenhilfe innerhalb und außerhalb der JVA sondern auf
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staatlicher Seite auch für den Allgemeinen Vollzugsdienst. Rotthaus (1998) betont mit Recht, daß ohne eine sachgemäße Zusammenarbeit mit dieser stärksten Gruppe, die den häufigsten und engsten Kontakt mit den Gefangenen haben, diese gesetzliche Pflicht nicht erfüllt werden kann. 4.2 Die Aufzählung der Stellen, die Straffälligenhilfe i.w.S. leisten, in §154 Abs. 2 StVollzG hat bekanntlich nur beispielhaften Charakter. Als Kooperationspartner wären noch zu erwähnen: Spezialdienste wie die Drogenberatung, Anonyme Alkoholiker, ferner Volkshochschulen, weiterführende Schulen und die Religionsgemeinschaften, mögen letztere auch durch besondere Regeln in den Vollzug eingebunden sein. Die Zusammenarbeit sowohl der staatlichen wie der nichtstaatlichen Entlassenenhilfe mit der jeweils zuständigen Strafvollstreckungskammer ist nicht mein Thema. Leider sind hier eher noch stärkere Kooperationsdefizite zu beklagen als im Bereich des § 154 StVollzG. Ihnen dürften Fehleinschätzungen auf beiden Seiten zugrunde liegen (Blau 1977; Rotthaus 1985, S. 327). 5 Die offenbar nicht zufriedenstellende, weil immer wieder angemahnte Zusammenarbeit im Rahmen des § 154 (Böhm 1986; Maelicke 1988; Kawamura 1997) hat allerdings ihre Grenzen: Die Akzeptanz und das Prestige der freien Straffälligenhilfe bei den Betroffenen, auch ihre Erfolge, beruhen ja nicht zuletzt auf ihrer Staats- und Vollzugsferne. Sie ist durch keinerlei Kontroll- und Berichtspflichten belastet. Der Zugang zur Freien Entlassenenhilfe ist freiwillig. Die Betroffenen entscheiden, ob sie ein Hilfsangebot annehmen wollen. Ein weiterer Vorteil im Vergleich zur staatlichen Entlassungshilfe ist die „Durchgängigkeit", d.h. ihre Unabhängigkeit von Verfahrensabschnitten, denen die staatlichen Sozialdienste - Gerichtshilfe, JVAeigene Sozialarbeit, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht - zugeordnet sind, mit jeweils wechselnden Betreuern. Dagegen kann der Betroffene bei der Freien Hilfe, freilich nur im Idealfall, mit ein- und derselben Bezugsperson rechnen, die ihn vom Ermittlungsverfahren an - z.B. als U-Haft-Vermeidungsmaßnahme durch Vermittlung einer Wohnadresse, - über die Strafhaft bis zur Entlassung und oft weit darüber hinaus begleitet. So kann er auch Vertrauen entwickeln,
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zumal Verschwiegenheitspflicht besteht (§ 203 Abs. I Ziff. 5 StGB), die allerdings im Ernstfall nicht durch ein Zeugnisverweigerungsrecht gestützt wird. Ganzheitlich ist die Freie Straffälligenhilfe nicht nur, weil sie eine Focussierung auf Teilaspekte (Straftat, Sucht) vermeidet, sondern auch insofern, als sie das soziale Umfeld der Betroffenen mit berücksichtigt, z.B. Familie und Partner auf die bevorstehende Entlassung vorbereitet. Die Freie Straffälligenhilfe dürfte somit besser gerüstet sein als die Sozialdienste der Justiz, das gemeinsame Ziel, die Resozialisierung des Straffälligen zu erreichen. „.. .Gerade weil freie Träger dank ihrer mangelnden Einbindung in die Justiz und damit in die strafrechtlichen Zwecksetzungen der Repression und der Prävention nicht selten wirkungsvoller arbeiten können, repräsentieren sie jenen Teil der Straffälligenhilfe, der ebenso bedeutsam wie anderweitig nicht substituierbar ist" (Müller-Dietz 1997, S. 40). Ihr Ziel ist denn auch nicht ausschließlich Rückfallvermeidung. Mit Recht hat Kawamura in der eingangs zitierten Definition darüber hinaus die Erweiterung und Festigung der sozialen Kompetenz genannt. Sie setzt freilich eine Verbesserung der materiell-sozialen Lebenslagen voraus, die in einer Zeit sich ständig verschlechternder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht immer gelingt. Scheitern die Wiedereingliederungsbemühungen, so bedeutet dies aber nicht das Ende der Betreuung durch die Freie Straffälligenhilfe. Private Entlassenenhelfer akzeptieren, daß sie bisweilen außerstande sind, die klassischen Hilfeleistungen - Beseitigung der Obdachlosigkeit, Arbeitsplatzvermittlung, Schuldenregulierung - zu erbringen. Mitunter müssen sie sich darauf beschränken, „das Elend der Adressaten situationsspezifisch zu mildern" (Cremer-Schäfer 1992). Wohnungslosigkeit und Arbeitslosigkeit sind mittlerweile langfristige Existenzformen geworden, mit steigender Tendenz. U m diesem Elend zu begegnen, ist z.B. in Frankfurt/M. i Jahre 1975 ein vom Hessischen Verein zur Förderung der Bewährungshilfe betreuter „Club" für Strafentlassene Obdachlose gegründet worden. Im „Treffpunkt", so heißt das „Club-Lokal", ein ehemaliger Laden (2 Räume, Küche und W C ) , treffen sich 2 - 3 Mal wöchentlich 10 bis 20 „Besucher", betreut von 14 ehrenamtlichen Helfern im Wechsel. Nichtalkoholische Getränke sind frei. Eine warme Mahlzeit kann zubereitet werden. Der „Club" ist mehr als eine Wärme- und Verpflegungsstation. Er ist ein Refugium für Menschen zwischen Knast und Obdachlosigkeit, wo sie ihre situationsspezifischen Bedürfnisse befriedigen können, ohne Objekt sozialpädagogischer Integrationsbemühungen zu werden.
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6 6.1 Von der Vielfarbigkeit der nichtstaatlichen Entlassenenhilfe war schon die Rede. Wird der Überblick erleichtert, wenn man die Vielfalt bestimmten Typen und Modellen zuordnet? Eine solche Aufgliederung könnte sich an organisatorischen Gesichtspunkten orientieren: Zentrale Beratungs- und Hilfestellen oder örtliche Anlaufstellen; Anbindung an Trägerorganisationen (Caritas, Diakonisches Werk, Arbeiterwohlfahrt) oder freie gesellschaftliche Gruppierungen mit oder ohne Vereinsstatus usw. Man könnte auch nach den praktizierten Hilfeleistungen differenzieren, wobei etwa zischen Einzelfallhilfe und Gruppen- oder gar Gemeinwesenarbeit zu unterscheiden wäre. Indessen war Heinz Baumanns im Jahre 1980 publizierter Versuch, die Entlassenenhilfe - staatliche wie nichtstaatliche - mit dem Ziel ihrer Uberschaubarkeit sowie der Identifizierung beispielhafter Modellveranstaltungen durch Aufteilung auf einzelne Typen zu systematisieren, wenig ertragreich. Als Fazit seiner breiten empirischen Untersuchung stellte er fest, daß die Entlassenenhilfe in Deutschland wenig überschaubar sei. Die Zahl der Hilfestellen schwanke ständig und werde von keiner Stelle exakt erfaßt (S. 221). Von Koordination und Kooperation der einzelnen Hilfestellen könne keine Rede sein. Rivalitäten unter den freien Trägern unter ideologischem oder besitzwahrendem Aspekt wirkten sich kontraproduktiv aus. U.a. deshalb komme es nicht selten zu Doppel- oder Mehrfachbetreuungen. An wissenschaftlich abgesicherten Konzepten und Zielvorstellungen fehle es. Das schließe nicht aus, daß einzelne staatliche wie nichtstaatliche Hilfsstellen vorbildlich arbeiteten. Baumann befürwortete die Einrichtung zentraler Beratungs- und Hilfsstellen am Sitz größerer Vollzugsanstalten, u.a. wegen des dann möglichen reicheren Repertoires an Hilfsangeboten. Diese Empfehlung wird von anderen Autoren geteilt (Schubert 1976; Maelicke 1988), obwohl sie die Gefahr technokratischer Fehlentwicklung solcher Zentralstellen nicht verkennen. Baumanns Bestandsaufnahme dürfte im Kern auch heute noch aussagekräftig sein. O b allerdings der nicht nur von Baumann (1980) und Maelicke (1985) erhobene Vorwurf mangelnder Kooperation und Planung sowie mangelnder Vernetzung mit der institutionalisierten justizeigenen Straffälligenhilfe heute noch gerechtfertigt ist, kann von einem Außenstehenden kaum beurteilt werden. Was die behaupteten organisatorischen Defizite anbelangt, so ist zu bedenken, daß es immerhin seit 1990 als Dachorganisation die „Bundes-
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arbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe e.V." gibt ( „ B A G - S " ) , eine Gründung u.a. der Freien Wohlfahrtsverbände, der neben anderen Aktivitäten alljährlich „Straffälligenhilfeberichte" herausgibt, 1994 z.B. speziell für die neuen Länder, und der Aufgabenkataloge zusammengestellt hat, die den Erfordernissen konzeptioneller Planung durchaus entsprechen. Auch bedeutet das Beharren auf einem eigenen staats- und vollzugsfernen Profil, das gelegentlich als Verweigerung von Kooperation und Koordination wahrgenommen wird, ja nicht, daß freiwillige Helfer keinen Kontakt zu Stellen suchten, die unmittelbar oder mittelbar zur Wiedereingliederung ihrer Klienten beitragen können, also zu Kirchen, Gewerkschaften, örtlichen Sponsoren und selbstverständlich auch justizeigenen Sozialdiensten. Zumal die Intensivierung solcher Kontakte geeignet ist, das Bewußtsein von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Straffälligenhilfe zu wecken und zu stärken. Öffentlichkeitsarbeit ist daher unverzichtbar.
6.2 Sie kann auch zur Erschließung finanzieller Ressourcen beitragen. Angesichts leerer öffentlicher Kassen ist die Finanzierung der freien Straffälligenhilfe ein ernstes Problem. Die Quellen sind leider so buntscheckig wie die Organisationsformen der freien Entlassenenhilfe. Beteiligt sind die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die gemäß § 72 B S G , § 5 D V O hierzu verpflichtet sind - bei höchst unterschiedlicher Praxis! (Kawamura 1997, S. 47) - ferner Gerichte, die Angeklagte zugunsten von Hilfsvereinen zu Geldbußen verurteilen, und schließlich diejenigen Freien Wohlfahrtsverbände, die für die ihnen verbundenen Anlaufstellen und Vereine bestimmte Beträge in ihren Etats bereitstellen. Hinzu kommen die Mitgliedsbeiträge einschlägiger Vereine und Spenden. Auf Landesebene konkurrieren als Geldgeber die Ressorts Soziales, Jugend und Justiz. Bisweilen trägt auch der Bund zur Finanzierung bei, etwa im Interesse einzelner innovativer Projekte. Viele dieser Finanzleistungen sind keine festen Kalkulationsgrößen. Hier sind die staatliche Dienste in einer unvergleichlich besseren Lage als die freien Helfer. Bedenkt man die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Freien Straffälligenhilfe, so wäre eine staatliche Teilfinanzierung eigentlich geboten, zum mindesten insoweit als freie Helfer Aufgaben der justizeigenen Dienste substituieren, was freilich die Ausnahme, keinesfalls die Regel sein sollte (Müller-Dietz 1997, S. 39).
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7 Der Aufgabenkatalog der freien Straffälligenhilfe ist seit der Baumannschen Studie etwas reichhaltiger geworden. Jedoch hat sich Büschs Voraussage (Busch 1994), die freien Hilfskräfte müßten sich demnächst noch bisher unbewältigten Aufgaben zuwenden, nicht in dem erwarteten Ausmaß bewahrheitet. Gedacht war an die professionelle Begleitung beim Vollzug neuer Sanktionen wie Täter/Opfer-Ausgleich, Gemeinnützige Arbeit, ferner bei der Erfüllung von Diversionsauflagen und Projekten zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen. Indessen dominieren nach wie vor die traditionellen Aufgabenbereiche, wenn auch neue Methoden (Case Management, „Empowerment" und vor allem eine Ressourcen vermittelnde Netzwerkarbeit) eingeführt worden sind. Eine inhaltliche Verankerung der freien Straffälligenhilfe im Strafvollzug als dessen integrierter Teil, von Busch 1976 gefordert, steht weiterhin aus. Solche Entwicklungen, mögen sie nun wünschenswert sein oder nicht, sind auch in einem gesellschaftlichen Klima, das punitiven Neigungen immer mehr Raum gibt und nichtkustodialen Sanktionen eher skeptisch gegenübersteht, kaum zu erwarten. Auch eine Reduktion der freien Hilfe auf einzelne Standardmodelle ist ausgeblieben. Glücklicherweise! Busch warnte schon 1976 vor einer Einschränkung der Vielfalt auf genau kanalisierte Hilfsformen. Mit Recht! Kreativität und Flexibilität der freien Hilfen würden dadurch sicherlich beeinträchtigt. Etwas anders ist Maelickes Vorschlag der Regionalisierung zu beurteilen (Maelicke 1985, S. 55). In regionalen Arbeitsgemeinschaften sollten freie Verbände, kommunale Träger und Resozialisierungsgruppen zusammen arbeiten, finanziert durch örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger. Maelicke verweist auf schon bestehende Modelle, bei denen öffentliche und private Träger zusammenarbeiten. Diese Angebote seien zu modernisieren. „Helfen und Betreuen" entspreche nicht mehr dem Repertoire moderner Sozialarbeit. Detaillierte Aufgabenkataloge müßten festgeschrieben werden. Daß solche Festschreibungen die Effizienz steigern würden, erscheint mir allerdings zweifelhaft.
8 Als erfreuliche Bereicherung der freien Straffälligenhilfe sind die grenzüberschreitenden Aktivitäten zu bewerten, die neuerdings an der deutsch-niederländischen und der deutsch-französischen Grenze praktiziert werden. Beispielgebend ist vor allem die zweisprachige europäische Anlaufstelle in Straßburg, das „Centre Europeen
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d'Accueil des Justiciables" (Haehling-von Lanzenauer 1979). Auf der Ebene der professionellen Betreuer funktioniert die europäische Zusammenarbeit schon länger (Heine-Bang 1997; Grotz 1996). Erst jetzt profitieren davon aber auch die Betroffenen unmittelbar. Für die Fachleute ist der Blick über die Grenze allemal instruktiv. So wird deutlich, daß es auch andere Organisationsformen der Straffälligenhilfe gibt als die deutsche mit ihrer rigiden Trennung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Diensten. Sq sind in den Niederlanden und in Osterreich die entsprechenden Gruppierungen als Verein oder Stiftung außerhalb der Justiz angesiedelt. In Frankreich sind sie dagegen noch stärker als bei uns in den staatlichen Justizapparat eingebunden (Jehle 1995, S. 263). 9 Zum Schluß sollen zwei Straffälligenhilfsvereinigungen vorgestellt werden, auf die ich schon in den Vorbemerkungen hingewiesen habe: die Frankfurter Anlaufstelle für straffällig gewordenen Frauen und der „Hessische Verein zur Förderung der Bewährungshilfe". 9.1 Die in Frankfurt tätige Anlaufstelle ist eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt. Sie ist 1975 als Modellprojekt gegründet und bis zum Sommer 1979 vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit gefördert worden (Kassner 1987; Kummerow 1990). Die Modellphase wurde von Helga Einsele und Bernd Maelicke wissenschaftlich begleitet (Einsele/Maelicke 1981). Seit dem 01.01.1980 wird die Anlaufstelle als Regeleinrichtung vom Hessischen Sozialministerium und der Stadt Frankfurt bezuschußt. Das ausschließlich weibliche Team der Anlaufstelle bestand ursprünglich aus 6 hauptamtlichen und 2 nebenamtlichen Fachkräften. In Auswirkung der Sparmaßnahme arbeiten dort jetzt nur noch 4 Fachkräfte auf 3,15 Stellen. Zeitweise kümmerte sich ein Zivildienstleistender um Telefon und Büroarbeit. Die Anlaufstelle ist in einem ehemaligen Laden (jetzt 3 Räume und 1 Küche) im Stadtteil Bornheim untergebracht. Die Grundmaximen jeglicher freien Straffälligenhilfe - Unabhängigkeit von der Justiz, Freiwilligkeit, Hilfe, nicht Kontrolle gelten auch für die Anlaufstelle. Konzept und Zielrichtung unterscheiden sie aber von ähnlichen Eirichtungen. Das „Neue" und „Besondere" der Beratungsmethoden liegt (nach Cremer-Schäfer, 1990) in einer in die Praxis eingefügten Reflexibilität, verdeutlicht einmal
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durch das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Begleitung und qualifizierter Supervision, ferner durch „bewußte und methodisch gewendete Sympathie und Parteilichkeit" für die straffällig gewordenen Frauen. Das geht so weit, daß die Mitarbeiterinnen es ablehnen, Informationen über ihre Klientinnen einzuholen oder gar weiterzugeben (Kassner 1987). Sie lesen keine Akten und überlassen es den betreuten Frauen zu entscheiden, was sie von sich erzählen wollen und was nicht. Die Mitarbeiterinnen sprechen von „professioneller Beziehungsarbeit", deren Ziel es ist, der Ausgrenzung ihrer Klientel entgegenzuwirken und ihre so oft aufgedrängte Opferrolle zu überwinden. Die durchschnittliche Betreuungsdauer beträgt 2 - 3 Jahre. Nicht selten ist die Wiederbelebung von „Altkontakten", nicht nur zur Krisenintervention. Die Beratung ist anfangs sehr intensiv. Später in der „Aufbereitungsphase" findet sie in der Regel einmal wöchentlich statt. Es gilt der Grundsatz: So viel Zuwendung wie nötig, so wenig Fremdbestimmung wie möglich. Zur Stabilisierung der inneren und äußeren Lebensverhältnisse gehören selbstverständlich auch existenzsichernde Hilfen wie Wohnraumbeschaffung, Arbeitsplatzsuche, Umschuldung (jetzt an eine externe Stelle delegiert) und im Bedarfsfall Hilfe für Drogenabhängige durch sachdienliche Informationen über Drogenberatungsstellen. Der Anteil der Drogenabhängigen unter den Klientinnen liegt bei etwa 30 % . Die Anlaufstelle hat als Ubergangslösung eine 3-Zimmer-Wohnung und 2 Einzelappartements angemietet. Die Verweildauer von zuletzt insgesamt 9 Bewohnerinnen betrug Ende der 80er Jahre noch durchschnittlich 4 Monate; sie sank 1989 auf 2 3 / 4 Monate. Die Wohnungen stehen auch für Notaufnahmefälle und für Sozialurlauber zur Verfügung. Allerdings gab es bisweilen Wartezeiten mit der mißlichen Folge, daß die Anwärterinnen in alte Verhaltensmuster zurückfielen, insbesondere erneut Drogen konsumierten. Wartezeiten sind erst recht kontraproduktiv, wenn es um den Beginn der Betreuung geht. Seit Inkrafttreten der personellen Sparmaßnahmen muß die Anlaufstelle zu ihrem Bedauern Wartelisten auslegen. Die Wartezeit betrug 1996 2 bis 2 V2 Monate. Die Mitarbeiterinnen halten solche Wartezeiten bei der Eigenart ihrer Klientel und angesichts der akuten Notlagen unmittelbar nach der Haftentlassung für nicht vertretbar. Die Anlaufstelle könnte so zum „Durchlauferhitzer" degenerieren. Ihre Wirksamkeit beruhe ja gerade auf dem Erlebnis spontaner und langfristiger psycho-sozialer Begleitung, von Kontinuität und Verläßlichkeit. Nur so wachse Vertrauen, wohl der entscheidende Grund für die erstaunlichen Erfolge der Betreuung, mißt man sie an der Rückfallhäufigkeit, ein Kri-
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terium von sicherlich verkürzter Sichtweite, für Kriminalpolitiker aber relevant. Zum Beleg einige Zahlen aus den Jahren 1990 - 1995: Von den langfristig regelmäßig Betreuten, also ohne Berücksichtigung von einigen hundert Kurzkontakten, wurden während eines Untersuchungszeitraumes von 3 Jahren im strafrechtlichen Sinne rückfällig: 1990 von 56 Klientinnen 5. Die Zahlen lauten für die darauf folgenden Jahre: 1991: 68/5; 1992: 73/3; 1993: 80/7; 1994: 86/6; 1995: 87/6. Noch einige Worte zur wissenschaftlichen Begleitung der Tätigkeit der Anlaufstelle. Sie nahm einen wechselvollen Verlauf: Von der Anfangsphase - Evaluierung durch Einsele und Maelicke - war schon die Rede. Der Endbericht vom Februar 1980 gipfelte damals in der auch heute noch gültigen Feststellung, daß die qualitative Intensität der langfristigen psycho-sozialen Beratung, nicht dagegen meßbare Zuwendungen, den Arbeitsverlauf der Anlaufstelle kennzeichneten. Ein weiterer Versuch wissenschaftlicher Begleitung verlief unglücklich. Das arbeitsaufwendige Projekt, initiiert vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Frauen und dem Institut für Sozialforschung und Sozialwissenschaft in Saarbrücken übertragen, scheiterte nach zweijährigen Vorarbeiten an Querelen und Inkompetenz der „Forscher". An seine Stelle trat ein aus den Haushaltsmitteln der Universität Frankfurt/M. finanziertes, weniger aufwendiges Projekt, das von Prof. Dr. Helga CremerSchäfer betreut wurde. Sie legte 1991 einen Arbeitsbericht und einen Endbericht zur Evaluation der Anlaufstelle vor, in denen die Arbeit der Anlaufstelle inhaltlich und methodisch unter verschiedenen Aspekten analysiert wird. In unserem Zusammenhang sind die Feststellungen der Gutachterin bedeutsam, daß straffällige Frauen „immer konsequenter vom Wohnungs- und Arbeitsmarkt und von Sozialleistungen ausgeschlossen" werden. „Das Arbeitsvermögen der Mitarbeiterinnen hat sich aber als eine (fast) unerschöpfliche Ressource in dieser Situation herausgestellt." Seit Mitte der 80er Jahre könne man nur noch von sozialer Arbeit unter Sachzwängen sprechen. Die Grenzen der Entlassenenhilfe würden immer deutlicher. Die Stabilisierung der Lebensbedingungen mißlinge häufiger. Gleichwohl sind Kontaktabbrüche seitens der Klientinnen gegenüber der Anlaufstelle nach wie vor selten. Die Gutachterin hält das für das eigentliche Erfolgskriterium.
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9.2 Um die Stabilisierung verbesserter Lebenslagen von Strafentlassenen geht es z.B. auch den Mitarbeitern der „Hessischen Vereins zur Förderung der Bewährungshilfe". Der Verein ist im Jahre 1954 entstanden als Zusammenschluß hessischer Bewährungshelfer. Inzwischen zählt er 151 Mitglieder aus den Bereichen Justiz, Bewährungshilfe und Wissenschaft. Diese Sparten sind auch - mit deutlichem Ubergewicht der Bewährungshelfer - im siebenköpfigen Vorstand vertreten. Vorsitzender der Vereins ist zur Zeit der Präsident des Landgerichts Hanau, Otto Kästner. Geschäftsführerin ist eine Dipl.Pädagogin (Meyer D. 1995/96). Die Angebote und Aktivitäten des Vereins decken ein breiteres Spektrum ab als das der Anlaufstelle. Viele Arbeitsfelder sind zwar identisch, jedoch werden die Akzente anders gesetzt. So spielt die Einzelberatung vergleichsweise eine geringere Rolle. Ganz im Vordergrund steht dagegen die Beseitigung der Wohnungslosigkeit, die mit Resozialisierungsarbeit einhergeht, sich also nicht in der Bereitstellung von Ubergangswohnraum erschöpft. So stellte der Verein im Jahre 1996 - zum Teil in Kooperation mit freien Trägern der Straffälligenhilfe und der „Neuen Wohnraumhilfe GmbH" - ca. 90 Wohnmöglichkeiten mit unterschiedlicher Betreuungsintensität zur Verfügung. Das Spektrum reichte von stationären Einrichtungen mit Intensivbetreuung über ambulantes „Betreutes Wohnen" bis hin zur Versorgung mit Normalwohnraum (Meyer 1995/96). Besondere Zuwendung erhalten die in eigener Regie geführten „Karl-Hemfler"-Häuser I und II in Kassel. Das Karl-Hemfler-Haus I besteht seit 1972. Es setzt sich zusammen aus zwei angemieteten Wohnetagen und bietet Platz für 10 Männer. Das Karl-Hemfler-Haus II hat der Verein Mitte 1990 erworben und umgebaut. 18 Plätze stehen bereit; hinzu kommen Gemeinschafts- und Freizeiträume und ein Garten. Im Jahre 1996 lebten 38 Haftentlassene bzw. unter Bewährung stehende Männer in diesem Haus. Ihren Lebensunterhalt bestritten 5 Personen durch eigenes Erwerbs-Einkommen, 22 erhielten Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe, 11 Sozialhilfe. Der Personalschlüssel sah 1996 2,5 Stellen für Sozialarbeiterinnen und eine halbe Stelle für eine Verwaltungskraft vor. Beide Kasseler Häuser sind vom Landeswohlfahrtsverband Hessen als stationäre Einrichtungen anerkannt und werden über Pflegesätze finanziert. Ein drittes Karl-Hemfler-Haus existiert seit 1991 in Gießen. Miteigentümer ist neben unserem Verein der örtliche „Verein zur Eingliederung von Straffälligen e.V.". Hier stehen in 2 Häusern 15 Wohnplätze zur Verfügung. Der Personalschlüssel umfaßt
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1 V2 Stellen. Die Finanzierung beider Wohnungen erfolgt aus dem Etat für Betreutes Wohnen beim Landeswohlfahrtsverband. Weitere Kooperation zur Wohnraumbeschaffung, bei der der Verein u.a. durch Darlehen oder Bürgschaft finanziell beteiligt ist, ergab sich in Marburg und Bad Hersfeld. Im Rhein-Main-Gebiet hat der Verein 36 Zimmer und Wohnungen angemietet und an Probanden der örtlichen Bewährungshelferstellen weitergegeben. Schon Mitte der 70er Jahre erkannten Vereinsmitglieder, daß ehrenamtliche Mitarbeit bei der Straffälligenhilfe, wenn sie nutzbringend und nicht frustrierend für alle Beteiligten sein sollte, Schulung voraussetzt. Es wurde eine Beratungsstelle eingerichtet und ein Bewährungshelfer eigens für diesen Zweck freigestellt. Der Verein finanziert die Personalkosten und die Kosten für Seminare, bei denen auswärtige Referenten den freiwilligen Helfern Basiswissen vermitteln. Über ein weiteres Arbeitsfeld, den „Treffpunkt" für obdachlose Strafentlassene wurde schon in anderem Zusammenhang berichtet (oben S. 503). Zu erwähnen ist noch die Aktion „Theater hinter Gittern". Der Verein hat dieses seit 1972 erprobte Projekt, dazu bestimmt, die rigide Atmosphäre der totalen Institution Strafvollzug durch kulturelle Reize aufzulockern, im März 1995 übernommen. Finanziert wird es bisher vom Hessischen Justizministerium aus Lottomitteln. Zwischen März 1996 und Februar 1997 wurden unter auch personeller Mitwirkung des Vereins in hessischen Justizvollzugsanstalten 31 kulturelle Veranstaltungen durchgeführt. Mittels einer 1997 herausgekommenen Broschüre sollen neue Sponsoren geworben werden. Die bisherige fragmentarische Schilderung der Aktivitäten des Vereins (unerörtert blieb die Verbands- und Öffentlichkeitsarbeit) könnte den Eindruck erwecken, die allgemeine Finanzmisere sei an diesem Verein ziemlich spurlos vorbeigegangen. Tatsächlich profitierte der Verein in den 80er Jahren zeitweise von der Veräußerung eines Probandenheims in Bad Homburg und von relativ großzügigen Zuweisungen von Geldbußen durch die Gerichte. Letztere sind aber seit 1994 stark rückläufig. In der Bilanz des Vereins wurde 1994 letztmalig ein Gewinn ausgewiesen. Seither gibt es Defizite. Einsparungen im Personaletat, wenn auch noch nicht bei den „Hauptamtlichen" , waren unvermeidlich. Auch einzelne Dienstleistungen - wie die Bereitstellung von „Verfügungsgeldern" für Bewährungshelfer zur Linderung aktueller Notalgen - mußten gekürzt werden. Der moralischen Verpflichtung, der zu reorganisierenden Straffälligenhilfe in den neuen Bundesländern eigene Erfahrungen zu ver-
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mittein, sind Vorstandsmitglieder in den Jahren 1992/93 durch Referate und Seminare in Thüringen nachgekommen.
10 Fazit
Was lehren uns die beiden Zusammenschlüsse im Lichte der allgemeinen Entwicklung der freien Straffälligenhilfe in Deutschland? 10.1
Zunächst ist festzustellen, daß diese „zweite Säule" gegenüber der ersten staatlichen an Bedeutung gewinnt, als Folge leerer öffentlicher Kassen und allgemeiner Privatisierungstendenzen, die - insbesondere in den USA - so weit gehen, daß private Unternehmer elektronisch gesicherte Fußfesseln, Haftsubstitute, kontrollieren und Privatgefängnisse betreiben. Tendenziell liegt die freie Straffälligenhilfe also im Trend. Nach unserem Rechtsverständnis wäre ein weiterer Rückzug des Staates aus der Straffälligenhilfe, soweit dieser fiskalisch begründet würde, aber illegitim, u.U. sogar verfassungswidrig, da eine Überbürdung sozialstaatlicher Verpflichtungen auf Private jedenfalls mit dieser Begründung m.E. unzulässig wäre. 10.2
Die Zeit der visionären oder doch langfristig programmierten Projekte, theoriegeleitet und nicht immer frei von ideologischen Vorurteilen, ist vorbei. Die immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen verringern die Hilfsmöglichkeiten. Die sozialen Rahmenbedingungen haben sich aber nicht nur wegen der Finanznot verschlechtert, sondern auch wegen eines Stimmungsumschwungs in der Bevölkerung zu Lasten eines Resozialisierungsstrafrechts (Schwind 1995). Die punitive Gesinnung der Mitbürger, gespeist aus einer zum Teil irrationalen Verbrechensfurcht hat zugenommen. 10.3
Positiv fällt ins Gewicht, daß die zunehmende Spezialisierung und die durch technischen Fortschritt mögliche Vernetzung aller Dienste, die mit Straffälligenhilfe irgendwie zu tun haben, die Hilfs- und Anlaufstellen befähigen, die Ressourcen - materielle und immaterielle - , die dem einzelnen Klienten in seinem Resozialisierungsprozeß dienlich sein können, schnell und wirksam zu erschließen.
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10.4 Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Straffälligenhilfe wird weiter Fortschritte machen, ohne daß deshalb auf „Ehrenamtliche" verzichtet werden müßte oder dürfte. Diese letzte Gruppe wird freilich mit sozialpädagogischem Basiswissen zu versorgen sein (siehe das Frankfurter Beispiel!). Die Verwissenschaftlichung verhilft zu besseren Analysen der speziellen Lebenslagen der Straffälligen und zur selbstkritischen Verbesserung der Beratungsmethoden. So werden z.B. „Beziehungsfallen" rechtzeitig entdeckt und vermieden. 10.5 Trotz aller Verwissenschaftlichung ist der Faktor „Mensch" nach wie vor und mit eher ansteigender Tendenz von großer, oft entscheidender Bedeutung. Das beweist insbesondere die Erfolgsbilanz der Frankfurter Anlaufstelle für straffällig gewordenen Frauen. Es hat sich gezeigt, daß nicht nur die Beseitigung äußerlicher Mangellagen sondern auch die Erfahrung vertrauensvoller und verläßlicher menschlicher Zuwendung zu den existentiellen Grundbedürfnissen instabiler Persönlichkeiten gehört. Beide hier vorgestellten Zusammenschlüsse haben das erkannt. Sie haben damit eine humanitäre Leistung erbracht, welche die allgemeine Klage über den Mangel an Gemeinsinn für einen gesellschaftspolitisch wichtigen und für das Kulturphänomen „Strafrechtspflege" signifikanten Bereich relativiert. Literatur Baumann, 1980
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7 Besondere Formen des Freiheitsentzuges
Problematische Ersatzfreiheitsstrafe MANFRED SEEBODE
Der verehrte Jubilar hat sich zu der einleuchtenden und für eine Betrachtung der althergebrachten Ersatzfreiheitsstrafe* grundlegenden, wenn auch nicht allgemein geteilten Auffassung bekannt, es gehe „ersichtlich nicht an, daß Taten deshalb ungeahndet bleiben, weil es Straftäter gibt, die einkommens- und vermögenslos sind und allenfalls über die zur Lebensführung unbedingt erforderlichen Geldmittel v e r f ü g e n " D i e eher vereinzelt vertretene kriminalpolitische Gegenposition, nach der die Rechtsgemeinschaft, die „auch Gründe der Eigentumslosigkeit mitbedingt und erträgt", es werde „ertragen können", daß „in gewissem Umfang leichtere Straftaten von Eigentumslosen letztlich straflos bleiben müssen" 2 , ist damit zu Recht verworfen. Denn Mittellosigkeit nicht Straffreiheit bewirken zu lassen, ist kriminalpolitisch zweckmäßig, und schon wegen des Gleichheitssatzes ist es auch gerecht, eine nicht realisierbare Geldstrafe zu ersetzen. Doch die Entscheidung des Gesetzgebers, dieses Ziel mit § 43 StGB durch gesetzliche Wandlung einer uneinbringlichen und auch ohne Verschulden des Verurteilten nicht bezahlbaren Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe zu verwirklichen, ist aus mehreren Gründen problematisch, sowohl aus allgemeinen als auch aus solchen, die die
* Die mit der Vermögensstrafe eingeführte Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43a Abs. 3 StGB) bleibt hier außer Betracht. 1 Alexander Böhm hat dies in der 5. Aufl. (1997) der von Hans Göppinger begründeten „Kriminologie" dargelegt (S. 741), die nach dem Wunsch der Bearbeiter (aaO. S. VI) „allein unter dem Namen Göppinger zitiert werden" soll. Vgl. zu der im Text zit. Auffassung ζ. B. schon Ludwig Ebermayer, Verh. 29. DJT, Gutachten, Bd. 1, 1908, S. 259ff., 293; Thomas Würtenberger, ZStW 64 (1952), 17ff„ 28f.; Herbert Tröndle, StGB, 48. Aufl., 1997, § 43, Rn. 10: „Völlige Mittellosigkeit darf nicht zum Freibrief werden"; ähnl. O L G Düsseldorf, MDR 1983, 341; s. auch U.S.Supreme Court, Bearden v. Georgia, 461 US. 660 (1983): „poverty in no way immunizes from punishment" . 2 Michael Köhler, GA 1987,145ff., 161, im wesentlichen unter Bezugnahme auf Eb. Schmidt, NJW 1967, 1929ff., 1938; ähnlich bereits Mittelstaedt, Verh. 21. DJT, Bd. 2 (Gutachten), 1891, S. 49ff., 65f.; s. auch Werner Bublies, BewHi 1992,178ff., 181.
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gesetzliche Regelung im einzelnen aufwirft. Mit Recht erscheint es Alexander Böhm als „unbefriedigend", um das wohl augenfälligste aller gegen die Ersatzfreiheitsstrafe bestehenden Bedenken zuerst anzusprechen, daß der eine „sitzen" muß, während sich der andere „freikauft" . 3 Unabhängig von einer die Spezialprävention betonenden Lehre, die dem Ausmaß von Unrecht und Schuld keine Bedeutung für die Wahl der Strafart gewähren will und insofern von einem gleichen Gewicht der Strafen ausgeht,4 ist zutreffend darauf abgestellt, daß tatsächlich „Freiheitsentzug als wesentlich schwerer empfunden wird als eine Geldstrafe." 5 Mit wenigen Worten verdeutlicht derart der Jubilar, daß die zur nicht durchsetzbaren Geldstrafe getroffene Regelung einerseits auf überzeugenden Grundgedanken beruht und ein nicht aus dem Auge zu verlierendes Ziel, die ausnahmslose Bestrafung Verurteilter, verwirklicht, andererseits aber doch eine fragwürdige und Einwände provozierende Lösung des „seit alters quälenden Problems" 6 darstellt, eine Lösung, die, resignierend als „leidvolle Notwendigkeit" 7 beschrieben, Strafrechtswissenschaft und Kriminologie beunruhigen und immer wieder herausfordern muß. I.
Die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe ist umso weniger zu bezweifeln 8 , als seit Jahrzehnten gewichtige Stimmen fordern, die
3 Göppinger aaO. (Fn. 1); s. ζ. B. auch Klaus Tiedemann, J Z 1980, 489ff., 492 1. Sp. unt.; Eb. Schmidt, N J W 1967,1929ff., 1938 1. Sp. unt.; Hans-Jürgen Bruns, Das Recht der Strafzumessung (Leitfaden), 2. Aufl., 1985, S. 73; Köhler aaO. (vor. Fn.); Ulrich Eisenberg, Kriminologie, 4. Aufl., 1995, S. 520; Hans-Heinr. Jescheck/Thomas Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl., 1996, S. 775; u. weiter treffend Hartmut Krieg, Annegret Lohr u.a., MKrim 1984, 25ff.: „Weil Du arm bist, mußt Du sitzen"; ähnl. Bublies, BewHi 1992, 178ff., 180. 4 Alexander Böhm, Z R P 1998, 360ff., 364 1. Sp.; Hans-Jörg Albrecht, N o m o s Komm. StGB, 1995, § 40, Rn. 7, 8; Eckhard Horn, in: Festschr. für H.-J. Bruns, hrsgg. v. Wolfg. Frisch u. Werner Schmid, 1978, S. 165ff., 174; Michael Heghmanns, GA 1998, 620; für die h. M. s. ζ. B. Walter Stree, Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., 1997, § 46, Rn. 60; Jescheck/Weigend aaO. (vor. Fn.) S. 880. 5 Göppinger aaO. (Fn. 1); schon RGSt 2, 205ff., 206f., verweist darauf, daß die Freiheit ein höheres Gut ist, als das Vermögen; s. auch RGSt 59, 90ff., 98; 65, 229ff., 230; B G H , N J W 1 9 8 2 , 1 2 3 6 ; B G H S t 27, 90ff., 93. 6 Johannes Ν agier, LK, 6. Aufl., 1944, § 29, Anm. 1. 7 Tröndle, L K , 10. Aufl., 2. Bd., 1985, § 43, Rn. 1; ders., M D R 1972, 461ff., 467; Eb. Schmidt, Mat. zur Strafrechtsref., 1. Bd., 1954, S. 9ff., 22, sprach von einem „Unding" und forderte auf, nach anderem Ersatz zu suchen. 8 Anders aber Tröndle, ZStW 86 (1974), 545ff., 571f.
Problematische Ersatzfreiheitsstrafe
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E r s a t z s t r a f e n r e g e l u n g a u f z u h e b e n , 9 der italienische Verfassungsger i c h t s h o f die e n t s p r e c h e n d e Regelung entgegen einer E n t s c h e i d u n g v o n 1 9 6 2 w e g e n Verstoßes gegen den Gleichheitssatz 1 9 7 9 bereits a u f g e h o b e n h a t 1 0 u n d der S u p r e m e C o u r t der U S A bei einer d o r t allerdings i m Vergleich zu D e u t s c h l a n d n o c h geringeren quantitativen B e d e u t u n g der Geldstrafe als in Italien s c h o n 1 9 7 0 die E r s a t z f r e i heitsstrafe für den Fall als i. d. R . verfassungswidrig v e r w a r f , daß d e r Verurteilte die Geldstrafe o h n e eigenes Verschulden nicht aufbringen k a n n 1 1 . D e r schwedische G e s e t z g e b e r hat die E r s a t z f r e i heitsstrafe z w a r beibehalten, aber t r o t z einer h o h e n Q u o t e v o n (allerdings nicht n a c h d e m N e t t o e i n k o m m e n , s o n d e r n n a c h d e m verzichtbaren B e t r a g u n d d u r c h w e g niedriger als bei uns a n g e s e t z t e n ) Geldstrafen bedeutungslos w e r d e n lassen. 1 2 D a s französische R e c h t v e r z i c h t e t auf die Ersatzfreiheitsstrafe u n d v e r w e n d e t stattdessen E r z w i n g u n g s h a f t , sofern keine Zahlungsunfähigkeit v o r l i e g t . 1 3 D i e s entspricht der R e g e l u n g unseres O r d n u n g s w i d r i g k e i t e n r e c h t s . M i t § 9 6 O W i G hat der G e s e t z g e b e r für ausstehende G e l d büßen g a n z
9 Mittelstaedt aaO. (Fn. 2) S. 69; Franz v. Liszt, Strafr. Aufsätze u. Vorträge, Bd. 1; 1905, S. 290ff., 409; Krohne, Verh. 29. DJT, Bd. 4 (Gutachten), 1908, S. 199ff., 230; Gustav Aschaffenburg, Das Verbrechen u. seine Bekämpfung, 3. Aufl., 1923, S. 308; Eh. Schmidt aaO. (Fn. 7); ders., Niederschriften Gr. Strafrechtskomm., Bd. 1, 1956, S. 176; ders., NJW 1967, 1929ff., 1938; Karl Peters, Tagungsberichte Strafvollzugskomm., Bd. 1, 1967, S. 60; Strafvollzugskomm., ebda., S. 146; Gerhardt Grebing, ZStW 88 (1976), 1050ff., 1112; Michael Köhler, GA 1987, 149, 161. 10 Hans-Heinr. fescheck, in: Festschr. für Hans Thornstedt, hrsg. v. P.-E. Wallen u.a., 1983, S. 353 ff., 366, = ders., Beiträge zum Strafrecht, hrsg. v. Th. Vogler, 1998, S. 146 ff., 155; Günther Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl., 1996, S. 1013; Hans-förg Albrecht, Nomos-Komm., 1995, § 43, Rn. 3; zur diesbezügl. Entwicklung der italien. Rspr. näher Klaus Tiedemann, GA 1964, 353ff., 367, 369; zur italien. Gesetzgebung nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts Emilie Doleini/Carlo Enrico Paliero, ZStW 102 (1990), 222ff., 233. Hinweise auf weitere Staaten, die die Ersatzfreiheitsstrafe nicht anwenden, geben Franz Finkler, Mat. zur Strafrechtsreform, Bd. 2, 1954, S. 105ff., 112 unt.; Bublies, BewHi 1992, 182. 11 US.Supreme Court, Williams v. Illinois, 399 U. S. 235 (1970); Täte v. Short, 401 U.S. 395 (1971); bes. deutlich: Bearden v. Georgia, 461 U.S. 660 (1983); s. auch Günther Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl., 1996, S. 1017; Thomas Weigend, ZStW 90 (1978), 1083ff., 1126. 12 S. nur Kaiser aaO. (vor. Fn.) S. 1017, u. näher ζ. Β .fescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10), S. 147f., 155f.; Bublies, BewHi 1992, 183, 188; Sascha Schaeferdick, Die kurze Freiheitsstrafe im schwed. u. dt. Strafr., 1997, S. 109ff. Während in Deutschland rd. 5 % der auf Geldstrafe erkennenden Urteile vollstreckte Ersatzfreiheitsstrafe zur Folge haben (Kaiser aaO. S. 1014), sind es in Schweden 0,02 % (Schaeferdick aaO. S. 112; s. auch Knut Sveri, in: Festschr. f. H.J. Schneider, hrsg. v. H.-D. Schwind u.a., 1998, S. 943ff., 946, 949). 13 S. H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 3; Günter Blau, in: Gedächtnisschr. für Hilde Kaufmann, hrsg. v. H.J.Hirsch u.a., 1986, S. 189ff., 203 m. N.
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im Gegensatz zu § 43 StGB und dem für Geld strafen verfolgten Grundgedanken, Mittellosigkeit nicht zum „Freibrief" werden zu lassen, entschieden, daß bei einer vom Betroffenen nachgewiesenen Unmöglichkeit, den Mangel an Zahlungsmitteln unter zumutbaren Bedingungen zu beseitigen14, Erzwingungshaft nach dem Grundsatz der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen nicht ergeht, wohl 15 . Da die Durchsetzung der Geldaber gegen Zahlungs^n buße bei Zahlungsunfähigen scheitert16, Bußgeldforderungen bei Verarmten also ins Leere gehen17, wird wegen der Verwandtschaft, die Ordnungswidrigkeiten und vielen mit Geldstrafen geahndeten Straftaten eigen ist, deutlich, daß auch der Gesetzgeber den mit § 43 StGB beschrittenen Weg nicht für zwingend, sondern eher für problematisch hält.18 Das offenbarte zusätzlich seit 1924 § 28b StGB a. F. und zeigt heute die mit Art. 293 EGStGB stattdessen eröffnete und inzwischen von allen deutschen Ländern eingeräumte Möglichkeit, die Ersatzfreiheitsstrafe durch „gemeinnützige Arbeit" zu ersetzen. Die vielfache und nachstehend sub III. mit ergänzenden Bemerkungen kurz referierte Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe ist mit diesem Surrogat zwar gemildert,19 aber weder theoretisch noch praktisch behoben. Vielmehr werfen Regelung und Praxis der „freien Arbeit" zusätzliche Fragen auf20, ζ. B. zur gesetzlichen Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) und zum Rechtsschutz; und die allgemeinen Bedenken gegen die Ersatzfreiheitsstrafe erscheinen als ebenso aktuell wie gewichtig, weil die quantitative Bedeutung21
14 Vgl. zum Begriff der Zahlungsfähigkeit i. S. d. Ordnungswidrigkeitenrechts § 66 Abs. 2 Nr. 2b OWiG u. näher Karlheinz Boujong, KK-OWiG, 1989, § 96, Rn. 12; Erich Göhler, OWiG, 12. Aufl., 1998, § 96, Rn. 13. 15 Wolfgang Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 1995, S. 115. 16 Göhler aaO. (Fn. 14) Rn. 6; s. auch Eb. Schmidt, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm, Bd. 1, 1956, S. 176. 17 Joachim Bohnert, Grundriß des Ordnungswidrigkeitenrechts, 1996, S. 118. 18 S. nur Ε 62, BT-Drs. IV/650, S. 173f. 19 Vgl. Alexander Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl., 1986, S. 34 in Fn. 46; Heinz Schöch, Gutachten 59. DJT, 1992, C 28; s. auch K. Peters aaO. (Fn. 9); Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, 2. Aufl., 1998, S. 276. 20 S. nur Alexander Böhm, ZRP 1998, 360 r. Sp. ob.; Wolfgang Feuerhelm, Stellung u. Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht, 1997, S. 306ff., 359, 407 u. passim; ders., BewHi 1998, 323f.; Blau aaO. (Fn. 13) S. 200, 205ff. 21 Vgl. zur Entwicklung Franz Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 1991, S. 57 m. weit. Nachw.; Helmut Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, 1994, S. 21; Bernh. Villmow, Nomos-Komm., 1995, vor § 38, Rn. 33; Günther Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl., 1996, S. 1014; Seebode, Strafvollzug I, 1997, S. 34; Böhm, ZRP 1998, 364f.; Gesetzentw. des Buridesrates v. 6.3.1998, BT-Drs. 13/10485, S. 5. Günter Wen-
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der Ersatzfreiheitsstrafe entgegen auch allen Hoffnungen, die schon mit der Einführung des Tagessatzsystems verbunden wurden 22 , und trotz der vielfältigen gesetzlichen Pflichten und Möglichkeiten, die Zahlungspflicht an die jeweilige wirtschaftliche Situation anzupassen (§§ 42 StGB, 459a ff. StPO), 23 u.a. wegen der Arbeitsmarktsituation 24 (insbesondere in den neuen Ländern 25 ) besorgniserregend steigt. So verbüßten in Brandenburg am 30.9.1998 10,6 %, in Sachsen-Anhalt am 31.8.1998 11 % aller Strafgefangenen eine Ersatzfreiheitsstrafe, in Sachsen am 1.10.1998 11,14 % und in Mecklenburg-Vorpommern zur selben Zeit gar 12,16 %. In den alten Bundesländern sind die entsprechenden Raten unterschiedlicher.26 In Niedersachsen waren am 30.9.1998 von allen Strafgefangenen 9,3 % im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe, in Bayern 4,4 %, im Saarland 3,7 %. In Berlin stieg die Quote der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden Strafgefangenen von 7,02 % am 31.3.1995 auf 9,21 % am 31.3.1998.
disch bezeichnet den für 1995 errechneten Anteil von 13,7 % der Antritte zur Ersatzfreiheitsstrafe am Gesamtzugang des Strafvollzugs als „geringen Prozentsatz" (in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 459f., Rn. 4); 1992 waren es nach Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1014, noch 6.1 %. Während nach Kaiser aaO. (Fn. 11) S. 1014 und Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 742 f. rd. 5 % der Geldstrafenschuldner Ersatzfreiheitsstrafe antreten, geht Klaus Koepsel von „neuerdings etwa 10 bis 15 %" (Kriminalistik 1999, 81) aus. Zum überproportionalen Anteil weibl. Ersatzfreiheitsstrafgefangener an der weibl. Strafvollzugspopulation von ζ. B. in Berlin am 31.3.1996 16,67 % (bei männl. Gef. 8,73 %) s. Frieder Dünkel, Empir. Beiträge u. Materialien zum Strafvollzug, 1992, S. 69, 307, 339, 348. 22 So ζ. B. Dietrich Lang-Hinrichsen, in: K. Peters/D. Lang-Hinrichsen, Grundfragen der Strafrechtsreform, 1959, S. 53ff., 135; s. auch schon Rob. ν. Hippel, Dt. Strafr. I, 1925, S. 554. 23 Bublies, BewHi 1992, 186, weist darauf hin, daß diese Vorschriften bei nicht nur reaktivem Verhalten der Justiz (Abwarten eines Antrags) häufiger Ersatzfreiheitsstrafe vermieden. 24 Vgl. ζ. B. Schöch aaO. (Fn. 19), C 14, 27f., 84; Krieg, Lohr u.a., MKrim 1984, 25f.; Harro Schall, NStZ 1985, 104; Wolfgang Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative zur Geldstrafenvollstreckung, 1991, S. 94, 327; Hans-Jörg Albrecht, in: Forschungsgruppe Kriminologie/G. Kaiser, Hg., Empirische Kriminologie, 1980, S. 242ff., 255; ders., Nomos-Komm., § 43, Rn. 1; Villmow ebda, vor § 38, Rn. 33; Böhm, ZRP 1998, 364 r. Sp. 25 S. dazu die Prognose von Schöch aaO. (Fn. 19), die sich als zutreffend erwiesen hat: In den alten Ländern verbüßten am 30.6.1995 6,6 % der Strafgefangenen Ersatzfreiheitsstrafe, in den neuen 14,4 %, vgl. Frieder Dünkel, Empirische Forschung im Strafvollzug, 1996, S. 52, 143, 156. 26 S. schon Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1014f.
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Prozentanteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe an allen Freiheitsstrafen im gesamten Bundesgebiet und in Sachsen (Stichtag 31. Januar)
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Prozentanteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe an allen Freiheitsstrafen in den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik (Stichtag 31. Januar)
• Anteil in den neuen Bundeständern • Anteil in den alten Bundesländern
II. Es sind im wesentlichen drei allgemeine Einwände, die seit langem gegen die bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe von Gesetzes wegen sie vertretende Freiheitsstrafe erhoben werden.
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Prozentanteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe an allen Freiheitsstrafen in Berlin (Stichtag 31. März)
1. Die bereits angesprochene soziale Ungerechtigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe erklärt sich aus dem „Zusatzübel' , dem „Mehr an Ubelszufügung", das die Freiheitsstrafe nach allgemeinem Verständnis im Verhältnis zur Geldstrafe „immer" kennzeichnet 28 , in Form der Ersatzfreiheitsstrafe aber nur den Armen trifft. Dessen Mittellosigkeit ist dem Gesetz sogar ausdrücklich „Anlaß, ihn mit einer stärkeren und in nachhaltigem Maße entehrenden Strafe zu bele-
27 Tröndle, ZStW 86 (1974); 545ff., 576; Ulrich Weber, in: Hdw. der Kriminologie, 2. Aufl., hrsg. v. Rud. Sieverts/H.J. Schneider, 5. Bd., 1998, S. 60; ders., in: Gedächtnisschr. für Horst Schröder, hrsg. von Walter Stree u.a., 1978, S. 178ff.; treffend Jescheck/ Weigend aaO. (Fn. 3) S. 775: „qualitativer Sprung".
28 Tröndle aaO. (Fn. 1) Rn. 4; s. ζ. B. auch den., MDR 1967, 46Iff., 467 r. Sp.; Tiedemann, GA 1964, 359,367ff.; Eh. Schmidt, NJW 1967,1929ff., 1938 r. Sp.; Hans-Heinr.
Jescheck, Festschr. f. Rieh. Lange, hrsgg. von Günter Warda u.a., 1976, S. 365ff., 379 ob.; ders., Festschr. f. Th. Würtenberger, hrsg. v. Rüdiger Herren u.a., 1977, S. 257ff.,
274; Bruns aaO. (Fn. 3); Schall, NStZ 1985, 106 1. Sp. unt.; Franz Streng, Strafrechtl. Sanktionen, 1991, S. 54; Günter Gribbohm, LK, 11. Aufl., § 46, Rn. 265; Göppin-
ger aaO. (Fn. 1); RGSt 2, 206; 51, 327ff., 329; 59, 98; BGHSt 27, 90ff., 93; O L G Düsseldorf, M D R 1983, 341; etwas einschränkend („i.d.R") Walter Stree, Schönke/ Schröder, StGB, 25. Aufl., 1997, § 40, Rn. 4; Welzel, Niedersehr. Gr. Strafrechtsk o m m , 1. Bd., 1956, S. 102 r. Sp. ob.; anders Eckhard Horn, SK-StGB, 1993, § 43,
Rn. 2; H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 40, Rn. 7, 8.
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gen," 29 ihn „zur Strafe für die Leere des Geldbeutels" einzusperren. 30 § 43 StGB bannt mithin wohl die Gefahr einer „Klassenjustiz", die entstünde, wenn das Strafübel beschränkt wäre „auf diejenigen, die in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen leben" 3 1 , nicht aber dieselbe Gefahr, die spiegelbildlich entsteht, weil bessere wirtschaftliche Verhältnisse die härtere Ersatzstrafe ausschließen.32 2. Die von Gesetzes wegen eintretende Wandlung der uneinbringlichen Geldstrafe verfälscht die richterlichen Urteile 33 derart, daß gegen die geltende Regelung wegen Art. 92 G G , der die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Richtern zuweist, Bedenken erhoben werden müssen, zumal die Strafzumessung mit Recht als „Höhepunkt" der strafrichterlichen Tätigkeit 34 und immer wieder als deren „Krönung" gesehen wird 35 , die Verhängung von Strafen aber zum Kernbestand der Rechtsprechung zählt, so daß der Gesetzgeber zur Wahrung der Gewaltenteilung dem Strafrichter weder das „erste" noch das „letzte Wort" 3 6 entziehen darf. 37 Zweifelhaft ist auch die allgemein als unproblematisch angesehene Vereinbarkeit der Ersatzfreiheitsstrafe mit Art. 104 Abs. 2 S. 1 G G . Danach hat „nur" der Richter über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung zu entscheiden. Ausschließlich ihm weist die Verfassung, gewiß unter deutlicher Verneinung einer Kompetenz der Exekutive, aber bei nicht nur wortgetreuem Verständnis auch einer der Legislative, die Verantwortung für den individuellen Grundrechtseingriff zu, und zwar auch, weil der Richter damit „eine eigene Verhält-
29 Tiedemann, GA 1964, 367; s. auch Max Grünhut, Penal Reform, 1948, S. 6: „a dual system which permits the poor to go to prison while the rich pay a fine scandalizes the sense of social justice". 30 Eh. Schmidt, NJW 1967, 1938. 31 Tröndle, MDR 1967, 467 1. Sp.; s. ζ. B. auch Karl Schäfer, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., I, 1956, S. 177. 32 Vgl. Tiedemann, GA 1964, 360; Eh. Schmidt, Mat. Strafrechtsref., Bd. 1, 1954, S. 9ff., 22; s. auch Krieg/Löhr u.a., MKrim 1984, 25f. 33 Franz Finkler, Zur Reform der Geldstrafe, Gött. iur. Diss., 1953, S. 80; Tiedemann, GA 1964, 368; Eh. Schmidt, NJW 1997, 1938; Buhlies, BewHi 1992,180; Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1017. 34 Bruns aaO. (Fn. 3) S. 19. 35 Günter Spendel, NJW 1964, 1758 m. weit. Nachw. 36 Vgl. Roman Herzog, in: Th. Maunz/G. Dürig, GG, 1971, Art. 92, Rn. 45. 37 Zum ganz herrsch. Verständnis des Art. 92 GG als Richtervorbehalt u. zu dessen Verhältnis zur Gesetzesbindung gem. Art. 97 GG s. nur BVerfGE 22, 49ff., 73ff.; Steffen Detterheck, in: M. Sachs, Hg., GG, 2. Aufl., 1998, Art. 92, Rn. 9, 16; s. aber auch Herzog aaO. (vor. Fn.) Rn. 23f., 42ff.
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nismäßigkeitsentscheidung zu treffen" hat. 38 Eben diese aber verwehrt ihm § 43 S. 2 StGB, und zwar auch, wenn er ζ. B. die Ersatzstrafe nur wegen der Höhe für ein dem Schuldprinzip widersprechendes Zusatzübel (s. unt. V/2a) hält. Die Wandlung der verhängten Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe ist nicht seine Entscheidung, widerspricht vielmehr seinem Urteil, und zwar selbst dann, wenn er sie deklaratorisch in den Tenor 39 als gesetzlich und unabänderlich vorgegebene Folge uneinbringlicher Geldstrafe („ersatzweise") aufgenommen hat. Der Richter, der auf die als gesetzlich geboten erachtete Geldstrafe erkennt, könnte die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zuverlässig nur durch Freispruch des Schuldigen hindern. Es erscheint deshalb als verfehlt, in dem Geldstrafenurteil und in der richterlichen Festsetzung der Zahl der Tagessätze wegen § 43 StGB eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit, Dauer und Angemessenheit der Freiheitsstrafe für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe zu sehen. 40 Vielmehr erfolgt wegen der starren und unbedingten Umwandlungsregelung der mit der Ersatzfreiheitsstrafe verbundene Rechtseingriff sogar ohne Gewährung rechtlichen Gehörs. Selbst bei beachtlichstem Vorbringen des Angeklagten zur nach § 43 StGB drohenden Freiheitsstrafe fehlt dem Richter jede Möglichkeit, dieses bei dem schon nicht gewollten Freiheitsentzug wenigstens durch eine Entscheidung über dessen Dauer oder Vollstreckbarkeit zu berücksichtigen. 41 § 43 StGB führt unweigerlich zu ungerechten Strafen. Mit Recht werden deshalb als weitere verfassungsrechtliche Einwände nicht nur sozialstaatliche, sondern unter Hinweis auf den Gleichheits- und den Schuldgrundsatz auch rechtsstaatliche Bedenken gegen § 43 StGB laut. 42 Die Freiheitsstrafe ist
38 Christoph Degenhart, in: M. Sachs, Hg., GG, 2. Aufl., 1998, Art. 104, Rn. 19; ähnl. schon Günter Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, 1958, Art. 104, Rn. 28. 39 Vgl. O L G Bremen, NJW 1975,1524ff.; Rainer Paulus, KMR, 1998, § 260, Rn. 56; Karl Lackner, StGB, 22. Aufl., 1997, § 43, Rn. 1. 40 So aber Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Hg., GG, Bd. 3, 3. Aufl., 1996, Art. 104, Rn. 20, S. 856; Werner Bublies, Die Aussetzung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe, 1989, S. 36; O L G Bremen, NJW 1975, 1525 r. Sp.; s. auch Tröndle aaO. (Fn. 1) Rn. 4. Hingegen hat das KG, GA 1977, 237ff., 238, entschieden: „Die Ersatzfreiheitsstrafe wird nicht verhängt; sie ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz." 41 Zum rechtl. Gehör bei Freiheitentziehung s. nur Degenhart aaO. (Fn. 38) Art. 104, Rn. 22f.; Art. 103, Rn. 22; zur str. Pflicht der Staatsanwaltschaft, vor Anordnung der Vollstreckung rechtl. Gehör zu gewähren, s. bejahend O L G Celle, NdsRpfl 1977, 128; Tröndle aaO. (Fn. 1) § 43, Rn. 9; für die verneinende h. M. s. Wendisch aaO. (Fn. 21) § 459e, Rn. 5f. 42 Tiedemann, GA 1964, IGbiUJescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 155; Ulrich Weber, in: Gedächtnisschr. für Horst Schröder, hrsg. v. Walter Stree u.a., 1978, S. 175ff, 184f.; Tröndle, LK aaO. (Fn. 7) Rn. 4.
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entehrender 43 als die (richterlich verhängte) Geldstrafe, und sie entzieht ein wertvolleres Rechtsgut. Das Gericht hat jeweils zum Ausdruck gebracht, daß die Geldstrafe tat- und schuldangemessen ist und eine Freiheitsstrafe weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen zu verhängen war. Eb. Schmidt bezeichnete die Ersatzfreiheitsstrafe deswegen zu Recht als „ungerecht" und sogar als „widersinnig"; er verwies darauf, daß nur kommensurable Strafarten sich vertreten dürften. 44 Weil die finanziellen Verhältnisse des Täters weder in der einen noch in der anderen Hinsicht die Wahl der Strafart beeinflussen dürfen 45 , darf Geldstrafe nicht vom Gericht mit der Begründung ausgeschlossen und Freiheitsstrafe verhängt werden, der zu Verurteilende sei (voraussichtlich) nicht in der Lage, eine Geldstrafe zu bezahlen.46 Die Charakterisierung der Ersatzfreiheitsstrafe als widersinnig überrascht umso weniger, als der Richter nicht die (unangemessene) Freiheitsstrafe verhängen darf, in die § 43 StGB die ausgesprochene (und angemessene) Geldstrafe ohne Rücksicht auf den Einzelfall wandelt. 4 Besonders deutlich zeigt sich die mit der gesetzlichen und schematischen Abänderung des Urteils bewirkte Strafungerechtigkeit bei niedrigen Tagessätzen48 und beim Vergleich einer ζ. B. wegen täterungünstiger Gegebenheiten oder auch zur Verteidigung der Rechtsordnung nach § 47 StGB verhängten, aber nach § 56 Abs. 1 und 3 StGB nicht zu vollstreckenden Freiheitsstrafe unter sechs Monaten mit einer wegen tätergünstiger 43
Dies betont u.a. Walter Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 71; s. auch RGSt 65, 229ff., 230. 44 Eb. Schmidt, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 4,1958, S. 247, u. zur Inkommensurabilität ders., NJW 1976, 1938 1. Sp.; s. auch Mittelstaedt aaO. (Fn. 2) S. 66; Peter Cramer, Jur. Analysen 1970, 183ff., 213: „unerträglicher Widerspruch"; Tiedemann, GA 1964, 369; Tröndle, ZStW 86 (1974), 576; Gerhardt Grebing, ZStW 88 (1976), 1050ff., 1112; U. Weberin: Hdw. Kriminologie, aaO. (Fn. 27). 45 S. statt vieler Stree, Schönke/Schröder, § 46, Rn. 60; ders., Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 71; Bruns aaO. (Fn. 3); BGHSt 3, 256ff., 263; BGH, GA 1968, 84; anders aus überwieg, spezialpräv. Sicht Schöch aaO. (Fn. 19) S. 84f. 46 Tröndle, LK, 10. Aufl., vor § 40, Rn. 46; Stree, Schönke/Schröder aaO. (vor. Fn.) Rn. 61; Lackner aaO (Fn. 39) § 40, Rn. 2; RGSt 65, 229ff., 230; 77, 139; BGH, GA 1968, 84. Allerdings hindert das rechtl. Gebot die Tatgerichte in praxi keineswegs ausnahmslos, bei erkennbarer Zahlungsunfähigkeit des Angeklagten (mit anderer Begr.) eine (zur Bewährung ausgesetzte) Freiheitsstrafe zu verhängen. 47 Köhler, GA 1987, 161. 48 S. dazu insbes. Ulr. Weber, in: GS H. Schröder, S. 184f. Auch eine Tagessatz-Geldstrafe von 2 DM wird durch 1 Tag Freiheitsstrafe ersetzt, und immerhin wurden 1996 in den alten Ländern 10 % der Tagessätze auf 2 bis 10 DM festgesetzt, vgl. z. TS. JörgMartin Jehle, Strafrechtspflege in Deutschland, hrsgg. v. Bundesmin. d. Justiz, 1997, S. 33; s. auch Bublies, BewHi 1992, 184, der den untersten Tagessatz zu selten angewandt sieht.
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U m s t ä n d e v e r h ä n g t e n G e l d s t r a f e , die w e g e n U n e i n b r i n g l i c h k e i t als Freiheitsstrafe zu v o l l s t r e c k e n ist. 4 9 D i e r i c h t e r l i c h v e r h ä n g t e , leichtere S t r a f e w a n d e l t sich im Fall des § 43 S t G B w e g e n U n a n w e n d b a r keit des § 5 6 S t G B z u einer, die härter ist als die richterlich ausges p r o c h e n e u n d strengere Freiheitsstrafe, die z u r B e w ä h r u n g (sei es auch, w i e regelmäßig, u n t e r A u f l a g e n ) ausgesetzt ist. 5 0 3. Z w a r sichert die E r s a t z f r e i h e i t s s t r a f e die W i r k s a m k e i t d e r G e l d s t r a f e u n d d e r a r t die Z u r ü c k d r ä n g u n g d e r Freiheitsstrafe, a b e r sie treibt d e n Teufel m i t B e e l z e b u b aus u n d ist n a h e z u u n b e s t r i t t e n m i t d e m „Verbot" d e r k u r z e n Freiheitsstrafe (§ 4 7 S t G B ) 5 1 nicht zu v e r e i n b a r e n . Sie steht in d e u t l i c h e m W i d e r s p r u c h z u d e m seit v i e l e n J a h r z e h n t e n v e r f o l g t e n k r i m i n a l p o l i t i s c h e n K o n z e p t des G e s e t z g e b e r s 5 2 , Freiheitsstrafen z u v e r m e i d e n , die aus zeitlichen G r ü n d e n keine B e h a n d l u n g e r m ö g l i c h e n , 5 3 mit u n a n g e m e s s e n e m K o s t e n u n d V e r w a l t u n g s a u f w a n d 5 4 in ü b e r b e l e g t e n A n s t a l t e n Sachmittel u n d P e r s o n a l v o m S o z i a l i s a t i o n s v o l l z u g a b z i e h e n , d e r V e r h ü t u n g eines R ü c k f a l l s aber d u r c h Stigmatisierung des V e r u r t e i l t e n u n d die Gefahr krimineller Infektion55 entgegenwirken.56 Die Ersatzfrei-
49 Finkler aaO. (Fn. 33) S. 89; Cramer aaO. (Fn. 44) S. 213f.; Bublies, BewHi 1992, 189, 194; H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 6; s. auch Böhm, ZRP 1998, 365. 50 Streng, Strafr. Sanktionen, S. 54; s. auch den Fall LG Gera, ZfStrVo 1998, 304. 51 Krit. dazu ζ. B. Thomas Weigend, JZ 1986, 260ff.; Jescheck/Weigend, Strafr. AT, 5. Aufl., 1996, S. 760; Günter Kohlmann, Festschr. f. OttoTriffterer, hrsg. von Kurt Schmoller, 1996, S. 603ff.; s. auch Welzel, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 1, 1956, S. 101. Zum schwed. Recht s . J e s c h e c k , Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 155. 52 S. ζ. B. Welzel aaO. (vor. Fn.) S. 102 r. Sp.; Tiedemann, GA 1964, 368; Karl Peters, Tagungsberichte Strafvollzugskomm., Bd. 1, 1967, S. 60; Grebing, ZStW 88 (1976), 1112; Bublies, BewHi 1992,182; Kaiser, Kriminologie aaO. (Fn. 10), S. 1014; Villmow, Nomos-Komm., vor § 38, Rn. 33; U. Weber, in: Hdw. Kriminologie aaO. (Fn. 27); Kunz aaO. (Fn. 19); vgl. aber auch Tröndle, MDR 1972, 467. 53 So ζ. B. auch Lackner aaO. (Fn. 46) § 47, Rn. 3; Koepsel, Kriminalistik 1999, 83; u. schon RGSt 65, 230; s. aber Alexander Böhm, Festschr. für Friedr. Schaffstein, hrsgg. v. Gerald Grünwald u.a., 1975, S. 303ff., 322. 54 Vgl. ζ. B. Weigend, JZ 1986, 262; Finkler aaO. (Fn. 33); Alexander Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl., 1986, S. 34; Krieg, Lohr u.a. aaO. (Fn. 3) 27; Reinhart Maurach/ Heinz Z i p f , Strafr. AT/2, 7. Aufl., 1989, S. 518. 55 Vgl .Jescheck, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 1,1956, S. 181, für den wegen der Ansteckungsgefahr nur eine in Einzelhaft zu vollziehende Ersatzfreiheitsstrafe in Betracht kommt; ebenso Finkler aaO. (Fn.33) S. 110. 56 Franz v. Liszt bemerkte bekanntlich, wenn auch in einer Zeit anderer Vollzugsgegebenheiten, „daß die kurzfristige Freiheitsstrafe schädlicher wirkt als die völlige Straflosigkeit" (Strafr. Aufsätze u. Verträge, Bd. 1, 1905, S. 290ff., 353, zur Ersatzfreiheitsstrafe s. S. 406, 409); ihm folgend u.a. Strafvollzugskommission aaO. (Fn. 9); zur hohen Rückfälligkeit nach vollzogener Ersatzfreiheitsstrafe näher H.-J. Albrecht, MKrim 1981, 265ff.; auch Blau aaO. (Fn. 13) S. 199, nennt die Ersatzfreiheitsstrafe „schädlich".; vgl. weiter ζ. B. Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 998f.; U. Weber, in: Baumann/
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heitsstrafen sind regelmäßig kurz i. S. d. § 47 StGB. Die Praxis kennt, anders als das Gesetz, fast nur eine Höchstzahl von 90 Tagessätzen Geldstrafe, bewegt sich also im unteren Viertel des von § 40 StGB gesetzten Rahmens, und mehr als die Hälfte aller Verurteilungen zu Geldstrafe liegt unter 30 Tagessätzen.57 Die durchschnittliche Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe beträgt, obwohl Gesamtstrafenbildungen gar nicht so selten zu Ersatzfreiheitsstrafen von mehr als sechs Monaten führen, etwa 30 Tage;58 sie variiert nach verschiedenen Untersuchungen 59 je nach Bundesland zwischen 24 und 62 Tagen. Besonders augenfällig ist die Durchbrechung des gesetzlichen Prinzips, (zu vollstreckende) Freiheitsstrafe ultima ratio sein zu lassen, in den Fällen einer niedrigen Tagessatzzahl (s. § 40 Abs. 1 StGB) oder bereits teilweise getilgter Geldstrafe 60 ; § 43 S. 2 StGB zeigt, daß die Ersatzfreiheitsstrafe nicht nur § 47, sondern sogar § 38 Abs. 2 StGB unterläuft. III.
Auf die dringende Notwendigkeit, die für die uneinbringliche Geldstrafe bestehenden Vorschriften der Reform des Sanktionensystems anzupassen, wurde frühzeitig hingewiesen.61 Dem Gesetzgeber waren und sind die Nachteile und die Widersprüchlichkeit der getroffenen Regelung nicht unbekannt. Er hat sie bewußt in Kauf genommen, 62 und zwar aus den Gründen, die auch die h. L. der allgemein als bedenklich erachteten Ersatzfreiheitsstrafe letztlich zustimmen lassen. Die Ersatzfreiheitsstrafe wird als „Rückgrat
Weber/Mitsch, Strafr. AT, 10. Aufl., 1995, S. 20; krit. aber zur Ablehnung kurzer Freiheitsstrafen ζ. B. Weigend, JZ 1986, 263f. 57 Näher für die alten Bundesländer und 1996 ζ. Β.Jehle aaO. (Fn. 48) S. 33; s. auch BT-Drs. 13/10485, S. 4; Claus Roxin, JA 1980, 545ff., 549. 58 H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 2; Wolfgang Heinz, ZStW 94 (1982), 632ff., 657. 59 Wolfgang Feuerbelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, 1991, S. 311; Burkhard Hassenpusch/Gemot Steinhilper, in: Steinhilper, Hg., Soziale Dienste in der Strafrechtspflege, 1984, S. 195ff., 199; Wolfram Schädler, ZRP 1985, 186ff., 189 r. Sp.; s. auch Streng aaO. (Fn. 28) S. 58. 60 Vgl. U. Weher, in: Hdw. Kriminologie aaO. (Fn. 27). 61 S. nur Herrm. Mannheim, SchwZStR 49 (1935), S. 464ff.; Franz Finkler, Mat. zur Strafrechtsref., Bd. 2, 1954, S. 105ff., 112ff.; Hans v. Hentig, Die Strafe, II, 1955, S. 409; Würtenherger aaO. (Fn. 1) S. 26ff.; Tiedemann, GA 1964, 366ff.; Cramer aaO. (Fn. 44) S. 214. 62 So ζ. B. auch BGHSt 27, 93; Günter Wendisch, Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 459f, Rn. 4.
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der Geldstrafe" 6 3 gesehen, die „ohne den dahinter stehenden Zwang der Ersatzfreiheitsstrafe in vielen Fällen ein Messer ohne Klinge" wäre. 1. Vornehmlich wird derart die Ersatzfreiheitsstrafe wegen der Erfahrung als unverzichtbar angesehen und damit gerechtfertigt, 65 daß die allermeisten Schuldner als uneinbringlich angesehener Geldstrafen schon nach Androhung, zu einem geringen Teil auch erst bei Antritt 66 und nach Teilverbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe doch bezahlen. Nach empirischen Befunden sind es über 75 % der Geldstrafen, die sich entgegen dem ersten und mit nur unvollkommenen Beitreibungsversuchen 67 erweckten Anschein bei Anwendung des § 43 StGB als doch einbringlich erweisen. 68 Zur Rechtfertigung der Ersatzfreiheitsstrafe taugen diese Erkenntnisse nicht. Denn sie betreffen Fälle, in denen nicht gezahlte Geldstrafen einbringlich sind. Deswegen sind Ersatzfreiheitsstrafen in einer Vielzahl ihrer bisherigen Anwendungsfälle schon praktisch unangebracht und bei Einbringlichkeit, also in der Mehrzahl aller Fälle immer rechtlich verfehlt. a) Aus praktischen Erwägungen verfehlt sind nicht wenige Ersatzfreiheitsstrafen, weil sie mit sozialstaatlichen, systemgerechten und ökonomischeren Schritten der Strafjustiz letztlich wegen Zahlungsfähigkeit vermeidbar wären. Diese Schritte unterbleiben in den Problemfällen (insbesondere der unteren Einkommensgruppen) wegen unzureichender Kommunikation mit dem Geldstrafenschuldner. Von beiden Seiten bleiben zur Abwendung des Strafvollzuges erforderliche Initiativen und Informationen aus. Das der gesamten Strafrechtspflege rechts- und sozialstaatlich auferlegte Gebot der Individualisierung findet auf dem Weg zur Ersatzfreiheitsstrafe zu spät Beachtung. Besonders deutlich wird dies, weil Ersatzfreiheits-
Tröndle aaO. (Fn. 1) Rn. 2; ders., MDR 1972, 466; Kaiser aaO. (Fn. 10). Karl Schäfer, Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufl., Bd. 4, 1978, § 459f., Rn. 2; übereinstimmend Wendisch aaO. (Fn. 62). 65 Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 741f.; Wendisch aaO. (Fn. 62); Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1014; Tröndle, LK aaO. (Fn. 7); Roxin, JA 1980, 549 r. Sp. unt.; Rösch, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 1, 1956, S. 161; K. Schäfer, ebda., 4. Bd. 1958, S. 260; Buhlies, Die Aussetzung etc. (s. Fn. 40), S. 111; vgl. auch Finkler, Mat. aaO. (Fn. 10) S. 113. 66 Vgl. Klaus Rolinski, MKrim 1981, 52ff„ 55. 67 So schon Mittelstaedt aaO. (Fn. 2) S. 66; s. weiter Feuerhelm aaO. (Fn. 24) S. 71; Albrecht, Nomos-Koram., § 43, Rn. 2; Buhlies, BewHi 1992, 187, 190. 68 Feuerhelm BewHi 1993, 200ff., 202; H.-J. Albrecht, MKrim 1981, 269. 63
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strafen nach vorliegenden Befunden 69 mit Zahlungserleichterungen vermieden werden könnten, aber ζ. B. schon § 42 StGB in praxi nicht die Bedeutung erlangt, die ihm nach dem gesetzlichen Konzept der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen zukommt. Anders als mit dem von § 42 StGB vorgesehenen dritten Akt der Geldstrafenverhängung sind das Nettoeinkommensprinzip und die gebotene Anpassung der Geldstrafe an die individuellen Verhältnisse des Täters vielfach nicht zu praktizieren. 70 Doch in praxi wird nicht nur der schon nach dem Gesetzestext eindeutig zwingende Charakter des § 42 StGB71 „häufig übersehen" 72 , sondern von erheblicher Bedeutung für die Vermeidbarkeit der allgemein als wenigstens unerwünscht angesehenen Ersatzfreiheitsstrafe ist vor allem, daß § 42 StGB bei einer allgemeinen wirtschaftlichen Situation, die seine Anwendung zunehmend gebietet, wegen der gleichzeitigen Häufigkeit des summarischen Strafverfahrens immer funktionsloser zu werden droht. 73 Derzeit werden von den Staatsanwaltschaften mehr Strafbefehlsanträge gestellt als Anklagen erhoben. 74 Dies deutet bereits auf die auch kriminologisch bestätigte Praxis hin, daß die allermeisten Geldstrafen im summarischen Verfahren verhängt werden. 75 Richter und zu Geldstrafen Verurteilte sehen sich also meistens nicht, und im Strafbefehlsverfahren wird eher regelmäßig darauf verzichtet, die wirtschaftliche und soziale Situation des Täters abzuklären und die Geldstrafenentscheidung seiner Liquidität anzupassen.76 § 42 StGB ist selbstverständlich auch im Strafbefehlsverfahren anzuwen-
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H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 42, Rn. 5; Jörg-Martin Jehle, Wolfgang Feuerhelm, Petra Block, Gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe, 1990, S. 1 Iff., 13 sub 10; s. auch Bublies, BewHi 1992, 186, und schon Hans v. Hentig, Die Strafe, II, 1955, S. 408. 70 So auch Tröndle aaO. (Fn. 1) § 42, Rn. 2; s. auch Horn, SK-StGB (1993) § 42, Rn. 2, 3. 71 O L G Stuttgart, M D R 1993, 996; Stree, Schönke/Schröder aaO. (Fn. 28) § 42, Rn. 3. 72 Tröndle aaO. (Fn. 1) § 42, Rn. 2. 73 S. schon Bublies, BewHi 1992,185; Janssen aaO. (Fn. 21) S. 134. 74 Vgl. Claus Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, S. 513; Reinh. Böttcher, in: Festschrift für Walter Odersky, hrsgg. v. R. Böttcher u. B. Jähnke, 1996, S. 299; Eisenberg aaO. (Fn. 3) S. 369. 75 Janssen aaO. (Fn. 21) S. 134, ermittelte eine Quote von über 70 %, und Eisenberg aaO. (Fn. 3) S. 363, weist auf Anhaltspunkte hin, „daß Angehörige sozio-ökonomisch unterer Gruppen häufiger mittels Strafbefehl sanktioniert wurden als solche mittlerer Gruppen". 76 Bublies, BewHi 1992, 185Janssen aaO. (Fn. 21) S. 134.
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den 77 . Von Amts wegen ist individuellen Zahlungsschwierigkeiten des Geldstrafenschuldners mit Zahlungserleichterungen Rechnung zu tragen. Die Staatsanwaltschaften hätten auch zur Vermeidung entbehrlicher und die Justiz u. a. ökonomisch unverhältnismäßig belastender Ersatzfreiheitsstrafen jedenfalls bei aus den Akten ersichtlichen Anhaltspunkten für zu gewährende Zahlungserleichterungen die meist dürftigen 78 polizeilichen Erkenntnisse zur finanziellen Liquidität des Betroffenen vornehmlich durch Beauftragung der Gerichtshilfe (§ 160 Abs. 3 S. 2 StPO) 7 9 zu ergänzen, um den Strafbefehlsantrag entsprechend zu fassen.80 Der Richter hat andernfalls nach § 408 Abs. 3 S. 2 StPO die Möglichkeit, ergänzende Ermittlungen anzuregen, bei deren Unterbleiben Hauptverhandlung anzuberaumen81 und ggf. selbst die Gerichtshilfe zu beauftragen. Die gebotenen Ermittlungen zur wirtschaftlichen Lage des Beschuldigten und die Beachtung des § 42 StGB dürfen entgegen verbreiteter Praxis nicht im Hinblick darauf unterbleiben, daß Ratenzahlung und Stundung noch nach Rechtskraft gewährt werden können (§ 459a StPO). 8 3 Dies ist umso mehr zu betonen, als die Vollstreckungsbehörde insofern regelmäßig nicht von Amts wegen, sondern erst auf Antrag tätig wird 84 . Entsprechende Gesuche bleiben besonders von der Gruppe der Geldstrafenschuldner aus, die erst durch Ersatzfreiheitsstrafe zu Zahlung oder Stundungsanträgen bewegt werden. Sie nutzen wegen unzureichender sozialer Kompetenz, zu einem beachtlichen Teil auch als Ausländer wegen Verständigungsschwierigkeiten die Möglichkeiten des § 459a StPO nicht ohne Beratung und Betreuung. Diese Vorschrift spätestens nach fruchtloser Mahnung und jedenfalls vor Verhaftung auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen und auszuschöpfen, liegt aber nach den bisherigen Erkenntnissen auch im Interesse einer ökonomisch arbeitenden Justiz und erst recht einer sozialstaatlichen Strafrechtspflege.
77 H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 42, Rn. 1; Karl-Heinz Gössel, Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., Bd. 5, 1989, § 407, Rn. 19. 78 Bublies, BewHi 1992, 185. 7 9 Zur zu seltenen Hinzuziehung der Gerichtshilfe s. schon Karl Peters, Strafprozeß, 4. Aufl., 1985, S. 189, 190. 8 0 Vgl. H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 42, Rn. 1; Theod. Kleinknecht/Lutz Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., 1997, § 407, Rn. 13. 81 Nr. 178 RiStBV; Gössel aaO. (Fn. 77) § 408, Rn. 49; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. (vor. Fn.) § 408, Rn. 13. 82 Peter Rieß, Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., 2. Bd., 1989, § 160, Rn. 82. 83 H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 42, Rn. 1. 84 Vgl. Rainer Paulus, KMR, 1997, § 459a, Rn. 7; H.-J. Albrecht aaO (vor. Fn.) Rn. 2; Bublies, BewHi 1992, 186.
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b) Rechtlich ist die Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe in allen Fällen verfehlt, in denen sie zur Zahlung führt. Die hohe Zahl dieser Fälle wird zu Unrecht zur Rechtfertigung der Umwandlungsstrafe angeführt. Denn die vorliegenden Erkenntnisse erweisen die Umwandlungsstrafe als Beitreibungsmittel 85 und nicht als das, was sie de iure unbestritten sein soll, „echte Strafe" . 8 6 Vielmehr verkehrt die Praxis mit Billigung eines Teils der Literatur 87 die Rechtslage: Die Ersatzfreiheitsstrafe hat die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe zur Voraussetzung, nicht aber ist sie anzuordnen oder zu vollstrecken, um das Fehlen ihrer gesetzlichen Voraussetzung nachzuweisen. §§ 43 StGB, 459e StPO als effektivstes und (bis zum Vollzug) kostengünstigstes Instrument zur Beitreibung nicht erbrachter Geldstrafen zu verwenden, ist nicht nur mit dem Gesetz unvereinbar, sondern auch in mehrfacher Hinsicht für die Strafrechtspflege von Nachteil. Der Verurteilte erfährt, daß die Justiz weder § 43 StGB, § 459e StPO noch das richterliche Urteil, noch die Vollstreckungsregelungen ernst nimmt, ihm vielmehr die Strafe zur Wahl gestellt wird, obwohl er die zu leistende Geldstrafe nach geltendem Recht 88 wie jede Strafe hinzunehmen hat. Contra legem kann der Zahlungsfähige wegen der praktischen Vereinfachung der Beitreibung, die Leistungsunwillige von Leistungsunfähigen nicht trennt, 89 de facto wählen zwischen der Geldstrafe, der Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnütziger Arbeit. Und von dieser Wahlmöglichkeit wird auch Gebrauch gemacht, so daß sich nicht wenige lediglich zahlungs«ttwz7/zge Geldstrafenschuldner im Strafvollzug befinden. Die Ersatzfreiheitsstrafenregelung sollte um der Strafgerechtigkeit, der Effektivität der Strafdrohung, der Ernsthaftigkeit des Richterspruchs und der Ehrlichkeit sowohl des Gesetzes als auch der Vollstreckungspraxis willen um eine Erzwingungshaft 90 ergänzt werden.
Vgl. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 2; Horn, SK-StGB (1993), § 43, Rn. 2, 3. S. nur Lackner aaO. (Fn. 46) Rn. 2; Horn aaO. (vor. Fn.); Jescheck/Weigend aaO. (Fn. 3); Tröndle aaO. (Fn. 1) § 43, Rn. 3; BGHSt 20, 16. 87 Vgl. ζ. B. Schall, NStZ 1985, 107 r. Sp.; Horn aaO. (Fn. 85); Finkler aaO. (Fn. 33); Wendisch aaO. (Fn. 62) § 459e, Rn. 4; Gribbohm, LK, 11. Aufl., 1995, § 47, Rn. 22; Bublies, Die Aussetzung etc. (s. Fn. 40) S. 111; eine Billigung durch Gesetzgeber und Bundesregierung läßt sich BT-Drs. 12/3718, S. 15 ob., entnehmen; vgl. schon Gössel aaO. (Fn. 77) § 407, Rn. 17; s. andererseits aber treffend schon v. Liszt aaO. (Fn. 9) S. 408f. 88 De lege ferenda s. Böhm, ZRP 1998, 361 r. Sp.; Feuerhelm, BewHi 1998, 400ff.; Gesetzentw. des BRates v. 6.3.1998, BT-Drs. 13/10485. 89 Finkler hält diese alte Praxis irrig für die gesetzliche Regelung (aaO., Fn. 33, S. 80). 90 Dies entspricht zum Teil den Vorschlägen, die ζ. B. Eb. Schmidt (NJW 1967, 1938) und Grebing (ZStW 88, 1976, S. 1112) unterbreitet haben, während K. Peters sich 85
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So würde sie für eine hohe Zahl der bisherigen Anwendungsfälle des § 43 StGB zu dem werden, was sie tatsächlich meistens ist, ein wirksames Instrument zur Verwirklichung der Geldstrafe. Auf ein solches wird der Rechtspfleger als Vollstreckungsbehörde ( § 3 1 Abs. 2, S. 1 RPflG) selbst nach gehöriger Anwendung der §§ 42 StGB, 459a StPO (amtlicher Erforschung möglicher Ratenzahlung etc.) auch aus praktischen und ökonomischen Gründen mangels hinreichend effektiver anderer Beitreibungsmodelle 91 nicht verzichten können. Aber das Zwangsmittel wäre vom Odium der ungerechten Ersatzfreiheitsstrafe befreit 92 und als dieser vorgelagertes Institut der Geldstrafenvollstreckung gekennzeichnet. Diese Beitreibung folgte im wesentlichen ausländischen Beispielen und der bei uns nach Ordnungswidrigkeitenrecht praktizierten (s. ob. I). Die Beugehaft wäre wegen der erforderlichen Geeignetheit aller Zwangsmaßnahmen entsprechend § 96 OWiG in allen Fällen nachgewiesener Zahlungsunfähigkeit unzulässig, aber de lege lata als eine § 43 StGB zeitlich vorangehende und auf Zahlung, nicht auf Wandlung der Geldstrafe gerichtete, weiterhin nicht als Straf-, sondern als weniger entehrende Zivilhaft (§§ 171ff. StVollzG) 93 zu vollziehende Beitreibungsmodalität nicht schon durch gemeinnützige Arbeit abwendbar. Trotzdem wären die Fälle vollstreckter (und die Geldstrafe nicht ersetzender) Erzwingungshaft schon angesichts der Erfahrungen mit der zur Zahlung führenden Androhung von Ersatzfreiheitsstrafenvollstreckung und erst recht bei häufiger gewährten Zahlungserleichterungen voraussichtlich selten, zumal sie nur gegen Zahlungsunwillige und nicht auch gegen Zahlungsunfähige zu vollstrecken wäre. Deswegen wären auch mit Unverhältnismäßigkeit begründete Bedenken jedenfalls in der Regel nicht zu erheben. 2. Das eigentliche „Dilemma" 95 der Ersatzfreiheitsstrafe, ihr „Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitsproblem" 96 , stellt sich weniger mit ihrer Androhung als mit der Vollstreckung. Es wäre durch eine Erzwingungshaft nicht ausgeräumt, allerdings wenigstens um die auch gegen eine Erzwingungshaft ausgesprochen hat (Tagungsberichte Strafvollzugsk o m m , Bd. 1, 1967, S. 60). 91 Vorschläge unterbreitet Bublies, BewHi 1992, 187f.; ähnl. bereits Krohne aaO. (Fn. 9) S. 230. 92 So auch Wiirtenberger aaO. (Fn. 1) S. 30. 9 3 Zu deren Vollzug in Justizvollzugsanstalten und zur unzureichenden gesetzl. Regelung mit Recht krit. Alexander Böhm, in: H . - D . Schwind/A. Böhm, Hg., StVollzGK o m m , 2. Aufl., 1991, § 175, Rn. 1, 4. 94 S. ζ. B. Schock aaO. (Fn. 19) S. 104. 95 Wendisch aaO. (Fn. 62) § 459f, Rn. 4. 96 Maurach/Zipf aaO. (Fn. 54) S. 518.
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Fälle der durch Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafe bewirkten Zahlung und des bisher statt möglicher Zahlung gewählten Vollzuges gemindert. Die ungerechte Umwandlungsstrafe wird als unverzichtbar 97 ganz überwiegend seit langem hingenommen, weil „im Falle der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe Verstöße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung unvermeidbar sind" 9 8 und sich zur Sicherung der Effektivität der Strafe keine Alternative biete. 99
IV. Die Alternative der „freien Arbeit" hat sich im Gegensatz zu den ungünstigen Erfahrungen, die mit dieser Tilgungsmöglichkeit unter Geltung des § 28 b StGB a. F. seit 1924 gesammelt wurden, 100 zu einem beachtlichen Surrogat der Ersatzfreiheitsstrafe entwickelt. Die praktische Bedeutungslosigkeit 101 der früheren Regelung führte zwar nur zu der in Art. 293 E G S t G B versteckten Ermächtigung. Doch seit über fünfzehn Jahren werden unter dem Druck 1 0 2 fast durchgängiger und heute erst recht zu verzeichnender Überbelegung 10 unserer Justizvollzugsanstalten entsprechende Angebote ermöglicht, inzwischen von allen, auch den neuen Ländern, und dank intensiver Bemühungen der Praxis, vor allem der sozialen Dienste, werden sie auch wahrgenommen. Die neueren Erfahrungen sind ermutigend 104 und mindern die Problematik des § 43 StGB praktisch nicht unerheblich. 1996 wurden durch gemeinnützige Arbeit bei rd. 14.000 zu Geldstrafe Verurteilten im-
97 S. ζ. B. nur Schwalm, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 4,1958, S. 243; Paul Bockelmann/Klaus Volk, Strafr. AT, 4. Aufl., 1987, S. 223; Scböch aaO. (Fn. 19) S. 42; Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1014; Tröndle, LK, 10. Aufl., 2. Bd., 1985, § 43, Rn. 1. 98 Schwalm aaO. (vor. Fn.). 99 So ζ. B. Stree, Schönke/Schröder aaO. (Fn. 28) § 43, Rn. 1; Herrn. Blei, JA 1972, 84; Tröndle, ZStW 86 (1974), 572. 100 Vgl. insbes. Michael Pfohl, Gemeinnützige Arbeit als strafr. Sanktion, 1983, S. 27ff.-Jürgen Baumann, MKrim 1979, 290ff.; Feuerhelm aaO. (Fn. 59) S. 17ff. 101 S. nur Tröndle, LK, 9. Aufl, 1. Bd., 1974, § 28b, Rn. 4; ähnl. auch zu den Vorläuferregelungen Feuerhelm aaO. (vor. Fn.); ders., Stellung u. Ausgestaltung der gemeinnütz. Arbeit im Strafrecht, 1997, S. 128; ebenso zu zahlr. ausländ. Erfahrungen Finkler aaO. (Fn. 33) S. 96. 102 Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1035; Eisenberg aaO. (Fn. 3) S. 520; Schall, NStZ 1985, 104ff., 105; Peter Best, in: G. Steinhilper, Hg., Soziale Dienste in der Strafrechtspflege, 1984, S. 209. 103 Vgl. nur O L G Hamm, NJW 1967, 2024ff. mit Anm. Eb. Schmidt; O L G Frankfurt/M., StV 1986, 27f. m. Anm. Wolfg. Lesting; LG Marburg, StV 1998, 563f.; O L G Celle, StraFo 1999, 67f. 104 Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1036; s. auch schon Klaus Rolinski, MKrim 1981, 52ff., 61.
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merhin 400.000 Tage Ersatzfreiheitsstrafe abgewendet. 105 Sechs Jahre zuvor waren es nur 7.000 Verurteilte, die 180.000 Tage Freiheitsentzug vermieden. 106 Jedoch kann diese Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Akzeptanz des Surrogats der Ersatzfreiheitsstrafe bei den Verurteilten nach wie vor recht gering ist, 107 also überwiegend Freiheitsentzug vorgezogen wird oder ohne wirkliche Wahl des Verurteilten stattfindet. Die intensiver angebotene Möglichkeit der Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen hat das gleichzeitige Ansteigen der Rate vollstreckter Ersatzfreiheitsstrafen an allen Freiheitsstrafen von bundesweit 6,4 % am 31.3.1992 1 0 8 auf 8,5 % am 31.1.1998 109 nicht verhindert. Nach wie vor muß die praktische Umsetzung des Art. 293 E G S t G B und des dazu ergangenen Landesrechts als schwierig und zögerlich angesehen werden. 1 Die Erfahrungen rechtfertigen auch nicht die Hoffnung, Ersatzfreiheitsstrafen vermehrt mit einem entworfenen § 40a StGB zu vermeiden, 111 der es zuließe, gemeinnützige Arbeit ohne Zustimmung des Angeklagten statt Geldstrafe als weitere, wenn auch „unechte", weil nicht vollstreckbare 112 Strafe zu verhängen. Denn es handelte sich letztlich nach wie vor nur um ein Sanktionsangebot an den Täter, das, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge und richterlich mit dem von den Betroffenen mehr oder weniger schnell als falsch erkannten Anschein einer hinzunehmenden Strafe 113 unterbreitet, nicht ohne
105 Kunz aaO. (Fn. 19) S. 277. Bei durchschnittlichen Haftkosten von rd. 159 DM pro Tag u. Gefangenen (Bundesregierung in BT-Drs. 13/9329 v. 2.11.1997, S. 11; vgl. ζ. B. auch Η ans-Dieter Schwind, Kriminalistik 1997, 618ff., 621) wurden 1996 (ohne Berücksichtigung von Kosten u. Nutzen der gemeinn. Arbeit) über 63 Mio. DM eingespart. 106 Kunz, Kriminologie, 1994, S. 228; s. auch Thomas Feltes, in: H.-J. Kerner, Hg., Kriminologie-Lexikon, 4. Aufl., 1991, S. 94; für die Jahre 1985-89 s. BT-Drs. 12/ 3718, S. 8; zu der mit den ersten Modellversuchen vermiedenen Zahl von Ersatzfreiheitsstrafen s. Schall, NStZ 1985, 106. 107 So nahmen im Jahre 1995 in Bayern von 8141 zahlungsunfähigen Verurteilten nur 8,8 % das Angebot freier Arbeit anstelle von Freiheitsentzug an. Von diesen 717 Verurteilten arbeiteten nur 205 die Geldstrafe vollständig ab, s. ZfStrVo 1996, 173. 108 Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1014, geht von 3,3 % aus. 109 Jeweils nach den Veröff. des Stat. Bundesamtes Wiesbaden. 110 S. nur Tröndle, StGB-Komm., 48. Aufl., 1997, § 43, Rn. 8; Dünkel, Empir. Beiträge etc. (s. Fn. 21), S. 57, 69, 307; Feltes aaO. (Fn. 106) S. 93f.; Jehle, Feuerhelm, Block, Gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe, 1990, S. 11 ff., 12; Krieg/Lohr u.a., MKrim 1984,33. 111 So aber Gesetzentwurf des Bundesrates v. 6.3.1998, BT-Drs. 13/10485, Begr. S. 5; wie hier bereits Böhm, ZRP 1998, 364 r. Sp. ob. 112 S. § 459k StPO des Entwurfs (vor. Fn.) mit Begr. S. 5 1. Sp., 6. 113 Der Entwurf (Fn. 111) kaschiert das Zustimmungserfordernis (ganz im Gegensatz zu § 52 Alternativ-Entw. AT, vorgelegt von Jürgen Baumann u.a., 1968, u. auch
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Geld- und Ersatzfreiheitsstrafe auskommt. Allerdings werden die Akzeptanz der gemeinnützigen Arbeit und die Rate der damit vermiedenen Ersatzfreiheitsstrafen weiter und nicht unerheblich erhöht werden können. Weil die Schuldner als uneinbringlich erwiesener Geldstrafen in ihrem sozialen Handeln durchweg eine geringe Kompetenz aufweisen, 114 so daß sie mehrheitlich nicht in der Lage sind, eine Geldstrafe planvoll abzuzahlen oder abzuarbeiten, und mit lediglich schriftlichen Hinweisen auf die Möglichkeit gemeinnütziger Arbeit (ζ. T. auch wegen Verständigungsschwierigkeiten) für diese schwer zu gewinnen sind, versprechen Modelle persönlicher Betreuung weitere Erfolge 115 bei der Abwendung der trotzdem noch kostenträchtigeren Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit. Auch wäre die Quote der mit gemeinnütziger Arbeit abgewendeten Freiheitsentziehung durch eine (bundeseinheitliche) Senkung der für einen Tagessatz derzeit regelmäßig sechs 116 zu leistenden Arbeitsstunden auf eine am tatsächlichen Nettoeinkommen zu orientierende und dann gerechte Zahl von etwa drei Arbeitsstunden zu erhöhen. 117 Die Möglichkeit, als uneinbringlich erwiesene Geldstrafen durch gemeinnützige Arbeit zu tilgen, wird die Ersatzfreiheitsstrafe jedoch nicht abzulösen vermögen, weder ihre gesetzliche Androhung entbehrlich noch ihre Vollstreckung praktisch bedeutungslos werden lassen. 118 Sie wird bisher benötigt, um die gemeinnützige Arbeit und eine brauchbare Arbeitsleistung dem Geldstrafenschuldner nahezu-
im Gegensatz ζ. B. zur italien. Regelung, Ges. Nr. 689 v. 1981: „a richiesta del condannato") bewußt (Begr. S. 5). Dies läßt bereits an dem Respekt zweifeln, der dem Menschenrecht des Art. 12 Abs. 3 GG zu zollen ist, jedenfalls aber den dem Staat aufgegebenen Schutz des Grundrechts (s. dazu ζ. B. Konr. Hesse, in E. Benda u.a., Hg., Hb. des Verfassungsr., 2. Aufl., 1994, § 5, Rn. 23, 27, S. 139) vermissen. Der Ε sollte deshalb bei einer Überarbeitung, die Böhm, ZRP 1998, 360ff., und Feuerhelm, BewHi 1998, 400ff., zu Recht angemahnt haben, auch darauf überprüft werden, ob die hier angesprochene Lösung dogmatisch sauber (Böhm aaO. S. 361 r. Sp.), forensisch praktikabel, sozialstaatlich, grundrechtsschützend und Richtern zuzumuten ist. Immerhin sieht § 40a Ε vor, den Strafrichter mit Verhängung gemeinn. Arbeit als Sanktion wenigstens den Anschein eines Grundrechtsverstoßes erwecken zu lassen. 114 Vgl. Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 744; H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 9; Bublies, BewHi 1992, 178ff., 191; Koepsel, Kriminalistik 1999, 83. Eine hohe Quote von Wohnsitzlosen und Vorbestraften dokumentiert Schädler, ZRP 1985,189; s. auch Jescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 155. 115 Albrecht aaO. (vor. Fn.); Göppinger aaO. (vor. Fn.); Eisenberg aaO. (Fn. 3) S. 521. 116 Feuerhelm, Stellung u. Ausgestaltung der gemeinn. Arbeit, 1997, S. 420. 117 S. dazu näher Böhm, ZRP 1998, 363, 365; s. aber auch den Gesetzentw. der SPD, BT-Drs. 13/4462 (bundeseinheitlich 6 Stunden). 118 Ähnl. Bublies, BewHi 1992,190; vgl. weiter Jescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 155.
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bringen. 119 Vor allem aber wird es neben Schuldnern uneinbringlicher Geldstrafen, die für gemeinnützige Arbeiten nicht in Betracht kommen und für die nur ζ. Τ. (ζ. B. aus Gesundheitsgründen) die Regelung des § 459f StPO Anwendung findet120, nicht wenige geben, die „lieber sitzen als schwitzen". Die Zustimmung des Verurteilten zur „freien" Arbeit ist deshalb eine praktisch notwendige Voraussetzung deren sinnvoller Durchführung, insbesondere aber rechtlich eine sowohl unerläßliche als auch hinreichende Voraussetzung des kriminalpolitisch erwünschten 121 Surrogats. Es ist wegen des verfassungsrechtlichen Verbots der Zwangsarbeit (Art. 12 GG, s. auch Art. 4 Abs. 2 E M R K ) , einem „fundamentalen Menschenrecht" 1 2 2 , das auch keinen indirekten Zwang zuläßt 1 2 3 , nur zu rechtfertigen 124 und verfassungskonform 125 , wenn und weil der Verurteilte in eine mildere Maßnahme einwilligt. 126 Bereits dies bedeutet, daß das Angebot gemeinnütziger Arbeit die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe nur praktisch zu vermindern,
1 , 9 Vgl. Schöch aaO. (Fn. 19) S. 28; Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 744; die jeweils den bisherigen Umrechnungsmaßstab von 1 Tagessatz Freiheitsstrafe auf 1 Tag Freiheitsentzug damit rechtfertigen; vgl. auch Finkler, Mat. aaO. (Fn. 61) S. 110 unt., und schon v. Heutig aaO. (Fn. 61) S. 409. 120 Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 744; Bublies, BewHi 1992,189,192; s. auch unt. V/A 2. 121 S. schon Franz v. Liszt, Strafr. Aufsätze u. Vorträge, Bd. 1,1905, S. 409: „Zwangsarbeit ohne Einsperrung"; Aschaffenburg aaO. (Fn. 9) S. 309; v. Heutig aaO. (Fn. 61) S. 409; Eb. Schmidt, SJZ 1946, 204ff., 208; Werner Maihof er, in: Universitätstage, hrsgg. von der FU Berlin, 1964, S. 5ff., 20; Roxin, JA 1980, 550; zur resozialisierenden Wirkung s. ζ. B. Kaiser aaO. (Fn. 10) S. 1036; Mrozynskt, JR 1987, 272ff.; Feuerhelm, Stellung u. Ausgestaltung der gemeinn. Arbeit etc., S. 200ff. 122 Klaus Stern, Staatsrecht der Brep. Dtld., Bd. II/2, 1994, S. 1620. 123 S. nur Rüdiger Breuer, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof, Hg., Hb. des Staatsrechts, VI, 1989, S. 947. 124 Vgl. zu den Bedenken schon Welzel, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 1, 1956, S. 1031; Peter Mrozynski, J R 1987, 272ff„ 274; Jescheck/Weigend aaO. (Fn. 3) S. 747. 125 So die ganz h. M., vgl. nur Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 744; Entw. des BRates aaO. (Fn. 111), Begr. S. 5; s. auch BVerfGE 74, 102; 83, 119; anders Köhler, GA 1987, 159; ders., Strafrecht AT, 1997, S. 672. 126 Vgl. Knut Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 105ff., 109ff.: „eingriffsmildernde Einwilligung"; ebenso ζ. B. Heribert Ostendorf, JGG-Komm., 4. Aufl., 1997, § 10, Rn. 13, S. 116; Schall, NStZ 1985,104ff., 108; Böhm, ZRP 1998, 362 mit Fn. 16; s. auch Stree, Schönke/Schröder aaO. (Fn. 4) § 56b, Rn. 15; Thomas Weigend, in: H. Jung, Hg., Alternativen zur Strafjustiz u. die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, 1989, S. 149ff., 152; Joachim Wieland, in: H. Dreier, Hg., GG, Bd. 1,1996, Art. 12, Rn. 100, 113.
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nicht aber rechtlich zu beheben vermag. Die ungerechte 127 Ersatzfreiheitsstrafe ist weder im allgemeinen noch im Einzelfall damit zu rechtfertigen, der Verurteilte könne stattdessen gemeinnützige Arbeit leisten und also nicht geltendmachen, er sei wegen seiner Mittellosigkeit benachteiligt. 12 Denn unabhängig davon, daß der „freien" Arbeit ein Zwangscharakter nicht abzusprechen ist und mit ihr Rechtseinbußen verbunden sind, die, wie zur Abwendung der Arbeit erfolgende Zahlungen verdeutlichen 129 , häufig 130 als schwerwiegender angesehen werden als der mit der Geldstrafe bewirkte Zugriff auf das Vermögen (nicht unbedingt 131 ) des Verurteilten, ist zu beachten, daß der Geldstrafenschuldner mit der Ablehnung gemeinnütziger und persönlich 132 zu erbringender Arbeit von einem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch macht. Dies darf ihm weder vorgehalten werden 133 noch gar zum Nachteil gereichen, 134 schon der Rechtsstaatlichkeit und des jeder Staatsgewalt aufgegebenen Grundrechtsschutzes wegen. Unterbleibt die gemeinnützige Arbeit aus Gründen, die sich am ehesten aus mangelnder sozialer Kompetenz und Hilfsbedürftigkeit des Geldstrafenschuldners ergeben, erscheint es sozialstaatlich bedenklich, die Ersatzfreiheitsstrafe damit zu rechtfertigen, es bestehe die Alternative gemeinnütziger Arbeit. 135 Einem größeren praktischen Erfolg des Surrogats und häufiger Zustimmung aber stehen nicht nur unvollkommene soziale Kompetenz, Behördenscheu, Unerfahrenheit, Passivität und ähnliche personenbezogene Umstände entgegen, die mit aktiver, persönlicher und motivierender Beratung und Betreuung zu einem guten Teil
127 So ζ. B. auch Finkler, Mat. aaO. (Fn. 61) S. 112; Eb. Schmidt, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 4, 1958, S. 247; Bublies, BewHi 1992, 180, 190; Tiedemann, GA 1964, 360; and. Tröndle, ZStW 86 (1974), 572. 128 So aber die Bundesregierung in ihrer Antwort v. 12.11.1992 auf eine Große Anfrage, BT-Drs. 12/3718, S. 14; s. auch Bublies, Die Aussetzung etc. (ob. Fn. 65), S. 109; Thür. O L G Jena, StraFo 1998, 25f. 129 Vgl. nur Schall, NStZ 1985, 105 r. Sp.; Schädler, ZRP 1985,188 1. Sp. 130 Anders die Begr. zum Gesetzentw. des BRates aaO. (Fn. I l l ) S. 5 1. Sp.; s. aber Böhm, ZRP 1998, 360. 131 S. zur Straflosigkeit der Bezahlung fremder Geldstrafe nur BGHSt 37, 226ff.; Göppinger (Fn. 1) S. 739; Seebode, Strafvollzug I, 1997, S. 55, 183, jew. mit Nachw. zum Streitstand. Zur Wirkung der Geldstrafe auf Dritte allgemein ζ. B. Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 739. 132 S. aber den Hinweis von Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 719 unt. 133 Vgl. ζ. B. BVerfG, StV 1996, 645ff., 646f. = NStZ 1996, 606f. m. Anm. Jost Benfer, NStZ 1997, 397f.; BVerfG, NJW 1996, 1587f., 1588 1. Sp. 134 Anders Thür. O L G Jena, StraFo 1998, 25f.; Bublies aaO. (Fn. 40), S. 109. 135 Vgl. Bublies, BewHi 1992,192.
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abzugleichen sind, sondern auch eine in der Diskussion wenig hervorgehobene 136 Eigenschaft der gemeinnützigen Arbeit als Surrogat der Ersatzfreiheitsstrafe. Der Verurteilte muß bei Ableistung der gemeinnützigen Arbeit regelmäßig in weit höherem Maße aus der Anonymität, die mit dem Strafvollzug im allgemeinen eher verbunden ist, heraustreten. Einem unbekannt großen Kreis hat er sich meist notgedrungen mit der Arbeitsleistung nicht nur als mittellos zu offenbaren, sondern insbesondere auch als „Vorbestrafter", der ohne diese Arbeit im Gefängnis säße. Die gemeinnützige Arbeit kann deshalb, je nach ihrer (bisher nicht näher geregelten) Gestaltung, (ζ. B. öffentlich eingesetzter Gruppen ausschließlich Verurteilter), von den Verurteilten leicht als praktisch entehrender angesehen werden, nicht nur im Verhältnis zur Geldstrafe, sondern auch im Vergleich zum Freiheitsstrafvollzug. Die öffentlich herabsetzende Wirkung der „freien" Arbeit kann der eines Prangers gleichgeachtet sein und auch gezielt herbeigeführt werden. Die Bemühungen um praktische Ausweitung des Surrogats werden deshalb um solche des Gesetzgebers und der Praxis zu ergänzen sein, die diffamierende Wirkungen vermindern oder vermeiden. V. Zur vielfach angestrebten 137 Minderung der mit dem Angebot freier Arbeit weder praktisch noch theoretisch ausgeräumten Problematik sind mehrere Erwägungen alternativ, ζ. T. auch kumulativ in Betracht zu ziehen und keinesfalls generell abzulehnen. 138 Seit langem werden Rechtsauffassungen, kriminalpolitische Vorschläge oder ausländische Regelungen diskutiert, 139 die entweder als Alternativen in Betracht kommen oder doch die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe erheblich verringern, ohne Zahlungsunfähigkeit zum „Freibrief" für Straftaten werden zu lassen. 1. De lege lata könnten sowohl praktische soziale Hilfen Ersatzfreiheitsstrafen vermeiden als auch justiziell in der Strafvoll-
136 Vgl. aber Finkler, Mat. aaO. (Fn. 61) S. 111 ob.; Blau aaO. (Fn. 13) S. 200; HansJörg Albrecht/Wolfram Schädler, ZRP 1988,278ff„ 2801. Sp.; H.-J. Albrecht, NomosKomm, § 43, Rn. 9; Böhm, ZRP 1998, 360. 137 S. ζ. B. Schwalm aaO. (Fn. 97) S. 244 r. Sp. unt.; Jescheck, ebda. S. 247, 251; H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 9; Maurach/Zipf aaO. (Fn. 54) S. 518; U. Weber, Hdw. der Kriminologie aaO. (Fn. 27). 138 So aber die Bundesregierung am 12.11.1992, BT-Drs. 12/3718, S. 14f. sub 5.1-4. 139 S. ζ. B. nur Tiedemann, GA 1964, 370f.; Finkler aaO. (Fn. 33) S. 80ff.; Bublies, BewHi 1992, 178ff.; Schaeferdick aaO. (Fn. 12).
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Streckung und im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafen zu treffende Entscheidungen die Ungerechtigkeit nicht vermiedener Umwandlungsstrafen abmildern. a) Die Bezahlung fremder Geldstrafen ist neuerdings als zulässig erkannt 140 , und entsprechende Darlehensgewährungen sind seit eh und je keine Strafvollstreckungsvereitelung. Damit ist nicht nur privaten und gewerblichen Kreditgebern nach dem (nicht unproblematischen) Beispiel der US-amerikanischen private bail bondsmen, die mit vorgestreckten Kautionen durchaus häufig Untersuchungshaft vermeiden 141 , ein weiteres Betätigungsfeld eröffnet. Vor allem sind die freien Träger sozialer Einrichtungen und Resozialisierungsfonds oder -Stiftungen für die Betreuung in finanziellen Schwierigkeiten befindlicher Geldstrafenschuldner zu gewinnen. Sie bemühen sich seit langem und ζ. T. mit beachtlichen Erfolgen, allerdings regelmäßig auf der Grundlage für die Geldstrafe unmittelbar nicht in Betracht kommender Vergleiche, um die Regulierung der Schulden Strafgefangener und Strafentlassener 142 . Rechtzeitig Ratenzahlungen oder Stundungen zu ermöglichen und Finanzierungsprogramme zu entwickeln, wäre ein sozialer Dienst für Geldstrafenschuldner. Er könnte wenigstens in Einzelfällen die Freiheitsstrafe abwenden und brauchte nicht erst während des Vollzugs oder danach einzusetzen. b) § 459f StPO läßt das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag von der Vollstreckung jeder Ersatzfreiheitsstrafe absehen, die eine „unbillige Härte" wäre. Auf diese gesetzliche Regelung wird zuweilen verwiesen, 143 um die gegen das Surrogat sich aufdrängenden Bedenken zu zerstreuen und Reformbedarf zu verneinen. Diese Repliken negieren die seit Jahrzehnten gefestigte Praxis und die h. L., die die mit der Geldstrafengesetzgebung 1921 geschaffene Vorschrift seit ihrem Bestehen „ nur mit großer Vorsicht und Zurückhaltung" 1 4 4 anwenden. Wegen sehr konsequenter Berücksichtigung des berechtigten Grundgedankens, Mittellosigkeit nicht Straflosig-
BGHSt 37, 226ff.; Tröndle aaO. (Fn. 1) § 258, Rn. 9; weit Nachw. ob. Fn. 131. Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, 1985, S. 64f. 142 Vgl. Seebode, ZRP 1983, 174ff.; Eisenberg aaO. (Fn. 3) S. 675f.; Landesarbeitsgemeinschaft der Sozialarbeiterlnnen/Sozialpädagoglnnen bei den JVAen des Landes NRW (Hrsg.): Schuldnerberatung und Schuldenregulierung in Justizvollzugsanstalten, 3. Aufl., 1997; Klaus Laubentbai, Strafvollzug, 2. Aufl., 1998, S. 259f.; Rolf-Peter Calliess/Heinz Müller-Dietz, StVollzG, 7. Aufl., 1998, § 73, Rn. 3. 143 S. nur die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage, BT-Drs. 12/ 3718 v. 12.11.1992, S. 14 unt.; Tröndle, ZStW 86 (1974), 572. 144 Emil Niethammer, in: J. v. Olshausen, StGB, 11. Aufl., 1927, § 29, Anm. 21; zust. Tröndle, LK, 9. Aufl., Bd. 1, 1974, § 29, Rn. 24. 140 141
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keit bedeuten zu lassen, 145 aber ohne einen Blick auf die Systemwidrigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe und das Anliegen der Geldstrafengesetzgebung, die kurze Freiheitsstrafe zurückzudrängen, 146 erlangte die als „bedenklich" 147 angesehene Vorschrift von Anfang an und bis heute keine nennenswerte praktische Bedeutung. 148 Trotz des ursprünglich ausdrücklich mit § 29 StGB a. F. auf unverschuldete Zahlungsunfähigkeit und seit 1975 nicht ganz ohne inhaltliche Änderung 149 auf „unbillige Härte" abstellenden Wortlauts soll die Ersatzfreiheitsstrafe grundsätzlich jede uneinbringliche Geldstrafe substituieren und nicht nur die Folge verschuldeter Zahlungsunfähigkeit sein. 150 Der Begriff „unbillige Härte" soll sich also nach als „einhellig" bezeichneter Auffassung 151 nicht mit dem unverschuldeter Mittellosigkeit decken, 152 mithin das Gegenteil von dem ausdrücken, was der unbefangene Leser dem Text seit 1921 entnimmt. Das jedenfalls als „sehr eng" 1 5 3 zu kritisierende Verständnis des § 459f StPO wird weder dem heutigen noch dem ursprünglichen Wortlaut der Vorschrift gerecht, noch ihrem alten Zweck, die unbestritten systemwidrige kurze Freiheitsstrafe tunlichst zu vermeiden, noch ihrem sozialstaatlichen Anliegen. Wohl ist zu bedenken, daß die Geldstrafe eben wegen ihrer gewollten Eigenschaft als weitaus häufigste Hauptstrafe nicht ineffektiv werden darf. Doch weder bricht das Rückgrat der Geldstrafe noch wird Mittellosen ein Freibrief für Straftaten ausgestellt, wenn die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe mit nicht wenigen Literaturstimmen 154 i. d. R. bei nicht vorwerfbarer Zahlungsunfähigkeit als „unbillige Härte" verstanden wird, solange kein adäquateres Surrogat als die Ersatzfreiheitsstra-
S. nur Wendisch aaO. (Fn. 21) Rn. 5 m. weit. Nachw. S. aber zur ursprüngl. Regelung in § 2 9 StGB a. F. Franz v. Liszt/Eb. Schmidt, Lb. d. dt. Strafr., 25. Aufl., 1927, S. 417; 26. Aufl., 1932, S. 432. 147 Nagler aaO. (Fn. 6) Anm. 10. 148 Vgl. Wendisch aaO. (Fn. 21) Rn. 6: „verhältnismäßig seltenen Fällen"; O L G Bamberg, N S t Z - R R 1998, 380ff., 382: „diese Vorschrift ... weitgehend eliminiert." 149 Vgl. auch E - E G S t G B 1974, BT-Drs. 7/550, Begr. S. 311; anders Wendisch aaO. (Fn. 21) Rn. 1, der wegen Anlehnung des § 459f StPO an die Rspr. eine inhaltl. Änderung verneint. 150 Tröndle, ZStW 86, 570f.; B G H S t 27, 90. 151 H.-J. Albrecht, N o m o s - K o m m , § 43, Rn. 11. 152 S. nur B G H S t 27, 93; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. (Fn. 80) § 459f., Rn. 2; Wendisch aaO. (Fn. 21) Rn. 5f., jew. mit zahlr. Nachw. 153 ]escheck/Weigend aaO. (Fn. 3) S. 775; Cramer aaO. (Fn. 44); O L G Bamberg aaO. (Fn. 148): „extrem restriktiv". 154 Streng aaO. (Fn. 21) S. 54; Heinz Zipf, in; R. Maurach u.a., Strafr. AT/2, 7. Aufl., 1989, S. 517f.; Jescheck/Weigend aaO. (Fn. 3) S. 775; Dirk v. Seile, N S t Z 1990, 118ff., 119; Köhler, G A 1987, 161; s. auch Tiedemann, G A 1964, 371; Cramer aaO. (Fn. 44). 145
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fe zur Verfügung steht. Die Entscheidung nach § 459f StPO bewirkt nur einen widerrufbaren Vollstreckungsaufschub, die Geldstrafe wird nicht erlassen, bleibt vielmehr beizutreiben,und insbesondere ist „unbillige Härte" im Wiederholungsfall (retro- und prospektiv) zu verneinen, wenn also der Verurteilte den Aufschub der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe als „Freibrief" mißverstanden haben sollte. Die hier befürwortete Anwendung des § 459f StPO führt im wesentlichen zu der vom US Supreme Court geschaffenen Rechtslage. c) Ersatzfreiheitsstrafen sind zwar regelmäßig kurz. Von quantitativem Gewicht sind aber doch Fälle, in denen mehr als zwei Monate und insbesondere wegen Gesamtstrafenbildungen gar erheblich längere Zeiten zu verbüßen sind.155 In der Praxis stellt sich deshalb keineswegs selten die Frage einer Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB. Die Rechtsprechung entscheidet sie seit Jahrzehnten bekanntlich äußerst kontrovers, und auch die Strafrechtslehre gibt bei weitem keine einheitliche Antwort. 156 Dies erklärt sich mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung, die ζ. B. auch bei Einfügung des § 43a StGB in Kenntnis der Streitfrage nicht getroffen wurde, 157 leicht aus der rechtlichen „Zwitterstellung", die die Ersatzfreiheitsstrafe im Sanktionensystem einnimmt. Sie verbindet Elemente der Geldstrafe mit denen der Freiheitsstrafe und wird zudem als Druckmittel oder Erzwingungshaft sowohl verwendet als auch mißverstanden. Diese Eigenart führt sowohl bei Anwendung als auch bei Nichtanwendung des § 57 StGB zu Ungereimtheiten. Keine Lösung ist widerspruchsfrei. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist zwar, sofern sie nicht als Beitreibungsmittel eingesetzt wird (ob. III/l), unbestritten „echte Strafe", deswegen aber noch nicht echte Freiheitsstrafe.158 Anders als diese kann sie jederzeit u.a. durch Zahlung ganz oder teilweise abgewendet werden, und da diese Abwendung auch beliebige Dritte zu bewirken vermögen, ist sogar fraglich, ob sie wie die ohne Umwandlung einer Geldstrafe vollstreckte Freiheitsstrafe vom Verurteilten persönlich verbüßt werden muß. 159 Wegen der „Zwitterei155 S. schon H. v. Heutig aaO. (Fn. 69) S. 409, u. ζ. B. jüngst die vom LG Gera, ZfStrVo 1998, 304, O L G Thüringen, StraFo 1998, 25; O L G Bamberg, NStZ-RR 1998, 380, entschiedenen Fälle. 156 S. nur die Ubersichten zum Streitstand bei Eckhard Horn, Syst. Leitsatzkomm, zum Sanktionenrecht, Bd. 2, § 57, Rn. 1 (1987); Tröndle aaO. (Fn. 1) § 57, Rn. 2a; Gribbohm, LK, 11. Aufl., § 57, Rn. 5 (1993). 157 Darauf verweisen ζ. B. jüngst Thür. O L G Jena, StraFo 1998, 25f.; O L G Celle, NStZ 1998, 533f., 534. 158 Anders z. B. H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 6; BGHSt 20,16. 159 S. Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 739.
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genschaft" läßt sich jeweils mit guten Gründen vertreten, daß § 5 7 StGB auf die Ersatzfreiheitsstrafe nicht, nur analog oder auch unmittelbar anwendbar ist. Da die Geldstrafe nach unserem Strafrecht (abgesehen von § 59 StGB) im Gegensatz zum österreichischen nicht aussetzungsfähig ist, die Freiheitsstrafe aber sehr wohl, spricht vieles für die Auffassung, die Anwendung des § 57 StGB auf die Freiheitsstrafe bewirke eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Aussetzung der Geldstrafe zur Bewährung. Aber nicht weniger überzeugend läßt sich anführen, das Gesetz ermögliche Strafrestaussetzungen aus kriminalpolitischen und für die Ersatzfreiheitsstrafe systemkonform nicht minder geltenden Gründen. In der Auseinandersetzung, die hier im einzelnen nicht nachzuzeichnen ist, 160 konnte u. a. das O L G Celle jüngst mit Recht feststellen, daß die Oberlandesgerichte überwiegend die Anwendung des § 57 StGB auf Ersatzfreiheitsstrafen ablehnen. 161 In der Lehre aber hat sich als herrschend die gegenteilige Ansicht herausgebildet. 162 Das zutreffende und für die h. L. wohl letztlich ausschlaggebende Argument für die Anwendbarkeit des § 57 StGB auf Ersatzfreiheitsstrafen, der zu Geldstrafe Verurteilte dürfe aus Gerechtigkeitsgründen nicht schlechter stehen als der zu unbedingter Freiheitsstrafe Verurteilte, 163 hat jüngst das Thür. O L G Jena mit einer Argumentation zu widerlegen versucht, auf die einzugehen ist. Es hat auf die Abwendbarkeit der Ersatzfreiheitsstrafe durch Leistung gemeinnütziger Arbeit verwiesen und damit die Auffassung verbunden, der Ersatzfreiheitsstrafe Verbüßende stehe trotz Unanwendbarkeit des § 57 StGB nicht schlechter als andere Strafgefangene. 164 Abgesehen davon, daß dies der ersatzweise Gefangene wegen der möglichen Diskriminierung durch gemeinnützige Arbeit anders zu sehen vermag und auch nicht jeder Geldstrafenschuldner eine (für ihn in Betracht kommende) Arbeit findet, ist
160 S. näher Bublies, Die Aussetzung etc. (ob. Fn. 40), S. 58ff.; Dieter Dötting, NStZ 1981, 86ff.; O L G Bamberg, N S t Z - R R 1998, 380ff. 161 O L G Celle, NStZ 1998, 354 (sub 1.). Das O L G Bamberg meint, die neuere Rspr. tendiere zur Anwendbarkeit des § 57 StGB ( N S t Z - R R 1998, 380). 162 S. die zahlr. Nachw. bei Tröndle aaO. (Fn. 1) § 57, Rn. 2a; Gribbobm aaO. (Fn. 156) und weiter ζ. B. bejahend Göppinger aaO. (Fn. 1) S. 744; H.-J. Albrecht, N o m o s Komm., § 43, Rn. 6; Zipf aaO. (Fn. 154) S. 655f.; Wendisch, Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., Bd. 5, 1989, § 462a, Rn. 5; ablehnend Lackner aaO. (Fn. 39) § 43, Rn. 4; Wolfg. Müsch, Jura 1994, S. 454; Thomas Fischer, K K - S t P O , 3. Aufl., 1993, § 459e, Rn. 8. 163 S. insbes. U. Weber, GS H. Schröder, S. 184,185, 187; Blei, J A 1972, 84; Göppinger aaO. (Fn. 1), S. 744f.; O L G Hamm, StV 1998, 151. 164 Thür. O L G , StraFo 1998, 26; s. auch schon Bublies, Die Aussetzung etc. (ob. Fn. 40) S. 109f.
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dem O L G Jena mit dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip entgegenzuhalten, daß nicht jeder zahlungsunfähige Verurteilte (hinreichend) über das Substitut der freien Arbeit orientiert ist, vor allem aber von einem Grundrecht Gebrauch macht, wenn er sich zu dem Surrogat nicht nötigen läßt (s. ob. IV). d) Der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe vermag ebenfalls zur Abmilderung ihrer Ungerechtigkeit ins Auge gefaßt zu werden. Zwar ist wegen der vollzugsgesetzlichen Entscheidung (§ 2 Satz 1 StVollzG), der Schwere der Tat und dem Gewicht der Schuld des Täters über die mit der richterlichen Verurteilung (Statusentscheidung) erfolgte Festlegung (Dauer der Freiheitsstrafe) hinaus keinen Einfluß zu gewähren, also die im Vollzug zu treffenden Maßnahmen (Gestaltungsentscheidungen) anders als das Urteil nur spezialpräventiv auszurichten, 165 nicht nur der schweren Tatschuld Einfluß auf die Gestaltung des Freiheitsentzugs versagt. Vielmehr ist als Konsequenz des vollzugsrechtlichen Prinzips dessen andere und in der breiten Diskussion vernachlässigte Seite nicht zu übersehen. Es ist im Vollzug auch keine Rücksicht auf eine nach dem Richterspruch geringe Tatschuld zu nehmen. Für die Rechtsprechung allerdings, die mit Billigung, wenn nicht Förderung 166 durch das Bundesverfassungsgericht 16 ebenso wie Allgemeinverfügungen einiger Landesjustizverwaltungen einer aus dem Statusurteil ersichtlichen schweren Schuld Einfluß auf die Gestaltung nicht mehr nur der lebenslangen, sondern auch der zeitigen Freiheitsstrafe 168 einräumt, ist es folgerichtig, dem Geldstrafenurteil Gewicht für den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe beizumessen. Ersatzfreiheitsstrafen sind danach schon wegen des geringeren Schuldvorwurfs erleichtert zu gestalten und so, daß der mit der Geld- im Vergleich zur Freiheitsstrafe geringere öffentliche Tadel im Auge bleibt. Dies bedeutet insbesondere, daß Vollzugslockerungen in den Fällen uneinbringlicher Geldstrafe wenigstens in dem Umfang erleichtert werden und naheliegen, in dem sie der Praxis bei schwerer Schuld erschwert und fernliegend erscheinen. Zu einem ähnlichen Ergebnis muß die Lehre von Alexander Böhm führen,
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Vgl. zu der str. Frage ζ. B. Böhm, in: Schwind/Böhm, Hg., StVollzG, 2. Aufl., 1991, § 2, Rn. 6; Calliess/Müller-Dietz aaO. (Fn. 142) § 2, Rn. 6; Klaus Laubenthal, Strafvollzug, 2. Aufl., 1998, S. 69ff.; Seebode, Strafvollzug I, S. 116ff. 166 Laubenthal aaO. (vor. Fn.) S. 71. 167 BVerfGE 64, 261ff. 168 O L G Frankfurt/M., NStZ 1983, 140; O L G Nürnberg, NStZ 1984, 92; vgl. weiter Calliess/Müller-Dietz aaO. (Fn. 142) § 2, Rn. 27; Seebode aaO. (Fn. 165) S. 118; Klaus Koepsel, ZfStrVo 1992, 46ff.
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nach der schwerer Schuld des Gefangenen in Extrem- und Ausnahmefällen Einfluß auf die Gestaltungsentscheidungen einzuräumen ist.169 Denn die zahlungsunfähigen Geldstrafenschuldner stellen nach dem Gewicht des Schuldvorwurfs das andere Extrem der Gefängnispopulation. Der ganz h. L., die vornehmlich wegen § 2 StVollzG für Vollzugsentscheidungen keine anderen als die vollzugsgesetzlich aufgegriffenen spezialpräventiven Kriterien gelten läßt, stellt sich für die Gestaltung der Ersatzfreiheitsstrafe die bisher vornehmlich in anderem Zusammenhang, nämlich zu § 57 StGB diskutierte Frage, ob „Freiheitsstrafe" (§ 1 StVollzG) auch Ersatzfreiheitsstrafe meint. Wird die Möglichkeit der Reststrafenaussetzung mit der Begründung verneint, die nach § 43 StGB eintretende Freiheitsentziehung sei wegen Wesensverschiedenheit keine § 57 StGB unterfallende Freiheitsstrafe,171 und wird noch herausgestellt, rechtlich gleiche die Lage des zahlungsunfähigen Geldstrafenschuldners „auch vor und während der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe in keiner Weise" der der sonstigen Strafgefangenen,172 so liegt es nahe, daraus für den Vollzug Folgerungen zu ziehen. Das StVollzG differenziert allerdings nicht generell, sondern versteht unter „Freiheitsstrafe" auch die Ersatzfreiheitsstrafe 173 , deren praktische Durchführung schon nach dem Willen des Gesetzgebers, der der Verfassungsgerichtsentscheidung v. 14.3.1972174 folgte, keineswegs als ungeregelt angesehen werden kann. Das Gesetz verbietet damit aber keineswegs, den bei Ersatzfreiheitsstrafgefangenen regelmäßig gegebenen Besonderheiten im Rahmen der § 2 StVollzG folgenden Vollzugsgestaltung Rechnung zu tragen, sondern gebietet vielmehr einen nach dem Sozialisationsbedarf individualisierten und differenzierten 169 Böhm bei Schwind/Böhm aaO. (Fn. 165) § 2, Rn. 6; ders., Strafvollzug aaO. (Fn. 54) S. 36. 170 S. ζ. B. nur Calliess/Müller-Dietz aaO. (Fn. 142) § 2, Rn. 9ff.; Laubenthal aaO. (Fn. 165); Seebode aaO. (Fn. 165) S. 101f., 116ff., jew. mit weit. Nachw. 171 So ζ. B. O L G Celle, NJW 1977, 308f.; KG, GA 1977,237ff.; O L G Stuttgart, MDR 1978, 33lf.; O L G Düsseldorf, NJW 1980, 250; Bublies, Die Aussetzung etc. (ob. Fn. 40), S. 3Iff., 112. 172 KG, GA 1977, 239. 173 So auch Böhm, in: Schwind/Böhm aaO. (Fn. 165) § 1; Rn. 2; u. ζ. B. Klaus Friederich, ZfStrVo 1994, 14. Dieser Rechtsauffassung folgen ζ. B. auch die StrVollstrO und die Vollstreckungspläne. Allerdings gewährt eine von § 43 StGB, § 41 StVollzG abweichende Gnadenpraxis mehrerer Bundesländer neuerdings nur Ersatzstrafgefangenen eine (von diesen ebenfalls kaum genutzte) Good-time-Regelung: Ein Tag gemeinnützige Arbeit (inner- oder außerhalb der JVA) tilgt einen (weiteren) Tagessatz Geldstrafe und erspart einen Tag Gefangenschaft. 174 BVerfGE 33, Iff.
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Vollzug. Die für die Erstellung des Vollzugsplans (§ 7 StVollzG) bedeutsame Behandlungsuntersuchung (§ 6 StVollzG) erschöpft sich gewiß nicht in der Berücksichtigung des (Geldstrafen-) Urteils, läßt dieses aber auch nicht aus; und es erlangt ausschlaggebende Bedeutung, wenn wegen kurzer Vollzugsdauer von einem Vollzugsplan abgesehen wird (§ 6 Abs. 1 S. 2 StVollzG). Die Vollzugsanstalt ist zwar nach herrschender und § 2 StVollzG zutreffend berücksichtigender Lehre gehindert, die mit der Geldstrafe verbundenen und im Vergleich zur Freiheitsstrafe geringeren Tadel des Täterverhaltens in einen Vollzugsplan und in die Gestaltung der Ersatzfreiheitsstrafe einfließen zu lassen, jedoch verpflichtet zu berücksichtigen, daß das Gericht „in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters" keine besonderen Umstände gesehen hat, die „eine Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter ... unerläßlich" (§ 47 StGB) erscheinen ließen. Deswegen ist der zahlungsunfähige Geldstrafenschuldner von der Anwendung des § 2 StVollzG nicht ausgenommen. Für den Regelfall des Vollzuges der Ersatzfreiheitsstrafe werden sich aber nach den richterlichen Feststellungen und wegen des Verfassungssatzes der Erforderlichkeit jedenfalls die Rechtseingriffe (nicht die Hilfsangebote) verbieten, die unabhängig von der Schuld, aber abhängig von der Möglichkeit und Gefahr, das Vollzugsziel nicht zu erreichen, als Sozialisationszwangsmaßnahmen erfolgen können. 175 Bei der Kürze der allermeisten Ersatzfreiheitsstrafen werden Vollzugslockerungen regelmäßig seltener wegen Fluchtgefahr zu versagen sein. Wegen richterlich verneinter Notwendigkeit einer Freiheitsstrafe kann sowohl der Sicherungsauftrag des § 2 S. 2 StVollzG zurückgenommen als auch die Vollzugslockerungen entgegenstehende Mißbrauchsgefahr regelmäßig verneint werden. Es bietet sich deshalb an, Ersatzfreiheitsstrafgefangene grundsätzlich für den offenen Vollzug vorzusehen oder ihnen sonstige Lockerungen zu gewähren. § 141 StVollzG ermöglicht es darüber hinaus und insbesondere unter Verfolgung des sog. Gegensteuerungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 2 StVollzG), Schwerpunktanstalten 176 für die zahlungsunfähi-
Näher BVerfGE 40, 284f.; Seebode, in: Festschr. für Walter Stree u. Joh. Wessels, hrsgg. v. W. Küper u. a., 1993, S. 405ff., 421; ders., Strafvollzug aaO. (Fn. 131) S. 93ff., 96; anders Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 466 ob. 176 In der großen JVA Nürnberg, die rd. zur Hälfte mit U-Gefangenen belegt ist, verbüßten am 1.12.1998 rd. 35 % aller Gefangenen, also die große Mehrzahl der Strafgefangenen Ersatzfreiheitsstrafe (Auskunft des Anstaltsleiters). 175
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gen Geldstrafenschuldner mit einem „Strafvollzug light" einzurichten. 2. De lege ferenda bleibt den mit § 43 StGB begründeten Ungerechtigkeiten und bereits erwähnten verfassungsrechtlichen Einwänden zu begegnen: a) Besonders augenfällig ist die kaum bestrittene Ungerechtigkeit des festen Umrechnungsmaßstabes (§ 43 StGB), nach dem an die Stelle eines Tagessatzes Geldstrafe ein Tag Freiheitsstrafe tritt. Schon frühzeitig hat Herbert Tröndle unter Hinweis auf die Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, der den Vorschlag der Regierungsvertreter mit Stimmengleichheit ablehnte, zwei Tagessätzen einem Tag Freiheitsstrafe gleichzusetzen,177 es als „nicht rechtens" bezeichnet, mit der Umwandlungsstrafe über den Tagesverdienst hinaus noch für 24 Stunden die Freiheit zu entziehen und schuldunangemessen ein Zusatzübel zu vollstrecken.178 Die h. L. ist ihm mit Recht gefolgt.179 Denn das Tagesneiioeinkommen wird, wie Alexander Böhm dargelegt hat, durchschnittlich mit drei Stunden Arbeit erzielt.180 Gegen eine ersatzweise 24-stündige Einsperrung mit Arbeitspflicht 1 bestehen deshalb „schuldstrafrechtlich durchgreifende Bedenken". 182 Die vielfache Empfehlung, wie § 19 Abs. 3 österr. StGB wenigstens zwei, „besser drei" 183 Tagessätze einem Tag Freiheitsstrafe entsprechen zu lassen, ist wegen des Schuldprinzips verfassungsrechtlich fundiert.184 Kriminalpolitische Uberlegungen, ein dem Verurteilten günstigeres Umrechnungsverhältnis könne den bisher mit § 43 S. 2 StGB bewirkten (und nur bei einem Mißverständnis als Erzwingungshaft zulässigen) Zahlungs-
BT-SondA, Prot. V, S. 2171ff, 2177. Tröndle, MDR 1972, 467; ders., LK, 9. Aufl., Bd. 1, 1974, vor § 27, Rn. 93ff.; ders., ZStW86 (1974), 576f.; ders., StGB, 48. Aufl., 1997, § 43, Rn. 4; s. auch schon Bockelmann, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm., Bd. 4, 1959, S. 251. 179 S. nur Zipf, JuS 1974,141 r. Sp.; Grebing, ZStW 88 (1976), 1111 ;Jescbeck, Festschr. Rieh. Lange, 1976; S. 379; Herrn. Blei, Strafrecht 1,18. Aufl., 1983, S. 402; Schall, NStZ 1985,106; Finkler aaO. (Fn 61), 112; Bockelmann/Volk, Strafrecht AT, 4. Aufl., 1987, S. 226; Jescheck/Weigend aaO. (Fn. 3) S. 776; Köhler, Strafr. AT, S. 627, 629; anders ζ. B. Stree, Schönke/Schröder, § 40 Rn 4; Horn, SK-StGB (1993), § 43 Rn. 2. 180 Böhm, ZRP 1998, 363; s. auch BT-Drs. 13/10485, § 40a, Abs. 2 Ε ί. V. m. Abs. 1 S. 1 E. 181 Zur Arbeitszeit vgl. Nr. 4 Abs. 1 W zu § 41 StVollzG (entsprechend dem öff. Dienst); KG, NStZ 1989, 445ff. 182 Tröndle aaO. (Fn. 1) Rn. 4. 183 H.-J. Albrecht, Nomos-Komm., § 43, Rn. 5; s. auch Tröndle, ZStW 86 (1974), 578. 184 Vgl. BVerfGE 20, 323ff„ 331; Tröndle aaO. (Fn. 1) Rn. 4; Köhler, Strafr. AT, 1997, S. 629. 177 178
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druck und den Anreiz zu gemeinnütziger Arbeit vermindern, 185 sind mit dem Prinzip der schuldangemessenen (Ersatz-)Strafe unvereinbar. Für eine Änderung der Umrechnung spricht schließlich der Gesetzentwurf des Bundesrates vom 6.3.1998, 186 der Art. 293 E G S t G B unangetastet läßt, aber „anstelle einer Geldstrafe" von (höchstens) 180 Tagessätzen nicht mehr als 540 Stunden gemeinnütziger Arbeit zu verhängen zuläßt (§ 40a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 E), also einen Tagessatz drei Arbeitsstunden gleichsetzt und ohne Änderung des § 43 Abs. 2 StGB zu einer insgesamt völlig ungereimten Regelung führte. 187 b) Der Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe und den verfassungsrechtlichen Einwänden, denen sie ausgesetzt ist (s. ob. II/2), begegnete eine Änderung des Umrechnungsschlüssels nicht hinreichend. Das Zusatzübel wäre verringert, aber nicht ausgeschlossen. Sowohl sozialstaatliche als auch rechtsstaatliche Gründe lassen es geboten erscheinen, einen 1967 im Bundestags-Sonderausschuß für die Strafrechtsreform erwogenen Gesetzesvorschlag 188 aufzugreifen, von jedem Automatismus 189 eines § 43 StGB Abschied zu nehmen, nicht mehr als einen regelmäßigen Umrechnungsschlüssel anzubieten und die Entscheidung über Dauer und Vollstreckbarkeit der Ersatzfreiheitsstrafe allen verständlichen Praktikabilitätserwägungen 190 , aber nur scheinbar zutreffenden Kostengesichtspunkten zum Trotz in die Hand des Richters zu legen. Ihm ist sowohl die Aussetzung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung als auch die Verhängung neuer Surrogate zu ermöglichen. Jede Ersatzfreiheitsstrafe zeigt, daß die richterliche Rechtsfolgenbestimmung mit dem Geldstrafenurteil nicht abgeschlossen sein darf, sondern bei Zahlungsschwierigkeiten des Verurteilten noch vor den größeren Strafzumessungsproblemen steht. Die Aussetzbarkeit der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ist nach ausländischen Beispielen 191 mehrfach und zu Recht vorgeschlagen worden. 192 Denn das geltende Recht wagt bei Uneinbring-
Dagegen schon Tröndle, ZStW 86 (1974), 578. BT-Drs. 13/10485. 187 Feuerhelm, BewHi 1998, 404. 188 Dt. Btag, SondA StrafRRef., Prot. V/2191. 189 Vgl. auch Bockelmann aaO. (Fn. 178); Finkler aaO. (Fn. 33) S. 80, 88 f. u. § 43a StGB. 190 S. nur Tröndle, ZStW 86 (1974), 567 f., 588; ders., MDR 1972, 461 ff, 466; Skott, Schäfer, Schaßeutle, Niedersehr. Gr. Strafrechtskomm, Bd. 4,1959, S. 249, 251. 191 Näher Grebing, ZStW 88 (1976), 1113; Jescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 155, 158f. Zur Aussetzbarkeit der Geldstrafe s. BT-Drs. 13/4462. 192 S. nur Finkler aaO. (Fn. 33) S. 93; Zipf, JuS 1974, 141; Buhlies, BewHi 1992, 189; H.-J. Albrecht, Nomos-Komm, § 43, Rn. 6; Jescheck, Beiträge aaO. (Fn. 10) S. 159; 185
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lichkeit der Geldstrafe einen zu weiten Sprung unmittelbar zu vollstreckbarem Freiheitsentzug. Es überspringt die (unter Auflagen) aussetzbare Freiheitsstrafe und stellt so den zu Geldstrafe Verurteilten, aber Zahlungsunfähigen schlechter als den zu bedingter Freiheitsstrafe Verurteilten. §§ 56ff. StGB sollten auf die Ersatzfreiheitsstrafe angewendet werden können. Die dagegen sprechenden Bedenken sind im wesentlichen keine anderen als die, die seit eh und je gegen Strafaussetzungen zu besorgen, unter Geltung des § 56 StGB aber dessen Anwendbarkeit auf die Ersatzfreiheitsstrafe nicht ohne schwer erträglichen Widerspruch zur Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers entgegenzuhalten sind. Da unser Strafrecht durchweg vollstreckte Freiheitsstrafe möglichst zu vermeiden sucht, das Institut der Strafaussetzung erfolgreich praktiziert und allgemein günstig beurteilt wird, erscheint es erst recht als wenig folgerichtig, zwar schwerer belasteten Tätern die Möglichkeit einzuräumen, dem entsozialisierenden Strafübel Freiheitsentzug zu entgehen, nicht aber zahlungsunfähigen Geldstrafenschuldnern. Als erwägenswerte Surrogate der Ersatzfreiheitsstrafe bieten sich nach dem Beispiel italienischer Regelungen193 dort seit langem praktizierte Strafmodifikationen an. Die uneinbringliche Geldstrafe könnte durch Richterspruch insbesondere in „kontrollierte Freiheit" 194 umgewandelt werden. Diese kann nach italienischem Recht jederzeit durch Zahlung der Geldstrafe oder durch einen Tag gemeinnützige Arbeit für zwei Tage kontrollierter Freiheit abgewendet werden. Kontrollierte Freiheit meint für höchstens 18 Monate im wesentlichen eine Aufenthaltsbeschränkung (auf den Wohnort), mindestens tägliche Meldepflicht zu festgesetzter Zeit auf der Polizeistation, Führerschein- und Paßentzug, während Halbgefangenschaft 195 kurzfristige Freiheitsstrafen ersetzt und zusätzlich zu den mit kontrollierter Freiheit verbundenen Beschränkungen wenigstens zehn Stunden täglichen Freiheitsentzugs (nahe dem Heimatort) bedeutet. Im übrigen steht als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe heute die Möglichkeit zur Verfügung, gesetzlich, wenn auch nur mit Zu-
vgl. auch Lackner, StGB, 22. Aufl., 1997, § 43, Rn. 4; ablehnend Tröndle, ZStW 86 (1974), 566ff.. 193 Vgl. H.-J. Albrecht, N o m o s - K o m m . , § 43, Rn. 3; Doleini/Pahero aaO. (Fn. 10) 231ff. 194 Vgl. Art. 136 c. p. in Verb, mit Art. 102f, 56 des Gesetzes Nr. 689 v. 24.11.1981: „libertä controllata". 195 Vgl. Art. 55 Gesetz v. 24.11.1981, Nr. 689: „semidetenzione".
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Stimmung196 des Betroffenen, eine elektronische Überwachung als „Strafverbüßung außerhalb des Gefängnisses" 197 und neuzeitliche Ausgestaltung kontrollierter Freiheit zuzulassen.198 Insgesamt erscheint es jedenfalls de lege ferenda wegen dem Gesetzgeber zur Verfügung stehender Möglichkeiten nicht ausgeschlossen, die „leidvolle Notwendigkeit" der Ersatzfreiheitsstrafe praktisch bedeutungslos werden zu lassen, ohne den von Alexander Böhm auch für die nicht durchsetzbare Geldstrafe in Erinnerung gehaltenen und hier eingangs referierten Grundgedanken sowohl gerechter als auch sich nicht selbst in Frage stellender Strafe aufzugeben.
196 Seebode, in: A. Eser u.a., Hg., 4. Dt.-poln. Kolloquium über Strafr. u. Kriminologie, 1991, S. 169ff., 179f.; Uwe Schlömer, Der elektron. überwachte Hausarrest, 1998, S. 201 ff., 206; krit. ζ. B. Matthias Krahl, NStZ 1997, 457ff.; Horst Schüler-Springorum, in: G. Kawamura, R. Reindl, Hg., Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 144ff., 152, 155; alle mit weit. Nachw. 197 Näher Peter Aebersold, SchwZStrR 116 (1998), 367ff. m. weit. Nachw. 198 So z.B. Koepsel, Kriminalistik 1999, 83.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen? KLAUS LÜDERSSEN
Diese Frage stellt sich mit zunehmender Schärfe und Häufigkeit den Justizverwaltungen der Länder. Im folgenden sollen daher die damit verbundenen streitigen Rechtsprobleme geprüft werden. Die Funktion, die Gnadenentscheidungen im Rahmen der Vollstreckung haben könnten, ist nur auf dem Hintergrund des allgemeinen Verhältnisses von Strafrecht und Gnade zu erkennen, und dieses Verhältnis wiederum bestimmt sich nach den Grundsätzen, die für „Recht und Gnade" insgesamt gelten. Der Text beginnt deshalb mit einem Abschnitt über „Recht und Gnade" (A), beschäftigt sich anschließend mit „Strafrecht und Gnade" (B) und geht dann über zum Hauptthema: „Ersatzfreiheitsstrafe und Gnade" (C). Den Schluß bildet eine zusammenfassende und weitere Perspektiven andeutende Betrachtung (D). A. Recht und Gnade Seit „infolge der weitgehenden Ausgliederung und Verselbständigung der Rechtsprechung im 16.Jahrhundert Recht und Gnade auseinandertreten" 1 , gibt es die Idee einer über die positiv-rechtliche Fixierung hinausgehenden individualisierenden Gerechtigkeit, die nur im Wege der Gnade gefunden werden kann. I. Zwei Gnadenbegriffe - die Option für den Gnadenbegriff
rechtlichen"
Zunächst ist festzuhalten, daß diese Zuspitzung der individualisierenden Gerechtigkeit sich keineswegs mit jedem Begriff von Gnade ohne weiteres verbindet. Vielmehr ist zu registrieren, daß - sobald von Gnade als einer selbständigen Institution die Rede ist - zwei, idealtypisch scharf voneinander, in der Wirklichkeit sich freilich gelegentlich berührende Gnadenkonzepte zu unterscheiden sind. Für
1
Hermann Huba, Gnade im Rechtsstaat, in: Der Staat, 1990, S. 117ff (121).
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das eine steht vor allem Gustav Radbruch, der in der Gnade „ein Symbol, daß es in der Welt Werte gibt, die aus tieferen Quellen gespeist werden und zu höheren Höhen aufgipfeln als das Recht" 2 , sehen möchte. Unerachtet aller Säkularisierungen und demokratischen Ernüchterungen, zu denen ja nicht zuletzt Radbruch selbst beigetragen hat, hält sich dieser Gnadenbegriff 3 und macht es niemandem leicht, ohne weiteres für die Durchsetzung der anderen Konzeption einzutreten, die auch für die Gnade das Rationalitätskriterium reklamieren möchte 4 . Es ist hier nicht der Ort, diesen Gegensatz gründlich zu diskutieren. Vielmehr kann man mit Blick auf die Probleme, zu deren Lösung hier etwas beigetragen werden soll, ohne weiteres davon ausgehen, daß es hinreichend gute Gründe gibt, jener zweiten Gnadenkonzeption den Vorzug zu geben. Es kann daher auf sich beruhen, daß vielleicht auch die metaphysische Gnadenkonzeption am Ende Gesichtspunkte verfügbar macht, Gerechtigkeitsentscheidungen, die nach dem positiven Recht nur begrenzt möglich sind, zu entwickeln und durchzusetzen. Denn die Auffassung, „die Gnade recbts-immanent begreift" 5 (wie man vielleicht präzisierend sagen sollte), bietet zweifellos eine weitere und verläßlichere Basis für die Herausarbeitung des „Surplus" an Gerechtigkeit, um das es hier geht. Das kann freilich nur über eine genauere Definition dieser individualisierenden Gerechtigkeit und ihre Lokalisierung im Institut der Gnade plausibel gemacht werden. II. Individualisierende
Gerechtigkeit und Gnade
Der Platz, den die individualisierende Gerechtigkeit in dem engeren, uns nurmehr beschäftigenden Gnadenbegriff einnimmt, ist durch den Rechtsbegriff „des rationalen gewaltenteilenden Rechts-
2 Rechtsphilosophie, in: Gesamtausgabe Band 2, Heidelberg 1993, S. 413; s.auch Gerechtigkeit und Gnade, in: Gesamtausgabe Band 3, Heidelberg 1990, S. 259ff; im gleichen Sinne Wilhelm Grewe, Gnade und Recht, Hamburg 1936; zum ganzen: Dimitri Dimoulis, Die Gnade als Symbol, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1998, S. 354ff. 3 Vgl. Dimitri Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, Berlin 1996, S. 555. 4 Vgl. die Darstellung bei Heinz Müller-Dietz, Recht und Gnade, Deutsche Richterzeitung 1987, S. 474ff; grundlegende Orientierungen auch bereits bei Friedrich Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, Tübingen 1960. 5 Müller-Dietz aaO. S. 475.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
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staates" bestimmt, „der ... in der Herrschaft des abstrakt-allgemeinen, für alle gleichen Gesetzes kulminiert" 6 . 1. Vom abstrakten zum konkreten
Gerechtigkeitsbegriff
Es ist bezeichnend, daß dem in der Aufklärung gereiften abstrakten Begriff von Gerechtigkeit die Gnade fremd war 7 . Zwar war dieser Begriff - durch die Ausdifferenzierung des Rechts im Absolutismus schon vorbereitet - ein Fortschritt im Vergleich mit dem Recht archaischer Gesellschaften. Andererseits hatten jene Gesellschaften immerhin - im Kontinuum der ungeschiedenen Entscheidungsformen - substantiell kein Problem mit der Gnade. Es kann und soll natürlich kein Weg in diese Gesellschaften zurückführen, wenn auch in der Beschwörung der „Frühformen des Rechts" 8 so etwas gelegentlich anklingt 9 . Gleichwohl haben die Juristen noch in der Aufklärungszeit begonnen, die Starrheit der Allgemeinheit des Gesetzes wieder zu relativieren - signifikant beispielsweise die Wiederaufhebung des Kommentierungsverbots als einer ersten Konzession an die Aufgabe vor allem des Richters, den gesetzgeberischen Willen zu konkretisieren. Es folgte die erneute Etablierung einer legitimierbaren Gnade, deren Einbettung in das Rechtssystem im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreicht 10 . Man spricht vom „Sicherheitsventil" 1 1 , vergleichbare, der modernen Mechanik entlehnte Metaphern tauchen auf, und es beginnt die große Debatte über Recht und Billigkeit, in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts repräsentiert durch die Ringvorlesung der Tübinger Rechtsfakultät „Summum ius summa iniuria" 12 und die große, eine Summe ziehende Monographie von Karl Engisch über „die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit" 1 3 . Unbestritten geht diese Entwicklung freilich nicht ihren Gang. Der Verlust des traditionellen Gerechtigkeitsbegriffs wird beklagt 6 Michael Köhler, Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen, in: Karsten Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, Berlin 1990, S. 57ff(60). 7 Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953, S. 208. s Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1985. 9 Auch die Vorschläge einer bestimmten Richtung der modernen Kriminalsoziologie, die Probleme des Strafrechts an die Gesellschaft zurückzugeben, wecken gelegentlich diese illusionären und gefährlichen Assoziationen. 10 Engisch aaO. 11 Vgl. die Wiedergabe der Diskussion bei Huba, aaO., S. 118. n Tübingen 1963. 13 S. oben Fn. 7.
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als ein Medium zur „Absorption der Kontingenz" 14 . Archaische Gesellschaften seien dessen noch nicht fähig gewesen, und heutige Gesellschaften nicht mehr 15 . Die Erklärung dafür ist der Positivismus. Das Recht „gilt nicht mehr wegen normimmanenter Qualitäten, sondern deshalb, weil es geändert werden könnte, also seiner Kontingenz wegen" 16 . Freilich liefert diese neue Retrospektive auf das Recht - gegen ihre Intention offenbar - auch die Prognose, wie es nun weitergeht. Der Perfektionsbegriff der Vernunft wird durch den Entwicklungsbegriff ersetzt, „Infolgedessen kann die Welt nicht mehr als endlich-geordnete Menge (...,) sondern nur als unbestimmter Horizont weiterer Möglichkeiten begriffen werden" 17 . Aber man kann den soziologischen Positivismus, der sich darin andeutet, zugleich auch als eine den Gesetzespositivismus inhaltlich bestimmende und die ihm immanente Macht der Veränderung begrenzende Kraft 18 verstehen und darin einfach die natürliche Konsequenz für eine Welt sehen, die nicht mehr mit den abstrakten vacua des idealistischen Bildes vom Menschen arbeitet, sondern ihn so sieht, wie die modernen empirischen sozialen Wissenschaften ihn nicht zuletzt mit Blick auf seine Bedürfnislagen zu begreifen lehren. Die Konsequenzen für den modernen Begriff vom Recht, die daraus zu ziehen sind, gehen eindeutig in die Richtung einer stärkeren Akzentuierung der Individualisierung - im Kontext der noch nicht abgeschlossenen Debatte über „Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken" 19 . Daß die Billigkeit, die mehr und mehr als Synonym für Individualisierung erscheint, dem Rechtsbegriff freilich etwas abverlangt, ist sehr bald gesehen worden 20 . Sie schaffe „grenzenlose Konkordanz von Wertbewußtsein und Wertverwirklichung", und das fordere „äußerste Sensibilität", wenn man „dem
14
Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981, S. 379. Luhmann aaO. 16 Luhmann aaO. 17 Luhmann aaO., S. 378/379 mit vielen geistesgeschichtlichen Belegen. 18 Genauer dazu Klaus Lüderssen, Zur Dialektik von konsensorientiertem und entwicklungslogischem Rechtsdenken, in: Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1996, S. 15ff. 19 So der Generaltitel für die Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in Saarbrücken, 1990; vgl. dazu das unter dem gleichen Titel edierte Beiheft 45 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie, Stuttgart 1992. 20 Joachim Gernhuher, Die Billigkeit und ihr Preis, in: Summum ius summa iniuria aaO., S. 205ff. 15
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Wertsystem bis in seine feinsten Verästelungen und dem Sachverhalt bis in seine letzten Schichten" folge21. 2. Das Leitprinzip
der
Billigkeit
Es ist deshalb nicht überraschend, daß mit dem Begriff der Billigkeit der Ubertritt in den Bereich der Gnade angezeigt ist. „Identifizierung von Gnade und Individualisierung der Billigkeit"22 ist die Parole, im Rahmen allerdings einer entsprechenden Vorstellung über „verantwortliche Handhabung der Gnadengewalt in einem modernen Gemeinwesen" 23 ; sie könne „nicht grundlos, nicht unerforschlich sein wie ein göttlicher Ratschluß, die ,iusta causa agratiandi', muß stets durchscheinen, die Gnade also gerechte Gnade sein. Diese iusta causa liegt in den besonderen Umständen des einzelnen Falles, die Berücksichtigung verlangen" 24 . Im Oszillieren der Entscheidungen zwischen „Regel und Fall" 25 , gekennzeichnet einerseits durch das - klassische - Erfordernis, daß Recht als Regel auftritt, und andererseits durch das - moderne - Bedürfnis, Recht als kommunikationsorientiert zu begreifen, kristallisiert sich die Minimalforderung heraus, daß es keine Regel geben kann, die auf die Individualität eines Falles abstellt, dem per definitionem kein zweiter Fall gleicht26. Damit erhebt sich an dieser Stelle die Frage, wo das Recht endet und die Gnade beginnt, oder aber ob auch im Rahmen der Gnadenentscheidung „Billigkeit, die am unwiederholbaren singulären Ereignis orientierte Problembearbeitung" ist, „Willkür" bedeutet 27 . 3. Gnade ohne Regel?
Würde man sich zu dieser Restriktion auch der Gnade entschließen, so hätte man zwar jene wirklich nicht mehr umkehrbare Rechtsentwicklung im Rücken, die sich mit dem Trend zu „induktiver, sich von Fall zu Fall vortastender und erst nach Verfestigung von der Legislative aufgegriffener Rechtsbildung" 28 im Rechtsleben 21 Gernhuber aaO., S. 209. Als historischer Anwendungsfall wird beispielsweise die Etablierung der Vertragshilfe angeführt, vgl. dazu Engisch aaO., S. 210/211, mit Belegen. 22 Engisch aaO., S. 209. 23 Engisch aaO., S. 208. 24 Engisch aaO. 25 Vgl. das unter diesem Titel gehaltene Referat des Verf. im Beiheft des Archivs f ü r Rechts- und Sozialphilosophie, aaO., S. 29ff. 26 AaO. 27 Huha aaO., S. 122. 28 Gernhuber aaO., S.212.
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längst ihren Platz errungen hat 2 9 . Gleichwohl stünde man bei einer Reihe von Gnadenentscheidungen vor einer unübersteigbaren Barriere - in dem Sinne, daß sie, weil gar keine Regel gefunden werden kann, zu verweigern wäre. Es wird sich zeigen, daß diese letzte Entscheidung 30 für die Beurteilung der hier interessierenden Gnadenpraxis nicht getroffen zu werden braucht, denn die sie leitenden individualisierenden Überlegungen und Feststellungen halten sich durchaus im Rahmen möglicher Regelbildung. Auf der Basis dieser Einsichten kann jetzt übergegangen werden zu:
C. Gnade und Strafrecht Dieses Verhältnis ist geprägt von den „Legitimationskrisen des Strafrechtssystems" 31 . Die Gnade spielt im Strafrecht deshalb eine besondere Rolle, ist ungleich stärker integriert als in anderen Rechtsgebieten.
I. Die besonderen Anwendungsfälle strafrechtlicher Gnade Obwohl sich mit der Strafe gerade auch die außerrechtliche, irrationale Komponente der Gnade verbindet, im Sinne eines „Gnade vor Recht" -Ergehenlassens, überwiegt in der modernen Strafrechtswelt doch der Eindruck, es handele sich letztlich um die Integration der Gnade in das r e c h t l i c h e Instrumentarium. „Das Gnadenrecht ist ein beachtliches Mittel zur Korrektur zu weit geratenen materiel29 Beginnend mit der (vorerst)zu weitgehenden Freirechtsbewegung, über die Interessenjurisprudenz bis hin zu Josef Essers „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" (Tübingen 1956) und Theodor Viehwegs „Topik und Jurisprudenz" (München 1953), dann allerdings unter dem Einfluß Luhmanns stagnierend und nur in Einzelmaterien - zum Beispiel im Arbeits-, Sozial- und Jugendrecht - wieder hervortretend, so daß man wirklich die Kontinuität „der Billigkeit als bewegendem Prinzip der Rechtsgeschichte" erkennen kann (Gernhuber aaO., S. 211 mit Nachweisen) - das alles unter Inkaufnahme einer wachsenden „Weitläufigkeit und Unübersichtlichkeit des Rechts", eines relativ niedrigen Grades „begrifflicher Verdichtung und Ausformung" (Gernhuber aaO.)· 30 Die Rechtsordnung steht gelegentlich durchaus vor diesen „letzten" Entscheidungen, ohne sich selbst aufgeben zu wollen (etwa bei Problemen der Legalisierung verdeckter Ermittlungen: Wenn etwas zur Regel wird, muß die Konzession an die Ausnahme gefunden werden, soll das Instrument geheim und damit einsatzfähig bleiben, vergleichbare Probleme werden in dem Maße auftreten, wie „Absprachen" im Strafprozeß Regeln unterworfen werden; es wird dann die Absprache jenseits der „Absprache" geben. 31 Dimoulis, Kritische Vierteljahresschrift aaO., S. 368.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
559
len Rechts" 3 2 . Daß in diese schließlich gefundene Konzeption der seit Jahrhunderten empfundene und vielleicht nie ganz überwundene „Widerspruch zur strengen Strafgerechtigkeit" eingeht, zeigen Formulierungen wie die, Gnade ziele „auf die Verwirklichung des Rechtsprinzips in seiner ursprünglichen Einheit über die begrenzten Teilfunktionen staatlicher Gerechtigkeit hinaus" 33 . Demgemäß gibt es bereits eine tradierte Aufgabenverteilung. Das Gnadenrecht „dient zum einen der Korrektur anders nicht mehr behebbarer Fehler bei der Rechtsanwendung, zum anderen der Beseitigung unverhältnismäßiger, vom Gesetzgeber nicht beabsichtigter Härte bei der Rechtsanwendung im Einzelfall" 34 .
II. Die Zuspitzung der Individualisierung So sehr man vielleicht davon sprechen mag, daß das „hochindustrialisierte Wirtschaftsleben unserer Zeit nicht mehr voll von einem der Individualethik allein verbundenen Recht bewältigt werden" kann 35 , so wenig gilt das für das Strafrecht, das unablässig an der Verfeinerung, das heißt der Subjektivierung des Schuldbegriffs arbeitet. Die Spannung zwischen „ius strictum" und „ius aequum" ist hier besonders groß. Daß sie im Gnadenwege immer nur mit dem Ergebnis der Strafmilderung oder gar -aufhebung aufgelöst wird, macht die Identifizierung von Gnade und individualisierender Billigkeit keineswegs, wie behauptet worden ist 36 , unverständlich; hier dürfen die balancierenden Rechtssätze von „nulla poena sine lege" und das Verbot der „reformatio in peius" nicht übersehen werden 37 .
III. Gewaltenteilung und Justiziabilität Die Frage, ob „das Recht zur Begnadigung aus dem Gewaltenschema herausfalle" 38 , scheint freilich lange offengeblieben zu sein. Denn zu bestimmen, „welche Art Staatsgewalt" die Gnade sei, muß einer auf das Gewaltenteilungsschema beschränkten Sichtweise Verlegenheit bereiten" 39 . Wolf gang Naucke, Strafrecht, Eine Einführung, 8. Auflage, Neuwied 1998, S. 120. Michael Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin/Heidelberg/New York 1997, S. 693; s.auch schon in Karsten Schmidt aaO., S. 60ff. 34 Hans-Heinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5.Auflage, Berlin 1996, S. 923. 35 Gernhuher aaO. 36 Wilhelm Grewe aaO. 37 So zutreffend Engisch aaO., S. 210. 38 Köhler, in Karsten Schmidt aaO., S. 61. 39 Köhler aaO. 32
33
560
Klaus Lüderssen
Aber inzwischen weiß man, daß Strafverfolgung ja ohnehin auf mehrere Staatsgewalten verteilt ist (man denke insoweit nur an den Strafvollzug). Der Strafanspruch der Allgemeinheit ist - unbeschadet der zentralen Rolle der Gerichte - dem Staat, nicht einer seiner Staatsgewalten übertragen 40 . Auch der in diesem Zusammenhang häufig gehörte Hinweis, Gnadenakte seien nicht justiziabel, kann insoweit keine ernsten Zweifel aufkommen lassen. Denn auch andere Entscheidungen, die im Laufe eines Strafverfahrens fallen, sind - so sehr man das beklagen kann - nicht justiziabel; das gilt insbesondere für das Ermittlungsverfahren41. Es braucht hier also gar nicht entschieden zu werden, ob der in der Literatur allmählich überwiegenden Auffassung, daß Gnadenakte nach dem Grundsatz des Art. 19 Abs. 4 G G der richterlichen Uberprüfung zugänglich gemacht werden müssen 42 , zuzustimmen ist oder der entgegengesetzten Auffassung der Rechtsprechung 43 . IV. Sachliche und zeitliche
Akzentuierungen
Wenn also allgemein im Strafrecht die Gnade einen viel festeren Platz hat als im übrigen Recht, so gilt das ganz speziell dort, wo man sich substantiell (also bei der Schuld) oder formell (bei Vollstreckung und Vollzug) gleichsam am Ende des strafrechtlichen Zurechnungsprozesses und seiner Folgen für den Verurteilten befindet. Das wird ganz deutlich bei D. Ersatzfreiheitsstrafe und Gnade Die Ersatzfreiheitsstrafe tritt nach § 43 Satz 1 StGB an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe.
40 Vgl. dazu im einzelnen Lüderssen, in Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur StPO, 25. Auflage, Berlin 1999, Einleitung, Abschn. L, Zur Methode der Rechtsanwendung im Strafverfahren, Rdziff. 33. 41 Vgl. dazu Lüderssen aaO., Rdziff. 73; Hamm, Anwaltsblatt 1986, S. 66. 42 Vgl. die Ubersicht bei Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19, Abs. 4, Rdziff. 232f. 43 So zuletzt das Hanseatische O L G in Hamburg, Juristische Rundschau 1997, S. 255, mit ablehnender Anmerkung von Franz Streng. Besonders instruktiv auch die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassunsgerichts (BverfG E 25, 352ff), auf die sich die spätere Rechtsprechung durchgehend stützt, bei Klaus Stern in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III, 1, München 1988, S. 1372ff.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
I. Die jedem Gnadenerweis
vorausgehenden
561
Vorentscheidungen
Sie verteilen sich auf das Gericht und die Vollstreckungsbehörden. 1. Das Gericht Es bestimmt die Zahl der Tagessätze und deren Höhe. Sachliche Erwägungen zur Ersatzfreiheitsstrafe werden nicht angestellt; vielmehr beziehen diese sich allein auf die Geldstrafe, denn § 43 Satz 1 StGB sieht die Ersatzfreiheitsstrafe nur als Rechtsfolge für die nachträglich eintretende Uneinbringlichkeit der Geldstrafe vor: „Die Höhe der Ersatzfreiheitsstrafe ist kein Resultat spezialpräventiver Überlegungen, sondern Folge der verhängten Geldstrafe" 44 . 2. Die
Vollstreckungsbehörden
In ihrer Hand liegen alle weiteren Entscheidungen (§ 459e StPO). Das heißt, die Staatsanwaltschaft ist allein zuständig (§ 451 StPO) mit der Rückausnahme der Vorschrift des § 459f StPO, wonach das Gericht entscheidet, ob die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unterbleiben soll. Das Institut der Ersatzfreiheitsstrafe hat seinen Schwerpunkt also im Vollstreckungsrecht, einer Materie, die unstreitig der gnadenweisen Behandlung nähersteht als die Tätigkeit des erkennenden Gerichts, die Strafzumessung eingeschlossen. II. Die
Mängellage
Diese Regelung könnte die Vermutung nahelegen, daß die Ersatzfreiheitsstrafe keine über die vom Gericht für richtig gehaltene und begründungspflichtige Zumessung einer Geldstrafe hinausgehende selbständige Bedeutung hat. Alles was das Gericht darüber sagt, was der Verurteilte zu erleiden hat, erschöpft sich in der Geldstrafe. Doch so ist es bekanntlich nicht. Nach herrschender Meinung ist die Ersatzfreiheitsstrafe kein Beugemittel, sondern echte Freiheitsstrafe45. Wird sie vollstreckt, passiert mit dem Verurteilten etwas, wozu sich das Gericht nicht geäußert hat, nicht zu äußern brauchte. Man muß sich klarmachen, was das bedeutet: eine Freiheitsstrafe ohne Richterspruch. Das, was den Verurteilten im Falle der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe im Ergebnis trifft, ist der richterlichen Tätigkeit, weil eine begründete Strafzumessung fehlt, entzogen.
Bublies aaO., S. 51. Vgl. Walter Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 25. Auflage, München 1997, § 43 Rdziff. 2 (mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). 44
45
562
Klaus Lüderssen
1. Vorwegnehmende Schadensbegrenzung durch das Gericht? Man könnte sich vorstellen, daß dieser durch das Zusammenspiel von § 43 StGB und § 459e StPO ausgelöste Effekt gemindert oder sogar aufgehoben werden könnte, wenn das Gericht - praeter, aber nicht ohne weiteres contra legem - in den Fällen, in denen es primär an eine Geldstrafe denkt, sekundär und alternativ, sozusagen, seine Strafzumessungserwägungen auf eine eventuell auch stattfindende Freiheitsentziehung erstrecken würde 46 . Aber man weiß, daß das nicht geschieht47. Es bleibt also bei dieser Regelungslücke. Sie wird auch nicht durch die Vorschrift des § 459f StPO aufgefangen. Einmal deshalb nicht, weil diese Vorschrift nur auf eine Ausnahme - unbillige Härte der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe - zielt, während die Regelungslücke darin besteht, daß für den RegeltaM die richterliche Entscheidung nicht vorgesehen ist. Zum anderen wird § 459f StPO auffällig selten angewendet 48 . 2. Keine späteren Korrekturen durch die Vollstreckungsbehörde Mit der Regelungslücke - richterliche Erwägungen zur Zumessung der Ersatzfreiheitsstrafe sind im Gesetz nicht vorgesehen und werden demgemäß von den Richtern auch nicht vorgenommen sind die Defekte im Betrieb der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe förmlich vorprogrammiert. Die Vollstreckungsbehörde muß, gestützt auf § 459e Abs. 1 StPO, nachholen, was das Gericht nicht getan hat, und ist damit per definitionem überfordert. Es überrascht daher nicht, daß schon die erste Voraussetzung sachgerechter Entscheidungen auf diesem Gebiet, nämlich entsprechende Informationen über die Person des Verurteilten, fehlen. Das ist belegt für das Material, das für die Prognose, ob es zur Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe kommen könnte, aufbereitet werden müßte. Zwar sieht Nr. 14 der vornehmlich für den Staatsanwalt bestimmten Richtlinien für das Strafverfahren vor, daß die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Beschuldigten abzuklären sind, und die Richtlinie beläßt es keineswegs bei dieser allgemeinen Aufforderung, sondern gibt darüber hinaus eine Reihe ganz konkreter Handlungsanweisungen. Angesichts des dargelegten richterlichen Kompetenzdefizits läge es nahe, daß wenigstens die Staats46
Für diese Prüfungspflicht tritt ein Walter Stree, aaO., § 40, Rdziff. 4. Werner Bublies, Die Aussetzung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe, Berlin 1989, S. 51-53. 48 Bernd Volckart, Verteidigung in der Strafvollstreckung und im Vollzug, 2. Auflage, Heidelberg 1998, S. 76. 47
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
563
anwaltschaft - mit Blick auf den eventuell später nach § 459e StPO eintretenden Handlungsbedarf (Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe) sich schon während des Erkenntnisverfahrens informiert. Aber wie sich mittelbar aus der Tatsache ergibt, daß die Justiz „zum Zeitpunkt der Sanktionsentscheidung über sehr wenig Informationen zur Bestimmung der Tagessatzhöhe" verfügt 49 , wird diese Anweisung offenbar nicht oder nur unzureichend befolgt. Schon über das „Ob" der Ersatzfreiheitsstrafe wird also am Ende entschieden, ohne daß die daran Beteiligten - das Gericht durch die Verurteilung zur Geldstrafe mit dem Automatismus der alternativen Ersatzfreiheitsstrafe, die Staatsanwaltschaft in ihrer Eigenschaft als spätere Vollstreckungsbehörde - das Erforderliche wissen. Das muß bereits für das Erkenntnisverfahren konstatiert werden. Kommt es zur Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe, werden die Informationsmängel aber keineswegs behoben 50 . Erst recht gilt dies aber nun für das „Wie" der Ersatzfreiheitsstrafe. Hier schweigen die zuständigen Strafverfolgungsorgane so gut wie ganz. 3. Strafrechtliche
und strafprozeßrechtliche
Lösungen
Deshalb erhebt sich die Frage, wie diese doppelte Mängellage zu verwalten ist. a) Das Versagen des
Gesetzgebers
In erster Linie geboten wäre eine Gesetzesänderung, welche die Zuständigkeit der Gerichte entsprechend erweitern würde. Damit wäre freilich eine sehr tiefgehende Umstrukturierung des Geldstrafensystems verbunden; im Grunde würde es darum gehen, etwa dem Vorbilde ausländischer Regelungen zu folgen, für den Fall der Nichtbeitreibbarkeit der Geldstrafe die nächstschwerere Strafart anzuordnen, und dafür - alternativ - die notwendigen Strafzumessungsregelungen vorzusehen. Diese oder eine vergleichbare Konzeption kann hier nicht weiter verfolgt werden. Eine andere Initiative könnte darin bestehen, die Anwendung des § 459f in irgendeiner Weise zu mobilisieren. Aber, wie bereits dargelegt, würde damit der
49 Helmut Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, Frankfurt am Main 1994, S. 101 ff. 5 0 Dazu gehört auch, daß in sehr vielen Fällen die Ersatzfreiheitsstrafe ohne Mahnung des Rechtspflegers angeordnet wird (Janssen aaO., S. 213); Grund dafür ist wohl unter anderem „die routinemäßige Verlagerung der ,Initiativpflicht' auf den Verurteilten" (Janssen, aaO., S. 211); vgl. im übrigen auch die kritische Darstellung bei Volckart, aaO., S. 61ff.
564
Klaus Lüderssen
Kernbereich der notwendigen Entscheidungen nicht erreicht. Also wäre wieder der Gesetzgeber gefragt. Indessen deutet nichts darauf hin, daß er jetzt oder in absehbarer Zeit tätig werden wird. Zu denken wäre ferner an eine ausdrückliche Einbeziehung der Ersatzfreiheitsstrafen in die Regelung des § 57 StGB; wiederum muß allerdings konstatiert werden, daß in diese Richtung gehende Bestrebungen des Gesetzgebers nicht erkennbar sind. b) Unterbrechung der Vollstreckung gemäß § 455a StPO? Diesen - übrigens nur unter relativ eng formulierten Voraussetzungen eröffneten - Weg beschreitet das Justizministerium BadenWürttemberg 51 . Dabei wird von Einzelprüfungen abgesehen; vielmehr wird durchweg nach der Hälfte der Verbüßungszeit entlassen; Ausnahmen bilden die Fälle, in denen aus besonderen Gründen „namentlich solchen der öffentlichen Sicherheit i.S.v. § 455a StPO von der Anordnung des Erlasses abgewichen werden soll" 52 . Auch der spätere gnadenweise Erlaß der Reststrafe 53 (nach einer schwer verständlich berechneten - Bewährungszeit) setzt individuelle Prüfungen voraus. Insgesamt hat diese Praxis dennoch mit individualisierender Gerechtigkeit wenig zu tun und wird hier nicht weiter verfolgt. III. Gnade - Bedeutung und
Handlungsmöglichkeiten
Damit ist eine geradezu klassische Ausgangslage für eine - vorläufige - Lösung der Probleme im Wege der Gnadenentscheidung gegeben54. Keineswegs handelt es sich etwa um marginale Fragen. Von 372.896 Verbüßungen von Freiheitsstrafen entfallen 51.118 auf Ersatzfreiheitsstrafen . Diese Proportionen im Bundesdurchschnitt finden ihre Entsprechung in den einzelnen Ländern.
51
Erlaß vom 3.3.1998. AaO., S. 5. 53 AaO., S. 5. 54 „Sie soll den inneren Widerspruch beheben, der in der weiteren Anwendung und insbesondere der Vollstreckung eines inzwischen im Fortschritt der Rechtsidee eingeschränkten oder aufgehobenen Strafgesetzes läge" (Köhler aaO., S. 67). 55 Vgl. die Mitteilungen bei Wendisch, in: Löwe-Rosenberg aaO., 25.Auflage 1997, § 459, Rdnr. 4, Fn. 5. 52
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
1. Materielle
565
Anknüpfungspunkte
Für die Sachlage, welche die Gnadenbehörden vorfindet, ist - wie bereits dargestellt - kennzeichnend, daß es sowohl für die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe wie für die Ausgestaltung ihrer bisherigen Verbüßung an nachvollziehbaren Begründungen fehlt. Da, wie ebenfalls dargelegt, für die Ausgestaltung der Verbüßung im Gnadenwege nichts mehr getan werden kann, könnte man an die Korrektur der Anordnung denken. Auch sie kann aber, wie gesagt, nicht rückwirkend beseitigt werden. Daher kommen nur noch die Aussetzung oder der Erlaß der Reststrafe in Betracht. a) Modell einer Analogie zu § 57 StGB Darauf gerichtete Gnadenentscheidungen könnten sich wegen der restriktiven Auslegung des § 57 StGB durch den überwiegenden Teil der Rechtsprechung 56 bzw. einer bisher unterbliebenen Änderung des § 57 StGB 57 als notwendige Korrektur der Gesetzesanwendung oder vorweggenommene Reform darstellen und damit einem anerkannten Typus von Gnade entsprechen 58 . Diesen Weg zu gehen liegt insofern nahe, als es ja immerhin eine vor allem in der Literatur breit entfaltete und vereinzelt auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgegriffene Argumentation für die Anwendbarkeit des § 57 StGB auf Ersatzfreiheitsstrafen gibt59. Allerdings wäre diese Argumentation nur in bezug auf die Voraussetzungen für die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe wichtig. Denn die Folge - Aussetzung zur Bewährung - wird ja in der Regel gar nicht angestrebt. Damit aber ist die Analogie zu § 57 StGB von der Gnadenbehörde bereits verlassen; und es kann sich nur noch handeln um:
56
Neuerdings auch: Thüringisches Oberlandesgericht, Beschluß vom 30.10.1997 und O L G Celle, Beschluß vom 22.6.1998; s. im übrigen die Nachweise bei Herbert Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 48. Auflage, München 1997, S. 57 Rdziff. 2a. 57 S. schon oben S. 18. 58 Belege bei Mickisch aaO., S. 122ff. 59 S. Belege bei Tröndle aaO.; ausführlich zum ganzen: Werner Bublies, Die Aussetzung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe, Berlin 1989; Volckart, aaO., S. 138ff. KarlHeinz Groß, Besprechung von Beschlüssen des Thüringer O L G sowie der O L G Celle und Bamberg, Strafverteidiger 1999 (im Erscheinen).
566
Klaus Lüderssen
b)
Straferlaß
Sachlich gerechtfertigt werden können diese Entscheidungen dann, wenn sie im Einzelfall eine über die Gesetzesanwendung hinausgehende, individualisierende Gerechtigkeit verwirklichen. Daß dies die Grundlage für die Beurteilung der hier interessierenden Gnadenerweise ist, wurde bereits dargelegt60. Hinzukommen muß der Nachweis, daß es rechtlich überzeugende Gründe dafür gibt, dieses Ziel anzustreben. Denn es versteht sich nicht von selbst; die Rechtsordnung hat oft mit Lebensverhältnissen zu tun, bei deren Regulierung individualisierende Gerechtigkeit nur in sehr beschränktem Maße zulässig ist und auch Gnadenerweise nicht in Betracht kommen. Daß im Strafrecht eine besonders starke Tendenz der Realisierung individueller Gerechtigkeit angelegt ist, ist ebenfalls schon gesagt worden. Die im Strafrechtssystem ausgebildeten Regeln und ihre dogmatische Verfeinerung tragen dem deshalb ohnehin Rechnung. Wenn es trotzdem noch zusätzlicher Gnadenentscheidungen bedarf, so müssen auch dafür besondere Gründe angegeben werden. Sie liegen in den notorischen Fällen darin, daß mit der alternativen Androhung der Ersatzfreiheitsstrafe im Urteil des Gerichts und ihrer Anordnung und Vollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde Folgen verbunden sind, die eben jener auf die Realisierung individueller Gerechtigkeit gerichteten Intention unseres Strafrechts widersprechen und doch nicht „teleologisch" beseitigt werden können. Soweit es sich dabei um mögliche zusätzliche Interpretationen durch das Gericht handeln würde, gilt das, wie dargelegt, ohne Einschränkung. Was die Tätigkeit der Vollstreckungsbehörden angeht, so wären Korrekturen in geringem Umfang, wie ebenfalls dargelegt, möglich; Spekulationen darauf müssen aber aus praktischen Gründen ausscheiden. Auch die Gnadenentscheidung kann insoweit nur begrenzte Korrekturen vornehmen 61 . Um so mehr scheint es angezeigt, daß sie diesen Handlungsspielraum voll ausnutzt. Das heißt, es ist zu prüfen, ob die für die Vorentscheidungen nicht erhobenen Informationen über die Voraussetzungen, unter denen der Vollzug der Freiheitsstrafe im Falle der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe sinnvoll erscheint, durch die Gnadenbehörde nachgeholt werden dürfen, mit der Folge, daß im Falle des NichtVorliegens jener Voraussetzungen der Vollzug abgebrochen werden kann. 60 61
S. oben S. 360ff. S. oben S. 562ff.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
567
„Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" (§ 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz). Dem entspricht, daß schon bei der Strafzumessung „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben in der Gesellschaft zu erwarten sind", berücksichtigt werden sollen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Freilich soll das auf der Grundlage der Schuld des Täters geschehen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Diesen Gedanken nimmt das Strafvollzugsgesetz allerdings nicht auf. Stattdessen wird aber noch gefordert: „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten" (§ 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz). Zu den Vollzugszielen wird diese Aufgabe des Strafvollzuges allerdings nicht gezählt, wie sich daraus ergibt, daß diese Bezeichnung ausdrücklich nur auf die Regelung des § Abs. 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz bezogen ist. Das mag denn auch der Grund dafür sein, daß der generalpräventive Effekt des § 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz bei den Strafzumessungsregeln des § 46 StGB wiederum nicht auftaucht. Uber diese nicht ganz gelungene Synchronisierung von Strafzumessungs- und Strafvollzugsregeln ist viel geschrieben worden 62 , und es ließe sich durchaus begründen, für die Gnadenentscheidung seien nur die Vollzugsziele des § 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz verbindlich. Darauf soll es hier aber nicht ankommen. Vielmehr ist der ganze Regelungskomplex jetzt für die Prüfung zu Grunde zu legen, ob das von Gericht und Vollstreckungsbehörde hinterlassene Informationsdefizit von der Gnadenbehörde noch aufgefangen werden kann und was sich daraus für ihre Entscheidungen ergibt. Das wird zunächst erörtert für das aa) Vollzugsziel der Re sozialisier ung Zunächst gilt es, einen Uberblick zu gewinnen in bezug auf den (1) Stand der Informationen
bei den
Gnadenbehörden
Der Text stützt sich insoweit - paradigmatisch - auf die Daten, die in der „Jahresauswertung 1997" 63 über das von der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg entwickelte Modellprojekt ,Ersatzfreiheitsstrafen' mitgeteilt werden.
62 Vgl. den Überblick bei Frank Arloth, Strafzwecke im Strafvollzug, Goltdammers Archiv 1988, S. 403ff. 63 Vorgelegt am 26.11.1998.
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76,5% bzw. 83,9% 6 4 der Verbüßer von Ersatzfreiheitsstrafen (insgesamt 969 6 5 ) verfügen über kein Erwerbseinkommen. Bei 2 3 % der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer konnte eine Abhängigkeit von harten Drogen festgestellt werden, bei 18% lag eine Alkoholabhängigkeit vor. Es wird eine erheblich über diesen Zahlen liegende Dunkelziffer vermutet 66 . Das ergebe sich aus den übrigen Lebensumständen, „die in der Regel eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit indizieren oder zumindest nahelegen". 77% der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer sind ohne festen Wohnsitz. „Dieser Personenkreis wohnt wechselnd und immer nur kurzfristig bei Freunden, Bekannten, Eltern, in Hotels, Obdachloseneinrichtungen oder in Asylunterkünften' 67 . Die Schuldenbelastung ist erheblich. Sie geht weit über das hinaus, was sich aus den Akten ergibt. Das Verhalten im Strafverfahren (in „72% der Fälle haben die Beschuldigten auf das Strafverfahren nicht reagiert" 68 ) und im Vollstreckungsverfahren (in knapp der Hälfte der Fälle kommt es überhaupt nicht zur Kontaktaufnahme mit der Staatsanwaltschaft; im übrigen ist nur in 50% der Fälle Ratenzahlung beantragt worden bzw. in 10% der Fälle sind erneute Ratenzahlungsmöglichkeiten erbeten worden; in 2 % der Fälle ist um Stundung gebeten worden, und in 25% der Fälle ist ein Antrag auf Tilgung durch gemeinnützige Arbeit gestellt worden 69 ) deute auf tiefsitzende Schwächen der Handlungskompetenz. Weitere Schlußfolgerungen (inklusive Schätzung von Dunkelziffern) ergeben sich aus den Straftaten der Verbüßer von Ersatzfreiheitsstrafen. Es handelt sich vor allem um Armuts- und Beschaffungskriminalität in einem bagatellhaften Deliktsbereich. Sie wird als „Ausdruck ihrer prekären Lebenssituation" begriffen. Bei dieser Sachlage ergibt sich:
64 Die Differenz ergibt sich daraus, daß der Bericht zwischen dem „Sozialprofil" der Verurteilten unterscheidet, je nach dem, ob ein Gnadenerweis schließlich stattgefunden hat (1. Gruppe, S. 10) oder nicht (2. Gruppe, S. 15); indessen bleibt diese Unterscheidung für die schließliche Entscheidung bedeutungslos, so daß sie hier vernachlässigt werden kann. 6 5 AaO., S. 560. 6 6 S. 18. 67 A a O . 6 8 AaO., S. 21. 6 9 AaO., S. 21.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
(2) Die Ungeeignetheit
der kurzen Freiheitsstrafe des Vollzugsziels
zur
569
Erreichung
Hier müssen die Erfahrungen aus den Diskussionen über den Sinn der kurzen Freiheitsstrafe und die in diesem Zusammenhang angestellten empirischen Untersuchungen übernommen werden 70 . Danach haben Personen mit (weitgehend sozio-strukturell bedingten) Sozialisationsdefiziten auch in einem noch so gut organisierten Behandlungsvollzug keine Chance 71 - selbst wenn man versuchen würde, mit Zwangsmaßnahmen die Resozialisierung einzuleiten, was im Prinzip unzulässig ist 72 . Gemessen am Vollzugsziel des Strafvollzugsgesetzes (§ 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz) würde es sich bei diesen Personen also um eine funktionslose Verwahrung handeln, wenn sie (weiter) die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein gnadenweiser Erlaß der Strafe also indiziert. Daß mit dieser Logik auch in vielen anderen Fällen von Verbüßungen einer Freiheitsstrafe Entlassungen zu legitimieren wären, vor allem deshalb, weil das Vollzugsziel aus anderen Gründen nicht erreicht werden kann - es fehlen in den Justizvollzugsanstalten das erforderliche Personal oder minimale institutionelle Voraussetzungen - ist nicht zu leugnen. Wenn gleichwohl daraus in der Regel nicht die Konsequenz gezogen wird, den Vollzug abzubrechen, so bedarf das sicher einer gründlichen Untersuchung. Dabei wird das Argument eine Rolle spielen, daß nicht jedes Zurückbleiben hinter den Voraussetzungen, die das Strafvollzugsgesetz für die Verbüßung der Freiheitsstrafe aufstellt, dazu führen kann, auf den Vollzug zu verzichten, weil damit praktisch die Gültigkeit der Verurteilung zur Freiheitsstrafe angegriffen wird und es nicht leicht ist, einen Rechtssatz zu mobilisieren, wonach bei Nichterreichung des gesetzlichen Zweckes die Anordnung einer Maßnahme, zumal durch ein rechtskräftiges richterliches Urteil, praktisch annulliert wird. Mit diesem im Verwaltungsrecht geläufi-
70 Nachweise jetzt bei Bernhard Villmow, Kurze Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit: Erfahrungen und Einstellungen von Betroffenen, in: Festschrift für Günther Kaiser (im Erscheinen); s.auch schon den Bericht von Klaus Sessar/Bernhard Villmow/Bernd Vonhoff, Kurzstrafenvollzug in den Justizvollzugsanstalten der Freien und Hansestadt Hamburg, Empirische Grundlagen, Manuskript 1992. Alles dieses wird bestätigt durch eine neue Untersuchung: Gabriele Dolde, Zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen; Eindrücke aus einer empirischen Erhebung, in dieser Festschrift, S. 581 ff. 71 Vgl. die Mitteilungen über einschlägige empirische Forschungen bei Villmow aaO. 72 Vgl. Lüderssen, Resozialisierung und Menschenwürde aaO.
570
Klaus Lüderssen
gen Problem ist die Strafrechtspflege, weil sich kaum jemand so weit vorwagt, bisher nicht befaßt worden 73 . Auch an dieser Stelle kann das nicht geschehen. Vor allem aber ist es auch nicht erforderlich, weil die Argumente, die für die Begründung einer Gnaifewentscheidung gelten, ja keineswegs in den diesseits der Gnade sich befindenden Teil der Rechtsordnung zu übernehmen sind. Die weitere Frage, ob der gnadenweise Erlaß der Ersatzfreiheitsstrafe in diesen Fällen eine Ungerechtigkeit gegenüber den Verurteilten darstellt, welche die Geldstrafe bezahlt haben, scheint sich aufzudrängen, ist aber am Ende mit nein zu beantworten. Denn Geldstrafe und Freiheitsstrafe entziehen sich dem Vergleich. Wäre die Ersatzfreiheitsstrafe eine Beugestrafe, so könnte das anders liegen. Da aber, sobald die Voraussetzungen für die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe eingetreten sind, diese als „echte" Freiheitsstrafe unter die Bedingungen gerät, die allgemein für deren Vollzug gelten, wird gewissermaßen eine neue Rechnung aufgemacht Das wird ganz deutlich, wenn man sich die Situation einmal unter der Voraussetzung vorstellt, daß der Verurteilte ein Recht auf Wahl zwischen Geldstrafe nach Tagessätzen und dementsprechender Freiheitsstrafe hätte. Niemand käme dann auf den Gedanken, daß mit der Option für die Freiheitsstrafe wegen der daran geknüpften Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung eine ungerechte Behandlung im Verhältnis zu demjenigen zu registrieren wäre, der die Geldstrafe gewählt hat. Daß der Wechsel von der Geldstrafe zur (Ersatz)freiheitsstrafe nicht auf einer von vornherein in das Belieben des Verurteilten gestellten Option beruht, sondern eine Folge der Nichtbezahlung der Geldstrafe ist, kann an dem Austausch der beiden Sanktionsformen und ihrer insofern selbständigen Systematik nichts ändern. Wiewohl also unter dem Aspekt der Nichterreichbarkeit des Vollzugsziels die Begnadigungen au fond gerechtfertigt sind, muß noch überlegt werden, ob nicht wegen jener anderen Aufgabe des Strafvollzuges der gnadenweise Erlaß der Freiheitsstrafe abzulehnen wäre. bb) Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe aus Gründen des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten (§2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz) Die strafrechtssystematischen Schwierigkeiten der Einordnung dieser Kategorie sollen, wie gesagt, einmal beseite bleiben. Freilich 73
Zur möglichen Funktion des Bundesverfassungsgerichts Arlotb, aaO., S. 414.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
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darf nicht übersehen werden, daß jedenfalls a u c h die Resozialisierungsziele noch hierher gehören, weil auch eine gelungene Resozialisierung mittelbar einen Schutz der Allgemeinheit bedeutet 74 . Kann sie aber nicht geleistet werden, so läuft insoweit auch die Kategorie des Schutzes der Allgemeinheit „leer". Im übrigen ist die den Schutz der Allgemeinheit anstrebende Generalprävention sowohl mit dem Strafziel der Abschreckung verknüpft (sogenannte negative Generalprävention) wie mit dem der Vergeltung, wobei der für die Reaktion der Allgemeinheit maßgebende Impuls darin gesehen wird, daß die normbewußten Bürger sich in ihrem Verhalten bestätigt fühlen und nicht in Versuchung kommen, es zu ändern (sogenannte positive Generalprävention) 75 . So problematisch es ist, negative und positive Generalprävention zu unterscheiden, so schwierig ist es auch, die einschlägigen Überlegungen, von denen sich die Gnadenbehörden leiten lassen, dementsprechend auseinanderzuhalten. Wenn es heißt, daß „Straßenverkehrs-, grobe Gewalt- und Vermögensdelikte zu Lasten öffentlicher Einrichtungen ... grundsätzlich von Gnadenerweisen ausgenommen" 7 6 sind, so könnte man das im Sinne der negativen Generalprävention interpretieren. Hin-
74 Vor allem die Fälle der Zahlungsunwilligkeit und auch der Flucht des Verurteilten sind wohl hierher zu rechnen: Resozialisierung zum Schutze der Allgemeinheit erscheint besonders angebracht. Allerdings ändert das nichts daran, daß die kurze Freiheitsstrafe auch dafür nicht das geeignete Instrument ist. In den Fällen, in denen man die kurze Freiheitsstrafe deshalb für resozialisierungs-ungeeignet hält, weil zu dieser Resozialisierung in erster Linie die Veränderung der äußeren Umstände des Verurteilten und eine damit verbundene andere „Einrichtung" seines Lebens, etwa Ausbildung, Berufstraining etc. gehören, ist das besonders offensichtlich. Dort freilich, wo die Resozialisierung eher auf die Änderung grundsätzlicher Einstellungen zielt, ist mit wenigen Monaten Einsperrens wohl nichts auszurichten. Im übrigen gilt auch für diese zu korrigierenden „Einstellungen", daß sie sozio-strukturell und sozialisations-defizitär bedingt und damit letztlich doch auch in jenem „größeren" Programm von Resozialisierung zu lokalisieren sind, für das die kurze Freiheitsstrafe nun eben ungeeignet ist. Ganz sicher ist das für den Fall der Flucht des Verurteilten anzunehmen. 75 Die Unterscheidung dieser beiden Generalpräventionsbegriffe ist problematisch (vgl. dazu Lüderssen, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, aaO. Band 1, S. 63 mit weiteren Hinweisen), was aber hier nicht weiter verfolgt werden soll und im übrigens nichts daran ändert, daß diese Begriffe sich inzwischen fest eingebürgert haben und in ihrer Bedeutungsdifferenz ungeachtet theoretischer Einwände zunehmend wahrgenommen wird (sehr plausibel dargestellt jetzt bei Lothar Kuhlen, Anmerkungen zur positiven Generalprävention, in: Bernd Schiinemann/Andrew von Hirsch/Nils Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, Karlsruhe 1998, S. 55ff). 76 Auswertung aaO., S. 3.
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gegen deuten die im gleichen Atemzug erwähnten Fälle, deren Begnadigung „in der Öffentlichkeit Unverständnis hervorrufen könnten" , eher auf eine Konzeption positiver Generalprävention. Aber ganz klar ist das nicht, wird es auch nicht durch Hinzunahme weiterer Mitteilungen über „Gründe für die Ablehnung eines Gnadenerweises": „Art oder Schwere des Delikts (106 Fälle) [...] offensichtliche Zahlungsfähigkeit, aber Zahlungsunwilligkeit des Verurteilten (21 Fälle) [...] Flucht des Verurteilten (16 Fälle)" 7 8 . Indessen braucht das hier nicht endgültig aufgeklärt zu werden, weil die Generalprävention beider Spielarten zu den anerkannten Strafzwecken zählt und unter Umständen Resozialisierungserwägungen zurückdrängt, gleichviel, ob sie darin bestehen, daß eine Resozialisierung bereits erfolgt ist oder mit einer geringeren Strafe oder anderen Sanktionen (besser) erreicht werden oder mit der kurzen Freiheitsstrafe gar nicht angestrebt werden kann. Jeweils bleibt die Generalprävention als Strafzweck übrig, und wenn trotz einer „Fehlanzeige" bei der Resozialisierung sich die Uberzeugung bildet, daß mit Blick auf diese Generalprävention der Vollzug der Freiheitsstrafe (hier des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe) noch sinnvoll erscheint, dann soll es keine Begnadigung geben. So liegt es auf das Ganze gesehen bei den soeben mitgeteilten Fallgruppen. Das heißt, auch für sie gilt, daß der Strafzweck der Resozialisierung nicht sinnvoll verfolgt werden kann. Dennoch scheiden sie wegen der zusätzlichen, jenseits der Resozialisierung liegenden, virulent bleibenden Strafzwecke für die Begnadigung aus - im Sinne der hier angedeuteten Interpretation des § 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetzes. 2. Formelle
Anknüpfungspunkte
a) Begründungspflicht - allgemein Gnadenentscheidungen enthalten in der Regel keine Begründungen. Das entspricht der Tradition und findet beispielsweise im modernen Gnadenrecht seinen Ausdruck im Saarländischen Gesetz über die Begnadigung 79 , wonach ( § 1 1 Abs. 1) die Gründe für die Gnadenentscheidung nicht bekanntzugeben sind. Wer für die rechtliche Uberprüfung von Gnadenakten eintritt 80 , hat mit dieser Vorschrift bzw. mit dieser Praxis Schwierigkeiten; die wichtigsten An77 78 79 80
AaO. AaO., S. 17. Vom 16.3.1994, Amtsblatt des Saarlandes 1994, Nr. 24, S. 744. S. darüber oben S. 564/565.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
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haltspunkte für die Einlegung eines Rechtsmittels sind immer die Begründungen der Vorentscheidung81. Macht man, wie im vorliegenden Text, den rechtlichen Charakter der Gnade nicht davon abhängig, daß Gnadenentscheidungen rechtlich anfechtbar sind, so kommt es auf die Mitteilung der Gründe nicht mehr an. Das heißt aber nicht, daß die Gnadenentscheidungen grundlos, also willkürlich ergehen dürfen. Mit anderen Worten, für die „Herstellung" der Gnadenentscheidung bedarf es natürlich hinreichender Gründe. b) Individualisierende
Begründung?
Der ideale Fall einer individualisierenden Begründung ist sicher dann gegeben, wenn man die persönlichen Verhältnisse und das soziale Umfeld bei jedem Verurteilten so weitgehend wie nur möglich aufklärt. Selbstverständlich sind dem irgendwo Grenzen gesetzt, und außerdem ist daran zu erinnern, daß schon im Rahmen der strafrechtlichen Zurechnung bei dem Merkmal, das über die individualisierende Zurechnung entscheidet - der Schuld - , normative Einschränkungen gemacht werden; das heißt gewisse Konfliktlagen höchstpersönlicher Art werden einfach nicht anerkannt82. Auch bei Vollzugsentscheidungen sind objektivierend-normative Einschränkungen unvermeidbar, wie sich aus dem freilich nicht leicht harmonisierbaren Zusammenspiel von Vollzugszielen, Schutz der Allgemeinheit und vielleicht auch Fortwirken des Strafzumessungskriteriums „Schuld" ergibt83. Hinzu kommt, daß, was das Vollzugsziel - die Resozialisierung - angeht, ein gewisser Grad von Verallgemeinerung bei der Fixierung dessen, was für den straffällig gewordenen Täter durch Vollzug zu erreichen ist, auch nicht ausgeschlossen werden kann, und dem entspricht auch die ebenfalls auf allgemeine Begriffe bezogene Bestandsaufnahme über die Sozialisationsdefizite, von denen auszugehen ist. Ganz deutlich zeigt sich dieses, wie man vielleicht vermittelnd sagen kann, typisierend-individualisierende Element bei den Prognoseverfahren, die über die über die Chancen einer zukünftigen Legalbewährung Erkenntnisse
Vgl. Mickisch aaO., S. 188. Vgl. dazu Klaus Günther, Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band I, Baden-Baden 1998, S. 319ff(338). 83 Vgl. dazu schon oben S. 28; ferner Lüderssen, Abschaffen des Strafens, Frankfurt am Main 1995, S. 180 (dort Fn. 6). 81
82
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zu gewinnen versuchen84, bis hin zur Entwicklung von Lösungsmodellen „zur Entscheidung bei Nichtwissen", wobei es sogar zur Anwendung des Rechtssatzes „in dubio pro reo" kommt 85 . Wenn aber mit Recht vermutet werden kann, daß bei ganz bestimmten, durchaus wiederkehrenden typischen Erscheinungsformen eines Sozialisationsdefizits, inklusive seiner soziostrukturellen Determinanten, ohne Ermittlung der jeweils ganz individuellen Situation, eine kurze Freiheitsstrafe ihr Ziel nicht erreichen kann, und - ebenso relativ-pauschalisierend - entschieden werden kann, ob der Schutz der Allgemeinheit nicht trotzdem den Vollzug der Freiheitsstrafe verlangt, dann braucht nicht mehr untersucht zu werden, wie weit man bei der Bemühung um Individualisierung der Argumente überhaupt gehen kann. Gleichzeitig braucht das Problem nicht gelöst zu werden, ob man von rechtlich nachvollziehbaren Entscheidungen noch sprechen darf, wenn für ihre Begründung keine Regel mehr gefunden werden kann, vielmehr in jedem Einzelfall sich der Begründungskatalog gleichsam neu organisiert. Wer gerade in diesem Schritt von - schon sehr stark verengter Regelgeleitetheit zur totalen Einzelfallentscheidung das Wesen der Gnade erblickt, käme vielleicht in Verlegenheit, wenn damit gleichzeitig wirklich das Ende möglicher rechtlicher Begründungen erreicht wäre86. Daß ein so enger Rechtsbegriff nicht unbedingt zwingend ist, daß vielmehr auch die äußerste Individualisierung noch im Rechtsbegriff untergebracht werden kann, ist bereits angedeutet worden87, freilich auch, daß diese Position rechtstheoretisch nicht voll entwickelt ist. Aber wie sich nunmehr zeigt, besteht keine Veranlassung, insoweit eine endgültige Klärung herbeizuführen, denn für die hier anvisierten Fälle können ja durchaus - wenn auch eng umschriebene - Regeln sichtbar gemacht werden, die einen gnadenweisen Straferlaß rechtfertigen.
84 Vgl. dazu Hendrik Schneider, Grundlagen der Kriminalprognose, Berlin 1996; s. ferner Bernd Volckart, Praxis der Kriminalprognose, Methodologie und Rechtsanwendung, 1997; Wolfgang Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; Wolfgang Frisch, Thomas Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994. 85 Streitig; dazu Schneider aaO., S. 40ff. 86 Dies ist die Position von Hans Dombois, der, wiewohl lange Staatsanwalt, einen expressis verbis nicht-rechtlichen Gnadenbegriff vertreten hat und damit durchaus einflußreich gewesen ist, vgl. seinen Artikel über Gnadenrecht im Evangelischen Soziallexikon, 5.Auflage, Stuttgart und Berlin 1965, Spalte 532ff. 87 Oben S. 563ff.
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
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c) Spezielle Verfahrensfragen aa) Uberbelegung des Strafvollzuges Die sachlichen Gründe, welche die Justizverwaltungsbehörden dazu bestimmen könnten, für die Vollstreckung und den Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen aus der Überbelegung Konsequenzen zu ziehen, liegen auf der Hand. § 146 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz bestimmt, daß Hafträume nicht mit mehr Personen als zugelassen belegt werden. Geschieht das dennoch, so ist der Tatbestand der Uberbelegung gegeben. Die Möglichkeiten, die das Strafvollstreckungsrecht zur Verfügung stellt, um diesem Tatbestand zu wehren, sind begrenzt. Zwar gehört die Uberbelegung zu den „Gründen der Vollzugsorganisation", welche die Anwendbarkeit des § 455a StPO auslösen; sie ist sogar das Hauptmotiv für die Einführung dieser Vorschrift gewesen . Indessen ist nach dieser Vorschrift nur die Aufschiebung oder Unterbrechung der Vollstreckung zulässig. Keineswegs ist also erschöpfend dafür Sorge getragen, daß „das Uberbelegungsverbot den möglichen Konflikt zwischen der Behördenpflicht zum Vollzug der vollstreckbaren Urteile und zu einer den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften entsprechenden Behandlung" 89 beseitigt. Ohnehin kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Nichtanwendung einer Rechtsvorschrift bzw. ihre Verletzung ohne weiteres zur Aufhebung der dadurch eingetretenen Wirkung führt. Die Rechtsordnung kennt insoweit vielmehr nur - mehr oder weniger überzeugend - abgestufte, weitere rechtliche Maßnahmen erforderlich machende Reaktionen 90 . Man kann also von einer Behörde, wenn sie auf die entsprechenden Sachverhalte stößt, nicht erwarten, daß sie, nur weil eine entsprechende Verpflichtung nicht formuliert ist, passiv bleibt. Vielmehr ist der höchste Grad von Sachlichkeit für eine entsprechende Ermessensentscheidung erreicht, die ja im übrigen nur darauf hinausläuft, ein Material für Entscheidungen auszuwählen, für die dann andere Erwägungen maßgebend sind. Freilich könnte man einwenden, daß dort, wo die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen nicht mit dem Phänomen der Uberbelegung konfrontiert ist, die Ersatzfreiheitsstrafen ohne Einschränkung 88 Vgl. Nachweise bei Wendisch aaO., § 455a Rdziff. 2; ferner Rolf-Peter Callies/ Heinz Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 7. Auflage, München 1998, § 181 Strafvollzugsgesetz, Rdziff. 1 (§ 455a StPO ist durch § 181 Strafvollzugsgesetz eingeführt worden). 89 Callies/Müller-Dietz aaO., § 146 Rdziff. 1. 90 S. dazu schon oben S. 569.
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verbüßt werden müssen, obwohl sie ebenso wie in den hier geprüften Fällen wegen der Funktionslosigkeit der kurzen Freiheitsstrafe keinem vernünftigen Zweck dienen können. Aber abgesehen davon, daß schon dargelegt worden ist, auf welche Grenzen eine vollständige Gleichmäßigkeit anstrebende Verwaltung stößt, muß hervorgehoben werden, daß der einer Uberbelegung ausgesetzte Verbüßer einer Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber denjenigen, die dieser Belastung nicht ausgesetzt sind, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe als besonders ungerecht empfinden muß. Daß hier deshalb anders als bei „normalen" Freiheitsstrafen 91 ein spezielles Ausgleichsbedürfnis besteht, zeigt die Existenz des § 459f StPO, wonach die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unterbleibt, wenn die Vollstreckung für den Verurteilten eine unbillige Härte wäre. § 459f StPO geht aber nicht nur in diesem Punkt über § 455a StPO hinaus, sondern auch in bezug auf die Rechtsfolge, denn es wird ja nicht nur Aufschiebung oder Unterbrechung angeordnet 92 . Diese doppelte „Auszeichnung" der Ersatzfreiheitsstrafe signalisiert eine besondere Sensibilität des Gesetzgebers für die Ersatzfreiheitsstrafe. Sie rechtfertigt es, auch beim Auswahlermessen für die Gnadenentscheidung in erster Linie - im Falle der Indikation durch die Uberbelegung - auf die Fälle der Ersatzfreiheitsstrafe zurückzugreifen, auch wenn das gegenüber denjenigen, die unter der Uberbelegung zu leiden haben, ohne daß sie „nur" eine Ersatzstrafe verbüßen, als eine Ungerechtigkeit erscheint. Eine Gnadenbehörde, die sich auf dieser Linie bewegt, kann unter keinen Umständen dem Vorwurf unsachlichen Ermessensgebrauchs ausgesetzt sein. Noch einmal ist zu betonen, daß demgegenüber die Kriterien für die eigentliche Gnadenentscheidung ganz selbständig sind.
91 Das bedeutet zugleich, daß der Gesichtspunkt, die von den Verbüßern von Ersatzfreiheitsstrafen in Anspruch genommenen Haftplätze müßten für Gefangene freigemacht werden, bei denen mit Aussicht auf Erfolg die Vollzugsziele des Strafvollzugsgesetzes anzustreben sind, nicht unter der Voraussetzung der dann weiterbestehenden Uberbelegung Gültigkeit beanspruchen kann. 92 Das heißt, die Ersatzfreiheitsstrafe kann überhaupt nicht mehr vollstreckt werden; wohl aber kann, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten bessern, die Beitreibung der Geldstrafe bis zum Ablauf der Verjährungsfrist erneut versucht werden, ohne daß es des Widerrufs der nach § 459f StPO ergangenen Anordnung bedarf (§ 49 Abs. 2 Satz 2 Strafvollstreckungsordnung).
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
bb) Rechtspolitische
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Erwägungen?
(1) Bekanntlich wird seit längerer Zeit die 1:1- Regelung des § 43 Satz 2 StGB für anfechtbar gehalten, weil, „wenn eine nach Tagessätzen verhängte (primäre) Geldstrafe dem Unrecht der Tat und der Schuld des Täters" entspreche, „die (sekundäre) Ersatzfreiheitsstrafe, im Verhältnis 1:1 bestimmt, nicht auch schuldangemessen sein" könne 93 . Dies trifft freilich nur unter der Voraussetzung zu, daß das Gericht bei Verhängung der Geldstrafe nicht gleichzeitig auch erwägt, welche Freiheitsstrafe (alternativ) „zur Ahndung der Straftat unter Berücksichtigung präventiver Gesichtspunkte angemessen wäre" 94 . Mit Blick darauf, wieviele Tage Freiheitsstrafe eventualiter dafür für angemessen gehalten werden, kann dann auf der Basis des § 43 Satz 2 die Zahl der Tagessätze für die entsprechende Geldstrafe festgelegt werden. Mit anderen Worten: die Zahl der Tagessätze ist dann nicht mehr unabhängig von den möglichen Auswirkungen bestimmt worden, die sie auf die Länge der Ersatzfreiheitsstrafe hat, so daß, wenn es dann doch zur Ersatzfreiheitsstrafe kommt, die Gleichsetzung von Tagessatz und einem Tag Freiheitsstrafe nicht mehr als willkürlich erscheint. Damit wäre zwar eine Harmonisierung von §§ 40 und 43 StGB erreicht, und es wäre auch deutlicher herausgestellt, daß die Ersatzfreiheitsstrafe keine Beugestrafe, sondern eine echte Alternative zur Geldstrafe ist. Indessen muß man davon ausgehen, daß die Gerichte bei der Verhängung der Geldstrafe und der Festsetzung der Zahl der Tagessätze die zusätzlichen Erwägungen über den möglichen Sinn einer eventuellen Freiheitsstrafe eben nicht anstellen 95 . Dann aber bleibt es bei den Bedenken, daß eine sachliche Begründung für die 1:1-Umrechnung des § 43 Satz 2 StGB fehlt 96 . Sie wäre freilich auch dann noch nicht gegeben, wenn die Reformvorschläge zugunsten eines Umrechnungsmaßstabes 2:1 verwirklicht würden. Denn es läßt sich das Verhältnis von Geldstrafe und Freiheitsstrafe überhaupt nicht in Zahlen ausdrücken 97 . Daß „Mehr an Ubelszufügung" 9 8 , das die Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber der Geldstrafe bedeutet, fände al-
93
Herbert Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 48. Auflage, München 1997, § 43 Rdziff. 4. 94 Stree aaO., § 40 Rdziff. 4 (s.schon S. 17). 95 S. schon oben S. 561. 96 Vgl. auch Bublies aaO., S. 52/53. 97 Tröndle aaO. spricht von der nicht komparablen Freiheitsstrafe. 98 Tröndle aaO.
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so im Zweifel durch die angedeutete Reform auch nur einen sehr unvollkommenen Ausdruck. Daher sind an einer möglichen Reform des § 43 Satz 2 StGB orientierte Gnadenentscheidungen ausgesprochen sachliche. Auch bei den anderen Freiheitsstrafen muß man sehr häufig registrieren, daß ihr Vollzug den Gesetzeszweck verfehlt. Aber bei der Zumessung dieser Strafen entfallen wenigstens jene besonderen Bedenken, die für die Zumessung der Ersatzfreiheitsstrafe gelten. Deshalb ist es gerechtfertigt, wenigstens die Ersatzfreiheitsstrafen dieser speziellen Uberprüfung, ob sie denn mit Blick auf das Vollzugsziel des Strafvollzugsgesetzes überhaupt sinnvoll sein können, zu unterwerfen. Um es auch an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen: die bloße Tatsache, daß die Ersatzfreiheitsstrafen im Einzelfall einem nicht überzeugenden Umrechnungsmodus ihre Höhe verdanken, kann noch nicht zu ihrem gnadenweisen Erlaß führen; vielmehr ist dieser Umstand nur ein Auswahlgesichtspunkt dafür, die Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafen nun daraufhin zu überprüfen, ob die Verbüßer der Ersatzfreiheitsstrafen unter den Bedingungen der kurzen Freiheitsstrafe resozialisierbar sind. (2) Erst recht können Entscheidungen der Gnadenbehörden nicht für unsachlich erklärt werden, wenn die Gnadenbehörden die rechtspolitische Erwägung angestellt haben, der Rechtsgedanke des § 57 StGB müsse eigentlich auch bei der Ersatzfreiheitsstrafe Anwendung finden. Es ist schon ausgeführt worden, daß die Anwendung des § 57 StGB auf die Ersatzfreiheitsstrafe wegen der gesetzgeberischen Mängel, die das Verhältnis von Geldstrafe und Verhängung und Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe unbefriedigend erscheinen lassen, förderlich sein könnte. Daß das Modell für die Gnadenentscheidung allerdings nicht übernommen werden kann, ist bereits dargelegt worden". Wenn der gnadenweise Erlaß weiter geht als die Aussetzung zur Bewährung, die vielleicht bei einer stimmigen Konzeption des Gesetzes und vernünftiger Gesetzesanwendung die bessere Lösung sein würde, so kann darin eine Art Kompensation gesehen werden. Denn schon die Verhängung der Ersatzfreiheitsstrafe (für den Fall der Nichtzahlung der Geldstrafe) und ihre Anordnung im aktuell gewordenen Fall der Nichtzahlung der Geldstrafe leidet unter Begründungsmängeln, die bei der gewöhnlichen Freiheitsstrafe ipso iure nicht zu verzeichnen sind. Abermals ist deutlich zu machen, daß die aus § 57 StGB abgeleitete rechtspolitische Erwägung 99
S. oben S. 565
Gnadenweiser Erlaß von Ersatzfreiheitsstrafen?
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ja keineswegs automatisch zur Begnadigung führt, sondern nur den Weg frei macht, die möglichen selbständigen Gründe für einen gnadenweisen Erlaß der Freiheitsstrafe erst einmal zu prüfen. £ . Zusammenfassung und Schlußbemerkung Es hat sich gezeigt, daß aus der Sicht des positiven Rechts keine Einwendungen gegen eine gnadenweisen Erlaß der Ersatzfreiheitsstrafe zu erheben sind. Daher kommt es nicht darauf an, ob diese Praxis darüber hinaus als ein zusätzliches sogenanntes „kriminalpolitisches Experiment zur Fortentwicklung des Vollstreckungsrechts und Sanktionensystems den gesellschafts- und kriminalpolitischen Bedürfnissen gemäß" 100 gerechtfertigt werden kann. Da Gesetzgebungsexperimente verfassungsrechtlich nach wie vor auf große Bedenken stoßen 101 , könnte man sich sehr wohl auf den Standpunkt stellen, daß „als einzige Möglichkeit der praktischen Erprobung nur der Gnadenweg" bleibt . Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß er ein Notbehelf ist. Eine Reform des Rechts der Ersatzfreiheitsstrafe ist dringend angezeigt. Von den zwei Wegen, die sich hier eröffnen - Ersetzung der Ersatzfreiheitsstrafe durch ein System der Festsetzung der nächstschwereren Strafart 103 , oder Abschaffen der Ersatzfreiheitsstrafe bei gleichzeitiger Verbesserung des zivilrechtlichen Systems der Beitreibung von Geldstrafen 104 - verspricht der zuerst genannte die realistischere, der zweite die auf das Ganze gesehen bessere Lösung. Sie wäre freilich einzubetten in eine grundsätzliche Reform des Strafrechts zugunsten anderer rechtlicher Alternativen 105 , ein langwieriges und nur stufenweise zu verwirklichendes Unternehmen. Da es sich bei der Ersatzfreiheitsstrafe, auch wenn sie die Form der nächstschwereren Strafart 106 annimmt, nur um kurze
Mikisch a a O , S. 126. Vgl. die Nachweise bei Mikisch aaO. und Lüderssen, Entkriminalisierung des Wirtschaftsrecht, Baden-Baden 1998, S. 202f. 102 Mikisch aaO., mit Nachweisen. 103 Dazu mit rechtsvergleichenden Hinweisen Bublies aaO., S. 47. 104 Dazu Janssen aaO., S. 222. 105 Vgl.dazu das von Klaus Lüderssen, Cornelius Prittwitz und Lorenz Schulz mit Mitteln der Volkswagenstiftung durchgeführte Projekt und die erste in Vorbereitung befindliche Publikation: Rechtliche Alternativen zum Strafrecht, Band 1: Die Subsidiarität des Strafrechts (in Vorbereitung). 106 Diese Lösung würde eine Reform des § 57 StGB - ausdrückliche Erstreckung auf die Ersatzfreiheitsstrafe - überflüssig machen, weil die bisher für die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe in der Rechtsprechung und Literatur vorgetragenen Gesichts100
101
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Klaus Lüderssen
Freiheitsstrafen handeln wird, gelten die dagegen seit langem vorgebrachten Bedenken unvermindert. So gesehen gibt es überhaupt keine andere als eine nicht-strafrechtliche Alternative. Diese bezieht sich allerdings nur auf die an die Geldstrafe gekoppelte Freiheitsstrafe, läßt die Geldstrafe unberührt und ist deshalb sorgfältig zu unterscheiden von einer noch weitergehenden Reform des Strafrechts mit dem Ziel der „Entkriminalisierung" von im Bagatellbereich sich bewegenden Verstößen. Deren Diskussion hat zwar auch schon seit langem begonnen, in absehbarer Zukunft greifbare Ergebnisse sind aber noch nicht sichtbar geworden.
punkte schon in die Umwandlung der Ersatzfreiheitsstrafe in die nächstschwerere Strafe eingehen würden.
Zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen Eindrücke aus einer empirischen Erhebung
GABRIELE DOLDE
Vorbemerkung Die Ersatzfreiheitsstrafe soll als „Rückgrat" des Geldstrafensystems die Funktion eines letzten Druckmittels bei „zahlungsunwilligen" Verurteilten ausüben1. In den 80er und insbesondere in den 90er Jahren hat der Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen erheblich zugenommen, was üblicherweise nicht nur auf das Vordringen der Geldstrafe im Zuge der Strafrechtsreform sondern auch auf die fortschreitende Armut in der Gesellschaft zurückgeführt wird. Die Tatsache, daß in den neuen Ländern anteilsmäßig etwa doppelt so viele Gefangene Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen wie in den alten Ländern2, spricht für den Zusammenhang mit der sozio-ökonomischen Situation, z.B. der relativ hohen Arbeitslosenrate, kann aber auch mit einem geringeren Ausbau der sozialen Dienste in der Justiz zusammenhängen. Schon Mitte der 80er Jahre wurde die Ersatzfreiheitsstrafe als Surrogat für uneinbringliche Geldstrafe mit der These „weil du arm bist, mußt du sitzen" kritisiert3. Stattdessen sollte vermehrt die Chance des Art. 293 EGStGB genutzt werden, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie (gemeinnützige) Arbeit abzuwenden, also eher „schwitzen statt sitzen" 4 . Spätestens seit 1986 existieren in allen alten Bundesländern Verordnungen, die uneinbringliche Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit zu tilgen. Mit dem Ausbau der Möglichkeiten zu „gemeinnütziger Arbeit" verband der Jubilar5 in seinem geschätzten Lehrbuch von 1986 ebenso wie andere G.Kaiser: Kriminologie,10. Aufl., Heidelberg 1997S. 437. F.Dünkel: Empirische Forschung im Strafvollzug, Bonn 1996, S. 52f. 3 H.Krieg, A.Löhr, U.Lücke, C.Meissner, W.Ufert, A.Schumann: Weil du arm bist, mußt du sitzen. MSchrKrim 1984, S. 25-38. 4 Zu den Rechtsgrundlagen für die einzelnen Länder s. W.Feuerhelm·. Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, Wiesbaden 1991, S. 24-26. 5 A.Böhm: Strafvollzug, 2. Aufl., Frankfurt 1986, S. 34. 1
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Gabriele Dolde
Kriminologen und Vollzugswissenschaftler die Hoffnung, den unter Behandlungsaspekten wenig sinnvollen Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen zurückzudrängen. Für die Jahre 1986 und 1987 stellte W. Feuerhelm aufgrund seiner bundesweiten Untersuchung für die alten Bundesländer insgesamt fest, „daß die gemeinnützige Arbeit innerhalb der Geldstrafenvollstreckung noch immer ein Schattendasein führt" 6 und kaum 10% der uneinbringlichen Geldstrafen dadurch getilgt würden. Zugleich zeigt seine Untersuchung aber auch, daß nach Feststellung der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe und der Ladung zum Strafantritt der Ersatzfreiheitsstrafe noch ca. 80% die Geldstrafe zahlen, ohne daß mit der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe begonnen wird. Die Erfahrung, daß in der Mehrzahl der Fälle also doch noch finanzielle Ressourcen mobilisiert werden, spricht für das Institut der Ersatzfreiheitsstrafe als „Druckmittel" 7 , läßt allerdings an der Feststellung der „Uneinbringlichkeit" zeifeln. Auch wenn die Ersatzfreiheitsstrafe im Sanktionensystem eine positive Funktion für die Tilgung der Geldstrafe hat, sollte sie möglichst selten vollzogen werden. Nach der Untersuchung von Feuerhelm über die uneinbringliche Geldstrafe müssen dennoch über 10% die Ersatzfreiheitsstrafe antreten8. Das mag auf die Geldstrafensanktion bezogen wenig erscheinen, aus der Perspektive des überfüllten Strafvollzugs sind die Ersatzfreiheitsstrafen aber eine erhebliche Belastung. Trotz des Ausbaues der Projekte „Schwitzen statt Sitzen" 9 nahm in den letzten Jahren die Zahl der Strafantritte zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen tendenziell zu. So verbüßten beispielsweise nach der Stichtagszählung 1998 in Baden-Württemberg ca. 450 Personen (über 7% der Strafgefangenen) Ersatzfreiheitsstrafen. Da die durchschnittliche Vollzugsdauer ca. 1 Monat beträgt, müssen wir in Baden-Württemberg mit über 5000 Personen rechnen, die pro Jahr Ersatzfreiheitsstrafen antreten. Der folgende Beitrag versucht, den sozialen Hintergrund und die abgeurteilte Delinquenz der Geldstrafenschuldner, die Ersatzfreiheitsstrafen antreten, darzustellen. Darüber hinaus wird eruiert, inwieweit die Betroffenen die Angebote zur Vermeidung des Vollzugs vor Strafantritt gekannt und wahrgenommen haben und ob nach Strafantritt noch Tilgungsmöglichkeiten zur Verkürzung der ErsatzW.Feuerhelm s. Fußn. 4, S. 261 A.Böhm in H.Göppinger. Kriminologie. 5. Aufl. München 1997, S. 741 ff. 8 W.Feuerhelm s. Fußn. 4, S. 70f. 9 Interesse am Projekt „Schwitzen statt Sitzen" steigt. ZfStrVo 1/95, S. 45f. (Infodienst der Landesregierung von Baden-Württemberg. Nr. 18 Mai 1994). 6
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Zum Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen
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freiheitsstrafen realisiert werden, d.h. das Erleben des Vollzugs als „Druckmittel" für die Tilgung der Geldstrafe noch funktioniert. 1. Ansatz der Untersuchung In zwei Vollzugseinrichtungen von Baden-Württemberg - einer größeren Anstalt mit überwiegend geschlossenem Vollzug (JVA Rottenburg) und einer Einrichtung des offenen Vollzugs (Außenstelle Kislau der JVA Bruchsal) - wurden für einen Zeitraum von 3 bzw. 2 Monaten (Juli bis September 1997) alle Ersatzfreiheitsstrafen antretendenden Gefangenen (ausschließlich Männer) erfaßt 10 . Ausgeschlossen wurden diejenigen, die in Unterbrechung der Untersuchungshaft oder unmittelbar im Anschluß an die zeitige Strafhaft die Ersatzfreiheitsstrafen antraten. Insgesamt umfaßt die Untersuchungsgruppe 192 Gefangene, von denen die meisten die Ersatzfreiheitsstrafe in der JVA Rottenburg antraten - einer relativ großen Anstalt für Freiheitsstrafen bis zu 4 Jahren. Noch während des Zugangs wurden die Gefangenen durch den aufnehmenden Beamten nach einem speziellen Erhebungsbogen befragt, warum sie die Geldstrafen nicht durch Zahlung oder gemeinnützige Arbeit tilgten. Daneben wurden Fragen zur Berufstätigkeit, familiären und Wohnsituation vor der Inhaftierung gestellt. Darüber hinaus haben wir die strafrechtlich relevanten Daten, die von der Vollzugsgeschäftsstelle aufgenommen werden, ausgewertet. Da die Daten prospektiv vom Zugang bis zum Abgang erhoben wurden, konnten auch die Gründe für die Entlassung, z.B. Zahlung der restlichen Geldstrafe oder volle Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe erfaßt werden. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die Ergebnisse dieser Untersuchung in allen Einzelheiten darzustellen. Im folgenden werden nur einige Bereiche aus der Erhebung thematisiert. Dabei fließen auch Eindrücke ein, die die
10 Die Erhebung führte der Kriminologische Dienst von Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit den Bediensteten der beiden Anstalten durch. Die Datenverarbeitung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, speziell mit Herrn Hans-Joachim Wittmann, dem ich für seine unermüdliche Unterstützung herzlich danke. Die Erhebung sollte die empirische Basis für Überlegungen bilden, die Ersatzfreiheitsstrafe auch im elektronisch überwachten Hausarrest zu vollziehen (s. den Bericht über die aktuelle Debatte des Landtags vom 16. Juli 1997 im Staatsanzeiger Baden-Württemberg vom 28.7.1997 „Modellversuch für überwachten Hausarrest").
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Gabriele Dolde
Verfasserin aus einer Gruppendiskussion mit Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen gewonnen hat. Diese Diskussion hatte explorativen Charakter und diente primär dazu, die Fragestellungen für die Erhebungshögen zu präzisieren. Vor allem ging es dabei um den subjektiv erlebten Weg in den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe.
2. Zusammenfassung der Ergebnisse 2.1 Demographische
Daten und Angaben zur sozialen vor Straf antritt
Situation
Die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen waren bei Strafantritt durchschnittlich zwischen 35 und 37 Jahre alt. Die meisten lebten ohne familiäre Bindungen; zwei Drittel waren ledig und jeder sechste war geschieden. Allerdings kann man aus dem formalen Familienstand noch nicht auf ein Leben als „Single" schließen. Unter dem Aspekt der Vereinzelung ist bedeutsamer, daß auf dem Α-Bogen, der für jeden Gefangenen bei Aufnahme in der Anstalt angelegt wird, bei jedem zweiten unserer Untersuchungsgruppe keine Angehörigen vermerkt waren. Da sowohl die Vollzugsanstalt als auch die Gefangenen ein Interesse daran haben, daß die Angehörigen notiert werden, deuten die fehlenden Angaben darauf hin, daß diese Gefangenen tatsächlich keine Angehörigen oder Freunde haben, von denen sie Hilfe oder Unterstützung erwarten können, sie also relativ einsam ohne Einbettung in ein konstantes Beziehungsnetz lebten. Ca. 65% haben zuletzt in einer eigenen Wohnung gelebt - die meisten allein, weniger als die Hälfte wohnte zusammen mit einer Partnerin (Frau oder Freundin), nur 10% gaben an, Kinder in ihrem Haushalt zu haben. Ca. 7% haben nach eigenen Angaben auf der Straße gelebt (obdachlos), weitere 14% in Sozialunterkünften, 6-7% waren bei Freunden/Bekannten untergekommen und die restlichen 7% lebten noch bei den Eltern bzw. Elternteilen. Zum Vergleich: Als Entlassungsanschrift notierte die Vollzugsgeschäftsstelle bei 80% eine private Anschrift, bei 9 % Asylbewerberunterkünfte oder betreute Wohngemeinschaften und 11 % wurden ohne festen Wohnsitz bzw. mit unbekannter Anschrift entlassen. Uber 60% waren vor Strafantritt ohne Arbeitsverhältnis, 11% gaben angelernte oder Hilfsarbeitertätigkeiten an. Höher qualifizierte Tätigkeiten waren in dieser Untersuchungsgruppe relativ selten, obwohl ca. 60% angaben, daß sie früher einen Beruf erlernt hatten. Hier bestätigt sich eine bereits von H. Göppinger festgestellte
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Tendenz11, daß Häftlinge - wenn sie früher überhaupt einen Beruf erlernt hatten - relativ häufig einen beruflichen Abstieg erlebten. Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit unterscheiden sich die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen beider Vollzugseinrichtungen erheblich, was mit dem Vollstreckungsplan von BadenWürttemberg zusammenhängt. In der JVA Rottenburg (der größeren Einrichtung des überwiegend geschlossenen Vollzugs) war jeder zweite Gefangene, der eine Ersatzfreiheitsstrafe antrat, nicht deutsch, während von der kleineren Untersuchungsgruppe in der offenen Außenstelle Kislau der JVA Bruchsal die weitaus meisten die deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Betrachten wir die Ausländer in der Rottenburger Population, so fällt auf, daß sie von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Ausland geboren waren; jeder fünfte Ausländer war kürzer als 6 Monate in Deutschland und nur jeder zweite Ausländer lebte bereits länger als 8 Jahre in Deutschland. Die sog. zweite und dritte Ausländergeneration spielte also in dieser Gefangenenpopulation statistisch gesehen keine wesentliche Rolle. Auch waren sog. Spätaussiedler (also Deutsche aus den GUS-Staaten oder osteuropäischen Staaten) mit 3% eine statistisch unbedeutende Minderheit. Faßt man diese Daten zusammen, so handelt es sich bei den Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen überwiegend um sozial randständige12 Deutsche oder in Deutschland nicht integrierte Ausländer. Dieses Ergebnis steht weitgehend im Einklang mit der Untersuchung von Villmow und Vonhoff13. In ihrer sozialen Zusammensetzung entsprechen die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen im wesentlichen den Gefangenen des Kurzstrafenvollzugs (bis zu 1 Jahr) 14 , wenn man von den Freigängern absieht. Die
11 H. Göppingen Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Ergebnisse aus der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Unter Mitarbeit von M.Bock, J.-M.Jehle, W.Maschke. Berlin, Heidelberg, New York, Tokio 1983, S. 76f. 12 M. Walter. Strafvollzug, Stuttgart u.a. 1991, S. 81 betont die allgemeine Überrepräsentation sozial Randständiger im Vollzug.Dabei wird Randständigkeit als Umschreibung für Defizite der Partizipation am „gesellschaftlichen" Leben und an materiellen Lebensgütern verstanden und nicht als Erklärungskonzept für Kriminalität, beispielsweise „Randgruppenkriminalität". Vgl. H.Schüler-Springorum: Kriminalität der Randständigen. Krim. Journal 1995, S. 162ff. 13 B. Villmow. Kurze Freiheitsstrafe. Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit. Erfahrungen und Einstellungen der Betroffenen. In: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. Festschrift für Günther Kaiser zum 70. Geburtstag, hrsg. von H.-J. Albrecht, F. Dünkel, H.-J. Kerner u.a. Berlin 1999, S. 1296ff. 14 G.Dolde/J.-M.Jekle·. Wirklichkeit und Möglichkeiten des Kurzstrafenvollzugs. ZfStrVo 1986, S. 195ff.
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Freigänger des Kurzstrafenvollzugs sind weitgehend beruflich und sozial integriert15 und bilden quasi den Gegenpol zu unserer Untersuchungsgruppe der Ersatzfreiheitsstrafen Antretenden. 2.2 Das Verfahren, die abgeurteilten Straftaten, Geldstrafe und die Tagessätze
die Höhe der
In drei von vier Fällen wurde die Geldstrafe durch Strafbefehl verhängt. Dieses Verfahren nach §§ 407ff. StPO scheint bei den für die Geldstrafe in Betracht kommenden Vergehen überregional weit verbreitet zu sein. Sowohl die in den 70er Jahren in Baden-Württemberg durchgeführte Untersuchung zur Sanktion der Geldstrafe von H.-J.Albrechtlb als auch die auf einer Zufallsstichprobe von 1987 beruhende Untersuchung zur Geldstrafenvollstreckung in Nordrhein-Westfalen von H.Janssen17 stellen bei der Geldstrafensanktion einen Anteil der Strafbefehlsverfahren von nahezu 75% fest. Da in diesen Fällen i.d.R. auf die Hauptverhandlung verzichtet wird, können sich unter zwei Aspekten Informations- und Kommunikationsprobleme ergeben. Einerseits erlebt der Angeschuldigte keine mündliche Verhandlung über die Folgen seiner Straftat(en), sondern erfährt nur auf schriftlichem Wege von den Rechtsfolgen, wobei offen bleibt, inwieweit er das Schriftstück überhaupt versteht. Andererseits gewinnt der Strafrichter keinen unmittelbaren Eindruck von dem sozialen Hintergrund des Beschuldigten; die richterliche Entscheidung über die Tagessatzhöhe beruht entweder auf den Erkenntnissen aus den polizeilichen Ermittlungen oder auf Schätzungen. Nach Jarnsens Untersuchung zur Geldstrafenvollstreckung scheitert die Zahlung der Geldstrafe um so eher, je weniger valide Informationen zur finanziellen Situation der Beschuldigten nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens vorhanden waren. Wird die Geldstrafenvollstreckung mit Ersatzfreiheitsstrafe beendet, so waren besonders häufig Informationsdefizite über die finanzielle Situation des Verurteilten festzustellen.
15 G,Dolde\ Vollzug der kurzen Freiheitsstrafe ohne soziale Desintegration: Verlauf und Erfolg des „Kurzstrafenprogramms" in Baden-Württemberg. In: Jehle/Maschke/Szabo (Hrsg.): Strafrechtspraxis und Kriminologie - Festgabe für H.Göppinger, Bonn 1990, S. 171ff. 16 H.-J.Albrecht: Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen. Berlin 1980. 17 H.Janssen·. Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung. Frankfurt/M. 1994. 18 H.Janssen: s.Fußn. 17, S. 19.
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Welche Straftaten lagen der Geldstrafe
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zugrunde?
In unseren Untersuchungsgruppen erfolgte am häufigsten (bei fast jedem zweiten) die Sanktion wegen Eigentums- und Vermögensdelikten, wobei 10% nur wegen Beförderungserschieichung aufgefallen waren. Am zweithäufigsten (bei ca. jedem fünften der Ersatzfreiheitsstrafen Verbüßenden) lagen Straßenverkehrsdelikte der Verurteilung zugrunde. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Gefährdung des Straßenverkehrs wegen Trunkenheit, dicht gefolgt von Fahren ohne Fahrerlaubnis. In 8% der Fälle bezog sich das Urteil auf Körperverletzungsdelikte und in 7% der Fälle auf Verstöße gegen das BtmG. Dann folgen der Häufigkeit nach Beleidigungsdelikte, Verstoß gegen das Ausländergesetz und Urkundenfälschung. Vergleicht man die Deliktsstruktur mit der sonstigen Gefangenenpopulation, so fällt eine Uberrepräsentanz der Straßenverkehrsdelikte auf; unterrepräsentiert bzw. gar nicht vertreten sind erwartungsgemäß schwere Gewaltdelikte, von einem Exhibitionisten abgesehen fehlen auch Sexualdelikte. Die hier erfaßte Deliktsstruktur verteilt sich annäherungsweise gleich wie bei den Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Probanden der Hamburger Untersuchung von Villmow/Vonhoff19. Ca. 70% unserer Untersuchungsgruppe hatte Vorstrafen (überwiegend mehrere) und ca. jeder zweite war nicht das erste Mal inhaftiert. Trotz Vollzugserfahrung fühlten sich viele Probanden von der Festnahme überrascht, z.T. hatten sie schon die Verurteilung (überwiegend Strafbefehl) nicht verstanden. Nur jeder zehnte folgte als „Selbststeller" der Ladung zum Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe, 90% wurden festgenommen. Die meisten Gefangenen (85%) hatten „nur" eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen; der Rest verbüßte mehrere (2-3) Ersatzfreiheitsstrafen oder (nur in 3 Fällen) Ersatzfreiheitsstrafen in Kombination mit dem Widerruf zur Bewährung ausgesetzter Strafen bzw. Strafreste. Wenn man alle Ersatzfreiheitsstrafen einbezieht, sollten nach Angaben im Zugang zwischen 6 und 345 Tage verbüßt werden durchschnittlich 60 Tage Ersatzfreiheitsstrafe. Die tatsächliche Vollzugsdauer war aber deutlich kürzer als die bei Aufnahme noch zu vollstreckende Ersatzfreiheitsstrafe (s. dazu 2.3).
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Die den Ersatzfreiheitsstrafen zugrunde liegenden Geldstrafen variierten zwischen 100 DM und 19.500 DM, wobei der letztgenannte Betrag die absolute Ausnahme war, ansonsten überstieg die Geldstrafe 3.500 DM nicht. Im Durchschnitt waren die Gefangenen zu 1.760 DM verurteilt. Dabei lag der durchschnittliche Tagessatz bei knapp 30 DM; im Minimum betrug der Tagessatz 2 DM und im Maximum 120 DM. 50% der Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen waren zu Tagessätzen verurteilt, die 25 DM nicht übersteigen. D.h. wir haben eine linksschiefe Verteilung, in der relativ geringe Tagessätze deutlich dominieren und Tagessätze von über 70 DM die Ausnahme sind. Dabei bestätigt auch unsere Untersuchung das Mißverhältnis zwischen Tagessatzhöhe und Kosten eines Tages im Vollzug. Für die Gesellschaft und in den meisten Fällen wohl auch für die Betroffenen ist der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe unökonomisch. 2.3 Vollzugsdauer und Gründe für die Entlassung Die tatsächliche Vollzugsdauer der Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen ist mit durchschnittlich 30 Tagen deutlich kürzer als die bei Aufnahme notierten Ersatzfreiheitsstrafen. Die Verkürzung der Haftzeit war nur zum geringsten Teil auf Gnadenentscheidungen (z.B. Weihnachtsamnestie) zurückzuführen, sondern überwiegend auf die Tatsache, daß nach Strafantritt noch ein Teil der Geldstrafe getilgt wurde - in der Regel durch Zahlung, ein Proband trat auch noch gemeinnützige Arbeit an. Der Anteil derjenigen, die ihre Haftzeit durch Tilgung der restlichen Geldstrafe verkürzten, betrug in der offenen Vollzugseinrichtung in Kislau 24% und war in der JVA Rottenburg mit 49% doppelt so hoch. Die Zahlung der restlichen Geldstrafe erfolgte überwiegend in den ersten zwei Wochen nach Strafantritt, so daß sich dadurch die durchschnittliche Vollzugsdauer erheblich verkürzte. Die Gründe für die unterschiedliche Tilgungsrate in beiden Vollzugsanstalten können hier nur ansatzweise vermutet, aber nicht nachgewiesen werden. Einerseits ist es möglich, daß der offene Vollzug der relativ kleinen Außenstelle Kislau als weniger belastend empfunden wird als der eher geschlossene Vollzug in der großen, überfüllten JVA Rottenburg. Andererseits kann die unterschiedliche Tilgungsrate aus dem Vollzug heraus auch mit der unterschiedlichen Gefangenenpopulation beider Vollzugseinrichtungen zusammenhängen, z.B. mit dem hohen Ausländeranteil der Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen in der JVA Rottenburg. Die Ausländer haben vermehrt nach Strafantritt die Geldstrafen noch getilgt - diese haben viel-
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leicht erst nach Festnahme die Strafe verstanden. Tendenziell war auch ein größerer Anteil der „Zahler" (58%) erstmals im Vollzug vielleicht durch das erste Erleben des Vollzugs noch geschockt. Von denjenigen, die die Ersatzfreiheitsstrafe vollständig verbüßten, hatte die Mehrzahl bereits Vollzugserfahrung, wußte also schon bei Aufnahme, was auf sie zukommt. Diese deskriptiven Tendenzen haben natürlich keinen erklärenden Wert. Entscheidend für die Tilgung der Geldstrafe während des Vollzuges ist, ob Angehörige/Freunde bereit sind, für die Gefangenen zu zahlen. Im Zugang gaben 50% beider Untersuchungsgruppen an, daß sie hofften, daß Verwandte/Bekannte das Geld noch aufbringen werden. Nur knapp jeder zehnte glaubte, durch eigenes Geld, zumindest in Form von Ratenzahlungen, die restliche Geldstrafe noch tilgen zu können. Es hängt also im wesentlich von der sozialen Einbindung der Ersatzfreiheitsstrafen Verbüßenden ab, ob sie mit Hilfe des Geldes von Angehörigen oder Bekannten die Haftzeit verkürzen können. Die anfangs zitierte These „weil Du arm bist, muß Du sitzen" wäre also zu erweitern: „Weil Du arm und einsam bist, muß Du sitzen". 2.4 Warum wurden die Geldstrafen nicht vor Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe getilgt? Es wurden die Gefangenen, die Ersatzfreiheitsstrafen antraten, nach den Gründen befragt, warum sie die Geldstrafe nicht gezahlt hatten. 4 % verweigerten die Antwort und bei 18% mußte die Befragung wegen fehlender Deutschkenntnisse abgebrochen werden. Somit reduziert sich für die folgenden Fragen die Untersuchungsgruppe auf diejenigen, die entweder Deutsche waren oder als Ausländer schon längere Zeit in Deutschland lebten. Bei den erst kürzlich Eingereisten war überwiegend die sprachliche Verständigung unmöglich. Von denjenigen, die verständliche Angaben machen konnten, antworteten knapp 70%, daß sie kein Geld hätten und 15% gaben an, daß sie nicht zahlen wollten. Der Rest habe vergessen zu zahlen bzw. war säumig bei Ratenzahlungen oder hat die Geldstrafe nicht begriffen, vielleicht auch nicht akzeptiert. Die Geldstrafenschuldner, die nach eigenen Angaben wegen Geldmangel die Geldstrafe vor Strafantritt nicht zahlen konnten, verbüßten mehrheitlich die Ersatzfreiheitsstrafe vollständig. Von den Vollverbüßern antwortete nur jeder zehnte, daß er nicht zahlen wollte. Dagegen äußerte aber jede fünfte Gefangene, der durch Zahlung seine Ersatzfreiheitsstrafe verkürzte, daß er ursprünglich nicht zahlen wollte. Offensichtlich stieg bei dieser kleinen Gruppe mit der
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Inhaftierung der „Zahlungswille"; in den meisten Fällen erhöhte sich aber wohl eher der Druck auf Angehörige und Bekannte, den Inhaftierten durch Zahlung der restlichen Geldstrafe „auszulösen". Ob damit ein Abschieben der Geldstrafe auf andere verbunden ist, oder ob die Geldstrafenschuldner später das Geld zurückzahlen müssen und somit also wiederum die Strafe als solche erleben, muß offen bleiben. Diese Frage ist auch für den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe weniger bedeutsam als generell für die Funktion der Geldstrafe im Sanktionensystem. Zusammenfassend zeigen die Befragungsergebnisse, daß überwiegend nicht fehlender Zahlungswille sondern tatsächlich AAS fehlende Geld ausschlaggebend für die Geldstrafenschulden waren. Offensichtlich fehlte in unserer Untersuchungsgruppe auch bei denjenigen das Geld, die bis zur Inhaftierung noch berufstätig waren, also über ein regelmäßiges Einkommen verfügten. Das waren immerhin mindestens 30%. Hier stellt sich die Frage, warum nicht über Zahlungserleichterungen (§ 459a StPO) die Geldstrafe getilgt wurde. Ratenzahlungen waren nach den Antworten auf die Befragung nur höchst selten vereinbart worden. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Verurteilten unserer Untersuchungsgruppe nur selten Zahlungserleichterungen beantragt hatten, was möglicherweise als Symptom für Hilfslosigkeit oder Verdrängung der Probleme interpretiert werden kann. Im Rahmen der Befragung wurde versucht zu eruieren, warum nach Feststellung der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht durch die Erbringung von Arbeitsleistungen abgewendet wurde (Art. 293 EGStGB). Die Frage, ob sie - als klar war, daß sie nicht zahlen werden - gemeinnützige Arbeit beantragt hatten, verneinten über 80% der Befragten. Die Mehrzahl von ihnen wußte angeblich nichts von der Möglichkeit, durch gemeinnützige Arbeit die Geldstrafe zu tilgen. Von der Minderheit, die die Möglichkeit der gemeinnützigen Arbeit kannte, hatten 45% keinen Antrag auf gemeinnützige Arbeit gestellt, weil sie • keine Lust hatten • selbst berufstätig oder in Ausbildung waren • die Beantragung vergessen hatten • krank bzw. als Ünfallfolge verletzt waren • nicht wußten, wo gemeinnützige Arbeit zu beantragen ist • das Fahrgeld für den Weg zur Arbeitsstelle nicht aufbringen konnten oder wollten • Deutschland verlassen hatten.
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Ca. 55% von denjenigen, die von der Möglichkeit der gemeinnützigen Arbeit schon gehört hatten, beantragten diese entweder nicht fristgerecht oder der Antrag blieb ohne Erfolg: • Die Probanden erhielten keine Antwort auf ihren Antrag (waren möglicherweise nicht erreichbar). • Der Antrag wurde abgelehnt. • Der Antrag wurde zu spät gestellt, z.T. weil die Probanden noch auf Zahlung hofften. • Die gemeinnützige Arbeit wurde abgebrochen, konnte nicht durchgehalten werden (nur 5 Fälle). Die Antworten machen deutlich, daß es neben der Gruppe, die einfach keine Lust zum Abarbeiten der Geldstrafe hatten, eine mindestens genau so große Gruppe gibt, die relativ hilflos bei der Beantragung war, Fristen verstreichen ließ, nicht genau wußte, wo der Antrag zu stellen ist, oder aufgrund des unsteten Aufenthalts keine Antwort auf ihren Antrag erhielten, weil sie ihre Post nicht abholten oder nachschicken ließen. In diesen Antworten spiegelt sich die mangelhafte soziale Kompetenz der Verurteilten wider, bei denen die Geldstrafe „uneinbringlich" erscheint20. 3. Schlußfolgerung 3.1 Fehlende mündliche Kommunikation Strafbefehlsverfahren
durch das
Wie unter 2.2 dargestellt, wurde bei 75% der Untersuchungsgruppe die Geldstrafe im Wege des Strafbefehlsverfahrens verhängt. Damit wurde in aller Regel auf eine mündliche Hauptverhandlung verzichtet, die Beschuldigten wurden auf schriftlichem Wege sanktioniert. Dieses Verfahren erscheint zwar zunächst für die Justiz ökonomisch sinnvoll, ist aber möglicherweise den unterschiedlichen Einzelfällen nicht angemessen und führt bei einem nicht unerheblichen Teil nach Uneinbringlichkeit der Geldstrafe in den teuren Strafvollzug, wird also letztendlich unökonomisch. H. Janssen21 stellte in seiner Untersuchung zur Geldstrafenvollstreckung fest, daß bei denjenigen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen mußten, im Vergleich zu denjenigen, die die Geldstrafe direkt oder in Raten zahlten, der Justiz und den Vollstreckungsbehörden die
Vgl.A Böhm, Fußn. 7, S. 742. Die Ergebnisse der Untersuchung von H.Janssen (s. Fußn. 17, S. 210) zur Strafzumessung bei der Geldstrafe decken sich weitgehend mit der Untersuchung von H.]. Albrecht (s. Fußn.16). 20 21
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geringsten Informationen über ihre wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse vorlagen. Damit erscheint die vom Gesetzgeber intendierte einkommensbezogene Strafzumessungsentscheidung zweifelhaft. Nach Janssen erfolgt die Strafzumessung mangels Informationen überwiegend anhand eines Straftaxensystems. Das kann für unsere Population bedeuten, daß die Geldstrafe nur unzureichend nach unten ausgeschöpft wird und letztendlich die zu hohen Tagessätze in den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe führen. 2 2 Es stellt sich also die Frage, ob die Geldstrafe den finanziellen Möglichkeiten des Einzelfalls entspricht. Kann ein Arbeitsloser Tagessätze zwischen 20 und 30 D M zahlen? Dabei werden die Betroffenen weniger auf die Tagessätze schauen als auf die Gesamtsumme. So ist beispielsweise für einen Arbeitslosen und erst recht für einen Obdachlosen eine Geldstrafe von 1.700 D M eine unüberschaubare Summe, die er gar nicht erst versucht durch Ratenzahlungen überschaubar zu machen. Darüber hinaus erscheint es auch fraglich, ob die hier erfaßten „Randgruppen" ohne Hilfe überhaupt in der Lage sind, Ratenzahlungen auszuhandeln und dann auch durchzuhalten. N u r relativ wenige - kaum 6% der Untersuchungsgruppe - haben mit Ratenzahlungen begonnen und wurden dann säumig. D.h. die Mehrzahl hat gar nicht erst den Versuch unternommen, Zahlungserleichterungen in Anspruch zu nehmen. Knapp 70% gaben als Grund für das NichtZahlen der Geldstrafe Geldmangel an. Diese haben offensichtlich wegen der Höhe der Geldstrafe resigniert und abgewartet, was passiert. Eine Gruppe von ca. 20% wollte die Geldstrafe nicht zahlen oder hat die Strafe nicht verstanden bzw. nicht akzeptiert. Dieses Unverständnis über die Geldstrafe kam auch bei einigen in der Gruppendiskussion deutlich heraus, z.B. wenn nach Betrugsdelikten (auch Leistungserschieichung) bereits der Schaden wieder gutgemacht wurde und dann einige Monate später noch eine Geldstrafe verhängt wird. So berichtete ein arbeitsloser Proband in der Gruppendiskussion, daß er das zu Unrecht vom Arbeitsamt in Anspruch genommene Geld ratenweise zurückgezahlt hat und damit an der Grenze seiner finanziellen Möglichkeiten war. Als dann nach einiger Zeit der Strafbefehl kam, glaubte er an einen Irrtum, „denn ich zahlte doch schon regelmäßig". Typischerweise hat er keinen Ein-
12 H.Schöch kritisiert in seinem Gutachten zum 59. Deutschen Juristentag 1992 in Hannover die unzureichende Ausschöpfung der Tagessatzhöhe nach oben und nach unten. H.Schöch: Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? München 1992, C 27.
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spruch eingelegt, auf Mahnungen nicht reagiert, denn er glaubte, daß sich alles von selbst erledigt, bis er schließlich festgenommen wurde. Von mehreren Diskussionsteilnehmern wurde geäußert: „Die Polizei kam viel zu schnell." Diese Äußerungen können als Indikator dafür gesehen werden, daß ein Teil der Ersatzfreiheitsstrafen verbüßenden Gefangenen die mit der Geldstrafe verbundenen Fristen für sich selbst nicht als verbindlich ansahen und die Lösung des mit der Geldstrafe verbundenen Zahlungsproblems auf unbestimmte Zeit verschoben, ohne an die Folgen des Nichtreagierens zu denken. Dieses Verhalten tendiert zu den Verhaltensweisen, die Göppinger als kriminorelevantes Kriterium „fehlende Lebensplanung" zusammengefaßt hat 23 . Pädagogisch geführte Gespräche hätten sicher in einigen Fällen die Probleme bewußt machen können, die sich die Probanden letztendlich durch das passive Abwarten und Nichtreagieren einhandeln. Mündliche Gespräche können sicher nicht in allen, aber doch in einigen Fällen den Sinn der Strafe verdeutlichen und auch motivierend wirken, die Geldstrafe vor Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe zu tilgen. Vermutlich hätten nach eindringlichen Gesprächen einige vor Festnahme durch die Polizei die Geldstrafe ernster genommen. Interessanterweise wurde wiederholt berichtet, daß man die Geldstrafe noch bezahlt hätte, wenn die Polizei noch 1-2 Tage mit der Festnahme gewartet hätte. Dabei hatten einige Geldstrafenschuldner wohl nicht begriffen, daß die Polizei das Geld gar nicht in Empfang nehmen darf. 3.2 Zum Ablauf des Vollstreckungsverfahrens nach Feststellung der „Uneinbringlichkeit" der Geldstrafe Unsere Befragungsergebnisse lassen vermuten, daß diejenigen, die die Ersatzfreiheitsstrafe angetreten haben, nur geringe Initiativen entwickelten, um Zahlungserleichterungen zu erreichen oder bei „Uneinbringlichkeit" der Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit die Ersatzfreiheitsstrafe abzuwenden. Nach Feststellung der „Uneinbringlichkeit" der Geldstrafe wird der Geldstrafenschuldner zum Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe in schriftlicher Form geladen. Mit dieser Ladung zusammen erhält er i.d.R. eine Reihe von Informationsblättern über den Vollzug der kurzen Freiheitsstrafe und vor allem auch über die Möglichkeit, die
23 H. Göppingen 1985, S. 102 f.
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angeordnete Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzuwenden24. Die formularmäßige „Belehrung" des Geldstrafenschuldners über die Möglichkeit der freien Arbeit erfolgt aber dann nicht, wenn die Verurteilten „sich in anderer Sache in Haft befinden, unbekannten Aufenthalts sind, erkennbar keine Arbeit leisten wollen oder hierzu in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein werden" 25 . D.h. die ohne festen Wohnsitz Lebenden und die als arbeitsunwillig oder arbeitsunfähig Eingeschätzten sind lt. Verordnung des Justizministeriums von Baden-Württemberg mit der Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe über die Alternativen nicht zu informieren. Durch diese Verordnung war sicher nur eine Minderheit unserer Untersuchungsgruppe (schätzungsweise knapp 20%) von der Information über die Möglichkeit der gemeinnützigen Arbeit ausgeschlossen. Hinzu kommen noch einige (verreiste) Geldstrafenschuldner, die die bei der Post hinterlegte Zustellung nicht abgeholt haben. Somit hat ein Teil derjenigen, die Ersatzfreiheitsstrafen antraten, vermutlich tatsächlich das Formular „Belehrung der Geldstrafenschuldner" nicht in der Hand gehabt. Der größere Teil unserer Untersuchungsgruppe hatte jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit die Informationsblätter und Formulare erhalten. Es war nicht das Thema dieser Untersuchung, die zugesandten Informationen auf ihre Vollständigkeit und Verständlichkeit hin zu analysieren. Vielmehr setzte unsere Untersuchung an der letzten Stufe der Geldstrafenvollstreckung an, nämlich dann, wenn sie gescheitert ist und die Ersatzfreiheitsstrafe vollzogen wird. Bei dieser Gruppe fällt auf, daß die meisten bei der Befragung den Eindruck der mangelnden Informiertheit erweckten. Es ist anzunehmen, daß viele unserer Probanden die zugeschickten Papiere einfach nicht zur Kenntnis genommen haben, d.h. beiseite gelegt und verdrängt haben. Die Ausländer, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, werden - wenn sie keine Ubersetzungshilfe bekommen - diese Papiere ungelesen beiseite legen. Für diese These spricht, daß Ausländer bei
24 Schon in der bundesweiten Aktenanalyse zum Vollstreckungsverfahren nach Feststellung der „Uneinbringlichkeit" der Geldstrafe konnte Feuerhelm (s. Fußn. 4, S. 74) für das Jahr 1987 feststellen, daß nur in 15% der Fälle die Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe ohne Information über Alternativen erfolgte. Es ist nicht anzunehmen, daß in Baden-Württemberg mit der Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe weniger informiert wird. 25 Merkblatt zur Durchführung der Verordnung des Justizministeriums BadenWürttemberg über die Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit v. 2. Juli 1986.
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Strafantritt besonders häufig und auch erfolgreich versuchten, die Geldstrafe zu tilgen. Der Anteil der Ausländer war unter denjenigen, die ihre Strafzeit durch Zahlung der restlichen Geldstrafe verkürzten, höher als bei denjenigen, die die Ersatzfreiheitsstrafe vollständig verbüßten. Obwohl nur als ultima ratio im Sanktionensystem gedacht, scheint der Strafvollzug für viele die erste Institution im Rahmen der Geldstrafenvollstreckung zu sein, die Gelegenheit zu persönlichen und auch helfenden Gesprächen bietet. Daß nach diesen Gesprächsangeboten noch fast jeder zweite Ersatzfreiheitsstrafen Antretende die Geldstrafe innerhalb von 2-3 Wochen tilgt, spricht für den Erfolg des mündlichen Gesprächs und der Beratung; d.h. der Vollzug kann sich durch Beratung und Hilfe selbst entlasten. Das bisher praktizierte System der Geldstrafenvollstreckung schiebt die Problemfälle, die Hilfe benötigen, in den Strafvollzug mit hohen Kosten für jeden Hafttag. Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage, ob es nicht für das Gesamtsystem der Strafvollstreckung sehr viel preiswerter wäre, wenn diese pädagogischen und helfenden Gespräche spätestens zum Zeitpunkt der Feststellung der „Uneinbringlichkeit" der Geldstrafe geführt würden. Das würde allerdings bedeuten, daß die Vollstreckungsbehörden die kritischen Fälle rechtzeitig an sozialpädagogische Fachkräfte weiterleiten, die für die unmittelbare Hilfe eher geeignet sind als Rechtspfleger, die andere Erledigungsstrategien gelernt haben. Die Befragungsergebnisse zeigen, daß es nicht ausreicht, nur durch Merkblätter bzw. formularmäßig über Möglichkeiten zu informieren, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuwenden. Vielmehr gibt es viele, die unmittelbare Hilfe und Beratung benötigen, die in ihrer Hilfelosigkeit selbst keine Initiative zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe unternehmen, die also einfach abwarten. Da die sozialen Dienste der Justiz - insbesondere die Gerichtshilfe - ohne erhebliche personelle Verstärkung nicht noch zusätzlich mit Motivations- und Vermittlungsarbeit belastet werden können, ist die rechtzeitige Einbeziehung von Trägern anzustreben26, die im Bereich der Straffälligenhilfe fachlich qualifiziert und erfahren sind. Das hier vorgeschlagene Vorgehen würde einen erheblichen Mehraufwand bedeuten, der aber sicher billiger wäre als die Kosten der Hafttage.
2 6 G. Kawamura: Gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe - Die Rolle der Sozialarbeit. BewHi 4/1998, S. 338ff.
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Für die Vermeidung des Vollzugs der Ersatzfreiheitsstrafe sprechen nicht nur ökonomische sondern auch soziologische und kriminologische Überlegungen. Der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe als extrem kurze Freiheitsstrafe kann kaum resozialisierende Maßnahmen anbieten, entsozialisiert durch Gefährdung/Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung, verstärkt sozial abweichendes Verhalten („kriminelle Infektion") durch Kontakte zum kriminellen Milieu, reduziert die Scheu vor dem Strafvollzug (schränkt Präventionswirkung ein) und ist mit sozialer Stigmatisierung verbunden. Allerdings wird trotz Einzelfallhilfe im Vorfeld bei einem kleinen Teil der Geldstrafenschuldner der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe nicht zu vermeiden sein. Schließlich gibt es auch Gefangene, welche die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe dem „Leben in Freiheit" , wo das Geld für Strafe und Lebensunterhalt „verdient" werden muß, ganz gerne vorziehen. Das trifft vor allem für Personen mit desolaten Lebens- und Wohnsituationen zu, die in Armut auf der Straße oder in einfachsten Unterkünften ohne regelmäßiges bzw. ausreichendes Einkommen leben. Jeder vierte bis fünfte Ersatzfreiheitsstrafen verbüßende Gefangene sah auch Vorteile eines kurzen Aufenthalts im Strafvollzug gegenüber seinem Leben draußen: z.B. regelmäßig warmes Essen, ein Dach über dem Kopf, notwendige ärztliche Versorgung, Gespräche mit anderen. Für diese Gruppe, die z.T. schon mehrfach kurzfristig im Vollzug war, kann ein einigermaßen human organisierter Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe auch entlastend wirken und gewisse Sicherheitsfunktionen erfüllen.27 Die Abschreckung tritt dann in den Hintergrund, da für diese Personen die Lebensbedingungen im Vollzug nicht schlechter sind als „draußen". 28
27
In der Hamburger Untersuchung fanden Villmow und Mitarbeiter ebenfalls eine kleine Gruppe von Gefangenen, die die Ersatzfreiheitsstrafe und die kurze Freiheitsstrafe nicht belastender empfinden als ihr Leben in „Freiheit" (s. Villmow, Fußn. 13, S. 75). 28 Zur „Verschlechterungsthese" s. M.Walter, Fußn. 12, S. 106.
Veränderte Vollzugspopulationen und kontinuierliche Vollzugsforschung D e r Jugendstrafvollzug im Blick des Kriminologischen Dienstes
H A N S - G E O R G M E Y und W O L F G A N G W I R T H
Alexander Böhm, den zu ehren Anliegen dieser Festschrift ist, hat schon früh eine kontinuierliche Verbesserung unseres W i s sens über die A r t , die Verläufe und die F o l g e n der Behandlungsund E r z i e h u n g s m a ß n a h m e n im (Jugend)Strafvollzug gefordert. A u f d e m 12. Deutschen Jugendgerichtstag im O k t o b e r 1 9 6 2 in Regensburg formulierte er mit Blick auf „Die Behandlung in der Anstalt" wie folgt: „Wir benötigen einmal eine über Jahre hinaus sorgfältig geführte Erfolgskontrolle über unsere Arbeit. Denn nur diese Erfolgskontrolle kann uns wirklich gute Hinweise auf das geben, was wir tun müssen(Böhm 1963: 91). U n d auch die Frage, d u r c h w e n und mit welchen Fragestellungen die geforderte praxisorientierte Evaluation vollzuglichen Handelns geleistet w e r d e n sollte, beantw o r t e t e Böhm gleich mit: „Die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Behandlung des Minderjährigen in der Jugendstrafanstalt erweist sich also daran, ob sie dazu führt, daß der Minderjährige nach seiner Entlassung einen rechtschaffenen Lebenswandel führt. Führt der Minderjährige nach seiner Entlassung keinen rechtschaffenen Lebenswandel, dann sind dafür im wesentlichen drei Ursachen denkbar: Die erste Ursache ist die, daß der Jugendliche durch eine Jugendstrafe überhaupt nicht erreicht werden konnte, weil er bereits vor der Inhaftierung im schlechten Sinne so gefestigt war, daß ihn die Jugendstrafe nicht mehr beeindrucken konnte. In diesem Falle war die kriminalpolitische Maßnahme Jugendstrafe verfehlt. Sollte es viele solcher Fälle geben, so müßte man sich überlegen, ob man eine andere kriminalpolitische Maßnahme als Jugendstrafe für derartige Jugendliche vorsieht. Oder zweitens: Der junge Mann ist deswegen nicht zu einem rechtschaffenen Lebenswandel erzogen worden, weil die für ihn notwendige Behandlung nach den gegenwärtigen Vorschriften über den Vollzug der Jugendstrafe nicht möglich ist; dann wäre die Forderung zu stellen, daß die Vorschriften über den Vollzug der Jugendstrafe so abgeändert werden, daß jede wirksame Behandlung möglich ist. Der dritte Fall: Der Entlassene führt deshalb kein rechtschaffenes Leben, weil trotz ausreichender Vorschriften die Jugendstrafe in der Praxis falsch vollzogen worden ist. In diesem letzteren Fall wäre es notwendig, den praktischen Vollzug der Jugendstrafe zu verbessern oder zu ändern. An dieser Stelle muß man fragen: Wo ist die Untersuchung, die die gestellten Fragen zu beantworten sucht? [...] Nach meinem Dafürhalten müßten Un-
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tersuchungen über die Wirksamkeit der Jugendstrafe in großem Umfang einmal durchgeführt werden. [...] Um solche Untersuchungen durchzuführen, brauchten wir neben den Fachkräften, die teilweise im Vollzug bereits arbeiten, insbesondere wissenschaftliche Hilfskräfte und Schreibkräfte, die die umfangreichen Arbeiten verrichten. Eine derartige wissenschaftliche Forschungsstelle an jeder größeren Jugendstrafanstalt erscheint mir dringend erforderlich." (Böhm 1963: 85f.J.
Böhms Forderung liegt mehr als 35 Jahre zurück. Seither hat sich vieles verändert: Der Strafvollzug, seine gesetzlichen Grundlagen, die Art und Anzahl der Inhaftierten, die Qualität und Quantität der angewandten Behandlungs- und Erziehungsmaßnahmen und anderes mehr. Aber gerade weil dies so ist, ist die Forderung nach einer systematischen Strafvollzugsforschung, die nach den (im Zeitablauf veränderlichen) Vollzugspopulationen, -maßnahmen und -Wirkungen fragt, nach wie vor aktuell. Gewiß, die Kriminologische Forschung hat seit den 60er Jahren vielfältige Fortschritte gemacht, und unser aktuelles Wissen über Verläufe und Effekte des Jugendstrafvollzugs ist heute zweifellos weit besser als damals. Allerdings erlauben alle bisher vorliegenden Befunde noch keine zufriedenstellenden Antworten auf die von Böhm und vielen anderen immer wieder aufgeworfenen Fragen zum Erfolg oder Scheitern des Vollzuges der Jugendstrafe (zum aktuellen Forschungsstand vgl. die Beiträge in Kerner, Dolde und Mey 1996 sowie Greve und Hosser 1998). Angesichts der vorliegenden Befunde haben wir sogar zur Kenntnis zu nehmen, daß sowohl der Forschungsgegenstand „Jugendstrafvollzug" als auch die verfügbaren Methoden der empirischen Sozialforschung zumindest gemessen an den vermeintlich präziseren Maßstäben naturwissenschaftlichen Denkens wohl niemals universell generalisierbare oder dauerhaft unstrittige Erkenntnisse über „die" Wirkungen vollzuglicher Interventionen zulassen werden (vgl. Wirth 1996a). Gerade deshalb ist im Interesse einer rationalen Kriminalpolitik auch weiterhin fortlaufende Strafvollzugsforschung nötig, die die ständig im Wandel begriffenen Anforderungen an den Strafvollzug, die darauf mehr oder weniger gut reagierende Strafvollzugspraxis und ihre folglich ebenfalls veränderlichen Ergebnisse sowohl mit explizitem Praxisbezug als auch theoriegeleitet analysiert. Dabei dürfte klar sein, daß nicht nur erfolgversprechende Planungsentscheidungen, sondern auch erklärungsträchtige Erfolgskontrollen ein profundes und differenziertes Wissen über die jeweiligen Vollzugspopulationen sowie über deren spezifischen Vollzugsverläufe voraussetzen. Diese empirische Basis sowohl für politisches Handeln als auch für die weiterführende wissenschaftliche Analyse zu schaffen, ist nicht zuletzt Aufgabe des Kriminologischen Dienstes, den Böhm seinerzeit mit dem Begriff der „wissenschaftli-
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chen Forschungsstelle" gefordert hat. Damals war ein solcher Kriminologischer Dienst noch ein frommer Wunsch; und auch heute ist eine derartige Einrichtung zwar bei weitem nicht in „an jeder größeren Jugendstrafanstalt", wohl aber in einzelnen Landesjustizverwaltungen etabliert und unter anderem mit der Beantwortung von Fragen beschäftigt, die denen Böhms nicht selten sehr ähnlich sind. Strafvollzugsforschung: Eine Aufgabe des Kriminologischen Dienstes Zukunftsorientierten, kritischen Gestaltern des Strafvollzuges wie Böhm ist es zu verdanken, daß der Gesetzgeber im Rahmen der Reform des Strafvollzugsgesetzes die kriminologische Forschung im Strafvollzug ausdrücklich vorgesehen hat. Nach § 166 StVollzG (Nr. 109 W J u g ) obliegt es dem kriminologischen Dienst, in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der Forschung den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln und seine Ergebnisse für die Zwecke der Strafrechtspflege nutzbar zu machen. Der Gesetzgeber überläßt es allerdings den Bundesländern, die personellen und organisatorischen Rahmenbedingungen dieser Forschungsabteilungen nach Maßgabe der jeweiligen Möglichkeiten auszugestalten. Dies hat zwangsläufig zu höchst unterschiedlichen Institutionalisierungsformen in den einzelnen Ländern geführt, die ihrerseits natürlich die jeweiligen Arbeitsschwerpunkte und Arbeitsergebnisse beeinflussen. Die eigenständige Durchführung kriminologischer Bestands-, Verlaufs- und Evaluationsanalysen zum (Jugend)Strafvollzug und die „Rückfütterung" der Ergebnisse in die Praxis haben sich dabei in der Vergangenheit vor allem die Kriminologischen Diensten der Länder BadenWürttemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie - mit Einschränkungen - auch Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz auf die Fahnen geschrieben. Dabei hat das Land Nordrhein-Westfalen dem am 1.1.1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetz sogar vorgegriffen, indem es bereits im Jahre 1974 eine „Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst" ( a g k d NRW) etabliert hat, über deren Arbeiten hier exemplarisch berichtet werden soll. Die agkd NRW verdankt ihre Entstehung dem Bedürfnis des Justizministeriums, die Effizienz der im Erwachsenenstrafvollzug 1970/1971 eingerichteten Einweisungsanstalten zu überprüfen. Die damalige Bezeichnung „Arbeitsgruppe zur Einrichtung und Auswertung von Datensammlungen bei den Einweisungsanstalten" läßt erkennen, daß sowohl die Verteilungsfunktion des neuen Einweisungsverfahrens als auch die sich aus der diagnostischen Tätigkeit
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ergebende Ansammlung kriminologisch bedeutsamer Daten geprüft und ausgewertet werden sollten. Aus diesem Auftrag entstanden vier Legalbewährungskontrolluntersuchungen, die u. a. eine brauchbare Zuweisungsfunktion des Auswahlverfahrens auf die vielfältigen Ausbildungs- und Behandlungsmöglichkeiten im Strafvollzug N R W bestätigten. Die beiden letzten Untersuchungen (vgl. Baumann, Maetze und Mey 1983) trugen außerdem zu einer Versachlichung der in den siebziger Jahren aufgrund von Fehlinterpretationen der Strafvollzugsstatistik entstandenen Diskussion über eine angeblich immens hohe Rückfälligkeit nach Strafvollzug bei, indem sie innerhalb eines Kontrollzeitraumes von jeweils fünf Jahren nach der Entlassung den empirischen Nachweis über Rückfallquoten von 66% (erneute Verurteilungen gleich welcher Art) und von 40% bzw. 41% (erneute Freiheitsentziehungen) führen konnten. Daneben wurde noch eine Reihe weiterer Fragen geklärt, u. a. bzgl. der Möglichkeiten einer Bewährungsverbesserung durch berufliche Ausbildung im Strafvollzug - ein Thema, das die agkd N R W seither immer wieder aufgegriffen und gewissermaßen „fortgeschrieben" hat (vgl. dazu auch Mey 1986 und zuletzt Wirth 1998b). Die zunächst mit 7 - 8 Personen aus Angehörigen des Justizministeriums, der Justizvollzugsämter und der Einweisungsanstalten sehr umfangreich besetzte und dadurch weniger flexible Arbeitsgruppe wurde später auf einen Psychologen und drei Soziologen reduziert und damit in ihrer Arbeit effizienter. Gleichzeitig erfolgte die Zuweisung eines festen personellen Unterbaus, und auch der Titel der Gruppe wurde in „Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen" abgeändert. Auf diese Weise war eine Einrichtung geschaffen, die sich mehr und mehr auf Forschungsaufgaben konzentrierte und zugleich den Auftrag aus § 166 StVollzG zunehmend professioneller erfüllen konnte. Dabei entwickelte das von Böhm früh und weitsichtig in die Debatte um kontrollierte Behandlung zur Erreichung des Vollzugsziels gepflanzte „Bäumchen" der Einrichtung wissenschaftlicher Forschungsstellen im Vollzug neben den gesetzlichen „Wurzeln" des § 166 StVollzG auch allerlei ertragreiche „Zweige" in Gestalt von Kooperationsverbindungen zu anderen behördlichen und universitären Forschungsinstituten, die in den Folgejahren ein wenig dazu beitrugen, den pensions- und haushaltsbedingten Wegfall von zwei weiteren Stellen des wissenschaftlichen Personals der Arbeitsgruppe zu verkraften. Besonders reichhaltige Früchte trug diese, im § 166 übrigens ausdrücklich vorgesehene, bis dahin aber kaum realisierte Zusammenarbeit vor allem, nachdem sich für die Arbeitsgruppe seit Mitte der
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achtziger Jahre eine stärkere Hinwendung zu Fragen der erzieherischen/behandlerischen Gestaltung des Jugendstrafvollzuges ergab. Hervorzuheben ist dabei insbesondere eine landesweit durchgeführte Untersuchung, die eine detaillierte Bestandsaufnahme hinsichtlich Population, Vollzugsverlauf und Legalbewährung des Entlassungsjahrgangs 1981 ermöglichte und die zusammen mit einer zeitlich und methodisch parallel verlaufenen Untersuchung des Kriminologischen Dienstes des Landes Baden-Württemberg (Dr. Dolde) und mit Forschungsergebnissen aus dem Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, Prof. Dr. Kerner, in einem Kompendium über „Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung" dokumentiert wurde (vgl. Kerner, Dolde und Mey 1996). Anklänge an die Böhmschen Fragestellungen finden sich darin zuhauf - insbesondere in den Beiträgen der damaligen Mitglieder der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst. So beschreibt Maetze (1996: 359ff.) en detail die biographische Vorgeschichte der Gefangenen des damaligen Entlassungsjahrganges, zentrale Merkmale ihres Vollzugsverlaufes und der angewandten Vollzugsmaßnahmen sowie die erhobenen Rückfalldaten - und zwar differenziert nach der Schwere der jeweiligen Sanktion. Dabei zeigte sich, daß innerhalb eines Kontrollzeitraumes von 5 Jahren nach der Entlassung zwar bei mehr als 80 Prozent der Gefangenen eine wie auch immer geartete erneute Straffälligkeit registriert wurde, daß aber „nur" 55%, also „etwas mehr als die Hälfte der Entlassenen so schwerwiegend rückfällig wurde, daß sie erneut in den Strafvollzug zurückkehren mußten." (Maetze 1996: 382). Diese allgemeinen Legalbewährungsdaten werden dann in den folgenden Beiträgen dieses Bandes in Abhängigkeit von spezifischen Individual- und Vollzugsmerkmalen analysiert, wobei die Frage nach Voraussetzungen und Wirkungen einer erfolgreichen beruflichen Förderung im Jugendstrafvollzug besonders intensiv diskutiert wird - auch dies übrigens ein Bereich, der in Böhms Schriften immer wieder mit besonderer Verve hervorgehoben wird (vgl. etwa Böhm 1973). Dabei geht vor allem Mey in seinem Beitrag „Diagnose, Planung und Verlauf der Jugendstrafe in Nordrhein-Westfalen" die eingangs zitierten Fragen ganz unmittelbar an, indem er im wesentlichen am Beispiel der vollzuglichen Bildungsangebote einen „SollIst-Vergleich" zwischen diagnostizierten Behandlungserfordernissen, ausgesprochenen Behandlungsempfehlungen und realisierten Behandlungsmaßnahmen zieht. Er zeichnet ein positives Bild des Verlaufes und der Erfolge schulischer und beruflicher Förderung im Vollzug, weist aber auch darauf hin, daß der vorhandene Q u a lifizierungsbedarf nicht immer vollständig befriedigt werden kann
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und daß gerade die besonders behandlungsbedürftigen und rückfallgefährdeten Gefangenen zu oft nicht problemadäquat behandelt werden. Dabei argumentiert er, daß es nicht Sinn des Jugendstrafvollzugs sein könne, nach dem Prinzip zu verfahren „Wer hat, dem wird gegeben!", statt dessen müsse sich der Jugendstrafvollzug eher auf diejenigen Insassen konzentrieren, jiie weniger gut für eine sozial angepaßte Lebensführung gerüstet sind, die eine geringere Behandlungszeit mitbringen, eine lange kriminelle Karriere mit sich verstärkenden schädlichen Neigungen hinter sich haben und deren Verhalten von einer chronifizierten Abwehr ersatzerzieherischer Einflußnahme geprägt ist." (Mey 1996: 426). Vor dem Hintergrund dieser Forderung folgen eine Reihe von organisatorischen Konsequenzen, die den praxisorientierten Charakter der Forschungstätigkeit des kriminologischen Diensten verdeutlichen, die aber aus Platzgründen hier nicht noch einmal erörtert werden können. Baumanns Aufsatz „Jugendstrafvollzug - Organisationsmerkmale, Vollzugsverläufe und Rückfallquoten im Anstaltsvergleich" knüpft hier mit der Frage an, ob sich die Anstalten des geschlossenen Jugendstrafvollzugs in ausgewählten vollzuglichen Gestaltungsmerkmalen unterscheiden und inwieweit ein Zusammenhang zwischen der anstaltsspezifischen Vollzugsgestaltung und der Rückfälligkeit der Gefangenen besteht. Mit Rückgriff auf kriminologische Theorien (insbesondere Deprivations- und kulturelle Ubertragungstheorie) charakterisiert er zunächst die organisatorischen Gegebenheiten in den fünf Jugendstrafanstalten des Landes NRW. Er zeigt dann, daß die Rahmenbedingungen zur Realisierung des Vollzugsziels im Anstaltsvergleich sehr deutliche Unterschiede aufweisen und welche Anstalten über die günstigsten organisatorischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung der Inhaftierten verfügten. Tatsächlich differierten die „Rückkehrerquoten" im Anstaltsvergleich zwischen 42% und 67%. Bei zusätzlicher Kontrolle individueller Merkmale der Gefangenen zeigte sich allerdings, daß die Frage, ob und inwieweit die Rückfallquoten entlassener Gefangener mit vollzuglichen Mitteln beeinflußt werden können, nicht eindeutig zu beantworten ist. So blieben die sogenannten vollzuglichen ,£)eprivationsunterschiede, die sich wesentlich aus klimatischen Bedingungen herleiten" (Baumann 1996: 464) vor allem für jüngere Gefangene weitgehend ohne Einfluß auf das Rückfallverhalten. Eine positive Beeinflussung der Legalbewährung wurde allerdings für ältere Gefangenengruppen festgestellt, und zwar vor allem, wenn sie in Vollzugsanstalten inhaftiert waren, in denen sich nicht nur die organisatorischen Rahmenbedingungen (ζ. B. Belegungsfähigkeit, Per-
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sonalschlüssel, Betreuungsumfang) als vergleichsweise günstig darstellten, sondern in denen zudem eine explizit berufsausbildungsorientierte Vollzugskonzeption realisiert war. Wie sind nun solche Ergebnisse zu bewerten? In einem eher methodenkritischen Beitrag „Legalbewährung nach Jugendstrafvollzug - Probleme und Chancen von Aktenanalyse, Wirkungsanalyse und Bedingungsanalyse" beleuchtet Wirth (1996b: 467ff.) schließlich die Aussagekraft von empirischen Rückfall- oder Legalbewährungsstudien, deren Ergebnisse in der kriminologischen und kriminalpolitischen Diskussion des Jugendstrafvollzugs oftmals zu vordergründig als Kenngrößen für Erfolg oder Scheitern vollzuglicher Interventionen interpretiert werden. Dabei wird im einzelnen erläutert, daß es zwar erforderlich und möglich ist, mit Hilfe deskriptiver Analysen den Rückfall nach Strafvollzug zu beschreiben und auf die dort durchgeführten Maßnahmen zu beziehen; es wird aber auch gezeigt, daß dies in der Regel nicht ausreicht, stichhaltig zu beweisen, daß die per Gesetz angestrebte Rückfallvermeidung durch vollzugliche Maßnahmen bewirkt wird oder nicht. Auf dieser Grundlage wird für eine Änderung der Forschungsperspektive plädiert. Da die Frage, oh der Strafvollzug bzw. die in ihm erbrachten Maßnahmen spezialpräventiv gewirkt haben, mit den verfügbaren Mitteln der empirischen Sozialforschung letztlich nicht in generalisierbarer Weise beantwortet werden könne, sei danach zu fragen, unter welchen spezifischen Bedingungen die erhofften Wirkungen erzielbar seien. Nur die Kenntnis der jeweiligen Erfolgsbedingungen vollzuglicher Maßnahmen erlaube es, ihre Wirksamkeit steigern zu helfen und gleichzeitig die Erfolgserwartungen auf ein realistisches Maß zu reduzieren - und auch dies wird unter anderem am Beispiel der berufsfördernden Maßnahmen im Jugendstrafvollzug illustriert. Insgesamt verweisen die hier nur grob skizzierbaren Beiträge auf eine praxisbezogene Forschung, die nicht (mehr) allein Erfolg oder Scheitern vollzuglicher Maßnahmen empirisch „beweisen" will, sondern die die begrenzten Möglichkeiten empirischer Forschung auslotet, um die ebenfalls begrenzten, gleichwohl aber (immer noch) unzureichend genutzten Wirkungsmöglichkeiten dieser Maßnahmen zu vergrößern. So gesehen sind Forschungsresultate der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst als Beispiele einer anwendungsorientierten Strafvollzugsforschung zu werten, die die Ergebnisse der kriminologischen Theoriediskussion nutzt und weiterentwickelt, um praktisch wirksam werden zu können. Dies schließt zwar die Verbesserung unseres allgemeinen Wissens über „zeitunabhängige" kriminologisch relevante Zusammenhänge ein, doch müssen wir uns auch darüber im klaren sein, daß die aus den
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Forschungsresultaten ableitbaren praktischen Konsequenzen stets eine nur begrenzte „Halbwertzeit" haben, werden sie doch nicht zuletzt durch strukturelle Veränderungen der Gefangenenpopulation immer wieder in Frage gestellt. Natürlich trifft dies auch für die o.a. Veröffentlichungen zu. Sie sind zwar vergleichsweise jungen Datums, gehen aber auf relativ altes Datenmaterial zurück, das folglich dringend und künftig regelmäßig aktualisiert werden muß. Dies wird auch in der Justizverwaltung des Landes NRW - übrigens auch in Baden-Württemberg - so gesehen, die die Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst mit mehreren Folgestudien beauftragt hat, um anhand von Stichprobenuntersuchungen späterer Entlassungsjahrgänge eine kontinuierliche Fortschreibung der Daten zu gewährleisten. Die bisher unveröffentlichten Ergebnisse der ersten „Follow-up" Studie zu Vorgeschichte und Vollzugsverlauf der Gefangenen des Entlassungsjahrganges 1990 sollen hier im folgenden zusammenfassend referiert werden. Strafvollzugspopulationen: Vorgeschichte der Gefangenen im Jugendstrafvollzug Insgesamt wurden zunächst 221 Personalakten von Gefangenen analysiert, die im Jahre 1990 aus den fünf Jugendstrafanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen entlassen worden waren. Aus Gründen der Vergleichbarkeit mit früheren Untersuchungen der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst wurden dabei ausschließlich männliche Gefangene mit deutscher Staatsangehörigkeit berücksichtigt. Die Anzahl der ausgewerteten Akten entspricht einer repräsentativen (Zufalls-)Stichprobe von 25 Prozent dieser Grundgesamtheit. Die Untersuchung hatte das Ziel, ausgewählte Merkmale der Vorgeschichte und des Vollzugsverlaufes der Gefangenen dieses Entlassungsjahrganges zu beschreiben und mit den Ergebnissen des Entlassungjahrganges 1981 vergleichen. Die Schwierigkeit, aus den aktenkundigen Lebensläufen der jungen Gefangenen hinreichend vollständige und valide Daten zu erheben, haben die früheren Untersuchungen der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst nicht nur hinsichtlich der beruflichen Vorgeschichte, sondern auch für viele Bereiche familialer und schulischer Sozialisation nachhaltig deutlich gemacht. Deshalb wurde in dieser Studie von vornherein auf die Erhebung von Daten zur Beschreibung allgemeiner Familienverhältnisse, elterlicher Erziehungsstile, schulischer Auffälligkeiten u. ä. verzichtet. Zu den Bereichen Familie, Schule, Beruf und Erwerbstätigkeit der Gefangenen wurden lediglich die sogenannten
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„harten" Daten erhoben, für die die bisherigen Erfahrungen nur einen relativ geringen Anteil fehlender Werte erwarten ließen. Unter Berücksichtigung dieser eher technischen Anmerkungen fielen hinsichtlich des Lebenslaufes der jungen Gefangenen vor der Inhaftierung vor allem mit Blick auf die Vollständigkeit der Herkunftsfamilie gravierende Änderungen gegenüber der Vergleichsuntersuchung auf. Der gesamtgesellschaftliche Trend zu steigenden Scheidungsraten ist, allerdings auf deutlich höherem Niveau, auch bei den Eltern der Inhaftierten zu beobachten. Der Anteil geschiedener Ehen hat sich dort seit 1981 von 32 auf 41% erhöht. Rechnet man hier nun noch diejenigen Gefangenen hinzu, die mindestens einen Elternteil durch Tod oder sonstige, im einzelnen nicht näher dokumentierte Ereignisse verloren haben, so entstammten nahezu zwei Drittel (63 %) der Untersuchungspopulation einem familialen Milieu, das viele sozialisationstheoretisch orientierte Kriminologen gerne als „Broken-Home"-Situation bezeichnen. In der Konsequenz waren weit mehr Gefangene als zuvor zumindest zeitweise in Heimen aufgewachsen (51% gegenüber 36%). Dies mag man als Indikator für eine gewachsene Bindungslosigkeit der Inhaftierten werten, die die Erziehungsaufgabe des Jugendstrafvollzuges erschwert. Es läßt sich jedoch nicht bestätigen, daß die Gefangenen auch im Hinblick auf ihre schulische und berufliche Vorbildung sowie ihre strafrechtliche Vorbelastung „schwieriger" geworden sind. So ist das vor der Inhaftierung erreichte Ausbildungsniveau der Gefangenen sowohl bezüglich der schulischen als auch bezüglich der beruflichen Qualifikationen eher leicht verbessert, obwohl es nach wie vor als sehr niedrig einzustufen ist. Uber einen regulären Schulabschluß verfügten nunmehr 36% der Gefangenen (zuvor 32%) und über eine berufliche Qualifikation 18% (zuvor 12%). Trotz dieser geringfügigen Verbesserung des Qualifizierungsniveaus waren die Gefangenen aber schlechter in Arbeitsmarkt und Berufsleben integriert als zu Beginn der achtziger Jahre. Der Anteil derjenigen, die vor ihrer Inhaftierung arbeitslos waren, lag bei 63% - fast zehn Prozent mehr als ein Jahrzehnt zuvor, und aktuelle Daten aus dem heutigen Jugendstrafvollzug signalisieren uns, daß diese Arbeitslosenquote inzwischen sogar um weitere zwanzig Prozentpunkte gestiegen ist! Der Bedarf an vollzuglichen Förderungsmaßnahmen zur Kompensation der nach wie vor offenkundigen Ausbildungsmängel ist also immer noch enorm, aber die gestiegenen Arbeitslosenquoten zeigen auch, daß nicht so sehr die schulische und berufliche Förderung im Strafvollzug, wohl aber die berufliche Wiedereingliederung nach der Haftentlassung schwieriger geworden sein dürfte.
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Die strafrechtliche Vorbelastung der Gefangenen fiel im Hinblick auf die durchschnittliche Anzahl früherer Verurteilungen, bezüglich des Anteils der bereits vor Eintritt der Strafmündigkeit straffällig Gewordenen und hinsichtlich der Quote von Gefangenen mit „Hafterfahrung" ebenfalls etwas günstiger aus als früher, doch sind die Veränderungen so gering, daß man hier eher von einer relativ konstanten, denn von einer nachhaltig verbesserten Situation sprechen sollte. 92% der Inhaftierten waren vorbestraft (zuvor 94%). 4 5 % (48%) wiesen vor der Inhaftierung bereits mehr als drei Vorstrafen auf, und 22% (24%) verfügten bereits über Hafterfahrung· Für die Struktur der Bezugsdelikte, die zu der analysierten Inhaftierung geführt hatten, gilt wohl ähnliches, obwohl die Stichprobe einen erkennbaren Rückgang des Anteils inhaftierter Gewalttäter von mehr als 6 Prozentpunkten auswies (28% vs. 34%). Die Eigentumsdelikte dominierten nach wie vor mit knapp über der Hälfte aller Inhaftierten, und die übrigen Deliktgruppen wiesen kaum Unterschiede auf. Beobachtungen aus jüngerer Zeit lassen aber erwarten, daß sich dies seit Beginn der neunziger Jahre insbesondere im Bereich der Drogendelinquenz verändert hat, und die seit 1991 in der Polizeilichen Kriminalstatistik beobachtete Zunahme der Gewaltdelikte läßt vermuten, daß deren bis dahin über viele Jahre relativ konstant gebliebene und teilweise sogar leicht rückläufige Anzahl inzwischen wieder zu einer Erhöhung des Gewalttäteranteils im Vollzug geführt hat. Dies wird in weiteren Folgeuntersuchungen zu prüfen sein. Der für 1991 beobachte Rückgang des Gewalttäteranteils zeichnet allerdings für eine Reduzierung des in der Stichprobe registrierten durchschnittlichen Strafmaßes der Verurteilten verantwortlich. Hier ist sogar eine gewisse Tendenzwende feststellbar: Der über lange Zeit sinkende Anteil kurzstrafiger Gefangener war wieder deutlich gewachsen (Steigerung von 15% auf 32%), während insbesondere ein- bis zweijährige Freiheitsentziehungen relativ seltener verhängt wurden (Rückgang von 54% auf 41%). Die Quote der Gefangenen mit noch höherem Strafmaß ist dagegen in etwa gleich geblieben. Gleichwohl war die für die Planung und Durchführung vollzuglicher Behandlungs- oder Erziehungsmaßnahmen maßgebliche Dauer der „reinen" Verbüßungszeit im Jugendstrafvollzug, die sich rechnerisch aus dem Strafmaß abzüglich der Zeiten einer anzurechnenden Untersuchungshaft und eines zur Bewährung ausgesetzten Strafrestes ergibt, im Durchschnitt nicht gesunken, sondern sogar gestiegen. Dies ist zum einen auf einen Rückgang des Anteils der Gefangenen zurückzuführen, die vor der Aufnahme in den Jugendstrafvoll-
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zug in Untersuchungs- oder Sicherungshaft waren (64% vs. 69%). Darüber hinaus - und in besonderem Maße - fällt hier aber wohl ins Gewicht, daß im Vergleich zum Entlassungsjahrgang 1981 nunmehr weniger Gefangene vorzeitig zur Bewährung oder im Wege der Gnade entlassen worden sind - und zwar 70% gegenüber 78% in der Vergleichsuntersuchung. Es erscheint zwar plausibel, dies wenigstens zum Teil als Folge des vergrößerten Anteils kürzerer Strafen zu betrachten, die seit ehedem häufiger voll verbüßt werden; eine vollständig befriedigende Erklärung dieser Entwicklung kann mit dem vorliegenden Datenmaterial aber nicht geleistet werden. Strafvollzugsverläufe: Erzieherische Maßnahmen im Jugendstrafvollzug Für die Bewertung des Vollzugsverlaufs ist es zunächst einmal wichtig zu wissen, daß die im Jugendstrafvollzug Einsitzenden bei ihrem Haftantritt im Schnitt noch ein wenig älter waren als frühere Gefangenenpopulationen. Die bereits für den Entlassungsj ahrgang 1981 getroffene Feststellung, daß der Jugendstrafvollzug eigentlich ein „Heranwachsendenvollzug" sei, stimmt zwar noch im Grundsatz, doch deutet die Tendenz mittlerweile zunehmend auf einen Strafvollzug für „junge Erwachsene" hin. Der Anteil der über 21-jährigen hat sich mit nunmehr 28% nahezu verdoppelt; das Gros bilden aber gleichwohl noch die „Heranwachsenden", also die Gruppe der 18 bis 21-jährigen mit 56% (zuvor 68%), und der Anteil der im rechtlichen Sinne „Jugendlichen" im Alter von 14 bis unter 18 Jahren ist mit etwa 16 Prozent nahezu konstant geblieben. (Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich der Begriff der „Minderjährigen", der von Böhm noch wie selbstverständlich benutzt wurde, heute nicht nur wegen der Änderung des Volljährigkeitsalters, sondern auch wegen der nur noch geringen Anzahl jugendlicher Inhaftierter kaum noch zur Charakterisierung der Jugendstrafvollzugspopulation eignet.) Angesichts der Tatsache, daß die in die Untersuchung einbezogenen Gefangenen durchschnittlich etwas älter, schulisch und beruflich etwas qualifizierter und strafrechtlich etwas weniger vorbelastet waren, nimmt es nicht wunder, daß insgesamt auch relativ mehr Gefangene zumindest einen Teil ihrer Strafe im offenen Vollzug verbüßt haben (39% vs. 34%) und daß der Anteil der dort gescheiterten Gefangenen etwas zurückging - und zwar von 48% auf 42%. Dies geht einher mit einer insgesamt rückläufigen Entwicklung bei den disziplinarisch geahndeten Auffälligkeiten. So stieg beispielsweise der Anteil derjenigen, die niemals disziplinarisch belangt
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wurden, von 30% auf 36 Prozent. Lediglich für Verstöße gegen das Alkohol- und Drogenverbot (15% der Inhaftierten) und bei der verspäteten Rückkehr aus einem Urlaub oder Ausgang (29%) waren Steigerungen von 5 bis 7 Prozentpunkten festzustellen. In allen anderen Bereichen wurden insgesamt weniger Disziplinarmaßnahmen verfügt als früher. Der Rückgang bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen korrespondierte mit einer Steigerung bei der Gewährung vollzuglicher Lockerungen, was teilweise die erhöhten Raten der disziplinarisch geahndeten Lockerungsverstöße erklären kann. Zwar stieg auch der Anteil der Gefangenen, die keinen Hafturlaub erhalten hatten, leicht von 19% auf 22% an, doch wurde der weitaus größte Teil der Inhaftierten häufiger beurlaubt als früher. Dazu eine statistische Kennzahl, die dies gewissermaßen verdichtet aufzeigen kann: Pro Haftmonat wurden den Gefangenen des Entlassungsjahrgangs 1990 im Schnitt 0,64 Hafturlaube gewährt. In der Vergleichsuntersuchung waren dies lediglich 0,48 Urlaube; bei den Ausgängen war übrigens eine ähnliche Steigerung festzustellen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß nur in einem einzigen Fall eine erneute Straftat in Verbindung mit einem Urlaubsmißbrauch registriert werden mußte, und es sei zudem darauf hingewiesen, daß der Anteil der Gefangenen, die überhaupt während der Haft erneut straffällig wurden, mit 6 Prozent in etwa konstant blieb. Dabei wurden die Straftaten je zur Hälfte in der Anstalt oder im Zusammenhang mit einer Entweichung begangen. Bei der inhaltlichen bzw. beschäftigungsmäßigen Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges spielte „Arbeit" in den diversen Eigenund Unternehmerbetrieben nach wie vor die dominierende Rolle. Allerdings wurde die Verbüßung der Jugendstrafe für die Untersuchungspopulation gleichzeitig etwas ausbildungsintensiver ausgestaltet als zuvor. Gemessen in Zeitanteilen waren die Inhaftierten über 6% ihrer Verbüßungsdauer unbeschäftigt (zuvor 9%). Knapp die Hälfte der Verbüßungszeit (zuvor 53%) waren sie in diversen Arbeitseinsätzen beschäftigt, und ein Fünftel der Haftzeit war der Teilnahme an schulischen Bildungsmaßnahmen (zuvor 17%) bzw. an beruflichen Bildungsmaßnahmen gewidmet (24% vs. 22%). Das heißt mit anderen Worten, daß im Vergleich zu den Ergebnissen früherer Untersuchungen insgesamt mehr Gefangene in den diversen schulischen und beruflichen Ausbildungsmaßnahmen gefördert wurden, die sich zudem häufiger über einen längeren Zeitraum erstreckten. - im einzelnen nahmen 40% (zuvor 31%) an schulischen, 45% (zuvor 36%) an beruflichen und 19% (zuvor 11%) an beiden Maßnahmearten teil.
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Diese positive Entwicklung ist jedoch nicht auf eine verbesserte oder intensivierte Vollzugsplanung zu Beginn der Haft zurückzuführen. Im Rahmen der entsprechenden Auswahl- und Aufnahmeverfahren war vielmehr eine bemerkenswerte Zurückhaltung bei der Planung vollzuglicher Ausbildungsmaßnahmen festzustellen. Der Anteil der Gefangenen, die hier zur Teilnahme an einer schulischen oder beruflichen Förderung vorgeschlagen wurden, fiel sogar erheblich geringer aus als noch vor zehn Jahren. Wenn dennoch eine Ausweitung der im Vollzug durchgeführten Maßnahmen bzw. eine Vergrößerung des Anteils der schulisch und/oder beruflich Geförderten zu beobachten war, so ist dies offensichtlich weniger auf eine vorausschauendere Vollzugsplanung beim Antritt der Haftstrafe als vielmehr auf eine deutlich verbesserte Umsetzung der (rückläufigen) Planungsvorschläge und -empfehlungen sowie auf eine insgesamt flexiblere Gestaltung des anschließenden Vollzugsverlaufes zurückzuführen - und dies, so hoffen die Autoren zumindest, mag zu einem kleinen Teil auch auf die Kritik an der unzureichenden Umsetzung der Vollzugsplanung zurückzuführen sein, die in den Ergebnisberichten früherer Untersuchungen geübt wurde (vgl. dazu auch Mey 1996). Nun gewährleistet diese größere Flexibilität allerdings immer (noch) nicht, daß die Gefangenen mit den schwerwiegendsten Ausbildungsmängeln verstärkt oder gar vorrangig gefördert werden. Tatsächlich erwies sich die Auswahl der zu fördernden Gefangenen sogar zunehmend mehr an den Zwängen der verbleibenden Verbüßungszeit als an den Kriterien individueller Ausbildungseignung und -bedürftigkeit orientiert. Eine systematische Intensivierung der beruflichen Förderung für besonders ausbildungsbedürftige Gefangene sowie für Inhaftierte mit einer besonders langen und intensiven kriminellen Karriere, wie sie der Abschlußbericht der Vergleichsuntersuchung ebenfalls nahelegte, hat indes in der Praxis noch nicht genügend Gehör gefunden. In der Konsequenz erscheint die schulische und berufliche Förderung der Gefangenen mit besonders gravierenden Bildungsdefiziten und besonders großer Rückfallgefährdung daher nach wie vor als verbesserungsbedürftig, obwohl sich im Rahmen der insgesamt gestiegenen Teilnehmerquoten inzwischen auch ihr Anteil gegenüber der Vergleichspopulation erhöht hat. Dem (meßbaren) Erfolg der Maßnahmen tat die beobachtete Steigerung der Teilnehmerquoten indes keinen Abbruch. Es konnten in der Summe sogar deutlich mehr Gefangene als früher eine schulische und/oder berufliche (Zusatz-)Qualifikation im Jugendstrafvollzug erwerben. Da 81% der Teilnehmer an schulischen Maßnah-
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men und 72% der Teilnehmer berufsfördernder Maßnahmen das jeweilige Ausbildungsziel erreichten, konnten insgesamt 30 % aller Gefangenen im Jugendstrafvollzug eine schulische und 32% eine berufliche Qualifikation erwerben. In den Ergebnissen der Vergleichsuntersuchung waren dies lediglich 22% (schulische Qualifikation) bzw. 26% (berufliche Qualifikation). Ob dies aber ausreichte, die berufliche Wiedereingliederung der Gefangenen zu verbessern und das Risiko einer erneuten Straffälligkeit nach der Haftentlassung zu verringern, mußte bei Abschluß der Untersuchung in Zweifel gezogen werden. Denn ähnlich wie vor der Inhaftierung, stellten sich die Arbeitsmarktchancen für die Gefangenen auch nach der Entlassung als stark verschlechtert dar. Zwar ergaben sich für die im Vollzug beruflich besser Qualifizierten auch bessere Erwerbstätigkeitsperspektiven, doch wurden ausweislich der Gefangenen-Personalakten insgesamt vier von fünf Gefangenen in die drohende Arbeitslosigkeit entlassen - gegenüber zwei von drei Gefangenen des Entlassungsjahrganges 1981. Im Wissen um die Rolle, die eine frühzeitige und dauerhafte Erwerbstätigkeit nach der Entlassung für die spätere Legalbewährung spielt (vgl. u.a. Wirth 1998b), stand damit zu befürchten, daß die Untersuchungspopulation auch im Hinblick auf die Rückfälligkeit nach Strafvollzug vielleicht sogar schlechter dastehen würde als die vorangegangenen Jahrgänge - und dies paradoxerweise, obwohl sich sowohl die individuellen Voraussetzungen als auch die vollzuglichen Förderungsergebnisse positiver darstellten als zuvor. Eine nach Ablauf eines Kontrollzeitraumes von 4 Jahren durchgeführte Legalbewährungsanalyse konnte diese Befürchtung jedoch zerstreuen: Der Anteil der Haftentlassenen, bei denen sich ein erneuter Sanktionseintrag im Bundeszentralregister fand, lag zwar auch in dieser Population immer noch bei knapp 80% - der Anteil der „Rückkehrer", also jener Gefangenen, die eine neue mit Freiheitsentziehung geahndete Straftat begangen hatten, sank aber gegenüber dem Vergleichswert des Entlassungsjahrgangs 1981 um fast sieben Prozentpunkte von 54,9% auf 48,4% - und dabei soll mit Rückgriff auf die erfolgreiche Förderung im Vollzug nicht unerwähnt bleiben, daß die Absolventen berufsfördernder Maßnahmen mit 38% eine deutlich unterdurchschnittliche „Rückkehrerquote" aufwiesen. (Die detaillierten Ergebnisse dieser Legalbewährungsstudie werden in Kürze veröffentlicht).
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Exkurs: Ausländische Gefangene im Strafvollzug Die referierten Daten lassen also vermuten, daß die Arbeit des nordrhein-westfälischen Jugendstrafvollzuges von Beginn bis Ende der 80er Jahre in der Tendenz nicht schwieriger, sondern eher (ein wenig) einfacher und sogar erfolgreicher geworden sei. Dies ist zwar mit Blick auf die Untersuchungspopulation nicht falsch; hinsichtlich der gesamten Vollzugspopulation entspricht es aber leider nicht der ganzen Wahrheit. Wie bereits erwähnt, mußte die Grundgesamtheit der Untersuchungspopulation 1990 aus Vergleichsgründen auf die deutschen Gefangenen beschränkt bleiben, weil die ausländischen Gefangenen des Entlassungsjahrganges 1981 auch in der Vergleichsuntersuchung „mangels Masse" unberücksichtigt geblieben waren. Tatsächlich lag der Äusländeranteil im Jugendstrafvollzug des Landes NRW Anfang der achtziger Jahre bei etwa fünf Prozent; Anfang der 90er Jahre verfügten aber bereits fast ein Viertel aller Inhaftierten nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft - Tendenz steigend. Das diese Entwicklung die wohl gravierendste Veränderung der Gefangenenpopulation darstellt, leuchtet unmittelbar ein. Die daraus resultierenden, veränderten Anforderungen an die vollzugliche Arbeit werden aber bei einer exklusiven Betrachtung der deutschen Vollzugspopulation nicht sichtbar, sondern können erst durch ergänzende Analysen deutlich gemacht werden. Vor diesem Hintergrund hat die Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst eine Nacherhebung zur Beschreibung der ausländischen Gefangenen desselben Entlassungsjahrganges durchgeführt und danach gefragt, ob und inwieweit sich Unterschiede zur deutschen Gefangenenpopulation zeigten und welche Schlußfolgerungen daraus ggf. für die Zustandsbeschreibung und -bewertung des Jugendstrafvollzuges insgesamt zu ziehen seien. Dabei ergab sich hinsichtlich der für beide Untersuchungsgruppen verfügbaren Vergleichsdaten zunächst, daß die ausländischen Gefangenen gemessen an den relativ „harten" Kriterien „familiale Instabilität" und „außerfamiliale Erziehung" weitaus seltener als ihre deutschen Mitgefangenen den sogenannten „Broken-Homes" entstammten (63%) und in Heimen aufgewachsen waren (20% vs. 51%). Es wäre allerdings fatal, wenn daraus auf eine Erleichterung für den allgemeinen Resozialisierungsauftrag des Jugendstrafvollzuges geschlossen würde, denn die aus den Ergebnissen ableitbare stärkere Familienbindung der ausländischen Gefangenen mag sich zwar positiv auf ihre familiale Reintegration nach der Entlassung auswirken, doch steht außer Zweifel, daß andere Faktoren, wie die bei etwa jedem Sechsten anzutreffen-
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den Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten, eine weiterführende soziale Wiedereingliederung erschweren. Allerdings zeigte sich schon mit Blick auf diese Daten, daß es wenig Sinn macht, undifferenziert von „den" Ausländern im Strafvollzug zu sprechen, sondern daß es auch hier unterschiedliche, jeweils durch spezifische Merkmale beschreibbare Teilgruppen gibt, die die Justizvollzugsanstalten vor mehr oder weniger große Probleme stellen. Dies trifft beispielsweise auch auf das Qualifizierungsniveau der ausländischen Gefangenen zu, das die Planung und den Verlauf ihrer Strafverbüßung, insbesondere die Durchführung schulischer und beruflicher Maßnahmen, ebenso entscheidend beeinflußt wie deren spätere Wiedereingliederungswirkungen. Die schulische und berufliche Entwicklung der ausländischen Gefangenen verlief zwar überwiegend (noch) ungünstiger als die der deutschen Gefangenen, doch fielen das Vorbildungsniveau und die berufliche Integration der Inhaftierten um so schlechter aus, je älter sie zum Zeitpunkt ihrer Zuwanderung waren. Gefangene, die erst nach Erreichen des Einschulungsalters in die Bundesrepublik gekommen waren, hatten im Vergleich zu den früher zugewanderten oder hier geborenen Straffälligen seltener einen Schulabschuß erreicht (16 vs. 22%) und seltener eine berufliche Qualifikation erworben (3% vs. 11%). Konsequenterweise waren sie vor ihrer Inhaftierung auch in größerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen (73% vs. 68%). Dies zeigt, daß der Jugendstrafvollzug bei ausländischen Gefangenen tendenziell nicht nur mit qualitativ anderen, sondern auch mit schwieriger zu bewältigenden Aufgaben konfrontiert war als bei den deutschen Inhaftierten. In der zusammenfassenden Berücksichtigung der Ausbildungsmerkmale deutscher und ausländischer Gefangener bestätigte sich dennoch nicht, daß die Gefangenen im Laufe der achtziger Jahre insgesamt problematischer geworden waren. Allein die Quote der bei Strafantritt arbeitslosen Gefangenen erscheint in der Gesamtschau nun noch höher als zuvor, und dies erhöhte natürlich auch den Bedarf an vollzuglichen Maßnahmen zur beruflichen Re-Integration. Daß dies im Jugendstrafvollzug durchaus gesehen wurde, belegen die zusätzlich erhobenen Daten zum Vollzugsverlauf der ausländischen Gefangenen. Sie zeigen zum einen, daß die Gesamtpopulation des Entlassungsjahrganges 1990 auch unter Berücksichtigung dieser Teilgruppe nicht nur intensiver, sondern auch erfolgreicher gefördert worden war als die ein knappes Jahrzehnt zuvor entlassenen Gefangenen. Zum anderen wird deutlich, daß ausländische Straftäter im Hinblick auf vollzugliche Ausbildungsmaßnahmen nicht quantitativ schlechter, wohl aber qualitativ anders gefördert
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wurden als deutsche Inhaftierte, wobei sie - bedingt durch das unterschiedliche Vorbildungsniveau - relativ häufiger an schulischen Maßnahmen teilnahmen (44% vs. 40%), während die deutschen Gefangenen stärker in vollzuglichen Berufsförderungsmaßnahmen vertreten waren (29% vs. 45%). Sowohl schulische als auch berufliche Förderungsangebote nutzten übrigens 7 % der ausländischen gegenüber 19% der deutschen Gefangenen. Bemerkenswert ist dabei, daß die ausländischen Maßnahmeteilnehmer in beiden Maßnahmebereichen bessere Erfolgsquoten aufweisen konnten als die deutschen Gefangenen. Neun von zehn Teilnehmern einer schulischen Maßnahme erreichten das gesteckte Ausbildungsziel, und eine vollzugliche Berufsausbildung schlossen exakt drei Viertel der Teilnehmer erfolgreich ab, was nicht zuletzt auch als Indiz für die zielgruppengerechte Ausgestaltung der Maßnahmen betrachtet werden kann. Der eindeutig positiven Bilanz im Bereich der schulischen und beruflichen Förderung steht allerdings eine gleich in mehrfacher Hinsicht ambivalente Situation bei den vollzuglichen Lockerungen und Disziplinarmaßnahmen gegenüber. Zunächst sei mit Blick auf den gesamten Entlassungsj ahrgang daran erinnert, daß verglichen mit dem Beginn der 80er Jahre mehr Vollzugslockerungen gewährt worden sind, die allerdings anteilmäßig weniger Gefangenen zugute kamen. Hier zeigte sich nun weiter, daß relativ mehr deutsche Inhaftierte (78%) Hafturlaub erhalten hatten als ausländische Gefangene (63%), die ihrerseits aber eine gewährte Lockerung seltener mißbrauchten. Nicht zuletzt deswegen zeichnete sich bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen in der Gesamtschau gegenüber dem Jahr 1981 weiterhin ein leichter Rückgang ab. Da nun aber grundsätzlich immer um so weniger Lockerungsmißbräuche (und folglich auch um so weniger Disziplinarmaßnahmen) zu erwarten sind, je mehr ungeeignet erscheinende Straftäter von Vollzugslockerungen ausgeschlossen bleiben, kann daraus noch nicht zwangsläufig auf ein generell disziplinierteres Vollzugsverhalten der ausländischen Gefangenen geschlossen werden. Auch hier sind die Ergebnisse der Analyse eher zwiespältig. Einerseits wurden insgesamt deutlich weniger ausländische als deutsche Gefangene überhaupt disziplinarisch belangt (53% vs. 64%); andererseits wurden aber relativ mehr Disziplinarmaßnahmen gegen ausländische als gegen deutsche Inhaftierte verhängt (0,14 vs. 0,12 Disziplinarmaßnahmen pro Haftmonat allein bezogen auf alle Gefangenen der beiden Teilgruppen bzw. 0,26 vs. 0,19 Disziplinarmaßnahmen pro Haftmonat bezogen auf die disziplinarisch belangten Gefangenen). Die daraus zu ziehende Schlußfolgerung ist jedoch wieder eindeutig: Die
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ausländischen Gefangenen stellten auch in disziplinarischer Sicht keine homogene Problemgruppe dar, die generell auffälliger wäre als andere Inhaftierte. Allerdings machten die disziplinarisch auffälligen Ausländer den Vollzugsbehörden offenkundig mehr und häufiger Probleme als andere Gefangene, was vor allen Dingen in einer vergleichsweise geringeren Arbeitsdisziplin und einer relativ größeren Gewaltbereitschaft zum Ausdruck kommt. Letzteres wird übrigens auch anhand der Struktur der Delikte deutlich, die zu der untersuchten Inhaftierung geführt haben. Zwar eignet sich die zusätzliche Berücksichtigung der verfügbaren, zumindest bei den zugewanderten Ausländern aber tendenziell unvollständigeren Daten zur kriminellen Karriere ebenfalls nicht dazu, ein insgesamt negativeres Bild der Gesamtpopulation des Entlassungsjahrganges zu zeichnen, doch fand sich unter den ausländischen Gefangenen ein deutlich überdurchschnittlicher Anteil an Gewalttätern (43% vs. 28% bei den deutschen Gefangenen), der vor allem auf eine fast doppelt so große Quote von wegen Raubes Verurteilten zurückgeht (21%). Es steht zu vermuten, daß dies, neben formalen Gründen, wie etwa dem Fehlen einer Urlaubsadresse bei illegal Zugewanderten, die zentrale Ursache für die restriktivere Lockerungspraxis gegenüber ausländischen Gefangenen ist, die übrigens aus dem gleichen Grund vergleichsweise seltener im offenen Vollzug untergebracht waren (24% vs. 39 %). Bezüglich einer vorzeitigen Entlassung zur Bewährung waren die ausländischen Gefangenen aber wiederum nicht schlechter gestellt als deutsche Inhaftierte. Bleibt die Frage nach der Legalbewährung, die allerdings für ausländische Gefangene anhand des Bundeszentralregisters nur eingeschränkt dokumentiert werden kann, weil ein Teil der Gefangenen - und dabei typischerweise jene mit dem größeren Rückfallrisiko - nach Verbüßung der Strafe ausgewiesen oder abgeschoben wird. Dies muß bei der Interpretation der Befunde berücksichtigt werden, die für die ausländischen Gefangenen insgesamt unterdurchschnittliche, im Vergleich knapp sieben Prozentpunkte niedrigere Rückfallquoten anzeigen. Berücksichtigt man aber beispielsweise nur die in der Bundesrepublik geborenen oder eingeschulten Ausländer, bei denen die verfügbaren Daten noch am ehesten Vergleiche mit den deutschen Haftentlassenen zulassen, so müssen die Daten doch nachdenklich stimmen. Von ihnen kehrten mit 54% überdurchschnittlich viele ehemalige Gefangene aufgrund erneuter Straffälligkeit in den Vollzug zurück. Zum Vergleich: Die „Wiederkehrerquote" bei den deutschen Haftentlassenen lag bei 48 Prozent.
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Epilog Ziehen wir Bilanz: Verglichen mit den zu Beginn der achtziger Jahre erhobenen Jugendstrafvollzugsdaten geben die in die Untersuchung einbezogenen Merkmale der Gesamtpopulation des Entlassungsjahrgangs 1990 keinen Anlaß, eine Verschlechterung der vollzuglichen Ausgangslage und/oder der vollzuglichen Arbeit sowie ihrer Effekte zu beklagen. Im Bereich der vollzuglichen Lockerungs- und Disziplinarpraxis, im Bereich der schulischen und beruflichen Förderung und auch im Bereich der Legalbewährung sind sogar eindeutig positive Entwicklungen auszumachen, die aber nicht über signifikante und durchaus problematische Veränderungen in der strukturellen Zusammensetzung der Gefangenenpopulation hinwegtäuschen können und dürfen. Nicht nur am Beispiel der deutschen und ausländischen Gefangenen läßt sich illustrieren, ob und wie sich einzelne Teilgruppen des Jugendstrafvollzuges hinsichtlich Vorgeschichte, Vollzugsverlauf und Vollzugsfolgen unterscheiden und welche spezifischen Problemgruppen besondere und/ oder neue Herausforderungen an die individuelle Vollzugsplanung und die organisatorische Vollzugsgestaltung stellen. Die Entwicklung der Rückfallbilanz künftiger Entlassungsjahrgänge wird wenigstens teilweise vom Erfolg der Bemühungen des Jugendstrafvollzuges abhängen, angemessene und differenzierte Behandlungsangebote für solche Problemgruppen zu entwickeln, zu denen nach Maßgabe der hier vorgestellten Befunde insbesondere junge, aus „broken homes" stammende Gefangene, Gefangene mit einer besonders intensiven kriminellen Karriere sowie Gefangene mit einer besonders schlechten schulischen und beruflichen Vorbildung gehören, unter denen wiederum ausländische Gefangene, auch jene der „zweiten Generation", überrepräsentiert sind. Die kontinuierliche Beobachtung der Entwicklung der Strafvollzugspopulationen, die zeitnahe Analyse der auf sie zielenden Vollzugsmaßnahmen und ihre differenzierte Erfolgskontrolle bieten dazu wichtige, letztlich unverzichtbare Grundlagen. Die Aufgabenplanung der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst des nordrhein-westfälischen Justizministeriums trägt dem Rechnung. So werden beispielsweise in Kürze die Abschlußarbeiten an einer gleichfalls landesweit durchgeführten Studie fertiggestellt sein, die die hier referierten Ergebnisse mit Daten des Entlassungsjahrganges 1995 aktualisiert; und zudem sind unlängst die Befunde einer weiteren Untersuchung publiziert worden, die sich im Detail mit den im Jugendstrafvollzug einsitzenden ausländischen Gefangenen beschäftigt, deren Anteil an der Gesamtpopulation in 1997
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weiter auf nunmehr knapp über 40 Prozent angestiegen war (vgl. Wirth 1998a). Mehr noch: Unter Bezugnahme auf Ergebnisse der Studien, die im Rahmen der Arbeitsgruppe Kriminologischer Dienst zu den Wirkungen vollzuglicher Berufsförderungsmaßnahmen entstanden sind, ist in Nordrhein-Westfalen vor kurzem ein Modellprojekt gestartet worden, mit dem neue Wege der Integration vollzuglicher Berufsförderung und außervollzuglicher Beschäftigungsangebote für Haftentlassene beschritten werden. Die Ergebnisse der Erfolgskontrolle dieses Projekts werden ebenfalls dazu beitragen, „den Vollzug, namentlich die Behandlungsmethoden, wissenschaftlich fortzuentwickeln", wie es das Strafvollzugsgesetz vorschreibt. Der Jubilar mag auch dies als Bestätigung für den Nutzen praxisorientierter Strafvollzugsforschung und damit für die Weitsicht und Richtigkeit seiner vor Jahrzehnten formulierten Forderung nach einer entsprechenden „wissenschaftlichen Forschungsstelle" sehen. Literaturverzeichnis Baumann, K.-H. 1996: Jugendstrafvollzug - Organisationsmerkmale, Vollzugsverläufe und Rückfallquoten im Anstaltsvergleich. In: Kerner, H.-J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg, S. 429-465 Baumann, K.-H., Maetze, W., Mey, H.-G., 1983: Zur Rückfälligkeit nach Strafvollzug. Legalbewährung von männlichen Strafgefangenen nach Durchlaufen des Einweisungsverfahrens gem. § 152 Abs. 2 StVollzG in Nordrhein-Westfalen. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 66. Jahrg., Heft 3, S. 133-148 Böhm, Α., 1963: Die Behandlung in der Anstalt. In: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (Hrsg.): Die kriminell stark gefährdeten Minderjährigen - Ihre Kriminologie und ihre Behandlung. Hamburg: Selbstverlag DVJJ, S. 83-91 Böhm, Α., 1973: Zu Bedeutung und Erfolg von Berufsausbildung im Jugendstrafvollzug. In: Monatsschrift für Berufspädagogik, Wirtschaftspädagogik und Berufsbildungsforschung, 4, S. 267-276 Greve, W., Hosier, D., 1998: Psychische Folgen einer Jugendstrafe: Forschungsstand und Desiderate. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 81. Jahrg., Heft 2, S. 83-103 Kerner, H.-J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), 1996: Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg Maetze, W., 1996: Der Entlassungsjahrgang 1981 aus dem Jugendstrafvollzug in Nordrhein-Westfalen. In: Kerner, H.-J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg, S. 359-387 Mey, H.-G. 1986: Auswirkungen schulischer und beruflicher Bildungsmaßnahmen während des Strafvollzuges. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 35. Jahrg., S. 265-269 Mey, H.-G., 1996: Diagnose, Planung und Verlauf der Jugendstrafe in NordrheinWestfalen. In: Kerner, H.-J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug
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und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg, S. 389-428 Wirth, W. 1996a: Das Evaluierungskriterium der Legalbewährung in der Strafvollzugsforschung - ein methodologischer Problemaufriß in vier Thesen. In: Kerner, H.-J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg, S. 97-113 Wirtk, W. 1996b: Legalbewährung nach Jugendstrafvollzug: Probleme und Chancen von Aktenanalyse, Wirkungsanalyse und Bedingungsanalyse. In: Kerner, H.J., Dolde, G., Mey, H.-G. (Hrsg.), Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Forum Verlag: Godesberg, S. 467-496 Wirth, W. 1998a: Ausländische Gefangene im Jugendstrafvollzug. Ergebnisse einer Stichtagserhebung. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 47. Jahrg., Heft 5, S. 278-284. Wirth, W. 1998b: Prävention durch Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt: Cui bono? In: Kawamura, G., Helms, U. (Hrsg.), Straffälligenhilfe als Prävention. Lambertus: Freiburg i. Br., S. 55-75
Jugendarrest - Eine zeitgemäße Sanktionsform des Jugendstrafrechts? K L A U S KOEPSEL
Es lohnt sich, über die Wirksamkeit des Jugendarrestes als „Zuchtmittel" des Jugendstrafrechts neu nachzudenken. Das aktuelle „Lagebild" zum Thema Jugendkriminalität legt eine Modifikation des Sanktionenkatalogs im Jugendstrafrecht nahe. I.
Wie in anderen Industrienationen der Erde nimmt auch in Deutschland die Jugendkriminalität seit einigen Jahren zu 1 . Verfolgt man die öffentliche Diskussion, so muß man zudem den Eindruck haben, dass viele Jugendliche und Heranwachsende schwerere Delikte begehen als in früheren Zeiten. Selbst die anwachsende Kinderkriminalität wird aufgrund polizeilicher Statistiken ständig diskutiert2.
1 vgl. die neuesten Verlautbarungen zur Kriminalitätslage, die Bundesinnenminister Kanther am 04. August und am 06. September 1998 den Medien erläutert hat (vgl. FAZ, Nr. 179 vom 05. August 1998, Seite 4 und FAZ, Nr. 207 vom 07. September 1998, S. 2). Danach ist die Jugendkriminalität erneut um 5,7 % angestiegen. Zur generellen Entwicklung im „Nachkriegsdeutschland", vgl. Kaiser. Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 576 ff. und Schwind·. Kriminologie, 8. Aufl. 1996, S. 60 ff. Auf dem Fachkongress „Jugendkriminalität" des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Inneres und Justiz vom 19. bis 20.08.1998 in Düsseldorf haben der Direktor des Landeskriminalamtes Hartmut Rohmer und Peter Wetzeis vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. ein aktuelles Lagebild für Deutschland und Westeuropa gezeichnet (vgl. Dokumentation des Ministeriums für Inneres und Justiz, Abschnitte 3 und 5). 2 Symptomatisch sind die Aktivitäten der Bundesländer Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein bei der Einrichtung „geschlossener" Jugendheime, vgl. NJW - Wochenspiegel, Heft 32, 1998, Seite XLVIII. Zur generellen Entwicklung von Schwind, Kriminologie, 8. Aufl. 1997, S. 56 ff., § 3, Rdn. 9 - 1 8 . Aktueller Überblick bei Rohmer aaO, S. 4 - 5. Bundesweit ist die Kinderkriminalität laut Innenminister Kanther 1998 um weitere 8,3 % angestiegen, vgl. FAZ vom 07. September 1998 a.a.O.
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In weiten Teil der Bevölkerung verstärkt sich der Wunsch nach härteren Sanktionen auch im Jugendstrafrecht. So nimmt es nicht wunder, dass im C D U / C S U Wahlprogramm für 1998 die Forderung nach einer Erhöhung der Höchststrafe bei Jugendstrafe auf 15 Jahre und nach einer stärkeren Anwendung des Sanktionenkatalogs des Erwachsenenstrafrechts bei den Heranwachsenden enthalten sind 3 . Kritische Kommentare in Zeitschriften und Zeitungen aber auch in den anderen Medien müssen sich in letzter Zeit diejenigen Jugendstaatsanwaltschaften und Jugendgerichte gefallen lassen, die gemäß den Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes (§§ 45 47 J G G ) den Diversionsgedanken in die Praxis umzusetzen versuchen und sich bemühen, das Einsperren straffällig gewordener junger Menschen zu vermeiden und stattdessen andere pädagogische Maßnahmen zur Bekämpfung der Rückfallkriminalität einsetzen. Es muß befürchtet werden, dass der Druck auf die Strafrechtspflege durch öffentliche Diskussionen und möglicherweise auch durch gesetzgeberische Initiativen größer werden wird, den Freiheitsentzug verstärkt als Sanktion auch im Jugendstrafrecht einzusetzen. Damit würden die relativ konstant gebliebenen Verurteilungszahlen im Jugendstrafrecht 4 ansteigen. Dies hätte nicht nur einen - relativ kostenaufwendigen - Ausbau des Jugendstrafvollzuges oder eine Verschlechterung des pädagogischen Angebots in den Jugendstrafvollzugsanstalten zur Folge, sondern würde auch eine konzeptionelle Veränderung des Jugendstrafrechts mit sich bringen. Es wird zunehmend schwieriger in öffentlichen Diskussionen dahingehend zu argumentieren, dass durch konsequente Anwendung des Erziehungsgedankens bei jungen Menschen mit ambulanten pädagogisch geeigneten Maßnahmen oft am erfolgversprechendsten Rückfallkriminalität bekämpft werden kann. II. Junge Straftäter befinden sich im laufenden Prozeß der persönlichen Reifeentwicklung, weshalb in vielen Fällen die Unterbringung der jungen Menschen in der lebensfremden Umgebung einer Jugendstrafanstalt „schädliche Neigungen" eher verstärkt als abbaut.
3
vgl. FAZ v. 28. Juli 1998, S. 1 f (2) vgl. dazu M. Walter in DVJJ-Journal 3/1996 (Nr. 153) S. 209 ff. (211) und Kaiser in ZRP 1997 (Heft 11), S. 451 ff. Ausführlich dargestelltes statistisches Material enthält die Antwort der Bundesregierung vom 23. Juli 1998 auf die große Anfrage der SPDFraktion zum Thema „Jugendstrafrecht und Prävention". 4
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Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen justizpolitischen Diskussion ist es notwendig darüber nachzudenken, wie ein vermehrtes Einsperren von jugendlichen Straftätern in Jugendstrafanstalten verhindert werden kann. Dabei dürfen die Sorgen vieler Bürger unseres Landes vor zunehmender Gewaltbereitschaft jugendlicher und heranwachsender Straftäter nicht übersehen werden. Auch kann nicht verkannt werden, dass sich eine Stimmungslage entwickelt hat, wonach besonders junge Straftäter außerordentlich gefährlich seien und deshalb „hinter Schloß und Riegel" gebracht werden müssten 5 . Für die künftige justizpolitische Diskussion wird es nicht ausreichen, mit fachlich begründeter sachlicher Argumentation für die im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelten, im Ergebnis durchaus überwiegend erfolgreichen einzelpädagogischen Maßnahmen des Jugendstrafrechts zu werben. Das sachlich begründbare Argument, ein länger dauernder Freiheitsentzug unter lebensfremden Bedingungen sei gerade bei den in der Entwicklung befindlichen jungen Menschen pädagogisch kontraindiziert, weil es Trotzhaltungen und negative Grundeinstellungen zu den Wert- und Normvorstellungen der Gesellschaft verstärken muß, kann nicht mehr ausreichend Gehör finden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß künftig durchweg auch bei jungen Straftätern ein „konsequentes Zupacken" des Staates gefordert wird. Es ist deshalb sinnvoll, über pädagogisch ausgestaltete Formen eines kurzen Freizeitsentzuges für junge Straftäter nachzudenken. III.
Als mögliche Alternative zur Jugendstrafe bietet das Jugendgerichtsgesetz seit 1940 das „Zuchtmittel" des Jugendarrestes an. Mit dem 1. Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 30. August 1990, das am 1. Dezember 1990 in Kraft getreten ist, hat der Gesetzgeber durch die Sätze 2 und 3 des § 90 JGG sich ausdrücklich zur erzieherischen Ausgestaltung des Jugendarrestes bekannt. Damit wurde die vorher vorherrschende „Short-Sharp-ShockKonzeption", deren negative Auswirkungen auf die innere Einstellung der betroffenen Jugendlichen zu den gesellschaftlich gültigen Normen in der Wissenschaft und auf Tagungen der Jugendgerichte wiederholt dargelegt worden waren, ausdrücklich verworfen 6 . 5 vgl. dazu Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 608 ff., insbes. S. 611 f, Rdn. 9 und Schwind: Kriminologie, 8. Aufl. 1997, S. 64 ff., Rdn. 28 - 30 m.w.Nachw. 6 so auch Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, Rdn. 7 zu § 16 J G G m.w.Nachw.)
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Der Gesetzgeber hat durch die Reform von 1990, wie Sonnen in seiner Kommentierung zu § 16 J G G mit Recht ausführt, eine Verschiebung des gesamten Sanktionssystems des Jugendstrafrechts gewollt. Neben dem Diversionsgedanken hätte auch der Jugendarrest im stärkerem Maße zur Anwendung kommen können. Demgegenüber zeigt die Praxis, dass die Häufigkeit der Verhängung von Jugendarrest in den deutschen Bundesländern auch nach dem 1. Dezember 1990 sehr unterschiedlich ist und dass der Jugendarrest insgesamt keinen größeren Umfang erreicht hat. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Jugendgerichte die Verhängung von Jugendarrest im wesentlichen davon abhängig machen, welche Platz- und Behandlungsangebote in den jeweils zuständigen Jugendarrestanstalten oder Abteilungen der einzelnen Bundesländer bestehen7. Dabei wird der Freizeitarrest stärker von den Jugendgerichten verhängt als der Kurzarrest. Die Bedeutung des Dauerarrestes ist insoweit größer geworden, als er vermehrt auch bei ausländischen Jugendlichen und bei Jugendlichen mit mittelschweren Straftaten verhängt wird. In fast allen Bundesländern gibt es Jugendgerichte, die von allen Möglichkeiten einer Arrestverhängung kaum Gebrauch machen. Überlegungen, den Jugendarrest wirksamer in das Sanktionssystem des Jugendstrafrechts einzubauen, müssen deshalb davon ausgehen, dass bloße Änderungen der Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes nicht notwendig zu Änderungen der Strafpraxis der Jugendgerichte führen werden.
IV. Mit dem Jugendgerichtsänderungsgesetz von 1990 hat der Gesetzgeber den Jugendarrest zwar bestehen lassen, hat jedoch schwerpunktmäßig eine Ausdehnung des weitergehenden Diversionsgedankens, d. h. eine Vermeidung von allen freiheitsentziehenden Sanktionen fördern wollen. Seinerzeit war die kritische Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Jugendarrestes besonders weit fortgeschritten, so dass Erwägungen angezeigt zu sein schienen, über eine mittelfristige Abschaffung des Jugendarrestes nachzudenken8. Auch gegenwärtig ist die Situation in etlichen Jugendarrestanstalten so unbefriedigend, dass der Negativeffekt des bloßen Einsper-
7 vgl. dazu Gerd Richter auf dem Fachkongress Jugendkriminalität" aaO., Nr. 9, S. 7 8 vgl. Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG zu § 16, Rdn. 6
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rens die mögliche erzieherische Wirkung des Jugendarrestes verdrängt. Wenn die jugendlichen Rechtsbrecher ihre Tage oder Wochenenden in Jugendarrestanstalten im wesentlichen „absitzen" müssen und kaum Angebote mit arbeitstherapeutischen, gesprächstherapeutischen und/oder freizeitpädagogischen Inhalten erhalten, wird sich bei den jugendlichen Straftätern deren negative Grundeinstellung zur gesellschaftlichen Wertordnung verstärken. In der Fachliteratur ist in früheren Jahren immer wieder auf die hohen Rückfallzahlen der Jugendarrestanten hingewiesen worden9 und daraus die Ineffektivität des Jugendarrestes abgeleitet worden. Auch aktuelle Untersuchungen würden für viele Jugendarrestanstalten keine besseren „Erfolgszahlen bringen".
V. Wenn demgemäß vor dem gesellschaftlichen Hintergrund ansteigender Jugendkriminalität und wachsender Skepsis gegenüber ambulanten Maßnahmen des Jugendstrafrechtes ein Ausbau des Jugendarrestes konzeptionell erwogen wird, so ist dies unter rechtsund sozialstaatlichen Gesichtspunkten nur verantwortbar, wenn durch eine effektive erzieherische Ausgestaltung aller drei bisher vom Jugendgerichtsgesetz vorgesehenen Formen des Jugendarrestes die Wahrscheinlichkeit erhöht werden kann, dass die prognostisch negative Wirkung des kurzen Eingesperrtwerdens durch die Erziehungsprogramme der Jugendarresteinrichtung kompensiert wird. Langjährige Erfahrungen in der größten nordrhein-westfälischen Jugendarrestanstalt in Remscheid zeigen, dass zeitgemäße Erziehungsprogramme durchaus im Arrestvollzug realisierbar sind und fortentwickelt werden könnten. Will man die bisherigen Formen des Jugendarrestes, d. h. Freizeitarrest, Kurzarrest und Dauerarrest beibehalten, so wird es notwendig sein, für alle drei Formen der Arrestvollziehung besondere pädagogische Programme zu konzipieren. V.l. Der Freizeitarrest, der traditionell am Wochenende vollzogen wird, ist in der Praxis der Jugendarrestanstalten und Abteilungen oft der unergiebigste Arrestvollzug. Vielfach werden junge Menschen ohne jede Betreuung für zwei Tage in Einzelzellen untergebracht. Oft gibt es nur sporadische Gesprächsangebote durch freiwillig in 9
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den Jugendarrestanstalten mitarbeitende Gesprächsgruppen von ehrenamtlich Tätigen. Die unter Behandlungsaspekten sinnvollste bisherige Praxis besteht noch darin, dass die Jugendarrestanten den Wachtmeistern der jeweiligen Gerichte bei ihren Reinigungs- und Aufräumungsarbeiten am Wochenende Hilfe leisten. Dabei erhalten junge Menschen durch Gespräche mit den Wachtmeistern für ihre zukünftige rechtstreue Lebensgestaltung durchaus einige wichtige Anregungen, die sie oft eher akzeptieren als richterliche Ratschläge. Ein pädagogisches, den Freizeitarrest zeitlich ausfüllendes Programm, liegt bisher in keiner Jugendarrestanstalt vor. Dies liegt u.a. auch daran, dass insbesondere an Wochenenden der Einsatz von Personal unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Personalkosten und Stellenknappheit sehr schwierig ist. Will man den Freizeitarrest beibehalten, so muss ein durchgängiges Freizeitgestaltungsprogramm als pädagogisches Konzept entwickelt werden. Das Freizeitprogramm muss von der Erkenntnis ausgehen, dass viele jugendliche Delinquenten ihr Freizeitverhalten außerhalb der Haft von spontanen Einfällen leiten lassen und dabei oft auch infolge zusätzlicher Stimulation durch die unterschiedlichsten Rauschmittel ein auffälliges gesellschaftsschädliches Verhalten zeigen. In ihrer Sozialisation haben viele zu Delinquenten gewordene Jugendliche ein Freizeitverhalten im Sinne einer positiven Gestaltung der Freizeit nur unvollkommen gelernt. Ihre Freizeit ist oft von wechselndem Konsumverhalten aber auch von „Durchhängephasen" mit ausgeprägter Langeweile gekennzeichnet. Deshalb ist es konzeptionell vollen Umfangs berechtigt, für den Freizeitarrest ein Erziehungsprogramm zu fordern, welches pädagogische Anregungen zur aktiven Gestaltung der Freizeit gibt. Gleichzeitig wird der Arrestant durch das Einsperren von seinen ihn negativ beeinflussenden „Kumpels" abgeschottet, so dass seine Beeinflussung durch seine Peergroup für 2 Tage unterbrochen wird. Zu verhindern ist insofern die immer wieder vorkommende „Unsitte", dass die „Freunde" des Inhaftierten vor den Arrestgebäuden mehrere Stunden „Shows abziehen" können. Der inhaftierte Jugendliche wird dadurch leicht in seiner Haltung bestärkt, wonach er den Freizeitarrest als kleiner „Märtyrer" mit der emotionalen Unterstützung seiner „Freunde" durchzuhalten habe. Der Freizeitarrest läßt sich pädagogisch nur dann sinnvoll gestalten, wenn wenigstens die Hälfte der beiden zu „verbüßenden" Tage durch Gruppen- und/oder Einzelgespräche gestaltet wird, an denen der Arrestant teilnehmen muss. Für die verbleibende Zeit wäre es nötig, andere therapeutische Interventionen wie z.B. Laienspiel, me-
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ditative Übungen oder gymnastisch ausgerichtetes Sportprogramme anzubieten. Würde Freizeitarrest in dem skizzierten Sinne pädagogisch ausgestaltet werden, so wäre dies nur mit einem nicht unbeträchtlichen Personalaufwand möglich. Das Personal ließe sich durch hauptamtliche Bedienstete der Justizverwaltung nur in sehr geringem Umfang stellen. Deshalb müssten Mitarbeiter und Gesprächsgruppen mit Hilfe freier Träger gewonnen werden. Dies wäre bei Erstattung der anfallenden Kosten durchaus realisierbar. Sollte die Durchführung eines derartigen Konzepts aus finanziellen Gründen nicht ermöglicht werden, kann angesichts der bisher gewonnenen negativen Erfahrungen mit dem bloßen „Absitzen" der Arresttage von der Verhängung des Freizeitarrestes nur abgeraten werden. Konsequenterweise müsste dann eine Korrektur des gesetzlichen Arrestsystems dahingehend vorgeschlagen werden, dass der Freizeitarrest als besondere Form des Jugendarrestes abgeschafft würde. V.2. Der seit dem 01.12.1990 bis zu 4 Tagen mögliche Kurzarrest wird von der gegenwärtigen Praxis in geringstem Umfange verhängt 10 . Dies ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass die Jugendgerichte wissen, dass ein pädagogisches Konzept für den Kurzarrest nicht besteht. Vielmehr werden gerade die jungen Menschen, die zum Kurzarrest verurteilt worden sind, oft in Jugendarrestanstalten neben Dauerarrestanten mehr oder mindert verwahrt und nur notdürftig in die laufenden Erziehungsprogramme integriert. Dabei wird übersehen, dass die für Dauerarrestanten entwickelten Erziehungsprogramme Mindestteilnahmezeiten der Arrestanten am jeweiligen Programm voraussetzen, um überhaupt pädagogisch wirksam werden zu können. Einzelne Experimente in Jugendstrafvollzugseinrichtungen zeigen, dass es durchaus möglich wäre, auch für einen viertägigen Kurzarrest ein in sich geschlossenes Erziehungsprogramm zu entwickeln, wenn von Anbeginn des Arrestvollzuges eine Dreiteilung des Tageslaufes der Arrestanten in Arbeitsphasen, Gesprächsphasen und aktive Freizeitgestaltungsphasen erfolgen würde. Gerade der Kurzarrest muss die Arrestanten in der gesamten Arrestzeit körperlich und geistig besonders stark fordern. Das Eingesperrtbleiben auf der Einzelzelle wäre pädagogisch im Rahmen eines solchen Pro10 vgl. die Zahlen bei Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen, J G G zu § 16, Rdn. 3. Eine Veränderung ist bis heute nicht eingetreten.
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gramms nur sinnvoll, wenn dies die - auch für den jungen Menschen erkennbare - Reaktion auf seine Nichtteilnahme an den angebotenen Erziehungsprogrammen wäre und wenn die Einzelhaft immer beendet würde, sobald die Teilnahmebereitschaft vorhanden ist. Ein solcher „Einsperrvollzug" als eine pädagogische Alternative gegenüber nicht kooperationsbereiten Jugendlichen würde zur Mitarbeit ermuntern und würde sich insofern deutlich von dem bisher weitgehend praktizierten blossen „Einsperren aus Verlegenheit" unterscheiden, weil der junge Inhaftierte erkennen könnte, dass das Einsperren eine Reaktion auf sein nicht kooperatives Verhalten ist und nicht bloß eine repressive Reaktion auf seine Straftat darstellt. V.3. Die pädagogische Ausgestaltung des Dauerarrestes ist, wie die bisherige Praxis zeigt, eine durchaus zu realisierende Aufgabe. Um ein noch wirksameres Konzept entwickeln zu können, müsste zunächst überlegt werden, ob die bisherige Begrenzung des Dauerarrestes auf längstens 4 Wochen, die darauf beruht, dass die „Short-SharpShock-Ideologie" bei Einführung dieser Arrestform Pate gestanden hat, beibehalten werden soll. Zu erwägen wäre, ob nicht Möglichkeiten der Verhängung von Dauerarrest bis zu 3 Monaten geschaffen werden sollten, wobei allerdings dann die Chance einer vorzeitigen Bewährungsentlassung gegeben werden müsste. Eine Verlängerung des Jugendarrestes bis zu 3 Monaten würde im Gegensatz zur deutlich längeren Jugendstrafe die Gefahr einer Unterbrechung des Reifungsprozesses der jungen Delinquenten nur in geringem Umfang mit sich bringen. Zwar würde auch die bis zu dreimonatige Herausnahme der jungen Menschen aus ihrem gewohnten Lebenskreis eine vom normalen Leben abgeschüttete Lebensform zur Folge haben. Die längere Arrestvollzugszeit könnte aber dazu genutzt werden, um mit Hilfe von sozialpädagogisch vorgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vollzugsanstalt oder mit nebenamtlich in der Vollzugsanstalt beschäftigten Kräften eine gründliche Behandlungsuntersuchung (i. S. d. § 6 StVollzG) der Arrestanten durchzuführen. Zugleich könnten auch Kontaktbesuche bei nahen Angehörigen der Arrestanten erfolgen. In der Jugendarrestanstalt müssten Erziehungsprogramme angeboten werden, mit welchen die typischen Sozialisationsdefizite der jugendlichen Delinquenten in sozialtherapeutischer Form abgebaut werden könnten. Viele von den jungen Straftätern im Vermögens- und Gewaltbereich begangenen Straftaten sind spontan geplant „aus dem Augen-
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blick heraus" begangen worden. Die spezielle Anfälligkeit für solche Straftaten ergab sich aus der allgemeinen Lebensführung der Delinquenten. Pädagogische Interventionen im Jugendarrest müssten deshalb den Versuch machen, die Lebensführungsregeln im Sinne stärkerer gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit zu verändern. Solche Ziele lassen sich bei den meisten Delinquenten durchaus mit einem kombinierten Programm aus sozialem Training, einzel- und gruppentherapeutisch geführten Gesprächen sowie sozialer Einzelhilfe, welche auch gemeinsame Gespräche mit Erziehungsberechtigten und anderen Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern des Delinquenten umfassen müsste, erfolgversprechend durchführen. Während des Arrestvollzuges sollte auch der Versuch gemacht werden, durch gezielte arbeitstherapeutisch ausgerichtete Beschäftigungsprogramme die Delinquenten an das Arbeitsleben heranzuführen. In mehreren Jugendarrestanstalten sind bereits gegenwärtig solche Arbeitstrainingsprogramme entwickelt worden. Wichtig bei diesen Programmen ist oft, dass die jungen Menschen die Möglichkeit erhalten, selbst die Erfahrung zu machen, dass sie durchaus in der Lage sind, für die Allgemeinheit oder für ihren eigenen Bedarf verwertbare Gegenstände herzustellen. So eignet sich z.B. das Herstellen von für Kindergärten oder Kinderspielplätze notwendigen Spielgeräten und Sitzmöbeln gut dazu, um jungen Menschen zu verdeutlichen, dass ihre eigene Fähigkeit, sinnvolle Produkte herzustellen, durchaus entwickelt ist. Auch zeigen die arbeitstherapeutisch ausgerichteten Beschäftigungsprogramme den jungen Menschen, zu welchen der gängigen in der Industrieproduktion verwendeten Materialien (Holz, Stein, Metall, Kunststoff, Elektroteile) sie am ehesten einen Zugang erhalten. Neben arbeitsund gesprächstherapeutischen Angeboten sowie Übungsmaßnahmen des sozialen Trainings zum besseren Lernen von Umgangsformen im Alltag, muss das Erziehungsprogramm der Jugendarrestanstalt auch ein tägliches, mindestens zwei- bis dreistündiges Freizeitprogramm enthalten. Ein solches Freizeitprogramm kann für Gruppen von Inhaftierten aus einem intensiven sportlichen Training bestehen, welches die Fähigkeiten der jungen Menschen in sportlicher Hinsicht verbessert und ihnen Erfolgserlebnisse durch kleine sportliche Leistungen verschafft. In einem Freizeitbewältigungsprogramm kann auch die Teilnahme an kreativen künstlerischen Maßnahmen sowohl im Bereich der bildenden Künste als auch im Bereich des Schauspiels sinnvoll sein. Die Programmgestaltung im Rahmen des Dauerarrestes müsste unterschiedliche „Programmpakete" enthalten. So könnte es sinnvoll sein, ein pädagogisches Programm für eine Gruppe von 7 bis
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8 Jugendlichen für die Dauer von einem Monat zu offerieren, welches bei entsprechender Mitarbeit auch in dieser Zeit zu bewältigen ist. Gäbe es in solchen Fällen bei einzelnen Klienten Probleme der kontinuierlichen Mitarbeit im Programm, so könnte eine Programmverlängerung für diese Klienten dadurch stattfinden, dass sie nachträglich in eine andere Programmgruppe hineingelangen könnten. Möglicherweise müssten sie dann ein zweimonatiges pädagogisches Programm absolvieren. Zweimonatige therapeutische Intensivprogramme sollten von vornherein für diejenigen angeboten werden, die dreimonatige Arrestvollzugszeiten vor sich haben. Bei guter Mitarbeit sollte für einzelne Arrestanten die Möglichkeit bestehen, den letzten Monat des Jugendarrestes zur Bewährung ausgesetzt zu erhalten, wobei als Bewährungsauflagen durchaus die Fortsetzung einzelner Programmpunkte in Freiheit unter Ausnutzung von Mitarbeitsmöglichkeiten bei freien Trägern der Jugendhilfe in Betracht kommen könnte. Eine solche Verzahnung des Jugendarresvollzuges mit Maßnahmen der Träger von professionellen Jugendhilfemaßnahmen ließe sich in fast allen Orten der Bundesrepublik Deutschland organisieren, wenn entsprechende Rahmenvereinbarungen getroffen würden und eine Finanzierungshilfe des Staates für die freien Träger erfolgen würde. Dabei müsste die Justiz nicht nur die durch den durchgeführten Jugendarrestvollzug sondern auch die für anschließende Maßnahmen entstehenden Kosten tragen. Sollte eine solche Kostenverteilung eine öffentliche Diskussion über die Kostenhöhe des Jugendarrestes auslösen, so ließe sich mühelos argumentieren, dass die meisten Maßnahmen der Jugendhilfe wesentlich billiger sind als Maßnahmen des Jugendstrafvollzuges. Eine gute Form der Kooperation zwischen freien Trägern der Jugendhilfe und dem Justizvollzug könnte auch darin bestehen, dass während des Dauerarrestes für möglichst jeden Inhaftierten eine etwa einwöchige jugendpädagogische Maßnahme außerhalb der Arrestanstalt stattfindet. Gemeinsames Wandern, gemeinsames Kanufahren oder andere, die Jugendlichen besonders körperlich fordernde erlebnispädagogische Maßnahmen sollten organisiert werden. Insoweit gibt es langjährig erprobte Modelle. Naturgemäß besteht auch im Dauerarrestvollzug das Problem, dass nicht alle Inhaftierten von vornherein mitarbeitsbereit sein werden. Insofern müsste dort ebenfalls die strenge Einzelhaft als Antwort des pädagogischen Konzepts auf die Verweigerungshaltung des Delinquenten verhängt werden können. Eine derartige Intervention müsste aus rechtstaatlichen Gründen auf eine Höchstdauer von 2 Wochen beschränkt werden. Längere Zeiten strenger Einzelhaft
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würden unter Berücksichtigung der Schuld der Straftäter unverhältnismäßige Eingriffe in deren persönliche Freiheit darstellen und außerdem pädagogisch wirkungslos werden. Erfahrungsgemäß halten die wenigsten Jugendlichen die strenge Einzelhaft länger als 4 Tage durch. VI. Die rechtliche Einordnung eines derartig ausgestalteten Jugendarrestes in das System des Jugendstrafrechts wäre ohne Probleme möglich, lediglich einige wenige Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes und der Jugendarrestvollzugsordnung wären notwendig, um die mögliche Höchstdauer des Jugendarrestes auf 3 Monate heraufzusetzen und die konkrete Ausgestaltung des Jugendarrestvollzuges in der Jugendarrestvollzugsordnung präziser zu beschreiben. Einer Änderung des § 90 J G G bedürfte es nicht. Allerdings müßten § 13 und § 16 J G G insoweit verändert werden, als durch den Gesetzeswortlaut von vornherein festgelegt werden sollte, dass die Länge des Jugendarrestes zwar auch unter Berücksichtigung des von dem jungen Delinquenten zu verantwortenden Unrechts aber in erster Linie davon abhängig gemacht werden muss, mit welcher Dauer des „Zuchtmittels" dem Jugendlichen am wirksamsten zum Bewusstsein gebracht werden kann, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat und lernt, künftig neue Straftaten zu vermeiden. Den Grundsätzen des Jugendstrafrechts entspricht es seit 1923, dass die Intensität der vom Jugendgericht gewählten Sanktion nicht allein von der Schuldschwere bei der begangenen Straftat abhängen soll, sondern dass unter erzieherischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen ist, welche Maßnahmen am wirksamsten auf den jugendlichen Delinquenten erzieherisch einwirken. Insoweit wäre das konsequente Abhängigmachen der Länge des Jugendarrestes von der pädagogisch erforderlichen und konkret angebotenen Maßnahme mit den allgemeinen Grundsätzen des Jugendstrafrechts vollauf vereinbar. Verfassungsrechtliche Bedenken gäbe es im sozialen Rechtsstaat gegen ein derartiges Erziehungsprogramm ebenfalls nicht. VII. Die in Deutschland und im Ausland gewonnenen Erfahrungen haben gezeigt, dass bei kurzem Freiheitsentzug eine therapeutische Intervention dann erfolgversprechend möglich ist, wenn ein ganzheitlich pädagogisch ausgerichtetes Programm methodisch angeboten wird und dabei den primären Bedürfnissituationen der jeweili-
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gen Delinquenten Rechnung getragen wird. Viele jugendliche Delinquenten haben im Verlauf ihres bisherigen Lebens Mißerfolgserlebnisse hinsichtlich ihrer Integration in die gesellschaftliche Ordnung verkraften müssen. Sie haben geringere Fähigkeiten als altersgleiche junge Menschen im Bereich der Kulturtechniken sowie der zwischenmenschlichen Kommunikation aber auch im Leistungsverhalten erlernt und sind deshalb oft weder schulisch erfolgreich gewesen, noch in das Arbeitsleben integriert worden und waren außerdem bei der Partnerin/Partnersuche nicht „erfolgreich". Zahlreiche Delinquenten stammen aus Haushalten, in denen allein erziehende Elternteile leben oder aber dauerhafte eheliche oder ähnliche Bindungen der leiblichen Eltern nicht bestehen. Hinzu kommt bei vielen jungen Delinquenten eine meist mehrjährige Gewöhnung an diverse Rauschmittel, die in ihrem jeweiligen „Freundeskreis" als normal empfunden werden. Oft sind schon von Eltern oder anderen Bezugspersonen Verhaltensweisen vorgelebt worden, welche zu randständigem Leben in der Gesellschaft führen11. VIII. Die skizzierte konzeptionelle Fortentwicklung des Jugendarrestes ist nur möglich, wenn aus dem Text des Jugendgerichtsgesetzes eindeutig folgt, dass die früher von der Rechtsprechung entwickelte Zielbeschreibung des Jugendarrestes, wonach dieser ein „kurzer und harter Zugriff, der das Ehrgefühl anspricht und für die Zukunft eine eindringliche Warnung sein soll" nicht mehr gilt12. Modifiziert werden müssten auch die Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz, wo nach Zielgruppe des Jugendarrestes „gut geartete Jugendliche mit nicht allzu schweren Straftaten" sein sollen. Mit Recht wird von der Wissenschaft darauf hingewiesen, dass insoweit noch Reste des nationalsozialistischen Gedankengutes, was zur Einführung des Jugendarrestes im Jugendstrafrecht geführt hat, vorhanden sind. Erziehung, welche pädagogische Angebote umfasst, kann durchaus konsequent sein. Bei vielen sozialisationsgeschädigten Jugendlichen wird dies als angemessene Reaktion auf ihr Unerzogensein erlebt werden. Es hat sich allerdings in der Nachkriegszeit, in der der alte Erziehungsgedanke des Jugendarrestes noch zu verwirklichen versucht worden ist, deutlich herausgestellt13, dass junge Menschen der 11 vgl. die Ausführungen von Wilhelm Heitmeyer auf dem Fachkongress „Jugendkriminalität" unter Nr. 4 des Tagungsberichts 12 vgl. Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG zu § 16, Rdn. 11 13 vgl. Sonnen in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG zu § 16, Rdn. 12 m.w.Nachw.
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gegenwärtigen Generation nicht durch bloßen Freiheitsentzug zu disziplinieren sind, weshalb auch der oft gemachte Vorschlag, den „Einstiegsarrest" als Warnung bei zu Bewährung ausgesetzter Jugendstrafe zu ermöglichen14, pädagogisch falsch wäre. Überlegungen, den Dauerarrest bis zu 6 Monate auszudehnen, wie es in einem rechtspolitischen Programm der CDU vorgeschlagen wird15, würden möglicherweise die Gefahr mit sich bringen, dass das Herauslösen der jungen Delinquenten aus ihren herkömmlichen Lebenskreisen zu lange erfolgt, ohne dass andererseits eine ausreichende Begleithilfe der Jugendarrestanstalt angeboten werden könnte. Deshalb sollte die Begrenzung der Höchstdauer des Jugendarrestes auf 3 Monate erfolgen. Erfahrungen aus den meisten deutschen Jugenduntersuchungshaftanstalten mit Inhaftierungszeiten von 4, 5 und 6 Monaten zeigen, dass junge Delinquenten, die sich in einer persönlichen Reifeentwicklung befinden, oft durch die Haft zu lange aus ihrer bisherigen Umgebung herausgerissen worden sind, so dass nach der Haftentlassung intensive Maßnahmen der Jugendhilfe erforderlich waren, um die durch den Freiheitsentzug aufgetretenen Schäden zu beheben. Das „Zuchtmittel" Jugendarrest könnte zum pädagogischen Intensivkurs für delinquente Jugendliche und Heranwachsende fortentwickelt werden. Bei konsequenter pädagogischer Ausgestaltung der Arrestzeit könnte auch bei sozialisationsgeschädigten jungen Menschen eine Verhaltensänderung erreicht werden, welche es ihnen erleichtern würde, größere gesellschaftliche Akzeptanz zu erhalten und deshalb straffrei zu leben.
14 15
vgl. Gerd Richter, Fachkongress „Jugendkriminalität" a.a.O., Nr. 9, S. 7 vgl. F A Z vom 28. Juli 1998, Seite 1 f.
8 Jugendstrafverfaren und Opferbeteiligung
Formalisierung der entformalisierten Verfahrensbeendigung im Jugendstrafrecht (Diversion) ? HERIBERT OSTENDORF
I. Für die Diversion, d.h. die informelle Beendigung des Jugendstrafverfahrens gem. den §§ 45, 47 J G G , werden bekanntlich drei Zielsetzungen benannt: 1. geringere Belastung des Beschuldigten, 2. bessere Prävention, 3. Entlastung der Strafjustiz. Das letzte Ziel wird vor allem dadurch erreicht, daß das Verfahren bereits auf der Ebene der Staatsanwaltschaft beendet und eine Hauptverhandlung vermieden wird (§ 45 Abs. 1, 2 J G G ) . Mit dem Absehen der Verfolgung gem. § 45 Abs. 3 J G G wird zwar der Jugendrichter eingeschaltet, es bedarf aber auch insoweit keiner Anklageerhebung, keines Eröffnungsbeschlusses, keiner Hauptverhandlung, keines Urteils, keiner Vollstreckung. Mit Hilfe des § 47 J G G kann zumindest das Urteil nebst Urteilsbegründung sowie die Vollstreckung vermieden werden. Wie bei der Anwendung der §§ 153, 153a StPO 1 ist auch bei der Anwendung der §§ 45, 47 J G G die Gefahr nicht zu leugnen, daß der Tat- und Schuldnachweis von Seiten der Staatsanwaltschaft nicht so genau genommen wird, daß gegen den Willen des Beschuldigten das Verfahren eingestellt wird bzw. daß der Beschuldigte um der Einstellung willen Maßnahmen gegen seine Uberzeugung akzeptiert. Auch werden in der Praxis dann und wann Überlegungen laut, wonach eine Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO - wegen rechtlicher oder tatsächlicher Zweifel - sich beim Beschuldigten erzieherisch negativ auswirken könnte. Nach einhelliger Meinung ist für die Einstellung gem. § 45 Abs. 1 so-
1 Siehe Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gem. §§ 153 II, 153a StPO, 1978, S. 132; siehe auch Schöch in: Kommentar zur Strafprozeßordnung, Reihe Alternativkommentare, § 153 Rn. 64.
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wie Abs. 2 J G G eine Zustimmung des Jugendrichters nicht Voraussetzung2. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit eindeutig. Auch ist ein Geständnis für die Diversion gem. § 45 Abs. 1 und Abs. 2 J G G nicht Voraussetzung. Dies ist zwar gerade für § 45 Abs. 2 J G G nicht unumstritten3. Im Unterschied zu § 45 Abs. 3 JGG, dem Absehen von der Verfolgung mit Einschaltung des Richters, ist hier, in § 45 Abs. 2, nach dem Gesetzeswortlaut aber ausdrücklich kein Geständnis gefordert. Dies hat auch seinen guten Grund, nämlich denjenigen, die aus jugendlichem Trotz oder aus Scham sich nicht zu der Tat bekennen mögen, nicht die informelle Verfahrensbeendigung gem. § 45 Abs. 2 J G G zu verweigern4. Richtig ist allerdings, daß der Nachweis der Tatschuld eindeutig geführt sein muß. Erst recht ist nach dem Gesetzeswortlaut keine Zustimmung des Beschuldigten zu dieser Verfahrensbeendigung geboten. Hierbei braucht gem. § 163a Abs. 1 StPO der Beschuldigte nicht einmal vor der Einstellung gehört zu werden5. Es kann also einem Jugendlichen/Heranwachsenden (§ 105 Abs. 1,109 Abs. 2 Satz 1 J G G ) eine scheinbare Wohltat aufgezwungen werden, ohne sich dagegen wehren zu können. Rechtsmittel sind unzulässig. Die Beschwerde scheidet nach dem Wortlaut des § 304 StPO aus; die Verfahrenseinstellung, auch die Ermahnung, erst recht erzieherische Anregungen, sind keine Justizverwaltunsakte im Sinne des § 23 EGGVG 6 . Auch ein Klageerzwingungsverfahren des Verletzten scheidet aus, da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO). Es bleibt nur die Dienstaufsichtsbeschwerde, die nach dem juristischen Ausbildungskalauer mit drei fff charakterisiert wird: fristlos, formlos, folgenlos. Auch der Einstellungsbeschluß gem. § 47 Abs. 2 Satz 3 J G G ist als Ermessensentscheidung nicht anfechtbar. Eine Beschwerdemöglichkeit (§ 304 StPO) besteht für die Staatsanwaltschaft nur, wenn ohne ihre Zustimmung und damit entgegen § 47
Siehe Ostendorf, JGG, 4. Auflage, § 45 Rn. 10 m.w.N. Α. M. Brunner/Dölling, JGG, 10. Auflage, § 45 Rn. 24; Breymann, Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1985, S. 16; wie hier Bohnert, N J W 1980, S. 1931; Eisenberg, JGG, 5. Auflage, § 45 Rn. 18; Sonnen in: Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 2. Auflage, § 45 Rn. 21. 4 So auch Nothacker, JZ 1982, S. 59. 5 Siehe aber Wagner, ZStW 109 (1997), S. 573 ff, der aus Art. 6 Abs. 3a MRK die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs auch vor einer Einstellung gem. § 153 StPO ableitet. 6 Zum unzulässigen Rechtsweg gem. den §§ 23 ff. E G G V G siehe O L G Hamm M D R 1983, S. 255; ebenso Brunner/Dölling, % 45 Rn. 40; a.M. Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG, 1998, S. 140 ff. 2
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Formalisierung der Verfahrensbeendigung im Jugendstrafrecht
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Abs. 2 Satz 1 J G G entschieden wurde 7 . Dies gilt auch, wenn die Zustimmung nur für bestimmte Maßnahmen gem. § 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 J G G gegeben wurde. Es können so zwar die rechtlichen Voraussetzungen überprüft werden, die Ermessensentscheidung selbst aber ist unanfechtbar.
Die informelle Verfahrensbeendigung gem. den §§ 45, 47 J G G bedeutet nun aber nicht nur eine Wohltat. Abgesehen davon, daß die Strafverfolgungsbehörde bzw. das Gericht von einer Tatschuld ausgeht und der Jugendliche sich hierfür in Verantwortung genommen sieht, führt die informelle Verfahrensbeendigung auch zur Eintragung in das Erziehungsregister (siehe § 60 Abs. 1 Nr. 7 BZRG), kann gem. § 70 J G G zur Information von Behörden und Gerichten führen 8 , ist somit für sich schon belastend; sie kann sich insbesondere bei erneuter Straffälligkeit für eine Sanktionierung erschwerend auswirken. II. Diese Rechtslage hat Kritiker auf den Plan gerufen mit Forderungen nach einem Rechtschutz gegen eine aufgedrängte Diversion. Bereits 1983 hatte Walter aus Art. 19 Abs. 4 G G „zwingend" einen Rechtsweg zur Uberprüfung von Diversionsentscheidungen der Staatsanwaltschaft - gemeint sind wohl mit Maßnahmen verknüpfte Diversionsentscheidungen - abgeleitet 9 . P. A. Albrecht sieht einen Bedarf an Formalisierung und gesetzlicher Fixierung des Diversionsverfahrens, um die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht willkürlich zu gestalten, nicht abhängig zu machen „von bürokratischen Faktoren wie Restelisten und Pensenschlüssel" 10 . Eine „exekutivische" Rechtspflege sei rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Auch Heinz fordert zumindest in Fällen der qualifizierten Verfahrenseinstellung, wenn also mit der Verfahrenseinstellung angeordnete oder freiwillig übernommene Maßnahmen verknüpft sind, die Beschwerdemöglichkeit des Beschuldigten zur Klärung der Schuldfrage. Darüber hinaus sollte, sofern die Voraussetzungen für die Verfahrenseinstellungen gem. § 45 Abs. 1 und Abs. 2 J G G weiterhin so unbestimmt formuliert bleiben, dem Beschuldigten ein allgemeines Uberprüfungsrecht „zur Sicherung der rechtsstaatlichen Bindung
7 8 9
Siehe Bmnner/Dölling, § 47 Rn. 14 m.w.N. Zur notwendigen restriktiven Anwendung siehe aber Ostendorf, ZStW 95 (1983), S. 67. Albrecht, Jugendstrafrecht, 2. Auflage, S. 133.
§ 70 Rn. 2.
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der Exekutive und zur Kontrolle der Gleichmäßigkeit staatsanwaltschaftlicher Diversion" eingeräumt werden 11 . Noch weitergehend erhebt van den Woldenberg rechtspolitische Forderungen 12 . Neben der Zustimmung des Jugendlichen sowie der Erziehungsberechtigten für eine Diversion mit erzieherischen Maßnahmen (§ 45 Abs. 2, Abs. 3, § 47 Abs. 1 Nr. 2, 3) mit einer entsprechenden vorherigen Belehrung soll ein Widerspruchsverfahren eingeführt werden, mit dem das formlose Verfahren in ein förmliches (gerichtliches) Verfahren übergeleitet wird. Zusätzlich sollen staatsanwaltschaftliche Diversionsentscheidungen begründungspflichtig und beschwerdefähig ausgestaltet werden, um im Wege einer gerichtlichen Uberprüfung „Mängel bei der Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze der Bestimmtheit, Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung sowie der Wahrung der Unschuldsvermutung" zu beseitigen. Weiterhin soll die Pflichtverteidigung auf die Diversion ausgedehnt werden. Auch Breymannli verlangt die Einräumung einer richterlichen Kontrolle, „wenn sich der Beschuldigte überfahren fühlt, ihm die Maßnahme nachträglich als ungerecht oder sinnlos erscheint oder ganz anders umgesetzt wird, als ursprünglich abgesprochen etc". Konkret schlägt er einen neuen § 45a JGG vor, der dem Beschuldigten das Recht einräumt, bis zu endgültigen Einstellung eine richterliche Überprüfung und Korrektur über das Diversionsverfahren einzuholen. Bei dieser Kritik werden z.T.14 die „Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit", die als Resolution von der Generalversammlung am 29.11.1985 verabschiedet wurden 15 , herangezogen. Hier heißt es unter der Ziffer 11.3: „Jedes Absehen vom förmlichen Verfahren, das mit einer Uberweisung des Jugendlichen an eine geeignete gemeindliche oder sonstige Einrichtung verbunden ist, bedarf der Zustimmung des Jugendlichen, seiner Eltern oder seines Vormunds; die Entscheidung über die Uberweisung wird auf Antrag von einem zuständigen Organ überprüft". In dem offiziellen Kommentar wird hierzu ausgeführt: „Nr. 11.3 regelt die wichtige Voraussetzung der Zustimmung des jugendlichen Täters (oder seiner Eltern oder des Vormunds) zu (einer) mit u
MschrKrim 1993, S. 372. Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz" und Rechtsstaatlichkeit, 1993, S. 175 ff. 13 Deutsche Richterzeitung 1997, S. 83. 14 Siehe van den Woldenberg, S. 175; Heinz, MschrKrim 1993, S. 372. 15 ZStW 99 (1987), S. 253 ff. 12
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„Diversion" verbundenen Alternativmaßnahme (n). (Die Einteilung zu gemeinnützigen Arbeitsleistungen ohne eine solche Zustimmung stünde im übrigen im Gegensatz zum Ubereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit 16 .) Die Zustimmung sollte aber auch angefochten werden können, da der Jugendliche sie unter Umständen aus reiner Verzweifelung geben könnte. Nr. 11.3 soll die Notwendigkeit unterstreichen, die Anlässe für Zwang und Einschüchterung auf allen Ebenen von „Diversion" auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Jugendlichen sollen sich nicht unter Druck gesetzt fühlen (um z.B. ein Erscheinen vor Gericht zu vermeiden) oder unter Druck gesetzt werden, Alternativprogrammen zuzustimmen. Aus diesem Grund sollten Vorkehrungen dafür existieren, daß ein „zuständiges Organ auf Antrag" eine objektive Würdigung der Angemessenheit der den jugendlichen Täter betreffenden Verfügungen vornimmt. Das „zuständige Organ" kann hier ein anderes sein als das in Nr. 14 genannte" 17 . Weiterhin wird in diesen Mindestgrundsätzen für die Jugendgerichtsbarkeit unter der Ziffer 6.2 eine Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen gefordert: „Es ist jedoch anzustreben, auf allen Ebenen und in allen Stadien der Ausübung solchen Ermessens dessen ausreichende Nachprüfbarkeit sicherzustellen". Es ist dies ein deutliches Votum für einen justiziell kontrollierten Umgang mit Jugendkriminalität. Schüler-Springorum hat in seiner Kommentierung der Mindestgrundsätze die dortige Forderung nach einer zweitinstanzlichen Kontrolle für Diversionen mit einer Uberweisung des Beschuldigten - wenn auch noch in Form einer Fragestellung - ausgeweitet auf „das Interesse an rechtlicher Uberprüfung qualifizierter' Verfahrenseinstellungen1 8 . Auch in der innerstaatlichen kriminalpolitischen Diskussion sind von dem wohl wichtigsten Fachgremium, dem alle drei Jahre abgehaltenen Jugendgerichtstag - Veranstalter ist bekanntlich die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen - diese Forderungen aufgegriffen worden. So hat die Unterkommission III der DVJJ-Kommission zur Reform des Jugendkriminalrechts 1992 vorgeschlagen: „Gegen die Einstellung des Verfahrens nach den §§ 45, 47 J G G sollte eine Beschwerdemöglichkeit geschaffen werden, wenn der Jugendliche/Heranwachsende eine Entscheidung 16 Konvention Nr. 105, von der Generalkonferenz der Internationalen Arbeitsorganisation am 25.6.1957 verabschiedet. 17 In Nr. 14.1 sind als zuständiges Organ beispielhaft genannt: Gericht, Behörde, Rat. 18 ZStW 99 (1987), S. 840.
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über die Schuldfrage haben möchte, weil er nicht der Täter gewesen sei" 1 9 . Auf dem 22. Deutschen Jugendgerichtstag wurde diesem Vorschlag von den Arbeitskreisen III/2 und IV/3 zugestimmt 20 . Es hat sich somit eine beachtliche Front gegen eine bislang „freie" Diversion gebildet, wobei zum Teil hinter dieser Kritik grundsätzliche Einwände gegen die Diversionsbewegung bzw. gegen eine staatsanwaltschaftliche Entscheidungskompetenz stehen 21 . Gemeinsam ist das Ziel eines verbesserten Schutzes des jugendlichen/heranwachsenden Beschuldigten, wobei allerdings auf die damit tendenziell verbundene Ausweitung und Verlängerung des Diversionsverfahrens nicht eingegangen wird. Dies erscheint verwunderlich, da - wie eingangs dargestellt - ein Ziel dieser informellen Verfahrensbeendigung gerade auch die Verfahrensvereinfachung darstellt, um sich von justizieller Seite mit Einschluß der Jugendgerichtshilfe den schwerwiegenderen Fällen, d.h. den gefährdeteren Personen zuwenden zu können im Sinne einer qualifizierten Strafverfolgung. Zumindest muß dieser Nachteil der Ausweitung und Verlängerung des Jugendstrafverfahrens mit eventuell nachteiligen Auswirkungen auf das Präventionsziel bei der Entscheidung über eine Formalisierung mit abgewogen werden. Hierbei ist nach anderen rechtsstaatlichen Abhilfen zu suchen. Sollten diese einen hinreichenden Beschuldigtenschutz und eine weitgehende Gleichbehandlung gewährleisten, könnte von der Formalisierung der informellen Verfahrensbeendigung abgesehen werden. III. Zuvor soll der Blick auf verwandte Rechtsregelungen gelenkt werden. So ist einmal die Einstellungsregelung im deutschen Erwachsenenrecht in Vergleich zu ziehen und zum anderen die österreichische Regelung im Jugendstrafrecht darzustellen. Das österreichische J G G gilt auch ansonsten als Vorreiter für Reformen im deutschen Jugendstrafrecht, so insbesondere für den Täter-Opfer-Ausgleich. So wird gerade auch das österreichische J G G für eine Abkehr einer Erziehungsideologie mit potentieller Strafausweitung herangezogen, wenn es im dortigen § 5 Nr. 1 heißt: „Die Anwendung des
DVJJ-Journal 1-2/1992, S. 24. Siehe DVJJ-Journal 4/1992, S. 283, 287; siehe auch DVJJ (Hrsg.), Jugend im sozialen Rechtsstaat / Für ein neues Jugendgerichtsgesetz - Dokumentation des 22. Deutschen Jugendgerichtstages vom 26.- 30.9.1992 in Regensburg, 1996, S. 723, 730. 21 Siehe Albrecht, Jugendstrafrecht, 1. Auflage, S. 106. 19
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Jugendstrafrechts hat vor allem den Zweck, den Täter von strafbaren Handlungen abzuhalten". Bei der Einstellung wegen Geringfügigkeit durch die Staatsanwaltschaft bei Heranwachsenden ist gem. § 153 Abs. 1 StPO weder eine Zustimmung des Beschuldigten vorgesehen noch ein Rechtsbehelf (Umkehrschluß aus § 304 StPO). Im Bagatellbereich ist gem. §153 Abs. 1 Satz 2 StPO sogar die Zustimmung des Gerichts entbehrlich. Die Zustimmung des Beschuldigten wird erst verlangt ab Klageerhebung, wenn der Beschuldigte in den Status des Angeschuldigten (§ 157 StPO) versetzt wurde (§ 153 Abs. 2 StPO) oder bei qualifizierten Einstellungen gem. § 153a StPO. Auch ist die gerichtliche Einstellung wegen Geringfügigkeit nicht anfechtbar (§ 153 Abs. 2 Satz 4 StPO). Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn die prozessualen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, insbesondere wenn die erforderliche Zustimmung des Angeschuldigten nicht gegeben wurde 22 . Die Regelung im deutschen Erwachsenenstrafrecht entspricht somit weitgehend der im Jugendstrafrecht. Das österreichische Jugendstrafrecht kennt drei Varianten der Diversion: 1. den Verfolgungsverzicht der Staatsanwaltschaft (§ 6), 2. den außergerichtlichen Tatausgleich auf der Ebene der Staatsanwaltschaft (§§ 7,8), 3. die vorläufige Einstellung durch das Gericht (§ 9). Bemerkenswert für unsere Diskussion ist einmal, daß der außergerichtliche Tatausgleich nicht von einem Geständnis sondern „nur" von der Bereitschaft des Verdächtigen abhängig gemacht wird, für die Tat einzugestehen und die Folgen der Tat auszugleichen, insbesondere den Schaden nach Kräften gutzumachen. Darin steckt ein Zustimmungserfordernis. Zum anderen ist gem. § 11 auf Antrag des Beschuldigten das vorläufig eingestellte Strafverfahren „jederzeit fortzusetzen". Soweit Auflagen bei der vorläufigen Einstellung erteilt wurden, muß sich der Beschuldigte hierzu bereit erklären. Mit Ausnahme des Verfolgungsverzichtes der Staatsanwaltschaft, der nicht mit Weisungen oder Auflagen sondern nur mit einer Belehrung durch das Vormundschafts- oder Pflegschaftsgericht verknüpft werden kann, ist die Diversion nach österreichischem Recht abhängig von der Zustimmung des Jugendlichen. Er kann sogar die gerichtlich eingeleitete Diversion wieder aufheben. Stängel·. „Auf
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Siehe Kleinknecht/Meyer-Gossner,
StPO, 42. Auflage, § 153 Rn. 34 m.w.N.
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diese Weise begegnet das Gesetz dem Einwand der Unschuldsver« 23 mutung .
IV. Als Abhilfen für einen besseren Rechtschutz der Diversionsbetroffenen ohne eine Rückkehr zur Formalisierung des Verfahrens bieten sich drei Wege an: 1. die Konkretisierung der Einstellungsvoraussetzungen, 2. das Zustimmungserfordernis des Jugendlichen/Heranwachsenden, 3. der Wegfall der Eintragung ins Erziehungsregister. 1. Die Konkretisierung der
Einstellungsvoraussetzungen
Die Diversion im deutschen Jugendstrafrecht krankt an der Unbestimmtheit der Einstellungsvoraussetzungen. Ein beredtes Zeichen sind die unterschiedlichen Diversionsrichtlinien der Bundesländer 24 . Drückte sich in den ersten Diversionsrichtlinien der Wille zur einer reformerischen Ausschöpfung der Diversionsmöglichkeiten aus, so weisen sie heute den Weg in eine Rechtszersplitterung. Selbst innerhalb ihres jeweiligen Geltungsbereichs ist die erwartete Rechtsvereinheitlichung nicht eingetreten 25 . Es ist an der Zeit, Lehren aus den vielfältigen Diversionsprojekten zu ziehen, und zwar nicht auf dem niedrigsten Level der Verfahrenseinstellungen, sondern mit dem primären Ziel, angesichts der Normalität leichter bis mittlerer Jugendkriminalität einerseits und der Selbst- oder Spontanbewährung andererseits das Verfahren möglichst ohne Sanktionierung zu beenden. Das Opportunitätsprinzip ist inhaltlich so zu gestalten, daß eine strafrechtliche Sanktionierung als Ausnahme von der Regel zu begründen ist 26 . Wenn auf eine strafjustizielle Reaktion aus Präventionsgründen nicht verzichtet werden kann, ist zunächst die informelle Verfahrenserledigung zu suchen. Erst wenn diese Erledigung ausscheidet, sei es, weil der Beschuldigte mit dieser Verfahrenserledigung nicht einverstanden ist, sei es, daß härtere Maßnahmen ergriffen werden müssen als 2 3 In: Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, Hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 1992, S. 226. 2 4 Siehe im einzelnen mit Fundstellen: Ostendorf, Grundlagen zu den §§ 45 und 47 Rn. 8. 2 5 Siehe Beck/Spieß, MschrKrim 1994, S. 91. 2 6 Siehe auch Seßar in: Die Einstellung des Strafverfahrens im Jugendrecht, hrsg. von Walter/Koop, 1984, S. 50.
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im Diversionsverfahren erlaubt, ist Anklage zu erheben. Diesen Ansprüchen ist mit dem 1. Änderungsgesetz zum J G G nicht genüge getan. Für § 45 Abs. 1 J G G wird deshalb folgende Formulierung vorgeschlagen: „Die Staatsanwaltschaft stellt bei Vergehen das Verfahren ein, wenn über die von der Entdeckung der Tat und dem Ermittlungsverfahren ausgehenden Wirkungen hinaus weitere Maßnahmen nicht geboten erscheinen, um den Beschuldigten von strafbaren Handlungen abzuhalten" 27 . Ein Deliktskatalog sollte nicht - auch nicht als Regelbeispiel vorgegeben werden, da damit einer schematischen Anwendung Vorschub geleistet würde 28 . In § 45 Abs. 2 J G G sollte die staatsanwaltschaftliche Ermahnung ausdrücklich als Beispiel für eine erzieherische Maßnahme aufgenommen werden. Rechtsdogmatisch „überhöht" wäre es allerdings, eine solche Konkretisierung der Einstellungsvoraussetzungen als Verfahrenshindernis für eine Anklageerhebung zu konstruieren, wie dies in der Rechtslehre zum Teil vorgeschlagen wurde 29 . Es muß für besondere Fallsituationen, insbesonders für die wiederholte Tatbegehung, ein Abweichen von einem Deliktskatalog für die Diversion möglich sein. Ansonsten würde auf diesem Wege faktisch der Straftatenkatalog des StGB bzw. der Nebenstrafgesetze ausgehebelt. Ein Strafverfahrenshindernis als negative Prozeßvoraussetzung muß am Verfahren orientiert bleiben, darf nicht zu einer Umdeutung des materiellen Strafrechts benutzt werden 30 . Nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip kann sich ein Verfahrenshindernis in einen materiell-rechtlichen Strafausschließungsgrund verwandeln 31 .
27 Ähnlich der Vorschlag des Arbeitskreises III/2 des 22. Deutschen Jugendgerichtstages, DVJJ-Journal 4/1992, S. 283. Zu einer weitergehenden materiell-rechtlichen Entkriminalisierung siehe Ostendorf in: Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, 1992, S. 201, 202. 2 8 So aber Unterkommission II der DVJJ-Kommission zur Reform des Jugendkriminalrechts, DVJJ-Journal 1-2/1992, S. 19; wie hier Arbeitskreis III/2 des 22. Deutschen Jugendgerichtstages, DVJJ-Journal 4/1992, S. 283; Heinz, MschrKrim 1993, S. 364. 2 9 Siehe Walter in: Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, hrsg. von Jung, 1989, S. 143; Albrecht P.-A. in: Informalisierung des Rechts, hrsg. von Albrecht P.-A., 1990, S. 39; Heinz, MschrKrim 1993, S. 364. 3 0 Siehe auch Rieß in: Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller Rechte der Betroffenen, hrsg. von Jung, 1989, S. 162. 31 Siehe Roxin, Strafverfahrensrecht, 22. Auflage, S. 134.
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2. Das Zustimmungserfordernis des Heranwachsenden
Jugendlichen/
Ein Geständnis ist nach dem eindeutigen Wortlaut für eine Diversion gem. § 45 Abs. 1 sowie Abs. 2 J G G nicht erforderlich 32 . Ein Geständnis ist auch de lege ferenda nicht zu fordern, da ansonsten diejenigen, die sich gegen den Tatvorwurf wehren wollen, schlechter gestellt würden, und dies eine fragwürdige Geständnisbereitschaft erhöhen würde. Der Tat- und Schuldnachweis kann auch auf andere Weise geführt werden. Liegt allerdings ein glaubhaftes Geständnis vor, kann dem Beschuldigten mit der Einstellung gem. § 45 Abs. 1 oder auch Abs. 2 J G G schwerlich ein Nachteil zugefügt werden. Ohne ein Geständnis sollte aber eine Zustimmung des Beschuldigten zu dieser Verfahrenserledigung eingeholt werden 33 ; im Interesse der Praktikabilität könnte diese Zustimmung bei einem Schweigen des Beschuldigten fingiert werden, wenn er entsprechend darauf hingewiesen wurde. Daß er bei einer Ermahnung „mitmachen" muß, erst recht bei einem - durch den Staatsanwalt angeregten - TäterOpfer-Ausgleich, ergibt sich aus der Natur der Sache. Diese Anforderung besteht insbesondere, solange die Diversion zum Eintrag ins Erziehungsregister führt. Allerdings sollten die Einstellungen nicht von der Zustimmung der Eltern abhängig gemacht werden, da mit strafjustiziellen Eingriffen auch mangelnde Erziehungsmaßnahmen kompensiert werden sollen 34 . 3. Der Wegfall der Eintragung ins
Erziehungsregister
Die Forderung, die Eintragung der Diversion im Erziehungsregister zu streichen, ist bereits vielfach erhoben worden; dies gilt zumindest für Einstellungen gem. § 45 Abs. 1, Abs. 2 3 5 . Der Arbeitskreis III/2 des 22. Deutschen Jugendgerichtstages hat sich „zur Zeit
Siehe oben Abschnitt I mit Fn. 3. Siehe bereits Ostendorf, Grundlagen zu den §§ 45 und 47 Rn. 8. 34 Α. M. aber van den Woldenberg, Diversion im Spannungsfeld zwischen „Betreuungsjustiz" und Rechtsstaatlichkeit, 1993, S. 175; Mohren, Die Veranlassung erzieherischer Maßnahmen durch den Staatsanwalt nach § 45 JGG, S. 121, leitet aus Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz eine Verpflichtung für den Staatsanwalt ab, die Zustimmung der Eltern einzuholen, wenn er eine erzieherische Maßnahme selbst veranlassen will. 35 Ebenso Thesen des Arbeitskreises III auf dem 18. Deutschen Jugendgerichtstag, DVJJ 12 (1981), S. 203 hinsichtlich nicht geständiger Beschuldigter; These IV des Arbeitskreises IV auf dem 19. Deutschen Jugendgerichtstag, DVJJ 13 (1984), S. 231; Stellungnahme der Arbeitsgruppe Jugendrecht, Universität Bremen, zum Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, 1983, S. 11; eine vom Hamburger Senat eingesetzte Arbeitsgruppe der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt 32 33
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noch" für eine Eintragung der Einstellung gem. § 45 Abs. 2 ausgesprochen, wobei allerdings die Tilgungsfristen erheblich verkürzt werden sollen 36 . U m das Kriterium „Ersttäter" bzw. „Serientäter" prüfen zu können, wird in der Zukunft - in Schleswig-Holstein schon zur Zeit Praxis - eine EDV-gestützte Aktenverarbeitung mit Abfragemöglichkeiten für die jeweils bearbeitende Staatsanwaltschaft genügen, die allerdings gesetzlich abgesichert und geregelt werden muß. Damit würde die Entformalisierung der Beendigung des Jugendstrafverfahrens zu Ende geführt. Zugleich würde damit eine Benachteiligung Jugendlicher/Heranwachsender gegenüber Erwachsenen, bei denen Einstellungen nicht registriert werden, beseitigt.
V. Mit diesen Abhilfen erledigt sich die Einführung eines eigenständigen Rechtsweges bei der Diversion 3 7 . Zwar könnte auch dann noch gegen den Beschuldigten von Seiten der Staatsanwaltschaft faktisch entschieden werden, wenn z.B. die Zustimmung nicht eingeholt würde oder diese ohne eine ausreichende Kenntnis ihrer Bedeutung erteilt würde. Eine solche gegen das Gesetz ausgerichtete Handlungsweise erscheint aber angesichts der innerstaatsanwaltschaftlichen Kontrollen, wozu mit der Dienstaufsichtsbeschwerde ein Anstoß gegeben werden könnte, äußerst unwahrscheinlich. Bloße theoretische Mißbrauchsmöglichkeiten begründen angesichts der aufgezeigten Nachteile keinen neuen Rechtsweg. Mit diesen Abhilfe wäre auch den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit genüge getan: Zum einen ist der Verfolgungsverzicht unter den genannten Voraussetzungen zwingend. Eine Ermessensentscheidung im Sinne der Nr. 6 dieser Mindestgrundsätze liegt nicht vor, wenngleich die Anwendung eine Persönlichkeitsbeurteilung mit einer Rückfallprognose voraussetzt und insoweit ein Beurteilungsraum geöffnet wird. Eine Uberweisung an eine gemeindliche oder sonstige Einrichtung im Sinne der Nr. 11.3 kann mit der Diversion gem. den §§ 45, 47 J G G nicht verknüpft werden, so daß die hierfür vorgesehene Uberprüfungsmöglichkeit nicht eingreift. Schließlich würde mit dieser
Hamburg, Drucks. 11/5530, S. 13; Rautenberg, Zbl 1984, S. 509; Müller, DRiZ 1996, S. 447; a.M. Böhm in: Festschrift für Spendel, 1992, S. 782, 783. 36 DVJJ-Journal 4/1992, S. 283; siehe auch Böhm in: Festschrift für Spende], 1992, S. 782; Heinz, MschrKrim 1993, S. 374. 37 So wohl auch Heinz, MschrKrim 1993, S. 372.
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Abhilfe dem Verbot in der Nr. 21.2 Rechnung getragen, Registrierungen für spätere Verfahren nachteilig zu berücksichtigen. Insgesamt lassen sich so auf diesem Wege die anfangs definierten Zielsetzungen kumulativ ohne rechtsstaatliche Nachteile erreichen.
Die notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren - Land in Sicht? WERNER BEULKE
Die Wandlungen der Verteidigungskultur des letzten Jahrzehnts haben auch vor den Türen der Jugendstrafgerichte nicht Halt gemacht. Immer mehr gewinnt die Erkenntnis an Boden, daß Jugendliche und Heranwachsende in besonderem Maße des Schutzes bedürfen, da ihre soziale Kompetenz häufig nicht ausreicht, um sich effektiv gegen den staatlichen Strafverfolgungsanspruch zur Wehr zu setzen. Vielfach bedarf es der Hilfestellung durch den Verteidiger, damit der junge Beschuldigte den Strafprozeß überhaupt als ein rechtsstaatlich faires Verfahren begreift. Daß dafür auch eine Verteidigerschaft zur Verfügung stehen muß, die sich mit Elan der Sache annimmt, ist selbstverständlich, und völlig zu Recht bemängelt der verehrte Jubilar, Alexander Böhm, daß zumindest in der Vergangenheit viele jugendliche Angeklagte ihren Verteidiger das erste und letzte Mal im Gerichtssaal getroffen hätten1. Wer nun aber ζ. B. den Beitrag des versierten Praktikers M. Zieger zum Thema „Verteidigung in Jugendstrafsachen"2 zur Hand nimmt, wird erkennen, daß eine neue Generation von Anwälten nachgewachsen ist, die sich der schweren Aufgabe der Jugendstrafverteidigung trotz der nach wie vor geschmälerten Gewinnerwartungen - mit hohem Verantwortungsbewußtsein und umfassender Sachkenntnis sowie persönlichem Engagement widmet. Spätestens im Rahmen einer Fachausbildung zum Strafverteidiger werden die jüngeren Kollegen mit den wohlerwogenen, praxiserprobten und auf die speziellen Probleme der Jugendlichen und Heranwachsenden sensibel abgestimmten Ratschläge der erfahrenen Kollegen vertraut gemacht. Eine selbst- und verantwortungsbewußte Verteidigung im Jugendstrafverfahren verzichtet auf jede Anbiederung an Jugendstaatsanwälte und -richter, ohne sich nach dem Muster polternder Starverteidiger als Elefant im Porzellanladen zu bewegen. Allein 1 2
Böhm, Alexander, Einführung in das Jugendstrafrecht, 3. Aufl., 1996, § 16 S. 115. Zieger, Matthias, Verteidigung in Jugendstrafsachen, 3. Aufl., 1998.
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schon die hohe Einstellungsquote im Ermittlungsverfahren gegen junge Beschuldigte, die je nach Bundesland zwischen etwa 50 bis 90 % schwankt und auf Bundesebene derzeit bei etwa 60 % liegt sowie die überragende Bedeutung aller ambulanten Maßnahmen weisen darauf hin, daß bei Jugendlichen und Heranwachsenden andere Verteidigerfähigkeiten gefragt sind als im Normalprozeß. Fingerspitzengefühl im Umgang mit den jungen Mandanten und mit den Institutionen der Justiz und der Jugendgerichtshilfe etc. sind oft wichtiger als exzellente Rechtskenntnisse und eine besonders ausgeprägte Streitkultur, ohne daß damit die Kontroverse um die denkbare Einbindung des Verteidigers in das Erziehungskonzept des Jugendgerichtsgesetzes neu entfacht werden sollte3. Es ist zu Recht still um sie geworden, weil zumindest insoweit im jüngsten Schrifttum Einigkeit erzielt werden konnte, daß sowohl bei der Schuldfeststellung als auch bei der Abwehr gravierender Sanktionen - die man mit den stationären Maßnahmen des Jugendstrafrechts gleichsetzen können wird - die Aufgabe des Verteidigers darin besteht, einseitig auf die Abwehr der seitens der Strafverfolgungsorgane gegen den Beschuldigten geplanten Eingriffe hinzuarbeiten 4 . Die Einflußnahmen eines guten und vor allem ideenreichen Verteidigers sind beachtlich. Wer sie einfühlsam nutzt, kann dem jungen Beschuldigten eine unermeßliche Hilfe werden. Um so erstaunlicher ist das Mauerblümchendasein speziell der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren. Zwar ist die gesetzliche Ausgangsposition durchaus nicht entmutigend, denn angesichts des erhöhten Schutzbedarfs junger Beschuldigter sind die einschlägigen Passagen des JGG (insbes. § 68 JGG) und der StPO (insbes. § 140 StPO) dahingehend auszulegen, daß die Regeln über die notwendige Verteidigung im Erwachsenenstrafverfahren den Mindeststandard umschreiben, der auch den Jugendlichen und Heranwachsenden garantiert wird (§ 68 Nr. 1 JGG: Der Vorsitzende bestellt dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre) und daß sozusagen auf diesen „Grundsockel" noch aufgebaut werden muß, wenn spezielle Aspekte aus der erzieherischen Sondersituation oder der erhöhten Gefährdetheit in juristischer oder tatsächlicher Hinsicht hinzukom3 S. dazu nur Schaff stein/Beulke, Jugendstrafrecht, 13. Aufl., 1998, § 33, S. 200; Beulke, StV 1987, 458; Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 10. Aufl., 1996, § 68 Rn. 8; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl., 1997, § 68 Rn. 9; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl., 1997, § 68 Rn. 3; Scblüchter, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 1987, S. 29. 4 Zieger, aaO., [s. o. Fn. 2], Rn. 140.
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men. Da jeder, der mit jungen Straftätern zu tun hat, mit derartigen zusätzlichen Schwierigkeiten geradezu überschüttet wird, wäre ein gegenüber dem Normalverfahren breiterer Anwendungsbereich der notwendigen Verteidigung in der Praxis erwartungskonform. Trotz vieler einschlägiger inständiger Mahnungen in der Vergangenheit ist jedoch bis heute leider das Gegenteil der Fall 5 . Noch immer liegt die Verteidigerquote im Jugendstrafverfahren unter der des Erwachsenenprozesses, noch immer wollen viele Gerichte die besondere Schutzwürdigkeit junger Beschuldigter nicht wahrhaben und noch immer hält sich bei manchen Staatsanwälten und Richtern das Vorurteil, Verteidiger seien dem im Jugendstrafrecht geltenden Erziehungsgedanken eher abträglich als förderlich. Gleichwohl verdichtet sich der Eindruck, daß langsam - m. E. viel zu langsam - Bewußtseinsveränderungen eintreten, die zu beschleunigen Zweck der hiesigen Zeilen ist. Eckdaten der Entwicklung der letzten Jahre sind aus meiner Sicht der 20. Jugendgerichtstag im Herbst 1986 in Mannheim, in dessen Arbeitskreis VIII eine Ausweitung der Pflichtverteidigung gefordert und die Erarbeitung genauerer Kriterien zur Anwendung des § 68 J G G i.V.m. § 140 StPO in Aussicht gestellt wurde 6 . Zu diesem Zweck fand im März 1987 das „Erste Kölner Symposium über die Verteidigung in Jugendstrafsachen" statt, das uns dem angestrebten Ziel einen wichtigen Schritt näher brachte. In meinem damaligen Referat habe ich die wichtigsten Fallgruppen und Planziele umrissen, auf die wir uns in der Diskussion dann auch weitgehend einigen konnten und die aus meiner Sicht bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren haben. Für die Außenwirkung unserer internen Überlegungen sorgte vor allem der vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Tagungsband „Verteidigung in Jugendstrafsachen" 7 sowie der über das Symposium ausführlich berichtende Aufsatz von Walter8. Auf einer weiteren Kölner Tagung haben wir uns dann endgültig auf den Text der Auslegungsempfehlungen zu §§ 68 J G G , 140 StPO geeinigt, die im Hinblick auf den Tagungsort die Bezeichnung „Kölner Richtlinien" erhielten und die im April 1989
5 Eisenberg, aaO. [s. o. Fn. 3], § 68 Rn. 8; Walter, in: Walter (Hrsg.), Strafverteidigung für junge Beschuldigte, 1997 [i. F. zitiert: Walter, Strafverteidigung], S. 11, 24. 6 Beulke, Schriftenreihe der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Neue Folge, Heft 17, 1987, S. 328, 336, abschließende Thesen S. 345. 7 Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen - Symposium an der Kriminologischen Forschungsstelle der Universität zu Köln 26.-29. März 1987" [i. F. zitiert: BMJ-Verteidigung], 2. Aufl., 1987. 8 Walter, N S t Z 1987, 481.
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in der NJW mit einer Einführung von Walter veröffentlicht wurden9. Die wichtigsten Forderungen der „Kölner Richtlinien" fanden später Eingang in die Vorschläge der DVJJ-Kommission „Jugendkriminalität" Unterkommission III „Jugendverfahren"10 sowie in die Abschlußempfehlungen des 22. Jugendgerichts 1992 in Regensburg. Trotz unterschiedlicher Positionen in Detailfragen wurde dort die eingeschlagene Stoßrichtung der Reformforderungen bekräftigt. Der zuständige Arbeitskreis IV/1 appellierte nachdrücklich an die Jugendgerichte, sich bei Handhabung der Vorschriften über die notwendige Verteidigung an den „Kölner Richtlinien" zu orientieren11. Der parallel tagende Arbeitskreis IV/4 griff das Spezialproblem der Untersuchungshaft auf und verlangte die Einschaltung eines Verteidigers schon vor Verkündung des Haftbefehls12. Etwa zehn Jahre später, nämlich im Oktober 1996, trafen sich fast alle Mitautoren der „Kölner Richtlinien" erneut, um eine Zwischenbilanz zu ziehen und zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Richtlinien inzwischen Bedeutung erlangt haben. Auf diesem „Zweiten Kölner Symposium über die Verteidigung in Jugendstrafsachen" wurde uns schmerzlich bewußt, daß die Gerichtspraxis aufgrund der Sparzwänge der letzten Jahre im Bereich der Pflichtverteidigerbestellung eher noch restriktiver geworden ist als früher, so daß wir in jüngster Zeit ein weiteres Absinken der Verteidigerquote im Jugendstrafverfahren zu verzeichnen haben, und daß auch die - in Anlehnung an die so berühmt gewordenen Marburger Richtlinien zu § 105 J G G - gewählte Etikettierung als „Kölner Richtlinien" doch wohl noch immer mehr Programm als Realität darstellt13. Um so nachdrücklicher müssen wir jetzt zugunsten einer Kehrtwende werben und vor allem den Jugendrichtern, die über die Beiordnung der Pflichtverteidiger zu entscheiden haben, die Dringlichkeit eines rechtsstaatlich gebotenen Ausbaus der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren vor Augen führen. Jüngste Entwicklungen in der Rechtsprechung verleihen mir den Mut, zum ersten Mal von einer sich nun wohl doch abzeichnenden Trendwende zu sprechen, die ich im folgenden näher schildern und in ihrer Tendenz nachhaltig unterstützen möchte.
NJW 1989, 1022 ff. DVJJ-Journal 1992, 4 ff. insbes. S. 23 ff. 11 DVJJ-Journal 1992, 285 f. 12 DVJJ-Journal 1992, 289. 13 Siehe vor allem die Beiträge von Walter und Beulke in: Walter, Strafverteidigung, aaO.[s. o. Fn. 5], S. 11,37. 9
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Da - wie dargelegt - die notwendige Verteidigung in Jugendstrafverfahren auf dem Mindeststandard des Erwachsenenrechts aufbaut14, bedarf es vorab noch eines Blickes in die dortige neueste Rechtsprechung. Im Erwachsenenstrafverfahren steht noch immer der Kampf um die Auslegung des Merkmals der „Schwere der Tat" i. S. von § 140 II StPO im Vordergrund. Für diese kommt es auf die Straferwartung an, konkret: auf die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe. Während man früher überwiegend auf die Zwei-Jahresfrist abstellte15, sich dann die Mehrheit der Obergerichte für die Ein-Jahres-Grenze aussprach16, gibt es neuerdings immer mehr Entscheidungen, die sich auch mit einer Straferwartung von unter einem Jahr Freiheitsstrafe zufrieden geben. Die allerjüngste Rechtsprechung hat vor allem den Aspekt des drohenden Widerrufs in noch laufenden anderen Bewährungen in den Vordergrund gestellt17. So hat ζ. B. das OLG Kölnn die notwendige Verteidigung schon im Falle des Drohens einer dreimonatigen Freiheitsstrafe bejaht, wenn in anderen Strafsachen ein Bewährungswiderruf stattfinden könnte. Natürlich finden wir auch zu den anderen Merkmalen des § 140 Abs. 2 StPO eine umfangreiche Kasuistik, die verstärkt auf die rechtlichen und persönlichen Defizite des Beschuldigten abstellt, wie ζ. B. die Ubersichten von Molketin19 und Müller-20 dokumentieren, insgesamt orientiert man sich aber im Erwachsenenstrafverfahren eher vor allem an formalen Kriterien21. Seit der Entscheidung des BVerfG 22 über die Fortdauer der Unterbringung der Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus, in der das Verfassungsgebot entwickelt wurde, im Vollstreckungsverfahren bei schwieri-
14 Überblick bei LR-Lüderssen, 24. Aufl., 1988, Rn. 42; Kleinknecbt/Meyer-Goßner, 43. Aufl., 1997, Rn. 23; Lemke/Julius etc, Heidelberger Kommentar StPO, 2. Aufl., 1999, Bearbeiter: Julius, § 140 Rn. 12; Schlothauer, R., Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl., 1998, Rn. 193. 15 O L G Stuttgart StV 1991, 611; BayObLG NStZ 1990, 250. 16 O L G Braunschweig StV 1996, 64; AG Gütersloh bei Müller, NStZ 1994, 121; O L G Karlsruhe bei Müller, NStZ 1994, 323; LG Hamburg StV 1992, 371; O L G Frankfurt StV 1995, 628; BayObLG StV 1993, 180; O L G Düsseldorf NStZ 1995, 147. 17 KG StV 1994, 287; BayObLG StV 1995, 573; O L G Köln StraFo 1997, 49; O L G Düsseldorf StraFo 1997, 335; O L G Hamm StraFo 1997, 142; 1998, 164 und 269. 18 O L G Köln StV 1993, 402. 19 Molketin, AnwBl. 1989, 19 ff.; 1991, 615 ff.; 1994,15 ff.; 1995, 527 ff.; 1998,175 ff. 20 Müller, NStZ 1992,123; 1993, 127; 1994, 27, 121, 323; 1995, 378; 1996, 370; 1997, 221 und 424. 21 Aus der jüngsten Rspr. s. nur O L G Celle StV 1997, 624; LG Mannheim bei Friedt, StraFo 1997, 236. 22 BVerfGE 70, 297.
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gen Fällen einen Pflichtverteidiger beizuordnen, ist erfreulicherweise inzwischen unstreitig, daß im Vollstreckungsverfahren der § 140 II StPO analog angewandt werden kann. Davon wird zumindest bei der Vollstreckung von Maßregeln intensiv Gebrauch gemacht. So wird ζ. B. im Uberprüfungsverfahren nach § 67 e StGB die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, verneint, wenn die Unterbringung wegen Straftaten angeordnet worden ist, für die der Untergebrachte wegen einer Geisteskrankheit nicht verantwortlich gemacht werden kann 23 . Diese kurze Beschreibung der wichtigsten Grundzüge der derzeitigen Rechtsentwicklung der notwendigen Verteidigung im Erwachsenenstrafverfahren ergibt den unumstrittenen Mindeststandard, von dem aus wir nunmehr die Regeln der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren entwickeln können, wie sie sich vor allem aus § 68 Nr. 1 J G G i. V. m. § 140 StPO ergeben. Die von mir propagierte Ausweitung der Pflichtverteidigung im Jugendstrafverfahren umfaßt einige Hauptforderungen - die auch in den „Kölner Richtlinien" im Vordergrund stehen2 - und darüber hinausgehend einige spezielle Fallgruppen, die seltener auftreten, bei denen aber gleichwohl die Besonderheiten des jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten eine gegenüber dem Erwachsenenrecht abweichende Lösung bedingen. Beginnen wir mit den Hauptforderungen. Μ. E. ist die Verteidigung im Jugendstrafverfahren immer zwingend erforderlich 25 : - wenn Jugendstrafe verhängt werden soll, und zwar unabhängig von deren Dauer oder von einer geplanten Strafaussetzung zur Bewährung - in allen Jugendschöffengerichtssachen - beim Erlaß eines Haftbefehls - bei folgenreichen vollstreckungsrechtlichen Entscheidungen, wie ζ. B. dem Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung bei der Jugendstrafe bzw. der Ablehnung einer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung - und insgesamt stets möglichst alsbald nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Neben diesen wohl inzwischen schon klassischen Forderungen nach Ausweitung der Pflichtverteidigerbestellung gibt es viele Ein23 O L G Düsseldorf NStZ 1996, 152; weitere Fundstellen bei Beulke, in: BMJ-Verteidigung, aaO. [s. o. Fn. 7], S. 191. 24 Einzelheiten NJW 1989,1024: auch abgedruckt in: Walter, Strafverteidigung, aaO. [s. o. Fn. 5], S. 207. 25 Einzelheiten bei Beulke in: BMJ-Verteidigung, aaO. [s. o. Fn. 7 ] , S. 170.
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zelfälle, in denen der junge Beschuldigte nicht ohne Verteidiger gelassen werden darf. Aus dem umfangreichen Anwendungsbereich, den wir hier nicht erneut umfassend aufarbeiten können 26 , seien einige besonders wichtige Aspekte herausgegriffen: Schwer ist jede Straftat, die bereits durch ihre Begehung selbst oder aufgrund der durch sie ausgelösten Folgen den Beschuldigten erheblich belastet. Dabei kommt es auch im Jugendstrafrecht vor allem auf die gerichtlicherseits festzulegenden Sanktionen und die Neben- und Fernwirkungen für die weitere Lebensentwicklung an. Neben der Möglichkeit der Verhängung von Jugendstrafe erscheint mir eine Pflichtverteidigung auch dann sinnvoll, wenn ein Grenzfall zwischen Jugendarrest und Jugendstrafe vorliegt, der Jugendrichter also zwar die Verhängung des schwersten Zuchtmittels für wahrscheinlich hält, er aber andererseits seiner Sache nicht ganz sicher ist. Gerade für diese Problemfälle ist die professionelle Hilfe so notwendig, um die Jugendstrafe als ultima ratio mit ihren vielen negativen Auswirkungen zu vermeiden. Die Sacb- oder Rechtslage ist schwierig, wenn - die Voraussetzungen der §§ 3,105 JGG, 20,21 StGB zweifelhaft sind - es bei Straftaten in verschiedenen Altersstufen um problematische Wertungen des § 32 JGG geht - Rechtsmittel durchgeführt werden sollen - ebenso bei Glaubwürdigkeits- und Indizienbeweisen - Akteneinsicht für eine effektive Verteidigung erforderlich ist (ζ. B. stark belastende Jugendhilfeberichte) - gegen mehrere Mitangeklagte verhandelt wird, von denen wenigstens einer professionelle Hilfe erhält - Zeugenaussagen sich widersprechen und Gutachten eingefordert sind - mehrere kleinere Delikte angeklagt sind bzw. es sich um typische Serientaten handelt, die durch ihre Vielzahl bewirken, daß ein Laie die Materie nicht mehr überschauen kann - der Angeklagte während der Vernehmung eines Zeugen gemäß § 247 StPO ausgeschlossen wird, jedenfalls sofern es sich um einen gewichtigen Tatvorwurf handelt
26 Einzelheiten bei Beulke in: BMJ-Verteidigung, aaO. [s. o. Fn. 7], S. 170; Schaffstein/Beulke, aaO. [s. o. Fn. 3], S. 203; Hartman-Hilter, ]., Notwendige Verteidigung und Pflichtverteidigerbestellung im Jugendstrafverfahren, 1989; Liiderssen, NJW 1986, 2742; Molketin, ZblJugR 1981, 199; Ostendorf, StV 1986, 309; SchmitzJusten, StraFo 1997, 307.
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- das Jugendschöffengericht die Sache gemäß § 40 Abs. 2 J G G an die Jugendkammer weitergeben möchte - eine Unterbringung gemäß §§ 7, 93 a JGG, 64 StGB in Betracht kommt - eine Straftat nach dem BtMG vorgeworfen wird. Von der Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, müssen wir insbesondere ausgehen, wenn - der Jugendliche unerfahren, gehemmt oder schüchtern ist - der Jugendliche unfähig ist, die Auswirkungen des Strafverfahrens auf das eigene Leben abzuschätzen - es sich um sehr junge Beschuldigte handelt (14- und 15jährige), jenseits des Bagatelldeliktsbereiches - längerer Freiheitsentzug vor der Hauptverhandlung stattgefunden hat, gleichgültig, worauf dieser beruht, also insbesondere bei U-Haft unterhalb der Drei-Monats-Grenze 27 - die Eltern einen Wahlverteidiger beauftragen, zu dem der Angeklagte keine Vertrauensbeziehung aufbauen kann. Insoweit wird es sich aber sicherlich nur um extreme Ausnahmefälle handeln. - die Personensorgeberechtigten in der Hauptverhandlung gänzlich ausbleiben; heutzutage aber wohl nur noch bei sehr jungen Probanden und gleichzeitig nicht ganz unbeträchtlichem Tatvorwurf. - es sich um Ausländer handelt, und zwar auch bei nicht allzu schwerwiegenden Straftaten. Welche Resonanz gab es im letzten Jahrzehnt auf diese Forderungen? Auf gesetzgeberischer Ebene sind bedauerlicherweise nur wenige Erfolge zu verzeichnen. Nennenswert erscheint insoweit nur § 68 Nr. 4 J G G neuerer Fassung, wonach der Vorsitzende dem Beschuldigten einen Verteidiger bestellt, wenn gegen ihn Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung gem. § 126 a StPO vollstreckt wird, solange er das 18. Lebensjahr nicht vollendet hat. Natürlich gingen unsere Vorstellungen hinsichtlich der notwendigen Verteidigung bei der Untersuchungshaft weiter als die heutige Regelung des § 68 Nr. 4 JGG, andererseits war uns von vornherein bewußt, daß man hier sehr wohl differenzieren kann. Während in meinem Beitrag auf dem 1. Kölner Symposium die notwendige Verteidigung noch in allen Fällen der Verhängung der U-Haft gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden befürwortet wurde 27 Zu Bestrebungen der Untersuchungshaftverkürzung durch frühe Einschaltung eines Strafverteidigers s. Scböch, StV 1997, 322 m. w. Nach.
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und manche Diskussionsteilnehmer sogar forderten, daß der Verteidiger schon vor Erlaß des Haftbefehls bestellt werden müsse, wurden die „Kölner Richtlinien" etwas zurückhaltender formuliert: zwar seien bei jeder Untersuchungshaftverhängung die in § 140 II StPO enthaltenen Kriterien der „Schwere der Tat" sowie der „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage" erfüllt, zugleich sei aber die ganz besondere Schutzwürdigkeit der 14- und 15jährigen zu beachten. Bei ihnen sei angesichts der drohenden Folgeschäden die Verhängung von Untersuchungshaft gänzlich unzulässig. In jedem Falle aber „bewirkt ihre Anordnung die notwendige Verteidigung". Damit wurde zu verstehen gegeben, daß man u. U. zwischen den einzelnen Altersstufen und zwischen der Notwendigkeit der Verteidigung vor oder nach Erlaß des Haftbefehls differenzieren könne, wie dies auch die heutige Regelung des § 68 Nr. 4 J G G tut. Natürlich dürfen wir uns mit diesen relativ bescheidenen Erfolgen nicht zufrieden geben. Die Erfahrung lehrt, daß nachhaltige Reformen des Jugendstrafrechts in den letzten Jahrzehnten immer „von unten" kommen, daß sich also Verbesserungen nur auf dem mühsamen Pfad der strafjustiziellen Praxis (inklusive Jugendhilfe, Bewährungshilfe, freie Träger etc.) erringen lassen. Dabei bedarf es der Mitwirkung oder zumindest der Schützenhilfe durch das Schrifttum, die hier glücklicherweise üppig gewährt wurde. Hinsichtlich der breiten Zustimmung zu den meisten Forderungen der „Kölner Richtlinien" in den Kommentaren und Lehrbüchern sei vor allem verwiesen auf Böhm2S sowie auf die Kommentierungen von Ostendorf29, Eisenberg30, Brunner/Dölling31 und Diemer/Schoreit/Sonneni2, ferner auf Schaff stein/Beulke", Walter34, Albrecht35, Jung36, i7 3S Miehe und Radbruch . Leider ist dieser Funke bisher noch nicht im erhofften Maße auf die Gerichtspraxis übergesprungen, vielmehr scheint man sich
Böhm, aaO. [s. o. Fn. 1], § 16 I S. 115. Ostendorf, aaO. [s. o. Fn. 3], § 68 Rn. 7 ff., § 83 Rn. 5. 30 Eisenberg, JGG, aaO. [s. o. Fn. 3], § 68 Rn. 21 ff, § 88 Rn. 15. 31 Brunner/Dölling, aaO. [s. o. Fn. 3 ] , § 68 Rn. 15 ff. 32 Diemer/Schoreit/Sonnen, Kommentar zum JGG, 2. Aufl., 1995, § 68 Rn. 10 ff., § 88 Rn. 20. 33 Schaffstein/Beulke,aaO. [s. o. Fn. 3 ] , § 33, 3, S. 202. 34 Walter, NStZ 1987, 481. 35 Albrecht, Jugendstrafrecht, 2. Aufl., 1993, § 44 C I 2, S. 347. 36 Jung, JuS 1992, 191; ders., DVJJ-Journal 1994, 221. 37 Miehe, ZStW 104 [1992] S. 160. 38 Radbruch, StV 1993, 553, 557. Vertiefende Darstellung bei Be ulke, in: Walter, Strafverteidigung, aaO. [s. o. Fn. 5], S. 45. 28 29
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dort den „Kölner Richtlinien" eher im Schneckentempo zu nähern. Einmal gehen die Gerichte zwei Schritte nach vorn, um dann erneut einen Schritt zurückzuweichen. Insgesamt ist jedoch die grobe Marschrichtung als positiv zu bewerten, so daß zumindest langfristig mit den erhofften Verbesserungen gerechnet werden kann. Als einen Meilenstein der neuen Pflichtverteidigerrechtsprechung stufe ich die Entscheidung des A G Saalfeld39 ein, weil sie sozusagen „ex catedra" das besondere Defizit junger Beschuldigter und das Gebot der extensiven Interpretation des § 140 II StPO anerkennt: „Ausgangspunkt der Überlegungen hat zu sein, daß gerade Jugendliche aufgrund ihrer mangelnden oder geringeren Handlungskompetenz in ihrer Interessenwahrnehmung vor Gericht vielfach gehandikapt und dadurch gegenüber Erwachsenen stark benachteiligt sind".
Ganz im Sinne der „Kölner Richtlinien" wird aus diesem besonderen Defizit abgeleitet, daß bei einem nicht nur geringfügigen Tatvorwurf dem Jugendlichen ein Verteidiger beigeordnet werden müsse, wenn dem erwachsenen Mitangeklagten ein Wahlverteidiger zur Seite stehe 40 . Auf dieser Grundlage des Gebots der extensiven Interpretation der §§ 68 Nr. 1 J G G i. V. m. 140 II StPO kann der stetige Ausbau der Pflichtverteidigung in der Tat stetig vorangetrieben werden. Wie von den „Kölner Richtlinien" verlangt, stellt die neuere Rechtsprechung zum Jugendstrafverfahren bei den Entscheidungen zu § 140 II StPO verstärkt auf eine Gesamtwertung aller beim Beschuldigten anzutreffender Verteidigungsdefizite ab. Unstrittig ist ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben bei einer sicher zu erwartenden Jugendstrafe in Höhe von etwa einem Jahr 4 1 . Aber auch sofern diese Prognose unmöglich erscheint, kann eine Gesamtwürdigung ergeben, daß der Beschuldigte sich ohne Mitwirkung eines Anwalts nicht effektiv verteidigen könnte. Dabei sind vor allem folgende „Defizitkriterien" bedeutsam 42 : - das jugendliche Alter
AG Saalfeld, NStZ 1995, 150 m. Anm. Bärens, NStZ 1996, 52. Zu Recht hat Müller, NStZ 1997, 327 in seiner Rechtsprechungsübersicht dieser Entscheidung durch besonders ausführliche Wiedergabe der Urteilsgründe einen erhöhten Rang beigemessen; ebenso Sattele, StV 1998, 329. 41 Vgl. nur O L G Frankfurt StV 1993, 537; O L G Düsseldorf O L G StPO § 140 Nr. 15; O L G Celle StV 1991, 151; O L G Oldenburg VRS 78 (1990) 292; AG Lüneburg StV 1992, 223; LG Darmstadt StV 1989, 60; LG Heilbronn StV 1992, 509; LG Tübingen DVJJ-Journal 1996, s. aber auch O L G Düsseldorf AnwBl 1991, 619, dazu Molketin StV 1989, 60. 42 Einzelheiten siehe meine Ausführungen in Beulke, aaO. in: Walter, Strafverteidigung [s. o. Fn. 5], S. 39. 39 40
Die notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren - Land in Sicht?
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die Ausländereigenschaft soziale Defizite mangelhafte Schulbildung fehlende soziale Kompetenz insbesondere bei verteidigten erwachsenen Mitangeklagten oder bei einem schwierigen Tatvorwurf - fehlende Aktenkenntnis bei komplizierten Sachverhalten. In der allerjüngsten Rechtsprechung wird immer wieder hervorgehoben, daß bei einer Straferwartung ab einem Jahr Freiheitsentzug die Bestellung eines Verteidigers wegen Schwere der Tat auch geboten sei, wenn es sich um eine Einheitsjugendstrafe gem. § 31 JGG handele43 und im Sinne der inzwischen im Vordringen befindlichen Gesamtbetrachtung wird ζ. B. vom KG 44 noch hinzugefügt, daß neben der Einbeziehungsproblematik auch die verminderte Intelligenz des Angeklagten die Beiordnung nahegelegt hätte. Einen Rückschritt stellt hingegen die zuletzt erwähnte Entscheidung insoweit dar, als sie es ausdrücklich offenläßt, ob nicht bei besonderen Umständen eine geringfügige Überschreitung der Einjahresgrenze doch zulässig wäre. Um so erfreulicher ist aber wiederum ein Beschluß des LG Frankfurt, der unter voller Ausschöpfung der extensiven Interpretationsmöglichkeiten des § 140 II StPO die Notwendigkeit der Verteidigung bei in Betracht kommender Einheitsjugendstrafe sogar noch dann für gegeben hält, wenn das Verfahren inzwischen gem. § 154 StPO eingestellt worden ist45. Einen Lichtpunkt stellt auch ein Beschluß des LG Braunschweig dar, der einen Fall der Pflichtverteidigung gem. § 68 Nr. 2 JGG bejaht, wenn zwar der Tatvorwurf gegen einen 17jährigen angeklagten Jugendlichen nicht schwer wiegt, seine Eltern sich jedoch im Ausland befinden und deshalb aus tatsächlichen Gründen gehindert sind, ihre Rechte aus § 67 JGG wahrzunehmen. Das LG Lüneburg 46 bejaht das sogar für den Fall, daß für das laufende Verfahren ein Pfleger bestellt worden ist. Besonderer Hervorhebung bedarf noch ein Beschluß des AG Hamburg 47 , der erneut ausdrücklich betont, daß die Generalklausel des § 140 II StPO bei Jugendlichen unter jugendrechtlichen und jugendkriminologischen Gesichtspunkten auszulegen ist, und daß die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, einem sprachunkundigen ju43 44 45 46 47
O L G Rostock StV 1998, 325. KG StV 1998, 325. LG Frankfurt StV 1998, 326. LG Lüneburg StV 1998, 326. AG Hamburg StV 1998, 326.
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gendlichen Asylbewerber auch dann fehlt, wenn ein Dolmetscher hinzugezogen wird und von keiner Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge auszugehen ist und daß ferner die Schwere der Tat bejaht werden müsse, wenn bei einer Verurteilung die Ausweisung des ausländischen Jugendlichen drohe. Leider war diesem Beschluß nur eine kurze Lebensdauer beschert, denn das L G Hamburg 48 hat in der Beschwerdeinstanz die Verteidigerbeiordnung aufgehoben, weil der normalbegabte 16jährige Afrikaner neben seiner Landessprache auch Englisch und gebrochen Deutsch spreche, man einen Dolmetscher hinzuziehen könne, der Sachverhalt und die Rechtslage unkompliziert sei und darüber hinaus einem Asylbewerber auch bei einer Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldeliktes keine Ausweisung als schwere Tatfolge drohe, da er Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 2 AuslG genieße. Wie ein solcher Beschluß mit den vorab erwähnten Entscheidungen vereinbar sein soll, daß bei einem gleichartigen Deutschen, dessen Eltern im Ausland weilen, stets ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege, wird wohl immer das Geheimnis des L G Hamburg bleiben. Ganz abgesehen davon, daß das Gericht u. U. die ausländerrechtlichen Folgen falsch eingeschätzt hat 49 , verdient die Entscheidung vor allem auch deshalb Kritik, weil sie die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, bei einem 16jährigen, gebrochen Deutsch sprechenden Asylbewerber doch wohl maßlos überschätzt. Im Hintergrund dürfte der bei manchem Richter noch immer vorherrschende Gedanke Pate gestanden haben, daß Verteidiger im Jugendstrafverfahren weitgehend überflüssig seien und daß man sich nicht - wie eigentlich geboten 50 - im Zweifel zugunsten der Pflichtverteidigerbestellung entscheiden müsse. Doch darf man sich durch derartige Rückschläge nicht entmutigen lassen, denn die jüngste Rechtsprechung liefert uns glücklicherweise auch positives Anschauungsmaterial. Mutig stellt das L G Gera 51 fest, daß bei einem 15 Jahre alten einschlägig vorgeahndeten und vorbestraften (6 Monate Jugendstrafe mit Bewährung) Angeklagten, der erneut wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in mehreren Fällen vor Gericht stehe, ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vorliege, wenn nur eine Einheitsjugendstrafe von (wenig?) mehr als 6 Monaten drohe. Unter ausdrücklicher Bezugnahme L G Hamburg StV 1998, 327. Einzelheiten dazu bei Sattele, StV 1998, 328. 50 Sattele StV 1998, 330; im Anschluß an Kleinknecht/Meyer-Goßner, Fn. 14], § 140 Rn. 30. 51 L G Gera, StraFo 1998, 270 = DVJJ-Journal 1998, 189. 48
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aaO. [s. o.
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auf die „Kölner Richtlinien" wird dargelegt, daß die Bestellung eines Verteidigers bei Jugendlichen regelmäßig geboten sei, „wenn als Rechtsfolge auf Jugendstrafe erkannt werde". Damit wurde also unsere berechtigte Forderung nach einer Ausweitung der notwendigen Verteidigung auf alle Fälle drohender Jugendstrafe 52 - zunächst bei Jugendlichen - zum ersten Mal von einem Gericht aufgegriffen. Erneut wird im Anschluß an die Entscheidung des A G Saalfeld53 hervorgehoben, daß gerade Jugendliche wegen ihrer mangelnden oder geringeren Handlungskompetenz in ihrer Interessenwahrnehmung vor Gericht vielfach eingeschränkt und dadurch gegenüber Erwachsenen stark benachteiligt seien, so daß eine „extensive Interpretation des § 140 Abs. 2 StPO zugunsten jugendlicher Angeklagter" geboten sei. Je jünger der Angeklagte, desto geringer seien seine Einflußmöglichkeiten. Eine selbständige und kompetente Gegenwehr, die auch diffizile Entscheidungen, wie ζ. B. die Wahl des Rechtsmittels bei § 55 J G G umfasse, sei bei sehr jungen Angeklagten nicht möglich. Hinzu komme beim konkreten Angeklagten, daß er die Schule nur bis zur 6. Klasse besucht und dabei die 3. Klasse einmal und die 6. Klasse zweimal wiederholt und daß er nach dem Weggang von der Schule keine Arbeit gefunden habe. Hier bedürfe es also eines Verteidigers, denn gerade im Jugendstrafverfahren müsse „die grundgesetzlich garantierte Subjektstellung des vom staatlichen Strafanspruch erfaßten jungen Menschen gesichert werden". Um keine Zweifel an der grundsätzlichen Aussagekraft seines Beschlusses aufkeimen zu lassen, wurde zwei Monate später von demselben Gericht 54 , nunmehr bei einem 18 Jahre alten wegen Diebstahls angeklagten Heranwachsenden, gegen den bereits früher eine Jugendstrafe von 6 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden war und der nunmehr unter Einbeziehung der Vorverurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt werden sollte, erneut die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich auf alle Fälle der 52 Ebenso u. a. „Kölner Richtlinien" NJW 1989, 1026; Eisenberg, aaO. [s. o. Fn. 3], § 68 Rn. 24; Ostendorf, aaO. [s. o. Fn. 3], § 68 Rn. 8; Diemer in Diemer/Schoreit/ Sonnen, aaO. [s. o. Fn. 32], § 68 Rn. 10; Beulke in BMJ (Hrsg.), Verteidigung in Jugendstrafsachen, 1987, S. 177; ders., in Walter (Hrsg.), Strafverteidigung für junge Beschuldigte, 1997, S. 45; Schaff stein/Beulke, aaO. [s. o. Fn. 3], S. 203; Zieger, aaO. [s. o. Fn. 2], Rn. 167; Albrecht, Jugendstrafrecht, 2. Aufl., 1993, S. 348; Schlag in Brüssow/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 1998, § 21 Rn. 54; Lemke/Julius, aaO. [s. o. Fn. 14], § 140 Rn. 19; Oellrich, StV 1981, 417; Radbruch, StV 1993, 557. 53 AG Saalfeld, s. o. Fn. 39. 54 LG Gera DVJJ-Journal 1998, 279.
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Verhängung von Jugendstrafe ausgeweitet. Wegen der geringeren Lebenserfahrung seien nicht nur die Jugendlichen sondern auch die Heranwachsenden zur Wahrnehmung ihrer Interessen vor Gericht weit weniger in der Lage als Erwachsene und deshalb habe der Staat ihnen gegenüber auch bei der Pflichtverteidigerbestellung eine besondere Fürsorgepflicht. Im Hinblick auf die schweren Folgen der Jugendstrafe, der Strafuntergrenze von 6 Monaten und der Verhängungsvoraussetzungen „schädliche Neigungen" und „Schwere der Schuld" sei - wie es die „Kölner Richtlinien" zutreffend forderten - in jedem Fall drohender Jugendstrafe die Einschaltung eines professionellen Helfers erforderlich. Solch beherzte Beschlüsse berechtigen uns zu den kühnsten Träumen. Es ist also doch Land in Sicht und wir wünschen uns weitere Innovationsschübe nach dem Muster des A G Saalfeld und des L G Gera, vielleicht gerade aus den neuen Bundesländern. Jetzt entsteht die Hoffnung, daß man sich (dort?) vielleicht sogar in absehbarer Zeit auch der Schöffengerichtsproblematik annimmt. Angesichts des im Vergleich zum Erwachsenenstrafverfahren breiteren Zuständigkeitsbereichs des Jugendschöffengerichts bis hin zu relativ schweren Verbrechen 55 , verbleibt unsere Forderung nach einer generellen Ausweitung der notwendigen Verteidigung auf alle Jugendschöffengerichtssachen noch immer aktuell und sachgerecht. Wünschenswert wäre ferner vor allem, daß für die Vollstreckung der Jugendstrafe endlich die besonderen Möglichkeiten des § 83 III S. 2 J G G (für Heranwachsende in Verbindung mit § 110 I J G G ) ausgeschöpft werden. Noch immer scheint es nicht in das Bewußtsein der Jugendrichter gedrungen zu sein, daß wir im jugendstrafrechtlichen Vollstreckungsverfahren den mühsamen Umweg über eine analoge Anwendung des § 140 StPO gerade nicht benötigen, weil schon der Gesetzgeber in § 83 III S. 2 J G G die Vorschriften über die Pflichtverteidigerbestellung im Jugendstrafverfahren und damit auch die §§ 68 Nr. 1 J G G i. V. m. 140 StPO im Vollstreckungsverfahren für sinngemäß anwendbar erklärt. Wird bei gravierenden Jugendstrafen eine Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, so sollte dies ebensowenig ohne Mitwirkung eines Verteidigers erfolgen wie die Ablehnung des Antrags auf Reststrafaussetzung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 88 II J G G 5 6 . Als immerhin kleinen
Vgl. Schaff stein/Beulke, aaO. [s. o. Fn. 3], S. 188. Einzelheiten in den „Kölner Richtlinien", NJW 1989, 1026, S. 212; Beulke, in: BMJ-Verteidigung, aaO. [s. o. Fn. 7], S. 191; Schaffstein/Beulke, aaO. [s. o. Fn. 3], S. 206; Hartman-Hilter, ]., aaO. [s. o. Fn. 26], S. 125 ff.; ders., StV 1988, 312. 55 56
Die notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren - Land in Sicht?
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Lichtblick möchte ich die Entscheidung des O L G Karlsruhe werten, die zumindest die Entscheidungen über die Strafaussetzung zur Bewährung i. S. v. § 57 JGG als zum Erkenntnisverfahren gehörig und deshalb als von der früheren Pflichtverteidigerbestellung mit umfaßt erklärt 57 . Es ist also nicht zu verkennen, daß es noch viel zu tun gibt. Die ermutigenden Signale der letzten Zeit berechtigen aber zu der kühnen Hoffnung, daß man sich in der Richterschaft - und nicht nur dort verstärkt der rechtsstaatlichen Dimension des Strafverfahrens gegen Jugendliche und Heranwachsende bewußt wird. Wer die einschlägigen Vorschriften im Sinne eines emanzipatorischen Umgangs mit den jungen Beschuldigten handhabt, handelt ganz im Sinne des verehrten Jubilars, dem sowohl als Anstaltsleiter im Jugendstrafvollzug, als auch als Wissenschaftler und Lehrer der verantwortungsbewußte Umgang mit den nachfolgenden Generationen ein Herzensanliegen war und ist.
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O L G Karlsruhe StV 1998, 348.
Opferanwalt auf Staatskosten Entstehungsgeschichte und Reichweite der §§ 397a, 406g StPO nach dem Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998
H E I N Z SCHÖCH
I. Die am 1. Dezember 1998 in Kraft getretenen Änderungen im Bereich der Nebenklage und des Verletztenbeistands, die in der öffentlichen Diskussion vereinfacht als „Opferanwalt auf Staatskosten" bezeichnet werden, haben eine etwa 14jährige Entstehungsgeschichte, an der Alexander Böhm maßgeblich beteiligt war. Wegen der für ihn typischen Bescheidenheit könnte sein Beitrag zu diesem Meilenstein des Opferschutzes in Vergessenheit geraten. Der 70. Geburtstag ist deshalb ein geeigneter Anlaß, die Verdienste des verehrten Jubilars um die Entwicklung des Opferschutzes zu dokumentieren. Dankbar blicke ich an diesem Tag auch auf unsere langjährige Zusammenarbeit im Vorstand des WEISSEN RINGES e.V. und in der „Arbeitsgruppe Strafrecht" dieses gemeinnützigen Vereins zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten zurück. Alexander Böhm gehört dem Vorstand seit der Gründung des Vereins im Jahr 1976 an. In der von ihm geleiteten Arbeitsgruppe Strafrecht1 wurden die rechtspolitischen Vorschläge des WEISSEN RINGES auf dem Gebiet des Straf- und Strafprozeßrechts entwickelt und Stellungnahmen zu aktuellen Gesetzesvorhaben beraten, die teils direkt an die Bundesregierung, die Landesregierungen oder die parlamentarischen Gremien übermittelt wur-
1 Der Arbeitsgruppe Strafrecht, die 1984 vom Vorstand des WEISSEN RINGES eingesetzt wurde, gehören z.Zt. an: Prof. Dr. Alexander Böhm, Mainz (Vorsitzender); Rechtsanwältin Dr. Gudrun Doering-Striening, Essen; Generallandesanwalt Thomas Hütt, Erfurt; Rechtsanwalt Siegfried Kauder, Villingen-Schwenningen; Generalstaatsanwalt Dr. Heinrich Kintzi, Braunschweig; Prof. Dr. Heinz Schöch, München; Assessor "Walter Schwab, Bundesgeschäftsstelle Weißer Ring, Mainz; Staatssekretär a.D. Dr. Kurt Wähler, Düsseldorf. Frühere Mitglieder waren Prof. Dr. Hermann Blei, Berlin; Oberlandesgerichtspräsident Gerhard Mützeiburg (f), Celle.
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Heinz Schöch
den,2 teils über Beschlüsse des Vorstandes an die Öffentlichkeit gelangten.3 II.
Die ersten Vorstellungen des WEISSEN RINGES zum Thema Opferanwalt wurden im September 1984 anläßlich der Bundesdelegiertenversammlung in Bonn der Öffentlichkeit bekannt gemacht.4 Sie stammen aus der kurz zuvor vom Vorstand eingesetzten Arbeitsgruppe „Gesetzgebung", die von Alexander Böhm geleitet wurde: „Dem Opfer eines Gewaltverbrechens ist - auch bereits im Ermittlungsverfahren - ein Rechtsanwalt (Opferanwalt) beizuordnen... Der WEISSE RING hält es für notwendig, nicht nur Opfern von Sexualdelikten - so wie von der SPD-Bundestagsfraktion beantragt sondern auch den Opfern von schwerwiegenden Gewalttaten einen Opferanwalt beizuordnen". 5 Die Formulierung dieses Ziels wurde nicht nur durch den erwähnten SPD-Entwurf 6 angeregt, sondern vor allem durch einen Festvortrag des früheren Oberlandesgerichtspräsidenten aus Celle, Gerhard Mützeiburg, der bereits 1982 bei der Delegiertenversammlung in Hannover einen „Pflichtbeistand für den Opferzeugen" gefordert hatte 7 . Angeregt wurde die Meinungsbildung im WEISSEN RING auch durch die bevorstehenden Beratungen des Deutschen Juristentages über die „Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren" im September 1984 in Hamburg, 8 die baldige Gesetzgebungsinitiativen erwarten ließen.9 Im September 1985 legte die Arbeitsgruppe „Gesetzgebung und Recht" unter der Leitung von Böhm dem Bundesminister der Justiz nach einem Vorgespräch im Ministerium 10 eine Stellungnahme zum Diskussionsentwurf eines Opferschutzgesetzes vor, in der es als unangemessen bezeichnet wurde, „den Verbrechensopfern bei der Fi-
2
Vgl. z.B. Zeitschrift WEISSER R I N G (WR) 18 (1995), Heft 3, S. 3/4 (betrifft Gesetzesinitiativen zum Adhäsionsverfahren und zum Schutz für Kinder). 3 Vgl. z.B. WR 20 (1997), Heft 1, S. 6/7 (betrifft Befürwortung des Täter-OpferAusgleichs und der Wiedergutmachung im Strafrecht). 4 WR 7 (1984), Heft 4, S. 1-3. 5 WR 7 (1984), Heft 4, S. 3. 6 BT-Drs. 10/3636. 7 WR 5 (1982), Heft 6, S. 10 ff., 14. 8 Vgl. Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten C zum 55. DJT 1984 sowie Sitzungsbericht L zum 55. DJT, Hamburg 1984. 9 Vgl. den Bericht von Schwab, Mehr Rechte für Verbrechensopfer? WR 7 (1984), Heft 6, S. 6 f. 10 Bericht von Böhm, WR 8 (1985), Heft 2, S. 1 f.
Opferanwalt auf Staatskosten
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nanzierung ihres Rechtsbeistandes den Weg über die Prozeßkostenhilfe - das frühere Armenrecht - zuzumuten" 11 . Böhm erläuterte diese Kritik Anfang 1986 in der Mitgliederzeitschrift des WEISSEN RINGES dahingehend, daß damit ein „Anwalt auf Staatskosten... nur den Ärmsten der Armen... (Nettoeinkommen bei Ledigen unter 850 DM)" bewilligt würde. „Soll das ohnehin schwer geschädigte Opfer für seinen Schutz vor Gericht auch noch bezahlen müssen, obwohl der Staat ihm die Rolle des Zeugen abverlangt?"12 Die nächsten Stellungnahmen des WEISSEN RINGES zum Opferanwalt sind in den parlamentarischen Materialien über den Entwurf der SPD-Fraktion für ein Opferschutzgesetz vom 10.07.1985 13 und den Regierungsentwurf für ein „Erstes Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren" vom 10.04.1986 14 dokumentiert. In einer vom Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages vor der Anhörung angeforderten schriftlichen Stellungnahme vom 7.5.1986 befürwortete der WEISSE RING die Regelungen zur Nebenklage und zur Kostenregelung in den §§ 397a, 472, 473 StPO in der Fassung des Regierungsentwurfs und führte dann zum Opferanwalt folgendes aus: „Der WEISSE R I N G ist seit jeher und auch in seinen Vorschlägen zur Gesetzgebung vom September 1984 ausdrücklich für die Einführung eines Opferanwaltes eingetreten. Die Einführung des Opferanwaltes ist eine Hauptforderung des WEISSEN R I N G E S , aber auch des SPD-Entwurfs. Nur mit Hilfe des Opferanwalts kann ausreichender Opferschutz gewährleistet werden. Die Vorschriften über den Opferanwalt sollten nicht auf Sexualdelikte beschränkt bleiben, weil auch die Opfer anderer Gewalttaten, zum Beispiel Geiselnahme, Menschenraub und ähnliches, psychischen Belastungen ausgesetzt sind, die denen der Sexualopfer gleichstehen. Es besteht kein Zweifel, daß auch die Zeugen in Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewalttaten eines besonderen Schutzes bedürfen. Der WEISSE R I N G ist von Anfang an für den Schutz aller Opfer von Gewalttaten eingetreten. ...Dem Opferanwalt sollte bei Gewalttaten zusätzlich das Recht eingeräumt werden, auch bei polizeilichen Vernehmungen zugegen zu sein. Selbstverständlich muß er während der Hauptverhandlung auch dann anwesend sein dürfen, wenn sein Mandant nicht vernommen wird. Auf ein Beweisantragsrecht dieses Opferanwalts kann wohl verzichtet werden. Das Recht, auf Verlangen das Wort zu erhalten, sollte ihm aber eingeräumt werden, damit er wenigstens zur Notwendigkeit der Vernehmung des Opfers überhaupt oder in einem bestimmten Zeitpunkt Stellung nehmen kann. Die Kosten für den Beistand des Opfers von Gewalttaten sollte die Staatskasse tragen, weil der Staat diesen Zeugen mehr als Zeugen in anderen Strafverfahren an seelischer Belastung und gesundheitlicher Gefährdung zumutet.
11 12 13 14
W R 8 (1985), Heft 4, S. 1. Böhm, W R 9 (1986), Heft 1, S. 3. BT-Drs. 10/3636. BT-Drs. 10/5305.
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Diese Forderung des WEISSEN RINGES ist auf die Personen beschränkt, die als Opfer von schweren Gewalttaten ihrer Zeugenpflicht genügen müssen. Bei Opfern von Raubdelikten, bei denen in vielen Fällen zum Glück keine schweren gesundheitlichen und psychischen Schäden gemeldet wurden, soll die Beiordnung des Beistandes auf Staatskosten nur dann erfolgen, wenn dies im Einzelfall wegen der zu befürchtenden psychischen Belastung des Opfers geboten ist. Der Zeuge muß einer im Interesse der Strafrechtspflege aufgestellten Anwesenheits- und Aussagepflicht genügen. Unabhängig vom Verfahrensausgang hat er deshalb schon heute einen Anspruch auf Fahrtkosten- und Auslagenersatz wegen Erfüllung dieser Pflicht gegen den Staat. Soweit ihm nun zur Erfüllung dieser Pflicht auch noch die Hinnahme besonderer seelischer und gesundheitlicher Gefährdung zugemutet wird, derentwegen die Anwesenheit eines Beistandes zum Ausgleich der Belastungen als notwendig oder sachdienlich angesehen wird, müssen ihm diese erforderlichen Auslagen auch ersetzt werden" ,15
In der mündlichen Anhörung am 15.5.1986, an der ich neben anderen Kollegen als sachverständiger Wissenschaftler teilnahm, vertrat Alexander Böhm den WEISSEN RING. Im Rahmen der allgemeinen Einschätzung der Entwürfe machte er deutlich, daß „es bei der Verbesserung der Verletztenstellung darum gehe, daß die Menschenwürde auch dieses Verfahrensbeteiligten im Strafprozeß besser zur Geltung" komme. 16 Der Gesetzentwurf führe zu einer Veränderung des Verfahrens insgesamt und nicht zu einer Vereinfachung. Er führt „möglicherweise aber dazu, daß sich in der Öffentlichkeit die Akzeptanz des Verfahrens" vergrößere. 17 Zum Themenkomplex Verletztenbeteiligung/Opferanwalt führte Böhm aus, daß nicht die Verstärkung der Nebenklage und die Anknüpfung des Verletztenbeistandes an die Nebenklagebefugnis das Ziel des WEISSEN RINGES sei, sondern der Verletzten-Anwalt. Nach viktimologischen Erkenntnissen habe man dabei „den Verletzten im Auge, der durch das Verfahren eine Vertiefung des ihm durch die Straftat entstandenen Schadens erlebt. Das ist die sogenannte sekundäre Viktimisation. Das ist ein Personenkreis, der mit der Nebenklagebefugnis viel zu weit umschrieben ist. Es ist ein kleiner Personenkreis, Opfer von schwersten Gewalttaten, möglicherweise dann auch noch einer, der darüber hinaus individuell beschriebenen werden könnte. Dieser Personenkreis bedarf eines besonderen Schutzes im Verfahren, und zwar durch einen Anwalt, der ihm beigeordnet wird, für den er also nicht zur Kasse gebeten wird. Auch ich bin der Meinung, daß das ein Anwalt sein muß, dessen Kosten Verfahrenskosten sind.
15 WEISSER RING, in: Schriftliche Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung der 85. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu BT-Drs. 10/3636 und BT-Drs. 10/5305, S. 5 f. 16 Böhm, Stenographisches Protokoll über die 85. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. Mai 1986, Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, 6. Ausschuß, Protokoll Nr. 85, S.3.
17
Böhm (Fn. 16), S. 3.
Opferanwalt auf Staatskosten
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Es geht hier um Schutzrechte; es geht darum, daß dieser zum Zwecke der öffentlichen Wahrheitsfindung in Anspruch genommene Mensch in seinen Rechten, in seinen Gefährdungen, in seiner Menschenwürde im Gerichtssaal geschützt werden muß. E r hat kein Angriffsbedürfnis, er hat kein Genugtuungsbedürfnis, er braucht keine Nebenklage, sondern er braucht Schutz. Für diesen Schutz braucht er nichts zu zahlen, das ist ganz klar, genausowenig wie er als Zeuge etwas für seinen Verdienstausfall oder für seine Reisekosten zum Gericht zahlen muß. Er wird durch die öffentliche Gewalt in Anspruch genommen und wird auf die Weise in eine Gefährdungssituation gebracht, und dafür bedarf er des Schutzes." 18
Aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß Böhm seinerzeit die Koppelung mit der Nebenklage vermeiden wollte, offenbar wegen der nach damaligem Recht zu weitreichenden Angriffs- und Genugtuungsbefugnisse des Nebenklägers. Dies ist gut nachvollziehbar, denn zur Nebenklage gehörte nach dem früheren Recht die uneingeschränkte Rechtsmittelbefugnis, die sich nicht nur auf den Schuldspruch, sondern auch auf das Strafmaß bezog (§ 401 StPO i.d.F. bis 31.3.1987). Zu weit ging auch die frühere Anknüpfung an den Deliktskatalog der Privatklage (z.B. fahrlässige Körperverletzung, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch) und die damit verbundenen prozessualen Befugnisse des Privatklägers (z.B. im Gegensatz zu heute die Befugnis zur unmittelbaren Ladung von Zeugen nach § 220 StPO, das Recht die vollständige Niederschreibung und Verlesung einer Aussage oder einer Äußerung gemäß § 273 III StPO zu verlangen sowie die Zustimmungserfordernisse gemäß §§61 Nr. 5, 245 I 2, 251 I Nr. 4 StPO). 19 III. Tatsächlich wurde dann im „ersten Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz)" vom 18.12.1986 die formelle Beteiligungsbefugnis des Verletzten im Wege der Nebenklage auf der Grundlage des Regierungsentwurfs20 selbständig - also unabhängig von der Nebenklage - bestimmt und die Befugnisse des Verletzten vorrangig am Schutz vor Verantwortungszuweisungen durch den Beschuldigten orientiert.21 In dem neugestalteten § 397 StPO wurden die überschießenden Befugnisse des Privatklägers reduziert und dem Nebenkläger nur noch das Böhm (Fn. 16), S. 69. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl. 1997, § 397 Rn. 11 f.; Rössner, in A K - S t P O , Band 3, 1996, § 397, Rn. 7, 11. 20 BT-Drs. 10/5305. 21 Begründung zum Regierungsentwurf eines Opferschutzgesetzes, BT-Drs. 10/ 5305, S. 9. 18
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Äußerungs-, Frage-, Beanstandungs- und Ablehnungsrecht belassen. Neben diesen eher defensiven Befugnissen verblieb ihm aber das offensive Beweisantragsrecht gemäß § 244 III-VI StPO. 2 2 Damit solle er „auf den Ablauf der Hauptverhandlung auch außerhalb seiner möglicherweise zusätzlich gegebenen Zeugenstellung einwirken" können, um „seine Interpretation des Tatgeschehens" zu artikulieren und „Verantwortungszuweisungen des Angeklagten" entgegenzutreten. 23 Demgegenüber wurde in § 400 StPO die Rechtsmittelbefugnis bezüglich der Rechtsfolgen der Tat und der nicht nebenklagefähigen Delikte ausgeschlossen. Damit ist zwar nicht den Vorstellungen des W E I S S E N R I N G E S entsprochen, jedoch hat der Gesetzgeber die Genugtuungsfunktion der Nebenklage zurückgedrängt und ihre Schutzfunktion gegenüber einem kleineren Kreis von Verletzten betont. 24 Hierdurch ergab sich objektiv eine Annäherung an die Konzeption des WEISSEN R I N G E S , die noch verstärkt wurde durch die im Opferschutzgesetz neu gestaltete Möglichkeit der Prozeßkostenhilfe nach § 397a StPO. Zwar gab es schon vor dem 1.4.1987 durch die Globalverweisung auf die Privatklage die Möglichkeit, minderbemittelten Verletzten wenigstens auf diesem Weg Zugang zum anwaltlichen Beistand zu gewähren. Allerdings paßte die allgemeine Voraussetzung der Prozeßkostenhilfe (§ 114 I ZPO), daß „die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint" für den Anschluß des Verletzten als Nebenkläger nicht; sie wurde deshalb durch die präzisere Formulierung des § 397a StPO ersetzt, nach der Prozeßkostenhilfe zu bewilligen ist, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist, der Verletzte seine Interessen nicht selbst ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist. Damit war ein erster Schritt in Richtung auf die vom WEISSEN R I N G geforderte generelle Kostentragung durch die Staatskasse getan, jedenfalls für bedürftige Verletzte mit einem Monatseinkommen von weniger als 850,- D M netto (nach den Einkommensverhältnissen in den 90er Jahren). Schließlich wurde mit dem qualifizierten Verletztenbeistand gemäß § 406g StPO für die nebenklageberechtigten Verletzten die Möglichkeit geschaffen, sich schon vor Erhebung der öffentlichen Kritisch hierzu u.a. Schünemann, NStZ 1986, 197; Weigend, N J W 1987, 1175. Regierungsentwurf (Fn. 21), S. 13 f. 2 4 Vorbereitet von Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, Gutachten C zum 55. Deutschen Juristentag, C 83 ff.; unterstützend Schöch, NStZ 1984, 388 f. unter Berufung auf die von mir betreute rechtstatsächliche Untersuchung von Hüssing, Die Rechtswirklichkeit der Nebenklage, Jur. Diss. Göttingen 1983. 22 23
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Klage des Beistands eines Rechtsanwalts zu bedienen oder sich durch einen solchen vertreten zu lassen, auch wenn ein Anschluß als Nebenkläger nicht erklärt wird. Hierfür kann auch Prozeßkostenhilfe bewilligt werden (§ 406g III StPO). In eilbedürftigen Fällen bevorzugt bei Opfern von Sexualdelikten - kann durch einstweilige Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand (§ 406g IV StPO) ein Beitrag dazu geleistet werden, daß das Opfer schon bei der ersten polizeilichen Vernehmung sachkundige Beratung und Unterstützung erhält. Damit wurde eine weitere empfindliche Lücke der herkömmlichen Nebenklage geschlossen, da diese erst nach Erhebung der öffentlichen Klage wirksam wird. Die über die Befugnisse des einfachen Verletztenbeistands (§ 406f StPO) hinausreichenden Rechte des qualifizierten Verletztenbeistands (§ 406g StPO) kommen besonders bei vergewaltigten Frauen und geschändeten Kindern zur Geltung, also einer Opfer-Gruppe, die auch nach den Erfahrungen des WEISSEN RINGES besonders schutzbedürftig ist. Böhm umschrieb sie in der Anhörung beim Rechtsausschuß - neben den Opfern sonstiger schwerer Gewalttaten - als Zielgruppe des „Verletzten-Anwalts", weil sie „durch das Verfahren eine Vertiefung des ihnen durch die Straftat entstandenen Schadens erleben. Das ist die sekundäre Viktimisation." 25 IV. Reformierte Nebenklage, qualifizierter Verletztenbeistand und Prozeßkostenhilfe stellten somit bedeutsame Schritte auf dem Weg zu einem Opferanwalt auf Staatskosten dar. Sie haben bereits in vielen Verfahren eine deutliche Verbesserung der Opfersituation bewirkt, weisen jedoch auch spezifische Schwächen auf, die der WEISSE RING in der Folgezeit immer wieder moniert hat. Dazu gehören vor allem die engen finanziellen und sachlichen Grenzen der Prozeßkostenhilfe nach § 397a StPO. Nur Verletzte mit einem Nettoeinkommen bis zu 850, - DM monatlich werden voll aus der Staatskasse unterstützt, bei Einkommen zwischen 850, - und 2.400, - DM netto müssen die vom Gericht erstatteten Auslagen für den Anwalt in Raten zurückbezahlt werden, und ab 2.400, - DM Monatseinkommen gibt es nicht einmal diesen staatlichen Vorschuß. Hinzu kommen manchmal sehr engherzige Ablehnungen der Prozeßkostenhilfe auf der Grundlage des § 397a StPO, weil die Gerichte nicht ganz selten in - nach § 397a II 2 StPO unanfechtbaren - Entschei25
Böhm (Fn. 16), S. 69.
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düngen den Standpunkt vertreten, erwachsene Opfer von Sexualdelikten seien in der Lage, ihre Interessen selbst ausreichend wahrzunehmen. Nachdem sich sowohl das 4. Mainzer Opferforum (1992) 26 als auch das 6. Mainzer Opferforum (1994) 27 des WEISSEN RINGES unter maßgeblicher Mitwirkung von Alexander Böhm mit Anwendungsproblem und Lücken des Opferschutzgesetzes befaßt hatten, bat mich der Geschäftsführende Vorstand anläßlich der Delegiertenversammlung im September 1994, in einem öffentlichen Vortrag in Erfurt die wichtigsten rechtspolitischen Forderungen des WEISSEN RINGES zusammenzufassen.28 Folgende Ausführungen, denen einschlägige Gespräche mit Alexander Böhm vorausgegangen waren, berühren die Problematik des Opferanwaltes: „Ich komme nun zu den Unzulänglichkeiten des anwaltlichen Beistandes des Verletzten, auf die der WEISSE RING schon seit langem hingewiesen hat: rein strafprozeßrechtlich ist das Problem durch Nebenklage und Verletztenbeistand befriedigend gelöst, im Prinzip auch kostenrechtlich durch die Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten (§ 472 I, III StPO), aber leider nicht praktisch hinsichtlich der tatsächlich zu erbringenden Aufwendungen des Verletzten. Denn die meisten verurteilten Täter sind zahlungsunfähig. Deshalb bleibt der Verletzte auf seinen Kosten sitzen, wenn er nicht am Existenzminimum von 850, - DM monatlich lebt und Prozeßkostenhilfe erhält. Dies ist ungerecht. Gerecht und prozessual ausgewogen wäre es durchaus, in allen Fällen der notwendigen Verteidigung auf Seiten des Beschuldigten auch einen vom Staat bezahlten Opferanwalt zu verlangen, ähnlich wie es der Gesetzgeber auf Beschuldigtenseite getan hat, als 1987 der Verletztenbeistand eingeführt wurde (§ 140 II 1 StPO). Selbst wenn man die Grenzen der Belastbarkeit des Sozialstaates berücksichtigt, sollte als absolutes Minimum für ein ausgewogenes Verhältnis Prozeßkostenhilfe ohne Prüfung der Interessenwahrnehmungsfähigkeit und Zumutbarkeit bewilligt werden. Daraus ergibt sich folgende These: - 7.ur Herstellung eines prozessualen Gleichgewichts zugunsten des Verletzten muß bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei schwersten Gewaltdelikten sowie in vergleichbaren Fällen erschwerter Interessenwahrnehmung (z.B. bei Gemeinschaftsdelikten) ein Opferanwalt auf Staatskosten gefordert werden. Zumindest ist bei solchen Straftaten uneingeschränkt Prozeßkostenhilfe für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zu bewilligen, und zwar für den Anschluß als Nebenkläger (§ 397a StPO) oder als Verletztenbeistand (§ 406g I, III StPO).
26 WEISSER RING (Hrsg.), Das Opferschutzgesetz - Anspruch und Rechtswirklichkeit, 4. Mainzer Opferforum 1992, Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern, Band 7,1994. 27 WEISSER RING (Hrsg.), Täterrechte-Opferrechte - neue Gewichtung im Strafprozeß, 6. Mainzer Opferforum 1994, Mainzer Schriften (Fn. 26), Band 12,1996. 28 Schöch, Täterrechte-Opferrechte, neue Gewichtung im Strafprozeß? Unveröffentlichtes Manuskript des am 18.09.1994 im Kaisersaal zu Erfurt gehaltenen Vortrages.
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Skandalös ist es, daß die Praxis an vielen Orten sogar in den existentiellen Fällen die Prozeßkostenhilfe noch hinter den Möglichkeiten des geltenden Rechts zurückbleibt, die am Ende der These angesprochen werden. Noch immer finden wir unter den Hilferufen an den WEISSEN RING Ablehnungen der Prozeßkostenhilfe wie in der folgenden Entscheidung des LG Duisburg aus dem Jahre 1988, das eine mehrfach vergewaltigte und sexuell genötigte Frau betraf (LG Duisburg 36a Js 6588/88): „Erwachsene Frauen können sich als Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung ohne weiteres selbst vertreten. Prozeßkostenhilfe wird grundsätzlich nur Minderjährigen bewilligt." Manchmal fallen die Begründungen selbst bei psychisch schwerster Betroffenheit der vergewaltigten Frauen noch lapidarer und formelhafter aus.29 Dies führt zu der Forderung, daß bei Ablehnung der Prozeßkostenhilfe für den Nebenkläger oder den Verletztenbeistand Beschwerde möglich sein muß. Besondere Probleme für den Verletztenbeistand und die Nebenklage ergeben sich im Jugendstrafrecht. Nach bisher geltendem Jugendstrafrecht ist die Nebenklage nur zulässig, wenn der Beschuldigte 18-21 Jahre alt ist, dagegen nicht, wenn er noch Jugendlicher, also 14-18 Jahre alt ist (§§ 80 Abs. 3, 109 Abs. 1 JGG). Begründet wird dies damit, daß das Genugtuungsbedürfnis des Verletzten dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts widerspreche. Lassen Sie mich die Problematik dieser Regelung mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Zwei 17jährige Jugendliche (A und B) haben bei einem Disco-Besuch die 16jährige Schülerin S kennengelernt. Sie bieten ihr an, sie nach Hause zu begleiten. Nachdem sie sich bei ersten flüchtigen Zärtlichkeiten des Α nicht abweisend verhält, kommen sie überein, in der Wohnung der Eltern des A, die zur Zeit im Urlaub sind, noch etwas zu trinken. Als Α und Β anfangen wollen, S zu entkleiden, leistet sie deutlichen Widerstand, indem sie beide wegstößt, nachdem die beiden alle Türen und Fenster geschlossen haben, hält Β die S mit einem Würgegriff fest, während Α sie auszieht und zu ihr sagt, es passiere ihr nichts, wenn sie keine Schwierigkeiten mache. S gibt daraufhin ihren Widerstand auf und wird bis zum frühen Morgen von beiden mehrfach vergewaltigt. In der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht werden Α und B, die aus gutbürgerlichem Elternhaus stammen, von 2 Wahlverteidigern verteidigt, die alle Register der Verteidigung ziehen, während für S gesetzeskonform weder ein Nebenklagevertreter noch ein Verletztenbeistand zugelassen wird. Die Anwälte stellen z.B. Fragen nach dem Alter beim ersten Geschlechtsverkehr, nach der Zahl der bisherigen Sexualpartner, nach Erfahrungen im Triolenverkehr usw. Zum Schluß präsentieren sie noch Beweisanträge, nach denen 12 junge Männer bezeugen sollen, daß sie mit S bereites am ersten Abend ihrer Bekanntschaft Geschlechtsverkehr hatten. S bricht während der mehrstündigen Vernehmung mehrfach weinend zusammen. Eine Mitarbeiterin des WEISSEN RINGES, die immerhin als Zeugenbeistand (nach § 406f Abs. 3 StPO) zugelassen war, beanstandet mehrfach die Fragen der Verteidigung, die der Vorsitzende aber unter Hinweis auf deren Unerläßlichkeit (§ 68a Abs. 1 StPO) zuläßt. Die Angeklagten werden schließlich nach nichtöffentlicher Verhandlung freigesprochen. Obwohl die Lokalpresse in anonymisierter Form berichtet, weiß das ganze soziale Umfeld, um welchen Fall es sich handelt. S ist psychisch schwer betroffen. Sie muß die Schule verlassen. Es gelingt ihr auswärts nicht mehr, den Schulbesuch mit dem Abitur abzuschließen.
29 Vgl. Eppenstein, Das Opferschutzgesetz - Zwischenbilanz und Ausblick, in WEISSER RING (Fn. 18), S. 15, 20 ff.
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Dieser Fall dürfte mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt haben, daß es sich um ein dringendes Reformproblem handelt, das mit der folgenden These zusammengefaßt werden kann: Die Nebenklage sollte auch im Strafverfahren gegen Jugendliche - wie schon bisher gegen Heranwachsende - zugelassen werden, da die für ihren Ausschluß geltend gemachten erzieherischen Gründe heute nicht mehr zeitgemäß sind und Zielen der Opferschutzgesetzes widersprechen. Die Defensivbefugnisse des einfachen Verletztenbeistandes (§ 406f StPO) reichen nach der heute verbreiteten „Rundumverteidigung" im Jugendstrafverfahren nicht aus. Die Nebenklage gibt nicht nur mehr Schutzmöglichkeiten, sondern auch ein eigenes Beweisantragsrecht und die Rechtsmittelbefugnis bei ungerechtfertigtem Freispruch. Das O L G Düsseldorf verdient höchste Anerkennung dafür, daß es gegen die ganz herrschende Meinung in der bisherigen jugendstrafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung die Nebenklage wenigstens in einer verbundenen Jugendstrafrechtssache gegen einen mitangeklagten Heranwachsenden und Erwachsenen zugelassen hat, und zwar in dem bekannten Prozeß wegen des Solinger Brandanschlages auf türkische Familien.30 Es ist zu hoffen, daß hierdurch die Diskussion über die längst fällige Anpassung des Jugendstrafrechts an den Opferschutzgedanken neue Anstöße erhält. Als Minimum ist wenigstens die Zulassung des Verletztenbeistandes zu fordern, da zu vermuten ist, daß der Gesetzgeber die Konsequenzen dieses Defensivbeistandes für das Jugendstrafrecht noch gar nicht hinreichend bedacht hat" 31 .
Die Thesen zu diesem Vortrag wurden an mehrere Landesjustizverwaltungen versandt. 1995 wurden in der Mitgliederzeitschrift des W E I S S E N R I N G E S nach Beratung in der A G Strafrecht aus diesem Vortrag u.a. die Vorschläge zum Opferanwalt, zur Prozeßkostenhilfe und zum Anderungsbedarf im Jugendstrafrecht publiziert. 32
V. Etwa gleichzeitig begannen in verschiedenen Bundesländern Initiativen der Landesregierungen oder Länderparlamente zur Verbesserung der Verletztenstellung im Strafverfahren. 1. Am 25.1.1995 griff eine Gesetzesinitiative der Freien und Hansestadt Hamburg 33 im Bundesrat verschiedene Vorschläge auf, die beim 6. Mainzer Opferforum 1994 erörtert worden waren, u.a. den von mir vorgeschlagenen Adhäsionsvergleich 34 , die beschränkte Zu30 O L G Düsseldorf, NStZ 1994, 299=NJW 1995, 343=StV 1994, 605 m.abl. Anm. Ostendorf, inzwischen auch B G H NJW 1996,1007 für Nebenklage gegen einen mitangeklagten Erwachsenen; ebenso Dölling, in: WEISSER R I N G (Fn. 26), S. 73; a.A. O L G Köln NStZ 1994, 298, Eisenberg, NStZ 1994, 299 f. m.w.N. 31 Vgl. Schöch, AK-StPO, vor § 406d Rn. 13. 32 WEISSER R I N G 18 (1995), Heft 3, S. 3, September 1995. 33 BR-Drs. 50/95. 34 Schöch, in WEISSER R I N G (Fn. 26), S. 21.
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lassung des qualifizierten Verletztenbeistandes nach § 406g StPO im Jugendstrafverfahren und die obligatorische Prozeßkostenhilfe bei Opfern von Sexualdelikten und versuchten Tötungsdelikten. 35 Der teilweise ähnliche Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen vom 24.9.1996 sah neben Verbesserungen im Adhäsionsverfahren bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und bei versuchten Tötungsdelikten auf Antrag des Verletzten die obligatorische Beiordnung eines anwaltlichen Beistands nach § 406g StPO vor. 36 Im Frühjahr 1995 beschloß der bayerische Landtag einstimmig die Prüfung verbesserter Opferschutzmöglichkeiten, 7 die dann am 30. 1. 1996 mit konkreten Beschlüssen endete, 38 u.a. mit der Befürwortung eines Opferanwalts 39 . Ein Antrag der CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen auf Einführung eines Opferanwalts wurde mehreinheitlich abgelehnt; jedoch wurde auch hier - bei Vertagung der übrigen Opferschutzfragen auf die nächste Legislaturperiode - beschlossen, wenigstens für die Opfer schwerer Straftaten, insbesondere aus dem Bereich der Sexualdelikte, bei entsprechender Bedürftigkeit die anwaltliche Beiordnung über Prozeßkostenhilfe sicherzustellen. 40 2. Am 28.11.1995 erfolgte die erste Initiative im Deutschen Bundestag durch einen Gesetzentwurf „zur Verbesserung der Rechtsstellung von Deliktsopfern und zum Einsatz von Videogeräten bei Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung", den die SPDFraktion vorlegte. In dem hier interessierenden Teil des Opferanwaltes wollte dieser Entwurf die Unterscheidung zwischen dem nebenklageberechtigten und dem nicht nebenklageberechtigten Verletzten aufheben und einen Rechtsanwalt auf Antrag des Opfers immer dann beiordnen, wenn die Sach- oder Rechtslage schwierig sei oder wenn die eigenständige Interessenwahrnehmung durch das Opfer diesem nicht zumutbar sei (§ 406f I des SPD-Entwurfs bei Aufhebung des § 406g StPO). Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sollte dieses Bedürfnis generell angenommen werden. Das Anwesenheitsrecht dieses Verletztenbeistandes soll-
35 Befürwortend mit weiterführenden Vorschlägen W E I S S E R R I N G 18 (1995), Heft 3, S. 3. 36 B R 709/96; zu beiden Anträgen vgl. Plenarprotokoll des Bundesrats vom 19.12.1996, S. 686D. 37 W E I S S E R R I N G 18 (1995), Heft 2, S. 13. 38 Bayerischer Landtag, Beschlüsse vom 30.01.1996 zu Drs. 13/3848 bis 13/3857. 3 9 Bayerischer Landtag (Fn. 38), Drs. 13/3850. 4 0 Kurzinformation in W E I S S E R R I N G 18 (1995), Heft 2, S. 13. 41 BT-Drs. 13/3128.
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te nur für Hauptverhandlung und die Vernehmung des Verletzten durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft gelten, also z.B. nicht für richterliche Vernehmungen und Augenscheineinnahmen nach den §§ 168c, d StPO. Durch die Beiordnung nach den §§ 141-143 StPO sollten sich die Kosten für den Rechtsbeistand als Verfahrenskosten auswirken, die in erster Linie vom Angeklagten und nur subsidiär von der Staatskasse zu tragen seien. Der WEISSE RING begrüßte diese Initiative, machte aber auch Bedenken wegen der Einschränkungen der Rechte der bisher nebenklageberechtigten Verletzten geltend.42 Auszugsweise wurde zu diesem Teil des Entwurfs in der bisher nicht veröffentlichten Stellungnahme vom 27.11.1996 folgendes ausgeführt: „Als eine der wichtigsten Errungenschaften des Opferschutzgesetzes hat sich die Möglichkeit der Einschaltung oder Beiordnung eines Rechtsanwaltes im Ermittlungsverfahren erwiesen (§ 406g StPO). Nur so ist es teilweise gelungen, die Ängste vergewaltigter Frauen oder geschändeter Kinder vor Sekundärviktimisierung im Strafverfahren abzubauen. Deshalb muß in § 406f Abs. 1 Satz 3 des SPD-Entwurfs auch auf § 141 Abs. 3 StPO verwiesen werden, um eine Beiordnung im Ermittlungsverfahren zu ermöglichen (vgl. auch Begründung zu § 406f Abs. 1, 3). Außerdem dürfen die Anwesenheitsrechte des beigeordneten Rechtsanwalts nicht auf die Vernehmung des Verletzten (so aber § 406f Abs. 3 des SPD-Entwurfs) und auf das .Fragerecht entsprechend § 168c' beschränkt werden, sondern müssen wie bisher in § 406g StPO - alle Anwesenheitsrechte bei richterlicher Vernehmung und bei Augenschein (§§ 168c, d StPO) umfassen... Angesichts des weiten Beurteilungsspielraums der Gerichte bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist es richtig, diese wenigstens bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zwingend vorzuschreiben, wenn das Opfer dies beantragt. (§ 406f Abs. 1 Satz 2 n.F.). Allerdings ist diese Beschränkung auf Sexualdelikte zu eng; denn auch bei schweren Angriffen auf das Leben oder die Gesundheit steht das Opfer oft wegen der Tatfolgen oder der Verteidigungsstrategien des Angeklagten so stark unter psychischem Druck, daß es ähnlich schutzbedürftig ist wie bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Bereich der obligatorischen Beiordnung eines Verletztenbeistandes müßte also auf Opfer schwerer Gewaltdelikte ausgedehnt werden. Dazu gehören neben versuchter Tötung (vgl. § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO) auch die Qualifikationstatbestände der Körperverletzung (vgl. § 395 Abs. 1 Nr. 3 StPO ohne § 223 StGB). Im Falle der vollendeten Tötung erscheint es sachgerecht, einen .Angehörigerlbeistand' für die Eltern, Kinder, Geschwister oder Ehegatten des Getöteten beizuordnen, der Diffamierungen des Getöteten abwehren kann (vgl. § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Dagegen wird man aber auf die obligatorische Beiordnung im Revisionsverfahren ganz verzichten können... Es ist zu erwarten, daß durch die Aufwertung des Verletztenbeistandes bei vielen nebenklageberechtigten Verletzten das Bedürfnis entfällt, sich im Interesse ihres Persönlichkeitsschutzes der öffentlichen Klage als Nebenkläger anzuschließen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Nebenklage in den letzten drei Jahrzehnten einen Funktionswandel von einem straforientierten Angriffsinstru-
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Auszüge in einer vorbereitenden Version in WR 19 (1996), Heft 1, S. 12.
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ment zu einem persönlichkeitsschutzorientierten Abwehrinstrument erlebt hat. Hierzu hat auch die Beschränkung der Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers im Opferschutzgesetz (§ 400 Abs. 1 StPO) beigetragen. Insbesondere bei den Opfern sexueller Gewalt und anderer schwerer Gewaltdelikte erweist es sich nach den Erfahrungen des WEISSEN RINGES als unverzichtbar, notfalls auch die .Offensivbefugnisse' des Nebenklägers, also das formelle Beweisantragsrecht und die beschränkte Rechtsmittelbefugnis, einzusetzen, um Ehrverletzungen, ungerechtfertigte Schuldzuweisungen oder Absprachen zu Lasten des Verletzten abzuwehren. Wenn die an sich berechtigte Forderung des WEISSEN RINGES, in solchen Fällen auch eine Nebenklage auf Staatskosten zu ermöglichen, im Interesse der Finanzierbarkeit einer breiteren Verletztenbeistandslösung zurückgestellt wird, so muß jedenfalls klargestellt werden, daß die Kosten der Beiordnung für den Verletztenbeistand auch dann hilfsweise von der Staatskasse zu tragen sind, wenn zusätzlich eine Anschlußerklärung als Nebenkläger erfolgt. In § 406f Abs. 4 n.F. wäre deshalb folgender 2. Satz anzufügen: ,Dies gilt auch dann, wenn ein nebenklageberechtigter Verletzter darüber hinaus einen Anschluß als Nebenkläger erklärt'. Die sachliche Aufwertung des einfachen Verletztenbeistandes (§ 406 StPO) und der Wegfall des qualifizierten Verletztenbeistandes (§ 406g StPO) läßt die Legitimation für die Gebührenhalbierung beim .Beistand des Verletzten* nach §§ 95, 97 BRAGO entfallen. Sie ist daher zu streichen. Denn bei einem Honorar von 200 DM im Schöffengerichts- und von 240 DM im Strafkammerverfahren würde sich kaum ein Rechtsanwalt bereit finden, u.U. ganztägig als Verletztenbeistand tätig zu werden... Mit der Zulassung des Verletztenbeistandes in der jugendgerichtlichen Hauptverhandlung nach § 48 Abs. 2 Satz 1 JGG geht der SPD-Entwurf - wie schon im Januar 1995 eine Bundesratsvorlage des Hamburger Senates - einen Schritt in die richtige Richtung, der ausdrücklich zu begrüßen ist. Darüber hinaus tritt der WEISSE RING aber dafür ein, durch Streichung des § 80 Abs. 3 JGG auch im Jugendstrafverfahren die Nebenklage zuzulassen. Die früher für § 80 III JGG geltend gemachten erzieherischen Gründe sind heute nicht mehr zeitgemäß. Die Nebenklage hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten von einem Angriffsmittel immer mehr zu einem wirksamen Abwehrmittel gegen sogenannte Rundumverteidigungen entwickelt. Mit der zunehmenden Bedeutung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafverfahren ist es aus erzieherischen Gründen geradezu wünschenswert, wenn das Opfer im Bewußtsein seiner Rechte als Nebenkläger mit einem Rechtsanwalt erscheint und dadurch oft eher zu Verhandlungen bereit ist als wenn es allein angesprochen wird. Selbst wenn man dieser weitergehenden Forderung noch nicht folgt, sollte jedenfalls die Teilnahme des Verletztenbeistandes an der Hauptverhandlung gegen einen Jugendlichen nicht - wie im SPD-Entwurf - auf die Zeit der Vernehmung des Verletzten als Zeuge beschränkt werden. Um Diffamierungen oder andere Nachteile für den Verletzten zu vermeiden, muß notfalls die Anwesenheit des Verletztenbeistandes während der gesamten Hauptverhandlung möglich sein."
3. Am 9.2.1996 wurden vom Bundesministerium der Justiz, den Landesjustizverwaltungen sowie interessierten Personen und Verbänden nichtveröffentlichte „Vorüberlegungen zu einem Regelungskonzept zur Verbesserung der Situation besonders schutzbedürftiger Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren" vorgelegt, die bald danach ohne wesentliche Änderungen durch einen Entwurf der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und F.D.P. vom
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11.03.1997 in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden. 43 Er enthielt neben der Möglichkeit der Bild-Ton-Aufzeichnung von richterlichen Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren und der Video-Vernehmung in der Hauptverhandlung für kindliche Opferzeugen und sonstige besonders schutzbedürftige Zeugen (Opfer von Sexualstraftaten, alte und kranke Zeugen) keine Regelungen zum Verletztenbeistand, wohl aber erstmals die allgemeine Regelung eines Zeugenbeistands in § 68b StPO: „Dem Zeugen, der noch keinen anwaltlichen Beistand hat, ist für die Dauer seiner Vernehmung ein Rechtsanwalt beizuordnen, wenn ersichtlich ist, daß er seine Befugnisse bei der Vernehmung nicht selbst wahrnehmen kann. Für die Beiordnung gelten § 141 Abs. 4 und § 142 Abs. 1 entsprechend. Die Entscheidung ist unanfechtbar."
Zu diesem durch die obligatorische Beiordnung nur scheinbar weitgefaßten Vorschlag, der aber wegen der unbestimmten Rechtsbegriffe bei den Tatbestandsvoraussetzungen hinsichtlich des praktischen Anwendungsfeldes relativ konturlos blieb, bemerkte der WEISSE R I N G in einer unveröffentlichten Stellungnahme am 2.8.1996 folgendes: „Beim Zeugenbeistand handelt es sich um einen Schritt in die richtige Richtung, weil anerkannt wird, daß die Inanspruchnahme eines Rechtsbeistandes durch einen schutzbedürftigen Zeugen nicht generell auf dessen eigene Kosten erfolgen soll. Sachgerecht ist im wesentlichen auch die Umschreibung der besonders schutzbedürftigen Opfer in der Begründung, wo von kindlichen Opferzeugen und Opfern schwerster Gewalttaten gesprochen wird. Dazu wird man ohne weiteres auch die Opfer schwerer Sexualdelikte, versuchter Tötungen und gravierender Körperverletzungen rechnen können. Zu eng ist freilich die Beschränkung der Beiordnung auf Fälle, in denen „ersichtlich ist, daß der Zeuge seine Befugnisse bei der Vernehmung nicht selbst wahrnehmen kann" (§ 68b StPO-E). Diese Formulierung bleibt sogar noch hinter den relativ engen Voraussetzungen für die Prozeßkostenhilfe bei der Nebenklage zurück, die nach § 397a StPO zu bewilligen ist, ,wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist, der Verletzte seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist'. Zu eng ist auch die Beschränkung auf die Beiordnung ,für die Dauer seiner Vernehmung*. Diese Einschränkung ist unter dem Aspekt des reinen Zeugenschutzes konsequent, sie greift aber unter dem Aspekt des Opferschutzes zu kurz. In der Praxis des WEISSEN RINGES zeigt sich nahezu täglich, daß die volle Beistandsleistung des qualifizierten Verletztenbeistandes im Ermittlungsverfahren (§ 406g StPO) und die uneingeschränkte Anwesenheit des Nebenklagevertreters in der Hauptverhandlung (§ 397 StPO) unverzichtbar sind, um vergewaltigte Frauen, sexuell mißbrauchte Kinder, getötete oder beinahe getötete Menschen oder grausam mißhandelte Opfer anderer Gewalttaten vor Schuldzuweisungen, Diffamierungen und öffentlichen Herabsetzungen zu schützen. Denn den immer häufigeren
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Rundumverteidigungen zu Lasten des Opfers in den Fällen schwerer Kriminalität können auch Richter und Staatsanwälte nicht immer ausreichend begegnen. Zwar läßt sich gegen diese Bedenken einwenden, die Beiordnung eines Zeugenbeistandes von Amts wegen lasse die Befugnisse aus der Nebenklage und aus § 406g StPO unberührt. Dies ist aber nur bei sehr formaler Betrachtungsweise richtig. Tatsächlich ist zu erwarten, daß die manchmal sehr saloppen Ablehnungen der Prozeßkostenhilfe durch die Gerichte („eine vergewaltigte Frau kann ihre Interessen ausreichend selbst wahrnehmen") noch häufiger als bisher erfolgen und daß viele Opfer ihre Rechte nicht ausreichend wahrnehmen oder gar auf eine Anzeige verzichten, weil sie sich mehr als den kurzzeitig bereitstehenden Zeugenbeistand nicht leisten können. Deshalb ist erneut zu betonen, daß die Nebenklage als subsidiäres Abwehr- und Schutzinstrument für Opfer schwerer Gewalttaten sowie für mißbrauchte Kinder unverzichtbar bleibt (§395 ff. StPO), ebenso die daraus abgeleiteten Verletztenbeistandsbefugnisse im Ermittlungsverfahren (§ 406g StPO). Die Erstattung dieser sehr selten anfallenden Auslagen aus der Staatskasse bei Zahlungsunfähigkeit des Verurteilten ist mindestens ebenso gerechtfertigt wie die Bezahlung von Pflichtverteidigergebühren aus der Staatskasse. Außerdem ist sie kriminal- und sozialpolitisch notwendiger als die Verteilung der um ein Vielfaches häufigeren Zeugenbeistandsgebühren 44 nach dem Gießkannenprinzip".
VI. Die vom WEISSEN RING in all diesen Entwürfen noch vermißte Konzentration auf den Opferanwalt bei schweren Gewalttaten findet sich erstmals im Gesetzesantrag des Freistaats Bayern vom 8.10.199645, der die Stellung bestimmter Opferzeugen u.a. durch die Einführung des sogenannten Opferanwalts stärken wollte. „Gerade bei schweren Nebenklagedelikten geht es nicht länger an, den Verletzten auch noch mit erheblichen finanziellen Risiken zu belasten, wenn er einen Rechtsanwalt beizieht." In der vorgeschlagenen Neufassung der §§ 397a, 406g StPO waren bereits wesentliche Elemente der jetzigen Gesetzesfassung vorgezeichnet: - Beiordnung eines Rechtsanwalts auf Antrag des Nebenklägers bei Verbrechen gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die Gesundheit und die persönliche Freiheit; - Beiordnung eines Rechtsanwalts bei sonstigen nebenklagefähigen Vergehen bezüglich der genannten Rechtsgüter außer einfacher Körperverletzung, wenn die Sach- und Rechtslage schwie-
44 Skeptisch bezüglich einer Kostentragung durch die Staatskasse in Wege der Beiordnung oder Prozeßkostenhilfe auch das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes „Opferschutz im Strafverfahren", Ergebnisse der Sitzung vom 15.-20.07.1996 in Brandenburg, unveröffentlichtes Typoskript, S. 74. 45 BR-Drs. 741/96: Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Opferschutzes.
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rig ist, der Verletzte seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann und ihm dies nicht zuzumuten ist; - Bewilligung von Prozeßkostenhilfe bei den übrigen zum Anschluß als Nebenkläger berechtigenden Delikten nach der bisherigen Regelung des § 397a StPO; - Bestellung eines Rechtsanwalts als Verletztenbeistand und Bewilligung von Prozeßkostenhilfe nach § 406g Abs. 3 n.F. schon vor Erhebung der öffentlichen Klage unter Verweis auf den neugestalteten § 397a StPO. Auf den Bundesratsentwurf vom 19.06.1997 46 , der sich ganz auf den Schutz kindlicher Zeugen durch Bild-Ton-Aufzeichnungen beschränkt hatte, konnte dieser zeitlich später vorgelegte bayerische Entwurf keinen Einfluß mehr nehmen. Im Dezember 1996 wurde er im Bundesrat auch mehrheitlich abgelehnt. 47 Jedoch blieb die Idee des Opferanwalts in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion, und der WEISSE R I N G erfuhr zu seinen rechtspolitischen Vorschlägen immer breitere Zustimmung. In der Plenardebatte des Deutschen Bundestags am 13.3.1997 anläßlich der 1. Lesung des Koalitions- und des SPD-Entwurfs behandelten Redner mehrerer Parteien diese Thematik: Der Abgeordnete Norbert Geis (CSU) erinnerte an den Opferanwalt im Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung und meinte, seine Aufgaben müßten möglichst weit reichen. 48 Der Abgeordnete Jörg van Essen (EP.D.) bezeichnete den Opferanwalt als einen „überaus erfreulichen Schritt" und dankte dem W E I S S E N R I N G „für sein stetes Bemühen, das nun von Erfolg gekrönt ist" , 49 Der Abgeordnete Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten meinte, daß Zeugenschutz auch Opferschutz sei, wozu die „Frage eines Opferanwaltes oder ... eines Opferbeistandes" gehöre. „Insoweit kann ich dem WEISSEN R I N G nur zustimmen, der fordert: < D i e Opfer müssen vor den Tätern und nicht die Täter vor den Opfern und ihren Beiständen geschützt werden>." 5 0 Die Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) wies darauf hin, daß es darum gehe, den Rechtsstaat aus der Sicht der Opfer zu betrachten und ihn auch aus dieser Sicht zu
BT-Drs. 13/4983. Vgl. Geis, in Dt. Bundestag, 13. Wahlperiode, Protokoll der Sitzung vom 13.3.1997, S. 14.630. 48 Geis (Fn. 47), S. 14.630. 49 van Essen (Fn. 48), S. 14635. 50 von Stetten (Fn. 48), S. 14638 f. 46
47
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gestalten. „Der WEISSE R I N G und die vielen anderen Opferhilfsorganisationen, die uns das gesagt haben, haben recht." 51 VII. Nachdem der Deutsche Bundestag in seiner 204. Sitzung am 14.11.1997 das Zeugenschutzgesetz im wesentlichen in der Fassung des Koalitionsentwurfs beschlossen hatte, 52 rief der Bundesrat den Vermittlungsausschuß an. 53 Auch in dieser Phase machte der WEISSE R I N G in einem Schreiben vom 28.01.1998 an den Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses noch einmal deutlich, daß die vorgesehene Regelung des neuen § 68b StPO bei besonders schutzbedürftigen Opferzeugen nicht den Opferanwalt ersetzen könne, der ohne Bedürftigkeitsprüfung beigeordnet werde. Am 2.3.1998 einigte sich der Vermittlungsausschuß auf die jetzige Gesetzesfassung, die der Bundestag in der Plenarsitzung am 4.3.1998 mit den Stimmen aller Fraktionen bei Stimmenthaltung der PDS annahm. 54 Am 6.3.1998 beschloß der Bundesrat, keinen Einspruch einzulegen. Das Gesetz wurde am 30.4.1998 ausgefertigt und am 8.5.1998 im Bundesgesetzblatt verkündet. 55 Es tritt am 1.12.1998 in Kraft. Das Zeugenschutzgesetz sieht in unserem Zusammenhang folgende Regelungen vor: - Nach der Neufassung des § 397a I 1 StPO ist dem Opfer eines Sexualverbrechens oder eines versuchten Tötungsdelikts auf Antrag ein Rechtsanwalt als Beistand für die Nebenklage zu bestellen. - Bei Kindern und Jugendlichen bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres ist nach § 397a I 2 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand auch dann zu bestellen, wenn es sich nur um ein Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung handelt, außerdem bei Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB). - Für alle übrigen Nebenklageberechtigten gibt es wie bisher die Möglichkeit der Prozeßkostenhilfe (§ 397a II StPO). - Die genannten Änderungen gelten auch für den qualifizierten Verletztenbeistand im Ermittlungsverfahren (§ 406g III StPO). - Nach dem neu eingefügten § 68b Satz 1 StPO kann allen Zeugen, also auch Nicht-Opferzeugen, mit Zustimmung der Staats51 52 53 54 55
Däubler-Gmelin (Fn. 48), S. 14641. BT-Drs. 13/8990,13/9063. BT-Drs. 13/9542; zum Vermittlungsbegehren BR-Drs. 933/97. Protokoll der 221. Sitzung am 4.3.1998, S. 20205 ff., 20217. BGBl. 1 1998, 820.
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anwaltschaft ein Rechtsanwalt als Zeugenbeistand für die Dauer der Vernehmung beigeordnet werden, wenn „ersichtlich ist, daß sie ihre Befugnisse bei der Vernehmung nicht selbst wahrnehmen können und ihren schutzwürdigen Interessen auf andere Weise nicht Rechnung getragen werden kann." - Obligatorisch ist die Bestellung eines solchen Zeugenbeistandes auf Staatskosten nach § 68 Satz 2 StPO unter den Voraussetzungen des Satzes 1 und auf Antrag des Zeugen oder der Staatsanwaltschaft dann, wenn es sich um ein Verbrechen, um ein Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, um Mißhandlung von Schutzbefohlenen oder um Bandenkriminalität handelt. Damit hat der Gesetzgeber den Opferanwalt für einen Teil der schweren Gewaltdelikte (Sexualverbrechen und versuchte Tötungsdelikte sowie Sexualvergehen und Mißbrauch von Schutzbefohlenen bei unter 16jährigen Opfern) so geregelt, wie es den Vorstellungen des W E I S S E N R I N G E S entspricht. Hervorzuheben ist neben der Kostenerstattung für die gesamte Hauptverhandlung die Einbeziehung des Ermittlungsverfahrens über die Neufassung des § 406g III StPO. Der Anwalt als Verletztenbeistand kann nach § 406g III Nr. 1 StPO sofort vor der ersten Vernehmung abschließend bestellt werden, da es einer Abklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse wie bisher nur in den Fällen der Prozeßkostenhilfe (§ 406g III Nr. 2 StPO) bedarf. 56 Erheblich großzügiger als erwartet ist die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als Zeugenbeistand für die Dauer der Zeugenvernehmung geregelt worden. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte bei der Ableitung des anwaltlichen Zeugenbeistandes aus dem Gebot des fairen Verfahrens klargestellt, daß die entstehenden Kosten der Zeuge selbst tragen müsse, da er einen Zeugenbeistand ausschließlich im eigenen Interesse heranziehe. 57 Immerhin ist im Vergleich zum Koalitionsentwurf die obligatorische Beiordnung auf die in § 68b S. 2 StPO hervorgehobenen Verbrechen und Sexualvergehen beschränkt, während für alle anderen Delikte nur eine fakultative Beiordnung in Betracht kommt. Allerdings lassen die unbestimmten Rechtsbegriffe bei den Beiordnungsvoraussetzungen (§ 68b S. 1 StPO) den Gerichten so viel Spielraum, daß selbst bei einem raschen Ansteigen entsprechender Anträge eine restriktive Beiordnung möglich bleibt. Im übrigen ist die Honorierung des an-
56 57
Vgl. Seitz, JR 1998 309. BVerfGE 38,105, 116.
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waltlichen Zeugenbeistandes so knapp bemessen, 58 daß nur wenige Rechtsanwälte bereit sein werden, ohne zusätzliche Honorarvereinbarungen59 als Zeugenbeistand tätig zu werden. Auch sonst erscheinen die Kostenaspekte des Zeugenbeistandes kritikwürdig. Denn die Kostenerstattung durch die Staatskasse gilt nur subsidiär, während primär der Angeklagte aufgrund der allgemeinen Kostentragungspflicht (§§ 464a, 465 I StPO) auch die Auslagen für den anwaltlichen Zeugenbeistand zu tragen hat. Die Gleichstellung mit dem Verletztenbeistand erscheint unter keinem kostenrechtlichen Gesichtspunkt 60 gerechtfertigt, jedenfalls in den Fällen, in denen der Zeuge einen Beistand benötigt, um sich vor der Gefahr der Strafverfolgung zu schützen (§ 55 StPO). 61 Solche kleineren Ungereimtheiten beim Zeugenbeistand ändern jedoch nichts daran, daß das Zeugenschutzgesetz im Bereich des Opferanwalts einen entscheidenden Fortschritt gebracht hat.
VIII. Von den in den 80er und 90er Jahren entwickelten Vorstellungen des W E I S S E N R I N G E S sind nach dem Inkrafttreten des Zeugenschutzgesetzes am 1.12.1998 noch folgende Fragen offen: die Zulassung der Nebenklage und des qualifizierten Verletztenbeistandes im Jugendstrafverfahren sowie die Ausweitung des Opferanwalts auf Staatskosten auf sonstige nebenklagefähige Gewaltdelikte wie z.B. Geiselnahme, erpresserischer Menschenraub, qualifizierte Freiheitsberaubung, gefährliche oder schwere Körperverletzung (etwa in Verbindung mit nicht nebenklagefähigen Delikten wie Raub, räuberischer Diebstahl oder räuberische Erpressung). Diese Forderungen bleiben nach wie vor legitim, zumal hier noch seltener als bei den bisher privilegierten Sexualverbrechen und versuchten Tötungsdelikten eine routinemäßige Antragstellung und Beiordnung zu erwarten ist. Stabile Opfer werden wie bisher in der Regel weder an die Nebenklage noch an den Verletztenbeistand denken. Der Deutsche Juristinnenbund hat in seinem 1998 veröffentlichten Modell für die „Reform der Nebenklage und anderer Verletz -
58 Aus § 102 BRAGO i.V. mit §§ 91 I Nr. 1, 97 BRAGO ergibt sich eine Gebühr in Höhe von 120 DM. 59 Die Neufassung des § 102 II BRAGO schließt Honorarvereinbarungen (§ 100 I BRAGO) nur bezüglich des beigeordneten Beistandes eines Nebenklägers oder nebenklageberechtigten Verletzten aus. 60 Vgl. dazu Meier, Die Kostenlast des Verurteilten, 1991, S. 36 ff. 61 Kritisch auch Gotting, BewHi 1998, 229 ff.
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tenrechte" ebenfalls die Streichung des § 80 III J G G gefordert.62 Außerdem wird die Nebenklagebefugnis von der Privatklage abgekoppelt und auf die „gravierende Verletzung höchstpersönlicher Rechte" beschränkt.63 Die Nebenklagebefugnis soll deshalb ohne Unterschied auf alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit ausgedehnt und bereits mit der anwaltlichen Erklärung - auch im Ermittlungsverfahren - wirksam werden. Sie gilt als Ausdruck der Subjektivität einer durch die Straftat in ihren höchstpersönlichen Rechten gravierend verletzten Person.64 Der Begriff des „Opferanwaltes" wird abgelehnt, weil er an die passive Rolle des Opfers anknüpfe statt die aktive Rolle eines Verfahrensbeteiligten zu betonen.65 Die nebenklageführende Person soll - über die derzeitige Regelung der §§ 397, 400 StPO hinaus - wie die Staatsanwaltschaft an allen wesentlichen Verfahrensschritten und Vernehmungen beteiligt und über alle Entscheidungen informiert werden. Sie soll das Recht auf Akteneinsicht wie ein Verteidiger haben, und sie soll wie früher wieder die uneingeschränkte Rechtsmittelbefugnis erhalten. In allen Fällen sollen die Kosten wie bei notwendiger Verteidigung von der Staatskasse getragen werden.66 Uber Einzelheiten dieses weitreichenden Vorschlages wird der WEISSE RING unter der bewährten Leitung von Alexander Böhm noch beraten müssen. Einigkeit dürfte jedoch hinsichtlich des Zieles: Die Verletzteninteressen dürfen „nicht als Störung des Verfahrensablauf konstruiert" werden,... sondern als Chance einer Auseinandersetzung mit der Tat und als Ansatzpunkt für eine Verantwortungsübernahme des Täters... Es ist nicht genug, Täter zu strafen, sie müssen zur Verantwortung gezogen werden" .
62 NeU.es/Oberlies 1998, S. 30, 32. 63 Nettes/Oberlies 64 Nettes!Oberlies 65 Nettes/Oberlies 66 Nettes/Oberlies 67 Nettes/Oberlies
(Hrsg.), Reform der Nebenklage und anderer Veletztenrechte, (Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.
62), 62), 62), 62), 62),
S. S. S. S. S.
13, 27 ff., 31: Neuregelung des § 395 StPO. 29. 33. 33, 36. 5.
9 Jugend, Gewalt und Prävention
Zurück ins 19. Jahrhundert? Alte und neue Debatten über Kinder- und Jugendkriminalität FRANZ HAMBURGER
1. Zum gegenwärtigen Reden über Kriminalität und Gewalt Für eine lange Zeit wurde das Thema Kriminalität vorwiegend der Kriminologie, der Psychologie und Soziologie als aufzuklärendes Problem zugewiesen. Diese Zuordnung kann man heute getrost in den Hintergrund treten lassen, denn Gewalt und Kriminalität und schon diese Wortverknüpfung ist Ergebnis des zu analysierenden Definitionsprozesses - sind als Themen vorrangig der Politikwissenschaft und der Ökonomie zuzuordnen. Kriminalität ist eine Ressource zur Machtbeschaffung und Gewalt ein knappes (!) Handelsgut geworden. Zunächst ist natürlich zu präzisieren, daß es in diesem Zusammenhang über das Reden über Gewalt und Kriminalität geht, also darum, wer in welchem Kontext über welchen Sachverhalt redet und was seine Rede bezweckt. Das ist den interaktionistisch orientierten Sozialwissenschaften sehr wohl vertraut, gewinnt aber im Medienzeitalter endgültig einen neuen Sinn. Die öffentliche Definition eines Problems, seiner Beschaffenheit und Ausdehnung, präformiert die je individuelle Erfahrung in einem solchen Maße, daß die je eigene Erfahrung und Wahrnehmung überhaupt nicht mehr als Quelle sicherer Erkenntnis und damit auch als Korrektiv des medial erzeugten Scheins verstanden werden kann. Die Erzeugung von Verbrechensfurcht beispielsweise hat sich medial verselbständigt. Dies hängt nicht nur von der bildmächtigen Eindrücklichkeit audiovisueller Aufbereitung ab, sondern auch von der Veralltäglichung der „Verbrechens" erfahrung und der Banalisierung der „Gewalt". Die Zunahme der von der Polizei registrierten Delinquenz hängt wohl stärker mit der Veränderung der alltagsintegrierten Konfliktlösungsmechanismen zusammen als mit der Veränderung von anderen Verhaltensweisen. Uber Anzeigen werden Konflikte und Probleme aus dem „naturwüchsig" zu klärenden und zu bearbeitenden Lebenszusammenhang ausgegliedert, womit auch Kompetenzen zur vorstaatlichen Konfliktbewältigung verloren gehen. Die
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öffentliche Rede über zunehmende Kriminalität verstärkt diesen Prozeß, weil sie unterschiedslos alle Straftatbestände dramatisiert. Sie legitimiert die erweiterte Definition von Abweichung als „Kriminalität" und steigert die Furcht vor dieser noch einmal deshalb, weil das Zutrauen in eigene Konfliktbearbeitungskompetenzen geschwunden ist. Die Erfindung des neuen Berufs „Mediator", dem eine glänzende Zukunft prognostiziert wird, vervollständigt diese Entwicklung und sichert sie expertokratisch ab. Eine besondere Variante dieser allgemeinen Entwicklung stellt der Umgang mit „Gewalt" dar. Die Ausdehnung des Gewaltbegriffs, zunächst auf Verhältnisse (und zwar weniger in der genauen Fassung bei Galtung als vielmehr in der vollständigen Vulgarisierung und Beliebigkeit von „struktureller Gewalt") und dann auf jede Form restringierenden Handelns hat die Erfahrung des Phänomens selbst grenzenlos werden lassen und damit die Rede über Gewalt fast beliebig ausgedehnt. Das qualitativ Spezifische des Gewaltbegriffs geht dabei aber nicht verloren, als moralisch diskreditierendes Element muß es zur plausiblen Grenzziehung zwischen dem „normalen" und dem gewalttätigen Handeln, weil diese sich ja so ähnlich geworden sind, sogar verstärkt werden. Es werden nicht nur mehr Handlungen der Gewalt zugerechnet, sondern diese Zuordnung wird auch mit einer heftigen Moralisierung verbunden. Den zuletzt beschriebenen Prozeduren der (vermeintlichen) Purifizierung des Alltagslebens von Abweichung und Gewalt könnte man prinzipiell noch Ambivalenz zuschreiben, wenn sie nicht unter dem Diktat von Medienmarkt und Herrschaftsmacht stünden. Gewalt ist, möglicherweise auch in dem Maße, wie sie sich aus dem Alltagsleben zurückzieht oder aus ihr verdrängt wird, zum Verkaufsschlager geworden - bzw. ist dies in ganz elementaren Formen (wie denen der Märchen beispielsweise) schon immer gewesen. Während deren Formen und Inhalte jedoch an bestimmte elementare Ängste und Befürchtungen gebunden waren, ist Gewalthaltigkeit von Medienprodukten zu einem Steigerungsinstrument im Kampf um Markt- und Werbungsanteile geworden. Wie wertvoll die Chance geworden ist, über Gewalt berichten zu können, dürfte sich unschwer an den Summen ablesen lassen, die für das Simulieren von Gewalthandlungen auf dem Schulhof für Foto- und Fernsehaufnahmen ausgegeben werden, mehr jedoch an dem politischen Druck, der ausgeübt wird, damit Kriege und Invasionen mediengerecht inszeniert werden. In einer neuen Weltordnung - und genau darin scheint paradoxerweise das Ende des Kalten Krieges zu kumulieren - wird das politische Versprechen, das Verbrechen beherrschen zu können, zur
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zentralen Ressource der Politik angesichts eines medial entfachten Chaos der Gewalt. Zwar gibt es auch die Politik der redlichen Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Gewalttätigkeit und nur in den Medien selbst gibt es auch die Chance zur Kritik der Gewalt- und Verbrechenshysterie, aber nicht nur in Wahlkämpfen wird die Beschwörung der Gewalt und die Ausgrenzung des Gewalttäters zum Standardrepertoire politischer Rede. Das Ereignis, über das berichtet werden soll, wird dabei lediglich und ausschließlich zu dem Zweck inszeniert, daß über es berichtet wird (Pressekonferenz; vgl. Kepplinger 1996) und es muß in seiner Dramaturgie so beschaffen sein, daß die Wahrscheinlichkeit, daß es Aufmerksamkeit findet, gesteigert werden kann angesichts der scharfen Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit. Genau dazu bietet sich das Thema Gewalt und Verbrechen an, weil es sich durch die negativen Nachrichtenfaktoren auch dann auszeichnet, wenn es thematisiert und nicht praktiziert wird. Die scheibchenweise Veröffentlichung von polizeilichen Tatverdächtigenstatistiken ist also zur Regierungskunst geworden. Nicht nur im amerikanischen Gesellschaftsspiel kommt der politische Handel mit der zweiten Medienressource Sexualität hinzu. Die politische und mediale Hegemonie des Redens über Kriminalität und Gewalt transformiert alle üblichen Produktionsund Verarbeitungsmechanismen: die Kriminalisierung von Abweichung, die Grenzziehung zwischen vorstaatlicher Konfliktbewältigung und Anzeige bei der Polizei, die Definition durch alle staatlichen Erfassungsprozeduren und Behandlungsstrategien hindurch. Als Durchlauferhitzer wirkt dabei die Versicherbarkeit nahezu aller Lebenstätigkeiten und ihrer Bedingungen bzw. der mit Versicherungen verbundene Formalisierungszwang, der die Anzeige eines Vergehens auch überall dort erfordert, wo man „früher" staatsfrei gehandelt hat. 2. Kinder-, Jugendlichen- und Ausländerkriminalität Täter und Opfer im Diskurs Der normale Verbrecher ist nicht steigerungsfähig. Sein Grundtypus ist vertraut und variiert lediglich in den Ausmaßen seiner Cleverness oder Verderbtheit; auch als Opfer oder Biedermann bevölkert er schon das klassische Theater oder die moderne Literatur. Auch für den Umgang mit der normalisierten Kriminalität gibt es ein vertrautes Spektrum von Behandlungsweisen: Strafe und Resozialisierung in unterschiedlichem Mischungsverhältnis, Selbst-
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schütz und Präsenz der Polizei, zuverlässige Justiz und umfassendes Rechtssystem. Diese Ordnung der organisierten Kontrolle läßt sich nur durch außergewöhnliche Reize aus der Ruhe bringen. Einmal bei Sexualstraftätern, die Kinder als Opfer ausgewählt haben und deren furchtbare Hemmungslosigkeit mit der besonderen Hilflosigkeit und Schutzwürdigung ihrer Opfer korrespondiert. Will man diese Verbrechen nicht im Rahmen einer fundamentalistischen Gesellschaftskritik interpretieren und sie dabei als Spitze eines Eisbergs definieren, dann lassen sie sich nur begrenzt politisieren. Dafür bieten sich andere kriminelle Gruppe an, beispielsweise Ausländer. Mit dem schlichten Etikett: „Mißbrauch des Gastrechts", das auf einem in der Regel zur Fiktion gewordenen Status abhebt, wird eine besonders illegitime Form des Gesetzesverstoßes konstruiert. Im Typus des delinquenten Ausländers kann die reine Form der Ausgrenzung vollzogen werden, die beim Reden über die einheimischen Verbrecher auf Grund des inzwischen kulturell fest verankerten Motivs der Rückgewinnung des Abweichenden für das Kollektiv der Gesetzestreuen nicht mehr ungehemmt propagiert werden kann. Es sind „unsere" Straftäter, deren Zugehörigkeit schwerer ins Gewicht fällt als die Straftat der Ausländer mit demselben Delikt. Es ist der politische, d. h. Herrschaft sichernde Rechtsbegriff des Ausländers, mit dessen Hilfe sich die Gemeinschaft der Zugehörigen konstituiert. Während die einfache Ausländerfeindlichkeit sich schnell als rechtsextremistisch etikettieren und moralisieren läßt, erschließt sich die politische Rede über den kriminellen Ausländer die Tiefen der Volksseele. Diese irrationale Prämisse teilen auch die wissenschaftlichen Ansätze, die glauben, eine Theorie der Ausländerkriminalität entwickeln zu können. Die Verdoppelung der Illegitimität - das ist ein Mechanismus, der auch bei der öffentlichen Debatte über Kinder- und Jugendkriminalität greift. Sie kann als etwas so Ungeheuerliches und Bedrohliches dargestellt werden, daß die archaische und mechanistische Reaktionsweise begründet erscheint: früher und schärfer strafen. Die Mechanismen dieses Diskurses, bei dem das Reden über Kriminalität der Etablierung eines „anderen" als des bisher dominierenden Modells des Begreifens und Bearbeitens von Kinder- und Jugenddelinquenz dient, laufen über zwei Stufen: Die mediale Aufbereitung von drastischen Einzelfällen ist so eindrucksvoll, daß sich niemand der emotionalen Dramatik entziehen kann. Gleichzeitig erhebt die Darstellung von Informationen und Sachverhalten einen uneingeschränkten Objektivitätsanspruch, so daß eine Reaktion des „kaum zu glauben" wie im Falle von Erzählungen und Berichten vom Hörensagen nicht mehr möglich ist.
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Die Einzelfälle sind für alle Beteiligten als einzelne Fälle durchaus erkennbar, aber ihre Dramatik bestimmt den diskursiven Rahmen. Ein Expertengespräch im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks (April 1998) beispielsweise wurde eingeleitet mit einem Film über die genau drei Fälle, bei denen Kinder in den letzten 10 Jahren in Westeuropa und Amerika eine andere Person ermordet haben. Die Aufmerksamkeit, die sich das Medium sichern kann, wäre durch Berichte über Ladendiebstahl oder Schwarzfahren, den häufigsten Kinderdelikten, nicht erreichbar. Erst über den dramatisierenden Rahmen erhalten auch die Informationen über die Statistik der Kinder- und Jugendkriminalität ihre Brisanz. Ohne diesen Rahmen müssen solche Daten - steigend oder fallend - mit einem Nachrichtenwert ausgestattet werden, sonst wären sie medial bedeutungslos. Dieses Umstands bedient sich die politische Thematisierung der Kinder- und Jugendkriminalität, die die Drastik von Einzelfällen und die Statistik des Tatverdachts aufgreift und selbst die Ereignisse in Form von Veranstaltungen, Pressekonferenzen, Presseerklärungen, Dokumentationen oder Expertisen schafft, über die berichtet werden soll. Einige wenige Fälle reichen für eine ganze Kampagne aus. Was aber ist das politische Interesse, weshalb sich Öffentlichkeit und Politik so gut miteinander verschränken? Politik braucht Loyalität und will Zustimmung erzeugen, um bestimmte Regelungen konsensuell durchzusetzen. Dieser Konsens ist möglich durch Attraktivität der Lebensbedingungen innerhalb einer Gesellschaft und durch Angst vor Veränderungen zum Schlechteren hin oder vor Bedrohungen. Wenn man Gesellschaft grundbegrifflich gleichzeitig sowohl als Zwangszusammenhang als auch als kommunikativen Verständigungszusammenhang begreift, wird Politik immer mit einer Mischung dieser beiden Strategien arbeiten. Nach dem Ende der Systemkonkurrenz am Ende der 80er Jahre ist die Erzeugung von glaubwürdigen Bedrohungspotentialen zu einem politischen Systemproblem geworden - zumindest für die Form von Politik, die zur Erzeugung von Zustimmung Ängste und Angstpotentiale verwertet. Die Bedrohung durch Kriminalität, von den mordenden Kindern bis zum organisierten Verbrechen, ist deshalb für die Strategie ein wertvolles Gut, die durch das Versprechen, die Bedrohung beherrschen zu können, Loyalität und Folgebereitschaft beschaffen will. Verbrechensfurcht ist deshalb ein politisches Gut, das nach Bedarf gepflegt werden muß.
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3. „Das böse Kind" - der neue/alte Diskurs über Strafpädagogik In der Diskussion über Kinder- und Jugendkriminalität lassen sich nicht nur Strategien der medialen Inszenierung und politischen Instrumentalisierung identifizieren, in ihr prallen auch zwei Diskurse aufeinander, die die Rechtfertigungen für eine bestimmte Praxis entfalten. Diese Diskurse sind in die europäische Kultur historisch tiefgehend eingelagert und haben in unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Öffentlichkeiten und Sachbereichen Relevanz oder Hegemonie erlangt. Es sind die Diskurse über die Natur des Menschen, die sich konkretisieren in den Bildern vom Kinde. Nicht nur in der Pädagogik haben das Bild vom guten Kind und das Bild vom bösen Kind eine lange Tradition (vgl. Ullrich 1998). Die christliche Erbsündentheologie ist ebenso eine Quelle für diese Diskurse wie die Aufklärung, die Romantik und die Reformpädagogik. Die Bilder vom Kind haben unterschiedliche Formen angenommen und sich in Anthropologien, Entwicklungstheorien oder Mythologien entfaltet. Natürlich haben sich die Bilder insbesondere in der Pädagogik entwickelt, dienen sie doch der Grundlegung eines jeweiligen Typus von Erziehung. Das Bild vom bösen Kind rechtfertigt die pädagogischen Modelle der Disziplinierung, der Korrektur von Fehlentwicklungen, der Unterdrückung von schlechten Anlagen, der Kontrolle und straffen Anleitung. Von der Erbsündenlehre bis zum Behaviorismus und kypernetischen Regelkreis gibt es ganz unterschiedliche theoretische Grundlagen. Die erzieherischen Handlungen beinhalten insbesondere Strafen und bewachen, korrigieren und kontrollieren, führen und leiten. In der Tradition der „schwarzen Pädagogik" haben sich Systeme dieses Denkens und Handelns entwickelt und die Naturbilder der Zucht und strengen Gartenpflege ausgemalt. Das Bild vom guten Kind legitimiert dagegen die pädagogischen Modelle der Entfaltung und der Förderung, der Unterstützung oder der Reifung. Mit dem Bild vom „schöpferischen Kind" hat insbesondere die Romantik diese Pädagogik begründet, die Reformpädagogik hat mit dem Postulat, vom Kinde aus Erziehung zu denken, das 20 Jahrhundert wesentlich beeinflußt. Die Tätigkeiten der Pädagogen und Pädagoginnen werden in dieser Tradition konzipiert als fördern und wachsenlassen, pflegen und ermutigen, Freiräume schaffen und Anregungen geben. Auch hier gibt es Bilder, die in der Analogie der Naturbearbeitung diese Vorstellungen konkretisieren und sich beispielsweise im Modell des zurückhaltenden Gärtners ausdrücken. „Jugendkriminalität mit Erziehung bekämpfen" - so war in der Süddeutschen Zeitung vom 1. 10. 1997 ein Bericht über ein Presse-
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gespräch mit dem Generalbundesanwalt Kay Nehm überschrieben. Auch wenn die Argumentation im Text selbst unterschiedliche Elemente entfaltet, so ist die „Botschaft" der Uberschrift eindeutig: es geht um eine frontale Auseinandersetzung, um einen Kampf an einer Konfliktlinie, deren beide Seiten eindeutig markiert sind. Die Kriminalität von Jugendlichen (und Kindern) auf der einen Seite, diejenigen, die den Kampf aufgenommen haben, auf der anderen Seite. Die Kinder und Jugendlichen werden auch im Text ausschließlich über ihre Straftaten definiert, andere Merkmale werden ihnen nicht zugeschrieben. Dies ist das diskursive Element dieser Darstellung: Es wird nicht eine Differenzierung von Kindern/Jugendlichen, Lebenslagen und strafbaren Handlungen vorgenommen, wie sie beispielsweise für einen sozialwissenschaftlichen Diskurs typisch ist, es kommt nur ein Merkmal zur Sprache, das ein ungetrübtes Feindbild ermöglicht. Die andere Seite der Front wird nicht als Personengruppe benannt, sondern nur über ihre Tätigkeit charakterisiert („bekämpfen"). Welches Bündnis dies auch immer sein mag, es ist in einer Lage, die einen Kampf erfordert, es befindet sich in einer gefährlichen und bedrohlichen Lage. Es ist freilich hinreichend legitimiert, den Kampf aufzunehmen, weil es nicht um eigene Interessen und Bedürfnisse kämpft, vielmehr eine in sich schlechte Sache mit einem Mittel ^e-kämpft, so wie man die Pest mit Penicillin bekämpft. Das Uberraschende an dieser Botschaft ist das Kampfmittel, nämlich die Erziehung. Daß Erziehung als praktische Technologie konzipiert wird, obwohl sie keine sein kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979), ist dem Alltagsbewußtsein gegenwärtig und selbstverständlich. Erziehen wird gerade durchschnittlicherweise als zweck- und zielgerichtete Handlung verstanden. Für das pädagogische Denken ist seit der Aufklärung die Art der Zwecksetzung in entscheidender Weise begrenzt: der zu erziehende Mensch ist und setzt Zweck und nur aus Gründen einer situativen Begrenztheit darf daran der Pädagoge und die Pädagogin mitwirken, wobei die aus der Entscheidung resultierende Fremdbestimmung dem Anspruch, daß sie jederzeit und unter frei entscheidbaren Bedingungen dem Inhalt der Selbstbestimmung gerecht werden kann, unterworfen wird. Mit der Erziehung als Kampfmittel wird die pragmatische Technologie des Alltagsdenkens in die entgegengesetzte Richtung aufgehoben. Die durch Erziehung zu erreichende Veränderung ist das Zum-Verschwinden-bringen der Merkmale von Personen bzw. eines an Personen gebundenen Phänomens. Dieser Zweck ist so dominant, daß die Erziehung auch zum bloßen Mittel verkommt; in der Uberschrift des Berichts wird dies durch die Formulierung „mit" Erziehung zum Ausdruck gebracht, während normalerweise
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im pädagogischen Zusammenhang Ziele „durch" Erziehung erreicht werden sollen. Das Verständnis der Erziehung als reines Mittel befreit sie von jeglicher Eigenlogik und reduziert sie auf die Tauglichkeit als Instrument, Jugendkriminalität zum Verschwinden bringen zu können; Erziehung erscheint als reine repressive Zweckmäßigkeit. Ein solches Konzept für die Relation zwischen „Erziehungsberechtigten" und „Zögling" kann nur dann als gerechtfertigt erscheinen, wenn der Zustand des Zöglings mit fragloser Gewißheit als verderbt angenommen werden kann und er deshalb zum bloßen und puren Objekt von Handlungen gemacht werden darf. In ihm steckt das Böse schlechthin, das zu bekämpfen die Aufgabe der Strafpädagogik wird. In der Interpretation der Kinderkriminalität, die ja aus guten rechtlichen Gründen nicht über den Status der Tatverdächtigenstatistik der Polizei hinauskommt und insoweit noch eine wesentlich fragwürdigere Kategorie bleibt als andere Formen der Feststellung von Kriminalität, ist der Strafdiskurs zunächst in einer ungünstigen Position, weil sich mit Romantik und Reformpädagogik sowie in der Altersgrenze des Jugendgerichtsgesetzes sein Gegenspieler praktisch durchgesetzt hat. Zur Mobilisierung braucht der Strafdiskurs die „starken" Bilder der extremen Einzelfälle, die Medieneffekte und das politische Interesse. Nur wenn es gelingt, die Bedrohungswahrnehmung durchzusetzen, kann er zur Hegemonie kommen. Voraussetzung dafür ist auch, daß alle Ambivalenzen aus dem kindlichen Handeln herausdefiniert werden, weil sie die unbedingte Gewißheit der Strafpädagogik erschüttern könnten. Der Gegendiskurs der Entfaltungspädagogik kommt angesichts der Kinderdelinquenz in Erklärungsschwierigkeiten und muß, sofern er noch Mythologien der Kindheit enthält - also Ambivalenzen wegdiskutiert hat - , sich selbst kritisch reflektieren und in einer historischen Anthroplogie die ambivalenten Möglichkeiten des Menschen erschließen. Allerdings kann nur aus diesem Diskurs die pädagogische Programmatik, daß das „Erziehungsobjekt" ein Subjekt sei und sich daraus Zwingendes für die Erziehungsmethode ergebe, mit den Bedingungen der Realität vermittelt werden. Das Postulat, Jugend- und Kinderkriminalität mit Erziehung bekämpfen zu wollen, bedient sich nur des Erziehungsbegriffs, um einen anerkannten Grundsatz des Jugendstrafrechts rhetorisch aufgreifen zu können, der freilich mit „Kampf" unvereinbar ist. Abschließend zu diesem Gedankengang sei darauf verwiesen, daß es bei dieser Interpretation nicht um die Auffassung einer Person, über die berichtet wird, und deren Auffassung durch einen
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Zeitungsbericht kenntlich oder unkenntlich gemacht werden kann, geht, sondern um das diskursive Element in der Uberschrift eines Berichts auf Seite eins. 4. Die Errungenschaften der Jugendgerichtsbewegung Die Auseinandersetzung um die Kinder- und Jugendkriminalität konzentriert sich in der praktischen Konsequenz auf zwei Forderungen: die Strafmündigkeitsgrenze zu senken und die Maßnahmen gegen Jugendliche zu „verschärfen", d. h. die im Jugendgerichtsgesetz enthaltene Doppelorientierung an Erziehung und Strafe, die zwar Probleme aufwirft, für die es aber Gründe gibt (vgl. Böhm 19852, S. 1 ff.), neu zu akzentuieren. Die „Spannung zwischen den widersprüchlichen Zielen" (ebenda, S. 12) ist im Prinzip deshalb entstanden, weil das Jugendgerichtsgesetz gerade nicht mehr die Regelungen des Reichsstrafgesetzbuches von 1871, die sich auf die Festsetzung des Strafmaßes allein bezogen, übernommen hat, sondern neben den Strafzweck auch das Erziehungsprinzip, das sich am Wohle des Jugendlichen zu orientieren hat, gesetzt hat. Um diese Reform hatte es eine lange Auseinandersetzung gegeben. Diese konnte nur wieder mit der Bemerkung eröffnet werden: „Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst der Jugendkriminalität." (Simonsohn 3 1970, S. 7) In der Interpretation dieses Sachverhalts und der Begründung der aus ihm abzuleitenden Konsequenzen sind die genannten Diskurse gegeneinander getreten oder haben sich in bestimmten Versionen verschränkt. Die nach 1882, dem Jahr, in dem Franz v. Liszt sein Strafrechtsreformprogramm vorlegte, anhebende Reformdiskussion zur strafrechtlichen Behandlung jugendlicher Täter (Miehe 1968) entwickelte vor allem einen Diskurs, in dem der jugendliche Täter als Opfer der sozialen Verhältnisse und seine fortgesetzte Delinquenz als Konsequenz der Sozialisation im Gefängnis verstanden wurde. Gerade Franz v. Liszt beschreibt anschaulich die soziale Lage der Familien, aus denen delinquente Jugendliche kommen und fragt: „Liegt hier nicht die Schuld an der Gesellschaft, in welcher solche Zustände möglich, ja notwendig sind?" (v. Liszt 1970, S. 38). Und den „Bankrott" der Strafrechtspflege beschreibt er mit der Formel: „Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht, und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen" (ebenda, S. 40). (Fast 70 Jahre später plädiert Schaffstein für einen Verzicht auf die Jugendstrafe für 14-18jährige Täter aus ganz „nüchter-
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nen Zweckmäßigkeitserwägungen", weil sich angesichts der hohen Rückfallquoten diese Jugendstrafe „nicht als taugliches Mittel" [1968, S. X V I I ] erwiesen habe.) In Bezug auf die Strafmündigkeit werden biologische (Geschlechtsreife) und soziale Argumente („Ein Kind, welches noch zur Schule geht, gehört nicht in das Gefängnis." Aschrott, zit. bei Miehe 1968, S. 6) für die Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 16, mindestens 14 Jahre ins Feld geführt. Immerhin hat dann erst das Jugendgerichtsgesetz von 1923 die Heraufsetzung von 12 auf 14 Jahre mit sich gebracht. Die erste Phase der Jugendgerichtsbewegung ist ganz darauf konzentriert, den Jugendichen aus den Fängen des Erwachsenenstrafrechts herauszulösen und ein Jugendstrafrecht zu begründen, in dem das Erziehungsprinzip einen eigenen Stellenwert erhalten soll. Die Diskussion zielt also gerade nicht auf ein Ersetzen des Strafrechts durch ein Erziehungsrecht, sondern auf ihre Verknüpfung. Dies geht soweit, daß die Jugendstrafe „ganz wesentlich erhöht" (v. Liszt 1970, S. 41) werden soll, damit in einer langanhaltenden Einwirkung auch die erzieherischen Ziele (ζ. B. Ausbildung) erreicht werden können. Individualisierung wird gleichzeitig in zwei Hinsichten gefordert: Die Strafzumessung soll spezialpräventiv ausgerichtet sein und das erzieherische Programm soll personalisiert werden durch die Zuordnung eines Pflegers, der das „Band" darstellt, „das den Jugendlichen mit der Gesellschaft verbindet" (ebenda, S. 42). Strafe wird bei v. Liszt als „Rahmen" konzipiert, als Lerngelegenheit durch äußeren Zwang, die allerdings erst durch persönliche soziale Beziehung die Motivation zur selbstgesteuerten Einstellungs- und Verhaltensänderung aufbauen kann. Der durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verdorbene Jugendliche soll im Schonraum des vom Erwachsenenvollzug strikt abzutrennenden Jugendgefängnisses eine individualisierte Zuwendung erfahren und über dieses „Instrument" in die Gesellschaft zurückfinden. In diesem rousseauistischen Programm kann die Rückkehr in eine möglicherweise unveränderte Gesellschaft nicht mehr bedacht werden. Gleichzeitig wird eine spezifische sozialpädagogische Aufgabe entwickelt. Der Staat straft und setzt die Sühne für eine entstandene Schuld durch, der Pfleger soll ein starkes und dauerhaftes „Band" aufbauen, d. h. die nach Schuld und Sühne gewissermaßen freigewordene Orientierung des Jugendlichen neu aufbauen. Diese Denkfigur wird in der Wertevermittlungspädagogik des Friedrich Wilhelm Foerster noch deutlicher entfaltet. Auch er beabsichtigt eine Herauslösung der Bestrafung und Erziehung junger Straftäter aus dem allgemeinen Strafvollzug, damit die Technologie
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der Einflußnahme optimiert werden kann. Die „verwirrende Vermischung von Strafprinzip und Erziehungsprinzip" (Foerster 1968, S. 46) soll in eine Abfolge in der Weise aufgeteilt werden, daß die Erziehung der Strafe auf den Fuß folgt. Gleichzeitig geht es aber um eine Kombination der beiden Prinzipien: „Es kommt also darauf an, einerseits das Strafprinzip durch pädagogische Gesichtspunkte zu verfeinern und seelisch wirksamer zu machen und andererseits die erzieherische Leistung durch Erhaltung des Strafprinzips zu vertiefen und zu verstärken" (ebenda, S. 34). Foerster expliziert auch die beiden Prämissen, die die Gleichschaltung von Strafe und Erziehung legitimieren. Einerseits ist die gesellschaftliche Ordnung, die sich durch Strafe und Erziehung gegen den Jugendlichen durchsetzt, eine „sittliche Ordnung", die sich mit „aggressiver Wehrkraft" durchsetzen muß, „denn Erziehung ist Unterwerfung des Subjekts unter das Objektive" (ebenda, S. 35). Zum anderen gibt es „dämonische Mächte im Leben" (ebenda, S. 35), die sich in Straftaten zeigen und durchsetzen; ihnen gegenüber ist die Strafe gerechtfertigt, ja notwendig, sollen sie nicht Macht über den Menschen gewinnen. Wie die Taufe die Erbsünde aufhebt, so kann die sühnende Strafe die „dämonischen Elemente" (ebenda, S. 38) unterdrücken. Die Erziehung richtet sich dann darauf, das Innerste des Jugendlichen zu bearbeiten: „die ungezügelte Leidenschaft, der krankhaft wuchernde Lebenswille" (ebenda, S. 38). Strafe und Erziehung werden in diesem Konzept als Zerstörungstechnologien gedacht, die später als „starker Staat" und „konsequente, Grenzen setzende" Erziehung eine Ordnung durchzusetzen berechtigt sind, indem sie den Eigensinn jugendlicher Handlungen negieren. Franz v. Liszt dagegen hatte die Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters und die Einführung des Erziehungsprinzips in einen eigenständigen Jugendvollzug damit begründet, daß Erziehung auch methodisch die bessere und humanere Alternative zur Strafe sei. Bei Foerster wird die Erziehung der Bestrafungstechnologie angeglichen und als erfolgreichere Alternative gepriesen. Man muß sich die mittelalterlich anmutende Argumentation verdeutlichen, mit der seinerzeit für die Eigenständigkeit des Jugendgerichts gefochten wurde, wenn heute die Senkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre gefordert wird. Um die Breite der Diskussionsfront zu verdeutlichen, sollen nicht nur die Postulate nach der 16-Jahres-Schwelle für die Strafmündigkeit in Erinnerung gerufen werden, es soll auch die reformpädagogische Diskussionslinie wenigstens angesprochen werden. Diese wollte, weil sie konsequent kindzentriert dachte, weit über das Jugendgericht hinaus.
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5. Der pädagogische Diskurs Die Auseinandersetzung um die Reform des Jugendstrafrechts und -Vollzugs war in den 90er Jahren des 19. Jahrhundert noch ganz in die Diskussion um die allgemeine Strafrechtsreform eingebunden und wurde insbesondere von Juristen bestritten (Sieverts 1970, S. 123). Der juristische Diskurs setzte kritisch an der „Bekämpfungs" Metapher an und zeigte, daß die mit der Absicht, die Jugendkriminalität zu bekämpfen, verbundenen Strategien der Kriegsführung das Elend vergrößerten, das zu beseitigen sie vorgaben. In diesem Diskurs entwickelte sich auch eine pädagogische Vorstellung, die schon weit über die dogmatische Wertpädagogik der Zeit hinausging. Gegen die Idee von der Betreuung durch einen Verein plädierte Franz von Liszt für das individualisierte Band zwischen Jugendlichen und Gesellschaft in der Person des Pflegers, denn: „An ein Menschenherz muß der gefährdete Jugendliche sich anklammern können; er muß wissen, daß wenigstens ein Mensch in der weiten Welt da ist, der sich um ihn kümmert" (v. Liszt 1970, S. 42). Mit der Vorstellung „da sein für" wird der pädagogische Diskurs eingeleitet, der dann mit Jugendbewegung und Reformpädagogik erst richtig zum Zuge kommt. Es entfaltet sich eine Argumentation, die „Behandlung" als situationsspezifische, altersangemessene, ja radikal individualisierte Zuwendung konzipiert, wobei erzieherische und therapeutische Elemente integriert werden. Erziehung wird ganz in der Schleiermacherschen Mehrdimensionalität von Fördern, Verhüten und Gegenwirken begriffen und unterschiedlich akzentuiert. Das Bild vom „Kampf" als Krieg wird in der reformpädagogischen Kritk von Heinrich Webler aufgegriffen und auf die Formel gebracht: „Ja, wir bekämpfen sie [die Jugend, F. H.] ... mit schwerstem Geschütz" (Webler 1970, S. 76). Der Bekämpfungsmetapher wird die These entgegengestellt, „daß der Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr in der Entwicklung begriffen, d. h. unreif ist, daß damit die Voraussetzung zur Strafbarkeit überhaupt fehlt, weiter, daß er als unfertiger erziehungsbedürftiger Mensch ein Recht auf Erziehung hat und diese Erziehung in ihrer reinen Form im heutigen Rechtsstrafverfahren - auch im .erzieherischen' - nicht verwirklicht werden kann, weil sich beide, Rechtsstrafverfahren und Erziehung, absolut widersprechen" (ebenda, S. 77). Bei der Entfaltung des reformpädagogischen Diskurses dominiert die strikte Entgegensetzung: Der Jugendliche wird als „wesenhaft" (ebenda, S 79) ein anderer als der Erwachsene angesehen und zeichnet sich durch Unreife und Erziehungsbedürftigkeit aus. Der reale, nämlich strafende Um-
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gang der Erwachsenen mit der Jugend erscheint als Beleg für die „zunehmende Entartung" (ebenda, S. 93) der Erwachsenenkultur, die dem Kind und dem Jugendlichen das prinzipielle Recht auf Irrtum, Erprobung und Experimentieren verwehrt. Auch wenn das Jugendstrafrecht sich an erzieherischen Normen orientieren will, bleibt es doch im „Gericht" der Vertreter der Gesellschaft, ihrer Bestrafungsbedürfnisse oder generalpräventiven Ordnungsinteressen, mit denen es den Jugendlichen objektiviert. Im pädagogischen Gegenentwurf dagegen wird der Jugendliche zum „Subjekt der Erziehung" (ebenda, S. 81), das der Erziehung die Zwecke setzt. In einem solchen Zusammenhang kann es durchaus zu Strafen und Sanktionen kommen, die aber eben nicht mit einem gesellschaftlichen Zwecke, sondern ausschließlich mit der Subjektwerdung des Kindes begründet werden dürfen. Die von Heinrich Webler exemplarisch entwickelte Argumentation zielt nicht nur auf eine Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 18 Jahre, sondern auch auf die scharfe Trennung aller gesellschaftlich organisierten Straf- und Erziehungssysteme. Dieses Auseinandertreten findet erst 1991 statt, als mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ein „reines" Erziehungs- und Hilfegesetz etabliert wird, das vor allem die bis dahin zwischen JGG und JWG „realistisch" vermittelnde Fürsorgeerziehung abschafft. Der von Webler entfaltete pädagogische Diskurs zahlt einen hohen Preis - auf diese Ambivalenz muß hingewiesen werden. Die Strafmündigkeit wird mit prinzipieller Unreife begründet - der rein pädagogische Blick auf Kinder und Jugendliche entmündigt sie, zumindest im Hinblick auf gesellschaftliche Verantwortung. Mit dieser pädagogischen Perspektive ist deshalb immer die Hoffnung auf einen Schonraum, eine pädagogische Provinz verbunden, in der die Kinder und Jugendlichen noch nicht den Bedingungen des Handelns im öffentlichen Raum unterworfen sind. Wie sehr sich aber auch Erziehungskollektive mit den Widersprüchen zwischen „reinem Erziehungsanspruch", abweichendem Verhalten und Gleichheitsanspruch auseinandersetzen müssen - freilich nicht im Kontext von Strafgerichten - , zeigen die Berichte vom Makarenko und Bernfeld (vgl. Zander 1992). Eine der Prämisse des pädagogischen Diskurses ähnliche Auffassung findet sich im therapeutischen Modell. Abweichendes Verhalten wird in der „Verwahrlostenanalyse" als Folge eines dem Kind und Jugendlichen selbst nicht bewußten und zugänglichen Zwangszusammenhangs interpretiert und therapeutisch behandelt. Der Grundatz heißt hier: „Ökonomisch für die Gesellschaft und für das Individuum ist heilen und nicht bessern" (Aichhorn 31970,
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S. 112). Die psychoanalytische Interpretation versucht nicht nur, die unproduktiven Folgen von Strafverfahren herauszuarbeiten, sondern auch die Verschlimmerung der Verwahrlosung durch Erziehung nachzuweisen. Weil Dissozialität als Folge eines Erziehungsnotstandes, als Regression auf eine mißlungene Entwicklungsstufe begriffen werden kann, ist Heilung als nachholende Sozialisation zu konzipieren. Sie kann nicht von einem Gericht organisiert werden, dazu bedarf es vielmehr eines „Erziehungssenats" (ebenda, S. 120). Der Annahme von Schuld im Strafdiskurs wird die jugendliche Unreife im pädagogischen und die unbegriffene Zwanghaftigkeit im therapeutischen Diskurs entgegengestellt. In der politischen Öffentlichkeit konstituieren sich diese Diskurse als Anti-diskurse, als Rechtfertigungen eben für bestimmte politische Praxen und Postulate. Dem Vertrauen auf „Liebe gebiert Liebe!" des Karl Wilker (1969, S. 15) wird schon 1904 der Ruf des darwinistischen Kriminalpsychologen Groß „Unsere Humanität geht zu weit" (zit. bei Miehe 1968, S. 27) entgegengestellt. Die Diskurse verbleiben in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in der sich im historischen Wandel jeweils bestimmte Auffassungen mehrheitlich durchsetzen können. Auch in der Auseinandersetzung am Ende der 90er Jahre um die geschlossene Unterbringung delinquenter Kinder und Jugendlicher muß die „sozialpädagogische Fraktion" in der Abwehr der ordnungspolitischen „Sperrt-sie-weg"-Parolen den Eindruck zurückweisen, sie würde die „vereinfachende These, die Gesellschaft sei an allem schuld" (Aufruf, S. 96), vertreten, um dann ihre sozialpolitischen und sozialpädagogischen Forderungen vertreten zu können. Der menschenfreundliche Impetus dieser Forderungen wird jedoch - und hier hat der Kriminalist Groß Maßstäbe gesetzt - als Humanitätsduselei diskreditiert und durch die öffentliche Präsentation haarsträubender Fälle scheinbar widerlegt. Ein Musterbeispiel für solche Kampagnen ist der ausführliche Bericht „Sohn kriminell - Eltern droht Ausweisung. Behörden sehen durch .unglaubliche Brutalität' eines 13jährigen die Sicherheit bedroht" in der Süddeutschen Zeitung vom 21. 4. 1998. Mit vielen Beispielen wird verdeutlicht, daß ein 13-jähriger Ausländer „derartig aggressiv, brutal und kriminell" sei, daß nur noch eine Ausweisung mitsamt den Eltern zur Lösung des Problems in Frage käme. Auch die nachgeschobene Reportage („Fassungslos zwischen Döner und Knödel", SZ vom 27. 5. 1998) plausibilisiert diese Konsequenz, auch wenn sie ein plurales Meinungsbild wiedergibt; darüber hinaus setzt sie dem Einzelfall eine kulturalistische Interpretationsfolie auf. Immerhin aber wird deutlich, daß die Veröffentlichung eines solchen Falles mit der Bundestagskandidatur eines Kreisverwaltungs-
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referenten in unmittelbarem Zusammenhang steht. Die Logik des Falls wird in einem politischen Kalkül aufgelöst. 6. Pädagogischer Diskurs und sozialpädagogische Praxis Eine Wiederaufnahme der Diskussion setzt einen Ebenenwechsel voraus. Entweder es werden in aufklärerischer Tradition die Techniken einer Sündenbockstrategie „entlarvt", die sich der Abweichenden ebenso wie der Ausländer zur Herrschaftssicherung bedient, oder aber die Potenzen der Praxis werden am Fall selbst herausgearbeitet. So beginnt beispielsweise Karl-Heinz Lindemann (1992) die Darstellung des Falls Thomas Wagner mit der Rekonstruktion einer Kindheitsgeschichte kumulativen Mißlingens, die nach Unehelichkeit und Pflegefamilie über eine Heimkarriere bei Gewalt, Vandalismus, Diebstahl und schließlich Mord endet. Der 13-jährige Mörder wird in einem „Hochsicherheitsbereich" untergebracht und es zeichnet sich keine Alternative dazu ab, ein Leben lang diese Unterbringung fortzusetzen. Doch hat sich - in einem langwierigen Prozeß - jedoch eine andere Entwicklungskurve ergeben, die unter anderem dem Umstand zu verdanken war, daß ein Pädagoge „eine aussichtslos scheinende, seinen ganz persönlichen und auch entsagungsvollen, sorgfältig überlegten Einsatz erfordernde Aufgabe zu übernehmen und bis zum schließlichen Erfolg durchzuhalten bereit war, d. h. daß er sich selbst am Ende wieder entbehrlich machen konnte" - wie Reinhart Lempp kommentiert (1992, S. 439). Am Ende lebt Thomas Wagner in einer inneren und äußeren „Normalität" durchschnittlicher Lebensführung. Konzeptionelle Professionalität und persönliche Verbindlichkeit haben eine ausweglos erscheinende Lebensgeschichte auf eine neue Bahn gebracht. Die öffentliche Kommunikation über diese Art der sozialpädagogischen „Behandlung" von „Fällen" dürfte auf Dauer die besten Argumente abgeben gegen die billigen und gefährlichen Versprechungen, es könnten durch Wegsperren oder früheres und härteres Bestrafen Probleme gelöst werden. Literatur Aichborn, August: Kann der Jugendliche straffällig werden? Ist das Jugendgericht eine Lösung? In: Simonsohn 3 1970, S. 100 - 121 Aufruf des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Organisationen „Gegen die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen", dokumentiert in: Forum Erziehungshilfen 4 (1998), S. 96 f. Böhm, Alexander. Einführung in das Jugendstrafrecht, München 2 1985
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Foerster, Friedrich Wilhelm: Strafe und Erziehung - Sühne und Besserung. In: Schaffstein 1968, S. 3 1 - 5 2 Kepplinger, Hans M.\ Inszenierte Wirklichkeiten. In: medien + erziehung 40 (1996), S. 1 2 - 1 9 Lempp, Reinhart: Vorwort zu Lindemann. In: neue praxis 22 (1992). S. 438 f. Lindemann, Karl-Heinz·. „Der wird ein Leben lang sicher untergebracht sein müssen". Der ungewöhnliche Fall Thomas Wagner - eine Kette von falschen Einschätzungen, fehlgeschlagenen Hilfemaßnahmen und eine unerwartete Lösung. In: neue praxis 22 (1992), S. 220 - 240 v. Liszt, Franz·. Strafrecht und Jugendkriminalität (Auszüge). In: Simonsohn 31970, S. 38 - 42 Luhmann, Niklas/Schorr, Karl E.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979 Miehe, Olaf: Die Anfänge der Diskussion über eine strafrechtliche Sonderbehandlung junger Täter. In: Schaffstein 1968, S. 1 - 30 Schaffstein, Friedrich (Hrsg.): Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, Darmstadt 1968 Schaff stein, Friedrich: Einführung. In: Ders. (Hrsg.) 1968, S. IX - X I X Sieverts, Rudolf: Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 und die deutsche Jugendgerichtsbewegung. In: Simonsohn 31970, S. 122 - 138 Simonsohn, Berthold (Hrsg.): Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main 31970 Simonsohn, Berthold: Vom Strafrecht zur Jugendhilfe. Ein geschichtlicher Uberblick. In: Ders. (Hrsg.) 1970, S. 7 - 29 Ullrich, Heiner: Das Kind als „schöpferischer Ursprung". Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken. Unveröff. Habilitationsschrift Johannes Gutenberg-Universität, Mainz 1998 Webler, Heinrich: Wider das Jugendgericht. In: Simonsohn 31970, S. 75 - 99 Wilker, Karl: Fürsorgeerziehung als Lebensschulung. In: Fürsorgeerziehung und Jugendstrafvollzug, hrsg. von Berthold Simonsohn, Bad Heilbrunn 1969, S. 7 - 15 Zander, Hartwig: Katharsis und Entsühnung. Siegfried Bernfelds Beobachtungen über das innere Wirken von Erziehungskollektiven. Ein Beitrag zur Grundlegung der Sozialpädagogik. In: Jugend, Erziehung und Psychoanalyse. Zur Sozialpädagogik Siegfried Bernfelds; hrsg. von Reinhard Hörster und Burkhard Müller, Neuwied/Berlin/Kriftel 1992, S. 163 - 180
Wird die Jugend immer brutaler? Erste Befunde einer regionalen Aktenanalyse zur Jugendgewalt
CHRISTIAN PFEIFFER und I N G O D E L Z E R
In den beiden letzten Monaten vor Abfassung dieses Manuskriptes hat der Bundestagswahlkampf die Schlagzeilen der Medien bestimmt. Dadurch häufen sich bei uns Kriminologen die Anfragen, Einschätzungen zur aktuellen Kriminalitätslage abzugeben und kriminalpolitische Vorschläge der Politik zu kommentieren. Eines der zentralen Themen war dabei meist die Jugendgewalt. Und mehrfach leiteten die Journalisten dann ihre Fragen mit einer Sachverhaltsschilderung ein, die geradezu als Grundmuster des Zweikampfverhaltens von Jugendlichen angeboten wurde: „Früher kam es ja auch zu Schlägereien unter jungen Leuten. Aber wenn dann einer am B o den lag und den Kampf sichtlich aufgab, hat auch der andere aufgehört und sich darauf beschränkt, die Siegerpose zu genießen. Heute dagegen wird der am Boden Liegende oft mit aller Wucht in die Seite oder gar ins Gesicht getreten und als Verlierer gedemütigt. Wie erklären Sie diesen Zuwachs der Brutalität?" Wir haben dann alle Mühe, den Journalisten begreiflich zu machen, daß wir ihre Geschichte zwar als Einzelfall nicht anzweifeln wollen, wohl aber deren Generalisierung als dominierenden Grundtypus des Ablaufs von Körperverletzungen unter Jugendlichen. Kürzlich hat daraufhin einer unserer Gesprächspartner beharrlich nachgefragt. Er wollte genau wissen, mit welchen empirischen Befunden wir unsere Gegenposition begründen und welche Untersuchungen wir im einzelnen zu dieser Frage durchgeführt haben. Mit plausiblen Argumenten und den Zahlen von offiziellen Statistiken wollte er sich nicht zufriedengeben. Damit hatte er einen wunden Punkt der kriminologischen Forschung in diesem Land getroffen. In der Tat haben wir Anlaß zur Selbstkritik. Denn zu oft beschränken wir uns auf die Analyse solcher Daten, die uns von den verschiedenen Instanzen sozialer Kontrolle als deren Arbeitsnachweis geliefert werden. Alexander Böhm hat in der Neubearbeitung des Lehrbuches von Göppinger im Kapitel über die Erfassung von Kriminalität sehr differenziert dargestellt, welch enge Grenzen
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derartigen Untersuchungen gesetzt sind (Böhm in Göppinger 1997: 482 ff.). Gerade Aussagen zur Tatschwere lassen sich anhand solcher Daten nur mit erheblichen Einschränkungen entwickeln. Hierzu wären vertiefende Analysen erforderlich, wie sie etwa qualitative Interviews oder wiederholt durchgeführte, quantitative Befragungen von Tätern und Opfern ermöglichen. Ferner bieten auch Aktenanalysen die Perspektive, zum Wandel der Tatschwere Erkenntnisse zu erarbeiten. Derartige Forschungsansätze sind jedoch in der Vergangenheit in unserem Land nur selten genutzt worden. Erst in den letzten Jahren zeichnet sich insoweit ein Wandel ab. So sind auf der Basis von wiederholt durchgeführten Studien zur selbstberichteten Delinquenz Erkenntnisse dazu erarbeitet worden, wie sich im Längsschnitt die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen und die Häufigkeit ihrer Gewalttaten verändert haben (vgl. Tillmann 1997, Funk 1995, Lösel/Bliesner/Averbeck 1998, Mansel/Hurrelmann 1998). Zumindest die Frage danach, ob sich die Häufigkeit der Jugendgewalt auch im Dunkelfeld der nicht registrierten Taten verändert hat, konnte damit beantwortet werden. Die Befunde belegen einen Anstieg der Gewaltdelikte junger Menschen, der jedoch deutlich hinter dem zurückbleibt, was die Tatverdächtigenstatistik der Polizei nachweist. Die These des Journalisten, daß vor allem die Brutalität, mit der die Täter im Einzelfall vorgehen, stark zugenommen habe, kann allerdings mit derartigen Forschungsmethoden nur ansatzweise überprüft werden. Zur Tatschwere vermitteln die mit Hilfe von Fragebögen durchgeführten Datenerhebungen meist nur begrenzte Informationen. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, zwei verschiedene Forschungsansätze miteinander zu verknüpfen. In den vier Städten Hamburg, Hannover, Leipzig und Stuttgart haben wir zum einen eine repräsentative Schülerbefragung zu den Gewalterfahrungen junger Menschen durchgeführt und zum anderen eine Aktenanalyse zu allen Fällen der polizeilich registrierten Raubdelikte und qualifizierten Körperverletzungen von unter 21jährigen Tatverdächtigen. In Hannover konnten wir die Aktenanalyse darüber hinaus auf die Jahre 1990 und 1993 ausdehnen und so für den Zeitraum, in dem die Jugendgewalt nach der PKS besonders stark angestiegen ist, eine Längsschnittanalyse realisieren. Uber die Ergebnisse dieser auf Hannover begrenzten Teilstudie soll nachfolgend berichtet werden. Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist die der PKS Hannovers entnommene Erkenntnis, daß sich auch in Hannover die Zahl der wegen Raubdelikten registrierten 14- bis unter 21jährigen pro 100.000 der gleichaltrigen Wohnbevölkerung zwischen 1990 und
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1996 stark erhöht hat (+ 169,7 %). Dies entspricht in etwa dem, was sich auch zu Niedersachsen ergibt (+ 170,5 %). In den alten Bundesländern ist die TVZ der Raubdelikte 14- bis unter 21jähriger in dieser Zeit um 115,4 % angewachsen. Zu den qualifizierten Körperverletzungsdelikten fällt der Anstieg der Tatverdächtigenziffern in Hannover mit + 21,1 % etwas niedriger aus als im westlichen Bundesgebiet (+ 63,9 % ) oder in Niedersachsen (+ 58,3 %). Mit diesen Zahlen ist freilich noch nicht bewiesen, daß auch die durchschnittliche Tatschwere parallel zu dem von der PKS belegten Anstieg der Zahlen konstant geblieben ist oder gar zugenommen hätte. Auch das Gegenteil könnte der Fall sein, falls vor allem solche Raubdelikte und qualifizierten Körperverletzungen Jugendlicher und Heranwachsender zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gekommen sind, die als leichte Gewalttaten einzustufen sind und in den 80er Jahren zu einem hohen Anteil noch informell beigelegt wurden. Zweifel an der These, daß die Brutalität der jungen Menschen in dem Ausmaß zugenommen hat, wie das die Tatverdächtigenzahlen signalisieren, wecken vor allem die Daten der Strafverfolgungsstatistik. Der nachfolgenden Tabelle 1 läßt sich entnehmen, daß die Jugendgerichte den bundesweit festzustellenden Anstieg der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität 14- bis unter 21jähriger mit sinkenden Quoten der Verurteilung zu freiheitsentziehenden Sanktionen beantwortet haben. Nach der Tabelle hat der Gebrauch freiheitsentziehender Sanktionen vor allem gegenüber Raubdelikten 14- bis unter 21 jähriger im Verlauf der zwölf Jahre drastisch abgenommen. Am deutlichsten wird das im Hinblick auf die nicht zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen/Freiheitsstrafen. Deren Quote sank von 30 % im Jahr 1984 um fast die Hälfte auf 15,7 % im Jahr 1996. Auch die zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen/Freiheitsstrafen gingen von 34,9 % auf 28,0 % zurück. Die Quote des Jugendarrests blieb mit 14,7 % zu 14,0 % fast unverändert. Zur gefährlichen/ schweren Körperverletzung ergibt sich ein ähnlicher, wenn auch etwas abgeschwächter Trend (Abnahme der Jugendstrafe/Freiheitsstrafe ohne Bewährung von 5,1 % auf 3,5 % ; mit Bewährung von 10,5 % auf 8,8 % und Jugendarrest von 21,8 % auf 18,3 %). Dagegen blieb der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden, die wegen Diebstahlsdelikten zu Jugendstrafe/Freiheitsstrafe verurteilt wurden, auch in den 90er Jahren fast unverändert auf dem Niveau, das sich Mitte der 80er Jahre ergeben hat. Nur die Häufigkeit der Verurteilung zu Jugendarrest hat deutlich abgenommen. Hätte die durchschnittliche Tatschwere der hier untersuchten Gewaltdelikte 14- bis unter 21jähriger deutlich zugenommen, wäre zu
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Tabelle 1: Freiheitsentziehende Sanktionen gegenüber 14- bis unter 21jährigen Angeklagten der Raubdelikte, der gefährlichen/schweren Körperverletzung und der Diehstahlsdelikte, Deutschland-West, 1984, 1990, und 1996
Raub
Abgeurteilte Jugendstrafe/Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung ohne Strafaussetzung Jugendarrest
gef./schw. Körperverletzung
Abgeurteilte Jugendstrafe/Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung ohne Strafaussetzung Jugendarrest
Diebstahl insgesamt
Abgeurteilte Jugendstrafe/Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung ohne Strafaussetzung Jugendarrest
1984
1990
1996
Ν
3978
3016
6522
Ν % Abg. Ν % Abg. Ν % Abg.
1313 33,0 1192 30,0 586 14,7
956 31,7 679 22,5 425 14,1
1726 26,5 1026 15,7 919 14,1
Ν
9028
7111 10043
Ν % Abg. Ν % Abg. Ν % Abg.
911
10,1
459 5,1 1965 21,8
Ν
92783
Ν % Abg. Ν % Abg. Ν % Abg.
6776 7,3 4229 4,6 14750 15,9
618 8,7 256 3,6 1324 18,6
834 8,3 347 3,5 1836 18,3
53575 56680 4005 7,5 2106 3,9 6352 11,9
3897 6,9 2395 4,2 5968 10,5
erwarten, daß die Jugendgerichte darauf mit wachsender Strafhärte reagieren. Die Tatsache, daß sich die Sanktionspraxis genau in die andere Richtung entwickelt hat, gibt deshalb Anlaß zu einer Gegenhypothese. Möglicherweise beruht die Zunahme der polizeilich registrierten Jugendgewalt primär darauf, daß leichte Fälle des Raubes oder der qualifizierten Körperverletzungen angestiegen sind. Für diese These spricht auch der Rückgang des Anteils der Heranwachsenden unter den 14- bis unter 21jährigen Angeklagten. 1984 betrug er bei Raubdelikten noch 49,8 % , 1996 aber nur noch 35,7 % . Auch bei den qualifizierten Körperverletzungen ist er in dem hier betrachteten Untersuchungszeitraum zurückgegangen (von 56,3 % auf 45,6 %). Zu der vorgetragenen Hypothese veranlaßt uns schließlich auch die Tatsache, daß die Häufigkeit der verhängten Jugendstrafen/Freiheitsstrafen bei den Diebstahlsdelikten nur geringfügig
Wird die Jugend immer brutaler?
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abgenommen hat. Wollte man davon ausgehen, die Jugendrichter seien immer milder geworden, müßte diese Veränderung ihrer Sanktionsmaßstäbe nicht nur die Gewaltdelikte sondern in gleicher Weise auch die Diebstahlsdelikte erfassen. Der Tabelle läßt sich aber entnehmen, daß das nicht der Fall ist. Im Jahr 1994 wurden gegenüber Raubdelikten von Jugendlichen und Heranwachsenden noch viermal so oft wie gegenüber Diebstahlsdelikten Jugendstrafen/Freiheitsstrafen ohne Bewährung angeordnet, 1996 dagegen nur noch 2,3 mal so oft. Offenkundig hat sich die Tatschwere der Raubdelikte im Verlauf der zwölf Jahre zunehmend in Richtung der Diebstahlsdelikte verändert. Der einzige Weg, die hier vorgetragenen Annahmen zu prüfen, ist der, eine Aktenanalyse durchzuführen. Nur auf diesem Weg läßt sich in bezug auf die zurückliegenden Jahre klären, wie sich die Tatschwere von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen junger Menschen im Verlauf der letzten Jahre geändert hat. Eine derartige Untersuchung konnten wir aus organisatorischen Gründen im Rahmen des oben skizzierten Projektes zur Jugendgewalt nur in Hannover realisieren. Nachfolgend sollen die ersten Befunde dieser Aktenanalyse dargestellt werden.1 Die Untersuchung ist als Totalerhebung aller Strafverfahrensakten von unter 21jährigen Beschuldigten von Raub- und qualifizierten Körperverletzungsdelikten angelegt. Die Auswahl der erhebungsrelevanten Delikte orientierte sich an den Deliktskategorien „2100" (Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer) und „2220" (gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Vergiftung) der Polizeilichen Kriminalstatistik. Im einzelnen handelt es sich dabei um die §§ 223 a, 224, 225, 227, 229,249 bis 252,255 und 316 a StGB. Zu diesen Straftaten aus dem Bereich der Gewaltkriminalität wurden - soweit erreichbar - sämtliche Strafakten von unter 21jährigen Beschuldigten erhoben, die in den Jahren 1990,1993 oder 1996 im Gebiet der Stadt Hannover wegen einer entsprechenden Straftat registriert worden sind. Insgesamt wurden im Rahmen der Aktenanalyse in Hannover 773 Strafakten aus den Jahren 1990, 1993 und 1996 erhoben. In diesen Akten befanden sich Informationen zu 1.303 Beschuldigten und 1.101 Opfern, die insgesamt 862 Fälle von Gewaltkriminalität be-
1 Bei dem nachfolgenden Bericht über die Befunde der Aktenanalyse handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Textes, den wir aus Anlaß des 24. Deutschen Jugendgerichtstages in einer Sonderausgabe des DVJJ-Journals veröffentlicht haben, vgl. Pfeiffer et.al. 1998: 33 ff.
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trafen. In 452 Fällen war die schwerste Tat eine gefährliche Körperverletzung (58,5 %). Nur in drei Fällen handelte es sich um eine schwere Körperverletzung (0,4 %). Bei den Raubdelikten dominierte der Grundtatbestand § 249 StGB mit 148 Fällen (19,1 %). Es folgte die räuberische Erpressung mit 84 Fällen (10,9 %), der räuberische Diebstahl mit 45 Fällen (5,8 %), der schwere Raub mit 39 Fällen (5,0 % ) sowie der räuberische Angriff auf Kraftfahrer mit zwei Fällen (0,3 %). Von den erhobenen Akten stammen 16,1 % aus dem Jahr 1990, 38,8 % aus dem Jahr 1993 und 45,1 % aus dem Jahr 1996. Die geringe Zahl der Akten des Jahres 1990 ist ausschließlich Folge davon, daß die Akten üblicherweise lediglich fünf Jahre lang aufbewahrt werden. Dadurch war ein beachtlicher Teil der Fälle des Jahres 1990 zum Zeitpunkt der Erhebung bereits vernichtet. Vollständig vorhanden waren lediglich die Akten, bei denen es im Jahr 1990 zu einer Anklage gekommen war. Eine Längsschnittanalyse, in die alle drei Erhebungsjahre einbezogen werden, ist von daher gesehen nur für die angeklagten Fälle von qualifizierten Körperverletzungen und Raubdelikten möglich. Im übrigen müssen wir uns auf einen Vergleich von 1993 zu 1996 beschränken. Im Vergleich dieser beiden Jahre hat die Gesamtzahl der Fälle von qualifizierten Körperverletzungen in Hannover von 185 auf 189 zugenommen, die der Raubdelikte ist von 123 auf 203 angestiegen. Legt man nur die angeklagten Fälle zugrunde, dann ist im Hinblick auf die Raubdelikte von 1990 über 1993 bis 1996 eine Zunahme von 34 über 70 auf 111 Fälle zu verzeichnen. In bezug auf die angeklagten Fälle von qualifizierten Körperverletzungen lauten die Vergleichszahlen 1990: 67, 1993:86 und 1996: 73. Die erste Frage, zu der wir uns von der Aktenanalyse neue Erkenntnisse erhofften, sind differenzierte Angaben zu den Opfern der Jugendgewalt und dem durch die Taten angerichteten Schaden. Betrachtet man nur die Verfahren, in denen es zu einer Anklage gekommen ist, dann hat sich die Zahl der hier untersuchten Opfer von Gewaltdelikten Jugendlicher und Heranwachsender zwischen 1990 und 1996 mehr als verdoppelt (von Ν = 133 auf Ν = 269. Abbildung 1 vermittelt einen Uberblick zur Altersverteilung dieser Opfer. Die Abbildung bestätigt den bekannten Befund, daß die Opfer der Jugendgewalt immer jünger werden. Vor allem der Anteil der 21bis unter 60jährigen ist im Vergleich der Jahre 1990 und 1996 stark zurückgegangen (von 54 % auf 29 %), während die Quote der unter 18jährigen Opfer im Verlauf der sechs Jahre von 26 % auf 51 % zugenommen hat. Im Jahr 1990 waren damit nur zwei Fünftel der
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Abbildung 1: Altersverteilung der Opfer von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen der unter 21jährigen Angeklagten, Hannover, 1990, 1993 und 1996
1990
1993
1996
Opfer der erfaßten Gewaltdelikte etwa gleich alt oder jünger als die Täter, 1996 waren es dagegen bereits zwei Drittel. Wir haben ferner untersucht, wie sich die ethnische Zugehörigkeit der Opfer im Laufe des Untersuchungszeitraums bei den angeklagten Fällen verändert hat. Danach dominieren durchweg mit Schwankungen zwischen 81 und 85 % die Opfer, die seit ihrer Geburt deutsche Staatsangehörigkeit haben. Der Anteil der türkischen Opfer ist rückläufig von 7,8 % auf 4,2 %, der der sonstigen Ausländer liegt jeweils bei 8 bis 9 %, während die Quote der Aussiedler im Jahr 1990 noch bei 0 % lag und auch in den Jahren 1993, 1996 nur niedrige Quoten erreichte (3,8 % bzw. 2,7 %). Zählt man zu den deutschen Opfern auch noch die Aussiedler und eingebürgerten Deutschen hinzu, dann ergibt sich im Jahr 1996 zu den insgesamt registrierten Deutschen eine Quote von 87,7 %. Gemessen an ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung Hannovers von 84,9 % der 14- bis unter 21jährigen sind die Deutschen damit unter den Opfern der hier untersuchten Fälle von Jugendgewalt etwas überrepräsentiert. Im Hinblick auf die Tatobjekte und die Schadenssumme haben wir nachfolgend auch die Fälle der nichtangeklagten Beschuldig-
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Christian Pfeiffer und Ingo Delzer
ten in die Darstellung einbezogen. Zwar reduziert sich dadurch der Längsschnittvergleich auf die Gegenüberstellung von Daten der beiden Jahre 1993 und 1996. Nur auf diese Weise erhalten wir aber einen vollständigen Eindruck davon, bei welchen Fallkategorien der Raubtaten unter 21jähriger eine Strafverfolgung eingeleitet worden ist. Bei der Betrachtung der Tatobjekte der Raubdelikte zeigt sich im Vergleich von 1993 zu 1996, daß es den Tätern offenkundig primär um Bargeld gegangen ist (in 66,1 % bzw. 72,9 % aller Fälle), das sie direkt vom Opfer gefordert haben oder sich in der geraubten Geldbörse, der Brieftasche, der Handtasche oder einem Rucksack erhofft haben. Das „Abziehen" von Kleidungsstücken spielte in den beiden Jahren im Vergleich dazu eine weit geringere Rolle (1993 17,8 % der Fälle, 1996 14,8 %). Alle anderen durch die Raubtat erlangten Gegenstände verteilen sich auf eine große Zahl verschiedener Kategorien (z.B. Alkohol, Drogen, Waffen, Vereinssymbole, Monatsfahrkarten der Verkehrsbetriebe, Telefonkarten usw.), von denen keine für sich genommen einen relevanten Anteil erreichte. Die Kategorie der sonstigen Raubobjekte umfaßte 1993 16,1 % aller registrierten Raubtaten, 1996 12,1 %. Nach der Aktenanalyse hat die Gesamtzahl der Raubtaten 14bis unter 21jähriger zwischen 1993 und 1996 um 65 % zugenommen (123 Fälle im Jahr 1993 zu 203 im Jahr 1996). Angesichts dieses starken und in den lokalen Medien breit erörterten Anstiegs ist es von besonderer Bedeutung, mit Hilfe der Aktenanalyse aufzuklären, wie sich die Schadenshöhe im Vergleich der Raubtaten beider Jahre verändert hat. Zu diesem Zweck haben wir zunächst nach dem Geldwert des Raubobjektes differenziert und hierzu verschiedene Kategorien gebildet. In Abbildung 2 werden die absoluten Zahlen von Fällen nach diesen Schadenskategorien verglichen. Die Abbildung erbringt einen auf den ersten Blick für viele sicher überraschenden Befund. Die absolute Zahl von Raubdelikten mit einem Schaden von über 500 DM ist im Vergleich der Jahre 1993 und 1996 von 28 auf 24 zurückgegangen. Zur Schadenskategorie 200 DM bis 500 DM zeigt sich eine weitgehende Konstanz (23 zu 24 Fälle). Mit Abstand am stärksten zugenommen hat die Kategorie der Raubdelikte mit einem Schaden von unter 25 DM (von 6 auf 47 Fälle). Deren Anteil ist dadurch von 6 auf 27 % angestiegen, während auf der anderen Seite die Quote der Fälle mit einem Schaden von über 200 DM von 53 % im Jahr 1993 auf 28 % im Jahr 1996 zurückgegangen ist. Raubtaten werden nicht selten unter Gewaltanwendung durchgeführt. Dadurch entstehen beim Opfer Verletzungen. Die Akten-
Wird die Jugend immer brutaler? Abbildung
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2: Schadenssummen der von unter 21jährigen Beschuldigten begangenen Raubdelikte, Hannover, 1993 und 1996, absolute Zahlen
501
bis urt q 25 DM 50 bis unter 100 DM 200 bis unter 500 DM 1000 DM und mehr 25 bis unter 50 DM 100 bis unter 200 DM 500 l i s α 1000 DM
analyse hat es ermöglicht, auch dazu Feststellungen zu treffen. Erneut konzentrieren wir uns dabei zunächst auf eine vollständige Analyse aller Raubtaten der Jahre 1993 und 1996. Im Vergleich der beiden Jahre hat sich die absolute Zahl der Fälle, in denen das Raubopfer unverletzt geblieben ist, fast verdoppelt (71 zu 138). Ihr Anteil ist dadurch von 58 % auf 68 % angestiegen. Leicht zurückgegangen sind dagegen solche Fälle, in denen wegen einer Verletzung des Opfers eine ambulante Behandlung oder gar eine stationäre Behandlung erforderlich war (von 20 auf 18 Fälle bzw. von 4 auf 2 Fälle). Ihr Anteil ging dadurch insgesamt von 19,6 % auf 9,9 % zurück. Die Quote der Fälle, in denen zwar eine Verletzung auftrat, die dann jedoch nicht ärztlich behandelt wurde, blieb mit 22,8 % zu 22,2 % nahezu konstant (in absoluten Zahlen: 28 zu 45 Fälle). Nun ist davon auszugehen, daß die Jugendstaatsanwälte Hannovers bei Raubdelikten mit geringer Tatschwere von einer förmlichen Anklage teilweise absehen. Wir haben deshalb die Frage der Schadenshöhe und der dem Opfer zugefügten Verletzungen auch in bezug auf die angeklagten Fälle untersucht. Das Ergebnis deckt sich allerdings weitgehend mit den bereits bekannten Befunden. Die Quo-
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te der Raubfälle mit einem Schaden von über 500 D M bleibt im Vergleich von 1990 zu 1996 nahezu konstant (1990: 13,5 % , 1996: 13,3 %). Der Anteil der Fälle, bei denen die dem Raubopfer zugefügte Verletzung mit einer ambulanten oder stationären Behandlung verbunden war, sinkt im Vergleich der beiden Jahre von 21,1 % auf 8,0 % ; angestiegen sind dagegen solche Fälle angeklagter Raubdelikte, bei denen es nicht zu einer Körperverletzung gekommen ist (von 44,1 % auf 67,6 %). Im Vergleich der Jahre 1993 und 1996 hat die Gesamtzahl der qualifizierten Körperverletzungen, die in Hannover nach Einschätzung der Polizei von jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten begangen wurden, nur geringfügig zugenommen (von 185 auf 189 Fälle). Auch wenn man zu diesen Zahlen den relativen Anstieg pro 100.000 der 14- bis unter 21jährigen Wohnbevölkerung berechnet, ergibt sich nur eine moderate Anstiegsquote von 3,9 % . Die These einer stark gewachsenen Brutalität junger Menschen wäre allerdings trotzdem dann begründet, wenn die Aktenanalyse zeigen sollte, daß die Tatschwere im Einzelfall zugenommen hat. Zu diesem Zweck haben wir wie schon bei den Raubdelikten nach vier Kategorien unterschieden - Fällen, in denen das Opfer unverletzt geblieben ist (also die versuchten Tatbegehungen), Verletzungen, bei denen das Opfer keinen Arzt aufgesucht hat, Fälle mit ambulanter Behandlung und schließlich Fälle mit stationärer Behandlung des Opfers. In der nachfolgenden Abbildung werden zunächst die Veränderungen in absoluten Zahlen dargestellt. Wie schon bei den Raubdelikten fällt erneut auf, daß die Fälle mit den schwersten Tatfolgen deutlich abnehmen. Die Zahl der Opfer von qualifizierten Körperverletzungen, bei denen es zu einer stationären Behandlung gekommen ist, ist von 27 im Jahr 1993 auf 15 im Jahr 1996 zurückgegangen - eine Abnahme von 15 % auf 8 % . Leicht rückläufig sind ferner die Fälle mit einer ambulanten Behandlung des Opfers von 51 % auf 48 % . Deutlich zugenommen hat dagegen der Anteil der Opfer, bei denen keine ärztliche Behandlung stattgefunden hat oder die völlig unverletzt geblieben sind (von 35 % auf 44 %). Beschränkt man die Aktenanalyse auf die angeklagten Fälle und bezieht dadurch das Jahr 1990 mit ein, so zeigt sich, daß die Jugendstaatsanwälte den Anstieg der leichten Fälle offenkundig mit einer vermehrten Anwendung von Einstellungen nach § 45 J G G beantwortet haben. Der Anteil der versuchten Tatbegehung, in denen keine Verletzung entstanden ist, liegt durchweg niedrig und steigt nur geringfügig an (1990: 5,8 % , 1996: 6,7 %). Eine deutliche Zunahme zeigt sich zu den Opfern, die trotz einer Verletzung keinen Arzt aufgesucht haben (von 21,7 % auf
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Abbildung 3: Qualifizierte Körperverletzungstaten von unter 21jährigen Beschuldigten in Hannover nach Schwere der Verletzung, 1993 und 1996, absolute Zahlen
1001
I
unverletzt
ohne ärztliche Beh.
ambulante B A .
schwerste Opferverletzupg
28,0 %), während die Quote der Fälle mit ambulanter Behandlung von 59,4 % auf 50,7 % zurückging und der Anteil der Fälle mit stationärer Behandlung sich im Vergleich von 1990 zu 1996 geringfügig erhöhte (von 13,0 % auf 14,7 %). Bevor wir diese Erkenntnisse zu den polizeilich registrierten Opfern der Jugendgewalt abschließend bewerten, sollen nachfolgend auch die Daten zu den Beschuldigten in die Aktenanalyse einbezogen werden. In den Jahren 1990,1993 und 1996 waren dies insgesamt 1.303 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Die Aufteilung auf die drei Jahre ergibt sich aus der nachfolgenden Abbildung 4. Oben wurde bereits erwähnt, daß zum Zeitpunkt der Datenerhebung von den Akten des Jahres 1990 nur noch diejenigen vollständig zur Verfügung standen, in denen die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hatte. Die Akten zu den eingestellten Verfahren waren Anfang 1998 bereits überwiegend vernichtet worden. Längsschnittanalysen zu allen drei Jahren können sich deswegen nur auf die jugendlichen und heranwachsenden Angeklagten beziehen. Wenn auch die eingestellten Verfahren einbezogen werden sollen, müssen wir uns erneut auf eine Gegenüberstellung der Daten aus dem Jahr 1993 und
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Abbildung 4: Unter 21jährige Beschuldigte und Angeklagte von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungsdelikten, Hannover, 1 9 9 0 , 1 9 9 3 und 1996
1990
1993
1996
1996 beschränken. Im übrigen zeigt die Abbildung, daß der Anstieg der angeklagten 14- bis unter 21jährigen in etwa dem entspricht, der sich bereits aus der Tatverdächtigenstatistik ergeben hat. Von 1990 auf 1996 ist die Zahl der wegen der beiden Gewaltdelikte angeklagten Beschuldigten von 154 auf 263 Personen, d.h. um 70,8 % angestiegen. Die absolute Zahl der Tatverdächtigen hat demgegenüber in diesem Vergleichszeitraum um 52,8 % zugenommen. Zum Alter der Angeklagten wiederholt sich weitgehend das, was bereits anhand der Opferdaten deutlich geworden ist. Auch die Angeklagten werden immer jünger. Während 1990 noch 52 % von ihnen Heranwachsende waren, ist deren Anteil bis 1996 auf 38 % gesunken, d.h. die Quote der Jugendlichen ist von 48 % auf 62 % angestiegen. Das Durchschnittsalter der Angeklagten betrug 1990 18,0 Jahre, 1996 dagegen 17,4 Jahre. Auch zum Geschlecht der Angeklagten bestätigt sich das, was nach der PKS zu erwarten war. Im Vergleich von 1990 zu 1996 ist der Anteil der weiblichen Angeklagten um ein Drittel gesunken, von 9 % auf 6 %. Anders ausgedrückt: Im Vergleich der beiden Jahre hat sich die absolute Zahl der männlichen Angeklagten von 140 auf 247 erhöht, die der weiblichen von 14 auf 16. Der Anstieg der wegen der beiden Gewaltdelikte Angeklagten
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ist zu 98,1 % den männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden zuzurechnen. Für die Schwereinstufung eines Falles und die in Betracht zu ziehenden Verfahrens- und Sanktionsentscheidungen ist für die Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter die Zahl der Eintragungen von erheblicher Bedeutung, die zu den Angeklagten im Hinblick auf frühere Jugendstrafverfahren im Bundeszentralregister erfaßt sind. Abbildung 5 informiert über die absolute Zahl solcher BZR-Eintragungen. Abbildung 5: 14- bis 21jährige Angeklagte von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen, Vorbelastungen mit früheren Verfahren, Hannover, 1990, 1993 und 1996, absolute Zahlen
BZR-Eirträge Ι!!!!! 6 und mehr Bmn 3 tns S U S zwei •
einer
B ü keine
Erneut bestätigt sich, was bereits die Opferdaten signalisiert haben. Im Vergleich der drei Jahre nimmt der Schweregrad der Fälle deutlich ab, d.h. die Angeklagten sind im Jahr 1996 weniger mit früheren Verfahren vorbelastet als im Jahr 1990. Auf der einen Seite steigt dadurch der Anteil der „Ersttäter" von 39,9 % im Jahr 1990 über 43,2 % im Jahr 1993 auf 61,9 % im Jahr 1996. Auf der anderen Seite sinkt die Quote derjenigen, die mit sechs und mehr früheren Verfahren belastet sind, im Vergleich der drei Jahre von 10 % über 9 , 7 % auf 4,1 %.
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Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Schwereinschätzung der hier untersuchten Gewaltdelikte ist ferner die Frage, ob bei der Tat eine Waffe eingesetzt oder zumindest mitgeführt wurde. Die absolute Zahl der Fälle, in denen es zum Einsatz eine Waffe gekommen ist, hat von 38 auf 32 abgenommen; ihr Anteil ist dadurch im Vergleich von 1990 zu 1996 von 34,2 % auf 17,5 % gesunken. Der stärkste Zuwachs ist bei der Kategorie der unbewaffneten Täter zu verzeichnen - von 63 auf 105 Fälle (56,8 % zu 57,4 %); die Zahl der Raubtaten oder qualifizierten Körperverletzungen, bei denen eine Waffe mitgeführt wurde, hat von zehn auf 46 zugenommen. Angesichts der niedrigen Ausgangsbasis bedeutet dies von 1996 zu 1990 eine Erhöhung der Quote von 9,0 % auf 25,1 % aller angeklagten Fälle. Zur Interpretation der bisher vorgetragenen Daten sollen schließlich auch Informationen zur Verteilung der Angeklagten auf die verschiedenen Ethnien herangezogen werden. Abbildung 6 zeigt, daß sich die Zahl der angeklagten einheimischen Deutschen, d.h. der 14bis unter 21jährigen, die seit ihrer Geburt über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen, zwar von 1990 bis 1993 von 94 auf 126 erhöht hat. Sie sank dann jedoch bis 1996 auf 99 ab - nur fünf mehr als 1990. Im Verlauf der sechs Jahre hat sich die Gesamtzahl der Angeklagten, bei denen eine eindeutige ethnische Zuordnung möglich war, von 154 auf 261 erhöht - also um 107 Personen. Dies bedeutet, daß die in diesen Zahlen dokumentierte Zunahme von Fällen, die zu einer Anklage geführt haben, nur zu 4,6 % den einheimischen Deutschen zuzurechnen ist. Zu 95,4 % beruht sie auf der Zuwanderung von Personen, die bei ihrer Geburt keine deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Der Prozentanteil der einheimischen Deutschen unter den Angeklagten sank dadurch stark ab - von 61,0 % im Jahr 1990 auf 37,9 % im Jahr 1996. Von den Angeklagten mit anderer ethnischer Zugehörigkeit ist ein Teil von ihnen nach der Geburt in Deutschland eingebürgert worden oder hat als Aussiedler gleichzeitig mit der Einwanderung den deutschen Paß erhalten. Ihre absolute Zahl betrug 1990 14 (9,1 % aller Angeklagten) und stieg dann über 22 (9,2 % ) im Jahr 1993 auf 40 (15,3 % ) im Jahr 1990. Der im Verlauf der sechs Jahre zu beobachtende Anstieg der Angeklagtenzahlen beruht damit zu knapp einem Viertel (24,3 % ) auf einer Gruppe von Jugendlichen und Heranwachsenden, die nach ihrer Geburt Deutsche wurden. Ganz überwiegend (zu 71 % ) ist er den nichtdeutschen 14- bis unter 21 jährigen zuzurechnen. Die absolute Zahl der türkischen Angeklagten hat sich im Vergleich der Jahre 1990, 1996 fast verdoppelt (von 35 auf 69). Ihr Anteil stieg dadurch von 22,7 % auf 26,4 % . Noch stärker
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Abbildung 6: D i e ethnische Zugehörigkeit der 14- bis 21jährigen A n g e k l a g t e n v o n Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen, H a n n o v e r , 1990, 1993 u n d 1996, absolute Zahlen 300η
250
£ Ethrae HHI aridere Ausländer •
türkisch ] eirigebürf ! Aussicdbr
1990
1993
1996
j seit Geburt deutsch
zugenommen hat die Gruppe der sonstigen Ausländer (von 11 auf 53), deren Quote dadurch von 7,1 % auf 20,1 % angewachsen ist. Der beschriebene Wandel in der Zusammensetzung der Angeklagten ist zu einem wesentlichen Teil dadurch bedingt, daß die Bevölkerungszahl der deutschen 14- bis unter 21jährigen in Hannover trotz der Zuwanderung von Aussiedlern und eingebürgerten Deutschen zwischen 1990 und 1996 um 19,4 % abgenommen hat, während die der Nichtdeutschen um 26,4 % angestiegen ist.2 Zu den Angeklagten deutscher Nationalität errechnet sich danach im Vergleich von 1990 und 1996 ein Anstieg der Häufigkeitsziffer der wegen Raubdelikten oder qualifizierten Körperverletzungen Angeklagten um 59,7 %, die der Nichtdeutschen hat um 110,2 % zugenommen. 2 I m Jahr 1990 w u r d e n in H a n n o v e r 28.493 deutsche 14- bis unter 21jährige gezählt, im Jahr 1996 waren es 22.959. Z u den N i c h t d e u t s c h e n lauten die Vergleichszahlen 6.560 z u 8.278. 3 D i e Zahl der Angeklagten deutscher Nationalität ist zwischen 1990 und 1996 v o n 108 auf 139 angestiegen ( + 27,7 % ) , die der N i c h t d e u t s c h e n v o n 46 auf 122 ( + 165,2 % ) .
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Betrachtet man die Täter-Opfer-Beziehung unter dem Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit der Tatbeteiligten, dann dominierte unter den zur Anklage gebrachten Fällen im Jahr 1990 noch die Tatkonstellation, wonach beide Seiten derselben Ethnie angehörten (zu 65,1 %). Im Jahr 1996 dagegen war dies nur noch bei 41,9 % der Fall. Zu 58,1 % gehörten Täter und Opfer unterschiedlichen Ethnien an. Ergänzend haben wir in bezug auf die beiden Jahre 1993 und 1996 auch überprüft, wie sich die verschiedenen Ethnien verteilen, wenn man auch solche Fälle in die Untersuchung einbezieht, in denen es nicht zu einer Anklage gekommen ist. 39 % bzw. 36 % der Verfahren sind danach in den beiden Jahren mangels ausreichenden Tatverdachts oder weil es sich bei dem Tatverdächtigen um ein Kind gehandelt hat, nach § 170 Abs. 2 JGG eingestellt worden, wobei diese Entscheidungen bei den einheimischen Deutschen mit 37,2 % bzw. 32,8 % etwas seltener erfolgten als bei den Angehörigen der anderen Ethnien (1993: 40,5 %, 1996: 36,2 %). Im Hinblick auf die angeklagefähigen Fälle zeigt sich, daß im Vergleich der beiden Jahre die absolute Zahl der einheimischen Deutschen von 142 auf 138 abgenommen hat, während die aller anderen ethnischen Gruppen von 117 auf 195 angestiegen ist. Die Zunahme der Beschuldigten beruht also in dem Vergleich der beiden Jahre ausschließlich darauf, daß die Zahlen der ausländischen Beschuldigten, der eingebürgerten Deutschen und der Aussiedler jeweils deutlich angestiegen ist. Auch im Hinblick auf die oben vorgenommene Uberprüfung des Alters der Angeklagten haben wir ergänzend die ethnische Zugehörigkeit untersucht. Dabei stellte sich heraus, daß die festgestellte starke Zunahme der jugendlichen Angeklagten zu vier Fünftel nicht den einheimischen Deutschen sondern den anderen ethnischen Gruppen zuzurechnen ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die starke Zunahme der Ersttäter. Sie beruht zu drei Vierteln darauf, daß vermehrt junge Aussiedler, eingebürgerte Nichtdeutsche und junge Ausländer, die keine BZR-Eintragungen aufweisen, angeklagt wurden. Tabelle 2 informiert über die Sanktionsentscheidungen des Jugendgerichtes Hannover. Die Tabelle zeigt, daß die Jugendrichter in Hannover die deutlich sinkende Tatschwere der hier untersuchten Fälle von Jugendgewalt bei den Raubdelikten mit einer deutlichen Abnahme der Verurteilungen zu Jugendstrafe beantwortet haben (1990: 42,0 %, 1996: 25,9 %). An die Stelle der Jugendstrafe ist offenkundig häufig der Jugendarrest getreten (Zunahme von 22,0 % auf 34,0 %). Einer sinkenden Quote von Auflagen/Weisungen steht ferner ein deutlicher Anstieg der Verfahrenseinstellungen gegenüber. Auffallend ist schließlich die Zunahme der Freisprüche von 4,0 auf
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Tabelle 2: Die gerichtlichen Entscheidungen zu den 14- bis unter 21jährigen Angeklagten von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen, 1990 und 1996 im Vergleich Raubdelikte
Jugendstrafe ohne Bewährung
η
% Jugendstrafe ohne Bewährung
η
Jugendarrest
η
Auflagen/Weisungen/Geldstrafe
η
Einstellung
η
Freispruch
η ο/ /ο
gesamt
η
% % % %
%
qual. Körperverletzungen 1990 1996
1990
1996
7 14,0 14 28,0 11 22,0 11 22,0 5 10,0 2 4,0
16 10,9 22 15,0 50 34,0 26 17,7 22 15,0 11 7,5
4 3,9 2 2,0 27 26,5 22 21,6 36 35,3 11 10,8
3,1 6 6,3 23 24,0 28 29,2 29 30,2 6 6,3
50 100,0
147 100,0
102 100,0
95 100,0
3
7,5 %. Bei den qualifizierten Körperverletzungen haben die Jugendgerichte demgegenüber zwar den Gebrauch der Jugendstrafe von 5,9 % auf 9,4 % erhöht. Sie liegen damit aber immer noch deutlich unter dem Strafniveau, das sich aus Tabelle 1 zum Jahr 1996 für die alten Bundesländer ergibt (11,8 %). Einer leicht sinkenden Jugendarrestquote steht im übrigen ein deutlicher Anstieg der Verurteilungen zu Auflagen und Weisungen gegenüber. Der Anteil der Einstellungen hat etwas abgenommen und auch der der Freisprüche ist von einem beachtlich hohen Niveau im Vergleich der beiden Jahre gesunken (von 10,8 % auf 6,3 %). Die Aktenanalyse hat eine Reihe von Erkenntnissen erbracht, die die eingangs zitierten Journalisten sicherlich überraschen werden. Wir müssen jedoch fairerweise zugeben, daß auch wir mit derart eindeutigen Befunden nicht gerechnet haben. Unsere Erwartung war, daß die durchschnittliche Tatschwere der hier analysierten Fälle von Jugendgewalt im Laufe der Jahre nicht zugenommen haben wird und vielleicht sogar angesichts des bei Gewaltdelikten sinkenden Durchschnittsalters der Beschuldigten etwas abnehmen könnte. Tatsächlich ist jedoch zwischen 1990 und 1996 ein deutlicher Wandel in der Zusammensetzung der von der Polizei Hannovers registrierten Fälle von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen junger Menschen eingetreten.
Christian Pfeiffer und Ingo Delzer
Die Täter und Opfer der analysierten Fälle von Jugendgewalt des Jahres 1996 sind erheblich jünger als die des Jahres 1990. Das Durchschnittsalter der angeklagten Täter ging von 18,0 auf 17,4 Jahre zurück, das der Opfer von 30,7 auf 24,7 Jahre. 1990 war die Hälfte der Opfer jünger als 24,6 Jahre; bis 1996 ist dieser Mittelwert auf 17,9 gesunken. Damit geht einher, daß der Anteil der Ersttäter stark zugenommen hat, d.h. solcher Angeklagter und Beschuldigter, die keine Belastung mit früheren Jugendstrafverfahren aufweisen. Unter den Angeklagten betrug er 1990 40,1 %, im Jahr 1996 61,9.%. Parallel dazu ging die Quote der Angeklagten mit sechs und mehr früheren Verfahren von 9,5 % auf 4,1 % zurück. Die zwischen 1993 und 1996 eingetretene Zunahme der insgesamt wegen Raubdelikten unter 21jährigen Beschuldigten (+ 80 Fälle) betrifft zu mehr als der Hälfte (54,0 %) die Schadenskategorie von unter 25 DM und zu 28,9 % die Kategorie 25 DM bis unter 100 DM. Die Zahl der Fälle mit einem Schaden von über 500 DM ist dagegen von 28 auf 24 zurückgegangen (von 29,2 % auf 14,8 %). Ein entsprechender Trend zeigt sich, wenn man die Aktenanalyse auf die angeklagten Fälle beschränkt. Im Vergleich von 1993 zu 1996 hat der Anteil der Raubdelikte, in dem es zu einer Verletzung des Opfers gekommen ist, deutlich abgenommen (von 41,6 % auf 32,0 %). Stark zurückgegangen ist ferner der Anteil der Fälle von Verletzten, die ambulant oder stationär behandelt werden mußten (von 46,2 % auf 30,8 %). Die Aktenanalyse zu den gefährlichen/schweren Körperverletzungen der unter 21jährigen Beschuldigten zeigt im Vergleich von 1993 zu 1996 ein entsprechendes Bild. Einer deutlichen Zunahme der Fälle von versuchter Tatbegehung oder von Verletzungen, die keine ärztliche Hilfe erforderlich machten (von 34,6 % auf 43,9 %) steht eine geringfügige Abnahme der Fälle mit ambulanter Behandlung (von 50,8 % auf 48,2 %) und ein starker Rückgang von Verletzungen gegenüber, die eine stationäre Behandlung erforderlich machten (von 14,6 % auf 7,9 %). Auch bei Einbeziehung der Daten des Jahres 1990 (nur angeklagte Fälle) bestätigt sich der Befund. Diese Ergebnisse stehen im Einklang damit, daß der Einsatz von Waffen bei den hier untersuchten Gewalttaten rückläufig war (von 34,2 % auf 17,5 %). Die Aktenanalyse zu allen angeklagten Fällen von Raubdelikten und qualifizierten Körperverletzungen zeigt, daß die starke Zunahme dieser Fälle nur zu 4,9 % einheimischen Deutschen zuzurechnen ist. Zu 95,1 % beruht sie auf Anklagen ge-
Wird die Jugend immer brutaler?
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gen ausländische Jugendliche und Heranwachsende sowie gegen junge Aussiedler und eingebürgerte Deutsche. Der Anteil der seit Geburt Deutschen unter den Angeklagten sank dadurch von 1990 bis 1996 von 61,2 % auf 37,9 % . Diese Verlagerung zu den anderen Ethnien erscheint etwa zur Hälfte bedingt durch eine zwischen 1990 und 1996 eingetretene Veränderung der Bevölkerungsstruktur (Abnahme der deutschen 14- bis unter 21jährigen um 19,4 % ; Zunahme der Nichtdeutschen dieser Altersgruppe um 26,2 %). • Betrachtet man die Täter-Opfer-Beziehung unter dem Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit der Tatbeteiligten, dann dominierte unter den zur Anklage gebrachten Fällen 1990 noch die Tatkonstellation, wonach beide Seiten derselben Ethnie angehörten (zu 65,1 %). Im Jahr 1996 dagegen war dies nur bei 41,9 % der Fall. Zu 58,1 % gehörten Täter und Opfer unterschiedlichen Ethnien an. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die durchschnittliche Tatschwere der hier untersuchten Gewaltdelikte zwischen 1990 und 1996 deutlich abgenommen hat. Möglicherweise ist dies die Folge einer angestiegenen Anzeigebereitschaft der Opfer von Jugendgewalt. Für diese These spricht die Veränderung der Täter-Opfer-Beziehung unter dem Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit. Eine interne Verständigung unter den Konfliktbeteiligten (und ihren Eltern) setzt die Bereitschaft und Fähigkeit zur direkten Kommunikation voraus. Diese dürfte jedoch deutlich abgenommen haben. Im Rahmen der eingangs erwähnten Schülerbefragung haben wir diese Frage der Anzeigebereitschaft in Abhängigkeit von der jeweiligen Täter-Opfer-Konstellation untersucht. Dabei hat sich herausgestellt, daß die einheimischen deutschen Opfer einer Gewalttat den Täter, wenn er ihrer eigenen ethnischen Gruppe angehört hat, zu 21,5 % angezeigt haben. Diese Quote erhöht sich auf 31,4 % gegenüber Tätern aus anderen Ethnien. Entsprechendes gilt auch im Hinblick auf die nichtdeutschen Opfer einer Gewalttat (21,7 % Anzeige gegenüber Tätern aus derselben ethnischen Gruppe; 27,4 % Anzeige gegenüber „Fremden", vgl. Pfeiffer, Delzer, Enzmann und Wetzeis, 1998: 76). Da durch die starke Zuwanderung von Aussiedlern, Flüchtlingen und Asylbewerbern, die es in den 90er Jahren gegeben hat, die Zahl der Konflikte stark zugenommen hat, bei denen die Beteiligten unterschiedlichen Ethnien angehören, gehen wir davon aus, daß der polizeilich registrierte Anstieg der Jugendgewalt zu einem beachtlichen Anteil auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft der Opfer zurückzuführen ist. Mit den uns zur Verfügung stehenden Daten können wir allerdings keine exakten Berechnungen dazu
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Christian Pfeiffer und Ingo Delzer
anstellen, welcher Prozentanteil der Zunahme auf diesem Einflußfaktor beruht. Hierzu wären regelmäßig wiederholte Dunkelfeldbefragungen nötig, bei denen auch erfaßt wird, zu welchem Anteil die berichteten Taten angezeigt worden sind. Auch mit Hilfe der Aktenanalyse konnte deshalb die Eingangsfrage, ob die jungen Menschen in Hannover immer brutaler geworden sind, nicht eindeutig beantwortet werden. Auffallend ist jedenfalls, daß vor allem solche Raubdelikte und qualifizierten Körperverletzungen zugenommen haben, die keine schweren Schäden zur Folge hatten. Die Fälle mit sehr belastenden Auswirkungen für die Opfer sind dagegen rückläufig. Der Anstieg der eher leichten Fälle dürfte teilweise auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft der Opfer zurückzuführen sein. Als gesicherte Erkenntnis können wir ferner festhalten, daß jedenfalls in Hannover die Brutalität im einzelnen Fall nicht zugenommen hat. Weitergehende Erkenntnisse versprechen die Aktenanalysen der Städte Leipzig, Stuttgart und Hamburg. Im übrigen werden wir die Frage, in welchem Ausmaß es tatsächlich zu einer quantitativen Zunahme der Jugendgewalt gekommen ist, in bezug auf die vergangenen Jahre nicht zweifelsfrei klären können. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung müssen wir darauf hoffen, daß es gelingt, die repräsentativen Schülerbefragungen in regelmäßigen Abständen zu wiederholen. Literaturverzeichnis Böhm, A. (1997). Die Erfassung von Kriminalität, 21. Kapitel. In: Göppinger, H.: Kriminologie (5. Auflage), München: Beck. Funk, W. (1995). Nürnberger Schulen-Studie. Regensburg: Roderer. Göppinger, H. (1997): Kriminologie (5. Auflage), München: Beck. Lösel, F., Bliesner, T. & Averbeck, M. (im Druck). Hat die Delinquenz von Schülern zugenommen? Ein Vergleich im Dunkelfeld nach 22 Jahren. In M. Schäfer & D. Frey (Hrsg.), Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen - Von Medien suggeriertes Problem oder empirisch belegtes Faktum? Bern: Huber. Mansel,J. & Hurrelmann, K. (1998). Aggressives und delinquentes Verhalten Jugendlicher im Zeitvergleich. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 78-109. Pfeiffer, C., Delzer, /., Enzmann, D. & Wetzeis, P. (1998): Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen - Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter. DVJJ-Sonderdruck zum 24. Deutschen Jugendgerichtstag vom 18.-22. September 1998 in Hamburg. Hannover: DVJJ. Tillmann, K.-J. (1997). Gewalt an Schulen: Öffentliche Diskussion und erziehungswissenschaftliche Forschung. In H.G. Holtappels, W. Heitmeyer, W. Melzer & K.-J. Tillmann (Hrsg.), Forschung über Gewalt an Schulen (S. 11-25). München: Juventa.
Gewaltkriminalität in Deutschland WOLFGANG HEINZ
I. Einleitung Zu den Annahmen, von denen derzeit Politik, Medien und Öffentlichkeit als gesichert glauben ausgehen zu können, gehören: • Gewaltkriminalität ist stark angestiegen; zusammen mit organisierter Kriminalität wird vor allem hierdurch Innere Sicherheit bedroht. • Gewaltkriminalität ist Jugendkriminalität. Trotz der Vorarbeiten durch Berichte von „Gewaltkommissionen" 1 und einer inzwischen kaum noch überschaubaren Fülle 2 empirischer Untersuchungen und theoretischer Analysen 3 weist die Erforschung von Erscheinungsformen, Strukturen und Entstehungs-
1 Rolinski, Klaus; Eibl-Eibesfeldt, Irenaus·. Gewalt in unserer Gesellschaft - Gutachten für das Bayerische Staatsministerium des Innern, Berlin 1990; Senatsverwaltung für Inneres (Hrsg.): Endbericht der Unabhängigen Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt in Berlin, Berlin 1994; Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen u.a. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), 4 Bände, Berlin 1990. 2 „Die publizierten Bibliographien zur Gewaltforschung erfassen allein für den Zeitraum der 90er Jahre Hunderte von Einträgen, die kein einzelner Forscher, nicht einmal ein kleines Forschungsteam mehr überschauen, noch weniger kennen und ohne ein speziell darauf abgestelltes Forschungsprojekt schon gar nicht alle auswerten kann" (von Trotha, Trutz·. Zur Soziologie der Gewalt, in: von Trotha [Hrsg.]: Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37/1997 der KZfSS, Fn. 13). 3 Vgl. nur die Nachweise in den neueren kriminologichen Lehrbüchern und Monographien, wie Eisenberg, Ulrich: Kriminologie, Köln u.a., 4. Aufl., 1995, S. 809 ff.; Göppinger, Hans·. Kriminologie - Ein Lehrbuch, München, 5. Aufl., bearbeitet von M. Bock und A. Böhm, 1997, S. 569 ff.; Kaiser, Günther. Kriminologie - Ein Lehrbuch, Heidelberg, 3. Aufl., 1996, S. 693 ff.; Schneider, Hans Joachim: Kriminologie der Gewalt, Stuttgart/Leipzig 1994; Schwind, Hans-Dieter: Kriminologie - eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, Heidelberg, 9. Aufl., 1998, S. 24 ff., 562 ff. Hinzugefügt werden müßten noch die Fülle neuerer „Bindestrich"-Gewaltforschungen, wie - „Jugend und Gewalt" (hierzu Henning, Claudia [Bearb.]: Jugend und Gewalt sozialwissenschaftliche Diskussion und Handlungsansätze, Bonn 1995; Lamnek,
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z u s a m m e n h ä n g e n der Gewaltkriminalität n o c h zahlreiche w e i ß e F l e c k e n auf. W i d e r s p r ü c h l i c h ist a u c h die B e w e r t u n g der empirischen B e f u n d lage d u r c h die Wissenschaft. Einige K r i m i n o l o g e n meinen, v o n einer besorgniserregenden u n d d r a m a t i s c h e n Z u n a h m e v o n G e w a l t ausgehen z u müssen. So vertrat Pfeiffer 1 9 9 7 die Auffassung, G e w a l t kriminalität habe in den letzten J a h r e n deutlich z u g e n o m m e n , diese Z u n a h m e b e r u h e nicht auf Fällen aus d e m Bagatellbereich, w a s d u r c h den Anstieg der Raubdelikte m i t Schäden z w i s c h e n 1 0 0 u n d 5 0 0 D M belegt w e r d e . 4 A n d e r e sehen hingegen keinen dramatischen Anstieg, s o n d e r n eher eine T h e m a t i s i e r u n g des G e w a l t p r o b l e m s u n d eine Sensibilisierung für G e w a l t : „ M a n m u ß wahrscheinlich d a v o n ausgehen, daß nicht der U m f a n g der G e w a l t entscheidend z u g e n o m -
Siegfried [Hrsg.]: Jugend und Gewalt - Devianz und Kriminalität in Ost und West, Opladen 1995), - „Gewalt in der Schule" (z.B. Arbeitsgruppe Schulevaluation [Hrsg.]: Gewalt als soziales Problem in Schulen, Opladen 1998; Fuchs, Marek; Lamnek, Siegfried; Luedtke, Jens: Schule und Gewalt - Realität und Wahrnehmung eines sozialen Phänomens, Opladen 1996; Funk, Walter: Nürnberger Schüler-Studie 1994: Gewalt an Schulen, Regensburg 1995; Holtappels, Heinz Günter; Heitmeyer, Wilhelm u.a. [Hrsg.]: Forschung über Gewalt an Schulen - Erscheinungsformen und Ursachen, Konzepte und Prävention, Weinheim/München, 1997; Schwind, Hans-Dieter; Roitsch, Karin u.a. [Hrsg.]: Gewalt in der Schule - Am Beispiel von Bochum, Mainz 1995.), - „Fremdenfeindliche Gewalt" (z.B. Heitmeyer, Wilhelm; Müller, Joachim: Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1995; Heß, Ulrike: Fremdenfeindliche Gewalt in Deutschland - eine soziologische Analyse, München/Wien 1996; Mischkowitz, Robert: Fremdenfeindliche Gewalt und Skinheads - Eine Literaturanalyse und Bestandsaufnahme polizeilicher Maßnahmen, BKA-Forschungsreihe, Band 30, Wiesbaden 1994; Willems, Helmut: Fremdenfeindliche Gewalt - Einstellungen, Täter, Konflikteskalation, Opladen 1993), - „Gewalt in der Familie" (Beulke, Werner: Gewalt im sozialen Nahraum - Forschungsbericht, Passau 1995; Honig, Michael-Sebastian, Gewalt in der Familie, in: Schwind/Baumann [Fn. 1], Bd. III, S. 343-361; Schneider; Ursula: Gewalt in der Familie, in: Schwind/Baumann [Fn. 1], Band III, S. 503-573; Wetzeis, Peter; Greve, Werner u.a.: Kriminalität im Leben alter Menschen - Eine altersvergleichende Untersuchung von Opfererfahrungen, persönlichem Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsfurcht, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bd. 105, Stuttgart u.a. 1995; Wetzeis, Peter: Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung und deren langfristige Konsequenzen, Baden-Baden 1997). - „Gewalt gegen Kinder, gegen Frauen, gegen alte Menschen" {Ahlf, Ernst-Heinrich: Alte Menschen als Opfer von Gewaltkriminalität, Zeitschrift für Gerontologie 27, 1994, 289 ff.). 4 Pfeiffer, Christian: Jugendkriminalität und Jugendgewalt in europäischen Ländern, KFN Hannover 1997, 21.
Gewaltkriminalität in Deutschland
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men hat, sondern daß unsere Aufmerksamkeit für Gewalt schärfer geworden ist. Verschiedene Formen der Gewalt treten in unser Bewußtsein, die es früher sicher auch gab, aber die erst heute von uns wahrgenommen werden. Dies ist ganz deutlich bei der Gewalt gegen Frauen und Kinder. So wird das Thema Gewalt gegen Kinder erst seit Ende der 60er Jahre in den USA und seit den 70er Jahren in Europa diskutiert. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß es diese Formen der Gewalt früher nicht gegeben hat. In der führenden familiensoziologischen Zeitschrift Journal of Marriage and Family' erscheint von der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1939 bis zum Jahr 1969 kein einziger Aufsatz mit dem Stichwort,Gewalt' im Titel. Danach häufen sich Aufsätze, die Gewalt gegen Kinder und Gewalt in der Familie thematisieren" . 5 II. „Gewaltkriminalität" - ein problematisches und unzulängliches Artefakt der amtlichen Kriminalstatistik 1. Was unter „Gewaltkriminalität" genau zu verstehen sei, war und ist umstritten.6 Für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wurde erstmals 1983 eine pragmatische Zusammenfassung einzelner Straftaten(-gruppen) zum Oberbegriff „Gewaltkriminalität" 7 vorgenommen. „Gewaltkriminalität" umfaßt danach die folgenden Straftaten (i.d.F. vor dem 6. StrRG, jeweils einschließlich Versuche): • Mord (§211 StGB), • Totschlag und Tötung auf Verlangen (§§ 212, 213, 216 StGB), • Kindestötung ( § 2 1 7 StGB) (einschl. der unaufgeklärten Fälle der Tötung neugeborener Kinder), • Vergewaltigung (§ 177 StGB), • Raub, räuberische Epressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249-252, 255, 316a StGB), • Körperverletzung mit tödlichem Ausgang (§§ 226, 227, 229 Abs. 2 StGB), 5 Nicklas, Hans; Ostermann, Anne; Büttner, Christian·. Vaterlos, gottlos, arbeitslos wertlos? Zum Problem der Jugendgewalt und mögliche Präventivstrategien. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, H S F K - R e p o r t 4/1997, Frankfurt a.M. 1997, S. 11. 6 Zusammenfassend vgl. Kürzinger, Josef : „Gewaltkriminalität", in: Kaiser/Kerner/ Sack/Schellhoss (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg, 3. Aufl., 1993, S. 171-177; Schwind, Hans-Dieter; Baumann, Jürgen u.a.·. Gewalt in der Bundesrepublik - Endgutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), in: Schwind/Baumann (Fn. 1), Bd. I, S. 35 ff. 7 Bundeskriminalamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1996, S. 12.
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• Gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Vergiftung (§§ 223a, 224, 225, 227, 229 StGB), • Erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB), • Geiselnahme (§ 239b StGB), • Angriff auf den Luftverkehr (§ 316c StGB). 2. Diese Zuordnungsregelung ist einerseits sehr eng, andererseits sehr weit. Es handelt sich um keinen sozialwissenschaftlichen, sondern um einen juristischen, an Straftatbeständen orientierten Gewaltbegriff. Innerhalb des so bestimmten Sammelbegriffs der „Gewaltkriminalität" werden wiederum einige Straftatbestände ausgeschlossen, die der „Gewaltkriminalität" zugerechnet werden könnten, wie etwa vorsätzliche leichte Körperverletzung, Straftaten gegen die persönliche Freiheit, insbesondere Nötigung und Bedrohung, sowie Gewalt gegen Sachen. Andererseits werden bei dieser Zuordnung auch die nur versuchten Delikte erfaßt. Damit sind jeweils folgenreiche Auswirkungen auf den statistischen Ausweis der Entwicklung registrierter „Gewaltkriminalität" verbunden. 3. Wie eng oder wie weit „Gewaltkriminalität" auch bestimmt wird, „die" „Gewaltkriminalität" gibt es nicht. Hinter diesem Sammelbegriff verbirgt sich vielmehr eine Vielzahl von Delikten unterschiedlichster Erscheinungsformen, die sich in Häufigkeit des Vorkommens, Schwere der Deliktsfolgen, Tätergruppen, Motivationslage usw. deutlich unterscheiden. Hinter einer Veränderung der Häufigkeit polizeilich registrierter Fälle von „Gewaltkriminalität" können sich deshalb unterschiedliche, ja gegenläufige Entwicklungen bei den einzelnen Deliktsgruppen verbergen. 1996 z.B. wies die PKS einen Anstieg der „Gewaltkriminalität" aus bei gleichzeitigem Rückgang der Zahl der Tötungsdelikte. 8 4. Noch gravierender als der Einwand, es handle sich um eine überaus heterogene Sammelgruppe, ist die Einsicht, daß diese formale Zusammenfassung nichts aussagt über die Deliktsschwere und über die Deliktsfolgen, über Täter-Opfer-Beziehungen und Opfergruppen. Generell gilt, daß die Schwere der Taten in den Kriminalstatistiken nicht bzw. nur unvollständig zum Ausdruck gebracht wird, weil die Statistiken auf dem Prinzip numerischer Häufigkeitszählungen beruhen, also zählen statt wägen. Innerhalb der „Gewaltkriminalität" zählt ein Mord genausoviel wie die im Rahmen einer Rauferei zweier Schüler mit einem Dritten erfolgende leichte Körperverletzung. Wegen fehlender Indikatoren zur Deliktsschwere läßt sich auch z.B. die von einigen Praktikern behauptete „neue 8
Bundeskriminalamt (Fn. 7), S. 243.
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Qualität" der Gewaltkriminalität 9 kriminalstatistisch weder belegen noch widerlegen.10 5. Bei jeder Bewertung der Häufigkeit registrierter „Gewaltkriminalität" ist ferner zu bedenken, daß der Polizei vor allem die im öffentlichen Raum stattfindende „Gewaltkriminalität" bekannt wird; zahlreiche Gewalttaten im familiären Bereich - Kindesmißhandlung, sexuellef Mißbrauch und sonstige Formen der Gewalt in der Familie - und in bestimmten Gruppen - Rotlichtmilieu, organisierte Kriminalität - werden eher selten bekannt, d.h. Tätergruppen werden vorselegiert. Junge Menschen, die häufiger Delikte im öffentlichen Raum verüben 11 und unprofessionell agieren, sind deshalb im Vergleich zu Erwachsenen unter den Tatverdächtigen systematisch überrepräsentiert. 6. Nach der derzeitigen Abgrenzung von „Gewaltkriminalität" stellt diese - innerhalb der registrierten Gesamtkriminalität - einen in quantitativer Hinsicht verschwindend geringen Ausschnitt dar. 1996 entfielen 2,7% aller in der Bundesrepublik Deutschland polizeilich registrierten Fälle (ohne Straßenverkehrsdelikte) auf „Gewaltkriminalität" (vgl. Schaubild 1). Lediglich bei einer sehr weiten Zuordnung von Straftaten zur „Gewaltkriminalität" könnten die Größenordnungen im zweistelligen Bereich liegen.12 „Gewaltkriminalität" ist danach kein quantitatives, sondern ein qualitatives Problem.
9 „Vorsätzlich werden von den Tätern schwere bis schwerste Verletzungen des O p fers .kalkuliert'; die Hemmschwelle für den Einsatz massiver körperlicher Gewalt sinkt rapide und die Bereitschaft, Waffen einzusetzen, steigt signifikant" (Burghard, Waldemar: Denn sie wissen nicht, was sie tun ..., Kriminalistik 1994, S. 108). „Daß Schüler sich geschlagen haben ..., das hat es in den zwanziger und in den fünfziger Jahren auch schon gegeben. Daß man aber, wenn der Mitschüler blutend am Boden liegt, ihm noch mit dem Stiefel ins Gesicht tritt, das ist eben die neue Qualität" (Struck, zitiert nach Schwind, Hans-Dieter. Hat unsere Gesellschaft die Gewalttäter, die sie verdient? Kriminalistik 48, 1994, S. 9). 10 Ebenso Schwind (Fn. 3), S. 62. 11 Vgl. Eisner, Erich; Steffen, Wiebke; Stern, Gerhard·. Kinder- und Jugendkriminalität in München, München 1998, S. 155 f., die feststellten, daß bei über zwei Drittel der Gewaltkriminalität Jugendlicher in München (1995) Tatörtlichkeiten „öffentliche Straßen oder Plätze", „Spiel- oder Sportstätten", „Bahnhöfe und Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs" waren. Auf „Schulen/Schulweg" entfielen weitere 14,6%, auf „Wohnhäuser, Lift, Hof" gerade 8,4%. 12 Bei zusätzlicher Einbeziehung folgender Straftatengruppen würde sich für das Berichtsjahr 1996 und bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland insgesamt folgendes Bild der „Gewaltkriminalität" ergeben (vgl. Bundeskriminalamt [Fn. 7], Tab. 1):
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Schaubild 1: Entwicklung der Gesamthäufigkeitszahl polizeilich registrierter Fälle Bundesrepublik Deutschland, alte Länder einschl. Berlin West, ab 1991 mit GesamtBerlin Gesamthäufigkeitszahl polizeilich registrierter Fälle
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* ab 1963 o h n e Straftaten im Straßenverkehr u.ohne Steateechutzdelikte. 1971 Ä n d e r u n g e n d.Erta»*ung 1990 Sonderentwicklung In Berlln*Weat. 1992: durch Erfaaeungafehler überhöht. Gebiet: B R D alt; ab 1991 mit Beriln-Oet H Z bezogen auf Je 100.000 der Wohnbevölkerung
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7. In quantitativer Hinsicht kann „Gewaltkriminalität" fast mit „gefährlicher" und „schwerer Körperverletzung" 13 sowie Raub 14 gleichgesetzt werden. Auf diese beiden Deliktsgruppen entfielen Ν cumul % „Gewaltkriminalität" Schl.Z. 8920) 179.455 2,7 Vorsätzliche leichte Körperverletzung (§ 223 StGB - Schl.Z. 214.438 5,9 2240): Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 223b StGB - Schl.Z. 2.818 6,0 2230): Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter 6.816 6,1 Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses (§§ 174, 174a, 174b, 178 StGB, jedoch ohne Vergewaltigung - Schl.Z. 1100, abzgl. Schl.Z. 1110) Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 234, 235-237, 122.358 7,9 239, 240, 241, ohne §§ 239a, 239b, 316c StGB - Schl.Z: 2300, abzgl. Schl.Z: 2330, 2340, 2350) Erpressung (§ 253 StGB - Schl.Z.: 6100) 6.791 8,0 Sachbeschädigung (§§ 303-305a StGB - Schl.Z.: 6740) 622.598 17,4 13 Von den 1996 registrierten 179.455 erfaßten Fällen der „Gewaltkriminalität" entfielen 101.333 (= 56,5%) auf gefährliche und schwere Körperverletzung (Bundeskriminalamt [Fn. 7], Tab. 1). Für die PKS wird nicht zwischen „gefährlicher" und „schwerer Körpverletzung" unterschieden. 14 Von den 1996 registrierten 179.455 erfaßten Fällen der „Gewaltkriminalität" entfielen 67.578 (= 37,7%) auf Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (Bundeskriminalamt [Fn. 7], Tab. 1).
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1996 94,1% aller registrierten Fälle von „Gewaltkriminalität" (vgl. Schaubild 2). Hierdurch werden auch Ob und Wie des Anstiegs polizeilich registrierter „Gewaltkriminalität" bestimmt; andere Kriminalitätsformen, wie etwa Mord/Totschlag, blieben - jeweils gemessen in HZ - seit Anfang der 80er Jahre konstant oder entwickelten sich, wie Vergewaltigung, rückläufig.15 Die in der Öffentlichkeit verbreitete Assoziation von „Anstieg der Gewaltkriminalität" mit „Zunahme von Mord/Totschlag" ist deshalb falsch, und zwar sowohl hinsichtlich der versuchten als auch der vollendeten Fälle. Falsch ist aber auch die Gleichsetzung von „Gewaltkriminalität" mit „erheblichen Verletzungen", weil hierbei die Bandbreite der statistisch unter Raub oder unter gefährlicher Körperverletzung subsumierbaren Sachverhalte verkannt wird. (Nicht nur) Laien ist regelmäßig nicht deutlich, daß die Deliktsgruppe „gefährliche Körperverletzung" neben der Begehung „mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs" vor allem auch die „gemeinschaftliche" Begehung umfaßt, daß sich in dieser Deliktsgruppe der PKS neben besonders brutalen und lebensbedrohlichen Begehungsformen undifferenziert auch die jugendtypische Konstellation bei Raufhändeln unter Gruppen („gemeinschaftlich") Jugendlicher auf dem Schulhof oder in der Freizeit findet16, die sich im Regelfall gerade nicht durch die von der Tatbestandsbezeichnung suggerierte besonders gefährliche Tatintention oder -ausführung auszeichnet. 8. Objektiv werden Leib und Leben wesentlich häufiger durch Handlungen verletzt, die nicht der „Gewaltkriminalität" zugerechnet werden, wie z.B. durch Straßenverkehrsunfälle. Das Risiko, durch einen Kfz-Unfall getötet zu werden, ist derzeit knapp 5 mal so groß wie das Risiko, durch ein vorsätzliches Tötungsdelikt oder durch Körperverletzung mit Todesfolge umzukommen (vgl. Schaubild 3). Obwohl unter präventiven Gesichtspunkten tödliche Straßenverkehrsunfälle deutlich besser verhindert werden könnten als Tötungskriminalität, richtet sich das allgemeine Interesse vornehmlich auf die Gewaltkriminalität. 15 Vgl. Heinz, Wolf gang: Jugendkriminalität und strafrechtliche Sozialkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Miyazawa, Baden-Baden 1995, S. 117, zu den H Z bis 1992; die HZ seit 1992 sind veröffentlicht in BKA (Fn. 7), S. 137, 143. 16 Im Rahmen ihrer Kriminalaktenanalyse von 1995 in München wegen Gewaltkriminalität polizeilich registrierten Jugendlichen stellte die Kriminologische Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei (KFG) im Bayerischen Landeskriminalamt fest, daß lediglich 21% der Gewaltstraftaten von einem Einzeltäter begangen wurden, knapp 80% von Gruppen, weitaus überwiegend von kleineren Gruppierungen von zwei bis vier Jugendlichen (vgl. Eisner u.a. (Fn. 11), S. 147 f.).
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Wolfgang H e i n z Schaubild 2: Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Gewaltkriminalität Bundesrepublik Deutschland (alte Länder mit West-Berlin, ab 1991 mit Gesamtberlin) 1963 ... 1996 Häufigkeitszahl
polizeilich
registrierter
Fälle v o n
Gewaltkrlmlnalltät
100
CEügef., s c h w e r e K V EÜRaub, raub.Erpressung § 1 Vergewaltigung Μ KV m.Todesfolge
50
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I I Mord, Totschlag
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lllilllliiiillslllilllllilllilllll 1971 Ä n d e r u n g e n d . E r f a s s u n g 1 9 9 0 S o n d e r e n t w i c k l u n g in B e r l i n - W e s t . Gebiet: B R D alt; ab 1991 mit B e r l i n - O s t
1992: d u r c h E r f a s s u n g s f e h l e r ü b e r h ö h t . H Z b e z o g e n auf je 100.000 der W o h n b e v ö l k e r u n g
KoNSTANZIfi INVENTAR
KRIMINAUTÄTSEMTWICKLUNG
K I K : H Z G E W 997
Schaubild 3: Tötungsrisiken: Tötungsdelikte, Tod durch KfZ-Unfälle, Selbsttötung im Vergleich Häufigkeitszahlen je 100.000 der Wohnbevölkerung, 1980 1996
9. N e u e Deliktsformen, die mit besonderen Risiken für die innere Sicherheit verbunden sind, sind in der P K S unterrepräsentiert und in
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ihrem Gefährdungspotential so gut wie nicht erfaßbar.17 Zu diesen Deliktsformen zählen vor allem • die Wirtschafts- und Umweltkriminalität, • die organisierte Kriminalität, • die Kriminalität der politisch Mächtigen. 18 Diesen Deliktsformen wohnen Risiken für Rechtsgüter inne, die über die Gefährdung oder Verletzung eines individuellen Opfers hinausgehen, wie beispielsweise für die Volksgesundheit, für die Wirtschaft und ihre Instrumente, für die natürliche Umwelt oder für Umweltmedien wie Boden, Luft, Wasser. Sie sind hinsichtlich der Häufigkeit ihres Vorkommens in den amtlichen Statistiken deshalb unterrepräsentiert, weil es sich bei diesen Delikten entweder um Delikte ohne unmittelbar betroffenes Opfer handelt oder aber um Delikte, die weitgehend anzeigeimmun sind. Die Häufigkeit polizeilicher Registrierung hängt hier weniger ab von der Anzeigeerstattung durch Opfer als vielmehr von den in die Kontrolle investierten Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden (Kontrolldelikte). Vor allem aber ist das Gefährdungspotential dieser Deliktsgruppen in den gegenwärtigen Kriminalstatistiken weder erfaßt noch erfaßbar. Die Fokussierung auf „Gewaltkriminalität" ist deshalb auch eine Folge der unzulänglichen statistischen Repräsentation der Gefahren durch diese neuen Kriminalitätsformen. III. „Gewaltkriminalität" im Hell- und im Dunkelfeld 1. In der Forschung besteht Einigkeit darin, daß die amtlichen Kriminal- und Rechtspflegestatistiken die „Kriminalitätswirklichkeit" weder vollständig noch unverzerrt widerspiegeln. Im Hinblick auf das Verhältnis von „Kriminalitätswirklichkeit" und ihrer kriminalstatistischen Abbildung, also dem Verhältnis von Hellfeld und Dunkelfeld, zählen zu den gesicherten Befunden der kriminologischen Forschung: (1) Die amtlichen Kriminal- und Rechtspflegestatistiken informieren nur über einen Ausschnitt der „Kriminalitätswirklichkeit", über das sog. Hellfeld. Dessen Größe wird weitaus überwiegend durch das Anzeigeverhalten Privater bestimmt.
17 Ebenso Albrecht, Hans-Jörg: Kriminalitätsumfang, Opferrisiken und Kriminalitätsfurcht in der Schweiz, in: Kunz, K.-L.; Moser, R. (Hrsg.): Innere Sicherheit und Lebensängste, Bern u.a. 1997, S. 51 ff. 18 So die Auflistung im „Programm 2000" der Kommission der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen (zitiert nach Sonnen, Bernd-Rüdeger, Kriminalpolitik 2000? Neue Kriminalpolitik 1994, S. 6).
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Auch „Gewaltkriminalität" wird, wie Opferbefragungen hinsichtlich Raub, Vergewaltigung und Körperverletzung zeigen, nur zu einem Teil, und zwar zu einem geringen Teil, angezeigt. 19 Nach Auskunft der Befragten beruhte die Nichtanzeige zu einem erheblichen Teil, nämlich bei mehr als 4 0 % der Delikte, darauf, daß der Vorgang von den Betroffenen als „nicht schwerwiegend genug" eingestuft wurde. (2) Ob und wie ein bekanntgewordener Fall (bzw. ein ermittelter Tatverdächtiger oder ein Verurteilter) statistisch erfaßt wird, hängt auch ab von den Erfassungsrichtlinien und dem Bewertungs- und Registrierverhalten der statistikführenden Stellen. Besonders bedeutsam dürfte insoweit vor allem die Nutzung von Bewertungsspielräumen bei mehrdeutigen Sachverhalten sein. Auf jeder Ebene der Registrierung, auf jener der Polizei wie jener der Gerichte, wird nach je eigenen Maßstäben bewertet, und zwar sowohl die „Tat" als auch der „Täter". Die Erfassung in der PKS tendiert zur Uberschätzung, und zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der „Taten" und der „Tatverdächtigen" als auch hinsichtlich der Schwere des Sachverhalts, d.h., im Zweifel wird, wie von Polizeibeamten selbst eingeräumt wird, der als schwerer zu beurteilende Sachverhalt angenommen (Uberbewertungstendenz) 20 . Diese Uberbewer-
19 Im Begleitforschungsprojekt „Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg" wurden bei den Mitte 1994 in den Städten Calw, Freiburg i.Br. und Ravensburg/Weingarten bei repräsentativen Stichproben durchgeführten schriftlichen Bürgerbefragungen Anzeigeraten bei Raub/versuchtem Raub zwischen 21% und 40% festgestellt, bei tätlichem Angriff/Drohung zwischen 10% und 20% (vgl. Heinz, Wolfgang; Spieß, Gerhard: Viktimisierung, Anzeigeerstattung und Einschätzung der Arbeit der Polizei durch die Bürger - Analysen anhand der Bevölkerungsbefragung in den Projektstädten, in: Feltes, Thomas [Hrsg.]: Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg, Holzkirchen/Obb. 1995, S. 103). 20 „Bei mehreren vertretbaren Interpretationen eines Verhaltens erscheint es grundsätzlich sachgerecht, zunächst von der gravierenderen Möglichkeit auszugehen, um den Beurteilungsrahmen für die folgende justitielle Wertung nicht von vorneherein unzulässig zu verengen" (Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen: Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik, dargestellt an den Delikten Mord/Totschlag, o.J., S. 46). Ferner Herold, Horst·. Ist die Kriminalitätsentwicklung - und damit die Sicherheitslage - verläßlich zu beurteilen? Kriminalistik 30, 1976, S. 340: „Soweit eine Straftat Interpretationsvarianten zuläßt, wird der polizeiliche Sachbearbeiter daher die Bewertung nach dem jeweils schwereren Delikt vornehmen, für das ein Verdacht gegeben ist. ... Diese Bewertung nach der Verdachtslage führt auch dazu, auf einen Sachverhalt das schwerere Strafgesetz unter mehreren denkbaren anzunehmen. Dringt Α mit gezogener Waffe in das Schlafzimmer des Β ein, ohne daß die Motive zu klären waren, so wird die Polizei stets von der Annahme eines versuchten Tötungsdeliktes und nicht von Bedrohung, räuberischem Diebstahl usw. ausgehen.
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tung wird, wenn sie im weiteren Fortgang des Verfahrens korrigiert wird, im statistischen Ausweis der PKS nicht zurückgenommen. In der PKS ausgewiesen wird also die polizeiliche Bewertung der Verdachtssituation. Demgemäß werden in den Kriminal- und Rechtspflegestatistiken unterschiedlich bewertete „Realitäten" und damit eine je andere „Wirklichkeit" der „registrierten Kriminalität" sichtbar. Richtung und Ausmaß der Abweichungen in diesen Definitions- und Entscheidungsprozessen wurden gerade im Bereich der Gewaltkriminalität eingehend untersucht und dokumentiert. 21 (2.1) Für Tötungsdelikte stellte Sessar 22 bei einer Auswertung sämtlicher Strafverfahren, die in den Jahren 1970 und 1971 in Baden-Württemberg wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes durchgeführt worden waren, fest, daß von den von der Polizei als vorsätzliche Tötungsdelikte definierten Sachverhalten lediglich 2 2 % auch zu einer entsprechenden Verurteilung führten. Von den vollendeten tödlichen Gewaltdelikten (einschließlich Körperverletzung mit Todesfolge) führten 45,6% zu einer Verurteilung entsprechend der polizeilichen Ausgangsdefinition, von den nichttödlichen Gewaltdelikten, also den nach polizeilicher Bewertung versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikten, kam es nur bei 15,6% zu einer diese Bewertung beibehaltenden Verurteilung. „Tödliche Gewaltdelikte gehen in erster Linie durch Einstellungen und Freisprüche, nichttödliche Gewaltdelikte durch Umdefinitionen »verloren«" , 23 (2.2) Bestätigt wurde dieser Befund durch Steitz, der 250 vorsätzliche Tötungsdelikte des Jahres 1971 aus sechs deutschen Großstädten untersuchte. Eine Verurteilung in Ubereinstimmung mit der polizeilichen Ausgangsdefinition erfolgte lediglich in 34,4% der Fälle. Die Ubereinstimmung war bei vollendeten Delikten
Zwangsläufig wird dadurch in der polizeilichen Kriminalstatistik der Umfang der schweren Kriminalität im Verhältnis zur weniger gravierenden stark überzeichnet". 21 Eingehend hierzu zuletzt Steitz, Dieter. Probleme der Verlaufsstatistik, Jur. Diss. Tübingen 1993, S. 55 ff. 22 Sessar, Klaus·. Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität, Freiburg i.Br. 1981, 63. 23 Sessar (Fn. 22), S. 64.
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mit 45,5% deutlich höher als bei versuchten Delikten (25,7%).24 In 25,2% erfolgte eine Verurteilung wegen eines anderen, also eines minderschweren Deliktes. (2.3) Hinsichtlich Vergewaltigung und sexueller Nötigung stellte Steinhilper bei einer Aktenanalyse sämtlicher in den Jahren 1977 bis 1979 im Regierungsbezirk Detmold wegen §§ 177,178 StGB durchgeführter Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige fest, daß die polizeiliche Ausgangsbewertung nur in rd. 27% auch im Urteil bestätigt wurde. 25 (2.4) Förster konnte zeigen, daß von den 1978 bis 1980 in Lübeck polizeilich wegen versuchten oder vollendeten Raubes registrierten 423 Tatverdächtigen lediglich 156 (37%) auch wegen Raubs verurteilt wurden; 19,1% der Tatverdächtigen wurden wegen minder schwerer Delikte verurteilt. 26 PKS und StVSt informieren demnach über einen Prozeß „differentieller Entkriminalisierung". Ein nicht unerheblicher Teil der von der Polizei als aufgeklärt registrierten „Taten" wird im weiteren Verfahrensgang entweder mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) oder aus Opportunitätsgründen eingestellt oder in ein minder schweres Delikt umgewertet. Gerade im Bereich der „Gewaltkriminalität" ist die polizeiliche Definition aus Sicht der Justiz alles andere als stabil. Deshalb kann und darf die „Wirklichkeit" einer Statistik nicht Vorrang vor der „Wirklichkeit" einer anderen Statistik haben, vielmehr müssen diese unterschiedlichen „Wirklichkeiten" durch vergleichende Gegenüberstellung miteinander konfrontiert und hierdurch gegenseitig kontrolliert werden. 2. Ebenfalls um eine „Konstruktion von Wirklichkeit" handelt es sich bei den Ergebnissen von Opferbefragungen, die die subjektive Wahrnehmung, Bewertung und Toleranz der Befragten widerspiegeln. Zunächst einmal bestätigen Dunkelfeldforschungen den kriminalstatistischen Befund, daß Viktimisierung durch Gewaltkriminalität ein relativ seltenes Ereignis ist. Ferner geht aus den Opferbefra24
Steitz (Fn. 21), S. 87,111. Steinhilper, Udo: Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewaltdelikten, Konstanz 1986, 65, 275. 26 Förster, Hans-Jürgen·. Der Täterschwund zwischen der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik am Beispiel der Raubkriminalität in Lübeck 1978 bis 1980. Diss. iur. Kiel 1986, S. 47, 55, 65. 25
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gungen hervor, daß Opfer von Gewaltkriminalität vor allem junge Menschen sind. (2.1) In seiner Bochumer Opferbefragung erfaßte Schwind auch Viktimisierungen durch Raub und Körperverletzung. Von den Anfang 1976 befragten 1.680 Personen gaben 0,4% an, Opfer eines (zumeist nur versuchten) Raubes geworden zu sein, 1,7% bejahten eine Körperverletzung. 27 In der Anfang 1987 durchgeführten Replikationsstudie in Bochum gaben von den 1.434 Befragten erneut nur 1,7% an, in den letzten 12 Monaten Opfer einer Körperverletzung geworden zu sein, lediglich 0,1% waren nach eigenen Bekundungen Opfer eines Raubes geworden 28 . (2.2) In den im Rahmen des Begleitforschungsprojektes „Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg" 2 9 1994 durchgeführten Bevölkerungsbefragungen von repräsentativen Stichproben der Einwohner der Gemeinden Calw, Freiburg i.Br. und Ravensburg/Weingarten waren, eigenen Angaben zufolge, zwischen 0,5% (Calw) und 1,9% (Freiburg) der Befragten in den letzten 12 Monaten Opfer eines Raubes/versuchten Raubes geworden, wobei es sich in der Mehrzahl der Fälle um einen bloß versuchten Raub gehandelt hat. Opfer eines tätlichen Angriffs/Drohung wurden zwischen 7,2% (Calw) und 8,6% (Freiburg) der Befragten; zur Gewaltanwendung kam es nur in jedem vierten bzw. jedem dritten dieser Fälle, von einer Verletzung berichtete knapp jeder vierte Betroffene. 3. Bestätigt wurde dies durch die Ende 1995 von der „Forschungsgruppe Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg" durchgeführte Opferbefragung („Opferbefragung 1995") bei einer bundesweiten, repräsentativen Stichprobe von über 20.000 Personen. 30 Von Gewalterfahrung - Raub/versuchtem Raub, tätlichem
27 Schwind, Hans-Dieter; Ahlborn, Wilfried; Weiß, Rüdiger: Empirische Kriminalgeographie. Bestandsaufnahme und Weiterführung am Beispiel Bochum („Kriminalitätsatlas Bochum"). BKA-Forschungsreihe, Bd. 8. Wiesbaden 1978, S. 199. 28 Schwind, Hans-Dieter; Ahlborn, Wilfried; Weiß, Rüdiger. Dunkelfeldforschung in Bochum 1986/87 - Eine Replikationsstudie, Wiesbaden 1989, S. 104, 115. 29 Vgl. hierzu Feltes, Thomas (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention in BadenWürttemberg. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von drei Pilotprojekten. Holzkirchen/Obb. 1995. 30 Forschungsgruppe „Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg": Viktimisierungen, Kriminalitätsfurcht und Bewertung der Polizei in Deutschland, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 81, 1998, S. 67-82.
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A n g r i f f / D r o h u n g , Vergewaltigung/versuchter Vergewaltigung - berichteten insgesamt 4,1% der Befragten (vgl. Schaubild 4). 4. In den von der „Forschungsgruppe K o m m u n a l e Kriminalprävention in Baden-Württemberg" durchgeführten Opferbefragungen, und zwar sowohl in den Gemeindebefragungen wie in der bundesweit repräsentativen Befragung, zeigte sich, daß - Männer eine höhere Opferbelastung aufwiesen als Frauen, insbesondere die unter 30jährigen Männer, - die höchste Belastung die 16-24jährigen Männer aufwiesen, und zwar zu einem Drittel aufgrund von Gewaltdelikten, - O p f e r von Gewaltkriminalität vor allem junge Menschen sind, wobei dies sowohl für Männer als auch für Frauen gilt. Vor allem jungen Menschen sollte deshalb das Augenmerk gelten, und zwar nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt als Täter, sondern zunächst und vor allem als Opfer, namentlich von Gewaltdelikten. Schaubild 4: Opferanteile und Viktimisierungsgrad nach Alter und Geschlecht Repräsentative Befragung (N=20.695), B R D 1995 A n t e i l b e z o g e n a u f B e f r a g t · In d e r jew. A l t e r s g r u p p e i n M: Männer
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IV. W a h r n e h m u n g u n d B e w e r t u n g v o n G e w a l t k r i m i n a l i t ä t 1. Daß objektive Bedrohung durch Kriminalität und deren subjektive Wahrnehmung nur einen schwachen statistischen Zusammenhang aufweisen, gehört zu den weithin gesicherten Ergebnissen der kriminologischen Forschung. 3 1 Dies gilt auch, wenn statt Reuband, Karl-Heinz: Veränderungen in der Kriminalitätsfurcht der Bundesbürger 1965-1993. Eine Bestandsaufnahme empirischer Erhebungen, in; Kaiser, Günther; Jehle, Jörg-Martin (Hrsg.): Kriminologische Opferforschung - N e u e Per31
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der Entwicklung der Kriminalität (insgesamt) die Entwicklung für ausgewählte Straftatengruppen, namentlich Gewaltkriminalität, betrachtet wird. 2. Die seit Anfang der 90er Jahre vorliegenden deliktsspezifischen Daten zur Einschätzung des Viktimisierungsrisikos (kognitive Komponente der Kriminalitätsfurcht) zeigen, daß der Anstieg der Kriminalitätsfurcht auf einige wenige Delikte beschränkt ist, namentlich auf Kfz-Diebstähle und Wohnungseinbrüche. 32 3. Die Einschätzung des Risikos, Opfer einer Straftat zu werden, ist im allgemeinen nicht sehr realistisch. Sie stimmt weder überein mit der objektiven Viktimisierungswahrscheinlichkeit, noch werden die deliktsspezifischen Risiken untereinander in ihrem Wahrscheinlichkeitsmaß zutreffend eingeschätzt. In der „Opferbefragung 1995" sollten die Befragten auf einer vierstufigen Skala - sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich, unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich - u.a. angeben, für wie wahrscheinlich sie es halten, innerhalb ihrer Wohngegend geschlagen oder verletzt, überfallen oder beraubt (Diebstahl unter Gewaltanwendung), bestohlen (Diebstahl ohne Gewaltanwendung/kein Wohnungseinbruch) oder sexuell angegriffen zu werden. Hierbei zeigte sich: - Der Anteil von „sehr wahrscheinlich/wahrscheinlich"-Antworten war bei allen Items bei Frauen höher als bei Männern. - Alte Menschen schätzten zu einem eher überdurchschnittlichen Teil ihr Opferwerdungsrisiko als (sehr) wahrscheinlich ein, obwohl, wie die Ergebnisse der Opfererbefragung zeigten, ihr Viktimisierungsrisiko am geringsten war. Lediglich bei „sexu-
spektiven und Erkenntnisse, Teilband II, Heidelberg 1995, S. 43, stellte bei Verwendung der sog. Standardfrage („Gibt es hier eigentlich in der Nähe, der unmittelbaren Nähe - ich meine, im Umkreis von einem Kilometer - irgendeine Gegend, wo Sie nachts nicht allein gehen möchten?") einen Rückgang der Kriminalitätsfurcht in den 70er und 80er Jahren sowie eine Steigerung in den 90er Jahren fest, die mit der polizeilich registrierten Kriminalität nicht parallel lief. Aber auch andere Indikatoren der Kriminalitätsfurcht ergeben für die Bundesrepublik Deutschland ein vergleichbares Bild, das deutlich abweicht von der Entwicklung der registrierten Kriminalität: Rückgang bis Ende der 80er Jahre, Anstieg in den 90er Jahren. Kury, Helmut: Zur Bedeutung von Kriminalitätsentwicklung und Viktimisierung für die Verbrechensfurcht, in: Kaiser, Günther; Jehle, Jörg-Martin (Hrsg.): Kriminologische Opferforschung - Neue Perspektiven und Erkenntnisse, Teilband II, Heidelberg 1995, S. 131 ff., zeigte anhand von Daten für verschiedene KriminalitätsfurchtItems ab 1989 ebenfalls, daß nur ein moderater Zusammenhang mit der Entwicklung der registrierten Kriminalität insgesamt bzw. der Schwer- oder der Gewaltkriminalität besteht. 32 Vgl. Reuband (Fn. 31), S. 46.
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ellem Angriff" wurde die Rate der Risikoeinschätzung in Einklang mit den Viktimisierungsbefunden kleiner. - Von den soziodemographischen Variablen war die West-OstUnterscheidung bei allen Items am signifikantesten, ausgenommen das Item „sexueller Angriff", wo sich Frauen sehr stark von Männern unterschieden. Mit der Viktimisierungswahrscheinlichkeit stimmte hingegen überein, daß - die Gruppe der 16-24jährigen hinsichtlich des VerletzungsItems und des sexuellen Angriff-Items hohe Werte aufwiesen, - der Anteil von „sehr wahrscheinlich/wahr scheinlich"-Antworten bei viktimisierten Personen höher als bei Nichtviktimisierten war und mit der Schwere des erfahrenen Delikts stieg, - mit steigendem Urbanisierungsgrad der Anteil der Personen mit „sehr wahrscheinlich/wahrscheinlich"-Antworten zunahm. V. Hat sich das Risiko, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, in den letzten Jahren erhöht? Wird von den Daten der PKS ausgegangen, dann hat sich das aufgrund von Häufigkeitszahlen (HZ) - Fälle pro 100.000 Einwohner ermittelbare Risiko, Opfer von „Gewaltkriminalität" zu werden, für die westdeutsche Bevölkerung zwischen 1980 und 1996 um gut ein Drittel (HZ 1980: 161; HZ 1996; 220; +36,5%) erhöht. Die genauere Betrachtung der Einzeldelikte zeigt jedoch, daß sich das Risiko, Opfer von Mord/Totschlag (HZ 1980: 4,4; 1996: 4,2; Veränderung: -4,5%) oder von Vergewaltigung (HZ 1980: 11,2; 1996: 7,9; Veränderung:-29,5%) zu werden, vermindert hat. Deutliche Anstiege sind dagegen festzustellen bei der quantitativ bedeutsamsten Einzelgruppe, bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung (HZ 1980:106; 1996:126; Veränderung: +18,9%) sowie - bei niedrigerem Ausgangsniveau - bei Raub, räuberischer Epressung (HZ 1980: 39,3; 1996: 81; Veränderung: +106,1%) (vgl. Schaubild 2). Ob - insgesamt gesehen - dieser Anstieg der in der PKS registrierten Kriminalität auch einen Anstieg des tatsächlichen Risikos indiziert, ist damit nicht geklärt. Denn Veränderungen (wie Konstanz) der registrierten Kriminalität können darauf beruhen, daß sich - die (wirkliche) Kriminalität, - die informelle soziale Kontrolle, insbesondere die Anzeigebereitschaft, - die Verfolgungsintensität bzw. die Erledigungspraxis der Träger formeller Sozialkontrolle,
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- Gesetzgebung oder Rechtsprechung, - die Erfassungsgrundsätze für die Statistiken oder das Registrierverhalten der statistikführenden Stellen verändert haben. Ein Rückschluß von der Entwicklung der „registrierten" Kriminalität auf die „Kriminalitätswirklichkeit" ist deshalb nur unter der zumeist stillschweigend erfolgenden - Annahme möglich, sämtliche neben der Kriminalitätsentwicklung maßgebenden Einflußgrößen auf registrierte Kriminalität seien im Vergleichszeitraum konstant geblieben. Unter den zahlreichen Faktoren, die neben und unabhängig von der „Kriminalitätswirklichkeit" die statistischen Daten beeinflussen können, kommt einem möglichen Wandel der Anzeigebereitschaft herausragende Bedeutung zu. Daß die Anzeigebereitschaft über Jahrzehnte hinweg konstant geblieben ist, kann nicht angenommen werden. Folge dieser Einsicht müßte vor allem sein, die amtlichen Statistiken durch Dunkelfeldforschungen zu ergänzen, die es erlauben, im Bereich der von Privaten erlittenen Opfersituationen etwaige Veränderungen der Anzeigebereitschaft den Größenordnungen nach zu bestimmen. Im Unterschied zu zahlreichen ausländischen Staaten fehlen für die Bundesrepublik derzeit noch derartige Dunkelfeldforschungen. Wie belangvoll dies sein kann, zeigt z.B. die vergleichende Gegenüberstellung von Daten des seit 1973 alljährlich durchgeführten US-amerikanischen National Crime Victimization Survey (NCVS) und des Uniform Crime Report (UCR) des F B I für den Zeitraum 1973-95. Schwere „Gewaltkriminalität" (Mord, Vergewaltigung, Raub und schwere Körperverletzung) ist nach den US-amerikanischen Opferdaten auf dem niedrigsten Stand seit 1973, nach den Daten des U C R ist sie dagegen in diesem Zeitraum kontinuierlich um 116% gestiegen.33 Gäbe es die Daten des N C V S nicht, würde vom U C R wahrscheinlich - und fälschlich - auf einen starken Anstieg der schweren „Gewaltkriminalität" geschlossen werden. Für Deutschland fehlen derartige Opferuntersuchungen. Ausländische Untersuchungen zeigen, daß die Anzeigebereitschaft national unterschiedlich hoch ist und sich im Zeitverlauf unterschiedlich verändert. Angesichts dessen lassen sich ausländische Forschungsergebnisse kaum auf deutsche Verhältnisse übertragen. Deshalb läßt sich für die hiesige Situation keine empirisch begründete Aussa-
Rand, Michael R.; Lynch, James P.; Cantor, David: Criminal Victimization, 197395, Bureau of Justice Statistics - National Crime Victimization Survey, Washington, D.C., 1997, S. 2 f., Schaubild 2. 33
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ge machen zur Entwicklung des Anzeigeverhaltens im allgemeinen und hinsichtlich einzelner Deliktsgruppen im speziellen. Die Auswirkungen des Einflußfaktors „Anzeigebereitschaft" sind derzeit quantitativ nicht abschätzbar. Spekulationen und Vermutungen - „höhere Empfindlichkeit und Verletzbarkeit der Gesellschaft sowie geringere Toleranz gegenüber Äußerungen und Ausbrüchen roher Gewalt" 34 - erscheinen plausibel, ersetzen Forschungen jedoch nicht. Deshalb sind Aussagen hinsichtlich der Konstanz der für einen Rückschluß von „registrierter" auf „wirkliche" Kriminalität maßgebenden Faktoren lediglich auf einer empirisch ungesicherten Plausibilitätsebene möglich, nicht aber auf einer Ebene empirisch begründeten Wissens. VI. „Gewaltkriminalität" - ein Jugenddelikt?
1. Methodische Voraussetzungen hinsichtlich der Ermittlung von Struktur und Entwicklung der tatverdächtigen und verurteilten „Gewalttäter" Umfang und Struktur der registrierten Tätermengen werden beeinflußt durch Größe, Zusammensetzung und Entwicklung der Bevölkerung. Zur Kontrolle demographischer Einflüsse müssen deshalb die absoluten Zahlen über Tatverdächte bzw. Verurteilte in Beziehung gesetzt werden mit jeweils 100.000 der altersgleichen Wohnbevölkerung, d.h. es müssen Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) bzw. Verurteiltenbelastungszahlen (VBZ) berechnet werden. Dies setzt voraus, daß die Bezugsgröße, hier die zur Wohnbevölkerung gemeldeten Personen, hinreichend genau bekannt ist. Unvermeidlich und hinnehmbar sind hierbei Fehler, die sich dadurch ergeben, daß es sich um fortgeschriebene Bevölkerungszahlen handelt, d.h. um solche, die seit der jeweils letzten Volkszählung fortgerechnet worden sind. Weitaus problematischer sind indes systematische Unterschätzungen der Bezugsgröße, weil in ihr nicht berücksichtigt sind - nicht meldepflichtige Personen, insbesondere ausländische Durchreisende und Touristen sowie grenzüberschreitende Berufspendler, ferner Angehörige der Stationierungsstreitkräfte und der ausländischen diplomatischen und konsularischen Vertretungen mit ihren Familienangehörigen, - zwar meldepflichtige, aber nicht gemeldete Personen, insbesondere sich illegal Aufhaltende. 34
Kaiser (Fn. 3), S. 585.
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Im Unterschied zur deutschen Wohnbevölkerung ist die Bezugsgröße für die nichtdeutschen Tatverdächtigen/Verurteilten35 nicht hinreichend genau bekannt. Wenn, wie dies in den letzten Jahren geschehen ist, sowohl die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen36 als auch der Anteil der nicht bei den Einwohnerbehörden registrierten Ausländer37 zunimmt, dann führt dies zu einer systematischen, stetig stärker werdenden Uberschätzung von nicht entsprechend differenzierten TVBZ; entsprechendes gilt für die VBZ. Valide Belastungszahlen sind deshalb lediglich für die Teilgruppe der deutschen Tatverdächtigen und Verurteilten möglich. 2. Die Belastung der wegen „Gewaltkriminalität" ermittelten deutschen Tatverdächtigen/Verurteilten 2.1 Strukturelle Unterschiede - Alter und Geschlecht Die vergleichende Gegenüberstellung von TVBZ und VBZ der Deutschen für 1996 (vgl. Schaubilder 5 und 6) zeigt: - Die Belastung der weiblichen Tatverdächtigen und Verurteilten ist um ein Mehrfaches geringer als die der jeweiligen männlichen Altersgruppe. - Die Belastungsspitzen liegen bei Männern und Frauen in unterschiedlichen Altersgruppen, ausgenommen Raub/Erpressung. - Die Altersgruppe der männlichen Jugendlichen weist bei Raub/ Erpressung die höchste Belastung auf; bei gefährlicher und
35
Sowohl in der Bevölkerungsstatistik als auch in der PKS und der StVSt gelten als „Ausländer" alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 G G sind. Dazu zählen auch Staatenlose und die Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Deutsche, die zugleich eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen, gehören nicht zu den Ausländern. 36 Der Anteil der Nichtdeutschen unter den ermittelten Tatverdächtigen stieg (in den alten Bundesländern einschließlich Berlin) von 16,6% (1984) auf 36,2% (1993) an und ist seitdem auf 31,1% (1996) zurückgegangen (vgl. BKA [Hrsg.]: Polizeiliche Kriminalstatistik 1996, S. 92). 37 Nach der jüngsten Untersuchung der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei betrug der Anteil der in Bayern melde rechtlich nicht erfaßten nichtdeutschen Tatverdächtigen 1983 49,5% und 1995 53,5% (vgl. Steffen, Wiebke: Ausländerkriminalität, in: Remmele [Hrsg.]: Brennpunkt Kriminalität, München 1996, S. 68-94 [S. 75]). Nach den in der PKS veröffentlichten Daten (vgl. BKA [Hrsg.]: Polizeiliche Kriminalstatistik 1996, S. 124) dürfte für 1996 der Anteil der im Bundesgebiet insgesamt melderechtlich nicht erfaßten nichtdeutschen Tatverdächtigen zwischen 30% und 40% betragen („illegaler" Aufenthalt: 21,9%; „Touristen/Durchreisende": 8,7%; „Sonstige", wie z.B. Flüchtlinge, nicht anerkannte Asylbewerber mit Duldung: 23,0%, von denen ein nicht näher bestimmbarer Teil melderechtlich ebenfalls nicht erfaßt sein dürfte).
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schwerer Körperverletzung, bei Mord und Totschlag sowie bei Vergewaltigung dominieren dagegen die männlichen Heranwachsenden. - Bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung weisen weibliche Jugendliche eine deutlich höhere Belastung auf als weibliche Heranwachsende. Bei Mord/Totschlag liegt die Belastungsspitze nicht bei den Heranwachsenden, sondern bei den Jungerwachsenen. Schaubild 5: Deutsche Tatverdächtige und Verurteilte (Jugendliche, Heranwachsende, Jung-/Vollerwachsene) 1996 Mord und Totschlag; Vergewaltigung HZ Je 100.000 der deutschen Wohnbevölkerung
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Mord, Totschlag -männliche TV/VU
H v U : Verurteilte Π TV: Tatverdächtige Vergewaltigung männliche T V / V U
weibliche T V / V U
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TV: Tatverdacht! genbelastungszahl VU: Verurtelltenzahl, bez. auf je 100.000 der deutschen Wohnbev. J: Jugendliche (14 b.u. 18 J.) H: Heranwachsende (18 b.u. 21 J.) JE: Jungerwaeheene (21 b.u. 25 J.) VE: Votlerwachsene (25 J. u. älter) Gebiet: Alte Bundesländer und Land Berlin.
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Konstanz» INV£ntao Κ BJ Ml H*LI UTS e KTWICKLUNQ
Die relative Bedeutung der Gewaltkriminalität innerhalb der Gesamtbelastung der einzelnen Altersgruppen zeigt Tabelle 1: - Der auf Gewaltkriminalität entfallende Anteil an der gesamten Kriminalitätsbelastung der einzelnen Altersgruppen ist am größten bei den männlichen wie bei den weiblichen Jugendlichen, jeweils dicht gefolgt von den Heranwachsenden. - Der auf Gewaltkriminalität entfallende Anteil an der gesamten Kriminalitätsbelastung der einzelnen Altersgruppen ist bei Männern mehr als doppelt so groß wie bei den Frauen. - Dennoch ist Jugendkriminalität nicht Gewaltkriminalität, denn nur ein kleiner Teil der Jugendkriminalität - bei männlichen Jugendlichen knapp 13% - entfällt auf Gewaltkriminalität. Der weitaus überwiegende Teil besteht aus Kleinkriminalität.
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Gewaltkriminalität in Deutschland Schaubild 6: Deutsche Tatverdächtige und Verurteilte (Jugendliche, Heranwachsende, Jung-/Vollerwachsene) 1996 Raubdelikte; Gefährliche und schwere Körperverletzung H Z Je
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