Politik als Wissenschaft: Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428521821, 9783428121823

Die Autoren der vorliegenden Festschrift ehren einen Wissenschaftler, der immer wieder neue Problemfelder der Politikwis

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German Pages 656 [659] Year 2006

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Politik als Wissenschaft: Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428521821, 9783428121823

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Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag

Politik als Wissenschaft Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Michael Take

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorf! GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-12182-1 978-3-428-12182-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag will einen angesehenen Politologen ehren - einen Wissenschaftler, der eine fachliche Spezialisierung zu vermeiden verstand, indem er sich immer wieder neuen Problemfeldern der Politikwissenschaft zuwandte. Daraus erklärt sich der anspruchsvolle Titel „Politik als Wissenschaft". Untergliedert ist die Schrift analog der traditionellen Dreiteilung der Disziplin, die noch die Lehre strukturiert, während sich der wissenschaftliche Diskurs auf engere Forschungsfelder konzentriert hat. Die Trilogie dient deshalb nur als Rahmenorientierung, um den fachlich und gegenstandsbezogen ausdifferenzierten Kernbereich der Politikwissenschaft mit seinen heutigen Forschungsfeldern exemplarisch aufzuzeigen. Freilich steht dieses Unterfangen nur für eine allgemeine Intention. Denn ebenso wenig wie ein Politikwissenschaftler ernsthaft für sich beanspruchen kann, seine Disziplin in ihrer gesamten Breite erfassen zu können, so verfehlt wäre es, die qualitätsvollen Beiträge als allein beispielgebend für die Forschungsgebiete der Politikwissenschaft im Rahmen der Sozialwissenschaften herausstellen zu wollen. Der Titel der Festschrift erinnert an Max Webers berühmten Vortrag „Politik als Beruf. In ihm wird bekanntlich die politische Professionalisierung thematisiert, wonach die traditionellen Honoratioren-Politiker sukzessive durch Politiker abgelöst wurden, die als Berufspolitiker nicht mehr für, sondern von der Politik leben. Auch der Politologe als Forscher und Lehrer lebt nicht (nur)för, sondern grundsätzlich von der Wissenschaft; auch er übt einen Beruf aus, der analog zu Webers Forderung an den Politiker vor allem Verantwortung und Augenmaß verlangt, aber ebenfalls Leidenschaft im Spektrum einer engagierten Wissenschaft. Nicht die isolierte Perspektive des unbeteiligten Beobachters kennzeichnet die Position der Politikwissenschaft. Vielmehr zielt die Disziplin auf die politische Realität, liegt doch ihren Fragestellungen immer ein Erkenntnisinteresse zu Grunde, das bei unserem Jubilar als ein emanzipatorisches bezeichnet werden kann. So ergriff Wilfried Röhrich stets engagiert Partei: wie in der Demokratieforschung vom Verständnis einer par-

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Vorwort

tizipatorischen Demokratie aus, ohne hierbei die Frage zu vernachlässigen, wie sich das Leistungssoll komplexer politischer Systeme mit dem demokratischen Emanzipationsziel verbinden lässt. Darüber hinaus hat sich unser Jubilar auch der politischen Praxis zugewandt und damit das starre Schema der Unterscheidung von Theorie und Praxis überwunden. Das Terrain der Macht, auf dem sich die politische Gestaltung vollzieht, müsse man, so Wilfried Röhrich, selbst betreten haben. Wer nie in Politik involviert gewesen sei, werde diese kaum verstehen. In diesem Rahmen hat sich unser Jubilar der wissenschaftlichen Politikberatung gewidmet: immer bereit, sich in den Prozess der Informationsbeschaffiing, der Analyse der Probleme und der Vorbereitung von Entscheidungen einbeziehen zu lassen. Hinzu kommt, dass er nicht nur mit seinen zahlreichen wissenschaftlichen Schriften auf die Praxis einwirkte. Er hat sich auch explizit in vielen populären Arbeiten an eine breite Öffentlichkeit gewandt. Insgesamt kann Wilfried Röhrich auf eine ungewöhnlich vielseitige Publikationstätigkeit zurückblicken, wie es die Zusammenstellung seiner Buchveröffentlichungen am Ende dieser Schrift zeigt: eine große Zahl von Arbeiten - inklusive einschlägiger Studienbücher - sowohl zur Politischen Ideengeschichte und zur Analyse politischer Systeme als auch zur Internationalen Politik. Im Jahre 2000 erschien mit seinem umfangreichen Buch „Herrschaft und Emanzipation. Prolegomena einer kritischen Politikwissenschaft" eine „Art Summa" (Anton Pelinka): die Summe seines in vielen Jahren erarbeiteten Verständnisses der Politikwissenschaft - ein Werk, in dem sich seine eigene Bandbreite und die der Disziplin spiegeln. Auch dieses Buch bedurfte wie die zahlreichen Schriften des Jubilars in allen ihren Facetten eines Autors, der, wie Wilfried Röhrich, in den Mittelpunkt seiner Reflexionen stets das Prinzip Verantwortung gestellt hat, also die Doppelfrage, vor wem und wofür Verantwortung zu tragen ist. Entsprechend dem Spektrum der Publikationen von Wilfried Röhrich ist auch diese Festschrift gestaltet. Im ersten Problemfeld, dem der Politischen Theorien und der Ideengeschichte, geht es u. a. um eine Vielzahl von Denkern der Politik und der Soziologie, deren Ideen zur Realgeschichte im Verhältnis von Herausforderung und Antwort stehen, wobei die Antwort wiederum sowohl eine theoretische als auch eine reale Herausforderung beinhalten kann. Es ist jedoch nicht nur der Bezug zur jeweiligen Epoche, der vorherrscht; den Erkenntnissen kommt auch in-

Vorwort

soweit eine Epochen übergreifende Bedeutung zu, als frühere Probleme den heutigen ähneln. Mehr noch: Die Orientierung hier vereinter Beiträge an den Problemlagen der Gegenwart zeigt, dass politische Fragen nicht nur vor der Notwendigkeit eines neuen Denkens stehen, sondern dass ihre Interpreten auch mit Erfolg daran gegangen sind, früheres, teils verschüttetes Denken neu zu beleben. Im zweiten Bereich, dem der Politischen Systeme und der Politikfelder, wird ersichtlich, dass sich die Forschung von großen Entwürfen verabschiedet und theoretischer wie empirischer Bescheidenheit Platz gemacht hat. Das Politische System ist zwar nur ein wissenschaftliches Konstrukt, das allein einen ausgewählten Ausschnitt aus der Realität vermittelt, der auf inhaltlichen und methodischen Überlegungen beruht, aber auch Bewertungen des Autors erkennen lässt. Gleichwohl sind solche Ausschnitte in einem Maße komplex, dass sich die Forschung auf überschaubare Politikfelder konzentriert hat. Das gilt auch für den Vergleich politischer Systeme im Zeichen der Systemkonkurrenz und insbesondere für den empirischen Leistungsvergleich anhand messbarer Indikatoren in der Produktions-, der Distributions- und der Legitimationssphäre. Die erwähnte Bescheidenheit und die Konzentration auf Politikfelder sind zu begrüßen, ermöglichen sie doch, wie die Beiträge zeigen, intensive Forschungserträge. Im dritten Bereich schließlich, in dem der Internationalen Politik und der Außenpolitik werden aus unterschiedlichen Perspektiven Strukturen, Probleme und Entwicklungstendenzen der neuen Weltpolitik präzise aufgezeigt. Aber auch hier lässt sich deutlich erkennen, dass sich das Forschungsinteresse auf Subsysteme im internationalen System verlagert hat - konkret vor allem auf die Europäische Union, der gleich sechs Beiträge gewidmet sind. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und nach den Ereignissen des Herbstes 1989 in Mittel- und Osteuropa steht die EU vor einem weitreichenden Entwicklungsprozess. Ein Europa demokratischer Rechtsstaaten soll die architektonische Leitlinie bilden. Es stellt sich jedoch auch die Frage, ob in einer noch nicht konsolidierten Europäischen Union die Erweiterung um zehn bzw. zwölf Staaten Mittel- und Osteuropas mit noch anhaltender Transformation zur Demokratie nicht zu übereilt erfolgte und ob durch die neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten nicht eine asymmetrische EU-Machtform erwächst. Noch ein Wort des Dankes: Ich danke dem Verlag Duncker & Humblot für die gute Zusammenarbeit, und ich danke den Autoren, die mit

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Vorwort

ihren vortrefflichen Beiträgen die Spannweite der Thematik eindrucksvoll dokumentieren. Zu danken habe ich meiner Kanzlei für vielfache Hilfe und Frau Anna-Doris Lükewille, die sich der Redaktion der Festschrift vollauf widmete. Vor allem aber danke ich Wilfried Röhrich, dem „Wissenschaftler und Lehrer einer realen Humanität" (Dieter S. Lutz) für die engagierte Politikwissenschaft, die er uns, seinen ehemaligen akademischen Schülern und Schülerinnen, vermittelte, sowie für seine Kollegialität und Freundschaft. Ein Hinweis zum Text: Der Verlag hat den Autoren freigestellt, ihre Beiträge in der alten oder der einst neuen Rechtschreibung zu verfassen. Da inzwischen die neueste Orthographie die neue eingeholt hat, können beim Bemühen, die neueste Rechtschreibung in kürzester Zeit in die relevanten Beiträge einzubringen, ältere, vertraute Schriftbilder übersehen worden sein. Ich bitte um Verständnis. Kiel, im August 2006

Michael Take

Inhaltsverzeichnis I. Politische Theorien und Ideengeschichte Wolf-Dieter Narr Vom Fascinosum der Theorie und seiner steilen Klettertour

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Walter Reese-Schäfer Die Wiederbelebung des Vertragsarguments in der politischen Philosophie

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Wolfgang Kersting Demokratie und öffentlicher Vernunftgebrauch. Kant und Habermas über Publizität und Diskurs

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Dirk Kaesler Klassiker und Post-Klassiker in Geschichte, Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Soziologie

97

Richard Saage Die Vermessung der Utopia des Thomas Morus durch Karl Kautsky

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Carsten Schlüter-Knauer Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen und der politische Ursprung des „Zeitkerns der Wahrheit"

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II. Politische Systeme und Politikfelder Sven Papcke Über die Herkunft der Gewalt

163

Klaus Faupel Dimensionen der Souveränität

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Inhaltsverzeichnis

Karl-Heinz Breier Die Wahrnehmung des Politischen in ihrer Bedeutung für die Politische Bildung

203

Klaus von Beyme Die politische Klasse als dynamisiertes Konzept der Elitenforschung

217

Ο twin Massing „Pluralistische Vergesellschaftung" und „Pluralismustheorie" auf dem Prüfstand methodenkritischer Einwände

233

Claus Leggewie Diffusionsstress: Die transnationale Herausforderung der vergleichenden Politikwissenschaft

267

Gerhard W. Wittkämper Die Strategie der Regionalentwicklung durch regionale Strukturpolitik. Ein Beitrag zur Transformationspolitik mit Blick auf die Russische Föderation

285

Hans Herbert von Arnim Der gekaufte Abgeordnete. Nebeneinkünfte und Korruptionsproblematik

317

Martin Kriele Rechtsphilosophische Anmerkungen zum Islam-Konflikt

335

Michael Wolffsohn Aus Geschichte lernen? Zur Relevanz der historischen Dimension

343

Karl Georg Zinn Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Zur politischen Ökonomie einer Gesellschaft in der Wohlstandskrise

357

Michael Take Steuergerechtigkeit und Steuermoral

379

Fritz Vilmar Kunstpolitik im geteilten und vereinten Deutschland. Ein Kapitel Ideologiekritik

405

Inhaltsverzeichnis

III. Internationale Politik und Außenpolitik Dieter Senghaas Seismographische Erinnerung an die Zukunft

423

Johan Galtung The Evolution of Peace Studies and the Geopolitical Context. On the Cold War Impact on Peace Studies

429

Björn Engholm Globalisierung und Ethik

441

Wilfried von Bredow Das Konzept des Citizen Soldier in den Vereinigten Staaten

449

Egon Bahr Deutschlands nationale Identität und seine Bedeutung fur Europa

465

Werner Weidenfeld Krise als Erneuerungschance - das europäische Projekt auf dem Weg zur transnationalen Staatlichkeit

481

Wichard Woyke Die erweiterte Europäische Union als internationaler Akteur

491

Knut Ipsen Die Zukunft des EU-Verfassungsvertrags

507

Winfried Böttcher Eine Föderation neuer Art. Zur Struktur Europas

519

Ernst Kuper Die Europäische Union: von der Handels- zur Interventionsmacht? .. 539 Theodor Leuenberger Europa weiter denken Anton Pelinka Über den Einfluss des Religiösen. Anmerkungen zur Renaissance religiös motivierter Politik

557 565

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Inhaltsverzeichnis

Bassam Tibi Die Rückkehr des Sakralen als politisierte Religion und die postbipolare Weltpolitik. Das Beispiel des Irak-Krieges und seiner Folgen

571

Hartmut Elsenhans Ein heißer Krieg im Kalten Krieg: Frankreichs Algerienkrieg

595

Rainer Tetzlaff Afrika in der Armutsfalle: Big Push als Antwort auf Afrikas „big problems"?

617

Udo E. Simonis Auf dem Wege zu einer Weltumweltpolitik

635

Wilfried Röhrich: Buchpublikationen

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Autorenverzeichnis

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I. Politische Theorien und Ideengeschichte

Vom Fascinosum der Theorie und seiner steilen Klettertour Mit der Illustration eines deutschen Lagers der Gegenwart Von Wolf-Dieter Narr I. Schildbürgerliche Einstimmung 7. Fester Hausbau Einst bauten die kunstfertigen Schildbürger ein Haus. Wahrlich eine feste Burg. Als sie einziehen wollten, stellten sie fest, dass sie im Dunkeln tappten. Der Befund eines umfangreichen und teuren Gutachtens von einer eingeführten Beratungsfirma bestand in einem selten eindeutigen Ergebnis: Sie, die baukräftigen Bürger, hatten vergessen, in den geschlossenen Mauern Lücken zu lassen, damit sie hätten Fenster einfügen können. Die findigen Schildbürger waren nachdenklich, nicht verlegen. Das Herz der Finsternis war, so deuchte ihnen, leicht aufzuhellen. Sie mussten nur Sonnenlicht in Eimern sammeln. Und siehe da: fiat lux! Es werde Licht! Irritiert erkannten sie indessen, dass das schöpfungsgeschichtliche „et fiebat lux" - „und es ward Licht" - nicht folgte. Keine Gutachtenfirma zeigte sich in der Lage, dieses prometheische Problem zu lösen. Sie trugen Eimer und Eimer ins Haus, die lange in der Sonne gestanden hatten. Die Räume wurden jedoch nicht hell. Einen überirdischen Keller brauchten die Schildbürger aber nicht. Also zerfiel das geschlossene Gebäude. Erst im Zerfall streckte sich lichtgrün das überall sprießend wohnende Unkraut. Moral der Geschieht': Wären die Schildbürger nicht besser baugefahren, wenn sie vorweg herausgefunden hätten, was zu einem Haus gehört? Hätten sie nicht wissen können, warum Licht sich nicht in Eimern sammeln lässt, obwohl diese sich nach langer Sonnenbestrahlung warm anfühlten? Wir als die Nachgeborenen der Schildbürger können uns diese „Moral" nur erschließen, wenn wir den Schildbürgerstreich auf unsere Streiche und deren veränderte Kontexte übertragen. Beispiel DDR (das war einmal 40 Jahre lang ein deutscher Staat). Dort fand sich schon in der zweiten Namenssilbe „Demokratie" groß geschrieben. Nur sie hatte

Wolf-Dieter Narr

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ob der inneren und äußeren Mauern keinen Ort. Also trug man 40 Jahre lang Eimer ideologievoll ins staatssozialistische Haus. Was Wunder: die Bürger wanderten aus. Beispiel BRD, die lustige Schwester der DDR, die darum ihr Erbe verwandelnd übernommen hat. Sie existiert noch (wie jüngst infolge eines merkwürdigen Ballereignisses weltweit medial bekannt geworden ist). Auch sie bezeichnete sich, wenn schon nicht in ihrem Namenskürzel, so doch in ihrer Verfassung als Demokratie, wenigstens als repräsentative, will sagen eine, die von einigen Hundert Frauen und Männern gegenwärtig wird, die von einer Vielzahl von Menschen fälschlicherweise wie ein Subjekt „das Volk" genannt - gewählt wird. So behauptet eine Schrift, genannt Verfassung, die voll von Normen steckt. Diese sind allerdings grammatisch falsch und täuscherisch im Indikativ gehalten. Werden die Bürgerinnen und Bürger jedoch so am politischen Geschehen beteiligt, dass sie verstünden, was sie wählten und was warum wie ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten von ihren Bedürfnissen und Interessen gegenwärtig machten? Verstehend wenigstens die Repräsentantinnen und Repräsentanten, die im Bundestag verfassungsangeblich Demokratie aktualisieren? Mediendemokratie, Akzeptanzmanagement, Politikverdrossenheit, Überforderung der Wähler und der Abgeordneten ... Die Liste der ausgenüchterten Worte voll der frustrierten (Selbst-)Täuschungen ist lang. Und wo bleiben innovativ die Schildbürger, wo die Einsichten in die Gründe und Hintergründe, dass bestenfalls so etwas stattfindet wie eine mehr oder minder wichtige Zirkulation des fuhrenden Personals? Warum werden längst nötige Verfassungsreformen an Haupt und Gliedern nicht einmal debattiert, wenn man denn die Bedingungen liberaler Demokratie in veränderten Umständen endlich herstellen wollte? Keinem Schildbürger ist zu empfehlen, sich von Leuten Rat zu holen, die Politik(wissenschaft) als Beruf betreiben. 2. Pazifistisch

interessierte

Glockenversenkung

Ein Krieg war ausgebrochen. Einst, als man schon Bleikugeln, Pulver und Gewehre erfunden hatte, indes noch über eher primitive Formen verfügte, Kriegsrüstungen zu produzieren. Die Schildbürger waren darum klug beraten, sich um die Glocke ihrer Kirche zu besorgen. Gefahr war im Verzug, diese würde von dazu staatsbeauftragten Soldaten aus ihrem Turm gehängt und zur Glockenschmelze abtransportiert. Damit Kugeln daraus gegossen, Kanonen damit würden. Das Ende aller Glockenanstrengung. Das Ende allen Glockenklangs. Das Ende aller geglockten Ordnung. Listig, als wären sie schon bei Odysseus in die Schule gegan-

Vom Fascinosum der Theorie

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gen, besannen sich die Schildbürger. Sie hingen ihre Glocke ab. Das Turmloch gähnte hohl, als die staatlichen Glockenräuber anrückten. Dabei ließen es die Schildbürger aber klug nicht bewenden. Um die Glocke zu verbergen, dass niemand sie sähe, machte sich die Schildbürgerelite mit einigen eingeschworenen starken Knechten daran, die Glocke im nahen, breitlangen und tief unergründlichen See zu versenken. Damit sie diese wieder entbergen und zurück an ihren Glockenhaken hängen könnten, wenn Krieg und Kriegsgeschrei vorbei und verklungen wären. Um die wunderschön geschwungene und schwengelgeschlagen weit tönende Glockenvase wieder zufinden, kerbte der Schildbürger Größte - und seine Kollegen berieten ihn flüsternd nah - geradezu hundertprozentig exakt in den Kahn, mit dem sie seewärts hinausgefahren, die Stelle an der sie die Glocke mit dem langen Seil tief hinunter ins trüb verschlingende Wasser ließen. Den Knechten schwollen angestrengt die Adern. Alles schien geglückt. Der Krieg war vorbei. Der Frieden sonnte. Die Glocke lag sicher gerettet tief unten im See. Jetzt war es Zeit, den Frieden mit gerettetem Glockenklang einzuläuten. So sehr die Schildbürger ihren Obersten bestürmten, so sehr die Mitfahrer, die Berater und Knechte sannen, diskutierten und stritten, dass sich darauf fast ein eigener Krieg unter den Schildbürgern entwickelte - , vergebens durchquerten sie den See: vorwärts, rückwärts, seitwärts, hin und herwärts. Die politisch verantwortlichen Schildbürger fanden die exakt geritzte Kerbe sofort, obgleich sie vom vielen Betatschen allmählich schier graute. Sie konnten jedoch den Ort im See nicht herausfinden, an dem sie mit Hilfe der genauen Kerbenmarkierung, dem Indikator schlechthin, die Glocke in den Schlamm abgeseilt hatten. Die „Moral" aus der Geschieht': was hülfe es den Menschen, wenn ihr Kopf mitten in ihren „Wissensgesellschaften" vor Informationen nur so überquölle und es gebräche ihnen doch am Maß, das ihnen zu urteilen erlaubte? Die Verlässlichkeit der Information, der genau geritzten Kerbe also, stand außer Frage. Das, was man im methodologischen Deutsch „Reliability" nennt. An der angemessenen Grundlage haperte es jedoch, das perfekt verlässliche Datum verstehend auszulegen, an dem also, was man deutsch-analog „Validity"!heißt. Es lockte mich, der ich dem Stamme der Schildbürger angehöre, eine ihnen würdige Theoriegeschichte zu verfertigen. All unsere Theorienot dass wir des Theoriebildens bedürfen, dass wir uns theoriefix wie Toren benehmen - , könnte man an unseren vorbildlichen Schildbürgerinnen und Schildbürgern abhandeln. Zur ersten Einstimmung mögen nacht-

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dunkles Haus, eimergesammeltes Licht, kerbengenaue Glockenversenkung und ewiger Glockenverlust infolge des Basismangels allen Urteils genügen. In jedem Fall gilt: Theoretisieren ist ebenso angesagt, wie das Nachdenken darüber, warum so viele modisch machtvolle und reputationsschwere „Theorien" in kürzer oder länger angelegte Sackgassen täuschen. II. Akademische Einstimmung Wider die frühreife Theoriesucht: Auf meine alten Tage privilegiert, kommen immer erneut junge intelligente Erwachsene zu mir, ihr erstes Examen haben sie mit Bravour hinter sich gebracht. Nun suchen sie meinen gutachterlichen Rat, wie sie sich am besten an ihr Opus magnum, eine Dissertation, machten und, so das Thema gewählt ist, wie sie dieses angemessen traktierten. Fast alle sind theoriefasziniert (das Tremendum von Theorien, also ihr Bedrohliches, ist ihnen, taujung unschuldig, schier verborgen). Das ist wohl verständlich. Hat es nicht, europäisch begrenzt argumentiert, seit den Vorsokratikern bis auf unsere Tage treffliche Frauen und Männer gegeben, die alles das, was wirklich wirklich ist ohne verräterische Tautologien kommt man selten aus - , tiefloteten und die ihre Einsichten auf verständliche, uns selbst Verstehen machende Begriffe brachten? Wie könnten wir anders, es sei denn wir überholten uns jeden Tag als moderne Natur- und Ingenieurswissenschaftler selber, wie schon die Mönche der Renaissance von Chartres im 12. Jahrhundert wussten, als auf „den Schultern von Riesen" zu stehen, ein klein wenig weiter zu lugen und veränderte Bedingungen der Kontexte zu beachten. Als wären wir sonst über Marx oder Weber hinaus! Hinzukommt: als Promovierende, solche, die sich - hoffentlich - mit wissenschaftlicher Arbeit auch als Personen weiter bewegen, suchen sie das alte Problem aller Wissens- und Wahrheitssuche „in den Griff zu bekommen: das alte panta rhei. Alles fließt, gib mir den Punkt, wo ich stehen kann. Es ist aus Goethes Faust, es ist schon seit den Vorsokratikern bekannt. Alles fließt. Wo gibt es das feste Ufer, von dem ich gesicherte Perspektive, wichtigere von weniger wichtigeren Ereignissen aus dem Strom orten und einordnen könnte? Wie vermöchte ich gründlicher die Dynamik des Stroms, ihre Motivationen und Richtungen ausfindig zu machen?

Vom Fascinosum der Theorie

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III. Das Fascinosum der Theorie So verständlich die Suche nach einem hoch gewölbten festen Dom der Theorie ist, dessen eigenständiger „Kaplan" man sein könnte, so verständlich das Fascinosum angesichts riesiger theoretischer Paläste großer Gedankenarchitekten ist, denen man neu schaffend nachfolgen möchte, der immer erneute Ausgang von „Theorien" oder „theoretischen Versatzstücken", von „Denkmustern" diverser Art, ist in der Regel mit einer Reihe von fragwürdigen Effekten verbunden - intellektuell, analytisch, theoretisch und schließlich habituell. Die Neugier geht zuerst verloren. Greift nur hinein ins volle Menschenleben: Goethes Beobachtung gilt mehr denn je, auch peinigender denn je, wo ihr es anpackt, da ist's interessant. Alle Gegenstände, die uns fortdauernd vor die Füße geworfen werden, drohen - durch vorgefasste Begriffe vermittelt - entfremdet zu werden, bevor sie an sich selbst recht wahrgenommen wurden. Zu den wenigen Verben, welche bei der auch darum fast folgenlosen MarxRezeption Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre im Schwange waren, gehörten „ableiten" und „aufzeigen". Man misshandelte Marx' historisch-materialistische Theorie, ein Resultat jahrzehntelangen Wühlens in den Auswürfen der Geschichte, wie eine abgehobene Zahl dogmatischer Lehrsätze. Diese bestimmten, wie zu verfahren, zu welchen Ergebnissen zu kommen sei. Forschung wurde risiko- und im wahren Sinne nutzlos. Dass Marx vor allem in der Logik seiner Darstellung - in etlichen, allzu sehr Hegel entborgten Spuren - mannigfache Anhaltspunkte gegeben hat, steht auf einem anderen Blatt. Die gegen-Marxsche klassisch-neoklassische Ökonomie ist als „Theorie" von vornherein dogmatisch gefasst. Sie ist - mathematisierend abgehoben - dem Anscheine nach von allen sozialen Faktoren und Interessen frei. Sie ist so voraussetzungsvoll, dass sie zu Modellen abstrahiert werden kann. Vom Modell-Platonismus sprach Hans Albert in einer im Kern heute noch gültigen Kritik. Darum kann man so konstruierte Theoreme trefflich pauken. Schließlich wird in vielerlei sozialwissenschaftlicher Theorietummelei über die Langweile stumpfgewordener, weil ausgeleierter Kritikformeln hinaus, gerade das an Erkenntnis versäumt, warum forschendes Handeln allein sinnvoll wäre. Nicht zufällig schlägt sich das verbreitete Verkennen der Art, wie Theorien dedektivisch und „kriminologisch" erfolgreich gebraucht werden könnten und müssten, bis in die Darstellungsformen nieder. In den ersten Teilen vieler akademischer Leistungen muss man sich durch einen Hirsebrei von öden Definitionen, klappernden Methoden und theoretischen Bezügen aller möglichen Systeme und Lebenswel-

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ten fressen. Ausdifferenzierungen à la „Theorie", „Methode", „Empirie", abgeschlossene Einheiten à la „Ökonomie", „Staat" und dichotome Begriffe à la „terroristisch", „antiterroristisch" klären bestenfalls mit begriffsrealistischen Fermenten taxonomisch (indem sie alle Komplexitäten und Ambivalenzen verstellen). Eventuell bekommt man noch kurz vorm Verdursten ein wenig Wasser der verdünnten Anschauung zu trinken. Das schmeckt dann meist abgestanden. Dort aber, wo diese Phänomene verstehend aufgehoben werden sollten, am Ende, rinnen die theoretisch hochgetürmt begonnenen Arbeiten aus wie ein versandetes Bächlein. 1. Wider theoretische Moden und Sklerosen. Die jungen Theoriestürmerinnen und -Stürmer kritisch zu überziehen, ist deplaziert. Was bleibt ihnen schon anders, als sich unbeschadet ihrer Originalität so zu verhalten, wie sie gelehrt worden sind und wie ihnen bis in die Stipendienanträge hinein abverlangt wird. „Den" „Forschungsstand" zu referieren, wird meist als zentrales Element gewertet. „Forschungsstand" meint vor allem, die jüngsten Publikationen und ihre Autoren apostrophieren zu können mitsamt den neuesten buzzwords. So heißt es im Englischen fast noch lautmalerisch treffender als im Deutschen mit seinen Schlagwörtern. Unterstellt wird, als ob im neuesten Jargon-der-Wissenschaftlichkeit - der Purpur der „Wissenschaftlichkeit" überglänzt noch die schüttersten Stellen - vergangene Einsichten aufgehoben seien, also dort aschenbrödelgleich aufbewahrt, wo stimmig, und dort ausgeblichen, wo irrtümlich. Zu solchen buzzwords mit ihrem reputierlichen Hof eignen sich begrifflich lungernde Formeln, nota bene keine Begriffe, und methodologische Zauberwörter neuesten Stands am besten. Und wer dürfte heute ohne die „Identität" des „Sustainable development" (nachhaltig) einer in „Diskursen" wissensgesellschaftlich vernetzten „globalen Bürgergesellschaft" einen seriösen Antrag stellen wollen, der sich durch Good Governance im „gender mainstreaming" auszeichnet - das effiziente „benchmarking" inmitten konsensualer „Zielvereinbarungen" zu einer „kostenneutral" integrierten „Armutsbekämpfung" „hierarchisch flach" eingeschlossen. Erschwerend kommt hinzu, dass Theorien überwiegend in anwendungsarmer Ideen- und/oder Dogmengeschichte gelehrt werden. Auch bei zeitgenössischen Autoren werden sie nicht so nachvollzogen und exemplarisch nutzangewandt, dass alle „Theorien" als interessierte, aspektund kontextabhängige Machtprozesse zwischen theoretisierendem Sub-

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jekt und theorieüberwölbtem Objekt im wechselnden rekonstruierenden und affizierenden Hin und Her verflüssigt, in ihrer kognitiven Konstruktionsqualität dechiffriert und schließlich an geeigneten Sachverhalten erkennend erprobt würden. Schließlich spottet jedenfalls in sozialwissenschaftlich/politikwissenschaftlichen Spitzenforschungen, die den Mainstream einhegen und vorwärtsflaggen, der Umgang mit Theorien fast jeder theorie-, sprich erkenntnisbesessenen Beschreibung. Wenige neuerliche Ausnahmen à la Michel Foucault oder Pierre Bourdieu, die Theoretisieren deswegen als Experimentieren begriffen, bestätigen die Regel. In Sachen des Hauptgegenstands aller politikwissenschaftlichen Theorien, der Demokratie, in Sachen sogenannter Demokratietheorie(n) kann ich der Kürze halber nur wiederholen, was ich vor einem guten Jahrzehnt als „ärgerliche Langweile der Demokratietheorie(n)" echolos moniert habe. Ähnlich dem zentralen Herrschaftsgebilde der Politikwissenschaft, das jedoch in Sachen westliche Demokratien wie herrschaftslos behandelt wird, dem Nationalstaat, werden in den meist normativ gefassten und sogleich stillgestellten Prämissen die drängenden Fragen ausgespart. Der historische Kontext wird ineins mit der rundum einschlägigen Ökonomie nicht zureichend, allenfalls wie ein andersartiger Zusatz berücksichtigt. Die moderne Ausdifferenzierung, im Luhmannschen Systemjargon gesprochen, zwischen „Politik" und „Ökonomie" als „Systemen" wird wie eine Tatsache vorausgesetzt, wie dann erneut „die Gesellschaft" als ein „System". Entdifferenzierende Gegenstrebungen werden problementlastend verkannt. Man denke nur an die Totalisierung kapitalistischer Verherrschafilichung („Durchkapitalisierung" ineins mit der „Durchstaatung" oder an die analoge technologische Penetration aller sozialen Wirklichkeiten). Was war John Locke am Beginn für ein trefflich interessierter und phantasievoller Theoretiker! Die Herrschaftsform der liberalen Demokratie wird von seinen Nachfolgenden propagiert, indem sie Zahl(en), Zeit(en) und Raum (Räume) aussparen, die als soziale Größen nach von Georg Simmel und anderen lange zurückliegendem Vorbild zu fassen wären. So kann es geschehen, dass liberale Demokratie weiterhin als die Politikform, das zivilisatorische Muster schlechthin, vertreten werden kann, obgleich deren Bedingungen der Möglichkeit nahezu restlos geschwunden sind - vergliche man nur Lockes und Burkes England oder Madisons, Hamiltons und Jeffersons USA mit den gegenwärtig gegebenen, politisch zu organisierenden Umständen (das wusste wohlgemerkt schon Alexis de Tocqueville 1840). Hierbei hatten diese Vorfahren „Demokratie" nicht im Sinn. Gerade, wenn man am normativ-

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institutionellen Kernbestand liberaler Demokratie als regulativen Prinzipien festhalten wollte, müsste man umso vorstellungskräftiger nach neuen konstitutiven Prinzipien Ausschau halten, die eine Verfassung repräsentativer Demokratie über alle inhalierte „Zivilreligion" und über allen seichten „Verfassungspatriotismus" hinaus erlaubten. In Sachen Europäische Union wird zwar achselzuckend das „Demokratiedefizit" angemerkt. Meist wird es als Parlamentsdefizit dechiffriert, ohne wahrzunehmen und ohne zu begreifen, dass die Legislativen in dieser Welt der Gegenwart systematisch überfordert sind. Sie dienen darum anderen Funktionen, als denen, die ihnen genetisch zugewachsen, bürgerlich erkämpft und verfassungsgemäß zugeschrieben worden sind (à la: Bestimmung der politisch allgemeinen Horizonte qua Gesetzgebung; Kontrolle der Exekutive und des kondensierten Raums demokratischer Öffentlichkeit samt der darin enthaltenen substantiellen und prozeduralen Legitimation). Gerade wenn man nicht der immer wieder neu aufgelegten Faszination von Carl Schmitts politisch ästhetisierenden, existentialistisch pseudoevidenten dichotomischen Fomeln erliegt und nicht seiner auf ein einheitliches Herrschaftssubjekt fixierten Archaik, darf man die Kritik an der realgeschichtlichen Lage des Parlamentarismus nicht unterdrücken. Mit pseudotheoretischen Umschreibungen der EU gibt man sich zufrieden. Man denke an den eminenten Begriffsfund, die EU stelle ein „Mehrebenensystem" dar. Ob da die Hühner auf ihrem Mehrebenengestell lachen? An Stelle diverser Anstrengungen des Begriffs tritt so etwas wie theoretische Indolenz. In dieser ist eine politisch moralische versteckt. Als scheue man wissensmächtig schon davor zurück, das politisch demokratische Monstrum EU wenigstens genauer zu diagnostizieren. Sonst möchte dem Machtwissen das aes alienum, sprich die Fördermittel, ausgehen. Peter Bachrach und Morton Baratz veröffentlichten vor bald 40 Jahren ihre Kritik an der seinerzeit nahezu ausschließlich geltenden „Pluralismustheorie", diese spare alle wichtigen Probleme empirisch wie normativ aus, indem sie mit einer Reihe nicht zur Disposition gestellter Prämissen arbeite. Bachrach und Baratz verwandten dafür den Ausdruck „Non-Decisions", blieben jedoch trotz aller „Issue- and paradigm-attention-cycles" (frei nach A. Downs) ohne lernende Folgen. Die Distanzlosigkeit zwischen den mächtigen Objekt-Subjekten, den herrschenden Umständen und ihren Repräsentanten auf der einen Seite und den Subjekt-Objekten oder doppelten Subjekten, die darauf ausgehen, den Objekt-Subjekten forschend auf die Spur zu kommen, auf der anderen, ist strukturell geworden. Sie erstreckt sich bis in die Institutionalisie-

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rung der Universitäten, der sonstigen Forschungseinrichtungen und ihrer Finanzierung. Wissenschaftliche Wahrheiten verdoppeln ansonsten herrschende wissenscharmant. An der Universität, der ich seit 35 Jahren angehöre, ist gemäß dem jüngsten reputations- und gelddurchwirkten Ausdruck des nicht zuletzt von Kopfberuflern seit alters verfolgten Bestrebens, ihre Privilegien eitel zu legitimieren, ein „cluster of excellence" vorgestellt worden. Er kommt der FU als „exzellenter" und also besonders geförderter Universität in der Konkurrenz der Forschungsspitzen zugute. Dahinter verbirgt sich,förderungsmittelschwer, ein von der DFG als SFB (Sonderforschungsbereich) anerkannter politikwissenschaftlich zugespitzter Projektverbund. Dieser hat sich folgendes Thema gestellt: „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?" Das Vorhaben insgesamt, seine Projekte im einzelnen, seine Organisation, seine Finanzierungsmodi, seine Beteiligungen durch Wissenschaftlerinnen diversen Alters und Status etc. interessieren an dieser Stelle nicht. Das wird alles seine Ordnung haben. Wenn man diesen SFB als ein Gipfelereignis politikwissenschaftlicher Forschung erkennt, fällt genau die Eigenart zuerst auf, die oben mit Bachrach/Baratz als NonDecision bezeichnet worden ist. „Staat" in europäisch-angelsächsischer Prägung wird wie selbstverständlich vorausgesetzt. Die zentrale Frage gilt allein anderen, nicht westlichen „Räumen", in denen themenoffenkundig „der" Staat oder „die" „Staatlichkeit" als „Wesensausdruck" des Staates bzw. der Staaten in ihrer Normalität nicht gegeben sei. Über die nicht in Frage gestellte moderne „Ursprünglichkeit", Funktionalität und Normalität zugleich als Normativität des Staates westlicher Größe hinaus, von deren festem Anker der SFB seine Fragen im einzelnen und seine „raum"-besonderen Projekte vom Stapel lässt, fällt schon in den einleitenden Passagen des zweibändigen SFB-Eröffnungsopus auf, dass und wie „Theorie" verstanden wird. Einem Schaubild gemäß, das im Einzelnen ausgelegt wird, steht „Theorie" in der Mitte von drei „Bereichen", in denen geforscht werden soll: den Bereichen der „Herrschaft", der „Sicherheit" und der „Wohlfahrt". Lässt man die Bereichslogik beiseite „Herrschaft" als ein Sonderbereich neben „Sicherheit" und „Wohlfahrt" - fällt auf, dass über die Prämisse hinaus, in deren Bauch nahezu alle Wackersteine der Probleme enthalten sind, ein seltsam terminologisches und mechanisch-additives Theorieverständnis zu bestehen scheint, genau der Befund also, der bei den jungen Wissenschaftlerinnen entgegentritt, so sehr deren theoretische Bezüge sich von den etablierteren unterscheiden.

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2. Not und Notwendigkeit des Theoretisierens Dem pädagogischen Impuls als dem eigenen Triebe folgend, geht es mir darum, wie ich dies ähnlich und anders in meinem länglichen akademischen und nicht akademischen Leben betrieben habe: mein eigenes Begreifen „auf der Suche nach Wirklichkeit" (H. Schelsky) und das von anderen zu fordern. Dazu gehört mehr, als mir dies in jüngeren Jahren bewusst war, obwohl ich bald die imperialen Gefahren methodologischer und theoretischer Mustermacher zu erkennen meinte - nicht eine, gar die Theorie vorab anzustreben oder zu übernehmen. Auch wenn man selbstredend bei Marx, bei Weber, bei Luxemburg, bei Simmel, bei Freud, bei Weil... bei Adorno, bei Bourdieu, bei Foucault, bei Pateman, bei Butler in die freie, anarchisches Denken fordernde Schule geht - frei nach Nietzsche: sei ein Mann (oder eine Frau) und folge mir nicht nach - , kommt es für die Qualität des Theoretisierens und seines begrifflichen, immer notwendig unabgeschlossenen Resultats entscheidend darauf an, frustriert und begierig immer erneut den sisyphosschen Begreifstein den widerspenstigen Hang der phänomenalen Fülle hinaufzurollen. Stein- und stock- und gräben- und abgründe-übersät. Man darf nicht oben abheben wollen, um eine Ikariade zu unternehmen. Sonst fällt man unvermittelt hinab. Das prekäre Wachs schmilzt rasch in der ätzenden Sonne der Wirklichkeit. Man darf nicht cäsaristisch ausgehen, sonst wird Theoretisieren, immer riskant und prekär, zum Herrschaftsvorgang, der theoretisch-praktisch wechselhaft umspringen mag. Als komme man, sehe man und siege man, à la Fragestellung, Methode, fertiges Ergebnis. Der pädagogisch humboldtisch selbst- und andersgerichtete Impuls Lehrende können immer nur als Mitlernende angemessen wirken - verbindet sich mit dem täglich erfahrbaren Schrecken, dem in ihm enthaltenen Problem und der sich daraus zuspitzenden Frage: Dem Schrecken, dass Politik und Menschen als politische Wesen im aristotelischen Sinne weniger denn je eine gestalterische, eine positiv mächtige Chance zu haben scheinen. Dem Problem, dass in den Makro- und Mikrostrukturen und -funktionen weltweit pluralisierte kapitalistische Herrschaft besteht, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Der Frage, welche Ambivalenzen, Spannungen, Widersprüche und Konflikte nüchtern und ohne hofferische Projektionen geortet werden könnten, an denen weitertreibend angesetzt werden könnte, um diszipliniert phantasievoll vorgestellte konkrete Utopien kritisch und konstruktiv ins politische Spiel zu bringen. Diese allgemeinen Problem- und Fragestellungen, die umwegig und vielfaltig anzugehen sind, bilden den Hintergrund meiner harschen Kritik

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an den allzu gegenwartstreu vorausgesetzten Non-Decisions. Wie kann man just heute „den Staat" oder „die Staatlichkeit" voraussetzen? Sie informieren auch meine Kritik an neuen buzzwords à la Corporate Governance. Sie werden meist mit mehr als schmückenden Beiwörtern als Good Governance oder als Global Governance bezeichnet. Dieser seit den 1980er Jahren vor allem durch eine einschlägige UN-Studie global governance-artig flügge gewordene Ausdruck könnte fuglich wie ein Name, ein äußerliches Etikett gebraucht oder liegen gelassen werden, passierte nicht dreierlei damit. Zum einen wird der Schrecken der Leere politisch transparenter und verantwortliche Organisation, die relevantes Handeln ermöglichte, global weit wie lokal eng mit dem „Als Ob" des Ausdrucksscheins Global Goverance oder von Governance niedrigerer oder spezieller Stufen und Bereiche à la Corporate Governance oder University Governance verstellt und verklebt. Überall aber bestehen Formen organisierter Unverantwortlichkeit. So wird zum zweiten der Ausdruck, der die noch vorhandene institutionelle Klarheit von Government pauschalierend vernebelt, wenig in seinen Bestandteilen ausgelegt, wird wenig deutlich und klar vorgestellt, was Governance jeweils ist, welche Instanzen daran teilnehmen, wie sie funktioniert, wer daran mitwirkt, wie sie kontrolliert wird, welche Macht sie ausdrückt und inwiefern sie herrschaftlich installiert ist, sodass der begriffserpichte Hase sich bei den allstacheligen Igeln zu Tode rennt. Pudding oder Nebel sind die Todesursachen. Aufgrund dieser eigenschaftslosen Eigenarten werden, zum dritten, Beschreibung, Analyse und begreifendes Verständnis blockiert. So wichtig es ist, nicht mit einem festen Begriff der untersuchten Sache zu beginnen, so wenig hilft es erkennend weiter, wenn die intellektuellbegreifende, am Ende begriffliche Disziplin versäumt wird. Sie ist gerade darum geboten, um die Ambivalenzen, die Unabwägbarkeiten, die nicht erkenntlichen „Dinge an sich" herauszufinden. Mit anderen Worten: dort, wo ich den Gebrauch des Terminus Governance einzusehen vermochte, folgt derselbe einer bewussten oder unbewussten Strategie der Immunisierung. Alles, was herauskommt, ist irgendwie richtig. IV. Theorie-Bildung - eine kleine Illustration am Objekt Lager Ich habe diesen Beitrag ausfuhrlicher hauptgeprobt. Ich habe „mein" Doktorandinnen- und Doktorandenseminar zweimal, insgesamt gute vier Stunden lang im dichten Landregen der Worte dazu benutzt, um den Teilnehmenden Erfordernisse, Schwierigkeiten, Gefahren und Aporien

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der Arbeit am Begriff vorzutragen. Ich habe sie hierbei sogleich doppelt von zwei Hegeischen Einsichten zu überzeugen gesucht. Zum einen: eine Sache verstehen, so sagt Hegel in seiner „Logik" einmal, heiße, eine Sache in ihrer Entwicklung zu begreifen. Man muss sich also Zeit lassen. Geschichte im emphatischen Sinne, und das gilt gerade fur alles Gegenwärtige, ist in Form von Geschichten nachzuerzählen. Zum anderen und damit eng verflochten: Der bekanntesten Metapher Hegels aus der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie entsprechend, hebt die Eule der Minerva erst in der Dämmerung zum Flug an. Sprich: wenn das Feld der historisch-gegenwärtigen Empirie im weiten Sinne des Wortes von früh am Morgen an abgegrast und bestellt worden ist, mit welchen Werkzeugen und an Hand welcher Abschnitte unter welchem Interesse das immer geschehen mag, wenn's dann dämmert, die Werkzeuge eingesammelt werden und der Ertrag des Tages auf den Wagen geladen wird, dann ist es Zeit, zu bedenken, was der Tag, die Tage, die Jahre an Früchten, an Qualität, an schlechten Ergebnissen und an Ausfällen erbracht haben und warum all das so ausgefallen ist. Die Eule der Minerva bzw. der Athene, der Göttin der Vernunft, setzt selbstredend in der Abenddämmerung an zu ihrem scharfäugigen, Düsternis erhellenden Gleitflug mit ihren festen und der Gefahr nach tödlichen Raubtierkrallen. Über diesen spätschwäbischen Hegelianismus hinaus, mehr als 200 Jahre nach den Tübinger Stifts- und „Systementwurf'-Jahren mit Schelling und Hölderlin, rund um die Zeit der „Phänomenologie des Geistes" habe ich eine Reihe Slalomstangen aller Theoriebildung aufzuflaggen gesucht. Angefangen habe ich mit der unmöglichen und doch dauernd zu gebenden Antwort auf die nie auskundbare, meist auch nicht verstandene Nachricht des Tollen Menschen (in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft): Gott ist tot, sprich im gegebenen Zusammenhang; es gibt kein fundamentum inconcussum, kein festes Fundament, auf dem ich mein Urteilsgebäude errichten könnte. Die Folge dieser Einsicht lautet jedoch nicht: anything goesl Fortgesetzt habe ich meine Stangenreihe mit der gleichfalls von Nietzsche triftig formulierten Einsicht: sum ergo cogito , also der Umkehr des ersten Satzes der Moderne, wie ihn Cartesius formuliert hat: cogito ergo sum. Nietzsches treffende Verkehrung will u. a, sagen, dass wir Menschen - immer schon von einem geprägten Kontext abhängig, in ihm sozialisiert, an seinem Tropf hängend - in die Welt geworfen sind und in ihr groß und alt werden und sterben. Unser Status als „Subjekte" ist also immer zuerst und primär unser Dasein als subjecta, als „Unterworfene". Etliche Stangen übergehend - was im Slalom zur Dis-

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qualifikation führte - , habe ich an sechster oder siebter Stangenstelle behauptet - Georges Devereux war mir hier eine große Hilfe - das erkennende Subjekt, also ich, WDN oder X oder Y könne zum einen nur erkennen, wenn es sich selbst zur zu erkennenden Disposition stelle, also zum Objekt des selbstbezogenen ethnologischen Interesses mache. Bert Brecht hat dies mit seinem V-Effekt versucht (einem Verfremdungseffekt, der vertraute Vorgänge beispielsweise nach China oder in eine andere Zeit verlegte). Zum anderen müsse das erkennende Subjekt gerade darum sein eigenes Erkenntnisinteresse möglichst bewusst bedenken (und angemessen ausdrücken). Nur in seiner selbstbewussten Subjektivität (im Sinne von Nietzsches Perspektivismus) könne es das Andere, den Anderen, die Andere in ihren Andersartigkeiten wahrnehmen, ohne sich in allen möglichen „Orientalismen", sprich Vorurteilskokons blind zu spinnen. Schließlich sei es geboten, auch wenn das nur ein von anderen mitbetriebenes und kontrolliertes Vorstellungsexperiment sei - Kant gemäß der Voraussetzung aller Urteilskraft - , das jeweils zum Untersuchungsobjekt gewählte Phänomen einschließlich „natürlicher", von uns immer schon kultürlich angeleuchteter, wenn nicht akkulturierter Sachverhalte (letztlich Kants „Dinge an sich" und nicht Dinge für uns), die sozialen Tatsachen, einzelne Menschen wie Subjekte mit eigenen Strebungen und Logiken zu behandeln. Nur dann sei es möglich, tastend, schmeckend, lauschend, sehend, fühlend möglichst „antiromantisch" Anderes und Andere, die Andere, den Anderen an und aus sich selber heraus in ihren/seinen angemessenen Kontexten zu verstehen. Gegen Ende unterstrich ich, um möglichst Genaues herauszufinden, müssten wir unvermeidlich die via identificationis gehen (alles, was untersuchend der Fall ist, so genau wie möglich zu orten). Sie bezeichnet den Weg, auf dem die moderne Naturwissenschaft bis zur Kadrierung des Genoms wissenschaftlich analog kapitalistischer Herrschaft geht. Zugleich sei es unabdingbar auf Ambi- und Multivalenzen zu achten. Diese machten die Regel aus. Andauernd sei zu bedenken, dass viele verschieden qualifizierte, primär naturwüchsige oder primär sozialwüchsige Phänomene gerade nicht „identifiziert", kausal modelliert und auf einen Begriff gebracht, in eine Definition gesteckt werden könnten. Die meisten Erscheinungen und Ereignisse seien mehrwertig. Es gehe nicht an, mit ihnen prokrusteshaft zu verfahren. Der Schrecken der Moderne, ihre Goyaschen Albträume oder ihre Dialektik im Sinne von Horkheimer/Adorno seien vielmehr Ausdruck einer überall abhackenden nationalen, ethnischen, rassischen, instrumentell erkennenden Identitäts- und Identifizie-

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rungssucht. Zygmut Bauman hat neuerdings vor allem am deutscheuropäischen Hauptexempel, dem Nationalsozialismus, auf seine Identifikationssucht, Exklusions-, wie Vernichtungslogik wieder besonders aufmerksam gemacht. Schließlich hob ich hervor, dass und warum sich Kriege und Theorien extrem unterscheiden, Zusammenhänge indessen nicht zu verkennen seien. Theorien sind nicht auf Gewinn angelegt, nicht auf unterjochenden, notfalls tödlichen Sieg. Theorien und Theoretiker, die Sokrates und Delphis Orakel nicht zusammen realisieren, taugen allenfalls als Herrschafts- und eben als Kriegsinstrumente. Das sind ihrer nicht wenige. Das Objekt darf, es muss gequält werden. Bacon spricht schon davon. Man geht darauf aus, eine Sache, einen sozialen Zusammenhang, Menschen bis zur letzten Subzelle zu rekonstruieren. Sie sollen erneuert, sie sollen neu und besser geschaffen werden. Ausrechenbarkeit und Eindeutigkeit sind Trumpf. Was nicht „im Griff ist, beunruhigt. Die „Angst vor dem Chaos", dem nicht Kalkulablen treibt. Hybris, das Thema des 2. Chorlieds in Sophokles' Antigone ist zum Fremdwort und zur Fremderscheinung geworden. Erkenne dich selbst, steht über Delphis Pforte. Ich weiß, dass ich nicht weiß, bekannte der skandalöse Dauerfrager Sokrates, der noch seinen Tod erfragte. Zum Stabilisator von Herrschaft konnte der eher konservative Nörgler nicht werden. V. Zur Illustration: Lager So ähnlich könnte durchgehend angesetzt werden - unbeschadet der Varietät der Anfange, der Themen, der Methoden im Einzelnen und der Absichten, die den Prozessen des Erkennens eignen. Eine Kennung gilt durchgehend, ob redliche - ein Lieblingsausdruck des ungleichen Tandems Nietzsche/Weber - Erkenntnisprozesse vorliegen, die mit Praxis vorab und danach vielfach verschlungen sind: wie es einst im Zusammenhang der Aktienrechtsreform fälschlich versprochen worden ist, dass „mit gläsernen Taschen" im vielfaltigen und mehrdimensionalen Kasten des Erkennens gebaut wird. 1. Problemstellung Damit fängt alles an. Hier: dem Lager, den Lagern. Nicht Ferienlager, Zeltlager und andere Lagerstätten kümmern. Das mag je nach Interesse auch der Fall sein. In dieser Untersuchung verlangen Lager Klärung, in denen Menschen auf umzäuntem Raum unterschiedliche Weilen lang zu

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hausen gezwungen werden. Ausschlaggebendes Merkmal, um diese Art von Lagern in diesem Fall fur mich zum Problem zu profilieren, ist: der auf die Menschen, die in Lagern versammelt werden, ausgeübte Zwang. Der Zwang zeigt sich nicht nur in der Anlage des Lagers. Das Lager hebt die Freiheit der „Eingelagerten" auf, sich zu bewegen und ihren Interessen nachzugehen. Der Zwang beginnt bei der Art, wie Menschen ausgewählt werden, in Lagern zu leben. Die im Lager geronnenen Handlungen der Gruppen, der Institutionen, des Staates sind deswegen nur mit Ausdrücken zu bezeichnen, die durch die Nationalsozialisten am bekanntesten geworden sind. Sie zählen zur LTI (= Lingua Tertii Imperii, wie Viktor Klemperer sie notierend bezeichnete): Konzentration und Selektion. Den beiden hauptsächlichen Zwängen folgen je nach der Art solcher Lager weitere in verschiedener Strenge und Dichte. Der Zwang der Überwachung. Der zwangsbeengte Bewegungsraum. Die Zwangsversorgung, dem sonstigen Konsumismus zuwider. Kurzum: weitere Elemente und Aspekte dessen, was Gofman als „totale Institution" bezeichnet hat. Seitdem es in der BRD (alt) wieder Lager gibt, in die Asyl-Suchende gesteckt werden, deren Asylantrag staatlich nicht anerkannt wird, die jedoch nicht ohne weiteres in ihre Herkunftsländer „abgeschoben" werden können - ein weiteres Wort aus dem höchst menschlich und offiziell verwandten „Wörterbuch des Unmenschen" (Storz/Sternberger/Süskind) - , (und das ist seit dem Asylverfahrensgesetz von 1982 gesetzeskundig der Fall) sind sie mir skandalös. Lager dieser Art werden in einem Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Deutschland betrieben. Von diesem „Nachfolgestaat" und dessen Bürgerinnen und Bürgern nahm ein 1937 geborener junger Nazi wie ich hoffend an, er habe wenigstens einen Teil der Botschaft begriffen. Diese unerhörte Botschaft ist nicht nur für staatsbürgerlich Deutsche, für diese aber zuerst in den Jahren 1933 bis 1945 mitverschuldet, unabgegolten nachschuldig geballt worden. Hinzukommt für einen Sozialwissenschaftler die von Otto Kirchheimer bis Michel Foucault immer erneut geäußerte stimmige Einsicht, man könne an der Art, wie eine Gesellschaft und ihre Leute mit „Anormalitäten" aller Art umgehen, besonders mit Fremden, im Extrem mit Fremden, die anderswo keine angemessene Bleibe finden, besonders gut die herrschaftliche, die demokratische und die menschenrechtliche Qualität derselben, die Art ihrer „Normalität" ablesen. Eine erste, vom persönlichpolitischen Hintergrund eingegebene Erfahrung steht also am Beginn „meiner", allerdings nicht nur meiner Problemstellung. Auch wo eine solche Erfahrung nicht vorhanden ist, ein Thema gegeben oder ange-

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sichts einer aktuellen Debatte gewählt wird, scheint es mir dringlich, jedes, zunächst noch so glatt oder konventionell erscheinende Thema so mit eigenen versachlichten Interessen anzureichern, dass es Ursachengrabungen und Antworten heischt, dass es schroff, dass es spannend wird. Es sollte zu eigenem, zunächst wenigstens kognitivem Engagement verlocken. Das Thema muss das entfesseln, was Max Weber die „Leidenschaft zur Sache" genannt hat. Anders bleibt es taub. Es macht uns einfallslos und gefühllos. Es lässt die gedoppelte Phantasie für das Andere/die Anderen wie für einen selbst nicht zu. Damit aber erst hebt humane Erkenntnis an, die zählt. 2. Fragestellung Aus dieser allgemeinen Kontur der vor meine Verstehensfüße geworfenen Sachverhalte ergab sich die zugespitztere Frage, wie die Lager in der BRD aussähen, vor allem aber, wie sie zu erklären und vor dem geklärten Hintergrund öffentlich zu skandalisieren und zu bekämpfen seien. - Das kognitiv-analytische Interesse rangiert an erster Stelle. Jedenfalls darf dieses Interesse mit dem im weiteren Sinn praktischen nicht zu eng gekoppelt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die radikal nüchterne Analyse vom eigenen praktischen Bedarf und der darin immer enthaltenen Änderungshoffnung beeinträchtigt werde. Allerdings wäre es falsch, auch im Sinne der Einsicht in eigene oder andere Forschungsvorhaben, das in seinen Interessen variationsreiche praktisch-funktionale Ziel nicht einzusehen. Man verkenne nicht nur die eigene Perspektive, das eigene und sei es nur berufliche, etwa akademische Interesse (Man will zulässigerweise mit einem Buch die eigene Karriere befördern). Man übersähe das Politikum im weiten Sinne des Wortes, die Macht im Sinne Foucaults als andere Schule einflussreicher Möglichkeiten, prätendierte man interessenfreie Anschauung. Jede Begriffsbildung, sobald der Begriff die Tür des eigenen Schlafzimmers verlässt, ist ein politisch verantwortlicher bzw. verantwortungsloser Akt. Spielereien auf dem Geäst der Wortkonstruktionen, die ich selbst gerne betreibe, stehen dem nicht entgegen. So sehr jedenfalls die meisten, die in modernen Zeiten geboren sind, darunter ich, nicht hinter die nominalistische Einsicht zurück können, dass Worte keine Wesensbezeichnungen darstellen - das macht heideggerisierendes Gründein so schwer nachzuvollziehen und für manche so verführerisch dunkelgründig, als „Weberianer" ist man dieser Einsicht ohnehin verhaftet - , so wenig darf die soziale Bedeutung von Bezeichnungen, die immer die Tendenz haben, für die Sache selbst ge-

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nommen zu werden, verkannt werden. Worte können töten. Sie verblenden Wirklichkeit und unser Handeln. Darum entgeht niemand dem durchgehend gewichtigen Politikum der Sprache, gerade weil Politik im besten in sprachlichem Austausch besteht oder im herrschaftlichen Kontext von dessen Verweigerung. 3. Verfahren/Methode und Auswahl der Phänomene als Exempel des Lagergegenstandes allgemein Lager sind ein altes Thema, dem ich zuerst als Zeitgeschichtler begegnete. In Form der KZs zuerst, später der Gulags und anderer Einrichtungen von Menschen, andere zu züchtigen oder loszuwerden. Als neue Lager, wie quantitativ und qualitativ anders auch immer, in der BRD jedenfalls zu meinem Problem wurden, kümmerte ich mich darum im Rahmen etlicher Recherchen und Aktivitäten im Umkreis der sogenannten Ausländer· und Asylpolitik. Deren etablierte Formen und Inhalte lehnte ich vom ersten Hahnenschrei an ab (dazu bestimmte mich allein schon die Kontinuität zwischen den Ausländergesetzen von 1938 und 1965 trotz beträchtlichem „Systemwander). Lager wurden Ende der 1980er Jahre einmal zu einem besonderen Gegenstand meiner Aktivitäten im Umkreis des „Komitee für Grundrechte und Demokratie". Wir versuchten seinerzeit einen „Abschiebeknast" in der schönen und alten Stadt Worms „symbolisch zu entzäunen". Abgesehen von 10.000 DM Straf- und Gerichtskosten, die ein Urteil unterm christlichen Kreuz in Bonn einbrachten, hielt zwar eine Mischung aus zornigem Ärger über den Lagerskandal bei mir an, verband sich jedoch mit dem lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Ein solches Gefühl mag auch kognitiv jeden Nerv rauben. Was nützten weitere „symbolische Entzäunungen" in der Sache gegen Abschiebelager außer dem nicht grenzenlos fortsetzbaren Geldverlust und der sparsamen Erfahrung von öden Gerichtsurteilen in kreuzkahlen Sälen, die alle politischen Verhalte isolieren und politisch komplexe Probleme individualisieren. Meine Generation, jedenfalls ich in ihr, war nicht darauf erpicht, eine „goldene Nahkampfspange" zu erwerben und sei es auch, qualitativ anders als zu alten und neuen kriegstümelnden Zeiten, in strikt gewaltfreier Auseinandersetzung. Die bundesdeutsch allgemein verbreitete Indolenz überzog wie Mehltau die eng verbundenen Organe der ratio und der emotio (viel enger verbunden, nota bene, als wir uns dies alle, „rational" und „wissenschaftlich", wie wir „sind", einzugestehen erlauben). Es bedurfte der Vorgänge rund um Lampedusa, der europäisch zivilisiert im Mittelmeer ersäuften oder in europäischen

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bzw. nordafrikanischen, beispielsweise beim neuerdings befreundeten Staatsmann Ghadafi im wundersam repräsentativdemokratischen Libyen kasernierten Menschen aus Nord- und Zentralafrika, um mich aus dem schlechten Schlaf zu rütteln. Hinzugesellten sich jüngere Freunde und nicht zuletzt Promovierende, die sich einer Reihe von Flüchtlingsthemen, darunter der Lager in der BRD und vor den Toren Europas annahmen. Schließlich kam die Regierung des Bundeslandes Niedersachsen auf die Idee, ein zentrales „Muster"-Lager für potentielle „Abschüblinge" einzurichten. Aus all diesen Motiven, Erwägungen, Erfahrungen ergab sich der Beschluss, zusammen mit Tobias Pieper, einem Doktoranden, Bramsche, so der Name des Orts bei Oldenburg, in dessen Nähe sich das neue niedersächsische Zentrallager befindet, genauer unter die Lupe zu nehmen. Von selbst verstand es sich, dass wir unbeschadet all unserer Vor-Urteile - diese möglichst eine Zeit lang suspendierend - das Lager zu Bramsche/Hesepe, offiziell mit dem Namen „Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde Oldenburg (ZAAB, Oldenburg) versehen, in eigenen Augenschein nehmen mussten, um so viel Ortserfahrung einzuheimsen wie möglich. Entgegenkommender Weise bewilligte uns das niedersächsische Innenministerium einen zweitägigen Aufenthalt, als wären wir zwei neue Lagerinsassen. Wie sich versteht, haben wir vorab und hinterher mit zahlreichen Leuten gesprochen, die sich mal besser, mal schlechter über das Lager auskennen. Ebenso war uns das Thema Lager, selbst die ZAAB Bramsche nicht neu. Wir haben das Lager Bramsche im letzten Jahr schon demonstrierend besucht und vorab mit dem Leiter des Lagers gesprochen. Dennoch wollten wir beide die 48stündige Erfahrung im Lager einschließlich der dortigen Unterkunft und Versorgung nicht missen. Das ist eines allgemeinen Hinweises zum Erfahrungsprozess wert. Als ein solcher könnte der Prozess der Theoriebildung fast im wörtlichen Sinne bezeichnet werden: einer Sache fahrend inne zu werden. Gerade wenn man daran interessiert ist, ein Phänomen, hier das Lager Bramsche im Kontext bundesdeutscher Lager und der europäisch induzierten Lagerwelt, ja der globalen Verlagerung zu erklären, gerade, wenn man weiß, dass Phänomene in der Regel nie auf der Ebene der Phänomene mehr oder minder kontextlos und für sich verstanden werden können, kommt es umso mehr darauf an, sich so ausgiebig wie möglich von phänomenaler Anschauung voll zu trinken. „Was die Wimper hält". Nur die Erfahrung des Konkreten, das als solches nicht erklärbar ist, erlaubt es, analytisch abstrakt und „abstrakter" werdend die Stufen in den

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Kontext- und den Phänomenenuntergrund zu steigen, um am Ende wieder zurück zum Konkreten zu gelangen. Darauf kommt es an. Siehe da: nun kann man es - das Verhalten und die Äußerungen des Kindes X, die Wirkungen von Hartz IV auf den Langzeitarbeitslosen Y - verstehen, jedenfalls besser in seinen/ihren Bestimmungsmomenten begreifen. In diesem Sinne realisiert man - ein drittes. Mal sei der alte, längst standbildlich gewordene Herr erwähnt - den erkenntnistriftigen Sinn des dunkelwidersprüchlich anmutenden Satzes Hegels: das Konkrete ist das Abstrakte und das Abstrakte ist das Konkrete. Zugleich wird man der menschenrechtlichen Quintessenz gerecht: die einzelne Person hier und heute (oder gestern und morgen) mit ihren Leiden und ihren Freuden zählt. Das Konkrete, Bramsche wie es „leibt und lebt", können wir nun ziemlich genau beschreiben. Tobias und ich. Die Menschen dort kümmern uns. Übrigens auch diejenigen, die der Lagerleitung und Lagerverwaltung angehören. Wir können jedoch Bramsche aus Bramsche heraus nicht verstehen. Wir müssen etliche Stufen verallgemeinernder Abstraktion hinab- oder hinaufsteigen. Einige davon werde ich sogleich skizzieren. Gehen wir jedoch die Stufen hinunter, indem wir von den Personen in Bramsche absehen, erkennen wir zwar einerseits mehr und mehr, warum diese ZAAB so eingerichtet worden ist, wie sie es ist. Wir drohen indes die Menschen zu verlieren, wie sie getrennt und gruppenförmig geschart, im Lager kollektiv zusammengezwungen - wohlgemerkt auch diejenigen, die das Lager verwalten - , ihre Lagerzeit in leidender Anpassung und zwangsangepasster Rebellion zubringen. Oder wir verstehen nicht, warum sich „Menschen wie du und ich" als Lagerbedienstete engagieren und sich um die von ihnen Verwalteten kümmern. Nehmen wir jedoch unseren Ausgang an der Oberfläche des Konkreten, können wir wenn wir durch Strukturen und Funktionen, von Besonderem absehend, durchgegangen sind - diese Menschen in ihrer Zeit, in ihrem Raum, mit ihrem „Fleisch und Blut" zurückgewinnen. So die Frau aus dem Libanon, im vierten Monat schwanger, von Lagerdepression bedrückt auf klein gepferchtem Raum mit ihrem Mann und einer Tochter, da der 16jährige Sohn im Abschiebeknast in Hannover einsitzt. Jetzt aber sind wir in der Lage bei der Frau konkret zu bleiben und doch zu erklären, warum sie in ihrem depressiven Zustand, seit über zwei Jahren im dafür nicht vorgesehenen Bramscher Lager lebend, im vierten Monat schwanger wie eine sprachfähige Pflanze dahinkümmert. Und vielleicht können wir jetzt sogar ein wenig mehr für sie tun.

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Anschauungsmangel, unzureichende teilnehmende Beobachtung und fehlende eigene Erfahrungen sorgen nicht selten dafür, dass viele Theoreme - von Theorien als ausgewachsen vermittelten Rekonstruktionen ist nicht zu reden - schlecht, sprich beliebig abstrakt bleiben, gegriffene Abstraktionen, die konkrete Phänomene nicht besser verstehen lassen, in dem sie Zusammengeknäueltes in seiner Knäuelungslogik aufdröseln ließen. Weil die eigene Subjektivität im „objektiven" Vorgang der Wissenschaft als Vorwurf und Reputationseinbuße gefürchtet wird, lassen sich viele Sozialwissenschaftlerlnnen, die vergessen oder nicht mehr gelernt haben, dass Politik wie Wissenschaft in der 1. Person Singularis und Pluralis stattfindet - von den hölzernen Akademikern, den töricht überlegenen Beobachtern der 3. Ebene nicht zu reden - , bestenfalls auf sogenannte empirische Methoden ein, wenn sie wie mit standardisierten Umfragen nach dem Gesetz der großen Zahl oder nicht mehr durchschauten statistischen Daten abstrakt allgemein den überredenden Anschein machen. Sie bemerken nicht, welche verdämmernden, jedoch umso herrschaftsvolleren Besonderheiten sich in den angeblich interesselosen Allgemeinheiten verbergen. Vor allem, dass mit ihrer Hilfe konkrete Umstände und Nöte nur allgemein reduktionistisch zerschlagen werden können. Und sei eine oder einer noch so progressiv gesinnt und werfe mit der ideologiekritischen Keule. 4. Nur einige Tupfer - statt einerfölligen

Phänomenenbeschreibung

Welche Fülle in der Ödnis boten die Bramscher Anschauungen.Von der politischen Architektur angefangen: alle Ämter am Lagerort, die Ausländerbehörde im Kern; über die zweigeteilten Essensorte für Lagerinsassinnen und -insassen geräumig, auswahl- und freudlos zum einen, für Lagerangestellte hell, heimelig, auswahlattraktiv zum anderen; bis hin zu den Einheitszimmern, ca. 5 χ 5 Meter, ohne fließendes Wasser, in denen auch Familien mit drei oder vier Kindern zu leben haben. Was Wunder! Männer, vor allem jene ohne Familien, streunen durch die Gegend. Sie arbeiten schwarz. Nicht selten sans papier , sickern sie weg. Sieht man das Lager bzw. das ZAAB unter den beiden dominierenden Perspektiven, der Sicht Lagerleitung und ihrer Angestellten und der Situation der Lagerinsassen, schließen sich beide Bilder aus. a) Sicht der Lagerleitung Im Prinzip ist alles bestens. Den Bewohnerinnen und Bewohnern, auf diesen Ausdruck wird Wert gelegt, die im Durchschnitt zwischen ei-

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nem halben und einem Jahr in der ZAAB weilen, geht es trefflich. Sie haben alles, was sie zu ihrer Zeit brauchen. Da ihr Asylantrag gerade abgelehnt worden ist oder wahrscheinlich abgelehnt werden wird, sind sie allein dazu aufgefordert, ihrer „freiwilligen Abreise" zuzustimmen. Bis diese möglich ist und jeder und jedem am Ende mit 1000 Euro Reisehilfe erleichtert wird, genießen sie freie Kost und Wohnung. Sie erhalten ein Taschengeld. Ihren Kinder wird Schulunterricht angeboten. Die Erwachsenen können Deutsch lernen. Telephone rundum wie Spielplätze. Sie können das Lager ohne Kontrolle verlassen und in dasselbe zurückkehren. Die Lagerleitung erweckt den Eindruck, es handele sich geradezu um so etwas wie eine verräumlichte existentielle Sommerfrische. Lager? Wer spricht von Lagern?! Allenfalls ein vorübergehender hilfreicher Ort des Aufenthalts! b) Sicht der Lagerinsassinnen und Lagerinsassen Sie erfahren die ZAAB als Lager, als einen Ort, an dem sie zu leben gezwungen sind. Sie zögen es vor, mitten unter Bundesdeutschen in Dörfern und Städten nach eigenem Gusto zu wohnen. Die „Freiwilligkeit" der Abreise erfahren sie als dauernden Druck, ein entsprechendes „Freiwilligkeitsformular" zu unterschreiben. Nur, wenn sie dieses tun und sich in jeder freiwilligen Hinsicht kooperativ benehmen, können sie mit der vollen Summe des insgesamt knapp bemessenen Taschengelds und anderen Vergünstigungen rechnen. Sonst werden sie all dieser „Privilegien" essens- und wohnungsnackt entkleidet, erfahren jedoch erhöhten Druck. Letzterer nimmt bei denen zu, die nicht „freiwillig" in ihre Herkunftsländer bis zum Flughafen begleitet werden können und/oder wollen, vor allem wenn sie ohne Pass sind, oder wenn ihre Herkunftsländer sich weigern, die Lagerinsassen kommen zu lassen.

5. Institutioneller Kontext - Erste Ebene, auf der man sich einer Erklärung nähern muss Wir hätten länger als zwei Tage in Bramsche/Hesepe verweilen müssen, um schon auf der phänomenalen Ebene besser sortieren und gewichten zu können. Unbeschadet unseres Vorwissens - über ein solches verfugt man jedenfalls konventionell fast immer - und ohne Rücksicht auf eine dichtere Beschreibung des Lagers wäre es für jede zureichende Klärung des dortigen, dichotomisch wahrgenommenen Geschehens erforderlich, das Lagerleben, die Lagerverwaltung und die Lagereinrichtung in

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seine bzw. ihre angemessenen ersten Kontext-Bedingungen erhellend einzufügen. Ein solches Einfügen in den nächsten Kontext, darf nicht mechanisch erfolgen. Sei es, dass aus den Kontextbedingungen das Lager gleichsam wegerklärt wird, weil nur noch die Bedingungen zählen. Sei es, dass das, was sich im Lager abspielt, bis ins psychisch-physische Detail, nicht unter der dynamischen Einwirkung „äußerer Bedingungen" betrachtet wird. In keinem Fall können die verschiedenen Sichtweisen auf die Charaktere derjenigen zurückgeführt werden, die sie äußern. Unbeschadet gewiss nicht unwichtiger Spielräume des Verhaltens, die es überall, die es selbst in „totalen Institutionen" gibt, sind die Leute der Lagerleitung und die Angehörigen des administrativen Unterbaus ebenso, wenngleich privilegierte „Gefangene", wie die negativ privilegierten Zwangsangehörigen des Lagers. Zu den dynamischen, nie nur statischen Bedingungen gehören: der gesetzliche Rahmen: Ausländerrecht, Asylrecht, Aufenthaltsrecht bundesweit samt seinen niedersächsischen Umsetzungen in ministerieller Politik und Landesverwaltung; dann die einschlägigen Institutionen über die rechtlichen Regeln hinaus, die zuerst ihre Umsetzung bestimmen. Dazu gehören das Innenministerium, die Ausländerbehörde, die zuständigen Polizeien, ihre auf die Ausländer/Asylsuchenden bezogenen Kompetenzen samt ihrer Mittel, in Sachen Bramsche speziell die Oldenburger Polizeibehörde. Der dritte Kranz der Kontextbedingungen leitet schon über zum umfangreicheren, darum abgehobeneren Kontext der zweiten Ebene. Zu diesem dritten Kranz gehören: die allgemeine politische Situation in Niedersachsen bis hin zur parteilichen Zusammensetzung der Regierung und ihrem praktizierten Programm; die aktuelle ökonomische Situation - angefangen von den budgetären Spielräumen der Städte und der Kommunen; schließlich der sozioökonomische, der politische und, soweit erkenntlich, der habituelle Status der in feine und grobe Unterschiede geteilten niedersächsischen Bevölkerung. Will man schon auf dieser Ebene habituell genealogisch verfahren, müsste man tief zurück in die niedersächsische Vergangenheit gründein. Man müsste bis wenigstens zum Jahr 1945 zurückgehen und dasselbe so zu erfassen suchen, dass so etwas wie eine soziale, institutionelle und habituelle Ausgangssumme impressionistisch durchsichtig gezogen werden könnte. Zugleich müsste man ihre hypothetische Rekonstruktion einräumen.

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6. Die BRD und „ ihre " Ausländer-Politik

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- Erweiterter

Kontext

Angesichts der engen sozialen und politischen Zusammenhänge ist es auf der Suche nach tiefer bohrenden Erklärungen des Jungen" Lagers Bramsche nicht möglich, niedersächsische Politik und niedersächsische Zustände aus dem niedersächsischen Kontext heraus zu erklären. Und verführe man noch so „sturmfest und erdverwachsen". Die bundesdeutsche Ausländer-, Aufenthalts- und Asylpolitik allgemein inmitten von Gegenwart und Geschichte dieser Republik ist zu rekonstruieren - immer Bramsche im Hinterkopf. Hierzu ist es angezeigt, retrospektiv und prospektiv geschichtsbetrachtend zu verfahren. Also nicht wie die alten Römer, die auch zu späteren Zeiten angeblich immer auf die Gründung Roms zurückgingen. Ab urbe condita . Vielmehr ist es ratsam, von der Gegenwart aus, also erneut vom Lagerphänomen Bramsche aus anzuheben, um die Gegenwart zu erklären. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, keine Lexikonreihe in Gang zu setzen, die voraussehbar kein Ende findet. Wichtiger ist die Einsicht, dass nur so eine Vermittlung der genealogisch ermittelten Funde zum Phänomen Bramsche möglich ist, ohne letzteres mit den historisch riesigen Material- und Einsichtsbergen zuzudecken. Ähnlich der oben berührten „Dialektik" von abstrakt und konkret, die in der Regel mit dem Konkreten anheben sollte oder anders gesagt, eher induktiv - strikter Induktionismus ist selbstredend unmöglich, philosophisch hat das Kant an Hume gültig gezeigt - , sollte die zentrale historische Gründung und „Verflüssigung", sonst abstrakt affirmativ oder affirmativ kritisch bleibender funktionaler Betrachtung, hier und heute, „auf den Spitzen der Modernität" beginnen. Auch wenn man so verfährt, sollte man wissen: wer darauf ausgeht, die BRD kennen zu lernen und dies gerade auch in der Geschichte ihrer Vorurteile tun möchte, muss schon 1945, also vier Jahre vor der Gründung dieser zweiten deutschen Republik in der größeren Hälfte des aus nationalsozialistischer Herrschaft geerbten Landes ansetzen bzw. zur voraussetzungsüberladenen „Stunde Null" zurücksenden. 7. Die Europäische Union und ihre Lissabon-Strategie Zum dritten kontextuellen Bedingungsensemble Noch ist es nicht lange her, 15 Jahre vielleicht, eher 20, da hofften illoyale Bundesbürger wie ich auf den Prozess der wachsenden europäischen Einigung, Maastricht war schon am Horizont. Andere und ich taten dies unter anderem deswegen - über unsere mangelhaften „nationalstaatlichen" Gefühle hinaus - , weil wir annahmen, das, was dann den

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Namen Europäische Union erhielt, werde bundesdeutsch multiple Vorurteilssklerosen erweichen und europäisch offener und toleranter für andere und anderes sich gestalten lassen. Wir irrten. Die Gründe dafür sind nur insoweit von Interesse, als sie schon auf die nächste und letzte Ebene des Kontextes hinweisen, die ich fast nur noch als Überschrift vermerken will, die globale. Wie immer sich die Situation zunächst primär in den westeuropäischen Ländern bis zur großen Entkolonialisierungswelle 1960 und danach verhalten haben mag, als die „Dritte Welt" zu einem Teil in ihre kolonialistischen Mutterländer zurück migrierte. Fraglos, wenngleich weiterer Fragen bedürftig, scheint mir, dass die Länder der Europäischen Union vor und nach der „Osterweiterung" (2004) im Zuge der EU global ökonomisch und potentiell militärisch noch ausgreifender geworden sind. Umgekehrt proportional zu den vermehrten Ausgriffen auf den Weltmarkt und den dort versuchten Anlagebildungen betreiben die europäischen Länder vereinzelt und als EU im seltsam bürokratiepluralistischen Kollektiv eine Politik des Abschlusses, der Abgrenzung und der Ausgrenzung anderer. Das „fortress Europe", von dem schon seit langem die Rede ist, ist nicht nur tief eingegrabenen Vorurteilen geschuldet, die aus diversen nationalen Syndroma herrühren. Das „fortress Europe" mitsamt seinen rechtlichen und institutionellen Konsequenzen in Sachen Grenzverstärkung, Lagerbildungen und Ausgrenzungen ist nicht zuletzt das Resultat verschärfter globaler Konkurrenz um die ökonomisch-technologischen „Systemführerschaften" und ihre wohlständisch riesig unterschiedlichen Wohlstandsniveaus und Wohlstandsbrocken insgesamt. In Sachen Bramsche, niedersächsische Ausländerund Asylpolitik und bundesdeutsche Definition derselben bedeutet dies, dass die bundesdeutsche Ausländerpolitik im allgemeinen nur noch verständlich ist im Kontext der Ausländerpolitik der EU. Letztere aber hat keine „entkrampfende" Wirkung. Sie verschärft vielmehr die Vorkehrungen sozialer, politischer und existentieller Schließungen mit Konsequenzen, die Menschen gefährden, die sie fahrlässig umbringen. 8. Globale Konkurrenz - vierte, am meisten abstrakte Ebene der Kontextbedingungen Nach dem zuvor Gesagten dürfte wenigstens plausibel sein, warum so abstrakt weit ausgegriffen werden muss, will man Bramsche und die dort zwangsgelagert Beleidigten verstehen. So weit muss man abheben, will man begreifen, wie es zu Bramsche kommt und warum es so schwierig ist, Bramsche konkret und abstrakt, also die Lagerpolitik insgesamt zu

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verändern. Selbst wenn es gelänge, das Lager dort zu schließen, bestünde die Gefahr neuer Bramsches. Indem die mehrfach ineinander verschachtelten Kontextbedingungen miteinander vermittelt werden, zuerst vom Konkreten zum Abstrakten hinauf oder hinab, nun vom Abstrakten in vermittelnden Schritten zurück, wird einsichtig, welche Faktoren und Funktionen „diese Welt" zusammenhalten, abgelesen an der Realität und am gesamtgesellschaftlichen, ja am weltpolitischen Symptom von Lagern. Damit ist kein politisch moralisches Urteil gefällt. Gerade wenn man versucht, wie andere und ich dies in anderen Zusammenhängen getan haben, die Lücke eines eindeutigen und gewissen Maßstabs durch empathisch historisch anthropologisch begründete und formulierte materialistische Menschenrechte nachdrücklich, wenngleich immer ambivalent und prekär auszufüllen, gerade dann weiß man zugleich, dass Walter Benjamins veränderter Revolutions-„Begriff', sein Griff nach der Notbremse, das Handfesteste und Beste ist, was wir vermögen. Betrachtet man die etablierten Nationalstaaten, nimmt man die ökonomisch-technologische Globalisierung in den Blick, muss man im Kontext des Themas „nur" in die Lagerwelt im Kongo, im Vorderen Orient, in Dafür, im Irak, in Pakistan, in Afghanistan, in Osttimor und anderen Weltorten schauen, um nicht an praktischer Hilfe zu verzweifeln, wie punktuell sie begrenzt ist. Allen Kontingenzen zum Trotz ist die analytisch-theoretische ohnehin schier unausweichlich, will man sich nicht in eitler Hofferei ein X für ein U vormachen. Am schlimmsten wäre es freilich, man verstockte in quietistisch-zynischer Indolenz. Theoretische Arbeit, die Anstrengungen der Begriffe, notwendig auf vielen Wegen, nicht reduktionistisch monoman, ist dringender denn je. Nicht allein um der Analyse dessen, was „ist" und seiner genealogischen Verflüssigung willen. Vielmehr ist es in Zeiten wachsender Interdependenzen geboten, analytisch nüchtern, politisch-moralisch nach Chancen anderer, nicht tödlich ausschließender Gesellung zu suchen. Dies gilt selbst, wenn faktisch immer nur Brosamen hin und her geschoben werden könnten. Wie viele Menschenleben, wie viele Lagerleben enthält ein Brosame! PS: Nicht nur stolze Hausbauer und kühne Glockenversenker waren die Schildbürger. Ihre Schule besuchen wir. Sie waren auch mutige Jäger. Fuchsjagd gehörte zu ihrer Lieblingsbeschäftigung in der Freizeit. Selbstverständlich betrieben sie diese ökologisch pfleglich und schonsam. Als sie wieder einmal auf große Jagd auf einen schier ungeheuer riesigen gesichteten Fuchs gegangen waren, feierten sie den Erfolg noch bis zur Morgendämmerung. Noch halb verschlafen erkannten sie am hei-

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len Tag, dass sie einen Fetisch erlegt hatten. Der Fuchs, längst auf anderer Gänsejagd, hatte ihnen eine Fellmaske überlassen. PPS: Meinem verehrten Lehrer Walter Schulz, einem Tübinger Philosophen der maijeutischen Sonderklasse, der also die Hebammenkunst eines hervorragenden Pädagogen zu handhaben wusste, verdanke ich diese Hegellegende. Um ein letztes Mal hegelkritisch Hegel zu apostrophieren: An einem Sonntagmorgen verlangte es Maria Helena Susanne Hegel, geb. von Tucher, eine geborene Nürnbergerin, wieder einmal mit „ihrem" Friedrich Wilhelm in die Kirche zu gehen. Mit dem Weltgeist in der Brust wies sie Hegel nur kurz und pathetisch ab: Nein, Denken ist Gottesdienst.

Die Wiederbelebung des Vertragsarguments in der politischen Philosophie Von Walter Reese-Schäfer Nach einigen generellen Bemerkungen über die Rolle und die Funktion der Vertragstheorien wird im zweiten Teil der neuere Stand der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls in ihren wesentlichen Grundzügen skizziert. Im dritten und vierten Teil geht es dann um Einwände und Probleme dieser Theorie in der praktischen Anwendung auf gegenwärtige Reformdiskussionen des Sozialsystems. Wer mit den Grundlagen der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie auf dem Diskussionsstand der beiden Bände „Politischer Liberalismus" (1993, dt. 1998) und „Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf' (2001/2003) vertraut ist, könnte in der Lektüre gleich zu diesen beiden Abschnitten übergehen. I. Vertragstheorien Die Vertragstheorien hatten ihre hohe Zeit im 17. und 18. Jahrhundert, also bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant. Sie haben im Prinzip immer den gleichen Dreischritt vollzogen: Vom anarchischen Naturzustand über den Vertrag zur Begründung der Gesellschaft bzw. des Staates. Weit über den engeren Bereich der originären politischen Philosophie hinaus hat dieser Ansatz auch das Denken etwa der Juristen bestimmt. Obwohl oft anderes unterstellt wurde, haben die meisten dieser Vertragstheorien gemeinsam, daß die Verträge nicht als faktische geschichtliche Ereignisse, sondern als theoretische Argumente normativer Art eingesetzt wurden. Sie dienen seit Hobbes zur Legitimation politischer Herrschaft vor dem Hintergrund eines Gedankenexperiments: Was wäre, wenn wir in einem nichtgesellschaftlichen oder nichtstaatlichen Zustand lebten? Dann würde ein „natürliches Recht" gelten, welches jeder auf alles hat und was unvermeidlich zu gewalttätigen Konflikten fuhren würde, so daß die Klugheit gebietet, dieses Recht aufzugeben,

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weil ein Recht auf alles für jeden in Wirklichkeit ein nichtrechtlicher Zustand ist, also ein Recht auf nichts. Charakteristisch für alle Vertragstheorien ist darüber hinaus die Annahme, daß politische Herrschaft prinzipiell legitimationsbedürftig ist, und daß diese Legitimation auf den Willen jedes einzelnen gegründet werden muß, also nicht auf eine vorgegebene höhere, ζ. B. theologisch legitimierte Ordnung. Das ist das eigentlich moderne Element der Vertragstheorien, die sich politische Herrschaft als freiwillige Selbstbeschränkung der Beherrschten denken, welche allerdings, nachdem sie einmal rechtlich verbindlich geworden ist, auch erzwungen werden kann. Dieser Zwang wird aber legitimiert dadurch, daß er im Kern in jedermanns Eigeninteresse ausgeübt wird, was mit den Schrecken des Naturzustandes begründet ist. Die Vertragstheorien sind im 19. Jahrhundert zunächst außer Kurs geraten, weil Romantik und Historismus des 19. Jahrhunderts eine verbindliche Legitimation von Institutionen durch einen neuen Blick auf das historisch Gewordene und die darin inkorporierte Vernünftigkeit an die Stelle des Vertragsdenkens setzten. Nicht mehr die theologische, sondern die historische Legitimation bewährter Strukturen wurde nun ein prägendes konservatives Argument. Die Vertragstheorien wurden eher der Aufklärung und Revolution zugerechnet; die romantische und historistische Gegenströmung mit ihren restaurativen Implikationen griff auf andere Rechtfertigungstopoi zurück. Doch auch der Rechtspositivismus, der schlicht vom jeweils geltenden Recht ausging, konnte mit dem Vertragsdenken, welches immer auch eine naturrechtliche Kritik und Hinterfragung des positiven Rechts ermöglichte und nahelegte, nichts anfangen. Hinzu kamen utilitaristische Begründungen, die nicht auf dem Willen basieren, sondern an den Interessen anknüpfen, so daß die Zustimmung der großen Zahl, aber nicht mehr wie in den reinen Vertragsspekulationen, die Zustimmung jedes einzelnen nötig war. Nach den Schrecken des Nationalsozialismus, als die Gefährlichkeit einer Verbindung von Historismus, Relativismus und Nihilismus deutlich geworden war, hat man zunächst auf naturrechtliche Argumente zurückgegriffen. In der sozialdemokratischen Tradition war dies ζ. B. bei Gustav Radbruch der Fall.

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II. Rawls' Gerechtigkeitstheorie Seit John Rawls' „A Theory of Justice" (1971) aber hat das Vertragsdenken einen neuen Aufschwung erlebt. Diese Theorie richtete sich allerdings weniger auf die Staatsbegründung, sondern vielmehr auf Gerechtigkeitsprinzipien. Das inzwischen klassische Gedankenexperiment von John Rawls ist der Ausgangszustand, auch original position oder gar Urzustand genannt, mit den metaphysischen Anklängen, wie Rechtsphilosophen sie so lieben. Dieser Ausgangszustand befindet sich unter dem Schleier der Unwissenheit: Welche strukturellen Optionen würde jeder einzelne wählen, wenn er oder sie noch nichts über die gesellschaftliche Position wüßte, die er oder sie aufgrund dieser Optionen und der persönlichen Voraussetzungen erlangen würde? Die unwissend Wählenden sind zwar über allgemeine soziale Gesetzmäßigkeiten informiert, kennen aber nicht ihre besondere individuelle Position: Behindert oder nicht, Hochschulabschluß oder nicht etc. Diese Lehre von John Rawls hatte eine geradezu sensationelle Durchschlagskraft und zeigte die Fruchtbarkeit des Vertragsarguments, welches in der politischen Philosophie vorübergehend verlorengegangen zu sein schien. Es strahlte sogar in die Individualethik aus, wo David Gauthier auch die Moral als auf Vereinbarungen statt auf einem kategorischen Imperativ basierend völlig neu konstruiert hat: Sie ist rückführbar auf die rationale Einigung kluger Egoisten zum Vorteil eines jeden und damit aller. „Der Sinn dieser gedankenexperimentellen Bedingung ist folgender: Wenn jemand Verfassungsprinzipien auszuwählen hat, über sich selbst aber nichts weiß, somit auch nicht feststellen kann, welche der zur Entscheidung stehenden Verfassungsprinzipien für ihn vorteilhaft sein könnten, muß er notgedrungen eine Wahl unter allgemeinen Gesichtspunkten vornehmen und wird nur Prinzipien wählen, die den allgemeinen, von allen notwendigerweise geteilten Interessen forderlich sind. Dieser in Fairneßbedingungen eingebettete Vertrag begründet eine Gerechtigkeitskonzeption, die Rawls als justice-as-fairness bezeichnet. Ihre beiden Prinzipien"1 lassen sich in gebotener Kürze wie folgt zusammenfassen: a) Gleiche Grundfreiheiten für alle.

1

Wolfgang Kersting, Vertragstheorien, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik, Bd. 1,S. 680 ff.

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b) Soziale Ungleichheiten sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie allen Gesellschaftsmitgliedern einen Vorteil bringen, was daran zu messen ist, ob sie den am meisten Benachteiligten irgendeinen Vorteil bringen (Differenzprinzip). 2 Das zweite Prinzip verlangt also die Legitimation von Ungleichheiten in einer Vertragskonstruktion. Mit diesem Prinzip „hat Rawls als erster politischer Philosoph überhaupt die Vertragstheorie zur Grundlage einer Theorie der sozialen Gerechtigkeit gemacht und einen ,kontraktualistischen Sozialdemokratismus ' begründet", wie Wolfgang Kersting das zutreffend genannt hat.3 Insbesondere diese kontraktualistische Begründung des Sozialstaats hat wohl die Breitenwirkung der Theorie von Rawls begründet, obwohl dies nur auf der Basis des zweiten und von ihm ausdrücklich als nachrangig erklärten Gerechtigkeitsprinzips möglich ist. Heute, im Zeitalter nicht mehr der Expansion, sondern der kritischen Überprüfung sozialstaatlicher Umverteilungsprinzipien, ist es nicht unwichtig, sich klarzumachen, daß Rawls den Vorrang der individuellen Freiheit vor den sozialen Umverteilungsprinzipien des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes ganz entschieden vertritt. Genau aus diesem Grunde kann sich seine Theorie der Gerechtigkeit zu Recht als liberale Konzeption bezeichnen. Freiheit darf, wenn überhaupt, nur um ihrer selbst willen eingeschränkt werden, also nur, um die Freiheit anderer zu schützen, nicht aber, um größere soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die Grundfreiheiten, vor allem die politische Freiheit, die im Wahlrecht und im Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden, besteht, sowie die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissens· und Gedankenfreiheit und die persönliche Freiheit, ebenso das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Verhaftung, sollen fur jeden gleich sein. Diese Vorrangsregel der Freiheit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit macht den entscheidenden Unterschied der Gerechtigkeitstheorie 2

„I. Jede Person hat den gleichen unabhängigen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. ... II. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip)." John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf (hrsg. v. Erin Kelly), Frankfurt a. M.), S. 78. 3 Kersting, S. 681.

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von Rawls gegenüber dem klassischen Utilitarismus aus, der das größte Glück der größten Zahl als Ziel hatte. Rawls wandte gegen diese Formel ein, daß sie es nahelege, die Rechte von Minderheiten oder einzelnen dann zu opfern, wenn dadurch der Gesamtnutzen vergrößert werden könne. Rawls nennt seinen eigenen Ansatz kantianisch, weil das Recht auf gleiche Freiheit jedem zustehen soll und jeder als Zweck, niemand aber als Mittel betrachtet werden darf. Im Utilitarismus dagegen, wie übrigens auch in bestimmten Versionen des Pragmatismus, können Menschen durchaus als Mittel betrachtet werden. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz, das sogenannte Differenzprinzip, gehört allerdings eindeutig nicht zu den klassischen Inhalten des Liberalismus, sondern ergänzt diesen um eine soziale Dimension, so daß die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls zutreffender als „Sozialliberalismus" gekennzeichnet werden sollte, auch wenn er selbst nachdrücklich auf dem Etikett des politischen Liberalismus beharrt. „Die Verteilung des Einkommens und Vermögens muß nicht gleichmäßig sein, aber zu jedermanns Vorteil, und gleichzeitig müssen mit Macht und Verantwortung ausgestattete Positionen jedermann zugänglich sein."4 Ungerechtigkeit ist nach dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz also jede Form von Ungleichheit, sofern sie nicht jedermann Nutzen bringt. Soziale Ungleichheit ist aber dann und nur dann zulässig, wenn jeder etwas davon hat. Dieser Gedanke erlaubt die Versöhnung des politischen Egalitarismus mit den am Markt im Selbstlauf entstehenden Einkommensunterschieden. Solange der Wettbewerb dem allgemeinen Wohlstand dient, gilt er fur Rawls als gerechtfertigt und sogar besser als eine Gleichverteilung, die zu Stagnation und allgemeiner Armut fuhren würde. Der größte Teil der Rawls-Literatur hat sich mit diesem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz auseinandergesetzt, weil hier eine zwar sehr theoretische, doch auch recht ingeniöse philosophische Rechtfertigung des liberal-demokratischen Wohlfahrtsstaats der 1960er Jahre geliefert wurde. Besonders das Differenzprinzip von Rawls ist als umverteilungstheoretische Legitimation der in den siebziger Jahren praktizierten Ausdehnung von wohlfahrtsstaatlichen Zahlungen interpretiert worden. Diese Theorie enthält aber umgekehrt eine klare Rechtfertigung von Ungleichheiten gerade gegenüber Verfechtern eines Gleichheitsdenkens. Sie stellt

4

John Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 82.

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damit eine Art sozialstaatlichen mittleren Weges dar.5 Dazu paßt auch Rawls' Hinweis: „Ein freies Marktsystem muß in einen Rahmen politischer und rechtlicher Institutionen eingebettet werden, die den langfristigen Trend ökonomischer Kräfte so regeln, daß übermäßige Konzentrationen von Eigentum und Vermögen verhindert werden, insbesondere solche Formen der Konzentration, die wahrscheinlich zu politischer Vorherrschaft fuhren." 6 Die argumentative Leistung besteht ja immer darin, gerade den Gegnern jeglicher Ungleichheit gegenüber den Nachweis zu fuhren, daß bestimmte Ungleichheiten auch von ihnen gewollt und gebilligt werden können oder sogar müssen, weil sie selbst dann, wenn man die Prämisse der Gleichheit aller annimmt, schlüssig vertretbar sind - so wie es die Leistung einer normativen rationalen Entscheidungstheorie ist (denen, die beanspruchen, ausschließlich von den Eigeninteressen jedes einzelnen auszugehen), nachweisen zu können, daß es im Eigeninteresse liegt, eine möglichst gerechte Gesellschaftsorganisation zu entwickeln und zu erhalten, also zu zeigen, daß ein moralisches, und das heißt immer zunächst gegen das vordergründige Eigeninteresse gerichtetes Verhalten bei näherer Betrachtung doch gut für einen selbst sein kann oder gar sein muß. Denn nur vordergründig betrachtet sind die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze das Ergebnis zweckrationaler Überlegungen von Individuen und lassen sich mit den Mitteln der Rational Choice-Theorie, also des methodologischen Individualismus der modernen ökonomischen Theorie der Gesellschaft herleiten. Bei genauerer Betrachtung allerdings handelt es sich um rationale Entscheidungen unter den Fairneßbedingungen des Urzustandes, die im wesentlichen in der Unkenntnis der eigenen zukünftigen Situation bestehen. Gerechtigkeit besteht dabei im gezielten Mangel an Information. Ein uralter Topos, daß Justitia nur mit verbundenen Augen gerechte Urteile fällen könne, erhält eine neue Variante durch den Schleier des Nichtwissens, welche diesmal auf jeden Entscheidungsbeteiligten, nicht nur den Richter paßt. Spieltheoretisch wird man in einer solchen Situation sich so entscheiden, daß man sich auch dann gerecht behandelt fühlen kann, wenn einem der Feind den Platz zuweisen kann. Der rationale Egoismus ist durch diese Konstruktion von vornherein entindividualisiert, denn ihr Egoismus ist nur scheinbar. In Wirklichkeit geht durch das Nichtwissen von vornherein ein Element des Allgemei5

Vgl. dazu Wilfried Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten. Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, Berlin / New York 2002. 6 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 79 f.

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nen in die Willensbildung ein und fuhrt zu einer moralischen Verfeinerung. Umstritten ist, ob die Individuen wirklich die Regel wählen würden, das Minimum zu maximieren. So kann es durchaus auch als rational angesehen werden, eine Regel zu wählen, nach der zehn Prozent extrem reich und der Rest arm und machtlos sein würden - weil die zehnprozentige Chance, unter den glücklichen Siegern zu sein, von einigen als ein hinreichender Anreiz fur dieses Risiko betrachtet werden kann. Risikoadverses Verhalten dagegen erlebt meist nur mäßige Belohnungen, während die Bereitschaft zu höchstem Risiko entsprechend auch mit höchsten Gewinnen belohnt werden kann. Würde man antworten, daß die Menschen unter dem Schleier der Unwissenheit am besten auch nicht wissen sollen, ob sie risikogeneigt oder eher ängstlich sein werden, also ihre Identität nicht kennen, würde dies philosophisch gesehen nichts nützen, denn es kommt allein auf die Vorstellung von rationaler Entscheidung unter Ungewissheit an, und diese kann offenbar auf einer ganzen Bandbreite von sehr riskant bis sehr vorsichtig stattfinden, so daß die Vermutung, es müsse eine einheitliche und dann auch als gerecht anzusehende Entscheidung herauskommen, dadurch widerlegt ist. D. h. selbst wenn der einzelne nicht wissen darf, welches Risiko er eingehen würde, so würde es doch schon reichen, wenn jeder zugesteht, daß mehrere unterschiedliche Formen von Risikobereitschaft als rational angesehen werden können. John Harsanyi hat argumentiert, daß man Risikoabschätzungen und Wahrscheinlichkeitsargumente aus der original position nicht ausschließen kann, selbst wenn Rawls das gerne möchte.7 Die „Theorie der Gerechtigkeit" hat vor allem deshalb einen so großen Eindruck hinterlassen, weil Rawls in diesem Buch die Anstrengung unternimmt, aus den beiden Gerechtigkeitsprinzipien eine Fülle von inhaltlichen Konkretisierungen abzuleiten, um auf diese Weise die grundlegenden Institutionen einer gerechten Gesellschaft zu entwickeln. Offenbar brauchte die Philosophie sich nicht, wie viele Sprachanalytiker nahegelegt hatten, auf die Klärung von Begriffen, Sätzen und Argumentationsstrukturen zu beschränken, sondern konnte reichhaltige inhaltliche und normative Aussagen machen, die sich darüber hinaus sogar noch wegweisend für die großen politischen Debatten der 1960er Jahre, also 7

Hierzu und zu weiteren fundamentalen Einwänden gegen das Maximin-Kriterium: John Harsanyi , Can the Maximin Principle serve as a basis for morality? A Critique of John Rawls's Theory, in: ders ., Essays on Ethics, Social Behavior and Scientific Explanation, Dordrecht 1976, S. 37-63.

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die Debatten um die Bürgerrechte, die Gleichstellung der Schwarzen, den Wohlfahrtsstaat und die Formen des zivilen Ungehorsams gegen Rassendiskriminierung und gegen den Vietnamkrieg erwiesen. Rawls wurde mit seiner Gerechtigkeitstheorie eine singulare Erscheinung in der Geschichte der politischen Philosophie, denn es gibt nicht einmal bei Spinoza, Rousseau oder Kant, sondern allenfalls bei Thomas Hobbes (und vielleicht noch bei dem sehr bald als Exzentriker ausgegebenen Fichte) eine derart stringente Verbindung von anspruchsvoller philosophischer Deduktion mit gegenwartsbezogener politischer Argumentation. Ganz anders als in Rawls' argumentativ schwächerem Spätwerk „Politischer Liberalismus" erweckt die Gerechtigkeitstheorie zumindest den Anschein, hier würde nach dem Ideal von Hobbes und Spinoza more geometrico aus wenigen klar und jedermann einsichtigen Prinzipien eine vollständige Deduktion geleistet. In Wirklichkeit hat Rawls allerdings von Anfang an von einem ergänzenden Prinzip Gebrauch gemacht, nämlich vom reflexiven Gleichgewicht {reflective equilibrium ), demzufolge alle aus den Grundprinzipien deduzierten Richtlinien in einem zweiten Schritt daraufhin überprüft werden müssen, ob sie auch mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen übereinstimmen, damit wir auf keinen Fall, nur weil sie aus den Grundsätzen abgeleitet werden können, irgendwelche Regeln einfuhren müssen, die dem common sense radikal entgegenstehen. Die Regeln einer wohlgeordneten Gesellschaft müssen also in ein reflexives Gleichgewicht mit den allgemein üblichen Regeln gebracht werden. Modifikationen sind auf beiden Seiten möglich und wünschenswert, weil die Ableitungen mitunter fehlerhaft und starr sind und unsere generell gültigen Vormeinungen sich als überholt oder unbegründet erweisen können, wenn sie im Lichte der Gerechtigkeitstheorie überprüft werden. Das Prinzip des reflexiven Gleichgewichts ist ein sehr moderates Modell zur doppelten Überprüfung sowohl der Prinzipien wie auch der Realität. Rawls ist ganz offensichtlich alles andere als ein radikaler Aufklärer und Utopist, sondern schon im theoretischen Grundansatz, nicht erst in der politischen Praxis, ein moderater Sozialreformer, der allen radikalen Ideen abgeneigt ist und dennoch nicht darauf verzichten will, aus philosophischen Prinzipien heraus zu argumentieren. In der klassischen Vertragstheorie von Hobbes bis Kant war es immer um die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft gegangen. Der Neokontraktualismus von Rawls dagegen begründet die normativen Prinzipien gesellschaftlicher Gerechtigkeit, die für ihn in dieser Reihenfolge in der

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Verbindung von liberalen Freiheitsrechten mit der Legitimierung von sozialen Differenzen bestand, sofern und solange diese auch noch für die am meisten Benachteiligten irgendeinen Vorteil bringen würden. Rawls hat damit, von egalitären Voraussetzungen ausgehend, argumentativ entwickelt, unter welchen Bedingungen soziale Ungleichheit als gerecht gelten kann und somit akzeptiert werden sollte. Es war immer als eine Schwäche des klassischen Liberalismus angesehen worden, daß er überkommene Ungleichheiten einfach als soziale Tatsachen hingenommen hatte und damit argumentativ auf schwachen Füßen stand. Der Sozialliberalismus von Rawls stellt demgegenüber eine wesentliche theoretische Innovation dar. Die Praktikabilität einer Gerechtigkeitskonzeption unter dem Schleier der Unwissenheit ist in jüngster Zeit in Zweifel geraten. So hat zum Beispiel der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 11. November 1999 zum Länderfinanzausgleich festgeschrieben, „daß die Maßstäbe der Steuerzuteilung und des Finanzausgleichs bereits gebildet sind, bevor deren spätere Wirkungen konkret bekannt werden."8 Dies entspricht ziemlich genau der Rawlsschen original position . Die Finanzminister der Länder, die aufgrund dieses Urteils bindend verpflichtet waren, so vorzugehen, haben dies sofort für absurd erklärt: Sie könnten doch keiner Regelung zustimmen und diese zu Hause vertreten, bei der sie nicht schon im Augenblick ihrer Zustimmung sagen und berechnen könnten, ob dies für ihr Bundesland eine Einbuße oder einen Zugewinn bedeute und wie hoch diese Differenz sei. Der unter dem Einfluß des damaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof festgeschriebene Rawlssche Grundsatz erscheint damit in der politischen Praxis als vollkommen realitätsfern. Es gibt eben keine Ausgangssituation, in der alle gleich sind, sondern immer einen konkreten Zustand, von dem ausgehend sich zumindest niemand schlechter stellen will. John Rawls hat hierzu in seine Theorie das sogenannte Pareto-Optimum eingeführt. „Das Prinzip erklärt einen Zustand für optimal, wenn man ihn nicht so abändern kann, daß mindestens ein Mensch besser dasteht, ohne daß irgend jemand anders schlechter dasteht."9 Dies entspricht dem Sachverhalt, daß anders als in der Ausgangssituation in jeder konkreten Situation immer schon Leistungen erbracht und unterschiedliche Vermögen erworben worden sind. Es dürfte folgerichtig einer grundlegenden moralischen Intuition 8 9

BVerfG BvF 2/98, Abs. 3 vom 11. November 1999. Rawls , Theorie der Gerechtigkeit, S. 87 f.

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entsprechen, dies auch gebührend zu berücksichtigen und eben nicht durch Rückversetzung in den Ausgangszustand die gesamten Bundesländer gleichzustellen und so das Ergebnis ζ. B. einer sparsamen Haushaltspolitik, einer rechtzeitigen Reduktion des öffentlichen Dienstes und einer vorausschauenden Standortpolitik, also wohlerworbene Vorteile, hinfällig werden zu lassen. Damit ergibt sich, daß die auf den ersten Blick so plausibel erscheinende Verteilungsgerechtigkeit nur sehr mittelbar und sehr entfernt aus dem Ausgangszustand ableitbar ist. In der praktischen Politik, wo zudem Repräsentanten für ihre Verhandlungsergebnisse von den betroffenen Bürgern und vor allem von den Parlamentariern auch zur Rechenschaft gezogen werden können, ist die beliebige Verfügung über durch Leistung erworbene Wohlstandsvorteile nicht ohne weiteres möglich. Die richterliche Moralphilosophie scheitert hier.

Die Gerechtigkeitstheorie von Rawls ist in der politischen Theorie nicht sein letztes Wort geblieben. Sein zweites Hauptwerk „Politischer Liberalismus" enthält eine gewichtige Selbstkritik. Er habe damals nicht hinreichend berücksichtigt, daß unsere Gesellschaften unaufhebbar pluralistisch seien und daß es auch bei vollkommen rationaler Argumentation auf allen Seiten genügend Gründe geben könne, zu unterschiedlichen Auffassungen von Gerechtigkeit, Glück usw. zu kommen. Die Bürden der Vernunft und des Urteilens (the burdens of reason) seien so stark, daß eine umfassende philosophische Konzeption der Gerechtigkeit schon ein Problem an sich darstelle. Ein wirklich politisches Gerechtigkeitsdenken müsse sich auf den Bereich zurücknehmen, der für das Zusammenleben unabdingbar sei, und alle darüber hinausgehenden Regelungen meiden. Ein übergreifender Konsens sei auch ohne umfassende politische Konzeption möglich. Zu regeln bliebe allein die gesellschaftliche Grundstruktur. Am Vorrang der Freiheit vor der sozialen Umverteilung hält Rawls konsequent fest. Das besondere Reich der Politik zeichnet sich dadurch aus, daß politische Macht immer mit der Macht zu zwingen verbunden ist. Dieser Bereich muß gerade aufgrund seines Gewaltpotentials freistehend, d. h. ohne religiöse, philosophische oder metaphysische Rückgriffe auf Überlegungen, die nicht die Zustimmung von jedermann finden können, begründet werden. Die Bürger selbst können dann als Individuen oder als Gruppen ruhig umfassenden Lehren anhängen, sofern sie im politischen Bereich, also in der Welt der Rahmeninstitutionen sowie des alltäglichen Umgangs mit Andersdenkenden, die Prinzipien des liberalen Grundkonsenses akzeptieren. Die Gerechtigkeit als Fairneß muss gedanklich so konzipiert sein, daß sie in der Lage ist, auch die Zu-

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Stimmung von solchen Bürgern zu gewinnen, die gedanklich völlig ande-

ren Konzeptionen anhängen. Rawls hat dies in der Formel zusammengefaßt: „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch, aber nicht metaphysisch."10 Eine politische Gerechtigkeitskonzeption, die zu freien Institutionen fuhrt, muß also fur eine Vielzahl widerstreitender umfassender Lehren akzeptabel sein. Diese umfassenden Lehren ihrerseits werden jedoch durchaus benötigt, um des Zusammenlebens willen im politischen Bereich einige ihrer weitergehenden Fundamentalauffassungen zurückzustellen - auch und gerade dann, wenn diese für das eigene Selbstverständnis und die eigene Identität besonders wichtig sind. Der Vorrang des Politischen, sobald die staatliche Zwangsgewalt berührt ist, bleibt für Rawls eindeutig. Sein Liberalismus ist keineswegs zahnlos. Dieser Gedanke ist das Spätprodukt der religiösen Toleranzvorstellungen, die nach 1648 sukzessive durchgesetzt worden sind. „Es ist für das dauerhafte Bestehen eines gerechten demokratischen Staates entscheidend, daß die politisch aktiven Bürger diesen Gedanken verstehen."11 John Rawls hat den Rest seines Lebens damit zugebracht, sein Kernargument immer mehr den realen Gegebenheiten anzupassen. Schon aus Anlaß der ersten Übersetzung des Buches in eine andere Sprache hat er die Argumentation überarbeitet und schließlich eine Neufassung seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß vorgelegt. Vor allem hat er den Status dieser Theorie vollkommen anders interpretiert: Es handelt sich nicht mehr um eine umfassende, in seiner Sprache „metaphysische" Theorie, sondern um eine politische Konzeption der Gerechtigkeit, die auch Anhängern anderer Theorien plausibel erscheinen muß. Es geht also nicht um eine letztbegründete Theorie, die nur für wenige nachvollziehbar ist, sondern um eine Konzeption, die so wenige allgemeinphilosophische Voraussetzungen verlangt und mit so vielen philosophischen und politischen Ansätzen vereinbar ist, daß sie politisch integrativ wirkt und eben nicht eine sektenmäßige Spaltung produziert. Damit erscheinen die Grundprinzipien in einem völlig anderen Licht. Nicht mehr das risikoadverse Verhalten im Urzustand, also eine im Grunde psychologische Annahme, die man auch bestreiten könnte, wie es Harsanyi und andere getan haben, sondern allgemeine Prinzipien wie das der Öffentlichkeit der Abwägung und das der Reziprozität, also der Gegenseitigkeit, treten nun in den Vordergrund. Die Vorstellung von einer wohlgeordneten Ge10 John Rawls , Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 354, 255-293. 11 Rawls , Liberalismus, S. 362.

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sellschaft wird dadurch realistischer: Sie basiert auf einer Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs und einem öffentlichen Rechtfertigungsanspruch.12 III. Einwände und Probleme Rawls' Theorie wurde in der Rezeption vor allem als Fundamentalbegründung für die in praktisch allen westlichen Ländern durchgeführten wohlfahrtsstaatlichen Reformen der 1960er und 1970er Jahre verstanden. Heute, im Zuge der kritischen Selbstüberprüfung dieser Ansätze unter den Gesichtspunkten der Finanzierung, der Verdrängung von Arbeitsmarkteinkommen durch Transfer- und Umverteilungsleistungen, des Primats der Eigenleistung und der Eigenverantwortung nicht zuletzt zum Zweck der Selbstkontrolle der Kosten und der Gerechtigkeit nicht mehr nur der Verteilung, sondern auch der Leistungserbringung, steht eine ReLektüre sowie Weiterentwicklung von Rawls an, die derzeit allenfalls in den ersten Anfängen steckt. Insbesondere ist gegen die Argumentationen zum ersten Gerechtigkeitsprinzip von John Rawls immer wieder vorgebracht worden, der faire Wert der gleichen politischen Freiheiten sei in Wirklichkeit nicht garantiert, weil er von der unterschiedlichen sozialen Stellung und deren unterschiedlichen finanziellen wie machtmäßigen Mitteln eingeschränkt sei. Die Freiheit sei also, wie vor allem von marxistischer Seite vorgebracht wird, bloß formal. Rawls' Antwort hierauf lautet: Das politische System sollte Maßnahmen ergreifen, um den fairen Wert der politischen Freiheiten zu garantieren. Dazu gehören Einschränkungen von Wahlkampfspenden, öffentliche Subventionierungen von Wahlen, Gewährleistung eines ausgeglichenen Zugangs zu den öffentlichen Medien.13 Dies soll allerdings nur für die politischen Freiheiten gelten. Darüber hinausgehend hält Rawls es für irrational, überflüssig und sozial konfliktträchtig, den fairen Wert auch aller übrigen Grundfreiheiten garantieren zu wollen, also z. B. der freien Berufswahl, der freien Wahl des Wohnortes etc.14 Eine gleichmäßige Einkommensaufteilung sei irrational, weil die Gesellschaft dann die Anforderungen der Effizienz und sozialen Organisation nicht mehr erfüllen kann. Diese von Rawls klar gezogene Differenzlinie wird in vielen Diskussionen nicht beachtet. 12 13 14

Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 15 ff. Vgl. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 232. Vgl. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 233.

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Eine kritische Revision der Lehre von Rawls unter heutigen Gesichtspunkten scheint mir unverzichtbar. Leider ist die gängige Rezeption meist noch mit dem Verstehen und Nachzeichnen der Theorielinien befaßt, weniger dagegen mit den konkreten politischen Folgerungen, die uns hier zentral interessieren. Ein Aspekt vor allem wird in der gegenwärtigen Rawls-Diskussion zu wenig beachtet: Die Kategorie der Eigenleistung und Verantwortungsübernahme, d. h. die Aufstellung eines Anspruchs an die Einzelnen, zunächst einmal selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, also die Vorstellung, daß individuelle Freiheit nicht nur Resultat von Freiheitsrechten ist, sondern auch vom selbstbewußten Aufbau der eigenen Handlungsgrundlagen abhängt, also des Erwerbs dessen, was früher als Eigentum bezeichnet wurde, und was man jetzt eher unter dem Titel Anrechte diskutiert. Eine Vertragstheorie geht immer von einer Vereinbarung von mindestens zwei Parteien aus, bei denen jede Leistungen zu erbringen hat. Die konkrete Gegenleistung ist bei Rawls nur sehr ungefähr definiert. Ausgangspunkt ist für ihn das Verständnis der Gesellschaft als sozialer Kooperationszusammenhang. Die Beteiligten werden verstanden als Wesen, die zur Kooperation imstande sind, und zwar „ein ganzes Leben lang"15, was, wenn man an Kinder oder Kranke denkt, eine gewisse Unscharfe in den Kooperationsbegriff bringt. Es ist einsehbar und nachvollziehbar, daß die Ergebnisse einer Kooperation, also einer gemeinsam organisierten Anstrengung, anschließend gerecht zu verteilen sind, und das heißt wohl im wesentlichen, nach den Leistungsanteilen, die die einzelnen erbracht haben. Eine gleiche Entlohnung wäre bei unterschiedlichem Beitrag genauso ungerecht wie die Nicht- oder Geringhonorierung von wesentlichen Beiträgen. Was ist aber mit denjenigen, die zur Kooperation nichts beitragen, z. B. weil sie als Arbeitslose keinen Beitrag zum Sozialprodukt leisten und diese Arbeitslosigkeit nicht mehr als vorübergehende Sucharbeitslosigkeit, sondern als Dauerzustand definiert werden muß? Oder ist der Kooperationsbegriff bei Rawls so weit gefaßt, daß schon jede Anwesenheit in einer Gesellschaft als Kooperation gedeutet werden kann? Die Rational Choice-Theorie arbeitet für solche Fälle mit Ersatzkonstruktionen, wenn sie z. B. das Almosengeben an Bettler erklären soll: man konstruiert so etwas wie den nuisance value der Armut, den Lästigkeitswert, von dem man sich durch eine milde Gabe freikauft. Empirisch 15

Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 44.

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läßt sich ermitteln, daß dies nur selten das Motiv des Gebenden ist, obwohl einige besonders aggressiv Bettelnde ihr Handeln durchaus auf dieser Theorie basieren mögen. In anderen Fällen könnte der Kooperationsbeitrag durchaus in einer Art Erpressung bestehen, d. h. im Unterlassen einer Handlung, mit der gedroht werden könnte: „Dann brennt die Ruhr" war ein klassischer Topos bei der erfolgreichen Durchsetzung der Steinkohlesubventionen. Die Agrarsubventionen werden durch die immer möglichen Bauernprotestaktionen ebenfalls stark gestützt. Kooperation bestand dann im Unterlassen des Angedrohten. Von solchen Überlegungen aus kommt man vielleicht zu einem besseren Verständnis des vertragstheoretischen Denkens. Es geht immer um das Ordnungssystem im Ganzen, also um die Grundstruktur. Die Verteilung bestimmter hergestellter Güter im einzelnen, oft unter solche Personen, die nach spezifischen Bedürfnissen oder Wünschen etwas benötigen, aber bei der Produktion gar nicht zusammengearbeitet haben, kann kein Thema dieser Gerechtigkeitstheorie sein,16 denn auf welcher Basis sollte ein Vertrag geschlossen werden: Die etwas herstellen oder leisten, werden vermutlich in keinen Vertrag einwilligen, in dem sie ohne Gegenleistungen denen etwas übertragen, die nichts produzieren. Rawls nennt dies das Problem der allokativen Gerechtigkeit, und die Idee einer allokativen Gerechtigkeit lehnt er grundsätzlich ab, weil sie mit der Vorstellung einer Gesellschaft als fairem und produktivem Kooperationszusammenhang nicht vereinbar ist. Die vertragstheoretisch fundierte Kooperationsgerechtigkeit besteht darin, daß sie allein im Hintergrund wirkt und jede Einzelverteilung von Gütern, wenn sie nur in einem fairen Verfahren zustandegekommen ist, also ohne Verletzung der Regeln, als gerecht akzeptieren muß. Im politischen Diskussionsprozeß dagegen haben wir es immer wieder mit Nachregulierungen und Nachjustierungen zu tun, die sich oftmals gerade auf solche Fälle beziehen, in denen ein Sozialsystem empörend wenig auszahlt. Der primäre Gegenstand einer politischen Gerechtigkeitstheorie ist dagegen immer die Grundstruktur, nicht die Einzelfallgerechtigkeit. Es geht also darum, wie sich die gesellschaftliche Ordnung so vereinbaren läßt, daß „langfristig und generationenübergreifend ein faires, leistungsfähiges und produktives System der sozialen Kooperation aufrechterhalten werden kann"17: Das ist die entscheidende Ausgangsfrage 16 17

Vgl. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 88. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 88.

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der modernen Vertragstheorie. Es handelt sich um den Gesellschaftsvertrag, nicht um Einzelverteilungsprinzipien. Bei Rawls werden diese Fragen auf einer sehr viel abstrakteren Ebene behandelt, indem er postuliert, daß zwei moralische Vermögen bei allen Personen vorausgesetzt werden müssen (das Wort Voraussetzung scheint er hier normativ zu verwenden): 1. Eine Anlage zum Gerechtigkeitssinn, „also die Fähigkeit, die für die fairen Bedingungen der sozialen Kooperation bestimmenden Prinzipien der politischen Gerechtigkeit zu verstehen, anzuwenden, sich von ihnen zum Handeln motivieren zu lassen (und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln)." 2. „Das andere Vermögen ist die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen", also von den Endzwecken, die man selbst im Leben anstrebt, und diese Zwecke in eine geordnete Reihenfolge zu bringen, sie zu vertreten, zu revidieren und rational durchzusetzen. Das geschieht normalerweise im Rahmen einer bestimmten philosophischen oder religiösen Interpretationskonzeption, wie rudimentär auch immer diese angelegt sein mag.18 Diese beiden Voraussetzungen enthalten vor allem zwei wesentliche normative Ansprüche, nämlich eigene Ziele zu haben und diese auch rational in dem Sinne zu verfolgen, daß man sie auch anderen zubilligt und an einer gerechten Koordination interessiert ist, die andere nicht zu kurz kommen läßt. Diese Voraussetzungen sind enorm hoch: nicht die kluge Verfolgung eigener Ziele, wie sie die ökonomische Theorie anstrebt, sondern die rationale Selbstbeschränkung als moralische Wesen wird hier verlangt. Mögliche Kooperationsunwilligkeit wird bei Rawls nicht thematisiert. Das moralische Vermögen, „voll und ganz am kooperativen Leben der Gesellschaft teilzunehmen"19, ist also die Grundlage der Gleichheit, zudem gelten offenbar nur die voll kooperierenden Angehörigen einer politischen Gesellschaft als Gleiche20. Wenn man diese Überlegungen sehr genau prüft, stößt man wiederum auf ihren liberalen Kern: sie gelten nur für die politische Sphäre, für die politische Kooperation. Dort werden aber die Verteilungs- und Umverteilungsentscheidungen getrof18 19 20

Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 44. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 46. Vgl. Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, S. 47.

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fen, die mit der Zwangsgewalt der staatlichen Ebene durchgesetzt werden, selbst wenn bei wachsender Exklusion aus dem ökonomischen Kooperationsprozeß und bei zunehmender Kooperationsunwilligkeit in diesem Feld weniger zu verteilen sein wird. Die Einfuhrung von Eigenverantwortung und Eigeninitiative an dieser Stelle ist in diesem Denken, soviel ich sehen kann, nicht hinreichend vorgesehen. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Diskussionen um John Rawls' Theorie haben erbracht, daß eine Gerechtigkeitstheorie heute nur als politische Konzeption vertretbar ist, d. h. nicht auf großartigen metaphysischen Prinzipien beruhen darf, weil diese nur von wenigen akzeptiert und nachvollzogen werden können, sondern so aufgebaut sein muß, daß sie mit der größten Bandbreite von Unterschieden individueller oder kollektiver Überzeugungen vereinbart werden kann. Die Voraussetzungen sollten so sparsam wie möglich sein. Es handelt sich um eine Theorie des übergreifenden Konsenses, der nicht ein simpler Kompromiß verschiedener metaphysischer, also vermutlich falscher Überzeugungen sein soll, sondern eigenständig, aber auf der Basis allgemein akzeptabler Annahmen begründet werden muß. Die Fehlermöglichkeiten der politischen Urteilskraft müssen einkalkuliert werden - hier liegt ein gewisser Fallibilismus vor, wie wir ihn auch aus der Theorie von Karl Popper kennen. Man muß also ausgehen vom Faktum eines vernünftigen Pluralismus und dies auch hinnehmen können. IV. Vertragstheorie: Gesamtbeurteilung

Die Vertragsmetapher hat ihren Reiz vor allem darin, daß sie die Zustimmung eines jeden erfordert, d. h. auf einer Anerkennung des einzelnen basierend zu einer Legitimation von Institutionen und kollektiven Handlungsformen gelangen kann. Sie gibt zugleich eine Anleitung, wie jeder sein Handeln in Entscheidungssituationen reflektieren kann: Was würde der fiktive Gesellschaftsvertrag vorschreiben oder verlangen? Was könnte vernünftigerweise erwartet werden? Das Vertragsdenken in Kooperationszusammenhängen ist damit auf den ersten Blick das genaue Gegenteil einer Klassenkampf- oder Konfliktsoziologie, wo es im Gesellschaftsverständnis darum ginge, die andere Seite (den Neoliberalimus, die Gewerkschaften) um ihre Ansprüche zu bringen und die eigenen durchzusetzen.21 Der jeweilige Erfolg würde dann von der Stärke der ei21

So ζ. Β bei Ralf Dahrendorf,

Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992.

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genen Position abhängen, nicht von übergreifenden Regeln. Bei genauerer Betrachtung ist die Vertragstheorie eine Philosophie des regulierten Konflikts im Rahmen eines Ordnungs- oder Institutionensystems, in dem nicht einfach nur vorhandene Konflikte entschärft und dadurch handhabbar gemacht werden können, sondern in dem sie vor allem so geregelt werden, daß sie produktiv werden. Kooperation braucht dann nicht bloß antagonistische Kooperation nach dem Typus des Nullsummenspiels zu sein, in dem der Vorteil der einen Seite immer durch den Verlust auf Seiten der anderen bezahlt werden muß (nach dem berühmten Motto: Ihr Geld ist nicht weg, es hat jetzt nur jemand anders), sondern in dem allein schon das Faktum der friedlichen und das heißt eigentlich immer ökonomisch produktiven Kooperation einen gemeinsamen Zugewinn ermöglicht. Das heißt: auch Konkurrenten und Antagonisten können bei geeignetem Institutionendesign gemeinsame Kooperationsgewinne erzielen.

Die demokratietheoretische Qualität von Vertragstheorien liegt darin daß sie auf der Zustimmung jedes einzelnen aufbauen und jedem einzelnen dabei das gleiche Stimmrecht geben. Ein charakteristisches Element des bürgerlichen Wirtschaftslebens wird zur Grundlage der Politik erhoben. Insofern hat die Kritik, die Vertragstheorien der Neuzeit seien im Kern besitzindividualistisch und Ausdruck einer bürgerlichen Ideologie, durchaus einen ernstzunehmenden Punkt getroffen. 22 Bei Rawls und seinen Nachfolgern scheint dieses Problem jedoch weitgehend ausgeräumt. In diesen neokontraktualistischen Theorien ist klar, daß der Gesellschaftsvertrag sich auf die Grundstruktur beziehen muß, daß aber die vielen einzelnen Verträge des Alltags die Legitimation der Zustimmung aller Beteiligten, die sie in jedem Einzelfall haben mögen, nicht auf das Gesamtsystem übertragen können. Es entstehen einfach zu viele im Rückblick empörende Ungereimtheiten, die durchaus auf vertraglicher Basis vereinbart worden sein mögen. Es ist ja nur eine Fiktion, daß Verträge zwischen Gleichen geschlossen werden: es gibt kontingente Umstände, z. B. daß einer der Vertragspartner aus welchen Gründen auch immer in Eile ist, die ihn fur ihn nachteilige Verträge unterzeichnen lassen; es gibt den Fall, daß der Vertragspartner auf der einen Seite, z. B. ein Privatmann, der ein Eigenheim kauft, dies höchstens ein- oder zweimal in seinem Leben tut und einem Makler gegenübersteht, für den dies das tägliche Geschäft ist, und es gibt den Fall der strukturellen, macht-

22

Vgl. C. Β. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M. 1980.

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mäßigen Ungleichheit. Der berühmteste Fall sind die sogenannten ungleichen Verträge, die China schließen mußte und in denen Hongkong und andere Enklaven ausländischen Mächten übertragen wurden. Diese Verträge wurden von chinesischer Seite immer kritisiert, allerdings bis zum Schluß eingehalten. Viele Arbeitsverträge haben angesichts eines Nachfrageüberhangs einen vergleichbaren Status, d. h. die Bedingungen sind nicht wirklich frei aushandelbar. Das meine ich mit der Gleichheitsfiktion: Verträge kommen dann zustande, wenn sie im beiderseitigen Interesse sind. Die Macht- und Verhandlungspositionen beider Seiten können dagegen sehr unterschiedlich sein. Insbesondere die heute sich immer stärker verbreitende Institutionalisierung von Zusatzverträgen in Form von „Zielvereinbarungen", welche im kleinen und kleinsten Rahmen eine Finanzierung gegen die Zusicherung der Erbringung einer bestimmten Leistung gewähren, zeigt, daß Vertragsinhalte im Grunde hierarchische Führungsinstrumente sein können, mit denen Geldgeber eine lückenlose Befehlskette auch in solchen Kooperationsstrukturen einfuhren können, die vorher häufig auf einer Gleichheitsfiktion der Kooperierenden beruhten. Da Verträge beide Seiten binden, kann auf diesem Wege insbesondere bei der Auszahlung von Geldern statt gleichberechtigter Kooperation ein Angestellten- und Untergebenenverhältnis auch gegenüber formal Gleichen institutionalisiert werden. Das wird inzwischen auch schon in Fabriken praktiziert, weil vielen Hierarchen die in Kooperationsstrukturen von Fachleuten (ζ. B. bei Facharbeitern, Ingenieuren, aber auch beim Krankenhauspersonal etc.) sich häufig entwickelnden Gleichheitsmomente ein Dorn im Auge sind. Da dies leicht zu erkennen ist, darf man die legitimatorische Bedeutung der Vertragsmetapher nicht überschätzen. Jeder kennt ungleiche Verträge aus seiner Alltagserfahrung und wird das politische System nicht höher achten, wenn er erfährt, daß es auf einem impliziten Vertrag beruht oder an diesem gemessen werden soll. Die Vertragsfiktion kann allerdings als eine anschauliche und auch im Alltag verständliche Umschreibung und Bildlichkeit gelten, aus der heraus bestimmte vorhandene Strukturen oder geplante Projekte, also vor allem Reformprojekte, daraufhin überprüft werden können, ob sie unseren wohlerwogenen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen. Die Theorie von Rawls zeigt insbesondere, daß Gerechtigkeit und Gleichheit nicht verwechselt werden dürfen, daß soziale Gerechtigkeit sehr wohl mit Ungleichheit verbunden sein kann und normativ gesehen aus Gründen des Anreizes, der Effizienz

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und der Produktivität auch sein sollte, was viele Theoretiker der sozialen Ungleichheit nicht verstanden haben. Vor allem können diese Theorien dazu dienen, einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit zu finden, d. h. aus dem Begründungsdefizit der Reformprojekte, mit dem wir es zu tun haben. Die Erforderlichkeit vieler Projekte wird nur bei einem geringen Teil der Bürger und Wähler verstanden, weil die Diskussion nicht mit Gerechtigkeitskriterien, die ja immer einen übersubjektiven Charakter haben, d. h. die eigenen Bedürfnisse und Interessen in eine deliberative Relation zu denen anderer bringen können, sondern allein mit dem Kriterium der erwarteten individuellen Vor- oder Nachteile gefuhrt werden, also als schlichte und vielfach auch zu kurz greifende Interessendiskussion. Anders und vielleicht etwas plakativer ausgedrückt: Unter dem Geldgesichtspunkt macht es keinen Unterschied, ob jemand ein Arbeitseinkommen oder eine Transferzahlung bezieht. Unter dem Gesichtspunkt von Leistung und Gegenleistung und unter dem Gesichtspunkt des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes, also des Gemeinwohls, also einer auch vertragstheoretisch zu beurteilenden Relation zu anderen, ist es aber ein Unterschied ums Ganze, weil das eine das Gesamtprodukt erhöht, das andere davon abgezogen werden muß. Hier geht es um die Frage: produktiv oder unproduktiv. Dies ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein politiktheoretisches Argument, welches 1790 von Condorcet zugespitzt worden ist: Die römische Republik sei untergegangen, weil das Volk, welches doch eigentlich der Souverän war, „durch die Gewohnheit, aus öffentlichen Mitteln ernährt zu werden, erniedrigt und durch die Spenden der Senatoren verdorben, die scheinbaren Reste seiner nutzlosen Freiheit verkaufte an einen einzigen Mann."23 Die Leistung der Vertragstheorien besteht somit in der Bereitstellung einer Sprache und Bildlichkeit der Abwägung, der Deliberation zwischen verschiedenen Interessen, und in einem Überspringen der Betrachtungsweise nach reinen Konfliktgesichtspunkten, Klassen- bzw. Gruppeninteressen oder reinen Individualinteressen. Es geht in Vertragskonzeptionen immer um die Koordination der Einzel- oder Partikularinteressen mit der generellen Ausrichtung und Entwicklung einer Gesellschaft oder zumindest mit der generellen Ausrichtung der Aktivitäten des politischen Systems innerhalb einer solchen Gesellschaft. 23 Antoine de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (hrsg. v. Wilhelm Alff), Frankfurt a. M., S. 91.

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Selbstverständlich könnte man diese Vermittlung auch auf andere Weise erzielen wollen, ζ. B. indem man an übergreifende Wertvorstellungen, Prinzipien, Grundwerte, von denen man glaubt, daß jeder sie teilt oder wenigstens teilen sollte, und gemeinsame Ziele appelliert. Das ist der eher traditionelle Weg der Legitimation, strukturell vorneuzeitlich, und in einer sich wertmäßig pluralisierenden Gesellschaft eher etwas archaisch. Der Erfolg der großen neuzeitlichen Vertragstheorien hat eine seiner Ursachen - neben der Entwicklung bürgerlicher Wirtschafts- und Verhandlungsstrukturen und einer Durchjuridifizierung, also Verrechtlichung und Verrechtsstaatlichung der Gesellschaft - in der konfessionellen Pluralisierung der Neuzeit und damit in der Einsicht, wie schwierig es ist, auf übergreifende Wertvorstellungen zurückzugreifen. Statt dessen gibt es nur mehr vorübergehende Einigungen auf bestimmte Vorstellungen, die normalerweise für beide oder alle Seiten die Zurückstellung gerade des für die eigene Identität entscheidenden Aspektes bedeuten. Darin liegt die Modernität vertragstheoretischer Konzeptionen, die in einigen außerwestlichen Kulturen längst noch nicht angekommen ist. Die Sprache der Vertragstheorien erscheint damit als eine Sprache, die eher der unausweichlichen Pluralität heutiger Gesellschaftsstrukturen angemessen ist. Wir müssen uns aber darüber klar sein, daß sie ihre Schwächen in der Struktur ungleicher Verträge hat, daß immer wieder gefragt werden muß, ob ein Vertragsargument auch einer Situation angemessen ist, oder ob die Konstruktionen nicht zu umständlich oder gar unangemessen und unpassend sind. Fazit Ich komme deshalb zu dem Ergebnis, daß die Sprache der Vertragstheorie nicht nur zur Legitimation in der gegenwärtigen Reformdiskussion stärker herangezogen werden sollte, sondern auch zur Bestimmung der Reformziele im einzelnen. Man muß sich immer darüber im klaren sein, daß diese Theorien auch nur eine Art und Weise sind, eine Sprache sind, in der dies entschieden, bewertet und kommuniziert werden kann. Diese Sprache ist aber einer Sprache der reinen Individualinteressen überlegen, und sie ist auch einer Sprache der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, denen man sich zu unterwerfen habe, überlegen. Diese Gesetzmäßigkeiten gelten zweifellos für den Bereich des Wirtschaftssystems und wirken insofern in das politische System hinein, als die Einnahmeentwicklung und die Finanzierungsmöglichkeiten politischer Vorhaben vom Erfolg der

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ökonomischen Prozesse nicht unabhängig sind. Das politische System in seiner Grundstruktur würde aber falsch verstanden, wenn man es ebenfalls als profitmaximierenden Mechanismus interpretieren würde, denn es basiert nicht darauf sondern auf einer Kombination von Herrschaft (als Macht, gewaltsamen Zwang geordnet und legitim einzusetzen) und Vereinbarung. Hier ist die Sprache des Vertrags unter Gleichen wesentlich angemessener. Die Vertragstheorien sind immer noch nicht hinreichend fein entwickelt, um systematisch zwischen politischen und wirtschaftlichen Vertragskonzeptionen und Vertragsstrukturen zu unterscheiden: hier ist nach Rawls und anderen noch außerordentlich viel Arbeit zu leisten. Man findet also keine perfekte und ausgearbeitete Theorie vor, sondern die Wiederentdeckung und Neuentwicklung einer alten Lehre, die vorübergehend in Vergessenheit geraten war, die aber von allen Grundlegungskonzeptionen der Politik als eine der rationalsten und klarsten gelten kann, die darüber hinaus den Vorteil hat, die Rechte des einzelnen als ihren Ausgangspunkt zu nehmen und deren Entfaltung auch positiv zu verstehen, statt sie unter repressiven Vorstellungen gemeinschaftlicher Werte und Ideologien zu verdecken und zu verdrängen.

Demokratie und öffentlicher Vernunftgebrauch Kant und Habermas über Publizität und Diskurs Von Wolfgang Kersting Das Verblassen der theologischen Weltsicht, das Verschwinden der traditionellen qualitativen Naturauffassung unter dem nüchternen Tatsachenblick der modernen Wissenschaften, der Zerfall der festgefiigten und wertintegrierten Sozialordnung unter dem wachsenden Ansturm der Verbürgerlichung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangten in der Neuzeit eine Neuorganisation der kulturellen Rechtfertigungspraxis, die mit den neuerschaffenen geistigen Grundlagen der Welt der Moderne, mit den neugeprägten Selbst- und Weltverhältnissen der Menschen in Übereinstimmung stand. Protagonist des neuen Rechtfertigungsverständnisses ist das autonome, aus allen vorgegebenen Natur·, Kosmos- und Schöpfungsordnungen herausgefallene, allein auf sich gestellte Individuum. Der einzelne Mensch gewinnt nicht mehr durch Integration in übergreifende und von Natur aus frühere oder geschichtlich vorgegebene Gemeinschaften Wert und Sinn. Jetzt gilt umgekehrt, daß sich die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen nur dann rechtfertigen lassen, wenn sich in ihren Funktionen die Interessen, Rechte und Glücksvorstellungen der Individuen spiegeln. Die Rechtfertigung wandert in der Moderne in die Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit ist der genuine Raum, in dem individualistische Gesellschaften ihre Selbstverständigungsdiskurse abhalten und ihre diskursive Legitimationspraxis entwickeln. Im Prinzip der Publizität manifestiert sich ein reflexives Rechtfertigungsverständnis: Die Bedingungen der Akzeptabilität von Gründen, die den Normen und Legitimationen Geltung und Wirkung verleihen und eine konsenserzeugende und motivbildende Kraft besitzen, finden sich nicht mehr in der Ûbéreinstimmung mit vorgegebenen Ordnungsgefügen und letzten naturrechtlichen Prinzipien, sondern nur noch in den Strukturelementen des Verfahrens einer allgemeinen argumentativen Einigung selbst.

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Die Idee der Öffentlichkeit ist seit Hobbes' Begründung der Vertragstheorie impliziter Bestandteil der neuzeitlichen Rechtfertigungstheorie. 1 In der Rechtsphilosophie Kants ist sie dann in den Rang eines expliziten Prinzips erhoben worden. Und in der Diskurs- und Demokratietheorie von Habermas ist sie im Zuge der Prozeduralisierung des kategorischen Imperativs und des Rechtsgesetzes Kants zur dominanten Kategorie geworden. - Ich werde im folgenden zuerst eine knappe Darstellung des Publizitätsprinzips von Kant und des Habermasschen Öffentlichkeitsbegriffs der Diskursethik geben. Sodann werde ich ein alternatives Bild der deliberativen Öffentlichkeit zeichnen, das die der Demokratie insbesondere von der Diskursethik aufgebürdete rechtfertigungstheoretische Verantwortung wegen Überforderung abweist und die epistemologische Leitidee kommunikativ-prozeduraler Wahrheitssuche durch die hermeneutische Leitidee gesellschaftlicher Selbstverständigung ersetzt. I. Kants Prinzip der Publizität Um die moralische Qualität unserer Handlungsregeln zu beurteilen, fordert uns Kant auf, in einem Gedankenexperiment die Rolle eines Gesetzgebers fur alle vernünftigen Wesen zu übernehmen. Wenn unsere Maxime die Maxime von jedermann sein kann, wenn sie also die Geltung eines allgemeinen Gesetzes erlangen kann, dann ist unsere Handlungsregel moralisch zulässig. Handlungsregeln, das ist der Kern dieser geltungstheoretischen Intuition, sind dann moralisch zulässig, wenn sie sich gegenüber jedermann rechtfertigen lassen. Und dann lassen sie sich gegenüber jedermann rechtfertigen, wenn sie mit allen denkbaren Handlungsmaximen kompatibel sein, wenn sie auch zugleich die Handlungsregel von jedermann sein können. Dieser geltungstheoretische Universalismus findet das Kriterium der moralischen Zulässigkeit nicht im Maximeninhalt, sondern in der Maximenform, in ihrer GesetzesfÖrmigkeit, in ihrer Eignung, als Gesetz gelten zu können. Der die moralische Unzulässigkeit, die Nicht-Universalität anzeigende Widerspruch ist die Diskrepanz zwischen der Absicht, nach der Maxime, deren moralische Qualität überprüft wird, zu handeln, und einem Zustand, der durch ihre hypothetische allgemeine Geltung charakterisiert ist. Sollte in einem solchen Zustand es nach meiner Erfahrung weiterhin möglich sein, meine Maxime zu befolgen, dann darf ich von ihrer moralischen Unbedenklichkeit aus1

Vgl. Wolfgang Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994; der s., Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 2005.

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gehen. Ist es hingegen so, daß ich nach dieser Maxime nicht mehr handeln kann, wenn alle Welt sich diese Maxime zu eigen gemacht hat und weiß, daß ich nach ihr handeln will, dann ist sie moralisch unzulässig. Das Prinzip der Publizität, das Kant im Anhang seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" als Gerechtigkeitskriterium des öffentlichen Rechts eingeführt hat, ist also bereits im kategorischen Imperativ enthalten. Denn moralisch unzulässige Maximen sind solche, die das Licht der Öffentlichkeit nicht vertragen, die ich vor anderen geheim halten muß, um nach ihnen erfolgreich handeln zu können, die nicht gesetzliche Geltung besitzen dürfen, wenn ich sie als Handlungsregel weiterhin befolgen will. „Eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht."2 Diese „transcendentale Formel des öffentlichen Rechts" bindet den Rechtsanspruch, die Legitimität von Gesetzen an den Öffentlichkeitstest. Alles, was im Geheimen bleiben muß, um seinen Zweck zu erreichen, kann nicht als gerecht gelten, muß als Anschlag auf die Öffentlichkeit angesehen werden. Nur die Regel, die jeder kennt, von der alle wissen und die alle als allgemein geltend akzeptieren können, kann als gerecht angesehen werden. Nur das, was diese „Fähigkeit zur Publicität" besitzt, kann auf allgemeine Anerkennung hoffen, kann jedem als Handlungseinschränkung zugemutet werden. Es ist evident, daß das Kriterium des moralischen Universalismus und das Kriterium des rechtlichen Universalismus ihre Auszeichnungsleistung auf dieselbe Weise erbringen: Die Publizitätsfähigkeit des Gesetzesvorschlags und die GesetzesfÖrmigkeit der befragten Maxime sortieren all die subjektiven Grundsätze und Gesetzesvorhaben oder politischen Strategien aus, die nicht gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können, die eine - wie Kant formuliert „Gegenbearbeitung" erwarten lassen würden, also aktiven Widerspruch, gar Widerstand hervorrufen würden, wenn die Betroffenen davon wüßten. GesetzesfÖrmigkeit ist wie Publizität ein Kriterium der Ver-

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Zitiert wird in diesem Beitrag nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften Immanuel Kants, hier Bd. VIII., S. 381.

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nünftigkeit. Vernünftigkeit ist dort zu Hause, wo Allgemeinheit herrscht und Öffentlichkeit existiert. Öffentlichkeit ist der Raum der Rechtfertigung, der Argumentation. Publizität ist ein Filter, der das Vernünftige von dem Unvernünftigen scheidet, eine notwendige Bedingung, die erfüllen muß, was moralisch und rechtlich zulässig sein will. Während das moralische Kriterium zur Identifizierung der Maximen führt, die nur darum erfolgreiche Handlungsregeln sein können, weil sie nicht Maximen von jedermann sind und im allgemeinen nicht befolgt werden, dient das rechtliche Kriterium zur Kennzeichnung der Gesetzesvorschläge, die nicht allgemein anerkennungsfähig und darum nicht gerecht sind. In beiden Fällen wird die positive Auszeichnung von Regeln an deren allgemeine Kenntnis und allgemeine Anerkennung gebunden oder - wie Kant formuliert - daran, ob sie sich „mit den Grundsätzen des Handelnden vereinigen lassen". Gemeint ist damit der jeweils betroffene Handelnde, der durch die Maximenanwendung, durch das Gesetzesvorhaben adressierte Handelnde. Das ist im Fall der moralischen Handlungssituation der jeweilige andere, der Gegenüber; das ist im Fall der rechtlichlegislatorischen Situation die gesamte Bürgerschaft oder auch - im Fall völkerrechtlicher Anwendung - die Völkergemeinschaft, die gesamte Staatenwelt. Dieser moralisch-rechtliche Isomorphismus der praktischen Philosophie Kants läßt den Solipsismusvorwurf, den insbesondere die Diskursethiker gegen Kants Moralphilosophie vorgebracht haben, ins Leere laufen. Der Protagonist der moralischen Welt und der Protagonist der rechtlichen Welt sind bei Kant identisch. Er ist das vernünftige Wesen, das mit seinesgleichen in Raum und Zeit lebt und angesichts der Unvermeidlichkeit der Endlichkeit und der Vielfältigkeit ihrer Gestalt seine Vernunft anstrengt, um eine Verfassung des Miteinanderlebens zu finden. Diese Verfassung kann nicht der Empirie, den Materialien natürlicher und geschichtlich-kultureller Art entstammen, sie kann nur in der allen gemeinsamen Vernunft gefunden werden. Und diese Vernunft ist formal. Vernünftigsein bedeutet nicht, die vielen empirischen Zwecke einem übergeordneten, seinshöheren, substantiellen Zweck zu unterwerfen. Vernünftigsein bedeutet, die empirische Pluralität der eigenen Zwekke mit der empirischen Pluralität der Zwecke aller anderen abzustimmen. Vernunft zeigt sich in der Konsistenz des unterschiedlich Eigenen, in der Koexistenz unterschiedlicher vieler, in der Unterwerfung aller Gültigkeit beanspruchenden theoretischen und praktischen Äußerungen unter die Bedingungen der Allgemeingültigkeit. Und dann begegnen vernünftige

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Wesen einander als vernünftige Wesen, wenn sie in ihren theoretischen und praktischen Äußerungen, in ihren Aussagen und Argumenten wie in ihren Handlungen und Machtausübungen diesen Bedingungen der Allgemeingültigkeit genügen. Vernünftigkeit beweist sich im Respekt der Vernünftigkeit anderer. Und dann wird die Vernünftigkeit anderer respektiert, wenn man sich im Reden wie im Handeln auf Äußerungen beschränkt, die jedem anderen gegenüber gerechtfertigt werden können. Es gibt keine private Vernunft. Der Lebensraum der Vernunft ist die Öffentlichkeit. Nur solange der Mensch in seinem Denken und Handeln die „Fähigkeit der Publicität" verrät, steht ihm die „gesammte Menschenvernunft" zur Seite3. Gewiß, es gibt Grundsätze, nach denen ich mein Handeln im Privaten einrichte, die fur mich „Privatgültigkeit" besitzen. Aber sobald mein Handeln andere betrifft, ich meine Grundsätze im sozialen Raum anwende, muß diese „Privatgültigkeit" sich öffentlich bewähren, muß das, was für mich privat bislang Gültigkeit besessen hat, auch von anderen akzeptiert werden können. Darum darf man sich nicht zu dem Fehlschluß verleiten lassen, daß die Moral eine Privatangelegenheit sei. Auch wenn die Überprüfung der Maximen einer inneren Beratung obliegt, jeder für sich selbst die moralische Qualität seiner Grundsätze überwachen muß, ist durch diese Prüfling doch Öffentlichkeit hergestellt. Die moralische Vernunft ist genauso wie die Rechtsvernunft eine öffentliche Vernunft. Der kategorische Imperativ ist nichts anderes als ein Öffentlichkeitstest, der die ihm vorgelegten Maximen auf ihre „Fähigkeit der Publicität" hin überprüft. Die moralische Vernunft überformt das kontingente empirische Selbst und gibt ihm eine öffentlichkeitskompatible Fassung. Das moralische Selbst ist daher die Innenseite des rechtschaffenen Bürgers. Nichts könnte die sich in dieser moralischrechtlichen Isomorphie ausdrückende Einheit der praktischen Vernunft mehr verkennen als der Einwand, die Welt des Moralischen sei solipsistisch, monologisch, den anderen gegenüber abgeschottet. Man muß nicht erst durch gesellschaftsweite Rechtfertigungsdiskurse nach den anderen auslangen, sondern diese sind von vornherein in der moralischen Selbstüberprüfung der Menschen anwesend. Sich moralisch selbst zu überprüfen heißt ja, die in Rede stehende Maxime daraufhin zu untersuchen, ob sie sich als Gesetz eignet. Kant expliziert den Status des moralischen Subjekts also politisch. Das moralische Subjekt ist ein fiktiver Nomothet. Und die moralische Welt ist eine Republik von Gesetzgebern,

3

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. V., S. 293.

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die einander nur nach Grundsätzen behandeln, die jeder gegenüber jedermann als allgemeine Regel rechtfertigen könnte. Das Moralische ist Abbild des Politischen. Das Vorbild des moralischen Subjekts ist der Bürger, freilich kein Bürger der aristotelischen Sittlichkeit, sondern ein Vernunftrepublikaner. Im Reich der praktischen Vernunft herrscht bei Kant durchgängig ein formaler Rousseauismus, der die Empirie des Besonderen durch die Apriorität des Allgemeinen ersetzt und die Republik der Tugend durch eine Republik der Vernunft ablöst, in der sich alle Bürger als gleichberechtigte, selbständige und einander ebenbürtige Gesetzgeber wissen. Sowohl der kategorische Imperativ als auch das Publizitätsprinzip sind als Vernunftexpressionen nicht weiter begründbar. Sie sind „gleich einem Axiom unerweislich-gewiß und überdem leicht anzuwenden", wie Kant anhand einiger Beispiele in der Grundlegungsschrift resp. im Anhang zur Schrift „Zum ewigen Frieden" zu zeigen versucht. Immer wieder betont er, daß das Universalisierungsverfahren ein in allen moralischen und rechtlich-politischen Konfliktlagen zuverlässiger Kompaß sei.4 Prozeduralisten haben diese Handhabung eines Universalisierungskriteriums im Kontext durchschnittlicher Lebenserfahrung und allgemeiner Menschenkenntnis als Verkürzung des Prozesses moralischer Erkenntnisgewinnung kritisiert und auf der faktischen Durchführung der Diskursprozeduren bestanden. Die Deliberation könne nicht durch stille Gedankenexperimente und logische Operationen ersetzt werden. Öffentliche Vernunft könne sich nur im realen Prozeß der kollektiven Ermittlung des besten Arguments und des verallgemeinerungsfähigen Interesses zeigen. Bürgerlichkeit konstituiere sich nur in der aktiven Betätigung kollektiver Selbstbestimmung. Ohne auf die Berechtigung dieses Einwandes hier näher einzugehen, möchte ich nur darauf hinweisen, daß sich diese diskursethisch favorisierte Allgemeinheitsherstellung im deliberativen Prozeß, diese diskursiv-kommunikative Weise der Selbsttranszendierung bei Kant auch findet, jedoch nicht in den Schriften zur praktischen Philosophie, sondern in der „Kritik der Urteilskraft", deren Gemeinsinn-Konzeption Hannah Arendt bekanntlich als eine heimliche Grundlegung des Politischen gelesen hat. Unter dem sensus communis, der ursprünglich ein integrierendes, alle Spezialempfindungen der einzelnen Sinne synthetisierendes Vermögen bedeutete, dann unter dem Namen „gesunder Menschenver4

Vgl. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. IV., S. 404.

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stand" oder „common sense" zur Bezeichnung der rohen und unentwikkelten menschlichen Verstandesgestalt diente, muß nach Kant die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens" verstanden werden, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, welche aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde".5 Kants Äußerungen zum sensus communis finden sich in seiner Theorie des ästhetischen Geschmacks und dienen der Klärung des eigentümlichen Allgemeingültigkeitsanspruchs, den auch ästhetische Urteile trotz ihrer Fundierung im subjektiven Erleben stellen. Jedoch lassen sie sich auf Urteile jeder Art ausdehnen, insbesondere auch auf Argumente, die Menschen in gesellschaftlichen Diskursen vortragen. Hinter der Idee des gemeinschaftlichen Sinnes steht eine Denkart, eine „Operation der Reflexion", die sich jeder zu eigen machen muß, wenn er sich mit anderen verständigen will, erst recht, wenn er sich an der allgemeinen politischen Willensbildung beteiligen und ein gemeinsames Handeln ermöglichen will. Kern dieser Reflexionsoperation ist die Transzendierung der „Privatbedingungen" des eigenen Denkens, die Gewinnung eines allgemeinen Standpunktes durch gedankliche Rollenübernahme, durch den Versuch, „sich an die Stelle jedes andern" zu versetzen.6 Nur wenn man fähig ist, „von Reiz und Rührung" zu abstrahieren, das Subjektive, Eigene aus der versuchsweise eingenommenen Perspektive der anderen zu betrachten, um ihren Zumutungswert zu erkennen, wird man aus seinen Urteilen, Vorschlägen und Argumenten all das herausfiltern können, was ihre allgemeine Annahme verhindert und unmöglich macht, daß sie „zur allgemeinen Regel dienen" können. Näher betrachtet umfaßt dieses Transzendierungsverfahren drei Operationen. „Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilsfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart."7 Die erste Maxime wiederholt die Aufklärungsforderung, die Passivität der Vernunft zu überwinden, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"8 und sich 5 6 7 8

Kant, Kant, Kant, Kant,

Gesammelte Gesammelte Gesammelte Gesammelte

Schriften, Schriften, Schriften, Schriften,

Bd. V., S. 293. Bd. V., S. 294. Bd. V., S. 294. Bd. VIII., S. 35.

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insbesondere von Vorurteilen und Aberglauben zu befreien. Man bedient sich jedoch nicht schon dann der eigenen Vernunft, wenn man die fremden Autoritäten durch subjektive Launen und private Idiosynkrasien ersetzt. Trotziger Eigensinn fuhrt nicht zur Selbstbestimmung, verrät auch keine selbsttätige Vernunft. Vernunft erlangt erst dann tätige Wirklichkeit, wenn sich Denken und Handeln im Verein mit dem Denken und Handeln aller formieren. Der Weg von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung muß über das Aufbegehren der Subjektivität fuhren, darf aber nicht bei diesem Halt machen. Selbstbestimmung ist den Menschen erst dann möglich, wenn sie ihr Denken und Handeln Vernunftbedingungen unterwerfen. Und erst dann denken und handeln sie vernünftig, wenn ihre Urteile und Maximen vor der Öffentlichkeit bestehen. Erst dann wird von der natürlichen Vernunftfähigkeit ein angemessener, ein zweckmäßiger Gebrauch gemacht, wenn das Selbstdenken durch die erweiterte Denkungsart geleitet wird. Diese besitzt ein Mensch, „wenn er sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt". 9 Man kann diese Operation der Gewinnung eines allgemeinen Standpunktes durchaus als einen unaufhörlichen Prozeß diskursiver Erweiterung, Veränderung und Anpassung verstehen: der Urteilende und auch Handelnde spiegelt seine Argumente und Maximen sukzessiv in den Meinungen und Interessen der anderen, überprüft sich im Lichte der Argumente und Maximen der Begegnenden, behält das, was Zustimmung findet, und entfernt das Unverträgliche und Inkompatible. Idealtypisches Resultat dieser Selbsterweiterung ist die Herausbildung einer Schnittmenge allgemeinverträglicher Maximen und allgemein anerkannter Urteile, die das ist die dritte Gemeinsinnsregel - konsequent und dauerhaft dem zukünftigen Denken und Handeln zugrunde zu legen sind. Dann hat sich der Mensch ganz der Vernunft unterstellt. Die ersten beiden Gemeinsinnsmaximen sind eng miteinander verklammert. Denn auf eigene Faust sich aus der Unmündigkeit zu befreien, die Vorurteile zu durchschauen und den Aberglauben abzuschütteln, will nur wenigen gelingen. Zumeist brauchen Menschen dazu die Hilfe der anderen. „Daß ... ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. V., S.

.

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es ist, wenn man ihm nur die Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich."10 Indem die Menschen sich den Meinungen anderer aussetzen, ihre eigenen Positionen an den Überzeugungen anderer überprüfen, neue Perspektiven kennenlernen, neue Sichtweisen ausprobieren, sich mit anderen auseinandersetzen, wird ihre Borniertheit aufgebrochen, öffnen und erweitern sie sich. Der so der Öffentlichkeit vorgelegte eigene Vernunftgebrauch, der „öffentliche Gebrauch seiner Vernunft... allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen".11 Die Wiege der Vernunft ist die lebendige Allgemeinheit. In der Abgeschiedenheit der festgefugten Privatwahrheiten, hinter Klostermauern und in Parteizentralen mag der Glaube gedeihen, verkümmert aber der Geist. Intellektuelle Selbständigkeit, Mündigkeit und Selbstbestimmung erreichen die Menschen nur, wenn sie sich ungehindert in der Öffentlichkeit bewegen können, im freien Austausch der Ideen, in Diskussion und Gespräch. Gedankenfreiheit ist nichts wert, wenn sie nicht durch die Freiheit des öffentlichen Worts begleitet wird. Denn nicht um die Ermöglichung bloßen Denkens kann es gehen, sondern um die Ermöglichung richtigen, vernünftigen Denkens. Und ob ein Denken vernünftig ist, ob Weltsichten und Handlungsgründe vernünftig sind, das zeigt sich erst, wenn sie mitgeteilt und dem kritischen Publikum vorgelegt werden. „Wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme."12 Der Geist darf nicht durch politische oder ideologische Macht gegängelt werden, ein ungehinderter Austausch der Ansichten und Argumente muß gewährleistet sein. Protektionismus ist auch auf dem Markt der Ideen schädlich. Nur wenn es jedermann möglich ist, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen", werden Herrschaft und Unmündigkeit im Reich des Geistes verschwinden. Meinungsfreiheit macht Aufklärung unwiderstehlich. Die Despotie des Vorurteils und der aufgenötigten Ansichten weicht dann der Republikxles freien Worts, und aus dem Mündel wird ein Bürger. Keine Weltdeutung, kein Wahrheitsanspruch, kein Menschenbild und kein Moralkatalog, kein politisches Programm und Glücksversprechen, das der öffentlichen Überprüfung 10 11 12

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. VIII., S. 36. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. VIII., S. 37. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. VIII., S. 144,

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entzogen werden dürfte. Das Forum des öffentlichen Räsonnements, der gesellschaftlichen Deliberation ist grundsätzlich allzuständig, nichts, was die Allgemeinheit angeht und alle betrifft, kann ein Tabu sein. Was immer die Vernunft an theoretischen und praktischen Vorstellungen äußert, sie muß sich „in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können".13 Man muß sich freilich vor einer diskursethischen Überdehnung des Kantischen Publizitätsprinzips hüten. Kant modelliert den Bürger nach dem Muster des Gelehrten und Schriftstellers und die Öffentlichkeit nach dem Vorbild des „Publicums der Leserwelt". Die Gelehrtenrepublik ist der Prototyp der in der Aufklärungsphilosophie skizzierten bürgerlichen Öffentlichkeit. Im Aufklärungsessay und in der Fakultätenschrift finden sich zahlreiche Äußerungen, in denen das sozialgeschichtliche Substrat dieser Öffentlichkeitsidee deütlich wird. Der Gelehrte, insbesondere der Inbegriff tätiger Vernünftigkeit, der Philosoph, zeichnet sich dadurch aus, daß bei ihm privater Vernunftgebrauch und öffentlicher Vernunftgebrauch zusammenfallen. Privat nennt Kant den Vernunftgebrauch, der durch die Normen und Funktionen von Rollen und Ämtern eingeschränkt und durch Befehls- und Anweisungshierarchien begrenzt wird. Zu der Rolle des Gelehrten und insbesondere des Philosophen jedoch gehört das öffentliche Räsonnement. Sein Publikum ist die gelehrte Welt. Aufklärung ist aber nicht auf Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Überzeugungen reduzierbar. Aufklärung heißt vor allem Selbstbestimmung. Aufklärung verlangt die Herstellung bürgerlicher Mündigkeit. Und diese ist nur erreichbar, wenn die vielen Privatleute Bürger werden, in sich den Citoyen zum Leben erwecken und nach dem Vorbild der wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft einen öffentlichen Raum der politi-

Kant, Gesammelte Schriften, Bd. I . , S. 4 4 .

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sehen Rede konstituieren und die Vernunft öffentlich, gemeinsam, in kritischer Rede und Gegenrede in Gebrauch nehmen.14 II. Öffentlichkeit, Diskurs und Demokratie bei Habermas 1. Öffentlichkeit

und Repolitisierung

In seiner 1962 erschienenen Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit" untersucht Habermas die Veränderungen der Strukturelemente und der politischen Funktion der bürgerlichen Öffentlichkeit und öffentlichen Meinungsbildung von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum modernen Staat der Gegenwart. Der in diesem Zeitraum erfolgte Strukturwandel entdeckt sich dabei als Deformation und Perversion von Öffentlichkeit. Die Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist eine Geschichte des Zerfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit durch sukzessive und nachhaltige Entpolitisierung: Besaß das Prinzip der Publizität ursprünglich eine eindeutig kritische Funktion, manifestierte sich in ihm der Widerstand des weltgeschichtlichen neuen bürgerlichen Publikums, des Publikums der gebildeten und räsonnierenden Privatleute gegen die Geheimpraxis und Arkanpolitik des absolutistischen Staates, artikulierte sich in ihm der Autoritätsanspruch der Vernunft gegenüber der begründungsscheuen Herrschaft der Sonderinteressen, so ist Öffentlichkeit heute - unter den Bedingungen einer verstaatlichten Gesellschaft und eines vergesellschafteten Staates, einer die Stabilitäts- und Gerechtigkeitsmängel des organisierten, späten Kapitalismus mildernden expansiven staatlichen Interventionspolitik und eines das politische Leben kolonialisierenden Parteienstaats - nur noch eine von den elektronischen Massenmedien inszenierte Arena für die ritualisierten Verteilungskämpfe der gesellschaftlichen Großorganisationen, Verbände und Parteien. „In der politischen Öffentlichkeit agieren heute, auf den Staat bezogen, gesellschaftliche Organisationen, sei es durch Parteien vermittelt, sei es unmittelbar im Zusammenspiel mit der öffentlichen Verwaltung. Mit der Verschränkung von öffentlichem und privatem Bereich übernehmen nicht nur die politischen Instanzen gewisse Funktionen in der Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit, sondern umge-

14

Zur Öffentlichkeitsidee bei Kant vgl. Onora O'Neill , The Public Use of Reason, in: Political Theory 14/1986, S. 523-551; Kevin R. Davis , Kant's Different Publics and the Justice of Publicity, in: Kant-Studien 83/1992, S. 170-184; Volker Gerhardt , Immanuel Kants Entwurf,Zum ewigen Frieden4. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995.

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kehrt übernehmen nun auch gesellschaftliche Mächte politische Funktionen. Das fuhrt zu einer Art ,Refeudalisierung' der Öffentlichkeit. Die großen Organisationen streben mit dem Staat und untereinander politische Kompromisse an, möglichst unter Ausschluß der Öffentlichkeit, gleichzeitig müssen sie sich aber durch Entfaltung demonstrativer Publizität bei der Masse der Bevölkerung wenigstens plebiszitärer Zustimmung versichern. Die politische Öffentlichkeit des Sozialstaates ist durch eine eigentümliche Entkräftung der politischen Funktionen geprägt. Während einst die Publizität Personen oder Sachen dem öffentlichen Räsonnement unterwerfen und politische Entscheidungen vor der Instanz öffentlicher Meinung revisionsfähig machen sollte, wird sie heute oft genug auch schon zur Hilfe einer Arkanpolitik der Interessenten - als publicity erwirbt sie Personen oder Sachen öffentliches Prestige und macht sie dadurch in einem Klima nicht-öffentlicher Meinung akklamationsfähig. Schon das Wort Öffentlichkeitsarbeit' verrät, daß umständlich und von Fall zu Fall eine Öffentlichkeit erst hergestellt werden muß, die sich früher aus der Gesellschaftsstruktur ergab."15 Nach Kant garantiert das öffentliche Räsonnement der Privatleute die Herrschaft der praktischen Vernunft im politischen Bereich. Die praktische Vernunft herrscht dann im politischen Bereich, wenn die Autorität des Arguments den Prozeß und das Klima der politischen Willensbildung prägt, wenn die Institution von Normen dem sich in einer zwangsfreien Diskussion herausdestillierenden Allgemeininteresse folgt. Die bürgerliche Öffentlichkeit ist die politische Gestalt der autonomen Vernunft des neuzeitlichen Subjekts; sie akzeptiert nur die Autorität des Arguments und zielt damit auf die Rationalisierung der politischen Herrschaft als einer Herrschaft von Menschen über Menschen durch strikte Offenlegung und Diskussion aller Ziele, Mittel, Interessen und Gründe. Letztlich impliziert die bürgerliche Öffentlichkeit samt ihren institutionalistischen Ausprägungen, dem gesetzesgebundenen Rechtsstaat und dem Parlamentarismus, Herrschaftsfreiheit und die Beseitigung des Staats als eines Repressionssystems. „Weil das öffentliche Räsonnement der Privatleute überzeugend den Charakter einer gewaltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten behauptet, kann auch eine, auf die öffentliche Meinung sich rückbeziehende Gesetzgebung nicht ausdrücklich als Herrschaft gelten ... Öffentliche Meinung will, ihrer eigenen Intention nach, weder Gewal15

Jürgen Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt a. M. 1973, S. 67 f.

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tenschranke noch selber Gewalt, noch gar Quelle aller Gewalten sein. In ihrem Medium soll sich vielmehr der Charakter der vollziehenden Gewalt, Herrschaft selbst verändern. Die ,Herrschaft 4 der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst; Veritas non auctoritas facit legem. Dies ist eine Umkehrung des bekannten und zumutungsvollen, praktische Wahrheit zur Illusion erklärenden Grundsatzes des Thomas Hobbes: auctoritas non Veritas facit legem, die staatliche Autorität macht das Gesetz und ist Grund seiner Verbindlichkeit, nicht dessen Wahrheit; wohingegen nach Habermas der Konzeption der Öffentlichkeit die Auffassung zugrunde liegt, daß sich durch unverzerrt kommunikative Willensbildung ein allgemeinheitsfähiges Interesse ermitteln und damit das praktisch Richtige und Wahre finden ließe, das allein einem Gesetz, einer Norm legitimierende Kraft verleihen kann. „Diese Umkehrung des Hobbesschen Satzes geht beim Versuch, die Funktion der öffentlichen Meinung mit Hilfe des Souveränitätsbegriffs zu fassen, ebenso verloren wie in der staatsrechtlichen Konstruktion der pouvoirs. Pouvoir als solche wird durch eine politisch funktionierende Öffentlichkeit zur Debatte gestellt. Diese soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen Konkurrenz der pr ten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt." 16 Es ist keine Verfälschung, auch keine Übervereinfachung, wenn man behauptet, daß im Mittelpunkt der Arbeiten von Habermas die Idee der Öffentlichkeit steht, daß Habermas von seiner Habilitationsschrift bis zur späten Diskurstheorie des Rechts17 eigentlich nur an ihrer systematischen Entfaltung gearbeitet hat. Die gesamten zwischenzeitlich entwickelten Lehrstücke von der Diskursethik, der Konsensustheorie der Wahrheit, der universalpragmatischen Normenbegründung und der evolutionären Geschichte des gesellschaftlichen Moralbewußtseins sowie der Konzeption des kommunikativen Handelns sind durchaus als immer neue Explikations- und Systematisierungsversuche der kritisch-normativen Idee der Öffentlichkeit anzusehen. In diesen Lehrstücken bedient sich Habermas immer wieder neuer theoretischer und methodischer Mittel, um seine systematische Analyse des normativen Gehalts der Öffentlichkeitsidee zu vertiefen und sein Plädoyer für eine im Zeichen dieser Idee stehende 16

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied/Berlin 1975, S.

104 f. 17

Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992.

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Repolitisierung der Gesellschaft durch kommunikative Entschränkung der diskursiven Willensbildung überzeugender vorzutragen. Die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit ist gleichsam der Prototyp der später entwikkelten Konzepte der idealen Kommunikationsgemeinschaft und des herrschaftsfreien Diskurses. Und wie Habermas sich mit seiner Konsensustheorie des praktisch Richtigen und seiner Diskursethik in die philosophische Nachfolge der klassischen Theoretiker der bürgerlichen Öffentlichkeit, insbesondere Kants stellt, der das Publizitätsprinzip als erster in den Rang eines Vernunftgrundsatzes erhoben hat, so nimmt seine politische Philosophie auch Partei für die emanzipatorischen Gehalte der bürgerlichen Aufklärung und Revolution, für die bürgerliche Utopie der Absorption von Herrschaft durch allgemein werdende Vernunft, und nimmt die Arbeit am Projekt der Aufklärung, am bürgerlichen Vernunftprogramm der Einigung aller Freien und Gleichen auf allgemeinheitsfähige Ziele, Zwecke und Projekte durch rationale Gründe wieder auf. Die Vorstellung der Repolitisierung der Gesellschaft durch öffentlichkeitsherstellende radikaldemokratische Diskurse ist eine Idee, die nie vollständig verwirklicht werden kann, ein Ideal, das als regulatives Prinzip praktische Notwendigkeit besitzt: es zeichnet einen anzustrebenden sozialen Zustand, der das politische Denken und Handeln aller verpflichtend bestimmt. Überdies besitzt die Öffentlichkeitsidee wie jede normative Idealvorstellung eine Dijudikationsfunktion: sie bildet einen kritischen Maßstab für die Beurteilung und Bewertung des Bestehenden. Mit ihrer Hilfe läßt sich über die Berechtigung der Geltungsansprüche von Normen und Gesetzen, über die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung, über den Legitimationsanspruch der Maßnahmen und Projekte der Politik befinden. Der herrschaftsfreie Diskurs, die ethischsystematische Verallgemeinerung des ideengeschichtlich und sozialhistorisch ermittelten Konzepts der bürgerlichen Öffentlichkeit, basiert auf der Gemeinschaft aller vernünftigen Menschen, die gleichberechtigt, in Rede und Gegenrede und selbstreflexiver Kommunikation die Möglichkeit der Erhebung von Geltungsansprüchen und ihrer Überprüfung und ihrer diskursiven Einlösung allererst schaffen. Er ist, der - kontrafaktischen - Idee nach, der Ort der praktischen Wahrheit. In ihm entfaltet sich die rationale, nach Gründen fragende und Gründe wägende Kommunikation; er kulminiert - idealerweise - in einem Konsens über allgemeingültige Interessen und Ziele. Wahrheit und Konsense und rationale Motivierung der Anerkennung von Handlungsnormen erzeugt der Diskurs, wenn er den Bedingungen einer idealen Kommunikationsge-

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meinschaft genügt und unbehindert von allen Verständigungsverzerrungen, Selbsttäuschungen und ideologischen Interessentrübungen Argumente tauscht. 2. Legitimität,

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„Was die rational motivierte Anerkennung des Geltungsanspruchs einer Handlungsnorm bedeutet, geht aus dem diskursiven Verfahren der Motivierung hervor. Der Diskurs läßt sich als diejenige erfahrungsfreie und handlungsentlastete Form der Kommunikation verstehen, deren Struktur sicherstellt, daß ausschließlich virtualisierte Geltungsansprüche von Behauptungen bzw. Empfehlungen oder Warnungen Gegenstand der Diskussion sind; daß Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht, es sei denn im Hinblick auf das Ziel der Prüfung problematisierter Geltungsansprüche, beschränkt werden; daß kein Zwang außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird: daß infolgedessen alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche ausgeschlossen sind. Wenn unter diesen Bedingungen über die Empfehlung, eine Norm anzunehmen, argumentativ, d. h. aufgrund von hypothetisch vorgeschlagenen alternativenreichen Rechtfertigungen, ein Konsensus zustande kommt, dann drückt dieser Konsensus einen „vernünftigen Willen" aus. Da prinzipiell alle Betroffenen an der praktischen Beratung teilzunehmen mindestens die Chance haben, besteht die „Vernünftigkeit" des diskursiv gebildeten Willens darin, daß die zur Norm erhobenen reziproken Verhaltenserwartungen ein täuschungsfrei festgestelltes gemeinsames Interesse zur Geltung bringen: gemeinsam, weil der zwanglose Konsensus nur das zuläßt, was alle wollen können; und täuschungsfrei, weil auch die Bedürfnisinterpretationen, in denen jeder Einzelne das, was er wollen kann, muß wiedererkennen können, zum Gegenstand der diskursiven Willensbildung werden. „Vernünftig" darf der diskursiv gebildete Wille heißen, weil die formalen Eigenschaften des Diskurses und der Beratungssituation hinreichend garantieren, daß ein Konsensus nur über angemessen interpretierte verallgemeinerungsfähige Interessen, darunter verstehe ich: Bedürfnisse, die kommunikativ geteilt werden, zustande kommen kann. Die Schranke einer dezisionistischen Behandlung praktischer Fragen wird überwunden, sobald der Argumentation zugemutet wird, die Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen zu prüfen, statt vor einem undurchdringlichen Pluralismus scheinbar letzter Weitorientierungen zu resignieren. Nicht die Tatsache dieses Pluralismus soll bestritten werden, sondern die Behauptung, daß es unmöglich sei, kraft Argumentation die jeweils verall-

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gemeinerungsfâhigen Interessen von denen zu scheiden, die partikular sind und bleiben."18 Veritas non auctoritas facit legem - fur Habermas besteht zwischen Legitimität und Wahrheit ein systematischer Zusammenhang. Der Legitimitätsglaube der Individuen, die Überzeugung von der moralischrechtlichen Güte der politischen Ordnung, in der sie leben, und von der verbindlichen Autorität ihrer Normen und Strukturen weist einen immanenten Wahrheitsbezug auf. Die Gründe, auf denen derartige empirisch zu ermittelnde Legitimitätsüberzeugungen beruhen, implizieren den Anspruch allgemeiner, rational verankerter Geltung, der auf seine Einlösbarkeit hin überprüft werden kann. So wie Handlungsnormen mit dem Anspruch auftreten, in Hinblick auf die jeweils regelungsbedürftige Materie ein von allen Betroffenen geteiltes Interesse auszudrücken und darum allgemeine Anerkennung verdienen, so enthält auch die politischsoziale Ordnung einen Legitimitätsanspruch und verlangt, als richtig und gerecht anerkannt zu werden. Und so wie gültige Handlungsnormen unter Bedingungen, die alle Interessen außer dem einen an der kooperativen Suche nach dem praktisch Richtigen beiseite schieben, die die rational motivierte Zustimmung aller Betroffenen finden können müssen, so muß auch eine politische Ordnung sich als aus rationalen Gründen anerkennungswürdig erweisen lassen. „Legitimität bedeutet, daß der mit einer politischen Ordnung verbundene Anspruch, als richtig und gerecht anerkannt zu werden, gute Argumente fur sich hat; eine legitime Ordnung verdient Anerkennung. Legitimität bedeutet die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung." 19 Legitimität ist für Habermas ein normativ gehaltvoller Begriff. Das Prädikat der Legitimität kommt einer politischen Ordnung nur dann zu, wenn ihre normativen Strukturen einen Vergleich mit einem hypothetischen Zustand eines diskursiv gebildeten Normensystems aushält, wenn sie den diskursethischen Billigungstext bestehen, wenn sich der ihnen geltende Legitimitätsglaube als rational motivierte Anerkennung im Kontext eines herrschaftsfreien Diskurses bewähren kann. Denn die der kulturellen Moderne angemessene, dem sich in ihr ausprägenden Reflexions- und Rechtfertigungsniveau allein gerecht werdende Legitimati-

18

Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 148 f. 19 Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 271.

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onsinstanz ist der herrschaftsfreie Diskurs. Wie Normenbegründung allgemein besteht Legitimationsbegründung darin, daß anstelle der herkömmlichen Legitimationsinstanzen Natur, Gott und Tradition jetzt die formalen Prozeduren einer vernünftigen Einigung gleichberechtigter Menschen legitimierende Kraft erhalten. „Heute legitimieren weder vorletzte noch letzte Gründe - wer das behauptet, bewegt sich auf mittelalterlichem Niveau. Heute haben legitimierende Kraft allein Regeln und Kommunikationsvoraussetzungen, die eine unter Freien und Gleichen erzielte Übereinstimmung oder Vereinbarung von einem kontingenten oder erzwungenen Konsens zu unterscheiden erlauben."20 Eine konsentische Einigung als solche kann nicht als Kriterium normativer Richtigkeit dienen. Es bedarf einer zusätzlichen Qualifikation, um einen Konsens als Indikator praktischer Wahrheit akzeptieren zu können. Der Konsens muß vernünftig sein; ob ein Konsens jedoch vernünftig ist, sieht man ihm als Konsens nicht an. Wir brauchen ein weiteres Kriterium, das die Vernünftigkeit eines Konsenses verläßlich nachzuweisen vermag. Dieses Kriterium muß die Entstehungsbedingungen des Konsenses, seine Entstehungsgeschichte zum Thema machen: dann ist ein Konsens ein vernünftiger Konsens und kann als Indikator praktischer Wahrheit dienen, wenn er unter kommunikationsoptimalen Bedingungen zustande gekommen ist. Um die Einzelmerkmale zu ermitteln, die in dieser Bedingung versammelt sind und die insgesamt eine optimale Beratungssituation konstituieren, braucht man sich nur die Einwände vor Augen zu halten, die gegen die These, daß reale Einigungen ein normatives Wahrheitskriterium seien, gerichtet werden können. Es sind alles Einwände, die geltend machen, daß in der Wirklichkeit eine Gleichverteilung der Argumentationspotenzen nicht gegeben ist, die jedoch gefordert werden muß, um einen Konsens als wahrheitsverbürgend ansprechen zu können. So können etwa die emotionalen, intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten bei den Teilnehmern der Beratung höchst unterschiedlich verteilt sein; auch können der Informationstand und die Lernfähigkeit bei den einzelnen erheblich differieren. Immer werden auch die psychischen Dispositionen divergieren: nicht alle sind gleich konzentrationsfähig und beharrlich; manche geben leicht nach, andere versteifen sich, dritte hinwiederum mißverstehen die argumentative Auseinandersetzung als Kampf mit Sieg und Niederlage, der über den Selbstwert entscheidet. Die Diskussi20

Habermas, Rekonstruktion, S. 281.

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onswirklichkeit wird kaum durch die reine Autorität der Vernunft und den ,zwanglosen' Zwang des besseren Arguments bestimmt, sondern stellt ein multifaktorielles Kräftespiel dar, in welchem die rationalargumentative Komponente mit vielen anderen nicht-rationalen und irrationalen Komponenten konkurrieren muß und dabei häufig ein Opfer des Diskussionsdarwinismus wird: Das darwinistische Gesetz vom „survival of the fittest" gilt auch für die Diskussionsrealität, und in der Regel zählt die Vernunft nicht zu den Stärksten. Neben dieser vergleichsweise alltäglich-unauffälligen Vernunfttrübung durch ungleiche Kommunikationschancen und Argumentationsfähigkeiten, die sich immer darin bemerkbar macht, daß sich hinter der Vernunft- und Allgemeinheitsform des Konsenses partikulares Interesse versteckt, gibt es auch noch auffälligere Unvernunftsphänomene, die sich als kommunikationspathologisch einstufen ließen: Tatsachenirrtum, Selbsttäuschung hinsichtlich der eigenen Interes$enlage, ideologische Befangenheit, neurotische und psychotische Störung. Und da gibt es dann drittens noch die offenkundige Pervertierung des Konsensverfahrens durch Lug und Trug, Erpressung und Drohung, Gewalt und Täuschung. Diese Stichworte machen deutlich, daß ein naturwüchsig entstandener, im darwinistischen Dschungel der durch vielfältige Ungleichheit geprägten gesellschaftlichen Realität erzielter Konsens nicht per se wahrheitsverbürgend sein kann. Jeder Konsens ist im Licht seiner Entstehungsgeschichte zu bewerten; die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, gehen in ihn ein; in einem Konsens, der unter den Bedingungen der Ungleichheit von Argumentationspotenzen und Kommunikationsfähigkeiten, unter kommunikationspathologischen Umständen oder gar durch Zwang und Gewalt entstanden ist, manifestiert sich die Unvernunft seiner Genese. Diese Stichworte zeigen aber auch, daß wir uns jederzeit zutrauen, einen wahren von einem trügerischen, einen vernünftigen von einem falschen Konsens zu unterscheiden, daß wir immer moralisch unzulässige Entstehungsbedingungen eines Konsenses als Einwand gegen die prätendierte Vernünftigkeit des resultierenden Konsenses qua Konsens verstehen. Wir haben ein intuitives Wissen von den formalen Eigenschaften, die ein Diskurs, eine Beratung, eine Diskussion besitzen muß, damit der durch Diskurs, Beratung und Diskussion erzeugte Konsens als Wahrheitsanzeiger fungieren kann. In der von Habermas entwickelten Logik

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und Ethik des Diskurses wird dieses intuitive Wissen expliziert und in eine Theoriegestalt gebracht. Natürlich kann auch der vernünftige, unter den Bedingungen der idealen Sprechsituation erzielte Konsens kein Wahrheitskriterium sein. In ihm manifestiert sich nur die - die Zustimmung aller Beteiligten je individuell motivierende - konsensunabhängige und dem Konsens logisch vorangehende Wahrheitsüberzeugung hinsichtlich des in Frage stehenden Geltungsanspruchs einer Norm. Ich stimme mit Gründen zu, die ich im Verlauf der unter den idealen formalen Diskussionsbedingungen ablaufenden Beratung als triftig erkannt habe. Ich halte aufgrund der beigebrachten und gemeinsam überprüften Argumente den Geltungsanspruch für berechtigt. Die anderen haben auch alle die Überzeugung gewonnen, daß der Geltungsanspruch ein wahrer Anspruch ist; ein Konsens ist entstanden, der auf guten, triftigen Gründen beruht. Da der Konsens unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation entstanden ist, bestand fur alle die Gewähr, allein auf der Basis von Argumenten eine Überzeugung ausbilden zu können und daher zur Zustimmung rein rational motiviert werden zu können. Ein solcher Konsens ist rational; die Bedingungen der idealen Sprechsituation garantieren seine Rationalität. Und für alle Beteiligten gilt auch, daß ein solcher Konsens wahr ist, insofern eben sich in ihm die gemeinsame Überzeugung ausdrückt, daß der in Rede stehende Geltungsanspruch der Norm, ein wahrer und zu Recht erhobener ist. Aber es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Gründe, die allen eingeleuchtet haben, sich später als nicht mehr hinreichend und triftig erweisen, entweder nur einem oder einigen oder auch allen. Dann wird der alte Konsens widerrufen werden und die Verhandlung noch einmal aufgenommen werden müssen. Findet diese unter denselben kommunikationsoptimalen Bedingungen statt, dann wird man ihr konsensuelles Ergebnis ebenfalls als rational bezeichnen müssen. Daraus ist ersichtlich, daß die Begriffe der Konsensrationalität und der konsensuellen Wahrheit auseinandertreten müssen; sie sind nicht deckungsgleich. Ein rationaler Konsens ist ein Konsens, der unter den von der idealen Sprechsituation definierten Bedingungen zustande gekommen ist. Da aber das Konsensergebnis nicht kritikfest und revisionsimmun ist, Wahrheit aber Unveränderlichkeit impliziert, können rationale Konsense nicht per se wahre Konsense sein. Die Rationalitätsbedingungen der idealen Sprechsituation verbürgen keine praktische Wahrheit; allenfalls dann könnte von einer konsensuellen Wahrheit gesprochen werden, wenn wir von einem unend-

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lichen rationalen Diskurs ausgehen, in dem jedes nur mögliche Argument vorgebracht wird. Aus dem Konzept eines solchen unendlichen rationalen Diskurses folgt analytisch, daß sein konsensuelles Ergebnis nie mit einem kritischen Argument konfrontiert werden kann, die in unendliche Diskurse engagierten Teilnehmer müssen und können nicht mehr lernen, sie sind per definitionem allwissend: kein Argument, kein Betrachtungsgesichtspunkt wird ihnen während ihrer infiniten Beratung entgehen. In der Wirklichkeit können wir jedoch allenfalls auf endliche rationale Diskurse hoffen. Die ihre Rationalität verbürgenden kommunikationsoptimalen Sprechsituationsbedingungen sind ebenso wenig wie der rationale Konsens selbst ein Wahrheitskriterium: der rationale Diskurs ist ein Medium rationaler gemeinsamer Überzeugungsbildung; in ihm begegnet uns eine die subjektive Begrenztheit relativierende Lehrsituation; im Konsens vergewissern wir uns gemeinsam, daß unsere jeweils für triftig gehaltenen Argumente wirklich standhalten, daß wir die Dinge wirklich von einer allgemeinen, das Licht der Öffentlichkeit aushaltenden Perspektive betrachten; und im Konsens erfahren wir auch die Gemeinsamkeit bekräftigende Funktion geteilter Überzeugungen und Gründe. Der Konsens zeigt, daß wir etwas gemeinsam für wahr halten, aber er zeigt nicht die Wahrheit des Fürwahrgehaltenen; die Wahrheit des Fürwahrgehaltenen sind die gemeinsam überprüften guten Gründe, die alle zu einem Einverständnis motiviert haben. Aber diese guten Gründe sind eben nicht revisionsimmun. Dem rationalen Diskurs ist daher als endlichem die Notwendigkeit zur immerwährenden Wiederholung eingeschrieben. Und sofern sich die Bedingungen der idealen Sprechsituation in den Wiederholungen durchhalten lassen, wird eine jede Neuauflage erneut einen rationalen, begründeten Konsens erzeugen. Die ideale Sprechsituation läßt sich daher als Organisationsnorm für die Einrichtung einer gemeinsamen kommunikativen Wahrheitssuche verstehen, eine Wahrheitssuche, die auf die Herstellung eines rational motivierten Einverständnisses hinsichtlich der je in Frage stehenden Geltungsansprüche von Normen und Regeln zielt und sich dabei gleichwohl immer als vorläufig und prinzipiell nicht abschließbar zu begreifen hat. 3. Ideale Sprechsituation und deliberative

Öffentlichkeit

Die normative Grammatik der deliberativen Öffentlichkeit wird in der Diskursethik durch die Idee der idealen Sprechsituation bestimmt. Die

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ideale Sprechsituation ist der Inbegriff der formalen Diskurseigenschaften, die eine rationale Kommunikation und Argumentation garantieren und eine vernünftige Einigung sichern. Ein diskursiv vermittelter Konsensus, der unter den Bedingungen der idealen Sprechsituation herbeigeführt worden ist, kann als vernünftig gelten, weil diese Bedingungen eine zwangsfreie und von allen Kommunikationsverzerrungen freie und jede Vormeinung offenlegende Diskussion von Gründen und Gegengründen hinsichtlich normativer Geltungsansprüche ermöglichen und nur das wirklich allgemeinheitsfähige Interesse zum Beurteilungskriterium erheben. Die ideale Sprechsituation ist der Inbegriff kommunikationsoptimaler und verständigungsoptimaler Bedingungen. Es ist zu betonen, daß die Merkmale der idealen Sprechsituation formaler Natur sind, daß der Idealdiskurs von Habermas durch formale Eigenschaften bestimmt wird. Dieser Formalismus ist prozedural; er enthält die Verfahrensregeln einer diskursiven Argumentation, die als notwendige und zugleich hinreichende Bedingungen der Rationalität des Diskurses und des Konsenses betrachtet werden müssen; d. h.: sind die Sprechsituationsbedingungen nicht erfüllt, wird der Konsens nicht rational sein; sind die Sprechsituationsbedingungen erfüllt, ist die Rationalität des Konsenses garantiert. Das Rationalitätskonzept der Habermasschen Diskurstheorie ist als prozedurales notwendigerweise formal. Dieser Formalismus steht für die Allgemeingültigkeit des Rationalitätskonzepts ein, er sichert den Diskurs vor relativistischen Einwänden. Unter welchen sonstigen materialen Bedingungen auch immer ein Normenüberprüfungsdiskurs stattfinden mag, welcher lebensweltliche Hintergrund auch im einzelnen wirksam werden mag, wenn dieser Diskurs die formalen Prädikate der idealen Sprechsituation instantiiert, dann ist sein Verlauf sowie das erzeugte Konsensusergebnis vernünftig. Allerdings steht diese formale Rationalität nicht für die Allgemeingültigkeit der Konsensinhalte ein. Die formale Charakterisierung der Rationalität der konsensuserzeugenden Verständigungsprozedur enthält gerade kein inhaltliches Kriterium für die Wahrheit des Konsensus. Die Rationalität des Diskurses garantiert die Richtigkeit des Konsensus im Sinne der intersubjektiven Begründetheit des Diskussionsergebnisses; aber die allseits geteilten guten Gründe, die die Basis dieser intersubjektiven Begründetheit bilden, sind als inhaltliche Gründe nicht dagegen gefeit, ihre Triftigkeit nachträglich, im Licht neuer Erfahrungen etwa, verlieren zu können. Die formalen Eigenschaften der idealen Sprechsituation sind offenkundig nicht beliebig. Die ideale Sprechsituation teilt sie mit allen Kon-

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zepten idealisierter Gemeinschaftlichkeit, die im Laufe der neuzeitlichen Philosophie ausgebildet worden sind, mit dem Modell der „scientific community" ebenso wie mit den idealen Vertragsversammlungen, Gesetzgebungskörperschaften und Staatserrichtungsvereinigungen, die der Kontraktualismus in seinen diversen Spielarten ausgebildet hat, oder auch mit Rawls' Verfassungswahl Versammlung im Urzustand unter dem Schleier der Unwissenheit. Alle diese Idealgesellschaften sind so konzipiert, daß sie durch die Struktur der formalen Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander prozedural Rationalität garantieren und so die Vernünftigkeit des jeweiligen argumentativ ermittelten Verständigungsergebnisses als nachvollziehbar sichern. Diese formalen Eigenschaften sind immer dieselben: Gleichheit, Wechselseitigkeit, Reziprozität und Symmetrie. Sie stellen die Organisationsnormen der bürgerlichen Öffentlichkeit und emanzipatorisch-interaktiven Vergesellschaftung dar. 4. Prozeduralismus

und Gerechtigkeit

Jürgen Habermas' Prozeduralismus ist radikaler als der Rawlssche. Führt Rawls' faire Prozedur der rationalen Wahl von Verfassungsprinzipien zu Gerechtigkeitsgrundsätzen für Rechtsordnung und sozioökonomische Struktur, so beläßt es Habermas bei der Formulierung der Argumentationsregel: auch der im Begriff der idealen Sprechsituation bemerkliche Vorschein auf eine ideale kommunikative Lebensform reicht über die Antizipation einer demokratisch und verfahrensethisch organisierten Normenproblematisierungs- und Normenentproblematisierungsgemeinschaft nicht hinaus, umfaßt somit keinesfalls Strukturbestimmungen einer gerechten Gesellschaftsordnung. Habermas' Diskursethik übt hinsichtlich der normativen Auszeichnung inhaltlicher Normen und sozioökonomischer Verhältnisse strikte Enthaltsamkeit. Die Diskursethik weiß sich allein für die normative Bestimmung der prozeduralen Binnenstruktur eines Verfahrens zur diskursiven Willensbildung hinsichtlich der Geltungsansprüche von Normen zuständig und überantwortet damit alle weiteren normativen Entscheidungen hinsichtlich der handlungsbestimmenden Normen und der lebensformbestimmenden sozialen Strukturen den faktischen Diskursen. Habermas' Prozeduralismus verbietet es geradezu, über die Festlegung einer formalen Legitimationsprozedur hinauszugehen. Jede zusätzliche diskursethische Auszeichnung von Handlungsregeln und Strukturprinzipien würde der faktischen Entscheidung der Betroffenen vorgreifen und sie entmündigen. Daher ist für Habermas das Rawlssche Konzept der politischen Gerechtigkeit paternalistisch und der

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Versuch, mit Hilfe der Prinzipien der politischen Gerechtigkeit den Öffentlichkeitscharakter der Vernunft zu definieren, ein Rückfall in die Zeit eines substantialistischen Vernunftverständnisses. Die Diskursethik ist eine Ethik des diskursiven Legitimationsverfahrens. Welche Norm gültig, welche politische Maßnahme legitim und welche gesellschaftlichen Strukturentscheidungen gerecht und im Interesse aller liegen, das läßt sich aus einer diskursethischen ex-cathedra-Perspektive überhaupt nicht entscheiden, das kann nur über den Konsens der demokratischen Beratung der Betroffenen ermittelt werden, der durch kein Gedankenexperiment ersetzt werden, durch keine logisch strukturierte Überlegung simuliert werden kann. Als reine prozedurale Ethik steht die Diskursethik gegenüber den Regelungsbedürfnissen des normativen Objektbereichs in einer Metaposition. Unterhalb der verfahrensethischen, die Legitimationsprozedur für Geltungsentscheidungen im normativen Objektbereich der Handlungsregeln und institutionellen Strukturen nach Maßgabe der Merkmale der idealen Sprechsituation festlegenden Aufgabenstellung erlischt die Zuständigkeit der Diskursethik; hier beginnt der Zuständigkeitsbereich der faktischen Diskurse, denen mithin die legitimatorische Überprüfung des gesamten normativen Objektbereichs obliegt. Allenfalls advokatorisch kann der Diskursethiker tätig werden, als Anwalt von Betroffenen, denen, aus welchen Gründen auch immer, es unmöglich ist, einen diskursiven Willensbildungsprozeß zu organisieren. Wenn jedoch der Diskursethiker derart in Stellvertretung handelt, dann handelt er immer vorbehaltlich einer denkbaren späteren Bestätigung oder Revision durch einen faktischen Betroffenenkonsensus. Aber es besteht ein beträchtlicher systematischer Unterschied, ob die Diskursethik advokatorisch und in Stellvertretung stummer Betroffener über die Berechtigung von Normen befindet, oder ob er eine objektbezogene normative Auszeichnung aus seiner philosophischen Kompetenz heraus vollzieht und damit im Theoriekorpus der Diskursethik selbst die Gründe für diese normative Auszeichnung bereithält. Und letzteres, nämlich objektbezogene - im Unterschied zu verfahrensbezogene - normative Auszeichnungsleistungen, kann die Diskursethik eben nach Habermas nicht erbringen. Es ist die Konsequenz dieses radikalen Prozeduralismus, daß die Diskursethik völlig inhaltsleer ist. Sie hält sich nicht nur minimalistisch zurück, was die Normierung von Handlungsinhalten und sozialen Strukturen anbelangt; sie ist durch und durch inhaltslos. Das besagt, daß die Diskursethik einen uneingeschränkten gerechtigkeitstheoretischen Neu-

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tralismus impliziert. Denn da die Diskursethik die These vertritt, daß nur in realen Diskursen handlungs- und institutionenbezogene Legitimationsentscheidungen gefällt werden können und dürfen, ist die Diskursethik selbst völlig indifferent gegenüber verschiedenen Gesellschaftsordnungen. Sie kann nur unter verschiedenen Willensbildungs- und Legitimationsprozeduren begründet auswählen, nicht jedoch unter verschiedenen Gesellschaftsordnungen. Das eben unterscheidet Habermas von Rawls. Rawls' Prozeduralismus des Urzustands fuhrt zur begründeten Auszeichnung von inhaltlichen Gestaltungsprinzipien einer gerechten Rechts- und Sozialordnung; Habermas' Prozeduralismus der idealen Sprechsituation hingegen fuhrt nur zur begründeten Auszeichnung eines Legitimationsverfahrens. Zweifellos muß diese These von der verfahrensethischen Selbstbeschränkung der Diskursethik, in einer Hinsicht korrigiert werden. Der normative Gehalt der idealen Sprechsituation erschöpft sich keinesfalls mit der Formulierung der Argumentationsregel des diskursethischen Universalisierungsgrundsatzes. Der normative Gehalt des Konzepts der idealen Sprechsituation reicht weiter und entdeckt sich genauerer Betrachtung als durchaus auch gerechtigkeitstheoretisch folgenreich. Wenn wir mit Hilfe der idealen Sprechsituation die normative Geltung des Verallgemeinerungsgrundsatzes sichern können, dann müssen wir mit Hilfe der idealen Sprechsituation genauso überzeugend auch die gesellschaftlichen Strukturen, die sozio-ökonomischen Bedingungen und politisch-kulturellen Verhältnisse normativ auszeichnen können, die die Institutionalisierung der diskursethisch ausgezeichneten Form der betroffenen demokratischen, zwangsfreien Willensbildung ermöglichen und begünstigen. Und in entsprechender Weise müßten wir mit Hilfe der Diskursethik gesellschaftliche Verhältnisse moralisch berechtigt kritisieren können, die ein diskursfeindliches politisches Klima erzeugen. Auch die Diskursethik muß also, wenn sie normativ konsistent sein will, die in ihr grundrißhaft präsente ideale Verständigungsgesellschaft als ein Gut begreifen und für die Verwirklichung dieses Gutes ethisch Partei ergreifen. Da unterscheidet sich die Diskursethik nicht von dem politischen Liberalismus. Die von der idealen Sprechsituation gelieferte geltungstheoretische Unterstützung des herrschafitsfreien Normenbegründungsverfahrens im Rahmen der legitimationsstiftenden faktischen Betroffenendiskurse muß sich vernünftigerweise auch auf die sozialen, ökonomischen und politischen Ermöglichungsbedingungen derartiger faktischer Diskurse erstrek-

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ken. So wie die ideale Sprechsituation die Legitimationsprozedur nach der diskursethischen Universalisierungsregel geltungstheoretisch auszeichnet, so muß sie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse geltungstheoretisch - und das heißt jetzt: gerechtigkeitstheoretisch - auszeichnen, die eben diesen diskursethischen Begründungsbegriff in ihre politische Legitimationskultur aufgenommen haben und seine Praktizierung begünstigen. Die Diskursethik wäre also im Licht dieser Überlegungen folgendermaßen zu verbessern und zu vervollständigen. Der Grundsatz der Diskursethik kann nur auf der Basis einer reflexiven Wendung auf die normativ gehaltvollen allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen eine Argumentationsregel formulieren, die das Verfahren der diskursiven Willensbildung von Betroffenen hinsichtlich strittiger Geltungsansprüche von Normen idealtypisch beschreibt, und muß ansonsten jede Legitimationsentscheidung im normativen Objektbereich der Handlungsregeln und institutionellen Strukturen den faktischen Diskursen überlassen. Sie ist um folgenden Zusatz zu erweitern: „Die strikte Trennung zwischen diskursethisch verantworteter Verfahrensnormierung und der nur durch faktische Diskurse durchführbaren Handlungs- und Strukturnormierung muß insofern revidiert werden, als mit der verfahrensethischen Auszeichnung der demokratischen Legitimationsprozedur konkludent auch die gesellschaftlichen Strukturprinzipien und Ordnungselemente normativ ausgezeichnet sind, die eine Verwirklichung der verfahrensethisch beschriebenen diskursiven Willensbildungsprozesse ermöglichen." Die Diskursethik besitzt also notwendig eine implizite Gerechtigkeitstheorie; sie muß ihren Neutralismus fallen lassen und die gesellschaftlichen Zustände gerechtigkeitstheoretisch positiv auszeichnen, die den diskursethischen Legitimationsbegriff begünstigen. Die Diskursethik steht an der Seite der kritisch-emanzipatorischen Sozialtheorie; ebensowenig wie diese sieht sie die Frage der sozialen Gerechtigkeit auf die Frage einer gerechten Güterverteilung reduzierbar; beide teilen die Vorstellung einer emanzipatorischen Kommunikativität, einer kommunikativen Vergesellschaftung durch gleichverteilte Partizipationschancen an den diskursiven Willensbildungsprozessen, in denen sich das allgemeinheitsfähige Interesse zwanglos herausbildet. Gerecht kann aus der Perspektive der sich selbst voll verstehenden Diskursethik nur die Gesellschaft sein, die durch ihre institutionelle Binnenstruktur und ihr politisch-kulturelles Klima die Voraussetzungen für herrschaftsfreie Diskur-

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se bereithält und all ihren Mitgliedern die Chance überhaupt erst gibt, zusammen in praktischen Diskursen gleichberechtigt und zwanglos strittige Geltungsansprüche von Normen zu beraten. Und diese Beratung bezieht sich grundsätzlich auf alle institutionellen Regelungen, die die Bürger in ihrer politischen Welt vorfinden. Institutionelle Vorentschiedenheiten kann die Diskursethik nicht dulden - auch keine Antizipationen durch die Theorie. Hier liegt einer der größten Unterschiede zwischen Diskursethik und politischem Liberalismus. Habermas wirft Rawls vor, durch den vorgegebenen Grundrechtsliberalismus der Gerechtigkeitstheorie einen konstitutionellen Konservativismus zu begünstigen, der das Betätigungsfeld bürgerlicher Selbstbestimmung unangemessen einschränkt. Rawls' Theorie komme es nur noch darauf an, die Zustimmung der Bürger zu historisch bereits etablierten Institutionen zu sichern, anstatt den öffentlichen Raum für die autonome Gestaltung der Bürger freizugeben. „Aus der Sicht der Theorie der Gerechtigkeit kann und braucht der Akt der Gründung des demokratischen Rechtsstaats unter den institutionellen Bedingungen einer bereits eingerichteten Gesellschaft nicht wiederholt zu werden, kann und braucht der Prozeß der Verwirklichung der Rechte nicht auf Dauer gestellt zu werden. Die Bürger können diesen Prozeß nicht, wie es die wechselnden historischen Umstände doch erfordern würden, als einen offenen, unabgeschlossenen Prozeß erfahren. Sie können den radikaldemokratischen Glutkern des Urzustandes im realen Leben ihrer Gesellschaft nicht entfachen, denn aus ihrer Sicht sind alle wesentlichen Legitimationsdiskurse schon innerhalb der Theorie geführt worden; und die Ergebnisse der theoretischen Erörterungen finden sich bereits sedimentiert in der Verfassung vor. Weil die Bürger die Verfassung nicht als Projekt begreifen können, hat der öffentliche Gebrauch der Vernunft nicht eigentlich den Sinn einer aktuellen Einübung in politische Autonomie, sondern dient nur noch der gewaltlosen Erhaltung politischer Stabilität." 21 Noch deutlicher zeigt sich die dem öffentlichen Vernunftgebrauch bei Rawls auferlegte Einschränkung, wenn man das Verhältnis zwischen Gerechtigkeitskonzeption und öffentlichem Vernunftgebrauch ins Auge faßt. Da die Gerechtigkeitsprinzipien theorieimmanent entwickelt werden, ihre moralische Anerkennung privatim, durch die Anhänger der umfassenden Theorien erfolgt, sind sie der kritischen Überprüfungskompetenz des öffentlichen

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Jürgen Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Gebrauch, in: Zur Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a. M. 1997, S. 169-95; S. 191.

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Vernunftgebrauchs selbst entzogen. Sie sollen nach Rawls' Vorstellung die Standards guter Gründe bestimmen, die im öffentlichen Vernunftgebrauch ausgetauscht werden. Sie liegen dem Vernunftgebrauch voraus. Die Gerechtigkeitsprinzipien und folglich auch das sie institutionalisierende verfassungsrechtliche und gesetzesrechtliche Regelwerk ist der normativen Bewährung durch die öffentlichen Diskurse entzogen. Diesen wird lediglich die Aufgabe der Stabilisierung zugewiesen, die dadurch erreicht wird, daß die theoretisch konstruierte weltanschauliche Neutralität der Gerechtigkeitsprinzipien in den öffentlichen Diskursen durch das Diskursverhalten der Bürger abgebildet werden kann, wenn diese interne religiöse, metaphysische oder moralische Gründe haben, diese Prinzipien als Bestandteil ihrer weltanschaulichen Überzeugungen anzuerkennen. Die Anerkennungswürdigkeit der Prinzipien wird nicht durch den öffentlichen Vernunftgebrauch erprobt, sondern auf je private Weise durch die Bürger als Anhänger umfassender Lehren untersucht. Aber möglicherweise verkennt diese Kritik den Sinn der Rawlsschen Konzeption völlig. Möglicherweise ist es falsch, Rawls in eine Reihe mit Kant und Habermas zu stellen. Möglicherweise hat Rawls sich selbst völlig mißverstanden und trotz seiner zahlreichen Kant-Verweise gar keine Theorie Kantischen Zuschnitts entwickelt. Daher wäre es auch unangebracht, in seiner Theorie nach dem Gerichtshof der Vernunft zu suchen und ihm vorzuwerfen, diesem zuviel entzogen und daher zuviel ungeprüft vorausgesetzt zu haben. Möglicherweise ist Rawls' politischer Liberalismus keine Theorie Kantianischen, sondern Hegelianischen Zuschnitts, die sich nicht der Wirklichkeit kritisch nähert, sondern in hermeneutischer Demut die Unerläßlichkeit des Anknüpfens an immer schon Vorfindliches einsieht und in der begründeten Anerkennung des ohnehin bereits objektiv Anerkannten das einzig erreichbare Ziel politischen Philosophierens sieht. Wenn man sich das folgende Zitat ansieht, dann scheint diese vernunfthermeneutische Lesart des politischen Liberalismus zumindest nicht ganz abwegig. „Wir können im Laufe unseres Lebens dazu gelangen, auf der Grundlage überprüfter Urteile die Ideale und Grundsätze freiwillig anzuerkennen, die unsere Grundrechte festlegen und die politische Macht, der wir unterworfen sind, lenken und mäßigen. Das ist die äußerste Grenze unserer Freiheit." 22 Und es ist darum die äußerste Grenze unserer Freiheit, weil wir der Geschichte nicht entlaufen können. Nullpunkt-Konstruktionen dienen nur dazu, diesen Aner22

John Rawls , Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 213.

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kennungsprozeß philosophisch zu rekonstruieren. Eine Anleitung für die Herstellung einer besseren politischen Welt ist ihnen nicht zu entnehmen. Die Kriterien, an denen die moralische, politische und rechtliche Qualität des Bestehenden zu messen ist, werden von diesem selbst bereitgestellt. Es kann nur darum gehen, sie zu verstehen und ihre Handhabung zu lernen. Freilich ist damit die Rawlssche Konzeption noch nicht gerettet. Dieser hegelianische Interpretationsausweg ist ohnehin nur eine radikalisierte Variante der begründungstheoretischen Trivialität, daß Letztbegründungen grundsätzlich nicht erreichbar sind, jede Begründung Voraussetzungen machen muß, deren Validität sie ihrerseits nicht aufzeigen kann. Daher sind die unterschiedlichen Begründungsansätze in der normativen Philosophie ohnehin nur unterschiedliche Explikationen und Interpretationen geteilter, weil kulturell vorgefundener normativer Überzeugungsbestände. Diese hermeneutische Auffassung der Aufgabe und der Grenzen praktischer Philosophie gilt also auch für die Habermassche Diskursethik, obwohl deren Selbstverständnis natürlich davon nichts wissen will. Diese Explikationen und Interpretationen sind freilich nicht in gleicher Weise gültig, überzeugend oder auch nur plausibel. Und es ist jedesmal zu fragen, ob die von der Theorie präsentierte Konzeptualisierung und die normative Vermessung der Traditionsbestände der politischen Moderne überzeugen können. J. Diskurs und Demokratie Die Idee des herrschaftsfreien Diskurses ist für den Diskursethiker die philosophische Grundlage der Demokratie, nicht in dem rousseauistischen Sinn der einzig möglichen Souveränitätsbestimmung, sondern in einem fundamentalen legitimationstheoretischen Sinne. Die Staatsform der Demokratie ist eine Schöpfung des prozeduralen Legitimitätstypus. Der herrschaftsfreie Diskurs ist gerade wegen seines Prozeduralismus eine philosophisch angemessene Explikation der Idee der Demokratie, die alle staatliche Machtausübung an den legitimierenden Bürgerkonsensus zurückbindet. Das verfahrensethische Diskursprinzip ist ein genuines Legitimitätsprinzip politischen Handelns und politischer Institutionen; die Grundnormen vernünftiger Rede und argumentativer Begründung bilden zugleich auch das prozedurale Gerüst demokratischer Einigungsverfahren. Die damit unauflöslich verknüpfte Konsensusorientierung muß auch gegen den Pragmatismus der Mehrheitsregel behauptet

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werden. Nicht in der von Wahrheit entbindenden Mehrheitsregel, sondern in dem Wahrheit anzeigenden Konsensus erblickt der Diskursethiker das Wesen der Demokratie. Das Majoritätsprinzip gilt seinen Vorstellungen zufolge „nur als der Ersatz fur den zwanglosen Konsensus, der sich am Ende herausstellen würde, wenn man nicht stets die Diskussion unter Entscheidungszwang abbrechen müßte".23 Man hat Habermas' Herrschaftsfreiheitskonzept vorgeworfen, die politische Philosophie durch die implizite Zerstörung ihres Gegenstandes aufzulösen. Denn - so die Argumentation - tilgt man Herrschaft, dann nimmt man der politischen Philosophie ihr genuines Thema. Seit Piatos Zeiten war politische Philosophie eine Philosophie der Herrschaftslegitimierung und Herrschaftslimitierung; der gerechten Herrschaftsordnung, der institutionell domestizierten Herrschaft galt ihr Interesse. Immer ist aber die Notwendigkeit von Herrschaft vorausgesetzt worden und jeder Gedanke einer Transformation der zwangsbewehrten staatlichen Rechtsordnung in ein Geflecht spontaner Intersubjektivität als ein zudem ein wenig infantiler Traum belächelt worden. Es verwundert also nicht, daß gerade das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses als einer legitimationstheoretisch überlegenen Gegeninstitution zu den pragmatisch verkürzten und verzerrten Willensbildungsroutinen des demokratischen Alltags auf viele Kritiker wie ein rotes Tuch wirkt. Aber sie vergessen in der Regel den systematischen Kontext, in dem dieser Begriff entwickelt worden ist und somit auch den geltungstheoretischen Sachverhalt, zu dessen Bezeichnung er verwendet wird. Im engen diskursethischen Kontext ist Herrschaftsfreiheit die Sammelbezeichnung für die Merkmale, die ein Beratungsverfahren ausweisen muß, um einen rationalen Konsens zu erzeugen, oder noch vorsichtiger: um die Chance auf einen rationalen Konsens zu wahren. Im angewandten politischen Kontext weist die Verknüpfung von Herrschaftsfreiheit und Demokratie auf das politische Programm der bürgerlichen Anfänge hin, die politische Herrschaft durch kontrollierende Rückbindung an die öffentliche Diskussion der Bürger zu rationalisieren, die politischen Grundentscheidungen an verallgemeinerungsfähige Interessenlagen zu koppeln und die soziale Herrschaft partikularer Interessen konsensrational zu entmachten. Unter dem Programmtitel der Herrschaftsfreiheit geht es nicht darum, alle Institutionen zu zerschlagen und alle Normen außer Kraft zu setzen, um sie dann suk-

23 Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a. M. 1969, S. 123 f.

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zessive einem diskursethischen Legitimationsverfahren zu unterwerfen; die politische Stoßrichtung der Diskursethik zielt nicht auf eine derart gigantisch unsinnige „tabula rasa"-Politik. Vielmehr zielt der Programmtitel Herrschaftsfreiheit darauf, das Rationalisierungspotential kommunikativen und geltungsreflektierten Handelns im Sinne einer prinzipiellen Ausweitung geltungsüberprüfender Diskurse und legitimitätsstiftender Willensbildungsprozesse zu nutzen. Es geht um eine Demokratisierung der demokratischen Politik durch stärkeren Einbezug der Bürger in die grundlegenden politischen Entscheidungen, um eine zunehmende Entroutinisierung und Entkonventionalisierung der etablierten Entscheidungsprozesse, um die Bereitstellung größerer Partizipationschancen. Nicht eine identitäre Demokratie strebt die in die Politik gehende Diskursethik an, sondern eine partizipationsoptimale. Und auch der gern von postmodernistischer Seite erhobene Vorwurf, daß der Diskursethiker den Konsens fetischisiere, den Dissens perhorresziere, die Ungeschlichtetheit und Unversöhntheit nicht ertrage und darum alles Sperrige, Eigensinnige, Vielfältige aus dem öffentlichen Leben vertreiben möchte, ist zurückzuweisen, zumindest zu relativieren. Argumente sind konsenszielig dadurch unterscheiden sie sich von Bekundungen, Signalisierungen und allen Formen einer instrumentellen, interessenpolitischen Verwendung der öffentlichen Rede. Andere durch Gründe zur Zustimmung zu bewegen, definiert geradezu die Sprachhandlung des Argumentierens. Sicherlich ist es ein epistemologisches Ideal, alle Ausgangsdissense im Laufe des Deliberationsprozesses aufzulösen, doch bleibt davon die Konsensausrichtung der Argumentation unberührt. Damit ist jedoch nicht das diskursethische Modell der Öffentlichkeit rehabilitiert. Der postmodernistische Konsensskeptizismus piaziert seine Kritik nur falsch. Nicht die Konsensausrichtung ist dem diskursethischen Öffentlichkeitsmodell vorzuwerfen, sondern seine kognitivistische Verkürzung ist zu kritisieren. Demokratische Öffentlichkeit wird falsch verstanden, wenn sie ausschließlich als in Raum und Zeit eingesenktes normatives Erkenntnisverfahren aufgefaßt wird. Auch wird die Vorstellung bürgerlicher Selbstbestimmung viel zu eng gefaßt, wenn die Wahrnehmung des Partizipationsrechts ausschließlich als Teilnahme an diskursiven Normenüberprüfimgsverfahren verstanden wird.

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III. Öffentlichkeit und gesellschaftliche Selbstverständigung Bürger haben zwei Verpflichtungen: einerseits bei der Durchsetzung ihrer Überzeugungen auf jede Form von Gewalt zu verzichten, andererseits jedem Mitbürger gleiches Diskursbeteilungsrecht einzuräumen. Sonst aber kann jeder im öffentlichen Diskurs von allen Argumenten Gebrauch machen, die ihm einfallen, auch von solchen, die in seinen tiefen Überzeugungen und seinen Religionsansichten verwurzelt sind. Er wird sehen, wer ihm zustimmt und wer nicht. Und er wird sich entscheiden müssen, ob ihm daran gelegen ist, mehr Zustimmung zu erhalten oder seine Identität zum Ausdruck zu bringen, ob er sich mit anderen unter der Inkaufnahme von Abstrichen und Einbußen einigen will oder ob er sein Authentizitätsbedürfnis befriedigen möchte. Er wird möglicherweise lernen, andere Argumente zu gebrauchen als bisher, er wird lernen, nicht mehr von Glaubensüberzeugungen Gebrauch zu machen, die andere nicht haben. Möglicherweise aber beläßt er es bei der Äußerung seiner Überzeugung und ist zufrieden mit dem Umstand, daß nur seine Gruppe zu ihm hält. Immerhin briqgt er seine tiefe Überzeugung, seine Wahrheit zu Gehör; andere hören sie, finden sie interessant, modifizieren vielleicht ihre eigenen Positionen oder nehmen vielleicht nur zur Kenntnis, daß man die Sache auch ganz anders sehen kann. Vielleicht aber ändert auch der Überzeugungsdurchdrungene seine Sichtweise. Manchmal wirkt es Wunder, eigene Selbstverständlichkeiten einer andersmeinenden Öffentlichkeit verständlich zu machen, sie in den gemeinsamen Raum der Gründe zu stellen und versprachlicht und objektiviert vor sich zu bringen. Vertrautes sieht dann auf einmal ganz anders aus. So gibt es einen vielstimmigen und multifunktionellen Diskurs, in dem sich Ebenen der Identitätsbildung und Authentizitätsdarstellung, des Werbens, Überredens und Überzeugens, des Begründens und Erzählens durchdringen. Ein wilder, unorganisierter Prozeß des allseitigen Lernens, des alltäglichen Konfliktmanagements, der unaufhörlichen Selbstverständigungfindet statt. Derart revidiert würde die Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs Anschluß an die gängigen Konzeptionen diskursiver oder deliberativer Öffentlichkeit gewinnen, die bei aller Unterschiedlichkeit im Detail einen normativen Kern teilen, den man als diskursethische Variation basaler menschenrechtlicher Gleichheit bezeichnen kann. Deliberative Öffentlichkeit beruht auf den Prinzipien der Teilnahmegleichheit, des Argumentationsvorzugs und der wechselseitigen Achtung. Alle Teil-

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nehmer haben gleiches Äußerungsrecht, sind gleichermaßen berechtigt, rechtfertigende Gründe fur Äußerungen und Vorschläge anderer zu fordern und zu erhalten, und entsprechend auch gleichermaßen verpflichtet, erheischte Rechtfertigung zu geben. Aus all dem folgt, daß die vorzügliche Weise, sich öffentlich zu äußern, das Argument ist. Letztlich ist das Prinzip der Teilnahmegleichheit nur die diskursethische Explikation der dem Argumentationssprechakt immanenten Vollzugs- und Gelingensnormen. Und auch das Prinzip der wechselseitigen Achtung ist mit den ersten beiden unauflöslich verbunden. Genau dann zeigt man Respekt, achtet man seinen Gesprächspartner, wenn man diskursethische Grundregeln befolgt. Zur wechselseitigen Achtung gehört aber auch: Gesprächspartnern, die sich nicht überzeugen lassen, ihre Meinung nicht zu verargen; erst recht gehört dazu, sie nicht zu verunglimpfen, politisch zu diskriminieren. Mit einem Wort: wechselseitige Achtung verlangt, von Gewalt in all ihren physischen, psychischen und rhetorischen Erscheinungsformen abzusehen. Und dann wird man zu diesen Reaktionsweisen nicht mehr Zuflucht nehmen, wenn man gelernt hat, Uneinigkeit zu ertragen. Denn der Wert deliberativer Öffentlichkeit liegt nicht darin, Konsens zu erzeugen. Die deliberative Öffentlichkeit ist nicht der Ort der Vernunft, aber der Ort des Vernünftigerwerdens. Er ist der Ort der Rationalitätssteigerung der demokratischen Diskurse und der gesellschaftlichen Selbstaufklärung. Und da sich in all diesen Prozessen individuelle und kollektive Autonomie zum Ausdruck bringt, sich Gleichheit in Unterschiedlichkeit zeigt, Bürger die politische Wirksamkeit moralischer Subjektivität demonstrieren, ist deliberative Öffentlichkeit an sich wertvoll. Sie ist aber auch instrumentell wertvoll: sie ist kognitiv nützlich, dient als Produktionsstätte neuer Ideen, fuhrt zur Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung, setzt etablierte Selbstdeutungen außer Kraft und entwickelt neue, bereichert die Kenntnis jedes einzelnen, ändert die Einstellungen vieler und bewirkt langfristig manchen Wandel des öffentlichen Bewußtseins. Der erste Nutznießer der Leistungen der deliberativen Öffentlichkeit ist diese selbst: öffentliche Deliberation in all ihren unterschiedlichen, keinesfalls auf Kantisches Gelehrtenräsonnement und Habermassches Diskursgeschehen eingeschränkten Äußerungsformen fuhrt zur Selbstverständigung und zur kognitiven und moralischen Selbstverbesserung. Es fuhrt zu einer Verkennung der Wirklichkeit, wenn die deliberative Öffentlichkeit als ein vergemeinschaftetes Verfahren moralischer Maximenüberprüfung, mithin als eine moralische Erkenntnisprozedur ge-

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deutet wird. Nicht minder wird der öffentliche Vernunftgebrauch verzerrt, wenn man ihn an der Urteilsbegründungspraxis von Verfassungsgerichten orientiert. Und auch dann erhält man ein falsches Bild von der demokratischen Öffentlichkeit, wenn man sie als Schattenparlament betrachtet und von ihren Diskursen rationalisierenden und legitimierenden Effekt auf die Entscheidungen der Verfassungsorgane erwartet. Das demokratische Öffentlichkeitsgeschehen wird empirisch mißdeutet und normativ überlastet, bürdet man ihm die Aufgabe einer legitimationsspendenden Kritik und Überprüfung parlamentarischer oder höchstrichterlicher Einzelentscheidungen auf. Wirkung, moralisch relevante, politisch relevante, kulturell relevante Wirkung erzielt die deliberative Öffentlichkeit nur auf dem Bereich des langfristigen öffentlichen Bewußtseinswandels. Die deliberative Öffentlichkeit ist der Ort der gesellschaftlichen Selbstreflexion und der unaufhörlichen Überprüfung der kulturellen Selbstdeutung. Sicherlich bereitet es einige Schwierigkeiten, in den alltäglichen Konversationsräumen der Demokratie die öffentliche Vernunft am Werk zu sehen, die Diskursethik und politischer Liberalismus teils geltungstheoretisch, teils stabilitätspolitisch ins Zentrum ihrer Konzeptionen stellen. Die Diskurse der Gesellschaft verdanken sich keiner besonderen konsenszieligen Anstrengung; die Gesellschaft ist kein Parlament mit Geschäftsordnung und festgelegter, zu genehmigender Tagesordnung. Sie finden statt, sie sind das Hintergrundgeräusch, das unaufhörliche, nie endende Hintergrundgeräusch der Medien, durch die der Diskurs in jeden Winkel der Öffentlichkeit, in jede Gehirnwindung seiner Bürger getragen wird. Durch das Zeitungslesen, durch die Lektüre von Büchern, durch Radiohören und Fernsehen, durch Gespräche mit Freunden und Bekannten, durch Zufallsbegegnungen, durch den Besuch von Vorträgen und Vorlesungen nimmt jeder an dieser demokratischen Konversation teil, die keinen Moderator kennt, keinen, der sie steuert, der die Wortbeiträge verteilt und auf die Redezeiten achtet. Es ist ein rhetorischer Naturzustand, ein deliberativer Wildwuchs, ein unaufhörliches Geschwätz, ein Palaver, eine Debatte, an der die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen teilnehmen. Und keinesfalls sind alle in gleicher Weise daran beteiligt. Zwar gilt gleiche Gedanken- und Meinungsfreiheit, gleiches Rederecht, doch die Realität ist eine Zweiparteienlandschaft. Da ist einmal die Partei der Menge, die auf den Rängen sitzt, zuhört, auch sich unterhält, doch reicht solches Gemurmel nicht weiter als bis zu den Ohren der Umstehenden. Und da ist zum anderen die kleine Partei der pro-

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fessionellen Meinungsäußerer und Meinungsmacher, der Dichter und Denker, der öffentlichen Redner, Essayisten und Feuilletonisten, der Leitartikler, der Ideologen, der Demagogen und der Sophisten. So sieht die Öffentlichkeit ungeschminkt aus, ohne demokratieethisches Rousseau-Rouge, ohne diskursethischen Lip-Gloss, ohne idealistisches Makeup, das die tiefen populistischen Poren verstopft. Das oben gezeichnete Bild der deliberativen Öffentlichkeit muß von den vielgestaltigen kommunikationspathologischen Phänomenen der zeitgenössischen Mediengesellschaft nicht ablenken, wird auch durch den grassierenden moralischen und kognitiven Analphabetismus der Talkshow-Welt nicht ins Wanken gebracht. Da es die demokratische Öffentlichkeit vordringlich als Selbstverständigungsforum und Meinungsfreiheitsanarchie auffaßt, ist es nicht genötigt, das polymorphe Äußerungs- und Kommunikationsgeschehen epistemologisch zu vereinheitlichen und auf ein veritatives Ziel auszurichten, begegnet es den unterschiedlichen Mitwirkungsweisen der Bürger an den Diskussionen auch nicht mit unangemessenen normativen Erwartungen.

Klassiker und Post-Klassiker in Geschichte, Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Soziologie Von Dirk Kaesler Mit Wilfried Röhrich, dem dieser Beitrag zugedacht ist, verbindet mich die Zusammenarbeit bei einem Projekt, das seine eigene Rolle in der Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum gespielt hat. Am 7. März 1974 schrieb der damalige Dipl.-Soz. Dirk Käsler, Verwalter der Dienstgeschäfte eines Wissenschaftlichen Assistenten am Institut fur Soziologie der LMU München, an Herrn Professor Wilfried Röhrich an der Universität Kiel und fragte an, ob dieser, auf der Grundlage seiner Habilitationsschrift über Robert Michels, einen Beitrag über diesen deutsch-italienischen Soziologen für das geplante Vorhaben einer Sammlung der „Klassiker des soziologischen Denkens" beim Verlag C. H. Beck liefern würde. Nur zehn Tage später kam die freundliche Antwort mit der Zusage der Mitarbeit, im Februar 1975 traf eine erste Fassung des Beitrags ein, im Juli 1975 war die redaktionelle Arbeit des Herausgebers abgeschlossen, im Februar 1978 erschien der zweite Band des Unternehmens, dessen erster Band bereits im Dezember 1976 veröffentlicht worden war. Ich möchte diesen Beitrag zum Anlass nehmen, erneut über die Definition von „Klassikern" in der Soziologie und deren vielfaltige Funktionen für die bisherige und zukünftige Entwicklung der Soziologie nachzudenken.

Am Beginn des Unternehmens Soziologie steht der soziologische Klassiker Auguste Comte (1798-1857). Im Geiste des von ihm ganz wesentlich mitbegründeten Positivismus entwarf er seine Vision des von ihm gedanklich und auch institutionell errichteten Hauses der Soziologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Tochter der Spätaufklärung und geprägt vom Szientismus dieser Epoche sollte diese neue Wissenschaft die Gesellschaft der Menschen nicht nur beschreiben und analysieren, sondern sie auch in allen ihren Erscheinungsformen (mit)gestalten. Diese Wissenschaft würde zur Königin der Wissenschaften werden, nachdem sie alle Theologien und alle Metaphysik hinter sich gelassen hatte. Sie

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würde alles menschliche Zusammenleben nach den geltenden Regeln der wissenschaftlichen Vernunft regeln, das Verhältnis der Geschlechter und Generationen, die Erziehungssysteme, die Familien- und die Arbeitswelt. Zudem sollte diese neue Wissenschaft sociologie einen quasi-religiösen Kultus begründen, der im Geiste des Fortschritts die menschlichen Gesellschaften, die Menschheit insgesamt, beherrschen würde, in selbstverständlich den besten Absichten!1 Wer sich ernsthaft mit der historischen, ideellen und materiellen Entstehung der Soziologie auseinandersetzen will, muss diese wahrlich grundlegenden Ideen des Namensgebers unserer Wissenschaft kennen. Gerade weil heute eindeutig festzustellen ist, dass diese grandiose Vision des Franzosen Comte zu Beginn des 21. Jahrhunderts endgültig ausgeträumt ist. Weder wurde aus der Stadt Paris die Metropole der Menschheit, noch regieren von dort aus die soziologischen Hohenpriester der Menschheit nach der Devise „Liebe als Triebkraft, Ordnung als Grundlage, Fortschritt als Ziel" („L'amour pour principe, l'ordre pour base, le progrès pour but"). Ohnehin sollte heutigen Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses der Soziologie, nach den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, zumindest ein recht bitterer Nachgeschmack bei der Erinnerung an die grenzenlosen Vorstellungen ihres ersten Hausgründers bleiben. Aber nicht nur dieser selbstherrliche Gründungstraum der Wissenschaft Soziologie ist zerstoben. Auch die ebenso grandiose Theoriearchitektur des US-Amerikaners Talcott Parsons (1902-1979), der die internationale Soziologie von den 1930er bis in die späten 1960er Jahre beherrschte, liegt heute ebenfalls nur mehr wie ein dunkler Schatten über dem Haus der internationalen Soziologie. Parsons' Vorstellung, dass es möglich sein würde, ein einziges theoretisches System zu entwickeln, das alle Gesellschaften und deren historische Entwicklung ein für alle Mal wissenschaftlich beschreibt und erklärt, wird heute nur noch von sehr wenigen Bewohnern des Hauses der Soziologie geteilt. Die Grand Theory des Struktur-Funktionalisten Parsons, noch dazu getragen von 1

Der nachfolgende Text ist eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Einleitung in: Dirk Kaesler (Hrsg.), Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne, München 2005, S. 11-40. - Der Text bezieht sich weiterhin auf die beiden Unternehmen: Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. 2 Bde., München 1976 / 1978; Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, 2 Bde., München 2006.

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der Leitmelodie einer unaufhaltsamen „Modernisierung" aller Menschengesellschaften nach dem Muster „fortgeschrittener" Industriegesellschaften westlichen Typus, erscheint vielen heutigen soziologischen Hausbewohnern wie ein Fossil aus lange zurückliegender Zeit - fast ebenso alt und erschreckend wie die Vision des Auguste Comte. Die Wiederkehr dieses Typus von Grand Theory steht schon lange nicht mehr auf der Agenda zeitgenössischer Soziologie, ungeachtet mancher Sehnsüchte, die von deren Rückkehr fabulieren und zumeist vor allem außerhalb der Soziologie nach der Erfüllung ihrer Träume suchen. Aber, und das ist das Thema hier, sowohl das Werk von Comte als auch das von Parsons stehen in der Geschichte der Soziologie wie zwei Pfosten, an denen niemand vorbeikommt, der sich mit diesem Unternehmen auseinandersetzen möchte: das eine als eigentliche Startposition, das andere als eine bedeutsame Wendeposition für viele daran anschließende weitere Entwicklungen der internationalen Soziologie. Und in diesem Sinne sind die beiden Schöpfer dieser Werke „Klassiker" der Soziologie. Wer die lange Kette dieser Klassiker präsent hat - von Auguste Comte bis Anthony Giddens - , wird zum einen nicht umhin können, die Kreativität und Genialität dieser Wissenschaftler anzuerkennen, zum anderen jedoch auch einzusehen, wie zeit-, kontext- und milieuabhängig alle diese theoretischen und empirischen Entwürfe waren und sind. Betrachten wir den Stand der Dinge zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so stellt er sich folgendermaßen dar: Die frühen Klassiker, alle vor 1900 geboren, Auguste Comte, Karl Marx, Herbert Spencer, Vilfredo Pareto, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Emile Durkheim, George Herbert Mead, Max Weber, Robert E. Park, Robert Michels, Marcel Mauss, Maurice Halbwachs, Theodor Geiger, Karl Mannheim, Norbert Elias und Alfred Schütz sind längst gestorben. Von den Klassikern, die nach 1900 geboren wurden, Paul F. Lazarsfeld, Talcott Parsons, Theodor W. Adorno, Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Raymond Aron, George Caspar Homans, Robert K. Merton, C. Wright Mills, Erving Goffman, James S. Coleman, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens, leben und schreiben - zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes - noch Jürgen Habermas (Jahrgang 1929) und Anthony Giddens (Jahrgang 1938). Auch deswegen stellt sich die sorgenvolle Frage: Was kommt auf dem Feld der soziologischen Theoriearbeit nach diesen erprobten Klassikern der internationalen Soziologie?

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Damit und zugleich stellt sich die berechtigte Frage, was ganz allgemein aus dem Haus der Soziologie im und für das 21. Jahrhundert werden kann und werden soll. Diese Frage, die ich für die Weiterführung des Unternehmens Klassiker der Soziologie mit einer Sammlung „Aktuelle Theorien der Soziologie" im Jahr 2005 zu beantworten suchte, führt zurück zu einem Grundgedanken der Vorläuferbände: Was sollen „Klassiker" in einem Fach wie dem der Soziologie? Nie ging es bei diesem Unternehmen darum, einen Kanon zu verehrender Heiliger Schriften und ihrer Verfasser zu kodifizieren. Und ganz gewiss ging es nie um die Errichtung und Beweihräucherung eines Mausoleums toter Gedankengebäude. Immer ging es vorrangig darum, einen Fundus von Ideen, Begriffen und empirischen Befunden zu präsentieren, mit dem heutige und zukünftige Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses der Soziologie kreativ weiterbauen können, im intensiven Diskurs mit denjenigen, die vor ihnen gelebt, gedacht und geschrieben haben. I. „Klassisch44 und „post-klassisch44 Wie lassen sich „klassische" Beiträge jeder Art, so eben auch in der Soziologie, bestimmen? Immer ging und geht es darum, bestimmte geistige Erzeugnisse als normbildend, als vorbildlich, als maßgeblich zu bezeichnen. Diese als Ehrenbezeichnung gedachte Kategorie wurde im Laufe der Zeit und in allen Kulturgebieten wie eine Art von Staffelholz immer weitergereicht: Betrachtete die römische Antike die griechische Literatur und Kunst noch als „klassisch", so verstand man in der Renaissance schon die gesamte griechisch-römische Antike als „Klassik". Die Blütezeit der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung der Periode von 1170 bis 1250 wurde später ebenso als „klassisch" bezeichnet, wie in Italien die Renaissance von Dante Alighieri bis Torquato Tasso, ebenso wie in Spanien die Zeit von Pedro Calderón de la Barca und Miguel de Cervantes Saavedra, ebenso wie in England das Elisabethanische Zeitalter des William Shakespeare und so auch in Frankreich die Epoche Ludwigs XIV. In Deutschland wurde dieses Konzept geradezu eingefroren auf die „Weimarer Klassik" um 1800 eines Goethe und Schiller. Für die Soziologie versuchte ich in der Einleitung zum ersten Band, unter der Überschrift „Was sind und zu welchem Ende studiert man die Klassiker der Soziologie?", eine Antwort auf die Frage nach der Be-

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Stimmung von deren Klassizität zu geben. Wie kommt es, dass das Werk eines Menschen auf eine solche Weise eingestuft wird, dass es mit dem Etikett „klassisch" versehen wird? Diese Frage betrifft keineswegs die Wissenschaft allein - und die Soziologie schon gar nicht in besonderer Weise. Jedoch bleibt diese Frage gerade in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften unverändert und besonders virulent, sie spitzt sich gegenwärtig in mancherlei Hinsicht sogar noch zu. Die abwehrende Distanz gegenüber den Ideen und Begriffen der toten, weißen Männer der nördlichen Halbkugel, wie sie auch den bisherigen Klassikern der Soziologie gegenüber an manchen Orten gepflegt wird, scheint eher größer und vehementer zu werden. Um auf diese aktuellen Debatten zu reagieren und dabei zugleich ein wenig Abstand zur alleinigen Fixierung auf innersoziologische Debatten zu gewinnen, mag es nützlich sein, in knapper Weise an ein Beispiel aus der abendländischen Musik zu erinnern. Es geht um die Verwobenheit der so unterschiedlichen Erfolge des Antonio Salieri und des Wolfgang Amadeus Mozart. Spätestens seit dem Erfolgsfilm von Milos Forman, „Amadeus" von 1988, hat die spektakuläre Verdächtigung, dass der erfolgsverwöhnte Salieri seinen genialen Konkurrenten Mozart mit Gift ermordete, eine bis heute anhaltende Verbreitung gefunden. Gerade weil Mozarts Werk heute zu jenem Bestandteil der universalen musikalischen Klassik gehört, die jenseits jeder konjunkturellen Schwankungen zu liegen scheint, wird diese Kolportage auch dazu eingesetzt, um die beliebte Legende zu verbreiten, dass die „wahre Kunst", das „wahre Genie" sich immer durchsetzen werden. Nicht einmal ein Mordanschlag der eifersüchtigen Konkurrenz werde solchen Erfolg verhindern können. Schon aus wissenschaftssoziologischer Perspektive ist diese Vorstellung nicht haltbar. Aber auch aus musikhistorischer Perspektive hat sich diese gruselig-romantische Erzählung nicht bewahrheitet, auch wenn sich der gelähmte und geistig verwirrte Salieri am Ende seines Lebens selbst dieser schrecklichen Tat bezichtigte. So wenig, wie er am Tod Mozarts einen Anteil hatte, ebenso wenig konnte er verhindern, dass sich das musikalische Werk seines genialen und nonkonformistischen Konkurrenten, der im Alter von 35 Jahren eines natürlichen Todes starb, bis heute so flächendeckend gegen sein eigenes durchsetzte. Angesichts einer elaborierten Mozart & Salieri-Forschung, die sich gerade in Mozarts 250. Geburtsjahr so erstaunlich umfangreich ausbreitete, kann man es heute wissen: Die Erfolgskarriere des Antonio Salieri aus Legnano,

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der immerhin 36 Jahre lang den Posten des Hofkapellmeisters am Wiener Hof innehatte, wurde beendet, als sich im Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert die Konjunktur der übernationalen Sprache der europäischen Musik insgesamt wendete und sich in allen europäischen Ländern ein musikalischer Nationalismus entwickelte, der es einem italienischen Komponisten schwermachte, gegen einen deutschen Österreicher seinen bis dahin konkurrenzlosen Siegerplatz zu behaupten. 200 Jahre Rezeptionsgeschichte sowohl der Musik von Salieri als auch der von Mozart belegen, dass es nicht Können und Schöpferkraft eines Menschen allein sind, die über Erfolg oder Scheitern seines Werkes entscheiden. Es war und ist nicht die künstlerische Qualität von Antonio Salieris Erfolgsoper „L'Europa riconosciuta", mit der im Jahr 1778 die Mailänder Scala eröffnet wurde, die gegen Mozarts „Die Zauberflöte", die im Jahr 1791 im sehr viel bescheideneren Wiener „Theater im Freihaus auf der Wieden" uraufgeführt wurde, unterlag. Für die Erfolgsgeschichte der Musik Mozarts nach seinem Tod sehr viel bedeutsamer wurde die Tatsache, dass der Habsburger Hof sich zunehmend von der Musik seines ehemaligen kaiserlichen Kammerkomponisten und Kapellmeisters der italienischen Oper distanzierte, um dafür um so mehr die Großartigkeit eines eigenen österreichischen Meisters aus Salzburg als nationales Schmuckstück zu preisen. Deswegen sank der Stern des Salieri, der in Italien als Wiener und in Wien als Italiener betrachtet wurde, und in gleichem Maß stieg der Stern des Wolfgang Amadé, den sein ehrgeiziger Vater zum berühmten Wunderkind erzogen hatte. Für Geschichte und Gegenwart der Soziologie mag es nützlich sein, solche Zusammenhänge vor Augen zu haben. Ebenso wie die Tatsache, dass es - wiederum nicht zuletzt durch den großen Erfolg des Films „Amadeus" - seit einigen Jahren eine Art von Wiederentdeckung der Musik von Salieri zu verzeichnen gibt. Nicht das, was „wirklich gut" ist, setzt sich durch. Sondern, es sind immer wieder sich verändernde Konstellationen von Ideen und Interessen, die Konjunkturen der KlassikerFabrikation auf allen Gebieten des Schaffens von Menschen erzeugen. Diese Prozesse werden sich niemals abschließen lassen, zumindest so lange nicht, wie das archivierte kulturelle Gedächtnis der Menschheit die Produkte solchen Schaffens bewahrt, und damit einer unendlichen Wieder-„Entdeckung" zugänglich macht. Es ist derzeit unstrittig, dass die ehemals großen Theorie-Unternehmen von Soziologen wie beispielsweise Leopold von Wiese und Kai-

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serswaldau, Franz Oppenheimer, Hans Lorenz Stoltenberg und Max Graf zu Solms, um nur vier ehemalige theoretische Großmeister aus Deutschland zu nennen, weitgehend dem Gedächtnis der Disziplin verlorengegangen sind. Dennoch gibt es keine Garantie dafür, nicht einmal die Notwendigkeit dazu, dass nicht doch der eine oder andere Gedanke dieser vier schon lange verstorbenen Theoriekonstrukteure in Zukunft wieder in neuem Gewände präsentiert werden könnte. Solange deren Bücher nicht in allen Exemplaren verbrannt werden, kann auch ihnen das Schicksal von Salieri in der Soziologie blühen. Auch für die Erbschaft der soziologischen Klassiker gilt: „Erinnern per se für etwas Gutes zu halten, ist Unsinn" (Jan Philipp Reemtsma). Nicht das Erinnern um seiner selbst willen also kann das Ziel sein, schon gar nicht die andächtige Verehrung kanonisierter Schriften, sondern einzig und allein deren aktuelle Nutzbarmachung. Jede heute bedeutsame künstlerische und wissenschaftliche Leistung knüpft an das Vorhergedachte an, immer unwahrscheinlicher werden Schöpfungen „aus dem Nichts". Auch in der wissenschaftlichen Soziologie erscheint es als geradezu unmöglich, eine bedeutsame theoretische oder empirische Leistung zu erbringen, ohne Kenntnis des Vorhergedachten und bereits Gefundenen. Darum ist gute Soziologie auch nur möglich auf der Basis der selbst erarbeiteten Auseinandersetzung mit den Erträgen der Klassiker des Faches. Um dabei jedoch den Gefahren sowohl der ständigen Neuerfindung des (soziologischen) Rades als auch der ewigen Redundanz zu entgehen, kommt den wenigen, erfolgreich beendeten Versuchen der theoretischen „Verdichtungen" fachgeschichtlich eine hervorgehobene Bedeutung zu. Wir begegnen ihnen in einigen historisch bewährten Hauptwerken der Soziologie, so etwa bei Alfred Schütz mit „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt" (1932), bei Talcott Parsons mit seinem „The Structure of Social Action" (1937) und bei Jürgen Habermas mit dessen „Theorie des kommunikativen Handelns" (1981). Um zu erkennen, was diese Leistungen bewirken, sei zur Illustration an zwei der bereits genannten großen Synthesen erinnert: „The Structure of Social Action", dieses Gründungsdokument einer voluntaristischen Handlungstheorie von Talcott Parsons, kann nicht verständnisvoll gelesen und kritisiert werden, wenn die darin verarbeiteten Theorien von Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Durkheim und von Max Weber

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nicht bekannt sind. Die „Theorie des kommunikativen Handelns" versteht nicht, wer nicht mit den darin durch Jürgen Habermas verarbeiteten und weitergeführten Theorien von Max Weber, Emile Durkheim, George Herbert Mead, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Talcott Parsons vertraut ist. Beide bedeutsamen Werke stellen nicht nur einflussreiche Theoriesynthesen dar, sie reichen beide zudem noch sehr viel weiter, indem sie in jeweils unterschiedlicher Manier eine Theorie der Rationalität, eine Theorie des Handelns, eine Theorie sozialer Ordnung und eine Zeitdiagnose zu sein beanspruchten. Und all dieses basierte auf ausgewählten Arbeiten jener Denker und Theoretiker, die vorangegangen waren. Nicht gesagt werden soll damit, dass es nach Erscheinen dieser beiden Werke nicht mehr notwendig gewesen sei, die Werke jener darin verarbeiteten Autoren selbst zu lesen. Dennoch haben diese großen Synthesen dabei geholfen, neue Ausgangspositionen für die daran anknüpfende Theoriearbeit zu gewinnen. Gerade weil alle solche Theoriesynthesen das Feld der soziologischen Theorieproduktion zu schließen versuchen, weswegen ihnen dann häufig der Vorwurf des Eklektizismus gemacht wird, provozieren sie zugleich immer wiederkehrende Versuche, dieses Feld erneut zu öffnen. Und schon entstehen immer aufs Neue die Vorhaben eines entschiedenen Gegenvokabulars, wie wir das historisch beispielsweise bei Georg Simmel, Niklas Luhmann und gegenwärtig sowohl bei Zygmunt Baumann finden, der die Notwendigkeit einer „Protosoziologie" reklamiert, wie auch bei Ulrich Beck, der kritisch von den „Zombie-Kategorien" der soziologischen Klassiker redet. Die Unmöglichkeit der soziologischen Theorie, im Sinne einer einheitlichen Theorie einer Wissenschaft vom Sozialen, als der Wissenschaft von der Vergesellschaftung des Menschen, ist für die einen das Ärgernis unserer Disziplin schlechthin, für die anderen verkörpert eben dieses Charakteristikum das eigentlich Kreative dieses Faches. Die multiparadigmatische Verfasstheit der Soziologie muss - vollkommen unabhängig von deren Bewertung - als Grundtatsache der Disziplin definiert werden. Neben den ebenfalls als „klassisch" zu bezeichnenden Trennlinien von mikro- und makrotheoretischen Ansätzen und von (quantitativ) „erklärenden" und (qualitativ) „verstehenden" Ansätzen, galt und gilt eine Vielzahl von Trennlinien, die je nach Diskussionszusammenhang unterschiedlich bezeichnet wurden und werden. Zur Illustration seien hier wahlweise einige der heute handelsüblichen Über-

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Schriften genannt: Neofimktionalistische Ansätze, Systemtheorien der verschiedenen Ausprägungen, Handlungstheoretische Ansätze, Verhaltenstheoretische Ansätze, Rational-Choice-Ansätze, Symbolischer Interaktionismus, Figurationssoziologie, Ethnomethodologie, Kritische Theorie, (Neo-)Marxistische Ansätze, Strukturalistische Ansätze, Poststrukturalistische Ansätze, Antistrukturalistische Ansätze, Neopragmatische Ansätze, Kulturalistische Ansätze. Wieder andere Einteilungen der soziologischen Theorielandschaft bemühen sich darum, die Variationsbreite nach vier Paradigmen zu ordnen, wonach voneinander zu unterscheiden seien: ein normatives Paradigma, ein interprétatives Paradigma, ein strukturtheoretisches Paradigma und ein utilitaristisches Paradigma. Auf die in jedem Fall polyparadigmatische Grundsituation der aktuellen und internationalen Theorielandschaft reagieren die Bewohner des Hauses der Soziologie idealtypisch in viererlei Weise: Die einen sehen darin das intellektuelle Kapital ihres Faches und erfreuen sich der theoretischen und methodologischen Vielfalt. Andere „lösen" die für sie schwierige Situation dadurch, dass sie sich für eine einzige, von ihnen als „richtig" definierte, Richtung entscheiden. Andere wiederum betreiben eine elaborierte Praxis des Theorienvergleichs, wobei auch dieser häufig auf eine Elimination von als „unbrauchbar" definierten Alternativen hinausläuft. Zum vierten verzeichnen wir immer wieder jene, soeben beispielhaft illustrierten, groß angelegten Unternehmen der Synthese und Integration verschiedener Theorien, die zumeist auf die Etablierung einer Allgemeinen Sozialtheorie zielen. Unablässig verschränken sich derart in der bisherigen Soziologie sowohl diese wiederkehrenden Versuche der Etablierung einer Allgemeinen Sozialtheorie - bei der man bis vor kurzem an soziologische Systemtheorien denken musste und aktuell an alle Spielarten der Rational Choice-Theorien erinnert wird - als auch die dagegen gerichteten Revolten einer eher historisch und kulturell differenzierenden Theorienvielfalt, die entschieden nicht im Sinne haben, zu einer einheitlichen Theorie zu gelangen. Dennoch, ob es sich nun um die empathische Akzeptanz der Theorievielfalt, um dezisionistische Versuche der theoretischen Abschließung durch die Entscheidung für nur eine Theorie, um Theorieelimination durch Theorienvergleich, um großformatige Syntheseleistungen oder um Revolten der theoretischen Öffnung handelt: Alle diese unterschiedlichen Strategien des Umgangs mit der konkurrierenden Pluralität soziologischer Theorien beziehen sich auf die gemeinsamen Grundlagen der Beiträge der Klassiker der Soziologie!

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Genau dieser Tatbestand ist es, der mit der Bezeichnung „postklassisch" gemeint sein soll. Die darunter subsumierten Theorierichtungen verweisen durchgehend auf ihre gedankliche Verwurzelung in den Beiträgen der Klassiker, teilweise sogar auch im ganz praktisch-lebensweltlichen Sinne als Schüler der weitergedachten Lehrer. Zu jeder „Klassik" gehört also eine anschließende „Post-Klassik", die sich zum einen nur erklären lässt aus dem Bezug zur vorangegangenen Periode, zum anderen jedoch auch als Abgrenzung davon, und oft in besonders leidenschaftlicher Weise. Ebenso wie die „postklassische" Periode des Christentums und des Islam im Anschluss an die davorliegende „Klassik" einzuordnen ist, ebenso wie die „Postklassische Periode" der mexikanischen Geschichte zwischen 900 bis 1521 nur auf der Folie der vorangegangenen Periode der „Klassik" der Zugehörigkeit zu den meso-amerikanischen Hochkulturen zu verstehen ist, ebenso können die von mir in den „Aktuellen Theorien der Soziologie" versammelten Theorieansätze nur verstanden werden auf dem Hintergrund der vorangegangenen klassischen Theorien. Diese Einsicht wird von nur wenigen innerhalb des Faches, aber von vielen außerhalb des Faches, geleugnet. Ihrer Ansicht nach sei es allmählich an der Zeit, dass die Soziologie auch dadurch ihren Status als „reife" Wissenschaft unter Beweis stelle, dass sie sich „endlich" von ihrer Geschichte und ihren Klassikern emanzipiere. Eine wirklich reife Wissenschaft, so die Forderung, trenne ihre geltende Systematik von ihrer Geschichte und überlasse letztere am besten Nichtfachwissenschaftlern allenfalls (Wissenschafts-)Historiker könnten sich hier betätigen. Zwar gebe es auch in der Soziologie Bemühungen, mit den Klassikern streng systematisch zu verfahren, aber der Großteil der soziologischen Klassikerindustrie sei allein exegetisch und philologisch ausgerichtet. Dort lese man die Klassiker, um etwas über deren Person, ihr Werk und dessen Kontext zu erfahren, und weniger, um ihre Hypothesen systematisch zu testen. Eine „reife" Wissenschaft hingegen orientiere sich an ihrer möglichen Zukunft, nicht an ihrer klassischen Vergangenheit. Dieses immer noch vielfach vertretene, naiv-positivistische Wissenschaftsverständnis fuhrt zu diesen drei Schlussfolgerungen: (1) Die Soziologie sei (immer noch) keine Wissenschaft, zumindest keine „reife" Wissenschaft. (2) Die Geschichte einer Wissenschaft werde am besten von Wissenschaftshistorikern gepflegt. (3) Hohe innerwissenschaftliche Reputation werde allein den „Erfindern" neuer Erkenntnis zugebilligt.

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II. Soziologie als Literaturproduzentin und als Literaturwissenschaftlerin Mit Blick auf die von mir als solche definierten aktuellen, „postklassischen" Theorien der Soziologie und als Antwort auf die soeben wiedergegebenen Einwände gegen derartige Unternehmen, sei eine erste These formuliert: Die Soziologie ist jene Wissenschaft, deren Angehörige Texte produziert haben und laufend produzieren, die den Menschen ihre Gesellschaften und ihren eigenen Platz in diesen erklären. Odo Marquards Bestimmung der Zielsetzung der Geisteswissenschaften folgend, stellen solche soziologischen Texte „Lebenserfahrungen" zur Verfugung für jene Menschen, die noch keine haben - eine „Altersweisheit der noch nicht Alten". Einige solcher Texte sind, aus unterschiedlichen Gründen, in der Vergangenheit „wichtig" geworden, manche sind in der Gegenwart „wichtig", und einige werden in Zukunft „wichtig" sein. Aus dieser Perspektive erscheint die Soziologie als eine Wissenschaft, die laufend Texte produziert und systematisch und historischkritisch interpretiert. Wer Wissenschaft - in Anlehnung an Niklas Luhmann - als eine „Autopoiesis von Publikationen" (Rudolf Stichweh) versteht, erkennt, dass einige dieser publizierten Texte „wichtiger" waren, sind und werden als andere. Auch die Ergebnisse dieser innerwissenschaftlichen Bewertungsprozesse werden wiederum dokumentiert in Texten, die permanent und aktuell produziert werden, die von höchst unterschiedlicher Qualität sind (Datensätze, Datenanalysen, interpretative Texte aktueller und vorangegangener Forschungsergebnisse etc.) und die wissenschaftlich erforscht werden. Durch wissenschaftssoziologisch rekonstruierbare Prozesse innerhalb des Faches Soziologie werden von den Angehörigen dieses Faches einige wenige solcher Texte zu „Hauptwerken" (national und/oder international) erklärt. Im Falle der Produktion eines umfangreichen Bestandes solcher „Hauptwerke" aus der Werkstatt eines Autors, dem Vorlegen eines wissenschaftlichen „Werkes" also, kann es dazu kommen, dass einem solchen Autor der Rang eines „Klassikers" der Soziologie (national, international) zugeschrieben wird. Alle diese Zuschreibungsprozesse unterliegen soziologisch rekonstruierbaren Mustern entlang empirisch überprüfbarer Kriterien. Sowohl die bisherige Bestimmung von Klassikern der Soziologie als auch von Hauptwerken der Soziologie sollte und konnte zeigen, dass durch deren Musterung keine rückwärts gewandte Perspektive gewonnen

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wird, sondern eine ganz entschieden nach vorne gerichtete. Es geht nicht um das andächtige Besuchen der Beinhäuser einer Disziplin, sondern um das nie abschließbare Überprüfen der empirischen und theoretischen Tauglichkeit soziologischer Begrifflichkeit, Methoden und Forschungsergebnisse. Es geht um die Nutzung der soziologischen Klassiker als unerschöpfliche Inspirationsquellen soziologischen Denkens. Die internationale Soziologie und die zahllosen nationalen Soziologien treten gegenwärtig in einer derartigen Spannbreite auf, dass es ständig aufs Neue gilt, ihre Fragestellungen, ihre Arbeitsfelder und ihre Methodologien selbstkritisch zu verorten. Unschwer lässt sich zeigen, wie uninformiert und kontraproduktiv die ewige Wiederholung des feuilletonistischen Fehlurteils ist, die Soziologie kenne trotz überraschender Blicköffnungen und leistungsstarker Aufklärung keine Standards und sei von Beliebigkeit bestimmt. Es wird daran zu erinnern sein, dass solches Fehlurteil vermutlich (mit)bedingt ist von einer uneingestandenen Sehnsucht nach Einbettung der Disziplin Soziologie in eine „Einheitswissenschaft", zumindest nach einem als umfassend geltend gedachten „Paradigma". Es wäre genau das, was Auguste Comte ein „Dogma" nannte, wodurch auch illustriert wird, wie lebendig der Geist des Hausbegründers der Soziologie immer noch ist. Wer Soziologie als eine - in diesem Sinne - „undogmatische Wissenschaft" verteidigen will, wird sich endgültig von jener naiv-positivistischen Annahme verabschieden müssen, dass allein eine „reife", eine „wissenschaftliche" Wissenschaft, Wissenschaft sei und darum eben die Soziologie (immer noch) keine Wissenschaft sei. Auch in den fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen Disziplinen wird diese Position, die aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stammt, heute so nicht mehr vertreten. Auch sie haben ihre Wende zur Selbst-Reflexivität vollzogen, die solche Unterscheidungen, wie die von „(reifer) Wissenschaft" und „(unreifer) Nicht-Wissenschaft", bzw. „Noch-Nicht-Wissenschaft" als pures Dogma entlarven. Formulierten schon die soziologischen Entwürfe des frühen 20. Jahrhunderts keine konsensfähige disziplinare wissenschaftliche Identität einer „Einheitswissenschaft" mehr, so wird das gegenwärtige Erscheinungsbild der internationalen und nationalen Soziologie zunehmend diffuser. Diese fehlende Einheit fuhrt immer mehr dazu, dass sich Soziologen und Soziologinnen der verschiedenen Lager kaum noch über Erkenntnisfortschritte verständigen können, da ihnen eine gemeinsame

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Sprache zu fehlen scheint - vielleicht sogar das gemeinsame Objekt. Noch unübersichtlicher wird die Situation, berücksichtigt man die vielfältigen Unter-, Neben- und Teilgebiete der Soziologie und die zahlreichen interdisziplinären Kontexte, in denen soziologisches Forschen heute geschieht, vor allem im Bereich der diversen „Kulturwissenschaften". Um es auf einen (vermeintlich) einfachen Nenner zu bringen: In der wissenschaftlichen Soziologie scheint zuweilen die Verbindlichkeit eines Kanons zu fehlen. Diskussionen darüber, ob es einen solchen verbindlichen Kanon an Wissen, Begriffen, theoretischen Perspektiven, methodischem Vorgehen und „gesicherten" Ergebnissen überhaupt gibt, bewegen nicht nur die wissenschaftliche Soziologie. Der Streit darüber, ob es so etwas wie eine verbindliche Liste von Autoren und Texten geben soll, über deren Kenntnis definiert werden kann, ob jemand zu einem Gebiet zugelassen wird oder nicht, ist so alt wie die Versuche, einen solchen Kanon zu kodifizieren. Um den befürchteten Verlust der kulturellen Überlieferung aufzuhalten, werden von einigen obligatorische Lehrpläne und die Kanonisierung von Pflichtlektüre diskutiert. Traditionsignoranten und Traditionsfeinde gleichermaßen malen das Gespenst eines exklusiven und repressiven Herrschaftsinstruments an die Schultafeln; einfallslose Traditionsbewahrer befurchten bei jeder Revision und Erweiterung petrifizierter Kodizes den angeblichen Untergang des kulturellen Erbes des Faches. Noch weniger als in den anderen Geistes·, Kultur- und Sozialwissenschaften gab es in der akademisch-wissenschaftlichen Soziologie jemals eine sakrosankte Sammlung, die - vergleichbar den Theologien der Buchreligionen - die maßgeblichen Texte für den Glauben definierte. Schon deshalb weil es - notwendigerweise! an kanonisierenden Instanzen fehlt, welche „kanonische Schriften" von „Apokryphen" unterscheiden könnten, lassen sich allenfalls für national verfasste Soziologien einigermaßen stabile Literaturlisten rekonstruieren. Angesichts dieser Situation erweist es sich als die zentrale Funktion soziologischer Klassiker, Richtschnur und Richtlatte für den Weiterbau des gegenwärtigen und zukünftigen Hauses der Soziologie bereitzustellen. Vor allem auf diese Weise kann verhindert werden, dass die Soziologie mit der Zeit ihre Identität als Disziplin verliert und sich in der Mannigfaltigkeit ihrer „Ansätze" oder der Felder der immer zahlreicher werdenden studies auflösen könnte. Die Diskussionen über die „Einheit der Soziologie", ob nun als vermeintliche, anzustrebende oder zu überwindende, werden immer erneut geführt werden müssen, gerade ange-

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sichts der schillernden Vielfalt der Disziplin und der feststellbaren Tendenz zur Verfestigung lokaler und nationaler Soziologie-Verständnisse. Im Gegensatz zur Beurteilung dieses Zustands der Soziologie als defizitär - und damit ihre Nicht-Wissenschaftlichkeit vermeintlich „beweisend" - sollte es als selbstverständlich gelten, diese komplexe Vielgestaltigkeit der Soziologie ohne Einschränkungen als positiv zu bewerten. Gerade aus wissenschaftssoziologischer und wissenschaftshistorischer Perspektive muss sie als Zeichen disziplinärer Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit gelesen werden. Analytisch jedoch muss diese als positiv zu beurteilende Vielfältigkeit des Disziplinverständnisses ebenso getrennt werden von deren Gefährdung sowohl durch weitgehende Beliebigkeit als auch durch die Errichtung von Maßstäben an eine „Wissenschaftlichkeit" der Soziologie, die an deren eigenständigem Wissenschaftscharakter zwischen „reinen" Naturwissenschaften und „reinen" Geisteswissenschaften vorbeizielen. In genau solchen Debatten sind die Beiträge sowohl der bewährten soziologischen Klassiker als auch der post-klassischen Theorien von unverzichtbarer Bedeutung: Sie stellen „mustergültige", vorbildliche Schriften bereit, sie repräsentieren das kulturelle Gedächtnis des Faches und liefern zugleich in ihrer historischen Abfolge die Lebensgeschichte dieser Disziplin. Auch die Soziologie kann nicht ohne ihr Gedächtnis und ihre Geschichte fruchtbringend weiterleben. Nicht nur ihre gegenwärtigen Aktivitäten, sondern auch die Erinnerung an zurückliegende Etappen der Entwicklung sind es, die den Kern einer Identität prägen, auch den der Identität einer wissenschaftlichen Disziplin. Eine der zentralen Aufgaben einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit dem klassischen Erbe der Soziologie ist es, Unterscheidungen darüber anzubieten, welche Anteile davon als erinnerungswert definiert werden können, und welche nicht. Wie gesagt, das Erinnern und Bewahren für sich kann kein überzeugender Eigenwert sein. Es geht darum, mit den als klassisch definierten Texten zu „verhandeln", mit den Autoren dieser Texte und ihren gegenwärtigen Interpreten darum zu ringen, ob und was man von diesen Texten „lernen" kann. Das Trennen und Zusammenführen von Texten und ihren Kon-Texten führt in kritisch-hermeneutischer Weise zu „Ergebnissen" solcher Verhandlungen, die jedoch nie mehr als Zwischenergebnisse sein können und dürfen.

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Meine bisherigen Versuche der Herausarbeitung und Verteidigung bewahrenswerter Beiträge der Klassiker und der Hauptwerke der Soziologie werden geleitet von der Überzeugung, dass Soziologie jene Wissenschaft ist, die empirisch überprüfbare Aussagen über soziale Wirklichkeit und theoretische Erklärungen tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse in konkreten historischen und gesellschaftlichen Kontexten miteinander verbindet. Dies geschieht in klarer Abgrenzung von einer allein antiquarischen Vergangenheitspflege durch die nüchterne Bilanzierung aktueller Nützlichkeit klassischer Beiträge der Soziologie fur die gegenwärtige und zukünftige soziologische Forschungsarbeit. Diese „Nützlichkeit" bezieht sich gleichermaßen auf den beschreibenden, verstehenden, erklärenden und prognostischen Wert soziologischer Begrifflichkeit, ihrer theoretischen Perspektiven und ihrer empirischen Funde. Wenig vom eigenartigen Charakter der wissenschaftlichen Soziologie hat also verstanden, wer sie als eine sich kumulativ entwickelnde Wissenschaft bestimmen möchte. Wer seine Kritik daran ausrichtet, dass die Soziologie von solcher Zielvorstellung abweicht, verkennt, dass diese nicht nur eine empirisch basierte Wissenschaft ist, sondern dass sie zugleich auf einem zeitgebundenen, ideologischen und metaphorischen Rahmenwerk aufsitzt. Daraus ergibt sich eine prinzipielle, nicht aufzuhebende Spannung zwischen den vielfältigen „Theorien" der Soziologie und der sogenannten „Praxis" ihrer Umgebung. III. Vom „Haus der Soziologie44 und vom „Reflexions-Dreieck 44 der Soziologie Mit dem mehrfach benutzten Bild vom „Haus der Soziologie" soll der Gedanke der untrennbaren Verknüpfung von soziologischen „Theorien" und soziologischer „Praxis" veranschaulicht werden. Ursprünglich gebaut aus gedanklichen Bauteilen anderer Disziplinen, vor allem aus der Philosophie und den Staatswissenschaften, errichteten die ersten Architekten und Bewohner dieses Hauses in Frankreich, den USA und Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein anfänglich recht einfaches Gebilde. Während der vergangenen hundertfiinfzig Jahre wurde daraus ein verzweigter Komplex zahlreicher Gebäude mit vielen Stockwerken und einer Unmenge von Räumen, in denen heute eine erhebliche Anzahl von Menschen aus allen Teilen unserer Welt lebt und arbeitet. Angelagert an jenen Gebäudekomplex, an dessen Eingängen (immer

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noch) die Schilder „Soziologie" hängen, gruppiert sich heute eine komplexe Nachbarschaft zahlreicher Nebengebäude, zu denen Verbindungswege und diverse unterirdische Tunnelgänge höchst unterschiedlicher Qualität fuhren. Gerade gegenwärtig beobachten wir beispielsweise breite Trampelpfade, die Schildern folgen, auf denen „Kulturwissenschaften" steht, oder noch (vermeintlich) attraktiver: cultural studies, zu lesen ist. Insgesamt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass (ehemalige) Bewohner des Hauses Soziologie in größere - und zumeist materiell wesentlich besser ausgestattete - Häuser umziehen, deren glänzende Schilder Firmennamen wie cultural studies, area studies, peace and conflict studies, postcolonial studies, black studies, women studies, queer studies, gender studies, science studies oder criminology ausweisen. Wenn angesichts dieser Entwicklungen hier erneut an die Allegorie vom einen Haus der Soziologie erinnert wird, dann soll damit eine Antwort auf die Bedeutung und die Funktion der Klassiker für die heutige und insbesondere auch für die zukünftige Soziologie bekräftigt werden. Die Klassiker der Soziologie sollten nicht als Ölgemälde in der Ahnengalerie der langen Flure des Hauses der Soziologie hängen, zur dekorativen Beschwörung der geistigen Vorfahren. Ebenso wenig sollten die Hauptwerke der Soziologie in den Regalen der von Glasscheiben geschützten Vitrinen der Hausbibliothek stehen. Die Werke der soziologischen Klassiker, oder genauer: deren immer wieder zu bearbeitende Konzepte, Begriffe, Hypothesen und Forschungsergebnisse, sind dazu da, die Ausgangsenergie für die soziologische Forschung in Gegenwart und Zukunft zu liefern. Sich um diese Energie zu kümmern, geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern einzig wegen ihrer unersetzbaren Bedeutung für die heutige und zukünftige Forschungsarbeit. Die soziologischen Klassiker und ihre Hauptwerke stellen dem Fach Soziologie jene Energie bereit, die offenbar nie ihre Ruhe finden wird, solange es nicht dazu kommt, dass jenes oben beschworene eindimensionale Wissenschaftsverständnis obsiegt. Selbstverständlich darf dieses Haus keine nach außen abgeschlossene Festung werden, sondern muss immer offen und gastfreundlich sein; aber seine ständigen Bewohner werden sich seines gedanklichen Kerns bewusst bleiben müssen, sonst verfällt es zur verlassenen, geistlosen Ruine. Bereits bei der Einführung dieser Allegorie vom Haus der Soziologie war die Rede davon, dass die Soziologie nicht nur eine empirisch basierte Wissenschaft mit theoretischem Anspruch ist, sondern dass sie auf

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einem Fundament aus zeitbedingtem und ideologischem Mauerwerk ruht, woraus sich eine prinzipielle Spannung zwischen soziologischen „Theorien" und gesellschaftlicher „Praxis" ergibt. Die Verantwortung des Sozialwissenschaftlers, als konstitutiver Bestandteil einer Hausordnung akademisch-wissenschaftlicher Soziologie, besteht somit - über die allgemeine Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern zur Wahrheitssuche hinaus - darin, dem besonderen Verhältnis von „Theorie" und „Praxis" in den Sozialwissenschaften Rechnung zu tragen. Mit dem folgenden Schema sei eine simple Skizze in Erinnerung gerufen: Das „Reflexions-Dreieck" der Soziologie

Im Haus der Soziologie produzieren dessen Bewohnerinnen und Bewohner das sozialwissenschaftliche Wissen, es ist zentrale Produktionsund Vertriebsstätte eben dieses Wissens, das permanent auf seine Brauchbarkeit überprüft wird. Damit ist gemeint das Korpus jenes begrifflichen, theoretischen, methodischen und empirischen Wissens, das unser Fach im Laufe der letzten hundertfiinfzig Jahre erzeugt hat. Gerade die Soziologie an den Universitäten, die akademisch-wissenschaft-liche Soziologie also, hat dabei die hervorgehobene Aufgabe, als kritische Prüferin, Hüterin und Staffelträgerin zu wirken. Davon getrennt, aber eng verbunden mit dem Haus soziologischer Wissensproduktion, ist jener Bereich, der mit „Allgemeine Konzepte von gesellschaftlicher Wirklichkeit" überschrieben sei. Abgekürzt sei damit

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alles bezeichnet, was die Menschen auf den Straßen um das Haus der Soziologie herum über „die Gesellschaft" denken, d. h. alle gängigen Vorstellungen von Menschen unter der Überschrift: In was für einer Gesellschaft leben wir? Wo steht unsere Gesellschaft heute im Vergleich zu früheren Zeiten? Wo steht unsere Gesellschaft im Vergleich zu anderen Gesellschaften um uns herum? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Es gibt ein riesiges Konglomerat solcher Vorstellungen, Meinungen, Einschätzungen, Ideen, Konzepte und Begriffe über gesellschaftliche Wirklichkeit. Und dieses Sammelsurium ist analytisch zu trennen von der soziologischen Wissensproduktion. Die Menschen warten nicht auf die Soziologie, um darüber nachzudenken, was mit ihnen und ihren Gesellschaften los ist. Auch ohne wissenschaftliche Betreuung und Führung leben sie in ihren Gesellschaften, mit ihren Vorstellungen und Ideen über diese. Aber viele dieser allgemeinen Vorstellungen über gesellschaftliche Wirklichkeit finden ihre Ausgangspunkte in der soziologischen Wissensproduktion, der sie damit zugleich den notwendigen Resonanzkörper liefern. Und drittens gibt es jenen komplexen Zusammenhang, den wir „Soziale Konstruktion von Wirklichkeit" nennen. Dahinter steckt die Idee, die heute zum klassischen Gemeingut soziologischen Wissens gehört, dass Menschen ihre gesellschaftliche Wirklichkeit - nicht zuletzt mit Bezug auf ihre Vorstellungen davon - selbst konstruieren. Wir Soziologinnen und Soziologen wissen, dass es einen wirksamen Vermittlungszusammenhang gibt zwischen dem, was Menschen über Wirklichkeit denken, und dem, was sie tun. Unterschiedliche Ideen bewirken die Konstruktion unterschiedlicher sozialer Wirklichkeiten. Gemeint ist jenes Zusammenwirken der Bewohner des Hauses der Soziologie mit den Menschen auf den Straßen vor diesem Haus bei der gemeinsamen Schaffung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ungeachtet der Tatsache, dass es immer ein großes Getümmel heftig miteinander konkurrierender Angebote auf dem Markt gesellschaftlicher Sinndeutungen gibt, interessiert uns hier naturgemäß die Rolle der Soziologie ganz besonders. Die Soziologie kann nicht so tun, als ob sie in diesem Zusammenhang nicht an zentraler Stelle mitspielte und weitgehend unschuldig an dem sei, was in der Gesellschaft, vor allem in der medial informierten Öffentlichkeit, über gesellschaftliche Wirklichkeit gedacht wird. Vieles von dem, was in der Soziologie gedacht und geschrieben wird - ebenso wie das, was nicht gedacht und nicht geschrie-

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ben wird - , hat Auswirkungen auf konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit. Gerade fur diesen Zusammenhang der „doppelten Hermeneutik" (Anthony Giddens) kann durch die systematische und kritische Auseinandersetzung sowohl mit den historisch bewährten Klassikern der Soziologie als auch den post-klassischen Theorien der Soziologie erkannt werden, dass die akademisch-wissenschaftliche Soziologie auch eminent zeitdiagnostische und zeitanalytische Aufgaben wahrgenommen hat und wahrnimmt. Durch die Werke ihrer Klassiker und Post-Klassiker kann man erkennen, was gemeint ist, wenn betont von akademisch-wissenschaftlicher Soziologie gesprochen wird: Damit sei jene Soziologie bezeichnet, die sich selbstbewusst darüber im Klaren ist, dass es nicht nur um die soziologische Beschreibung und Analyse von Wirklichkeit geht, dass die Soziologie nicht nur als Wissenschaft von der Gesellschaft zu verstehen ist, sondern dass es zugleich auch um die wissenschaftlich fundierte Mitgestaltung von Gesellschaft durch die Soziologie, d. h. durch die Erzeugung soziologisch qualifizierter Intellektueller geht. Diese Position stellt einerseits keinen allgemeinen Konsens im Haus der internationalen Soziologie dar, sie zeigt zudem erhebliche Variationen von Nationalkultur zu Nationalkultur. Seit Begründung der Republik Frankreich beispielsweise haben Intellektuelle in der ehrwürdigen Sozialfigur des mandarin , dessen wissenschaftliche und moralische Autorität großes symbolisches Kapital bereitstellt, in Gesellschaft und Medien bis heute eine pointierte öffentliche Rolle inne, von der auch soziologisch qualifizierte Intellektuelle profitieren können. In den Vereinigten Staaten sieht das - seit deren Revolution von 1763 bis 1789, die ebenfalls wesentlich von Intellektuellen getragen wurde - nicht unähnlich aus: Auch dort gibt es die anerkannte Figur des public thinker , der durchaus auch ein Soziologe sein kann. Beide Sozialfiguren, sowohl der französische wie der US-amerikanische öffentliche Intellektuelle, sind heute gleichermaßen bedroht vom fast thinker (Pierre Bourdieu), den insbesondere moderne Massenmedien mit ihrem selbst geschaffenen Bedarf an schnellen „Wahrheiten" im Sekundentakt zu erzeugen scheinen. In Deutschland, in dem die Etikettierung als „Intellektueller" zum Schimpfwort werden konnte, wird eine Soziologie, die sich an den Vorbildern Frankreichs und der Vereinigten Staaten orientiert, immer noch schnell diffamiert als Journalismus, als literarisches Feuilleton, als Sozi-

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alpolitik, auf jeden Fall als „unwissenschaftlich". „Anständige" Wissenschaft im deutschen Sinne steht unverändert in einer Tradition, die möglichst weit weg vom Zeitdiagnostischen ist. Wissenschaft, gerade wenn sie akademisch respektierlich sein will, beteiligt sich nicht am (angeblich) fragwürdigen Geschäft tagespolitisch und ideologisch eingefärbter Zeitdiagnosen. Manche in der Zunft, gerade in Deutschland, beklagen einen Zustand, bei dem die Soziologie immer noch als „ein hybrides Gebilde irgendwo im Schattenreich zwischen Wissenschaft, Literatur, Kunst, Morallehre und politischem Diskurs" angesiedelt sei (Hartmut Esser) und fordern um so nachdrücklicher eine Konzentration der Soziologie auf ihre (vermeintlich) ureigene Bestimmung als Produzentin eines Modells der soziologischen Erklärung, die eine „Universaltheorie" für alle Sozialwissenschaften zu liefern habe. Auch hier kann die Auseinandersetzung mit soziologischen Klassikern und post-klassischen soziologischen Theorien, die aus unterschiedlichen nationalen Diskurszusammenhängen kommen, von großem Nutzen für eine zukunftsorientierte Zurückweisung solcher doktrinären Positionen sein. Für das universale Haus der Soziologie kann allein das Programm einer selbstreflexiven Soziologie zukunftsweisend sein. Eine solche ist eine Soziologie, die sich des angedeuteten komplexen dialektischen Vermittlungszusammenhangs zwischen soziologischem Wissensbestand, den allgemeinen Ideen über gesellschaftliche Wirklichkeiten und der gesellschaftlichen Konstruktion von multiplen Wirklichkeiten bewusst ist. Die Annahme, eine „reife" Wissenschaft beobachte allein das, was sie beobachtet und nicht sich selbst, oder wie sie beobachtet, was sie beobachtet, zeugt von einer erkenntnistheoretischen Unschuld, wie man sie heute eigentlich nicht mehr erwarten muss. Nach der wissenssoziologischen, selbstreflexiven Wende der Soziologie sollte unser Fach eigentlich gar nicht mehr anders denkbar sein als eine kollektive und intersubjektiv-diskursive Einrichtung zur wissenschaftlichen Selbstbeschreibung von Gesellschaften. Bei der Forderung nach einer permanenten und nie abschließbaren Überprüfung der „Relevanz" soziologischer Forschung (und akademischer Lehre) schließt sich selbstverständlich wiederum die Frage nach den inhaltlichen Kriterien für diese Relevanz an. Dabei kann es nicht darum gehen, einer distanzlosen Praxis das Wort zu reden, sondern darum, dass die Soziologie, will sie die ihr gestellten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufgaben verantwortungsvoll erfüllen, einen Beitrag bei der Erzeugung, Be-

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Währung und Kontrolle dynamischer und geordneter Komplexität zu erbringen hat. Diese geordnete Dynamik und der verarbeitbare Grad von Komplexität müssen dabei sowohl für die handelnden Menschen als auch für soziale Systeme als ganze gefordert werden. Eben darum kann und wird die Soziologie niemals jenes Kriterium erfüllen (dürfen), um („reife") Wissenschaft von („unreifer") Nicht-Wissenschaft zu unterscheiden, nämlich dass es in ihr keine Kontroversen darüber gibt, ob man nicht besser etwas anderes - als Wissenschaft - tun sollte, zum Bei-spiel Kritik, Moral, Verbesserung der Gesellschaft oder Emanzipation der Unterdrückten. In einer akademisch-wissenschaftlichen Soziologie, die nicht dogmatisch abgeschlossen sein darf, muss es diese Kontroversen nicht nur immer geben, sie sollten vielmehr gefordert und gepflegt werden. Um die Rekonstruktion der historischen Entwicklung einer Disziplin leisten und dennoch die angedeuteten Schwierigkeiten meistern zu können, bietet sich das etablierte Konzept des „Diskurses" an. Der DiskursGedanke kann mittlerweile als wissenschaftsstrategisches Prinzip einer soziologischen Ideengeschichte - oder auch Ideologiekritik - betrachtet werden. Diese will zeigen, wie Probleme, Begriffe und Themen aus dem Feld, in dem sie formuliert worden sind, zu allgemein gesellschaftlichen Diskursen übergehen können. Es sind dabei also nicht die „Ereignisse", die untersucht werden, sondern ihr sprachlicher Niederschlag in soziologischen Texten, nicht die geschichtliche „Wahrheit", sondern der historische Diskurs, den die Menschheit mit sich selbst fuhrt und der in den Bibliotheken und Archiven dokumentiert ist. Für die Darstellung der historischen Entwicklung einer Wissenschaft, eines bestimmten Diskurses also, stellt sich die analytische Aufgabe, diese diskursiven Praktiken freizulegen. Von diesem Konzept ausgehend, können wir Wissenschaft als einen Diskurs begreifen, der nicht nur die lebenden, sondern auch die toten Teilnehmer umgreift. Dementsprechend umfasst die scientific community der Soziologie historische wie gegenwärtige Teilnehmer und richtet sich zugleich an zukünftige. Von dieser Perspektive aus lässt sich die Geschichte der Soziologie als die Geschichte zweier miteinander verflochtener Diskurse interpretieren: einerseits eines Diskurses über den Sinn gesellschaftlichen Lebens, andererseits eines Diskurses über die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im Objektbereich der Sozialwissenschaf-ten. Diese beiden Diskurse, die prinzipiell nicht abschließbar sind, schlagen

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sich nieder in Texten, den Werken ihrer Teilnehmer. Gerade für eine Geschichte der Soziologie ist es unverzichtbar, den immanent sozialen Charakter des Diskurses Wissenschaft aufzudecken. Bei einer soziologischen Geschichte der Soziologie kann auf eine Aufarbeitung des strukturellen Zusammenhanges von Ereignissen, Handlungen und Werken nicht verzichtet werden. Gewiss eröffnet diese permanente Besinnung auf die eigene Wissenschaftsgeschichte - nicht nur für die Soziologie - die Gefahr der Etablierung eines Totenhauses, eines Mausoleums. Der Gefahr der Konstruktion einer Geschichte toter Heroen kann wirkungsvoll einzig dadurch begegnet werden, dass man einen konkreten Bezug zu heute relevanten Problemstellungen, Theoriekonstruktionen und Methodologien herstellt. Auch schon deshalb kann es weder darum gehen, einem historischen Vorläufer noch einem aktuellen soziologischen Denker im wissenschaftlich-soziologischen Diskurs „gerecht" zu werden - ein ohnehin zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Die Geschichte unserer Wissenschaft, als Diskurs thematisiert, wird von uns heute gemacht und dient zumeist der Legitimation unserer eigenen Arbeit: Sie ist somit „praktische" Geschichte. Die „Werke" der historischen Vorläufer definieren unsere Wissenschaftssituation ebenso mit, wie es unsere eigenen gegenwärtigen Arbeiten und Bemühungen und die unserer Kolleginnen und Kollegen tun. Wenn man Soziologiegeschichte als einen fortlaufenden Diskurs erkennt, wird es zentral wichtig sein, Autoren, Werke und Interpretationsgemeinschaften in einen komplexen Ursachen- und Wirkungszusammenhang zu stellen. Die Soziologie und ihre Entwicklung beziehen sich auf gesellschaftliche Situationen, ohne darauf reduziert werden zu können. Weil Soziologie die jeweilige gesellschaftliche Situation mitdefiniert und dadurch mitgestaltet, wird eine einigermaßen komplexe Sichtweise vonnöten sein. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass bestimmte Fragestellungen und Antworten der Soziologie nicht in ihrer Zeit „aufgehen", sondern über diese hinausweisen. Das Werk eines soziologischen Klassikers wie auch das der post-klassischen Autoren und Theoriezusammenhänge steht damit ebenfalls in einem doppelten Diskurs: jenem zwischen dem Autor und seiner Zeit und jenem zwischen dem Werk und dessen Interpretationen, die zudem verschiedenen Interpretationsgemeinschaften angehören. Ein Werk hat viele erklärungsrelevante Bezüge, und eine direkte In-Beziehung-Setzung - im Sinne einer

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simplen „Abbildtheorie" - zwischen Werk und gesellschaftlicher Situation stellt eine unnötige Verkürzung dieser komplexen Zusammenhänge dar. Es ist eben genau diese Doppelung des Diskurses, die das Potential der post-klassischen Theorien für die Soziologie ausmacht, die sich im ständigen Rekurs auf eben ihre Klassiker weiterentwickelt, indem sie diese immer wieder aus neuen Perspektiven betrachtet und insofern permanent (wieder)entdeckt. Dabei geht es gerade nicht um Einzelergebnisse der Forschungen der soziologischen Klassiker, sondern darum, dass diese einen spezifischen Stil, eine eigene Perspektive der Wirklichkeitsbetrachtung entwickelt haben, immer in enger Verbindung mit der Bereitstellung ganz spezifischer Metaphern und Sprachspiele. Es ist dieser Fundus an Begrifflichkeit, der auch für die zukünftige sozio-logische Forschung von alternativlosem Nutzen ist. IV. Die „Großen Erzählungen64 der Soziologie Die zweite hier vertretene These lautet: Die Soziologie ist jene Wissenschaft, aus der heraus einige ihrer Angehörigen Texte produziert haben und produzieren, die aus unterschiedlichen Gründen erfolgreich in das Reservoir jener „Großen Erzählungen" der Menschheit aufgenommen werden, in denen und mit denen diese sich ihrer selbst vergewissert. Aus dieser Perspektive gesehen, gehört die Soziologie zu den Geisteswissenschaften, den „erzählenden Wissenschaften" (Odo Marquard). Die Soziologie erscheint demnach als eine Wissenschaft, die permanent Texte produziert und interpretiert, von denen einige zu den „Großen Erzählungen" der Menschheit gezählt werden können, durchaus in der Nähe von „Mythen". Im Kranz der wirkmächtigen Erzählungen - beispielsweise der Erzählungen von der „Moderne" und der von der „Postmoderne" - waren und sind einige Klassiker der Soziologie von ganz besonders hervorgehobener Wichtigkeit gewesen. Nach diesem Verständnis ging es also weniger um den Bestand soziologischer Theorien im streng wissenschaftstheoretischen Sinn, sondern eher um jenes Reservoir „Großer Erzählungen", dem die Disziplin Soziologie während ihrer bisherigen Geschichte, Bedeutendes für das Selbstverständnis der Menschheit vermacht hat. Dieses Geschäft der Erzeugung „Großer Erzählungen" durch die Soziologie ist, ungeachtet immer wiederkehrender Bedenken und Warnungen, keineswegs von der aktuellen Agenda ver-

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schwunden. Auch einige der post-klassischen Theorien lassen sich unschwer unter diese Überschrift ordnen: So erzeugt Shmuel N. Eisenstadt die „Große Erzählung" von der „Multiplen Moderne", Zygmunt Bauman die von der „Postmoderne", Alain Touraine die von der „Flüssigkeit" sozialer Prozesse, Michel Foucault die von der „Ordnung der Dinge", Jean Baudrillard die von der „Auflösung der Realität", Immanuel Wallerstein die vom heraufziehenden Ende des „Modernen Weltsystems", Hartmut Esser die von der „Nutzenorientierung" allen menschlichen Handelns, Richard Sennett die vom „Lob der Routine" und Bruno Latour die vom „Parlament der Dinge". Auch wenn die Rubrizierung einiger klassischer und einiger aktueller soziologischer Arbeiten als die einer „Großen Erzählung" zuweilen als Diskriminierung der Leistungen der betreffenden Wissenschaftler, bzw. ihrer Wissenschaft, gewertet wird, so soll diese Bezeichnung eher zu einem nochmaligen Nach-Denken, wenn nicht sogar Umdenken anregen. Diese Zurechnung soll sowohl eine gesteigerte Anerkennung der intellektuellen Leistungen mancher soziologischer Klassiker und Post-Klassiker wecken, als auch die Zuordnung zu einem Bereich, in dem ihre eigentliche Leistung sehr viel deutlicher wird. Die vielfaltigen Funktionen, die „Große Erzählungen" für die Menschen vor der Postmoderne erfüllten, hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard in seinem Bericht von 1979 „Das postmoderne Wissen" analysiert. Ihm zufolge formulieren „Große Erzählungen" auch „Metaerzählungen" genannt - „die Erfolge oder Misserfolge, die die Wagnisse der Helden krönen, und diese Erfolge oder Misserfolge geben entweder gesellschaftlichen Institutionen ihre Legitimität [...] oder repräsentieren positive oder negative Integrationsmodelle [...] in etablierte Institutionen [...]. Diese Erzählungen erlauben also einerseits, die Kriterien der Kompetenz der Gesellschaft, in der sie erzählt werden, zu definieren, sowie andererseits, mit diesen die Leistungen zu bewerten, die in ihr vollbracht werden oder werden können."2 Lyotard zufolge stecken wir seit einigen Jahrzehnten in einer „Krise" dieser „Großen Erzählungen". Wir heutigen, postmodernen Menschen seien „entzaubert" worden, die Legitimationskraft der großen Narrationen werde von uns selbst in Zweifel gezogen, im Zeitalter der postindustriellen Gesellschaften hätten 2

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Jean-François Lyotard , Ein Bericht (hrsg.von Peter Engelmann), Wien 1999, S.

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die großformatigen Erklärungen von Welt und Geschichte ihre Geltungskraft verloren. Somit verkündete Lyotard den „Zerfall der großen Erzählungen". Auch dann, wenn man sich einigen der Zweifel Lyotards anschließt, erkennt man umso mehr, welche Suggestionskraft manche der „Großen Erzählungen" aus der Soziologie gerade in der heutigen Zeit haben. Behauptete Lyotard noch: „Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren", und plädierte er daher für die Erzeugung bescheidener „kleiner Erzählungen", so kann heute im Widerspruch zu Lyotard - eine anhaltende und wachsende Zuwendung vieler Menschen auf der ganzen Welt zu einigen der „Großen Erzählungen" der Soziologie beobachtet werden. Diese Zuwendung beispielsweise erscheint uns aktuell ganz besonders ausgeprägt zu sein im Falle der Erzählung des soziologischen Klassikers Max Weber vom ultimativen „Sieg" der Rationalität und der dadurch ansteigenden Bedrohung der individuellen Freiheit. Vor allem durch die global immer mächtiger werdenden Strukturen des Kapitalismus und der Bürokratie scheint eben diese Sehnsucht der Menschen nach umfassenden „Großen Erzählungen" durch die Webersche Erzählung beispielsweise sehr viel eher erfüllt zu werden, als die allgegenwärtig angebotenen „kleinen Erzählungen", wie sie vor allem durch die empirische Sozialforschung erzeugt werden. Jedem engagierten Bewohner des Hauses der Soziologie sind solche „Großen Erzählungen" bekannt. Einige der davon „klassisch" gewordenen seien an dieser Stelle wenigstens in Erinnerung gerufen. Dazu zählt die bereits erwähnte „heroische Erzählung" des Auguste Comte mit ihrem Versprechen von der Religion der Vernunft, der harmonischen Integration von gesellschaftlicher Ordnung und individuellen menschlichen Bedürfnissen, bei der die Soziologie die geistige Führung und politische Steuerung der Gesellschaft übernimmt, gewissermaßen ein französisches Echo der bürgerlich-hegelschen Erzählung vom Sieg der Vernunft. Man denke an die andere „heroische Große Erzählung" des Karl Marx, mit dessen Vision von der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Fremdbestimmung, bei der die Wissenschaft durch das Aufdecken der historischen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten die Rolle der endgültigen Erlöserin der Menschheit übernimmt, wiederum ein Echo der sehr viel größeren Erzählung aus jüdischchristlichem Bestand. Erinnert sei weiterhin an die „moralische Erzäh-

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lung" des Emile Durkheim mit ihrer Diagnose der permanent gefährdeten Integration einzelner Menschen in die gesellschaftliche Ordnung, bei der die Soziologie die geeigneten Therapie-Vorschläge entwickelt, in der durch Religion, Ehe, Familie und berufsständische Organisationen die Kohäsion der Gesellschaft erhöht werden soll, ebenfalls ein säkularisiertes Echo aus dem jüdisch-christlichen Fundus. Und nochmals erinnert sei an die „skeptische Erzählung" des Max Weber mit ihrer nüchternen Diagnose sowohl alternativer Rationalitäten als auch eines unaufhaltsamen Prozesses der universalen Durchsetzung der okzidentalen Rationalisierung, bei dem sich die Soziologie auf die historische und zeitdiagnostische Analyse beschränkt und allenfalls warnende Visionen zur Diskussion stellt, worin sich ein grundlegender Zweifel an allen Visionen, insbesondere der jüdisch-christlichen Verheißungen von der Erlösung der Menschen, artikuliert. Es möge damit an dieser Stelle sein Bewenden haben, auch wenn es leicht und verlockend wäre, sämtliche Klassiker und Post-Klassiker der Soziologie daraufhin durchzugehen, welchen Beitrag sie für das beachtliche Reservoir „Großer Erzählungen" aus dem 19. und 20. Jahrhundert erbracht haben. Soziologische Autoren wie Norbert Elias, Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens haben hier unstrittig entscheidende Beiträge geleistet, von denen sich einige gerade aktuell wachsender Beliebtheit erfreuen. V. Die literarische Produktion von „Zeitdiagnosen" Weil positivistische Kritiker der Soziologie an dieser Stelle leicht geneigt sind zu betonen, dass die Erzeugnisse der Soziologie, sowohl ihrer Klassiker als auch ihrer post-klassischen Beiträge, nur wenig mehr seien als „Zeitdiagnosen", sollen fünf Thesen zur wissenschaftlichen Soziologie und zu Zeitdiagnosen zur Diskussion gestellt werden: These 1: Die Produktion von Zeitdiagnosen, im Sinn von wissenschaftlicher Erfassung des jeweils aktuellen Zustands der jeweiligen Gesellschaft, war und ist eine legitime, historisch lokalisierbare Aufgabe wissenschaftlicher Soziologie. These 2: Das „Projekt Soziologie" versuchte bislang insgesamt zu viel und einander Ausschließendes - noch dazu gleichzeitig - zu verwirklichen. So stehen immer wieder und immer noch nebeneinander die Forde-

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rungen, die Soziologie müsse liefern a) eine wissenschaftlich fundierte Gesellschaftsbeschreibung, b) eine fundierte und emanzipatorische Gesellschaftskritik, c) eine anspruchsvolle Sozialtheorie nach dem Modell der „Grand Theory" und d) eine suggestive „Große Erzählung" über die Positionierung des Menschen in Geschichte und Gesellschaft. Aus diesem Katalog wurde die Erstellung von „Zeitdiagnosen" nicht in den selbstverständlichen Kanon der Aufgaben akademisch-wissenschaftlicher Soziologie aufgenommen. So wird die Frage sinnvoll sein, ob die Soziologie hier überhaupt eine besonders hervorgehobene Qualifikation hat, gegenüber beispielsweise professionellem Journalismus, anspruchsvoller Belletristik und ausgewiesener Kunstproduktion. Die Formulierung allgemeiner soziologischer Gesetze wird sich mit der Erstellung von Gegenwartsanalysen nicht problemlos vereinbaren lassen. Die mancherorts vertretene Erwartung an die Soziologie, eine soziologische „Gesetzeslehre" zu erbringen, die am Modell der Naturwissenschaften orientiert ist, wird sich nicht vereinbaren lassen mit der Produktion einer geisteswissenschaftlichen „Sinndeutung" gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeiten. Der Versuch einer sozial-/geistes-/kulturwissenschaftlichen Konstruktion einer Synthese endete bislang in der konstitutiven Janusköpfigkeit der Soziologie: Von allem ein wenig und alles zugleich! These 3: Die zentrale, positivistische wissenschaftstheoretische Ausgangsannahme einer Soziologie, die eine Trennung von Erkenntnissubjekt (Soziologie bzw. soziologischen Forschern) und Erkenntnisobjekt (Individuen, Gruppen, Gesellschaften) glaubt vornehmen zu können, ist - schon lange - nicht mehr haltbar. These 4: Die akademisch-wissenschaftliche Soziologie, als Produzentin und Interpretin von wissenschaftlicher Beschreibung, Analyse und Prognose gesellschaftlicher Prozesse verkannte und verkennt bis heute mehrheitlich, dass sie selbst (wesentlicher) Bestandteil der sozialen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit ist. Unabhängig davon, ob sie ihre wissenschaftlichen Produkte als Gesetzeslehre, Sozialtechnologie, Oppositionswissenschaft oder Sinndeutung formuliert, muss die wissenschaftliche Soziologie ihre selbstreflexive Verantwortung in Zukunft noch weit bewusster wahrnehmen. „Selbstreflexivität" bedeutet dabei zweierlei: Erstens „Selbstbezüglichkeit" in dem Sinne, dass das, was die Soziologie über Gesellschaft äußert, also hier insbesondere: soziologische Zeitdiagnosen, auf die Ge-

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sellschaft selbst zurückwirkt. Das, was die akademisch-wissenschaftliche Soziologie über die jeweilige Gesellschaft sagt, hat Konsequenzen für die Selbstdefinition einer Gesellschaft. Um nochmals in den tiefen Fundus soziologischer Wissensproduktion zu greifen, sei beispielsweise daran erinnert, wie der Franzose Emile Durkheim das Bild einer Gesellschaft in der (moralischen) Krise zeichnete, die durch die Gefahr massenhafter Anomie entsteht; wie der norwegische Amerikaner Thorstein Veblen eine Gesellschaft vorstellte, die, vom Neid getrieben, eine „müßige Klasse" als Zeichen ihres räuberischen Charakters produziert; wie der Brasilianer Gilberto Freyre von einer Gesellschaft erzählte, die durch die (wesentlich sexuell erzeugte) Harmonie zwischen den Rassen sich selbst harmonisiert und dadurch definiert; wie der Deutsche Helmut Schelsky eine Gesellschaft skizzierte, die durch die „skeptische Generation" immun gegen die Priesterschaft der „Reflexions-Elite" geworden sei und durch die Konstruktion einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zu innerer Harmonie gekommen sei; wie der Franzose Edgar Morin eine Gesellschaft porträtierte, die sich durch die Durchsetzung der Kultur-Industrie zu einer „Massenkultur" entwickelt und dadurch einen evolutionären Fortschritt in Richtung einer demokratischeren Gesellschaft gemacht habe; wie der Amerikaner David Riesman eine Gesellschaft vorstellte, die durch die Dominanz des „außengeleiteten Typus" in die Gefahr der Beherrschung durch das „Mittelmaß" und „die Macht der Anderen" zu geraten drohte; wie der Araber Ibn Khaldoun eine Gesellschaft skizzierte, die nur durch die Bewahrung von „Gemeinschaft" und „Gemeinsinn" vor der sozialen Desintegration bewahrt werden könne; wie der Deutsche Ralf Dahrendorf eine Gesellschaft aufzeigt, für die das Modell der „Offenen Gesellschaft" als Beschreibung sozialer Wirklichkeit reklamiert wird, das als Vorbild für andere Gesellschaften offeriert wird; wie uns der Deutsche Ulrich Beck eine Gesellschaft vorstellt, für die die Chiffren der „Risikogesellschaft" und der „Individualisierung" als Identifikationsangebot gemacht werden; und wie George Herbert Mead eine Gesellschaft zu erkennen glaubte, für die ein radikaldemokratisches Modell beschworen wird, in der sich Individuen als weltoffene Persönlichkeiten im Zusammenspiel von sozialer und personaler Identität entwickeln können. Wie sich an diesen wenigen und beliebigen Beispielen unschwer zeigen lässt, bedeutet Selbstreflexivität zweitens, dass die Soziologie ausschließlich Reflexions-Produkte zur Verfügung stellt, Kopfgeburten, die

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sich selbst wiederum vorwiegend an Kopfmenschen, Intellektuelle, richten. These 5: Die analytische Trennung von wissenschaftlicher Zeitdiagnose und Ideologie ist kein leichtes Unterfangen. Eines der zentralen Probleme bei der soziologischen Produktion von Zeitdiagnosen betrifft die Max Webersche Kategorie der „Wertbeziehung". Schon die naivpositivistische Vorstellung der prinzipiellen Möglichkeit einer „objektiven" Beschreibung von sozialer Wirklichkeit erweist sich als unhaltbar, ganz zu schweigen vom wesentlich komplizierteren Verhältnis von Analyse / Diagnose und Prognose / Therapie. - Die Bestimmung von „Ideologie" steht in einer langen Diskussion über die Abgrenzung von „Wahrheit" versus „Irrtum". Auch im Zeitalter des Positivismus war diese Entscheidung nicht einfacher geworden, noch weniger durch das Postulat eines „nachideologischen Zeitalters". Nach der Wissenssoziologie Karl Mannheims steht alles Denken, insbesondere das wissenschaftliche Denken, unter dem totalen Ideologieverdacht durch die Annahme einer allgemeinen „Seinsgebundenheit" des Denkens. Die Problematik eines totalen Relativismus ist nicht wirklich durch die Konstruktion eines „Relationismus" gebannt. Geht man von der ursprünglichen Wortbedeutung von Ideologie aus - Ideologie als „Wissenschaft von den Ideen" - , so ist Soziologie zu größten Teilen nichts anderes als Ideologie. Und sie ist zudem eine „Moralwissenschaft", nicht im Sinne der Begründung moralischer Postulate, aber dadurch, „dass sie die sozialen Bedingungen für die Realisierung einer wünschenswerten Moral bestimmen und die moralischen Folgen von institutionalisierten Rationalitätskriterien in fragmentierten Handlungskontexten aufzeigen kann" (M. Rainer Lepsius). Einer akademisch-wissenschaftlichen, post-klassischen Soziologie, die sich auf die Erträge ihrer Klassiker und Hauptwerke stützt, die sich sowohl als Produzentin von Literatur als auch als Literaturwissenschaftlerin versteht, die als „Ideologie" und „Moralwissenschaft" - beides im hier definierten Sinne - das Entstehen und die Wirksamkeit jener „Großen Erzählungen" erforscht, welche die akademisch-wissenschaftliche Soziologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erarbeitet hat, muss insgesamt in keiner Weise bange um ihre Zukunft sein.

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VI. Vom Nutzen disziplinarer Grenzen In unterschiedlichen Wendungen war bis hierher die Rede von der Komplexität der disziplinaren Identität gegenwärtiger internationaler und nationaler Soziologien. Die vielfältigen Unter-, Neben- und Teilgebiete der Soziologie und die zahlreichen interdisziplinären Kontexte, in denen soziologisches Forschen heute geschieht, vor allem im Bereich der diversen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, haben diese Komplexität in einem Maß gesteigert, dass gefragt werden kann, ob es diese Disziplin als solche überhaupt noch gibt. Diese Situation provoziert die allgemeine Frage nach Nutzen und Grenzen des „Disziplin"-Konzepts. Dabei mag es als sinnvoll erscheinen, voneinander zu unterscheiden, in welchem Zusammenhang diese Frage gestellt wird, ob in prinzipiell-theoretischer Hinsicht oder in ganz praktischer Weise, wie etwa für die universitäre Lehre und das Studium des Faches Soziologie. Die hier vertretene Position ist eine ganz eindeutige. Sie ist zugleich eine Antwort auf das modische und wohlfeile Gerede von der Notwendigkeit des „Einreißens" und der überfälligen „Überwindung" disziplinärer Grenzen und deren Ersatz durch interdisziplinäre und transdisziplinäre Forschung. Bei aller grundsätzlichen Sympathie für Forderungen nach „produktiven Grenzüberschreitungen", nach Perspektivenvielfalt und Pluralisierung der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Landschaft lautet unsere Antwort auf solche Parolen: Nur wer in seiner eigenen Disziplin beheimatet ist und ihre Wurzeln und Verästelungen gut kennt, wer sich also - in unserem Fall - im Haus der Soziologie gut auskennt und darin „zu Hause" ist, kann in einen fruchtbaren und allgemein gewinnbringenden inter- und transdisziplinären Diskurs eintreten. Nur wer im Haus der Soziologie eine selbst eingerichtete Wohnung sein eigen nennt, kann andere zum Gespräche in diese einladen und kann kreativ in Wohnungen in anderen Häusern zu Besuch gehen, schon weil er weiß, dass er ein Zuhause im Haus seiner Disziplin hat: „Interdisziplinäre Kompetenz setzt disziplinäre Kompetenzen voraus" (Jürgen Mittelstraß). Als Analogie sei dieses angeboten: Nur wer in seiner Muttersprache beheimatet ist, kann Fremdsprachen gut lernen. Alle Sprachen sind prinzipiell gleichberechtigt, alle erfüllen ihre Zwecke, solange sie gesprochen werden. Aber nicht alle Sprachen erfüllen die gleichen Zwecke. Wer mitreden will, kann das nur in seiner Muttersprache oder wenn er Fremdsprachen (sehr gut) lernt. Nur wer sich seines Standpunkts sicher

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ist, kann widerstreitende Standpunkte gelassen ertragen und deren Eigenwert erkennen. Wer über den Tellerrand schauen will, braucht überhaupt erst einmal einen eigenen Teller, und er muss sich seines eigenen Tellers sicher sein. Das hier suggerierte Ideal, das auch den Umgang der post-klassischen Theorien mit dem klassischen Erbe der Soziologie beschreibt, lautet somit folgendermaßen: In der eigenen Disziplin verwurzelt, gilt es, den freundlichen und kritischen Blick über die Grenzen der Disziplin zu schärfen. Es mag für manchen Altmeister unseres Faches sinnvoll und möglich sein, sich über die angebliche Einengung durch die eigene Fachwissenschaft zu beklagen und darum zu fordern, diese Grenzen durchlässig zumachen, „rittlings auf dem Schlagbaum zu sitzen" (Ralf Dahrendorf). Wer die tatsächliche Lage der professionalisierten Sozialwissenschaften weltweit betrachtet, vor allem die der nachwachsenden Generationen im internationalen wissenschaftlichen Diskurs verantwortungsvoll im Auge behält, der erkennt, dass die Abgrenzungen, die Spezialisierungen, die sprachlichen Codes, aber auch die zünftigen Organisationen eher bestimmter und grenzbewusster werden. Das Konzept solcher „Grenzen" kann auch positiv gesehen werden, es markiert Zugehörigkeiten und schützt diejenigen, die innerhalb der Grenzen leben und arbeiten wollen vor denjenigen, die „einfach so" durch das Land flanieren wollen. Beim Überqueren von Grenzen mag es sinnvoll sein, nach „Pässen" zu fragen, die den Passanten als Bürger eines Territoriums ausweisen, im Fall der disziplinären Zugehörigkeit durch den Nachweis legitim erworbener Qualifikationen im jeweiligen Feld. Einer der Post-Klassiker der Soziologie, Michel Foucault, hat in seinem Werk „Die Ordnung des Diskurses" von 1971 dazu ausgeführt: „Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen."3 Für Michel Foucault diente Disziplin als „ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses."

3

Michel Foucault , Die Ordnung des Diskurses, 8. Aufllage, Frankfurt a. M . 2001, S. 10 f. [Erstausgabe: L'ordre du discours, Paris 1972].

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Foucault darin folgend, betrachten auch wir die oben angeführten diversen studies , in denen sich zunehmend mehr Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses der Soziologie einzurichten scheinen, so lange nicht als prinzipielle Bedrohung der Disziplin Soziologie, solange das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu eben dieser nicht verloren gegangen ist. Ebenso sollte auch das große und aufnahmebereite Feld der „Kulturgeschichte" (Ute Daniel) eher als eine willkommene Möglichkeit gesehen werden, die jeweilige Identität als Soziologin oder Soziologe unter Beweis zu stellen, als dass in diesem anregenden Gelände eine grundsätzliche Bedrohung für das Fach Soziologie gesehen wird. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass derartige Entwicklungen, wie das Aufblühen der angeführten studies oder der „Kulturgeschichte", als Alternativen und Konkurrenzen zur Disziplin Soziologie gesehen werden können, sowohl innerhalb des Faches, als auch von außerhalb. Gerade die als post-klassische Theorien der Soziologie definierten Ansätze stellen glaubhaft unter Beweis, dass es sehr gut möglich ist, im Haus der Soziologie beheimatet zu bleiben und dennoch fruchtbare Erweiterungen dieses Hauses vorzunehmen, ohne dass dieses für immer verlassen werden muss. Nicht vollkommen unerwähnt jedoch seien an dieser Stelle, an der es um die Notwendigkeit der Bewahrung disziplinarer Grenzen geht, jene beiden großen wissenschaftlichen Entwicklungen, von denen in den meisten der aktuellen post-klassischen Theorien nur am Rande die Rede ist. Die Soziologie wird sich als Disziplin mit zwei zentralen wissenschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen müssen, die - wieder einmal - die große Frage nach der Einheit der Sozialwissenschaften aufwerfen. Zum einen sei damit jene Entwicklung angesprochen, derzufolge die modernen Wirtschaftswissenschaften zunehmend mehr - oder wieder? - die Gegenstände soziologischer Fragestellung für sich selbst aufnehmen. Zunehmend mehr wenden sich vor allem Wirtschaftswissenschaftler grundsätzlichen Fragen zu, wie etwa: „Wie ist Soziale Ordnung möglich?", und meinen damit nicht nur die wirtschaftliche Ordnung. Dabei greifen sie zwar teilweise tief in den Fundus soziologischer Erkenntnisse, erweitern diese jedoch an zentralen Punkten erheblich, was die zukünftige Soziologie dazu motivieren muss, sich mit ihnen in ebenso kreativer Weise auseinanderzusetzen, wie man das gerade an den Ansätzen der Soziologischen Netzwerkanalyse und des Soziologischen Neo-Institutionalismus studieren kann.

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Zeigt sich die Soziologie mit diesen beiden Theoriezusammenhängen der Herausforderung durch die modernen Wirtschaftswissenschaften noch als einigermaßen gut gewachsen, so sieht das gegenwärtig angesichts der zweiten Herausforderung der Soziologie noch nicht sonderlich überzeugend aus. Gedacht ist hier an die dramatischen Forschungsergebnisse innerhalb der Biowissenschaften, den so genannten „Lebenswissenschaften". Diese naturalistische Herausforderung der Soziologie durch aktuelle Entwicklungen der Neurophysiologie, Genforschung, Entwicklungsbiologie und Demographie, die mit naturwissenschaftlichen Modellen des menschlichen Gehirns, des menschlichen Genoms und der menschlichen Reproduktion operieren, wird nicht damit beantwortet werden können, dass sich die Soziologie auf allein ideologiekritische Positionen zurückzieht. Über die bisherigen post-klassischen Ansätze hinausgehend, wird es vonnöten sein, die in den genannten Zusammenhängen erzeugten Forschungsergebnisse mit den bisherigen soziologischen Erkenntnissen sowohl über die Einschränkungen und Festlegungen der menschlichen Natur in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu konfrontieren, als auch mit jenen über die Ermöglichung und Steigerung der Vielgestaltigkeit von Gesellschaft durch die Natur des Menschen. Diese, hier nur angedeutete, naturalistische Herausforderung der Soziologie durch die genannten Lebenswissenschaften wird ohne Zweifel die Agenda der Disziplin Soziologie im 21. Jahrhundert bestimmen müssen. Die Soziologie wird dieser Herausforderung, insbesondere der Hirnforschung und der Genomwissenschaften, kompetent antworten müssen - oder sie wird langfristig untergehen. VII. Die Soziologie des 21. Jahrhunderts als glokales Unternehmen Summiert man die derzeit relevanten post-klassischen Theorienzusammenhänge der wissenschaftlichen Soziologie, so fallen zwei dominante Muster auf. Zum einen bewegt sich die aktuelle soziologische Theoriediskussion immer mehr in die Richtung einer kosmopolitischen Ausrichtung. Zum anderen lässt sich beobachten, dass es eine Entwicklung gibt, die wegfuhrt von jener Situation, die durch die Person eines einzigen Gelehrten bestimmt wird, allenfalls noch zusammen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Diese ehemals dominante Lage transformiert sich zunehmend mehr in eine Richtung, bei der eine Mehrzahl von theo-

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retisch gleichberechtigten Individuen zusammenarbeitet, so dass eher von einer ganzen programmatischen Theorierichtung gesprochen werden muss, als von einer Theorie, die mit dem Namen eines einzigen Schöpfers verknüpft ist. Zur ersten Beobachtung: Die Zahl der als kosmopolitisch verorteten Soziologen übersteigt die der dominant national zuzuordnenden soziologischen Theoretiker. Als solche „Kosmopoliten" können, nach unserer Ansicht, bezeichnet werden Shmuel N. Eisenstadt, Zygmunt Bauman, Thomas Luckmann, Immanuel Wallerstein, Michael Mann, Richard Sennett, Ulrich Beck und Bruno Latour. Als dominant der französischen Soziologie wird man zuordnen müssen: Alain Touraine, Michel Foucault, Jean Baudrillard und, von den Vertretern des spezifisch französischen Postmoderne-Diskurses, Edgar Morin und Michel Maffesoli. Als dominant der US-amerikanischen Soziologie sind zuzuordnen: die Vertreter der Soziologischen Netzwerkanalyse, Mark Granovetter, Ronald Burt und Harrison White, sowie die Vertreter des Soziologischen Neo-Institutionalismus, John W. Meyer und Frank R. Dobbin. Als (bislang) dominant der deutschen Soziologie wird man allein Hartmut Essers fulminanten Versuch einer aktuellen Universalen Sozialtheorie zuordnen müssen. Auch wenn sich über diese hier angeregte Rubrizierung streiten lässt, so sei sie nicht zuletzt deswegen vorgeschlagen, weil damit daran erinnert werden soll, dass die bisherige Entwicklung der wissenschaftlichen Soziologie auch interpretiert werden kann als eine historische Wellenbewegung. Diese geht von den zuerst dominant internationalen Anfängen dieses Unternehmens bei seinen ersten Gründungsvätern (Comte, Marx, Spencer, Pareto), über die eher national positionierten Soziologen Frankreichs (Durkheim, Mauss, Halbwachs, Aron, Bourdieu), Deutschlands (Tönnies, Simmel, Weber, Freyer, Gehlen, Schelsky, Luhmann, Habermas), der USA (Mead, Park, Parsons, Homans, Merton, Mills, Goffman, Coleman) und Englands (Giddens). Nach der, vor allem erzwungenen, Internationalisierung bei einigen soziologischen Klassikern (Michels, Geiger, Mannheim, Elias, Schütz, Lazarsfeld, Adorno) und der damit häufig verbundenen Einbindung in die dominante angloamerikanische Soziologie zeigt die aktuelle Theorie-Entwicklung die ganz eindeutige Rückkehr zu einem international und kosmopolitisch ausgerichteten Diskurs der Soziologie. Dass dabei die Kommunikation in englischer Sprache gefuhrt wird, besagt schon lange nichts mehr über eine Domi-

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nanz der angloamerikanischen Soziologie. Die aktuelle „theoretische Dreifaltigkeit" der internationalen Soziologie - Rational Choice-Theorien, Systemtheorien und Phänomenologische Soziologien - ist schon lange weder als lokal noch als global zu verstehen, so dass sich auch fur die aktuelle Theorielandschaft die inzwischen verbreitete Formel von der „Glokalität" (Saskia Sassen) übernehmen lässt: Wir registrieren also unterschiedliche lokale Ausprägungen eines globalen Theorie-Diskurses. Was die zweite Beobachtung angeht, so bezieht sie sich auf folgende Entwicklung: Konnte und musste man die beiden Bände der „Klassiker der Soziologie" noch allein mit den Namen der Erzeuger distinkter Theorien unterschreiben, gewissermaßen als einen Reigen bedeutender (Männer-)Namen von Comte bis Giddens, so signalisieren schon die Bezeichnungen einiger der unter post-klassischen Ansätzen rubrizierten Theoriezusammenhänge, dass diese nicht mehr einfach durch den Namen des einen Schöpfers beschrieben werden können. Die Neuere Historische Soziologie, die Soziologische Netzwerkanalyse, der Soziologische NeoInstitutionalismus und der Postmoderne-Diskurs der französischen Gegenwartssoziologie markieren jene Entwicklung, nach der die Erzeugung soziologischer Theorien eher in komplexen Schulzusammenhängen geschehen wird als am Schreibtisch eines einzigen Theoretikers. Ohne zu sehr bestimmen zu wollen, wie die erhofften alternativen Bilanzierungen und Systematisierungen aussehen sollen, sei abschließend skizziert, zu welcher Augenblicksbeschreibung unsere eigene Auseinandersetzung mit den aktuellen post-klassischen Theorien der Soziologie führt. Nach ihr lassen sich derzeit sechs cluster gegenwärtiger theoretischer Bemühungen in der internationalen Soziologie verzeichnen, die sich um unterschiedliche Themen, Vorgehensweisen und SoziologieVerständnisse gruppieren. Diese cluster seien hier abschließend und vorausblickend zur Diskussion gestellt: 1. eine historisch-rekonstruktionstheoretische Soziologie, bei der die soziologische Kritik der Macht und das menschliche Subjekt im Zentrum stehen (Bauman, Foucault, Touraine); 2. eine historisch-komparative Soziologie, die sich mit den Gesellschaftsentwicklungen nach der „einen Moderne" befasst (Eisenstadt, Wallerstein, Neue Historische Soziologie); 3. eine deskriptive, verstehend-interpretative Soziologie, die sich mit Phänomenen der Erzeugung und Weiterführung von Sinnwelten befasst (Luckmann, die Repräsentanten der Dritten Chicago-Schule);

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4. eine reflexive Soziologie, bei der ebenfalls die menschlichen Subjekte im Zentrum stehen, hier jedoch eher aus einer impressionistischen Perspektive, welche Zeitdiagnose mit Gesellschaftsreform verbindet (Sennett, Beck, Latour); 5. eine quantifizierend-formalisierende Soziologie, in deren Zentrum sowohl Akteure als auch Netzwerke stehen (Esser, Soziologische Netzwerkanalyse, Soziologischer Neo-Institutionalismus); 6. eine wesentlich intellektuell-experimentelle Soziologie, die um die „Große Erzählung" von der „Postmoderne" organisiert ist (Baudrillard, Morin, Maffesoli). Unabhängig davon, ob man diese zur Diskussion gestellte clusterKonstruktion übernimmt oder nicht, lassen sich in jedem Fall, sowohl bilanzierend als auch fordernd, folgende Beschreibungen von fünf entscheidenden Entwicklungstendenzen der internationalen Soziologie im und für das 21. Jahrhundert formulieren. Ihnen zufolge wird es a) zu einer Verstärkung der (selbst)reflexiven Perspektive auf die Konstitutionsbedingungen der Disziplin Soziologie kommen, b) intensivere Bemühungen um die De-Nationalisierung soziologischer Begrifflichkeit und der empirischen Sozialforschung geben, c) zu einer Verstärkung der Bemühungen um die De-Essentialisierung der Narrationen von Entstehung und Entwicklung der westlichen „Modernität" kommen, die von einer sich wechselseitig durchdringenden Inkulturation im Dialog der Kulturen begleitet sein werden, d) zu einer selbstbewussten Stärkung des disziplinären Selbstbewusstseins der Soziologie kommen, bei gleichzeitiger Annahme der Herausforderungen aus inter- und transdisziplinären Feldern, vor allem aus dem Bereich der Wirtschafts- und der Lebenswissenschaften, e) verstärkt zur Bildung transnationaler Denkzusammenhänge kommen, in denen eine gemeinsame soziologische Theorieentwicklung um einige gemeinsam geteilte Grundideen, Grundbegriffe und methodische Strategien organisiert ist. Und in allen diesen Entwicklungstendenzen werden die Klassiker und die Post-Klassiker der internationalen Soziologie eine entscheidende und immer erneut fruchtbar werdende Bedeutung haben. Sich ihrer unverdrossen anzunehmen, wird sich auch in Zukunft lohnen!

Die Vermessung der Utopia des Thomas Morus durch Karl Kautsky Von Richard Saage I. Karl Marx rezipierte die Utopia* des Thomas Morus nicht als Vorläufermodell des modernen Sozialismus, sondern als ökonomisches Dokument der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" in der frühen Neuzeit. Im Zusammenhang mit der sogenannten Einhegungsbewegung, so heißt es im Ersten Band des „Kapitals", spreche Morus „von dem sonderbaren Land, wo ,Schafe die Menschen auffressen'". 1 Ein Vergleich zwischen den Schriften der englischen Kanzler Fortescue und Thomas Morus verdeutliche die Kluft zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert in den Lebensverhältnissen der lohnabhängigen Bevölkerung. „Aus ihrem goldnen Zeitalter stürzte die englische Arbeiterklasse ohne alle Zwischenübergänge in das eiserne".2 In einer längeren Fußnote zitierte er aus der Utopia jene berühmte Stelle, welche die sozialen Konsequenzen des Eindringens des bisher nur in der Zirkulationssphäre tätigen Kapitals in die agrarische Produktion schildert: die materielle Entwurzelung und Verelendung einer ganzen sozialen Schicht der von der Allmende vertriebenen Pachtbauern. „Von diesen armen Flüchtlingen, von denen Thomas Morus sagt, daß man sie zum Diebstahl zwang, wurden 72.000 große und kleine Diebe hingerichtet unter der Regierung Heinrichs des Achten (Holinshed)".3 Entsprechend nahm Marx die Utopia des Thomas Morus nicht als Prototyp eines literarischen Mediums wahr, das ein alterna* Morus' Schrift „Utopia" (die die Utopie als literarische Gattung begründete) besteht aus einem „Reisebericht" über die glückliche Insel Utopia. Da diese die Thematik und den Titel bestimmt, wird durchgehend auf Anfuhrungszeichen verzichtet. 1 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Buch 1 : Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 23, Berlin 1969, S. 747, FN 193. 2 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 746. 3 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 764.

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tives Gesellschaftsbild fiktiv den kritikwürdigen Zuständen der eigenen Herkunftsgesellschaft gegenüberstellt. Vielmehr reihte er ihren Verfasser neben Hobbes, Locke, Hume u. a. in die Tradition der Vordenker der politischen Ökonomie ein.4 Auch in den „Grundrissen der politischen Ökonomie" bezieht er sich auf Mores Utopia als Beleg dafür, daß „das kleine Pachtsystem aufgebrochen und [...] jene ganze gewaltsame ökonomische Umwälzung stattfand, die Thomas Morus bejammert [denunziert]". 5 Um so erstaunlicher ist, daß sich einer der führenden Köpfe der ersten Generation der marxistischen Schule, Karl Kautsky, in seinem Buch „Thomas More und die Utopie" nicht so sehr für die politökonomischen Aussagen, sondern vielmehr für Morus' Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft interessierte, die Marx mit keinem Wort erwähnte. War dessen Erkenntnisinteresse die Rekonstruktion der historischen Genesis des kapitalistischen Wirtschaftssystems, so ging es Kautsky darum, Denkern und Akteuren auf die Spur zu kommen, die als Vorläufer des modernen, d. h. marxistischen Sozialismus in Frage kommen. Ursprünglich wollte er nach eigenen Aussagen eine vergleichende Studie über Münzer und Morus schreiben. Doch die Persönlichkeit des letzteren habe ihn so fasziniert, daß er ihm seine Studie widmete. Aber wie emotional diese Wahl auch begründet gewesen sein mag: Daran, daß er sich seinem Forschungsgegenstand im Fokus des historischen Materialismus Marxscher Provenienz nähern werde, ließ er keinen Zweifel. „Mein ,Thomas Morus' war die erste größere historische Arbeit, die einer der deutschen Schüler von Marx und Engels auf Grund der von unseren Meistern entwickelten materialistischen Geschichtsauffassung veröffentlichte. Die damals beobachtete Auffassung", schrieb er 1907, „ist seitdem in der Sozialdemokratie und mit ihr zu einer das ganze proletarische Denken beherrschenden Methode geworden."6 Auf sie bezog er sich bereits in der ersten Auflage von 1887: „Es sei daher an dieser Stelle daran erinnert, daß, wenn es mir gelungen sein sollte, neue, beachtenswerte Gesichtspunkte aufzustellen, sie der Marxschen historischen Auffassung und Methode zu danken sind."7

4

Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 645, FN 765. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), 18571858, Berlin 1953, S. 922. 6 Karl Kautsky, Thomas More und die Utopie, Berlin 1947, S. 7. 7 Kautsky, S. 7. 5

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Damit ist die entscheidende Frage gestellt, der im folgenden Aufsatz nachzugehen ist: Trägt diese erste marxistische Analyse der Utopia von Thomas Morus wirklich zu ihrem besseren Verständnis bei? Leuchtet sie Facetten in diesem komplexen Text aus, die zum Zeitpunkt des Erscheinens der Studie unbekannt waren und bis heute interessant bleiben? Kann, mit einem Wort, Kautskys Utopia-Studie als ein Meilenstein in der langen Rezeptionsgeschichte dieser bedeutenden Schrift gelten? II. Kautskys Schrift gliedert sich in drei Abschnitte: „Das Zeitalter des Humanismus", „Thomas More" sowie „Die Utopia". Während die Teile 2 und 3 direkt aufeinander bezogen gelesen werden können, steht der erste Abschnitt relativ isoliert fur sich. Kautsky muß diese mangelnde Integration des ersten Textblocks mit dem zweiten und dritten bewußt gewesen sein, weil er sie mit dem Hinweis zu rechtfertigen sucht: „Vorliegende Schrift ist indes nicht ausschließlich für Fachgelehrte, sondern für ein größeres Publikum bestimmt. Bei diesem konnte ich nicht die Kenntnis der historischen Situation voraussetzen, deren Kind Thomas More war und ohne deren Erkenntnis er nicht verstanden werden kann. Diese Situation war aber eine so eigenartige, daß sie nicht mit wenigen Worten auseinandergesetzt werden konnte, daß zu ihrer Darlegung oft weit in die Geschichte des Mittelalters zurückgegriffen werden mußte. So ist die Einleitung entstanden, die den ersten der drei Abschnitte umfaßt, aus denen die vorliegende Arbeit besteht."8 Im ersten Kapitel des ersten Teils setzt Kautsky sich mit den Anfängen des Kapitalismus der modernen Staaten auseinander. Im Stil einer marxistischen Geschichtsenzyklopädie kompiliert er bekannte Fakten. Zunächst stilisiert er die mittelalterliche Ausgangslage am Beispiel des Feudalismus und der Städte, um im selben Kapitel allerdings bereits durch die Korrelation von Welthandel und Absolutismus den beginnenden Zerfall der mittelalterlichen Gesellschaftsformationen und die Heraufkunft frühkapitalistischer Tendenzen zu schildern. Die Dynamik der marktorientierten Produktion einmal in Gang gesetzt, schildert Kautsky nun die Auswirkungen auf den Grundbesitz, auf die Kirche und auf den „Überbau" dieser revolutionären Umwälzung in Gestalt des Humanismus.

8

Kautsky,

S. 6.

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Zwar versucht Kautsky, diesen „historischen Vorspann" als zwingend notwendig zu rechtfertigen. „Wie jeder Sozialist, kann auch More nur aus seiner Zeit verstanden werden. Diese ist aber schwieriger zu verstehen, als die irgend eines späteren Sozialisten, da sie von der unseren verschiedener ist. Ihr Verständnis setzt die Bekanntschaft voraus nicht nur mit den Anfängen des Kapitalismus, sondern auch mit den Ausgängen des Feudalismus, vor allem ein Verständnis der gewaltigen Rolle, welche die Kirche auf der einen, der Welthandel auf der anderen Seite damals spielten".9 Auch stellt er gelegentlich direkte Bezüge zu Morus her, wenn er ζ. B. auf die politische Rolle der Humanisten verweist: „Die Gelehrten spielten damals eine andere Rolle an den Höfen als heutzutage; sie erschienen nicht als geduldete gelehrte Bedienstete, sondern als gesuchte Freunde der Fürsten. Zum Teil ist auf diesen Umstand Heinrich(s) VIII. Benehmen gegen More zurückzufuhren." 10 Die Mischung aus rückwärtsgewandten Traditionsbeständen und sich allmählich durchsetzenden Elementen einer neuen Produktionsweise habe auch dem Humanismus, nicht zuletzt Thomas Morus selbst, seinen Stempel aufgedrückt.11 Sowohl in Rabelais' „Abtei Thelema" als auch in Morus' Utopia sieht Kautsky literarisch verfremdete Reformmodelle für die katholische Kirche seiner Zeit.12 Und schließlich ordnet er Morus dem alten „sozialen" Katholizismus des Mittelalters zu, den er scharf absetzt vom doktrinären „Jesuitenkatholizismus" der Gegenreformation. 13 Doch als Epochenüberblick ist der erste Abschnitt so weit gefaßt, daß er nicht nur für die Utopia, sondern auch für andere Werke der Renaissance wie die „Essays" Montaignes, Rabelais' Schrift „Gargantua und Pantagruel" oder Erasmus' Studie „Lob der Narrheit" eine nützliche Folie abgeben könnte. Was fehlt, sind die konkreten Vermittlungen zwischen den epochenspezifischen Merkmalen der Renaissance und der Struktur von Mores Utopia. Dieser Aufgabe wendet sich Kautsky erst im zweiten und dritten Teil seiner Studie zu. Im Zentrum von Teil II steht die Persönlichkeit Thomas Mores, der er eine beträchtliche Ausstrahlungskraft attestiert. Zunächst wendet er sich dessen Biographien zu, die ihm zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Studie zur Verfügung standen. Es ist gewiß ein Ver9

Kautsky, Kautsky, 11 Kautsky, 12 Kautsky, 13 Kautsky, 10

S. 13. S. 86 f. S. 74. S.91. S.104.

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dienst Kautskys, ein weitaus realistischeres Bild des Autors der Utopia gezeichnet zu haben, als die hagiographischen Lebensbilder, die William Roper, Stapleton oder Creasacre More und andere zeichneten. Dabei stützt er sich vor allem auf Aussagen von Erasmus von Rotterdam. Zwar bewundert auch dieser seinen Freund Morus, dem er sein „Lob der Narrheit" widmet. Doch zu Recht betrachtet Kautsky den biographischen Abriss, den Erasmus uns 1519 in Form eines Briefes an Ulrich von Hutten überliefert, als eine wichtige Quelle. „Er enthält eine förmliche Lebensbeschreibung Mores bis zu diesem Datum von seinem vertrautesten Freunde, mit dem er jahrelang zusammen gewohnt und gewirkt. Wer könnte uns trefflicher mit More bekannt machen?"14 Das zweite Kapitel ist dem Humanisten More gewidmet. Es umfaßt dessen ganze Lebensspanne, ohne aber den Vollständigkeitsanspruch einer Biographie zu erheben. Selektiv interessieren Kautsky nur solche Lebensdaten, die für die geistige Entwicklung des „Kommunisten Morus" auf Gebieten relevant sind, „auf denen sich das soziale Leben äußert, vor allem die Entwicklung seiner ökonomischen, politischen und religiösen Anschauungen".15 Als humanistischer Schriftsteller, so Kautsky, habe ihn vor allem Piaton angezogen. Es ist später zu zeigen, welche Rolle dieser griechische Philosoph in der Sicht Kautskys bei dessen Konzipierung des „modernen Sozialismus" spielte. Das Kapitel schließt mit einer Würdigung des von Morus geforderten Frauenstudiums und seines positiven Verhältnisses zur Kunst und zu den modernen Naturwissenschaften. Das dritte Kapitel thematisiert das Verhältnis Mores zum Katholizismus. Kautsky vertritt hier die These, daß der „halbe Ketzer" 16 Pico della Mirandola Mores Ideal war, dessen Lebensbeschreibung er vom Lateinischen ins Englische übersetzte. Wie dieser habe er sich mit einem Katholizismus identifiziert, dessen christliche Lehren er mit dem Stand des Wissens seiner Zeit in Übereinstimmung zu bringen suchte. Als Vertreter eines derart „gereinigten" Katholizismus kennzeichnet Kautsky Morus als Gegner der „Pfaffenherrschaft" einerseits und Befürworter der religiösen Toleranz17 andererseits. Das vierte Kapitel schließlich untersucht den Politiker Morus. Nach der Schilderung der politischen Lage Englands charakterisiert Kautsky Morus zwar als Anhänger der Fürstenherrschaft, gleichzeitig aber als Gegner tyrannischer Regime. Diese 14 15 16 17

Kautsky, S. 119. Kautsky, S. 131. Kautsky, S. 147. Vgl .Kautsky, S. 147-160.

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Prämissen, ergänzt durch sein unbeugsames Festhalten am Katholizismus, machten nach Kautsky die Widersprüchlichkeit des Politikers Morus aus, als er, der Tyrannenhasser, in den Dienst des Königs Heinrich VIII. trat. Gezwungen, einen „Zweifrontenkrieg" gegen den Protestantismus einerseits und das tyrannisch gewordene Königtum andererseits zu fuhren, sei Mores Untergang - wie nach den ehernen Regeln einer griechischen Tragödie - vorgezeichnet gewesen. Doch Kautskys Interpretation wirft eine Reihe von Fragen auf. So muß er sich mit dem Problem auseinandersetzen, warum Morus, der politische Interessenvertreter der Handelsbourgeoisie der City of London und gleichzeitige Kämpfer gegen die absolutistische Despotie, den Dienst am Hof Heinrichs VIII., innerhalb dessen er bis zum Lordkanzler aufstieg, nicht ausschlug. Auch ist vom Standpunkt des historischen Materialismus nicht ohne weiteres schlüssig, wie der angeblich erste moderne Sozialist, der ein kommunistisches Utopia imaginierte, sich zugleich in den Dienst der fortgeschrittensten Kapitalfraktion Englands, der treibenden Kraft der bürgerlichen Modernisierung zu Beginn des 16. Jahrhunderts, stellen konnte. Den ersten Widerspruch sucht Kautsky durch die These aufzulösen, daß die Utopia ein politisches Programm enthalte, „das allgemeinen Beifall errang". Dessen Verfasser „war damit in die erste Reihe der englischen Politiker getreten. Wenn er auch wollte, er konnte jetzt dem Hofe nicht länger fernbleiben, gerade wegen seiner kühnen Kritik des bestehenden Absolutismus. More hatte damit aufgehört, ein bloßer Privatmann zu sein; er, der Liebling Londons, der England beherrschenden Stadt, der Liebling der Humanisten, die damals die öffentliche Meinung machten, er war ein politischer Faktor geworden, den man gewinnen oder vernichten mußte".18 Folgt man Kautsky, so hatte Morus also ganz wesentlich seinen politischen Aufstieg der 1516 erschienenen Utopia zu verdanken. Der in dieser Schrift vertretene Kommunismus, so Kautsky, schreckte niemanden, gab es doch keine Partei oder Organisation, die ihn zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft hätte formieren können. Aber diese Vermutung ist nicht ohne weiteres plausibel, wenn man bedenkt, daß der Kommunismus der Wiedertäufer von Münster zur gleichen Zeit den Fürsten, dem Adel und dem gehobenen Bügertum das Blut in den Adern erfrieren ließ. Nachvollziehbar wäre Kautskys These nur, wenn er hinzugefügt hätte, daß der Kommunismus des Thomas Morus keine Aufforderung zur sozialen Revolution enthielt, sondern von ihm 18

Vgl Kautsky,

S. 191.

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im Sinne Piatos als philosophisch begründetes regulatives Prinzip verstanden wurde. In diesem Sinne für die Humanisten und das Bürgertum nichts weiter als „eine anmutige Schwärmerei", sei ihnen dagegen die in dieser Schrift geäußerte Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen „aus der Seele gesprochen".19 Wenn Morus in Utopia zudem stabile politische Verhältnisse zum obersten politischen Prinzip erhebe, dann entspreche auch diese Maxime einem fundamentalen Anliegen der City of London, die für ihre Geschäfte nichts mehr wünschte als stabile und damit berechenbare staatliche Rahmenbedingungen.20 Kautsky war ehrlich genug zuzugeben, daß diese Erklärung für den politischen Aufstieg Morus' keinen direkten Beweis ins Feld führen konnte.21 Einerseits läßt sich die Zuordnung des sozialen Standortes von Morus zum Londoner Handelskapital nur halten, wenn man sie halbiert: Unter vollständiger Ausblendung des kommunistischen Impetus, von dem Utopia lebt, darf diese nur noch als Ordnungsfaktor ernst genommen werden: „Das Kapital hat stets nach ,Ordnung' gerufen, nur zeitweise nach ,Freiheit'. Die Ordnung war sein wichtigstes Lebenselement; More, in dem Ideenkreis des Londoner Bürgertums groß geworden, war daher ein ,Ordnungsmann', der nichts mehr scheute, als eine selbständige Aktion des Volkes. Alles für das Volk, nichts durch das Volk, war seine Losung."22 Gleichzeitig muß er aber zugeben, daß Morus zwar in praktischer Hinsicht Vertreter der Klasseninteressen der City of London war, „wenn er auch theoretisch über diese hinausragte"23, wie der Kommunismus Utopias hinlänglich dokumentiere. Diesen, so müssen wir Kautsky interpretieren, konnte er aber nur deshalb in ein „modernes" Gewand hüllen, weil er seine Kenntnisse der damals fortgeschrittensten politischen Ökonomie eben diesem Handelskapital verdankt: Nur aufgrund seiner Wirtschaftskompetenz avancierte er zu dessen Interessenvertreter. Umgekehrt versetzte sie ihn aber auch in die Lage, einen Kommunismus in Utopia zu konzipieren, der dem Frühkapitalismus auf gleicher Augenhöhe als nach vorn gerichtete Alternative gegenübertrat. Andererseits stellt seine Annahme einer unmittelbaren politischen Akzeptanz der Utopia eine Hypothese dar, die von der neueren For-

19 20 21 22 23

Vgl. Kautsky, S. 191. Vgl Kautsky, S. 194 f. Vgl. Kautsky, S. 190. Kautsky, S. 194 f. Kautsky, S.194; Marx, Das Kapital, Bd.l, S. 746.

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schung widerlegt worden ist. Auch wenn später Oncken24 und Ritter 25 diesen Topoi übernahmen, war Utopia zu keinem Augenblick das Programm eines im „Wartestand" befindlichen Politikers.26 Vielmehr ist davon auszugehen, daß Utopia eher das Ende seiner humanistischen Schaffensperiode markiert. Nicht als Machtfaktor, sondern als Dekoration war der Humanist Morus für Heinrich VIII. interessant. ,„Utopia' erschien im Dezember 1516 und brachte seinem Verfasser einen zwar sehr bescheidenen, aber doch immerhin internationalen Ruf. Morus war in jenen Jahren der einzige Engländer, der ein Buch geschrieben hatte, das auch auf dem Kontinent relativ viel gelesen wurde. Könige hatten gerne zur Dekoration ein paar Schriftsteller an ihrem Hof. Mit Thomas Morus konnte Heinrich sich in die Gesellschaft der französischen Könige, deutschen Kaiser und italienischen Fürsten einreihen, die Schriftsteller bei Hofe hatten, um etwas literarischen Glanz in den grauen Alltag der Regierungsgeschäfte zu bringen".27 Daneben war Morus ein glänzender Redner, ein angenehmer Gesellschafter und ein guter Rechtsanwalt: Qualifikationen, die ein frühabsolutistischer Monarch wie Heinrich VIII. wohl zu schätzen wußte. Ausgehend von der derzeitigen biographischen Quellenlage, die Kautsky selbstverständlich nicht zur Verfügung stand, spricht umgekehrt vieles dafür, daß Morus seine politische Karriere am Hofe Heinrichs VIII. selber aktiv anstrebte. Seine Motive waren vielfältig, wie Marius zeigt. Wenn er z. B. 1516 eine Pension des Königs ablehnte, dann nicht aus Mangel an Ehrgeiz, sondern aufgrund ihrer zu niedrigen Dotierung. „Ammonius schrieb im Februar an Erasmus, Morus sei von seinem rühmlichen Dienst bei der flandrischen Mission zurückgekehrt und sitze jetzt oft im Palast am Kamin. Keiner wünsche Wolsey (dem damaligen Lordkanzler, R.S.) früher ,guten Morgen' als Morus, sagte Ammonius."28 Treffen diese Aussagen zu, so hat die Karriere des Morus am Hofe Heinrichs VIII. mit dem Erfolg der Utopia nur sehr indirekt etwas zu tun:

24 Vgl. Hermann Oncken, Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jg. 1822, 2. Abhandlung, Heidelberg 1922. 25 Vgl Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, Stuttgart 1964. 26 Vgl. Richard Saage, Morus' Utopia und die Macht. Zu Hermann Onckens und Gerhard Ritters Utopia-Interpretation, in: UTOPIEkreativ 183, Januar 2006, S. 37-47. 27 Richard Marius, Thomas Morus. Eine Biographie, Zürich 1987. 28 Marius, S. 250.

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Er war zwar international, beschränkte sich zu Mores Lebzeiten aber im wesentlichen auf die Kreise der Humanisten. III. Nach dem Epochenüberblick und der Beschäftigung mit der politischen und humanistischen Laufbahn des Katholiken Morus, die sich in Kautskys Darstellung wie konzentrische, wenn auch weitgehend isolierte Kreise überlappen, fokussiert der dritte - das Zentrum markierende innere Zirkel - Morus' weltberühmte Schrift Utopia. Im ersten Kapitel dieses dritten Abschnittes setzt sich Kautsky mit More freilich als Ökonom und Sozialist auseinander. Er kommt zu dem Schluß, daß die wesentlichen Wurzeln des Sozialisten Morus in den folgenden Sachverhalten auszumachen seien: „sein liebenswürdiger, dem urwüchsigen Kommunismus entsprechender Charakter; die ökonomische Situation Englands, welche die der Arbeiterklasse nachteiligen Folgen dès Kapitalismus besonders scharf erkennen ließ; die glückliche Verbindung klassischer Philosophie mit praktischer ökonomischer Tätigkeit - alle diese Umstände vereint mußten in einem so scharfen, so unerschrockenen, so wehrhaften Geiste, wie dem Mores, ein Ideal entstehen lassen, das als eine Vorahnung des modernen Sozialismus gelten darf'. 29 Die dann folgende ökonomische Kritik, die Morus in seiner Schrift an den wirtschaftlichen Verhältnissen seiner Herkunftsgesellschaft übt, rekonstruiert Kautsky anhand eines langen Zitates aus der Utopia die Diskussion beim Kardinal Morton: Sie gipfelt bekanntlich in dem Ausspruch des Hythlodeus, auf den sich, wie gezeigt, bereits Marx im Ersten Band des „Kapital" berief: „Das sind euere Schafe [...], die sanft und genügsam waren und nun, wie ich höre, zu so gierigen reißenden Bestien geworden sind, daß sie selbst Menschen verschlingen und ganze Felder, Häuser, Gemeinden verzehren und entvölkern."30 In der Tat hatte der Marxist Kautsky allen Grund, die ökonomische Kritik, mit der Morus diese Metapher im sozialgeschichtlichen Zusammenhang erläuterte, in dessen Worten unkommentiert selbst sprechen zu lassen, zumal die Väter des „wissenschaftlichen Sozialismus" deren politkökonomische Ursachenanalyse mitsamt der Reaktion der englischen Justiz auf die massiven sozialen Entwurzelungsprozesse dieser „ursprünglichen Akkumulation" kaum prägnanter hätten analysieren können, als Morus es getan hat. 29 30

Kautsky, Thomas More, S. 229. Kautsky, S. 233.

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Im folgenden wendet sich Kautsky der Frage zu, wie sich Morus' Absage an jede Form der Ausbeutung „mit der Verteidigung des Katholizismus, der Ausbeutung durch Klöster und den Papst"31 vereinbaren läßt. Für Morus, so Kautsky, war die Option für den Katholizismus unabwendbar, weil er in ihm das geringere soziale Übel sah. Während der erstarkende Protestantismus aufgrund der ihm eigenen Ethik bei der Konfiskation der Klöster und frommen Stiftungen durch den Absolutismus den kapitalistisch gesonnenen Großgrundbesitzern und Spekulanten in die Hände spielte, habe Morus im Katholizismus wegen seiner aus der Feudalzeit stammenden sozialen Dimension ein „Hindernis der Proletarisierung der Volksmassen"32 gesehen. Zugleich signalisierte nach Kautsky dieser Tatbestand die entscheidende polit-ökonomische Trennlinie zwischen Morus und Münzer. Während sich dieser im Namen des Protestantismus auf die Volksmassen berief, distanzierte sich Morus von ihm in dem Maße, wie sich der Protestantismus auf dem Kontinent zu einer Massenbewegung auswuchs, die schließlich auf einen blutigen Bürgerkrieg zusteuerte. „So sehnsüchtig auch More wünschte, seinen Idealstaat verwirklicht zu sehen, so scheu bebte er vor dem Versuch zurück, der Ausbeutung von unten her ein Ende zu bereiten."33 Auch wenn Kautsky selber diese Schlußfolgerung nicht zieht, liegt es in der Logik seiner Argumentation, daß für Morus sowohl die Wiedertäuferbewegung als auch die in einem Bürgerkrieg mit den Fürsten verwickelte Bauernschaft im Zuge der Reformation ideologisch verblendet waren, weil sie sich von ihrem eigentlichen sozialen Schutzpatron, der katholischen Kirche, abgewandt hatten und damit ein wesentliches Bollwerk gegen die Kapitalisierung der Agrarverfassung zerstörten. Erst im zweiten Kapitel des dritten Abschnittes wendet sich Kautsky der Textanalyse der Utopia zu. Zunächst läßt er eine beachtliche philologische Akribie erkennen, wenn er den in seiner Zeit weitverbreiteten deutschen Utopia-Übersetzungen gravierende Fehler nachweist. Nach dieser kritischen Auseinandersetzung mit den Editionen der Utopia um 1880 in Deutschland dokumentiert Kautsky anhand langer Zitate aus der Morusschen Schrift vom 3. bis zum 6. Kapitel die Produktionsweise, die Familienstruktur, die Politik, Wissenschaft und Religion sowie den Zweck der Utopia. Welche neuen Akzente in der Utopia-Forschung haben wir Kautkys Interpretation zu verdanken? Innerhalb des marxisti31 32 33

Kautsky, S. 240. Kautsky, S. 240. Kautsky, S. 248.

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sehen Interpretationskontextes seiner Zeit fällt auf, daß er in einer entscheidenden Hinsicht über die Marxsche Utopia-Rezeption hinausgeht. Wie gezeigt, sah Marx in diesem Text einen wichtigen Beleg für die „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" in England. Entsprechend ordnete er Morus als einen Vorläufer der bürgerlichen politischen Ökonomie ein. Kautsky dagegen erweiterte das Spektrum: Für ihn ist darüber hinaus die Utopia ein wichtiger Beleg früher Vorformen des modernen Sozialismus marxistischer Provenienz selbst. In diesem Licht mußte sich Kautskys Ansatz aber auch vom damals vorherrschenden „bürgerlichen" Interpretationsmuster der Utopia distanzieren. „Man stellt, namentlich in Professorenkreisen, die ,Utopia' vielfach als eine humanistische Spielerei hin, als eine Wiederaufwärmung des Platonischen Kommunismus. Aber schon das erste Buch, die Einleitung mit dem kritischen Teil, zeigt, wie verschieden die ,Utopia' von der Republik Piatons ist, wie völlig modern. [...] Piaton findet seinen Kommunismus bei der Darlegung des Begriffs der Gerechtigkeit. Der Kommunismus Mores wird dagegen begründet mit einer Kritik der bestehenden und ökonomischen Zustände." Aber nicht nur von ihren methodischen Ausgangspunkten her gesehen seien beide Schriften strikt zu unterscheiden. Auch die Ziele und Forderungen beider Kommunismusvarianten zeigten qualitative Differenzen auf. Sie legten fur Kautsky den Schluß nahe, daß die Gleichstellung des Kommunismus in der Politela einerseits und der Utopia andererseits ungefähr ebenso vernünftig sei wie die Identifikation eines Ziegels mit einer Rose aufgrund der Tatsache, daß beide rot sind.35 Allerdings schränkt Kautsky diese Aussage auch wieder ein, wenn er konzediert: „Mehrere Äußerlichkeiten sind ihnen freilich gemein. Aber nur oberflächliche Beschauer können sich dadurch täuschen lassen."36 Doch um welche „äußerliche" gemeinsame Schnittmenge handelt es sich? Kautsky hat, wie bereits hervorgehoben, den biographischen Abriß über Morus, den Erasmus in seinem Brief an Hutten überlieferte, als Quelle sehr ernst genommen. Danach war Morus schon als junger Mann mit den kommunistischen Ideen Piatons vertraut und offenbar von ihnen so eingenommen, „daß er sie [mitsamt der Weibergemeinschaft] in seiner Schrift verteidigen wollte".37 Daraus zieht Kautsky den Schluß, man komme nicht umhin, „zuzugeben, daß die ,Utopia' von der Platonischen 34 35 36 37

Kautsky, Kautsky, Kautsky, Kautsky,

S. 262. S. 262. S. 262. S. 134.

34

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,Republik' beeinflußt worden ist".38 Ferner weist er auf weitere Stellen in der Utopia hin, die Piatons Spuren dokumentieren. So erhelle aus einem kurzen Gedicht, das Morus der Utopia voranstellt, daß er bei deren Niederschrift das platonische Staatsideal vor Augen gehabt habe, wenn er sie als „Nebenbuhlerin" des platonischen Staates bezeichnete, den es freilich noch zu überbieten gelte.39 Und außerdem lasse Morus im ersten Buch Hythlodeus sagen, daß er dem Diktum Piatons Recht gebe, wonach gute Gesetze nur in einem Staat greifen können, der auf der Grundlage des Gemeineigentums errichtet sei.40 Auch in der Bevölkerungsfrage ziehen Kautsky zufolge Morus und Piaton an einem Strang: Sie optieren nämlich beide fur ein stationäres Gemeinwesen. „Das Beharren der Bevölkerung auf einem bestimmten Stande mußte er [...] ebenso wie Piaton voraussetzen, da beide ihre Gemeinwesen auf der Grundlage von Bauerntum und Handwerk aufbauten." 41 Weitere Indizien, die Kautsky nicht nennt, kommen hinzu. So irrt er, wenn er Piaton unterstellt, es gehe ihm in seinem „Politeia"-Dialog lediglich abstrakt um die Idee der Gerechtigkeit. Die Strukturanalogie zu Morus' Utopia besteht vielmehr darin, daß beide Dialoge auf krisenhafte Tendenzen ihrer jeweiligen Herkunftsgesellschaft reagieren: Piaton auf die ökonomische und politische Dynamik der attischen Demokratie42; Morus auf die desintegrierenden Tendenzen der ursprünglichen Akkumulation in England zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Diese historische Analogie vorausgesetzt, verwundert es nicht, daß kein antikes Werk in der Utopia so häufig genannt wird wie Piatons „Politeia". Gleichfalls ist das strikte Luxusverbot, das in Utopia herrscht, ebenso platonischer Provenienz wie der Staatsaufbau Utopias selbst: Auf Statik und Konfliktfreiheit angelegt, mutieren Piatons Philosophen zu jener gelehrten politischen Elite, die, von körperlicher Arbeit entlastet, trotz aller demokratischen und monarchischen Gegengewichte in Morus' idealer Republik die öffentlich relevante Willensbildung steuert. Und schließlich tritt der Geltungsanspruch Utopias als eines Ideals bzw. eines regulativen Prinzips nicht aus dem Schatten der Ideenlehre, wie Piaton sie in der „Politeia" entwickelte. Ob diese zahlreichen Übereinstimmungen mit dem 38

Kautsky, S. 134. Kautsky, S. 135. 40 Kautsky, S. 135. 41 Kautsky, S. 306. 42 Vgl. hierzu Richard Saage, Demokratietheorien. Historischer Prozess - Theoretische Entwicklung - Soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 58-60. 39

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Hinweis abzutun sind, daß sich die „Verwandtschaft mit der Platonischen ,Republik' [...] wesentlich auf Äußerlichkeiten beschränkt"43, erscheint zumindest fraglich. Aber diese einschränkenden Hinweise sind noch kein Einwand gegen Kautskys These, Morus' Utopia übernehme vom modernen kapitalistischen System induzierte Elemente, die diese in Absetzung vom antiken Konstrukt Piatons zumindest in Ansätzen mit einer ebenso „modernen" Alternative konfrontiere. Was ist also „modern" am Kommunismus Utopias? An erster Stelle nennt Kautsky das primäre Staatsziel Utopias, das „weder dem urwüchsigen noch dem platonischen Kommunismus eigen war": Es bestehe darin, allen Bürgern zu ermöglichen, ,jede Zeit, die nicht von den Bedürfnissen der Gemeinschaft in Anspruch genommen wird, der körperlichen Arbeit zu entziehen und der freien Tätigkeit und Entfaltung ihres Geistes zu widmen. Doch darin sehen sie die Gückseligkeit des Lebens".44 Sodann nennt Kautsky in Verbindung mit dieser Maxime den freien Zugang aller zur wissenschaftlichen und kulturellen Bildung, der bei Piaton nur der polischen Elite der Philosophen offen stand.45 Allerdings nähert sich Morus Piatons Muster in der Hinsicht auch wieder an, daß er eine Klasse von Gelehrten vorsieht, die sich ausschließlich der wissenschaftlichen Arbeit zuzuwenden haben46. Piatons „Politeia", so Karl Kautsky weiter, zerfalle „in scharf voneinander abgegrenzte Stände, und der Kommunismus war bei Plato ein Privilegium des obersten derselben".47 Ganz anders der Kommunismus der Utopier: Als Erbe des modernen Kapitalismus übernehme er dessen Option der Aufhebung ständischer Unterschiede. Zugleich gehe er aber über diesen dadurch hinaus, daß er die freie Konkurrenz durch eine zentralisierte Planwirtschaft auf nationaler Grundlage ersetze, „welche die Produktion organisiert, den Bedarf und die Mittel zu dessen Deckung feststellt und die Arbeitsprodukte dieser Statistik entsprechend verteilt". 48 Vor allem aber unterscheidet sich Morus von Piaton dadurch, daß die Utopier die Arbeitspflicht für alle, also für Mann und Frau, einführen. „Dieser große Grundsatz verbindet ihn aufs engste mit dem modernen 43

Kautsky, Kautsky, Kautsky, 46 Kautsky, 47 Kautsky, 48 Kautsky, 44

S. 135. S.314. S. 314. S. 315. S. 285. S. 285.

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Sozialismus, scheidet ihn aufs strengste vom Kommunismus Piatons, der ein Kommunismus der Nichtarbeiter, der Ausbeuter ist. Der bevorrechtigte Stand der platonischen Republik, die ,Wächter4, die allein im Kommunismus leben, betrachten die Arbeit als etwas Entwürdigendes; sie leben von den Abgaben der arbeitenden Bürger." 49 Ferner konfrontiert Morus der Frauen- und Kindergemeinschaft Piatons die monogame patriarchalische Ehe, die, allerdings auf freier Partnerwahl beruhend, die Utopier durch rigide Bestrafung des Ehebruchs schützen.50 „Die Aufrechterhaltung der Unterordnung der Frau und des patriarchalischen Einzelhaushalts stehen dagegen im Widerspruch zu Tendenzen des modernen Sozialismus und auch im Widerspruch zu den Tendenzen des Moreschen Sozialismus selbst."51 Schließlich erwähnte Piaton die Sklaverei in der „Politeia" mit keinem Wort. Aber diese Institution war fur ihn - wie für die meisten antiken Denker - eine solche Selbstverständlichkeit, daß er sie gar nicht erwähnte. Morus dagegen kann tendenziell aufgrund der Arbeitspflicht für alle der Sklaverei entraten. Wenn sie als Institution noch eine marginale Rolle spielt, dann als Folge der Kriegsgefangenschaft und des Strafvollzugs. 52 Diesem Katalog der Differenzen zwischen Piatons und Morus' Ansatz wäre lediglich hinzuzufügen, daß Piaton der gesamte Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion, also der Sphäre der Wirtschaft, in der Handwerker, Händler, Reeder, Bankiers, Bauern und Sklaven die Versorgung und den Wohlstand der antiken Gesellschaft garantieren, wenig interessiert. Morus dagegen verwendet in Utopia große Mühe darauf, ein sozioökonomisches Modell zu entwikkeln, das zumindest von seinen Prämissen her eine Gesamtgesellschaft mit den fürs Überleben notwendigen materiellen Gütern versorgen könnte. Es steht außer Frage, daß Kautsky mit der Herausarbeitung der Differenzen zu Piatons „Politeia" innovative Wege in der Utopieforschung in Deutschland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegangen ist. Aber diese Leistung wird überdeckt durch seine These, Utopia habe im Grunde kein eigenes, autonomes Genre hervorgebracht, sondern müsse wegen des noch „unreifen" gesellschaftlichen Entwicklungsstandes des Kapitalismus im England des 16. Jahrhunderts auf eine „Vorform des modernen Sozialismus" heruntergestuft werden, der seinen authentischen 49 50 51 52

Kautsky, Kautsky, Kautsky, Kautsky,

S. 286. S. 304. S. 305. S. 237 f.

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Ausdruck erst im Marxismus gefunden habe. Ob diese teleologische Betrachtungsweise der Utopia des Thomas Morus zu halten ist, wird abschließend zu untersuchen sein. IV. Kautskys im Sinne der marxistischen Geschichtslogik teleologische Beurteilung der Utopia des Thomas Morus ist durch einen immanenten Spannungsbezug geprägt. Einerseits verdanken wir ihr „den ersten Versuch, eine Produktionsweise zu malen, die den Gegensatz zur kapitalistischen bildet, gleichzeitig aber an den Errungenschaften festhält, die die kapitalistische Zivilisation über die vorherigen Entwicklungsstufen hinaus gemacht hat, eine Produktionsweise, deren Gegensatz zur kapitalistischen nicht in der Reaktion besteht".53 Andererseits entspreche sie nur eingeschränkt dem marxistischen Erwartungshorizont. Noch stark von der handwerklichen und der bäuerlichen Produktionsweise des 16. Jahrhunderts geprägt, falle nämlich der Morussche Sozialismus trotz aller Modernität hinter die Kriterien eines kommunistischen Ansatzes zurück, der den Erfordernissen einer durch die Industrialisierung geprägten Zivilisation Rechnung trägt. Und was den Geltungsanspruch der Utopia betreffe, so habe Morus dessen Durchsetzung sich nicht anders als durch einen mächtigen Fürsten vorstellen können, der dieses Konzept als eine im Kopf fertige Fiktion - „der Menschheit von oben herab aufoktroyieren sollte",54 anstatt auf den Klassenkampf und die aus ihm folgende „Logik der Tatsachen"55 zu setzen. Kautskys Einordnung der Utopia in die marxistische Fortschrittsphilosophie und ihre Reduktion auf eine der unteren Stufen der gesellschaftlichen Entwicklungsskala wirft eine Reihe von Fragen auf: 1. Wird Kautskys Betonung der strukturellen Bedeutungspräferenz der „Basis", also der sozioökonomischen Reproduktionsmechanismen der Bedeutung des „Überbaus", d. h. des politischen Systems Utopias im engeren Verständnis gerecht? 2. Begriff sich Morus selber als Sozialist in dem Sinne, daß er die idealisierende Schilderung des kommunistischen Gemeinwesens Utopias in jedem Punkt und ohne Vorbehalt akzeptierte? 3. Ging er, wie Karl Kautsky behauptet, davon aus, daß Utopia tatsächlich verwirklicht werden sollte?

53 54 55

Kautsky, S. 249. Kautsky, S. 249. Kautsky, S. 249.

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Was die erste Frage betrifft, so deckt ihre Beantwortung den kognitiven Preis auf, der zu zahlen ist, wenn man Morus' Utopia in einer orthodox marxistischen Perspektive interpretiert. Von der Wiedergabe eines einschlägigen Zitates abgesehen, erfahren wir nämlich genauso wenig vom institutionellen Aufbau wie von den Funktionen des politischen Systems Utopias. Es wird in der Sicht Kautskys vollständig überlagert von der Ökonomie, dem Haushalt, der Familie und der Ehe: Institutionen, welche die gesellschaftliche Reproduktion sichern. „Von geringerer Bedeutung erscheint uns der politische und ideologische Überbau. Von Politik ist in einem kommunistischen Gemeinwesen überhaupt nicht viel zu sagen."56 Kautsky versteigt sich sogar zu der These, daß in Utopia „mit der Aufhebung der Klassengegensätze die politischen Funktionen einschlafen und das Gemeinwesen sich aus einem politischen Gemeinwesen in eine Produktionsgenossenschaft umwandelt".57 Man wird sagen können, daß eine solche materialistische Deutung der innenpolitischen Realität Utopias nicht gerecht wird: Sie läuft auf eine Verharmlosung des rigiden Antiindividualismus hinaus, den Kautsky mit keinem Wort erwähnt. In Utopias politischer Verfassung gibt es keine Sphäre unantastbarer individueller Menschenrechte; die Sphäre der Privatheit ist ebenso reduziert 58 wie die Bewegungsfreiheit der Bürger 59: Beide unterliegen der strikten Kontrolle der Obrigkeit. Im übrigen übersieht Kautsky, daß in Utopia aufgrund der materiellen Gleichstellung allen Klassenkonflikten der Boden entzogen ist. Dennoch kontrolliert der „starke Staat" das Leben der Bürger von der Wiege bis zur Bahre: Die etatistische Präsenz hat, was Kautsky übersieht, weniger eine ökonomische als eine anthropologische Fundierung, welche gravierendes Fehlverhalten nicht ausschließt.60 Die menschliche Natur, so müssen wir Morus interpretieren, ist zwar weder positiv noch negativ festgelegt. Doch bedarf sie starker Institutionen, um in die von Utopia geforderte Richtung der Tugendhaftigkeit gelenkt zu werden. Die zweite Frage verweist auf die Kritik, die Morus an den kommunistischen Vorstellungen seines alter ego, Hythlodeus, übt. Das kommunistische Gemeineigentum verführe zur Indolenz61, seine Einfuhrung 56

Kautsky, S. 309. Kautsky, S.313. 58 Vgl. Thomas Morus, Utopia, (ins Deutsche übersetzt von Gerhard Ritter), Frankfurt a. M. 1986, S. 87. 59 Morus, S. 98. 60 Vgl. Morus, S. 114, 165. 61 Vgl. Morus, S. 67 f. 57

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rufe die Gefahr von Mord und Totschlag hervor 62, und schließlich laufe es auf eine trostlose Nivellierung der gesellschaftlichen Ränge hinaus.63 Kautsky versucht, dieser vernichtenden Kritik dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen, daß Morus angeblich aus Rücksichtnahme auf die Zensur in der Utopia die „Vertretung seines Standpunktes einem anderen, Raphael Hythlodeus, überlassen (habe), indes er sich selbst einfuhrt als teilweiser Gegner seiner Auffassung. Aber nicht das, was More, sondern was Raphael sagt, ist bedeutend".64 Immer wieder betont er: „Thomas Morus' wirkliche Ansichten werden von Raphael ausgesprochen."65 Einen anderen für sich sprechen zu lassen, sei nicht nur die Aufwärmung einer klassischen Form, sondern „auch eine Vorsichtsmaßregel gegenüber dem argwöhnischen Despotismus".66 Die Schwäche der Argumentation Kautskys beruht auf ihrem hypothetischen Charakter. Warum sollte ein Denker von der hochgradigen Reflexivität eines Thomas Morus nicht aus sachlichen Gründen mit Gegenargumenten den kommunistischen Ansatz gleichsam immanent kritisiert haben? Deckt es sich nicht mit seinen selbst-reflexiven ironischen Stilmitteln, daß er nicht Hythlodeus in verfremdender Absicht unerbittlich auf die möglichen Defizite bzw. auf den Preis aufmerksam macht, der mit der Einführung des Gemeineigentums verbunden sein könnte? Und wie wäre es ihm bei seiner - auch von Kautsky nicht bezweifelten - persönlichen Integrität möglich gewesen, nicht nur der führende juristische Interessenvertreter des Handelskapitals der City of London und schließlich Lordkanzler im Dienst Heinrichs VIII. zu werden, wenn er in seinem Text nicht eine deutliche Distanz zu Hythlodeus erkennen ließe? Wenn es aber zutrifft, daß Utopia zugleich auch eine radikale Infragestellung des kommunistischen Gemeineigentums impliziert, kann Kautskys instrumentalisierender Zugriff auf die Utopia im Sinne einer Subsumtion unter den „Sozialismus" nicht überzeugen: Es läßt sich mit dem Text besser vereinbaren, Utopia als den Prototyp eines selbständigen Genres zu betrachten, welches zwar mit sozialistischen Elementen konvergieren kann, mit diesen aber nicht unbedingt identisch sein muß. Dieser Schluß scheint auch nahezuliegen, wenn wir uns der dritten Frage zuwenden, die auf den Geltungsanspruch der Utopia abzielt. Kautsky be62 63 64 65 66

Morus, S. 68. Morus, S. 177. Kautsky, S. 181. Kautsky, S. 239. Kautsky, S. 258.

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hauptet, Morus habe nichts mehr gewünscht, als die Verwirklichung Utopias. Er verzichtete angeblich nur deswegen auf eine Transformationsstrategie, weil ihm weder eine kampfbereite Arbeiterklasse noch eine effektive Partei bzw. Organisation zu Gebote stand. Doch auch diese These ist spekulativ, während Morus' Text an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Utopia heißt Nicht-Ort: Sie ist das fiktive Bild einer Gesellschaft, die wir haben oder nicht haben wollen. Zwar gebe es vieles in Utopia, was man in Europa übernehmen sollte. Aber der Gedanke an eine Eins-zu-eins-Umsetzung ist Morus fremd: Hier setzt er sich in weitaus höherem Maß mit Piaton ineins, als Kautsky es wahrhaben möchte.67 Der „Himmel der Ideen" ist strukturell von den irdischen Realitäten getrennt. So verhält es sich auch mit dem utopischen Genre. Es kann, so die Botschaft Morus', seine Autonomie als Genre und seine Rolle als regulative Idee in der politischen Praxis nur dann behaupten bzw. erfüllen, wenn es sich dem instrumentalisierenden Zugriff und einem wie auch immer begründeten Verwirklichungszwang entzieht. Andernfalls verlöre Utopia ihre Offenheit und ihre normative Kraft, deren Garant der Kritiker Morus selbst ist: als das alter ego des Hythlodeus, des Parteigängers der Utopier.

67

Vgl. Morus, Utopia, S. 177.

Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen und der politische Ursprung des „Zeitkerns der Wahrheit" Von Carsten Schlüter-Knauer In seinen Veranstaltungen und Schriften ist Wilfried Röhrich immer wieder auf Walter Benjamins* „Lehre vom ,Zeitkern' der Wahrheit" eingegangen, „wonach Wahrheit nicht in der Zeit, sondern Zeit, umgekehrt, in der Wahrheit ist". Insbesondere in seiner Einleitung zu den „Denkern der Politik" stellt Röhrich die anspruchsvolle Sentenz Benjamins in den strikten Zusammenhang politischer Philosophie von Hegel, Nietzsche, Horkheimer und Adorno, um dermaßen gegen die Beanspruchung überhistorischer Wahrheit einerseits und der damit korrespondierenden Unterscheidung zu ihr bloß subsumierbaren Fakten andererseits das Absolute kritisch auf seine Zeit zurück- und die Studierenden in das Grundverständnis humanistischer Kritik des Bestehenden einzuführen. 1 Im Grunde stellt sich die Frage nach der Wahrheit paradoxerweise erst und schon dann, wenn Wahrheit nicht als absolut und politikextern suggeriert, sondern als gemacht erkannt und ihr „Zeitkern" - wie Walter Benjamin sagt akzeptiert wird 2. Denn zum einen ist nach der Wahrheit nur sinnvoll zu * Die Zitatstellen im Text stammen aus den folgenden Werken bzw. Ausgaben von Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, [geschrieben mutmaßlich 1940], in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Walter Benjamin zum Gedächtnis, Los Angeles 1942; angeführt nach: Gesammelte Schriften, Bd. I., Frankfurt a. M. 1974, S. 691-704, Apparat der Hrsg., S. 1223-1259; zitiert zumeist nach Thesennummer und Seitenzahl. Ders., Das Passagen-Werk, [entstanden zwischen 1927-1940], angeführt nach: Gesammelte Schriften, Bd. V. 1/2, Frankfurt a. M. 1982; zitiert nach Konvolut und Seitenzahl. 1 Wilfried Röhrich, Denker der Politik, Opladen 1989, S. 7 ff. 2 „Wahrheit ist nicht - wie der Marxismus es behauptet - nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden", Ν 3, 2, S. 578; vgl. dazu Rolf Tiedemann, Anmerkungen des Herausgebers, in: Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65), Frankfurt a. M. 2001, S. 404. „Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern", XVII., S. 703.

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fragen, wenn sie sich nicht von selbst versteht. Und zum anderen sind gedankliche und praktische Spielräume für politisches Handeln beschrieben oder eröffnet, wenn Wahrheit nicht als vorgegeben gilt. Und die theoretische Analyse hat erst dann ernsthafte Entfaltungsmöglichkeiten. Es soll nun erstens dem historisch-politischen Ort dieses Benjaminschen Theorems - d. h. seinem eigenen Zeitkern - nachgegangen werden, um zweitens durch die praktische Anwendung des Theorems auf sich selbst ein politisches Verständnis der Thesen „Über den Begriff der Geschichte" aus seinem Todesjahr 1940 zu gewinnen. Denn diese Zuspitzung erlaubt es, die Thesen von Walter Benjamin als einen Versuch zu verstehen, in politisch außerordentlichen und verstellten Umständen die verbleibenden Chancen für demokratische und sozialistische Politik auszuloten sowie dabei gerade durch einen - nicht widerspruchsfreien Abschied von der Geschichtsmetaphysik die politischen Subjekte in die politische und wissenschaftliche Debatte zurückzubringen. In politischer Absicht und nicht als bloße Willkür leuchtet seine folgenreiche Methode ein, die Geschichte wie einen Text „gegen den Strich" ihrer geläufigen Interpretationen zu lesen, die diejenigen der „Sieger" seien und von ihnen „verschüttete" Möglichkeiten aufspüren wollen. Um 1940 führte Nazideutschland überaus erfolgreiche „Blitzkriege", es war die Zeit des Polen- und des Westfeldzugs sowie der Besetzung Dänemarks und Norwegens. Der August 1939 sah den Hitler-Stalin-Pakt. Angesichts der zunächst noch unabsehbaren diplomatischen und kriegerischen Siege des nationalsozialistisch beherrschten Deutschen Reichs und des Aufwinds für autoritäre Regime und Diktaturen lag es für viele geflohene oder vertriebene Nazigegner offenbar nahe, sich prinzipiell über die Möglichkeiten oder auch die Grenzen politischer Subjektivität klarzuwerden. Es war ein historischer Moment, in dem politisches Handeln und die politische Subjektivität insgesamt auf dem Spiel standen, was politische Grundsatzüberlegungen anregte, die zu ganz gegensätzlichen Ergebnissen führten, wie es eben exemplarisch Benjamins Thesen und besonders Joseph Schumpeters desillusionierte „andere Theorie der Demokratie" offensichtlich machen. Letztere wurde 1942 veröffentlicht und wollte die Ansprüche an Demokratie nunmehr zugunsten des Führungsanspruchs konkurrierender demokratischer Eliten niedrig stellen, Politik dafür in Termini wie Angebot und Nachfrage fassen und damit die als verantwortungslos und wenig urteilskräftig erlebten bisherigen

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politischen Subjekte nunmehr in einer bloßen Konsumentenrolle passivieren.3 Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte" beinhalten hingegen eine die demokratische Antike als Aktivitätsvorbild einbeziehende Diskussion über die Relevanz politischer Subjektivität. Die Position, mit der er sich auseinander zu setzen hatte, war aber nicht die Schumpetersche, sondern die Akzeptanz eines gewissermaßen subjektlosen Selbtslaufs der Systeme und damit der Geschichte. Im Sinne eines unabgegoltenen Gehalts politischer Subjektivität möchte Benjamin im bedrohten Paris des Jahresanfangs 1940 und in dieser für demokratische Linke überhaupt politisch äußerst schwierigen Lage durch das Paradoxon eines konstruktiven Geschichtsbewußtseins der Diskontinuität onen egalitärer und emanzipativer politischer Subjektivität (vgl. XII., S. 700) vermitteln. Hingegen werde dem von ihm als katastrophal angesehenen „Kontinuum der Geschichte" (XV., S. 701) auch durch die klassischen sowie die szientifischen Fortschrittskonfessionen und durch eine korrespondierende „technokratische", d. h. „positivistische Konzeption" der Natur und der Arbeit und deren gemeinsam partiell unheilvollem, ζ. B. attentistischen Fortwirken in der Arbeiterbewegung - möglicherweise kontraintentional - zugearbeitet.4 Ihr hierdurch erleichtertes Einfügen in das Bestehende, ihr „Konformismus" (XI., S. 698), hätte zu dem - in Benjamins Sicht vollends fatalen - Hitler-Stalin-Pakt mit beigetragen (X., S. 698). So wollte er mit seinen geschichtsphilosophischen Thesen gerade Freiheitsgrade gegenüber deterministischen und damit der Politik antagonistischen herrschaftlichen Geschichtsauffassungen eines „Fortschritts als ... historischer Norm" zurückgewinnen (VII. f., S. 696 f.), weil es für ihn unter dem Schock des Hitler-Stalin-Paktes überlebenswichtig wurde (X., S. 698), noch „den Funken der Hoffnung" anfachen zu können (VI., S. 695). Soma Morgenstern unterstreicht in seinen Briefberichten an Gershom Scholem verschiedentlich die fundamentale Erschütterung Benjamins vom Hitler-Stalin-Pakt, durch den er den Kommunismus diskreditiert gesehen haben soll, und dessen Bedeutung fur die Abfassung der Thesen, mit denen Benjamin nun - einerseits - definitiv negative Grundannahmen seiner Vorstellung eines „Historischen Ma-

3

Joseph A. Schumpeter , Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942, dt.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen/Basel 1993, S. 448 ff. 4 Benjamin, , VIII., S. 697; XI., S. 698 f.; XIII., S. 700 f.

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terialismus" zu revidieren meinte.5 Als „kopernikanische Wendung" der historischen Anschauung heißt es bei Benjamin (K 1,2, S. 490) - andererseits nämlich auch gegen eine Hermeneutik der Einfühlung gewandt, die in seiner damaligen Sicht doch allemal die „in den Sieger" sei6 - und im Sinne der Methode einer konstruktiven Geschichtsbetrachtung aus dem Gesichtspunkt der Nachträglichkeit respektive der „Lesbarkeit" des „Vergangenen" aus dem Entdeckungspotential der Gegenwart7: „Die Politik erhält den Primat über die Geschichte" (K 1,2, S. 491). Benjamin geht es dabei um eine Geschichtskonstruktion, die in der Perspektive der Opfer, der Unterlegenen, einen wachsenden „Trümmerhaufen" dort diagnostiziert, wo eine geläufige Sicht Fortschritt unterstellt (IX., S. 697 f.). Die Unterlegenen und Unterdrückten identifiziert er mit dem doch großen Strich seiner geschichtsphilosophischen Thesen als diejenigen Menschen, welche „namenlose Fron" leisten müssen (VII., S. 696). Dabei sind ihm die unabgegoltenen und unterdrückten Potentiale dieser in den bisherigen Gesellschaften zumeist „unteren" Menschen der Ansatzpunkt für das praktisch-politische Postulat einer Geschichtskonstruktion, die in der Gegenwart die „Jetztzeit" dieser Möglichkeiten wieder erschließen oder die - mit dem Pathos und der Solidarität mit den Gewesenen und ihrem Leid aufgeladen - den nun in diesem Sinn politisch Aktiven moralische und identitätspolitische Unterstützung gewähren soll (XIV., S. 701; II., S. 694). Und insofern ist der Kritiker des Fortschrittsglaubens mit dem aufklärerisch-humanistischen Autor des „Entwurfs der historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes" perspektivisch durchaus einig, der sein Konzept ebenfalls als ein Verfolgter und mit dem Tod Bedrohter niederlegt. [Und zwar obgleich Walter Benjamin Turgots und vor allem Condorcets These von der dem Menschen zugeschriebenen natürlich unbegrenzten „perfectibilité" 8 explizit kritisiert 5

Vgl. Sorna Morgenstern, [Briefberichte. Über Walter Benjamin] [entstanden 197075], in: ders.: Kritiken, Berichte, Tagebücher, hrsg. von Ingolf Schulte, Lüneburg 2001, S. 505 f., 510 f., 517 ff, 539 f.; Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankflirt a. M. 1972, S. 129 ff.; RolfTiedemann, Dialektik im Stillstand, Frankfurt a. M. 1983, S. 138 f. 6 VII., S. 696; s. Ν 10, 4, S. 594; auch Ν 7, 6, S. 587. 7 Ν 3, 1, S. 577 f. Zum methodischen Prinzip der Nachträglichkeit für die Kritische Theorie siehe die Arbeit von Christian Schneiderl Cordelia Stillke/Bernd Leineweber, Trauma und Kritik, Münster 2000, S. 108 f. 8 Anne-Robert-Jacques Turgot, Tableau philosophique des progrès successifs de l'esprit humain, [1750], dt.: Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes, in: ders., Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1990, S. 140 f.; Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet, Esquisse d'un

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(XIII., S. 700).] Denn als den zentralen kritischen Beurteilungsmaßstab der Geschichte und der menschlichen Einrichtungen bestimmt Condorcets politisch-moralisch erweiterter Sensualismus das Bewußtsein und das Empfinden von Leid und Glück.9 Die Solidarität mit den der jeweiligen Herrschaft Unterlegenen und ihren quälbaren Körpern 10 wird in seiner emphatischen Fortschrittstheorie von 1795 immer wieder kenntlich. So ordnet Condorcet die horizonteröffhenden Entdeckungsreisen Vasco da Gamas und Christoph Columbus' in die Fortschrittsgeschichte ein und arbeitet zugleich deren Ambivalenz heraus, da sie bisher unerhörten Völkermord zum Ergebnis hatten, indem sie „Könige und Räuber" instand setzten, sich die Ergebnisse anzueignen und „aus den Mühen jener Profit zu ziehen. Die unglücklichen Bewohner der neu entdeckten Weltgegenden wurden keineswegs wie Menschen behandelt; ... Die Gebeine von fünf Millionen Menschen bedeckten die unglücklichen Länder ..." n Dies ist die „kritische Funktion" des Fortschrittsbegriffs schon in der elaborierten und wenigstens tendenziell selbstkritisch12 gewordenen Aufklärung, der, so Benjamin, von Turgot gewonnen worden sei und es ermögliche, „die Aufmerksamkeit der Menschen auf rückläufige Bewegungen in der Geschichte zu lenken" (N 1 la, 1, S. 596). In den populären, aber auch den theoretisch deterministischen späteren Verflachungen jedoch gingen dann diese frühen Einsichten in Aporien und immanente Limitierungen des Fortschritts - die jedoch auch bei Turgot nicht widerspruchslos sind, wie die von Benjamin kritisierte Idee immer größerer Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit zeigt - zum politischen Unglück der Linken ganz überwiegend wieder verloren (vgl. Ν 1 la, 3, S. 597). Die Linie der Beachtung von sich „zum Himmel" türmenden „Trümmerhaufen" der Opfer solchen Fortschritts, der „Toten" und der „Zerschlagenen", auf die der „Engel der Geschichte" zurückblickt (IX., S.697),

Tableau Historique des Progrès de l'Esprit Humain, Paris 1795; dt.: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1976, S. 31. 9 Vgl. Condorcet y Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, S. 30, 87, 149, 155, 211; siehe schon Turgot, Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes, S. 163. 10 Vgl. zum Motiv Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S.

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Condorcet, Entwurf, S. 127 f. Dazu etwa Benjamins originelle Einschätzung der Kunst als Korrektiv des wissenschaftlich konzipierten Fortschrittsbegriffs bei Turgot (N 12, 1, S. 597). 12

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einerseits und die Erkenntnis der problematischen Seiten der gesellschaftlichen Entwicklung auch in den Anfängen andererseits ist deshalb die negative, analytische und theoretische Seite oder Aufgabe der Benjaminschen Geschichtsphilosophie.

Die positiv-praktische Seite ist die so auch ins Auge gefaßte demotische politische Subjektivität, für die Benjamin beispielhaft revolutionäre französische Akteure benennt, die sich für ihr Selbstverständnis auf antike Demokratien beziehen. Denn dieser linksorientierte Kritiker des „ sturen Fortschrittsglaubens" in der Politik (X., S. 698) verweist exemplarisch für seine historisch-kritische Methode nun ausgerechnet darauf, daß insbesondere Aktivisten der Großen Französischen Revolution von 1789 auch zurückblickten und sich Beistand aus der Vergangenheit holten, indem sie Zeugnisse aus der Antike für republikanisches und demokratisches Engagement unterstützend herbeizitierten. 13 So konnten sie sich - angesichts der Dominanz monarchischer und despotischer Herrschaft und inmitten ihrer eigenen scharfen Auseinandersetzungen - der bisherigen weltgeschichtlichen Besonderheit der Revolution auch durch die Hilfe eines historischen Bezugspunkts für ihr Selbstverständnis, sogar als „ein wiedergekehrtes Rom"14 versichern. Damit gewann die Wiedergewinnung oder Stützung eines demokratischen Aktivismus' nach Benjamins Auffassung historisch auch reale politische Durchschlagskraft vom erinnerten Glücksstreben „gewesener Geschlechter" (II., S. 694) und ist ihm deshalb eine wichtige Reminiszenz in seiner politisch schwierigen Lage. Das Glück hat also für ihn erheblich größere Bedeutung als die des soeben dargestellten Maßes der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer Geschichte. Dies ist einerseits - auch wenn sie von Benjamin selbst sehr eindringlich vorgetragen wurde - eine gegenüber emphatischer politischer Tugendterminologie insbesondere vieler Jakobiner gleichsam utilitaristi 13 Der „Blick zurück" ist wiederum typisch für das antike, insbesondere griechische politische Denken. Z. B. will Aristophanes' Komödie „Frösche" gerade in militärischpolitisch äußerst schwieriger Lage 405 v. Chr. durch die Orientierung am von Aischylos symbolisierten Aktivitätsvorbild militanter Marathonkämpfer den als zwar reflektierter, deshalb jedoch tatenärmer suggerierten gegenwärtigen attischen politischen Subjekten motivierend aufhelfen. 14 XIV., S. 701. Die römische Republik wiederum ist nach dem im 18. Jahrhundert verbreiteten Verständnis „popular government", eine Demokratie wie das „Athen der Antike" (Encyclopedia Britannica , Edinburgh 1771), angeführt nach Angela Adams!Willi Paul Adams (Hrsg.), Die amerikanische Revolution und die Verfassung 1754-1791, München 1987, S. 239.

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sehe Wertung, welche für die Deutung der Herkunft politischer Subjektivität ausnehmend wichtig ist und durch antike Quellen bestätigt wird. Andererseits bietet sie einen nüchternen nachträglichen Interpretations horizont für dasjenige, was die Tugend des antiken politischen Subjekts motivierte und ein schillerndes Nachleben im Bürgerhumanismus und Republikanismus fand sowie in teilweise problematischer Akzentuierung in heutigen politischen und politiktheoretischen Debattenlagen wiederkehrt. Des weiteren wird mit dieser bei Benjamin theologisch unterfutterten Gedankenfigur nicht nur eine fortschrittskritische, sondern - nach den organisierten Judenprogromen von 1938 und kurz vor dem Zivilisationsbruch der „Endlösung" - auch eine radikal aufklärungskritische Selbstreflexion in die Kultur- und Zivilisationstheorie eingeführt, die die inzwischen üblich gewordene und schon zur Norm erhobene Gedankenrichtung, den sprichwörtlichen „Blick nach vorn", experimentell umkehrt, um, wie es Benjamin explizit fordert, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten" (VII., S. 697). Und die politische Theorie wird statt dessen seit Jahrtausenden erstmals wieder mit einem „Blick zurück" angereichert, der weder eine Anknüpfung an noch unvollkommene Tendenzen be- oder fortschreibt respektive projiziert noch die Vergangenheit romantisiert. Es ist ein rücksichtsloser und doch ein sympathisierender Blick, denn er nimmt - wie schon herausgestellt - die ganz überwiegende Fronarbeit der in den Gesellschaften „unteren" Schichten ins Auge, aber es ist auch ein skeptischer Blick, der den unterstellten oder realen Fortschritt sowohl an den einmal erreichten als auch den wieder verschütteten Gestaltungsmöglichkeiten und wirklichen Glückschancen vor allem der „Schlechtestgestellten" mißt, womit diese Kritische Theorie der geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins geradezu den Horizont einer historischen und globalen intergenerativen Gerechtigkeitstheorie bietet. Umgekehrt jedoch hätten, so Benjamin weiter, die damit Herbeizitierten geradezu einen „Anspruch" auf die politische Aktivität der jeweilig Gegenwärtigen (II., S. 693 f.). Denn die Chancen auf Glück fllr alle sind historisch nicht oder nur kurzfristig unzureichend realisiert worden. Insofern zielen die von Benjamin interpretierten realen politischen Zitate der Vergangenheit durch französische Revolutionäre auf die Stillstellung der verhängnisvollen Kontinuität und sogar auf den Ausbruch aus der mechanischen Zeit (vgl. XV., S. 701 f.). Und die Aufgabe des „konstruktiven Prinzips" der „materialistischen Geschichtsschreibung" wiederum versteht Benjamin methodisch hier offenbar sogar in einer seinerseits außerordentlich anspruchsvollen Analogie zu solcher

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identitätspolitischen demotischen Aktivität wie derjenigen der antikisierenden französischen Insurgenten, wenn nunmehr auch sie eine „revolutionäre Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit" eröffnen soll (XVII., S. 703). Ob die Nachgeborenen diese Selbsteinschätzung der politischen Bedeutung solcher wissenschaftlichen Vermittlung in politischer Absicht als Anmaßung oder Verzweiflung verstehen wollen, ist gar nicht entscheidend. Benjamin möchte ganz offenbar auf das Selbstverständnis der Linken einwirken und so für den Widerstand retten, was auch nur irgend zu retten ist. Und indem er dies als theoretische Zuarbeit für ein politisches Engagement „im Kampf gegen den Faschismus" ansieht (VIII., S. 697) und sein Beispiel also revolutionäre französische Akteure mit einer von ihnen angenommenen republikanischen Vergangenheit und zugleich insgesamt mit dem in seiner Gegenwart gebotenen Antifaschismus verkoppelt, ist sein Verständnis ganz offenbar eines, das Republikanismus, demokratische Selbstregierung und politische Aktivität und Tugend nicht alterniert oder in diesen nur das Mittel für die Sicherung von Freiheiten der Einzelsubjekte bejaht, wie es derzeit durch die neorepublikanische Theoriebildung wieder Eingang in die politische Theorie findet 15. Und indem die Selbstgesetzgebung in diesen Thesen Benjamins zugleich allgemein an das Glück der Subjekte als Bezugspunkt und Bewertungsmaßstab politischer Subjektivität und politischen Engagements gekoppelt wird, behält eine hieran ausgerichtete Theoriebildung die stete Konkretion ihres Subjektbezugs. Dafür bedürfe es nunmehr immer wieder der Tugend des Zusammenschlusses der Subjekte zum Kollektivsubjekt Klasse auch als „Subjekt historischer Erkenntnis", so Benjamin wiederum in der Terminologie des 19. Jahrhunderts (XII., S. 700), was den eben vorgeführten Aktivitätsgestus des wissenschaftlichen Schriftstellers bescheidener klingen läßt und ihn zugleich wieder in eine ersehnte politische Heimat konstruktiv zurücknimmt. In der von den angeführten revolutionären Akteuren offenbar gemeinten Antike aber wurde aus der Verbindung der Einzelsubjekte zum Demos erstmalig politische und militärische Macht generiert, um in der Schlachtreihe gemeinsam standzuhalten oder das komplizierte Kriegsgerät der Triere im Gleichtakt zu bedienen und zu manövrieren und um politische Rechte durchzusetzen zum Selbstzweck der selbstbestimmten mehrheitlichen Entscheidung über die großen und kleinen politischen 15

Siehe einschlägig Philipp Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997, insbes. S. 27 ff.; Maurizio Viroli , Repubblicanesimo, Roma-Bari 1999, dt.: Die Idee der republikanischen Freiheit, Zürich/München 2002, S. 46 ff., 84.

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Angelegenheiten der Bürgerschaft. Denn auf ein nur materielles Glücksstreben ist die politische Partizipation, ist der Utilitarismus der demokratischen Antike eben nicht zu reduzieren: Die politische Teilhabe auch der Unteren ist sukzessiv von einer Methode der Herrschaftssicherung der Oberen zur Durchsetzung der Mehrheitsregel und zur allgemeinen politischen Lebensweise aller Bürger umgestaltet worden, indem der zum politischen Kollektiv gebildete Demos sie sich angeeignet hat. Der oben mit Benjamin vorgestellte „Blick zurück" erhofft zwar Hilfe aus der republikanisch-demokratischen Vergangenheit und sieht sich in ihrer Tradition mit all ihren Problemen. Jedoch sind die Rückgriffe trotz Benjamins politischer Intention mehrdeutig. Denn die Rezeption ist in der Neuzeit politisch selbst sehr zwiespältig gewesen. Antikisierende Republikaner agierten als historische Subjekte ihrer eigenen Zeit und haben ihre Souveränitätskonzeption und ihre politischen Praktiken weniger einer Antike abgeschaut, deren konkrete Diskurse des politischen Willens sie mehr erahnten als kannten, sondern am Gegenbild der absolutistischen Herrschaft gelernt. Deshalb ist die Reflexion des exemplarischen Sinns dieser Gedankenbewegung zurück nach vorn für Benjamins Idee jedenfalls und die strikte Implementierung von Kritik wichtiger als der Umgang mit dem damaligen politischen Wissen. . Benjamins „Blick zurück nach vorn" - so sprechend benannte Klaus Wagenbachs mittlerweile eingestellter „Freibeuter" seine adäquate Rubrik - könnte sich übrigens nicht nur methodisch, sondern desgleichen inhaltlich dann von großer Bedeutsamkeit für die Demokratie erweisen, wenn ihre Zukunft nunmehr ebenfalls in der Vergangenheit und deren verschütteten Dimensionen und Varianten liegt - die im Zeitalter einer Erosion staatlicher Steuerungsfähigkeit auch demokratische Alternativen jenseits des Nationalstaats und ζ. B. Kontrollen fern institutioneller Verselbständigungen und polyarchischer Netzwerke sowie subsystemischer funktionaler Überrepräsentation ins Denkspektrum zurückholt. Eine wirksame Steuerung der Eliten wird von immer mehr Menschen angestrebt anstatt einer Steuerung durch die Eliten. Und eben hierfür hat es in der antiken Geschichte der durchaus ambivalenten politischen Partizipation in Institutionen übersetzte politische Lernprozesse gegeben, die bis zur Liquidation der attischen Demokratie durch das Makedonendiktat sogar den Praxistest bestanden haben und das Volk erfolgreich in der Politik hielten. Zwar wäre eine unmittelbare Übertragung naiv, aber das Instrumentarium der vergleichenden Politikforschung lehrt, funktionale Äquivalenzen auch verschiedenartiger Lösungsmuster zu erkennen. Bür-

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gerschaftliches Engagement ohne Dogmen oder weitere weltanschauliche Begründung sowie die politische Selbstbestimmung auch derjenigen, die in den modernen Gesellschaften unten sind, verträgt sich sehr gut mit dem spezifischen benjaminschen „Blick zurück nach vorn" und der Ausschöpfung eines gewissermaßen auch historisch gegebenen und geschichtlich sedimentierten Aktivitätsreservoirs.

II. Politische Systeme und Politikfelder

Über die Herkunft der Gewalt Von Sven Papcke „Alle Ordnungen und Herrschaftsformen ... beruhen auf institutionalisierter Gewalt." Walter Burkert Bereits Felszeichnungen, beim Übergang zur jüngeren Altsteinzeit erschaffen, geben Kunde von größeren Zerwürfnissen 1. Eines der frühesten Massaker, das sich archäologisch nachweisen lässt, ereignete sich bei Djebel Sahaba (Sudan), zwischen 12 000 und 10 000 v. Chr. Wir wissen nicht, ob es aus Nahrungskonkurrenz geschah oder von Eskalationsgewalt zeugt. Eine ähnlich umfangreiche Nekropole, die aus dem Neolithikum (ca. 5000 v. Chr.) stammt, findet sich bei Thalheim in Baden-Württemberg.2 Auch hier sind die Konfliktgründe unklar. Immerhin muss es sich in jener fernen Zeit um politische Ereignisse gehandelt haben,3 wenn auch in einer unspezifischen Bedeutung des Wortes. Der „politische Raum" als Forum öffentlicher Kontroversen über Entscheidungen, die alle betreffen, ist ein Spätprodukt der Entwicklung. Er setzt nicht nur die Überwindung allzu enger, etwa gentiler Zugehörigkeiten voraus; er verlangt auch eine freistaatliche Grundierung von Entscheidungen. Das belegt die athenische Herkunft des Konzeptes. Ansonsten lassen sich seit den Abstammungsgesellschaften vor allem Elitenkämpfe verzeichnen, folglich Spielarten machthungriger Intrigen. Sie hatten zwar Rückwirkungen auf das öffentliche Leben, sie waren aber 1 Dieser Beitrag greift Passagen aus einem work in progress auf: „Die Gewalt und ihre Gesellschaft. Formen und Funktionen eines kulturgeschichtlichen Risikos" (2007). 2 Siehe Jean Guilaine/Jean Zammit, Le sentier de la guerre. Visages de la violence préhistorique, Paris 2003, S. 85 ff. und S. 148 ff.; und K. W. Alt u. a.y Verwandtschaftsanalyse der Skelettreste aus dem bandkeramischen Massengrab von Thalheim, in: Fundberichte aus Baden-Württemberg 12 (1987), S. 195 ff. 3 Siehe Hermann Müller-Karpe, Grundzüge der frühen Menschheitsgeschichte, 5 Bde., Stuttgart 1998, Bd. 1, S. 68.

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höchstens durch Unruhe an der Basis zu irritieren. Diese Konstellation traf, wie Patricia Crone unterstreicht,4 sogar auf jene historisch eher seltenen Gesellschaften mit republikanischer Ausrichtung zu, ehe sich das Prinzip der Opposition als probates Mittel erwies, Konflikte zuzulassen, ohne sie auszuleben. So oder so fand in Djebel Sahaba oder Thalheim ein Zusammenstoß auf Leben und Tod statt. Das Ausmaß der Kampfspuren lässt auf Gruppenhandeln schließen. Individualgewalt via Affektentladung oder Mordlust ist auszuschließen. Wahrscheinlich haben wir es mit den Spuren einer nutzen- oder stimmungsgeleiteten Instrumentalisierung von Gewalttätigkeit zu tun - etwa als Folge eines Überlagerungsversuchs, wie Franz Oppenheimer sich ausdrückte. I. Frühformen Was immer die Anlässe gewesen sein mögen:5 Aufgebot und Einsatz von Gewalt als Medium des Schutzes (Abwehr) oder der Selbstbehauptung (Kampf), von Zucht und Ordnung (Herrschaft), der Aneignung (Ausbeutung), der Angstminderung (Opferung, Ausschließung) oder als Drohgebärde zur Härtung von Gehorsam (Integration) gehören zu den primär greifbaren - im weitesten Wortsinn - Werkzeugen der Vergesellung. Ebenso bleibt unterhalb dieser Ebene die Optionalität von Individualgewalt6 ein ungebetener Mitreisender der Zeitläufe. Schon das kanaanitische Jericho7 mit seinen zwei- bis dreitausend Einwohnern die älteste - seit etwa 10 000 v. Chr. - , drei Hektar umschließende Stadt und eines der frühen Handelszentren, lag mit zwei Meter dicken und fünf bis acht Meter hohen Steinmauern samt einem noch höheren Turm schwer befestigt - und vor Überschwemmungen geschützt - im Jordantal, umgeben von einem acht Meter breiten Graben. Ebenso wehrhaft war auch Irkalla konzipiert, die von sieben Mauern ringförmig umgebene Totenstadt der Unterwelt, die im akkadischen GilgameschEpos eine große Rolle spielt. Selbst als Jerichos Zinnen zu Josuas Zeiten baufällig geworden waren, bedurfte es einer Kriegslist, um die Stadt zu nehmen. Der „Schall der Posaune" reichte wohl nicht aus. 4

Patricia Crone, Die vorindustrielle Gesellschaft, München 1992, S. 72 ff. Siehe Bernhard Streck, Krieg, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Ethnologie, Wuppertal 2000, S. 137 ff. 6 Vgl. J.-C. Chesnaisy Histoire de la violence, Paris 1981. 7 Siehe D. J. Hamblin, Die ersten Städte, Reinbek 1977, S. 31 ff. 5

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Befestigungen waren bereits vor dem Aufblühen städtischer Machtzentren wichtig. Seit längerem dienten sie nicht mehr nur dem Schutz vor Raubtieren, derentwegen Abwehranlagen ursprünglich erfunden worden waren. Vielmehr wurden Beutezüge als wechselseitiger Organisationsdruck gang und gäbe. Das Einmauern erwies sich als überlebensnotwendig, aber auch, weil sich eine Art von „Käfig-Effekt" einstellte.8 Das gepanzerte Wir festigte die psychodynamische Abgrenzung. Dadurch wuchsen freilich die Spannungen nicht nur nach außen, auch der Druck im Inneren stieg. Aber Mauer, Tempel und Palast symbolisierten zugleich die neue, zentralisierte Art der Gruppenidentität9, deren Unterwerfungslasten den Überbleibseln der alten Geschlechteridentität nicht standhielten. „Auf Angriff und Widerstand beruht der Verlauf der Weltgeschichte", interpretierte Ranke die Schreckensspur der nun anhebenden Gruppenkonkurrenz.10 Sie stand unter dem Verdikt des Alles oder Nichts. Solche Verfeindungsdynamik fand im Jahr 539 v. Chr. mit der Errichtung des ersten Imperiums durch den Perserkönig Kyros II. einen vorläufigen Höhepunkt - fast 1800 Jahre, nachdem Mesopotamien von Sargon dem Großen das früheste, das akkadische Reich aufgezwungen worden war, das fast fünfzehn Dekaden überdauerte. Was war die Folge? Epochenmental bildeten Streitigkeiten um Land, Wasser, Handelswege oder Einflussgebiete die Ursache fur kollektive Vorstöße gegen äußere Mächte.11 Das traf jedenfalls zu, nachdem die Vorzeit sammelnder und jagender Horden verstrichen war und egalitäre Sozialmuster eher hierarchischen Vorstellungen samt neuer, dezidiert aggressiv-orientierter Sozialisationsformen wichen.12 Laut Festinger13 oder Caubet und Pouyssegur setzte die Ausbildung übergruppaler For-

8

Siehe Michael Mann, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005, S. 131. 9 Siehe Peter Jüngst/Oskar Meder , Psychodynamik, Machtverhältnisse und Territorialität in »einfachen* und frühen staatlichen Gesellschaften, Urbs et regio/Kasseler Schriften zur Geographie und Planung Nr. 74, Kassel 2002, S. 379 ff. 10 Leopold von Ranke, Weltgeschichte (hrsg. von Horst Michael), Wien 1928, Bd. 1, S. 324. 11 Siehe Marlies Heinz, Formen und Funktionen staatlicher Gewalt in Mesopotamien vom 4.-1. Jahrtausend v.Chr., in: Sieferle/Breuninger (1998), S. 30 ff. 12 Siehe Beatrice Caesar, Autorität und Familie, Reinbek 1972, S. 93 ff. 13 Leon Festinger, Archäologie des Fortschritts, Frankfurt a. M./New York 1985, S. 189 ff.; sowie Annie Caubet!Patrick Pouyssegur, L'orient ancien, Paris 2001, S. 17 ff.

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men des Zusammenwirkens beschleunigt ab 5500 v. Chr. ein, zumindest in den nahöstlichen Regionen der frühen Hochentwicklung. Die Erfindung des Krieges war ein Nebeneffekt der sich ausbreitenden Sesshaftigkeit. Die frühen Bauern mit ihrer kulturlandschaftlichen Bodenbindung engten den Raum ein, der den Nomaden als Nahrungsquelle zur Verfugung stand. Dann führte die Landbewirtschaftung selbst zu einer wachsenden Bevölkerung und damit zur Verknappung geeigneter Flächen. Um sie wurde mit dem koordinierten Einsatz von Gewalt gerungen. Das erklärt, warum die ersten Hochkulturen, die auf militärischer Macht fußten, sich entlang von Stromtälern in Ägypten, Mesopotamien, China oder Indien ausbreiteten. Da sie die aufwendige Wasserbewirtschaftung beherrschten, mithin auch die Zentralisierung bewältigten, verfügten sie über einen erheblichen Organisationsvorsprung. Neben der inneren Staffelung ging es um die Sicherung der Außenwirtschaft, die Beschaffung von Arbeitskräften, mithin um die Anhäufung von Nimbus und Reichtum. Bald symbolisierten Kultstätten und Paläste die neuen administrativen Einflusszentren Die Macht des Stärkeren erwies sich als Quelle von Vorherrschaft und Obrigkeit. Ihr entsprach gleichsam iure divino die sich festsetzende Oben-Unten-Spaltung. Mit welchen Konsequenzen? Die urzeitlichen Menschen hatten ihre Gruppen durch Geben und Nehmen zusammengehalten.14 Bedürfnislosigkeit und fehlende Möglichkeiten, Vorräte anzuhäufen, die es zu verteidigen galt, waren der Kohäsion ebenso förderlich wie Ketten der Magie und zumeist ausreichende und vor allem frei zugängliche Nahrungsangebote.15 Krieg als logistischer Waffeneinsatz über längere Zeit war unbekannt. Er lohnte sich noch nicht, zudem hätten ausgreifendere Aktionen als die periodischen Raubzüge die vorhandenen Strukturen überlastet. Gewalt und Gewaltsamkeit als Gruppenaktivität sind allerdings verbreitet. Ihr Modus operandi verweist auf eine höchst komplexe Funktionalität auf eine höchst komplexe Funktionalität.16 Die in der Ethnologie verbreitete These von der Gewaltarmut ursprünglicher Gesellschaften ist 14

Siehe JüngstlMeder, Psychodynamik, S. 44 ff. Das war in einer so kargen Umgebung wie der Kalahari (Buschleute) ebenso zu beobachten wie im Regenwald (Pygmäen). Siehe Armin Heymer, Die Pygmäen, München/Leipzig 1995. 16 Vgl. Pierre Clastres, Archéologie de la violence. La guerre dans les sociétiés primitives (1977), La Tour d'Aiguës, L'Aube 1999; und ders ., Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1976. 15

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fraglich, wie Flap17 anhand von Theorien verdeutlicht18, die sich der Hemmung von Inter- und Intragruppengewalt tribaler Gesellschaften widmen. Mit wenigen Ausnahmen - etwa den Polareskimos - waren alle „Primitiven" kriegerisch/gewaltsam eingestellt. Kämpferische Auseinandersetzungen galten als normaler Ausdruck männlich-dominanten Gebarens, wiewohl beide Verhaltensstile fur Davie keineswegs identisch sind.19 Im Außenkontakt der Gruppen war man kriegerisch, aber nicht gewaltsam; im Inneren hingegen gewaltsam, jedoch nicht kriegerisch. II. Gewaltmotive Die bisherigen Debatten haben Umfang und Rolle der Violenz im frühgesellschaftlichen Kontext häufig missverstanden. Das „intuitive Wissen der Angehörigen" einfacher Gesellschaften sperrt sich laut Habermas20 gegen modernitäts-getrimmte Auslegungsversuche. Wovon ist die Rede? 1. Der breite „naturalistische Diskurs" malt Gewalt aus als das zoologische Erbe eines ewigen Kampfes um das Überleben, der zugleich zielbezogen sein soll. Krieg erwächst demnach „seit urvordenklichen Zeiten" (Marvin Harris) kontinuierlich aus der Wildbeuterei, gleichsam als Pirschjagd auf Menschen, wie noch der Frontkrieg im Zeitalter technisierter Massenschlachten von Ernst Jünger empfunden wurde. In solcher Sicht löst sich das Gesellschaftliche nicht nur tendenziell in Biologie auf, obschon allein kollektiv moderierte Aggressivität21 geschichtsrelevant ist; auch wirkt die These von einer Gewaltlinearität widersprüchlich. Während die Jagd ursprünglich rein bedarfsbezogen, im frühkulturellen Kontext also nicht gewaltförmig war, 22 ist Krieg jedenfalls nach dem Schrumpfen der Großwildbestände und dem Übergang zur Sesshaftigkeit eher unter der Rubrik „organisations-vermittelt" zu fassen, und zwar als

17

H D. Flap , Conflict, Loyalty and Violence, Frankfurt a. M. 1988. Guilaine und Zammit bieten eine Fülle empirischer Daten und Befunde fur die These, dass Gewalt und Krieg in verschiedenster Gestalt schon die Vorgeschichte prägten. 19 Siehe J. H. Steward (Hrsg.), Handbook of South American Indians, 1948, S. 33 ff, 318 f., 613, 624 f.; sowie Davie, La guerre. 20 Siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981, Bd. 2, S. 246. 21 Siehe Jüngst!Meder, Psychodynamik, S. 140 f. 22 Vgl. Christian Vogel, Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutionsgeschichte, München 1989, S. 63 ff. 18

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- gruppen-emotiver Ausdruck von Aggressivität: Etwa weil man sich im Sinne des anhebenden Sicherheitsdilemmas frei nach si vis pacem para bellum zur Wehr setzen muss oder das jedenfalls tun zu müssen glaubt, - Beschäftigung waffengeübter Männer: Sinnvoll zur Außenablenkung massenhafter Untätigkeitsfrustrationen, 23 die zugleich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verstetigt. Derartige Zusammenhänge hat Le Bon auf einem zivilisatorisch viel höher stehenden Konfliktniveau noch konstatieren können.24 Was immerhin belegt, dass beide Funktionsweisen des Waffengebrauchs nicht nur begrifflich kaum über den schlichten Kamm einer Gewaltstufenlehre zu scheren sind. 2. Auch der „ökonomistische Diskurs" wird der Gewaltproblematik jener Epochen nicht gerecht. Wie lauten die Einwände? Das schiere Überleben „der Wilden" zeugt angeblich von einer Welt der Entbehrungen. Zuvörderst Proteinbedarf nötigt nach Harris 25 zum gnadenlosen Wettkampf. Doch nicht nur Sahlins26 konnte zeigen, dass wenigstens die Jäger und Sammler in relativen Überflussgesellschaften 27 lebten - mit Blick auf Versorgung, Zeit oder Aufmerksamkeit. Das verweist unter anderem auf die Komplexität des Knappheitsbegriffs samt unterschiedlicher Formen der Mangelverwaltung.28 Aber auch darauf, dass die These vom ökonomisch vermittelten Dauerzwang zur Gewaltanwendung fragwürdig ist. Die Anagenese ist komplizierter verlaufen. Sicher, die frühen Gemeinschaften sind Nachfolger jener Urhorden, die evolutionär aus periodischer oder relativer Unterversorgung entstanden. Aber wie gesagt: weder lebten nomadische Gemeinschaften - erst Aasfresser, dann Jäger und Sammler - notorisch am Existenzminimum, noch kann anfänglich Über-

23

Vgl. Mark Juergensmeyer, Die Welt der Cowboy-Mönche. Terror und Männlichkeit, in: Frankfurter Rundschau, 2004. 24 Siehe Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), Stuttgart 1982, S. 35 ff. 25 Siehe Marvin Harris, Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen (1977), München 1995. 26 Siehe Marshall Sahlins, Stone Age Economics, Chicago 1972. 27 Vor der landwirtschaftlichen Epoche waren Männer wegen der reichhaltigen Ernährung 179 Zentimeter groß, was die westliche Zivilisation erst im 19. Jahrhundert wieder erreichen konnte. Siehe Christoph Drösser, Größe zählt, Die Zeit vom 30.10.2003, S. 27. 28 Siehe Maurice Godelier, L'anthropologie économique, in: Copans (1971), S. 175 ff.

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fluss bestanden haben, wie Wrangham und Peterson darlegen.29 Dann wäre die Gattung gleich ihren Primatenverwandten wohlversorgt auf den Bäumen geblieben. Es handelt sich - zweckrational betrachtet - bei den vorgeschichtlichen Zusammenstößen also kaum um Ausfälle des Aggressionstriebes. Eher ging es - wertrational - um ernste, aber doch ansozialisierte Kulturund Rollenspiele der Männer: zunächst als Überlebenskampf (Krieger), dann als Beschäftigungstherapie (Soldaten). Eine binnen-pazifizierende Definition der männlichen Rolle stellt laut Margaret Mead das Dauerproblem aller Enkulturation dar.30 Es ist ebenso wenig gemeistert wie das parallele Dilemma, die Ausbildung von Mädchen. Sie ist das gesellschaftliche Nadelöhr, durch das eine nachholende Entwicklung, wo immer dringlich, auf Gedeih und Verderben hindurch muss. 3. Letztlich bleibt der „Tauschdiskurs" der Pariser Schule von Claude Lévi-Strauss in diesem Kontext abzuwägen. Auch deren Thesen wirken nicht überzeugend - etwa wenn unterstellt wird, dass in ursprünglichen Verbänden außerhalb von Geben und Nehmen keine autonome Sphäre der Gewalt bestand. Für dieses Modell stellen Auseinandersetzungen gleichsam missglückte Tauschakte dar. Sie gelten als vorübergehende Ereignisse in einem Kontinuum des Handels bzw. der Reziprozität, was die ökonomischen Antriebe menschlichen Wirkens überstrapaziert. III. Selbstbehauptung Nicht nur Clastres, schon Dodgshon führt demgegenüber Kampfhandlungen der Vorzeit auf eher symbolische, gleichsam gefuhlsrationale Bedürfnisse zurück.31 Und schon Clausewitz hielt den Krieg für den Ursprung der Bildung eigenständiger Kollektive, obschon sie sozialisationsbezogen diesen Prozess nur beschleunigt haben können. Hondrich spricht gar von der „wirksamsten Institution kollektiven Lernens". Solche Einbindung brach sich anfangs Bahn in einem ebenso zwanghaften

29

Siehe Peter Wrangham und Dale Peterson , Bruder Affe. Menschenaffen und die Ursprünge menschlicher Gewalt, Kreuzlingen/München 2001, S. 65 ff. 0 Männerüberschuss (35 Mill, in Indien, über 40 Mill, in China) und Gewalt, Kriminalität oder Krieg hängen zusammen, weil die betroffenen Gesellschaften auf den Gedanken kommen könnten, inneren Spannungen durch „Export", sprich Militäreinsätze im Ausland vorzubeugen. 31 Vgl. R. A. Dodgshon, The European Past. London 1987, S. 25 f.

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Selbstentwurf (s. Abb.) frei nach „Ich siege, folglich bin ich." Der einem solchen Auftrumpfen zugrunde liegende Wille zur Hingabe entspricht ziemlich genau dem Muster des altruistischen Selbstmordes, den Durkheim als Bereitschaft, sich für die Bezugsgruppe zu opfern, vormodernen Verhaltensstilen zurechnet. Kriegerherrscher aus Basalt

Costa Rica, später als 8. Jh. n. Chr.

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„Die primitive Gemeinschaft ist die lokale Gruppe." 32 Sie besteht wenigstens formell - ohne vertikale Abstufung. Alle Vollmitglieder sind Selbstversorger. Akkumulationssorgen bzw. Dominanzwünsche kommen nicht auf, weil sie nutzenlogisch sinnlos wirken. Das mag so sein, allerdings führt zugleich „der Wille jeder Gruppe, ihre Differenz zu behaupten", 33 schon aus scheinbar nichtigen Anlässen zu Gewaltsamkeiten. Der entsprechende Absonderungsdruck trotz exogamer Heiratsregeln der lineage - bei Endogamie des Stammes - erklärt sich daraus, dass der Gruppenwille seine seelische Überlebensfahigkeit offenbar einzig durch Dauerabgrenzung sichert. Das Verwandtschaftssystem als totale Institution kennt keine clan-übergreifenden Ebenen gestufter und erweiterter Ordnungsmuster. Gattungsgeschichtlich haben wir es mit einer Variante des von Schopenhauer vermerkten Igel-Dilemmas zu tun. Sie enthüllt eine Dialektik von Zugehörigkeitstrieb und Abstandslibido, wie sie Taifel 34 in immer anderen Konstellationen vermessen hat. Sieht sich diese anthropologische Ausstattung nicht kanalisiert, etwa durch Infragestellung primordialer Gruppenreaktionen, begünstigt sie eine „politische" Logik der Dispersion. Der Horden-Territorialismus samt Autarkie drängt auf Dauerdistanzierungen als Movens segmentärer Aufsplitterungen. Trotz verwandtschaftlicher Zwänge der Ahnenreihe fordern Übersichtlichkeit und Gruppenvergewisserung eine unablässige, notfalls eben gewaltsame Exklusion. Das gilt gleichermaßen für das Verbleibende wie für das jeweilig Abgespaltene. Mentalitätsgeschichtlich wird diese Chronik der Absonderungen von mythischen Katastrophen unterbrochen und begleitet. Sie bedingen jeweils einen Neuanfang, und sie ermöglichen diesen zugleich auch. Das Vorherige wird dabei nicht völlig vernichtet, denn Simultaneität ist die Zeitgestalt des Verwandtschaftssystems. Das Alte lebt auf geheimnisvolle Art und Weise weiter, wie alle Kosmogonien belegen. - Mehr noch, in solchen Dauerkonflikten aus Abgrenzungsnot agieren alle beteiligten Seiten grundsätzlich offensiv. Eine eigentliche Defensive ist noch unbekannt. Laut präreflexiver Wahrnehmung steht in Krisenfällen eo ipso die Selbstbehauptung auf dem Spiel, was im Sinne eines verbandlichen conatus sese conservarteli die Ausgriffe notwendig macht.

32 33 34

Clastres , Archéologie de la violence, S. 48. Clastres , Archéologie de la violence, S. 58. Vgl. Henri Taifel , Gruppenkonflikt und Vorurteil, Bern 1982.

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Als Ergebnis einer derartigen Unterordnungsscheu - wenngleich auf dem Boden von Kultur - geraten kämpferische Auftritte zur Normalität. Sie artikulieren den gemeinschaftsstiftenden Solipsismus. Es handelt sich keineswegs um eine Störung des Tausches, Handels oder irgendwelcher Allianzen. Nein, „die kriegerische Kapazität jeder Gemeinschaft ist und bleibt die Bedingung ihrer Autonomie". 35 Genau das lässt sich noch heute etwa an den Stammesfehdegesellschaften in den Bergen von Südafghanistan beobachten, die durch Elphinstone beschrieben wurden. 36 Sie sind gleichsam seinsrational einem archaischen „Ehrenkodex" (Paschtunwali) ausgeliefert, ad nauseam. Das ist eine Ausgangslage, die dem existenzialistischen Politikbegriff von Carl Schmitt besonders nahe kommt. 37 Das aber impliziert: Wird die Gelegenheit zur Kriegsfuhrung als Ausdrucksform „einer Logik der Zentrifugalität" eingeschränkt, 38 dann droht das Ende dieses Urzustandes als ungezügeltes Spiel handgreiflicher Trennungs-, ja Negationsmöglichkeiten zur Herstellung und Sicherung von Identität. Auf dem Untergrund dieser gewaltsam gesicherten Freiheit von Zentralisierung bleibt allerdings die Karriere der „Staatlichkeit" zu erklären. 39 Was war der Evolutionsvorteil 40 , der trotz einer romantischen Freiheit zum Kämpfen, die Verwandlung der Horden in Untertanen hinauszögerte, jedenfalls in den sich ausbildenden Zivilisationszentren zur Heteronomie führte? Und das, obschon sowohl die Zusammenfassung gleichermaßen der Heils- und Gewaltmittel wie auch die parallele Durchsetzung der Stratifikation 41 eher eine Ausnahme darstellten als die Regel. Durchgängig war das Big-Man-System, dann das Häuptlingswesen der Inbegriff der frühpolitischen Entwicklung. Die Ausnahmen aber setzen 35

Clastres , Archéologie de la violence, S. 82. Vgl. Mountstuart Elphinstone, An Account of the Kingdom of Cauboul, 2 Bde., London 1815. 37 Siehe Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933, S. 9 ff. 38 Clastres , Archéologie de la violence, S. 83. 39 Bei aller von Roth betonten Differenz dieser ersten Formen der Machtbündelung gegenüber dem seit Machiavelli damit gemeinten Prozess, der mit den ganz anderen Strukturen und Mentalitäten früherer, vormoderner beziehungsweise außereuropäischer Formen des Politischen nicht verwechselt werden sollte. Siehe Klaus Roth, Genealogie des Staates. Prämissen des neuzeitlichen Politikdenkens, Berlin 2003, S. 23 ff. 40 Siehe Jean Copans u. a., L'anthropologie. Science des sociétés primitives, Paris 1931, 143 ff. 41 Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 48 f. 36

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sich modo bellicoso durch; und damit laut Derrida die „Gewalt der Differenz, der Klassifikation" inklusive eines dazu passenden „Systems der moralischen Gesetze und der Überschreitung". 42 Dies war fraglos ein Verlustgeschäft. Der Aufstieg des Staates markiert laut Harris 43 flächendeckend den Abstieg aus der Freiheit zur „Willkür" im Sinne von Ferdinand Tönnies. Der Übermacht des im Staatlichen gebündelten Objektiven wies erst die Erfindung der Demokratie durch transparente Mechanismen der politischen Rückkoppelung wieder Grenzen. Die Ungebundenheit der Vorstaatlichkeit blieb im Regelwerk der Anpassungszwänge jedoch auch dann auf der Strecke. Zudem konfrontierte die unaufhaltsame Inwertsetzung der Natur die Epochen mit alles und jeden erfassenden Markt- wie Sachzwängen, die es früher nicht gab. Der Fortschritt hat seinen Preis. Doch im Gefolge der nachtribalen Zwangsvergesellung zeichnete sich immerhin ein neuartiges Zivilisationsmodell ab. Es war darum bemüht, zumindest zustandsriskante Gewaltsamkeit aus dem Sozialkörper zu verbannen, die Kohl als „dunkle Kehrseite" segmentärer Gesellschaften bezeichnet hat. 44 Das wurde besonders dringlich, nachdem der Gewaltpegel infolge des Differenzierungsdrucks, der neue Besitzchancen spiegelte, das gängige Aggressionspotential noch zu übersteigen drohte. Dringlich und lobenswert. Aber angesichts der Unbestimmtheit menschlicher Handlungsmuster erwies sich dieses Pazifizierungsprojekt zur Glättung interaktiver Konflikte politikgeschichtlich als Sisyphosaufgabe. Doch blenden wir noch einmal zurück zur Staatsgenese. Erst Entdeckungen wie etwa die der Schrift als Möglichkeit zur raumgreifenden und vor allem abstrakten Vergegenwärtigung von Herrschaft 45 ermöglichten eine weiträumige Überwachung. Sie beschränkte sich bislang auf die Präsenz der Autorität, soll heißen auf die Hörweite der Verlautbarungen ihrer Herolde. Sie war allerdings durch die schon in nicht-staatlichen Gesellschaften eingeübten Erfahrungen mit Einschüchterungen und Abhängigkeiten mental vorbereitet. Hinzu trat nun die Lenkungshilfe durch eine herrschafts-nützliche Ausstaffierung des Jenseits. Neben Tendenzen

42 43 44

Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983, S. 194, S.197. Siehe Harris, Kannibalen und Könige. K.-H. Kohl, Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 2000,

S. 66. 45

Siehe Dodgshon, The European Past, S. 139 ff.

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zur Hierarchisierung (Hauptgott) respektive der Politisierung des Himmlischen 46 traten neue Kommunikationsstile des Politischen. Jedenfalls innergemeinschaftlich galt: Vergeltung weicht der Strafe, Gesetze lösen Riten ab, Raub wird Tausch. Laut Überlieferung setzte sich zuerst der chaldäische Herrscher Nimrod eine Krone auf. Er demonstrierte durch diesen Akt die Berechtigung verstetigter Elitemuster auch zur umfassenden Ordnungsstiftung. Nicht nur metaphorisch kam so alles unter einen dynastischen Hut. Zugleich ergaben sich Verwicklungen zwischen den auftrumpfenden Reichsgebilden. Das erst mühsam und ausschließlich gewaltsam Gefestigte - man denke an die mit der Obrigkeit entstandene Schichtung samt Repression - wurde in außenpolitische Konfrontationen verwickelt. Ergebnis war das unablässige Sterben von Staatswesen. Diese Fatalität verriet den enormen Druck, innerhalb der Gesellschaften noch unbeherrschbare Zerreißpotentiale gegen Andere zu lenken. Schon die nacharchaischen Verbände unterlagen qua Kontaktzunahme einer Risikodynamik ihrer Außenbeziehungen. Diese sollte seither für Unruhe sorgen und scheint Auffassungen von der Geschichte als Dauerschlachtfeld zu bestätigen. IV. Verkriegung Eine solche Verfeindungsspirale musste zwingende Gründe haben, bot aber auch Chancen. Tatsächlich erwiesen sich Waffengänge als eine - wenngleich risikoreiche - Handlungsoption. Machte der blutige Ares denn nicht „die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien", wie Heraklit 47 es lapidar ausdrückte? Dennoch, Krieg kam - jedenfalls verstanden als organisiertes Geschehen, das entsprechend dauerhaft und über größere Distanzen aufrechterhalten werden konnte - nach Castellan erst mit den frühen Hochkulturen in Schwung.48 Seit jener Zeit allerdings drängen militärische Wagnisse sich im Sinne von Jerusalem den Epochen wie „ein übergewaltiges soziologisches Phänomen" auf. 49 Vorher jedoch, also ehe sich Dorfkulturen ausbreiteten und zu größeren Verbänden auswuchsen, bildete Krieg keineswegs die Ausgangskon46 47 48 49

S.4.

Vgl. Roger Caillois, L'homme et le sacré, Paris 1953, S. 108 ff. Heraklit, Fragment, S. 53. Siehe Georges Castellan , Histoire de l'armée, Paris 1943, S. 5 f. Wilhelm Jerusalem, Der Krieg im Lichte der Gesellschaftslehre, Stuttgart 1915,

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dition der Gruppenkontakte. Waffen aller Art waren als Jagdwerkzeuge zwar vorhanden. Im Feuer gehärtete Holzspieße etwa existieren nach Nières 50 seit 100 000, Lanzen seit 30 000 Jahren. Um aber im eigentlichen Wortsinn Kriege zu fuhren, fehlte ein belastbarer Machtapparat. Er hätte nach Malinowski Eroberung, Unterdrückung oder Versklavung nicht nur planen und koordinieren, sondern derartige Vorteile anschließend auch verwalten können müssen.51 In den einfachen Agrargesellschaften beschränkten sich Konflikte zwischen Gruppen auf mehr oder weniger „geregelte Destruktivität". 52 Erst im Verlauf einer Macht steigernden Bündelung der Energien und Aktivitäten von Großgruppen sah sich der Krieg entpersonalisiert, militarisiert, später durch Bewegungswaffen (Streitwagen) dynamisiert und als Ausdruck der Konkurrenz geschichteter Großverbände etabliert. Dadurch wurde die Zentripetalität weiter gefordert. Ebenso wie die Verkriegung eine Gruppe zusammenpresst, so erläuterte Scheler diesen Effekt, „so verdichtet [sie] auch deren geschichtliches Bewusstsein und spannt den Geist ganzer Generationsketten zu neuer sich durchdringender Einheit". 53 Begann die Staatenbildung also, weil sie einen militärischen Vorteil bot? Oder ist es umgekehrt so, dass kämpferische Überlegenheit den Politisierungsprozess anstieß? Festhalten lässt sich immerhin: Wer oder was in diesem Wettlauf der Militanz nicht mithielt, ging mehr oder weniger sang- und klanglos unter. Ein Beleg für das Wirken der Natur in der Kultur? Spätestens seit der Bronzezeit blieb das Gewaltaufkommen virulent. Durch Berührungsverdichtung breitete sich die Agonalität zudem unaufhaltsam aus. Die Verfeindung spielte sich überdies auf dem Boden einer umfassenden Teilung der Verteilung ab. Nur so konnten die Kontrahenten es sich leisten, immer mehr - jedenfalls bezogen auf die Produktionsleistung - parasitäre Gruppen wie Waffenträger, Administratoren oder Ideeneliten mitzufinanzieren. Die frühe Militarisierung vollzog sich also bei ebenso strenger wie strikter Machtballung samt Ausprägung sexueller, kognitiver und materieller Prestigegefälle.

50 Siehe Claude Nières , Faire la guerre. La guerre dans le monde, de la préhistoire à nos jours, Toulouse 2001. 51 Vgl. Bronislaw Malinowski , Kultur und Freiheit, Wien/Stuttgart 1951, S. 272 ff. 52 Jüngst!Meder, Psychodynamik, S. 243. 53 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915, S. 64.

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Eine komplexere Konfliktära hebt damit an. Das ist an der raschen Vermehrung fester politischer Verbände mit Hilfe von Nachrichten, von Recht, Glaubenswächtern und Erzwingungsstäben abzulesen. Das Alte Testament bietet dafür ebenso viele Belege wie etwa die ägyptische oder indische Archaik. Obzwar Gruppenhändel so alt sind wie die Enkulturation selbst, sie sich sogar bei Primaten finden, weichen Menschen auch in dieser Hinsicht von der natürlichen Evolution ab. Sie und nur sie gehen über das beziehungs-basale „Wie du mir, so ich dir" hinaus. Vor allem dadurch, dass sie oder ihre Gruppen anhaltende Rachegelüste entwickeln - und schüren. Das lässt sich den Stammesfriktionen in Neuguinea ebenso entnehmen wie etwa dem „Krieg gegen den Terrorismus", der laut Slovic, wenn auch aus berechtigter Furcht, dennoch einer erfolgsbezogen eher schädlichen, weil ideologisierten Amplifikationsdynamik unterliegen könnte. 54 Von einer zerebralen Kontrolle, gar Steuerung des kollektiven Handelns in Spannungszeiten war und ist wenig zu berichten. Auch der Verweis auf Interessen, denen die jeweilige Zuspitzung womöglich nützt, hilft kaum weiter. Diese können laut Pareto ihrerseits ja höchst irrational sein. Stattdessen lässt sich ein pädagogischer Impetus beobachten, den schon Ibn Kaldhun verzeichnet: Man will dem Gegner klarmachen, dass er im Unrecht ist. Und das, auch wenn man sich dadurch selbst das Leben erschwert oder es gar aufs Spiel setzt. Solches Nachtreten ist kein Anpassungsverhalten. Für die Evolution macht es wenig Sinn, etwa die eigene Bezugsgruppe aus Ehrsucht, Zorn oder Rechthaberei zu gefährden, noch dazu im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen. Der Mensch scheint Opfer eines hoch entwickelten Großhirns zu sein. Es erlaubt ihm Handeln ins Ungewisse wie in die Zukunft, nicht zuletzt als Planen gewaltsamer Aktionen. Zudem ermöglicht es Manipulationen, um uns für Abstraktionen aufnahmebereit zu machen. Dazu zählt das Schüren einer kriegerischen Gesinnung,55 die Tötungsvorbehalte ebenso überspielen soll wie mögliche Kosten-Nutzen-Bedenken. Doch die Verfeindung wirkt auf die Betreiber zurück. Sie erhöht nicht nur die Außenbedrohung; darüber hinaus sind soziale Verstärkereffekte die Regel. So fördert die wachsende Militantisierung neben sozialen Verwerfungen 54

Siehe Paul Slovic , Terrorism as Hazard. A New Species of Trouble. Risk Analysis, Jg. 22 (2002) Heft 3, S. 425 ff. 55 Siehe Sybil Wagener, Feindbilder. Wie kollektiver Haß entsteht, Berlin 1999.

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(Rüstung) auch Verrohungstendenzen (Hemmungsabbau) als Folge von Angststress. Es ist vielleicht kaum verwunderlich, dass am Kindbett des okzidentalen Zivilisationskonzeptes als moralische Helden die Schwertmeister der „Ilias" von Homer stehen. Ihnen ist ein Tod willkommen, den der Ruhm umschimmert. Selbst Adam Smith hält - wie später auf die eine oder andere Weise Bagehot56 oder Keegan57 - die Kriegskunst in diesem Sinne für „sicherlich die edelste aller Fertigkeiten". 58 So redete schon der Herr durch Moses mit dem Volk und befahl ihnen den Kampf gegen die Midianiter. Und „die Kinder Israel ... töteten alles, was männlich war", nahmen „die Frauen ... und ihre Kinder gefangen", raubten das Vieh und alle Güter „und verbrannten mit Feuer alle ihre Städte".59 Die Eroberung des Gelobten Landes gestaltete sich laut Bericht 60 als unablässiges, wenngleich gottgefälliges Abschlachten. Aber Gewaltanwendung zur Beschwichtigung der Götter, Mehrung von Ansehen und Wohlstand der Machtträger samt Klientel oder zur Festigung des Zusammenhalts fiel nach Davies61 auch in Tenochtitlân (MexikoCity) nicht anders aus, um nur ein weiteres Beispiel aus einer - im Namen des Gottes Huitzilopochtli extrem blutrünstigen - vormodernen Hochkultur zu nennen. Sie wurde nach 1521 von Hernân Cortés vernichtet. Der junge spanische Söldner folgte zwar einem ähnlichen Gewaltskript wie der Priesterherrscher Montezuma. Er war aber nicht nur waffentechnisch überlegen; er wurde auch von Hilfstruppen unterstützt, die sich aus den durch die Azteken geschundenen Indiostämmen rekrutierten. Und dieser brutale Umgangsstil kann seine ebenso banale wie fatale Logik nach aller Erfahrung beibehalten. Das erfuhr in der literarischen Prognose eines Wells 62 der Zeitreisende beim Zusammentreffen mit den finsteren Morlocks. Diese vertierten Malocher symbolisieren eine vernutzende und mithin gewaltsame Wirtschaftsweise. In zynischer Umkehrung der seit Denis Diderot erörterten Herr-Knecht-Dialektik verzehren 56

Siehe Walter Bagehot, Der Ursprung der Nationen, Leipzig 1883, S. 44. Siehe John Keegan , A History of Warfare, London 1994, XVI. 58 Adam Smith , The Wealth of Nations (1776), hrsg. von Edwin Cannan, 2 Bde., London 1961, Bd. 2, S. 219. 59 Das 4. Buch Mose (Numeri), 31. Kap., Vers 7 ff. 60 Der Stil der Epoche zur propaganda fìdei übertrieb freilich die Gewaltsamkeit. 61 Siehe Nigel Davies, Die Azteken, Düsseldorf 1974. 62 Siehe H. G. Wells, Time Machine (1895), London 1981, S. 46 ff. 57

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die Morlocks die heruntergekommenen Eloi oder Herrenschichten. Zugleich aber erhalten sie diese, wenn nun auch in kulinarischer Absicht, weiterhin mit ihrer Arbeit. Diese Gewaltsamkeit währt fort, solange das Reich der Zwänge nicht einzugrenzen ist. Aus welchen Gründen auch immer. Wenn also Knappheit, Sorge oder Unwissenheit als fans et origo enkulturierter respektive organisierter Übermacht nicht durch produktivere Muster des Zusammenlebens im Zaum gehalten werden. Denen sollte der Einzelne nicht länger „als Wicht" erscheinen, wie Fuchs unterstreicht. 63 In den Worten des Aufklärers Ziegenhagen darf die große Menge dann aber auch nicht länger aufgeteilt bleiben in „Masttiere" hie und „Lastentiere" dort, und sei es gleich unter modern gewandeten Gegebenheiten.64 Erst gerechtere Muster des Zusammenlebens machten eine Drosselung jenes kulturgeschichtlich offenbar koevolutiven Reiz- und Verfeindungsklimas denkbar. 65 Das stellt andere Quellen der Konfliktualität keineswegs still, wie etwa jenen Machtwillen, von dem Waal schreibt. 66 Auch Überversorgung kann Spannungen erzeugen. Ließen sich, wenigstens ohne allzu drückende Befunde, die Schattenseiten der Aggressionsbereitschaft wegsublimieren? Etwa als Streben nach Geltung, bezogen auf Plussummengüter kultureller Art? Wer weiß - noch ringen die Epochen aus Angst und Sorge weiter um Fassung, was den Spannungspegel hoch hält. V. Gewalt als Werkzeug Gewalt droht als Eklat oder waltet als kalte Zuständigkeit. Sie kann auch die Fasson verlieren. Anfallweise tritt sie als Wüten oder als organisierter Massenmord auf. Wie da waren und sind es Credozide, Soziozide, Xenozide oder Demozide, die in Wahrheit so oder so Spielarten von Utiliziden sind. Diese belegen daher keineswegs wie immer geartete Gewaltzwänge! Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Sie fallen versteckt 63 Siehe Jürgen Fuchs, Magdalena. MfS - Memfisblues - Stasi - Die Firma LVEB Horch & Gauck - ein Roman, Reinbek 1999, S. 9. 64 Siehe F. H. Ziegenhagen, Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken, und die durch öffentliche Einflirung derselben allein zu bewürkende algemeine Menschenbeglükkung, Hamburg 1792, S. 622. 65 Vgl. Martin Oppenheimer , The Hate Handbook. Oppressors, Victims, and Fighters, Lanham 2005. 66 Siehe Frans de Waal , Der Affe und der Sushimeister, München und Wien 2002, S. 286 ff.

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an oder ganz offen, man lese nach bei Ludwig 67 , bei Diamond 68 oder bei Mann 69 : Verletzung, Vernutzung oder Überwältigung bleiben als Risiko omnipräsent. Nicht zuletzt fur das weibliche Geschlecht, das weltweit einem andauernden „gender genocide" unterliegt. 70 - Jedenfalls als „Naturwesen", folgerte daher der Idealist Hegel 71 nachdenklich im Stil von Hobbes, verhalten sich die Menschen einzeln oder in Gruppen ersichtlich eher „zu einander nach der Gewalt" als nach Regeln des Taktes. Solche - jedenfalls nach Maßgabe cartesianischer Erwartungen - Unoder Fehlvernünftigkeit verweist nicht zuletzt auf die evolutive Herkunft und Rolle der Emotionen im Sozialverkehr, wie Wrangham und Peterson zeigen.72 Diese stellen als verwickeltes Zusammenspiel subjektiver und objektiver Impulse eine zwar spontane, letztlich aber undurchschaute Energiequelle dar. Deren Walten sieht sich von der philosophischen Tradition mit Grenzüberschreitungen gleichgesetzt. Als Schnittmenge aus Lust/Unlust und Wollen sind Gefühle nach Westermarck indes keineswegs per se kulturfeindlich. 73 Laut Hirnforschung bilden sie unser wichtigstes Antriebskapital, womöglich sogar das einzige. Dennoch verdanken sich ihrer Umtriebigkeit vielerlei Verwerfungen. 74 Man denke einzig an den Durchsetzungsdrang, der bisweilen alle Rituale nicht nur der IchDu-Beziehungen sprengt, häufig per fas et nefas. Derartige Entgleisungen lassen sich nicht zuletzt im Umfeld des Selbsterhaltungstriebes besichtigen. Dabei müssen keineswegs Gründe für ein gewaltsames Auftreten vorhanden sein. Die Fehlwahrnehmung von Gefahren respektive Beeinträchtigungen genügt. Oder man hat es im Sinne von Werner Sombart mit den Folgen einer „Prestigebrunft" zu tun,

67

Vgl. Gerhard Ludwig, Massenmord und Weltgeschehen, Stuttgart 1951. Vgl. Jared Diamond , The Rise and Fall of the Third Chimpanzee. How Our Animal Heritage Affects the Way We Live, London 2002, S. 255 ff. 69 Vgl. Michael Mann, The Dark Side of Democracy. 70 Siehe A. H. Ali , Women go ,missing4 by the millions, International Herald Tribune vom 25./26.3.2006, S. 6. 71 G. W. F. Hegel , Philosophische Propädeutik (1809/1811), in: Sämtliche Werke, Bd. 3, hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart 1927, S. 23 ff. und S. 75. 72 Siehe Wrangham/Peterson, Bruder Affe. Menschenaffen und die Ursprünge menschlicher Gewalt, S. 137 ff. 73 Siehe Eduard Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, 2 Bde., Leipzig 1907/1909, S. 1 ff. 4 Siehe Jürgen H. Otto u.a. (Hrsg.), Emotionspsychologie. Ein Handbuch, Weinheim 68

2000.

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die auf Vorteilsstrukturen sinnt. - Empfahl nicht schon Piaton 75 der Mitund Nachwelt lakonisch, wenn es daheim zu eng werde, müsse man „Land von den Nachbarn abschneiden"?

Dimensionen der Souveränität Von Klaus Faupel

I. Die Entwicklung zum modernen Staat* hat sich je nach Weltgegend zeitlich versetzt in zahlreichen und manchmal fließenden Übergängen vollzogen.1 In der Tat hat es schon in prähistorischen Zeiten ihrer selbstbewußte Sozialverbände gegeben, die in der Lage waren, zwischen sich und anderen solcher Verbände zu unterscheiden und mit diesen Beziehungen zu unterhalten. 2 Vermutlich ohne Verlust kann man aber in unserem Bereich die Aufmerksamkeit dort einsetzen lassen, wo die dauerhaft sich selbst tragenden und gegenüber dem Rest der Welt sich abgrenzenden Sozialverbände3 als Handlungseinheiten territorial und nach Bevölkerung präzis definiert worden sind, dort, wo die Institutionen, die für die Entscheidung über die Ordnungen, die für die wichtigsten Lebensbereiche gelten sollen, und für die Durchsetzung dieser Ordnungen4 sowie deren Abschirmung gegen Einwirkung von außen geschaffen worden sind, sich in einem Herrschaftsapparat 5 konkretisiert haben - also im vierten vor* Dieser Beitrag zielt vorrangig auf die Äußere Souveränität und nur am Rande auf die Innere. Gleichwohl hielt die Redaktion es für angezeigt, die vorliegende Analyse bereits an dieser Stelle im Kontext der Grundbegriffe der Gewalt und des Politischen zu bringen. 1 Siehe R. Muir, Modern Political Geography, London 1975, S. 17-19, 21, Fig. 22. 2 Yale H. Ferguson , State, Conceptual Chaos and the Future of International Relations Theory, Boulder 1989, S. 17, 27 f. 3 Zum Konzept der Gesellschaft vgl. Leon H. Mayhew, „Society", International Encyclopedia of the Social Sciences, vol. 14, New York 1968, S. 593 f. 4 Siehe Ι. V. Gruhn , State Formation, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, 26 vols., vol. 22, New York, S. 14970 ff.; Karl W. Deutsch , The Analysis of International Relations, Englewood Cliffs, N. J., 1968, S. 70. 5 Herrschaft ist institutionalisierte Machtausübung. Zu den je nach Legitimitätsbasis verschiedenen Formen der Herrschaft nach Max Weber vgl.: Ossip K. Flechtheim, Herrschaft, in: Harald Kerber !Arnold Schmieder (Hrsg.), Handbuch der Soziologie und Pra-

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christlichen Jahrtausend.6 Konkrete Ausprägungen 7 gibt es viele. In dem Raum, den die Dimensionen Säkularisierung und strukturelle Differenzierung aufspannen, ist die Basislinie durch die traditionalistischen 9 Formen patrimonial , zentralisiert bürokratisch und feudal 10 markiert, soweit es sich nicht um Herrschaftsgebiete sich selbst tragender Städte handelt. Von hier an kann man auch von Staaten, im letztgenannten Fall Stadtstaaten,11 sprechen. - Jedwede politisch organisierte Gesellschaft, auch eine solche mit einem primitiven politischen System,12 als Staat zu betrachten, 13 empfiehlt sich hingegen nicht. 14

xis sozialer Beziehungen, Reinbek 1984, S. 219 f.; Claus Leggewie, Herrschaft, in: Dieter Nohlen!Rainer-Olaf Schulze (Hrsg.), Lexikon der Politik, 7 Bde., Bd. I, München 1995, S. 183 f. Zur Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft vgl.: Manfred Hättich, Theorie der politischen Ordnung, 3 Bde., Bd. 2, Mainz 1969, S. 31-33. 6 Siehe R. Mellor, Nation, State and Territory, London 1989, S. 41 f.; Muir, Modern Political Geography, S. 18 f.; Barry Buzan/Richard Little, The Idea of International System. Theory Meets History, Internat. Pol. Sci. Rev., 15/3, S. 238 f. 7 Zur Vielfalt der Ausprägungen vgl. Ferguson, State, Conceptual Chaos and the Future of International Relations' Theory, S. 76. 8 Im Konzept der Säkularisierung ist die Entpersonalisierung mitgedacht. „Strukturelle Differenzierung" meint, daß Teile des Beitrags den unter modernen Verhältnissen das funktionale Teilsystem Politik, das politische System also, leistet, durch Organisation auf Dauer gestellt werden. Allgemein zum Zusammenhang zwischen dem Gesellschaftssystem und den funktionalen Teilsystemen auf der einen und dem Organisationssystem auf der anderen Seite: Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981, S. 104 f. 9 Traditionalismus und Modernismus sind transhistorische, eher strukturell gemeinte Konzepte. Es ist wichtig, sprachlich und begrifflich dem Umstand Rechung zu tragen, daß es in der Moderne genügend Systeme gibt, deren soziokulturelles Muster althergebracht ist, und daß es bis weit zurück in die Geschichte Systeme gegeben hat, die den am weitesten entwickelten unter den heutigen Systemen in wesentlichen Hinsichten gleichen. 10 Vgl. Gabriel A. Almond/G. Bingham Powell Jr., Comparative Politics. A Developmental Approach, Boston 1966, S. 217; sowie Bendix , Nation-Building and Citizenship. Studies of our Changing Social Order, New York 1964, Kap. 2. Die charismatische Variante bleibt hier ausgeblendet, weil sie nicht auf Dauer gestellt werden kann. Allgemein zu den Herrschaftsstypen von Max Weber: Ossip K. Flechtheim, Herrschaft, in: Kerberl Schmieder (Hrsg.), Handbuch der Soziologie. Reinbek 1984, S. 219 f. 11 Allgemein dazu Aidan Southall, Stateless Society, International Encyclopedia of the Social Sciences, vol. 15, New York 1968, S. 157-168. 12 Zu solchen Systemen vgl. Almond/Powell Comparative Politics, S. 217-223. 13 So F. M. Watkins, State. The Concept, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, vol. 15, New York 1968, S. 150-157. 14 M. H. Fried, State. The Institution, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, vol. 15, New York 1968, S. 150; sowie Mellor, Nation, State and Territory, S. 41 f.; und Ferguson, State, Conceptual Chaos, S. 27. Ferguson ist der Ansicht, daß man wegen der Abgrenzungsprobleme auf das Konzept des Staates verzichten sollte.

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Ein Staatensystem ist eine maximale Menge durch wiederkehrende Probleme der Großen Politik 15 mindestens indirekt miteinander verknüpfter 16 Staaten. Eine gegebene Menge miteinander so verknüpfter Staaten 17 ist genau dann maximal, wenn es keine größere Menge gibt, die das Kriterium der Verknüpfung ebenfalls erfüllt und in der die je betrachtete Menge von Staaten enthalten ist. Gibt es eine solche größere Menge, so kann die je betrachtete Menge von Staaten zwar als Teilsystem betrachtet und analysiert werden, aber nicht als Staatensystem18. In der Disziplin Internationale Politik heißen diese Systeme „Internationale Systeme". Indes ruht noch nicht einmal heute die Mehrzahl der Systemteilnehmer auf einer Nation auf. 19 Die meisten Staaten repräsentieren plurale, fragmentierte Gesellschaften 20 oder bilden gar Quasi-Im-

15 Was gemeint ist, wird im angelsächsischen Diskurs mit „High Politics" bezeichnet. Es handelt sich um Fragen der Herrschaftsgeographie, der Einflußstruktur und der Gewaltmittelstruktur, genauer dazu Klaus Faupel, Ein analytischer Begriff der Entspannung, in: ZfP, 38/2, S. 148-162. 16 Sporadische Kontakte reichen nicht; Beispiele dafür finden sich bei BuzanILittle, The Idea of International System, S. 239-245. 17 Ähnlich: Robert G. Wesson , State Systems. International Pluralism, Politics, and Culture, New York 1978, S. 11. Dies ist zugleich die Initial- und Minimalstruktur. Man kann sie „unreife Anarchie nennen, so Barry Buzan, People, States and Fear. An Agenda for International Security Studies in the Post-Cold War Era, New York 1991, S. 175. Von hier aus können sich verschiedene Strukturlösungen entwickeln. „Negative Community" wäre die nächst höhere, speziell dazu Friedrich Kratochwil, Of Systems, Boundaries, and Territoriality. An Inquiry into the Formation of the State System, in: World Politics, 39/1, S. 33. 18 Ähnlich W. D. Coplin, Introduction to International Politics, ed. Englewood Cliffs, N. J. 1980, S. 23 f.; das Kriterium der Maximalität wird nicht formuliert, vermutlich weil die Formulierung auf das Staatensystem seit 1648 abhebt; das System wird „politisch" genannt, doch wird dieses Attribut nicht erläutert. Auch bei Singer wird das Kriterium der Maximalität nicht angesprochen, weil er von vornherein für die neueste Zeit formuliert und daher ein globales System erhält; vgl. J. D. Singer, The Global System and its Sub-Systems: A Developmental View, in: J. N. Rosenau (Hrsg.), Linkage Politics, New York 1969, S. 21-43. 19 Im Idealfall begreifen sich alle Herrschaftsunterworfenen als Teile ein und derselben von anderen gleichartigen Gebilden abgegrenzten autonomen politischen Gemeinschaft und sehen diese in der Herrschaft, nicht unbedingt in den Herrschenden, sowie in der Willensbildung repräsentiert. Solche Herrschaftsverbände bilden einen Sonderfall der political community im Sinne von Easton. Dessen Konzept wiederum deckt sich mit dem Konzept der polity im angelsächsischen Diskurs. Solche Formationen sind auf allen Aggregationsebenen oberhalb und unterhalb der Herrschaftsverbände anzutreffen. Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life. New York 1965. 20 Genauer dazu Robert Jackson, Plural Societies and New States. A Conceptual Analysis, Institute of International Studies, University of California, Berkeley 1977, S.

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perien 21 - von den Quasi-Staaten22 ganz zu schweigen. Die Welt von heute bildet, um eine prägnante Wendung von Ferguson und Mansbach zu verwenden, ein lebendes Museum.23 Das relevante Material ist ohnehin in mehreren Jahrtausenden Menschheitsgeschichte angefallen. Wie breit die Typik der Handlungseinheiten, die uns im Fach unterkommen, ausfällt, ist oben schon angedeutet worden. „Staatensystem" ist daher der bessere Ausdruck. Staatensysteme, aber auch Segmente24 solcher Systeme, können Staatengesellschaften bilden. 25 Die empirischen Interpretationen dieses theoretischen Konzepts 26 sind allerdings nicht sehr präzis. 27 Es ist die Rede von gemeinsamen Interessen, Werten, Regelsystemen und Institutionen; 28 was die Institutionen betrifft, so werden Krieg, Völkerrecht, Diplomatie, Machtgleichgewicht und Großmachtstatus erwähnt. 29 Einen besseren Zugriff erhält man, wenn man die Idee der Institution präziser durcharbeitet. Kernelement einer Institution bildet ein geordneter Komplex sozialer Normen - im Grenzfall bestehend aus einer ein21 Nicht wenige davon haben sogar internen Kolonialismus praktiziert, unter dem einer soliden Schätzung zufolge zwischen 1900 und 1987 ca. 130 Millionen Menschen mittelbar oder unmittelbar durch ihre eigenen Regierungen ums Leben gebracht wurden; vgl. Rudolph J. Rummel, Death by Government, New Brunswick, N. J. 1994, zit. nach Charles W. KegleylEugene R. Wittkopf, World Politics: Trend and Transformation, 6th ed. New York 1997, S. 176. 22 Vgl. Robert H. Jackson, Quasi-States: Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge 1990. 23 Ferguson!Mansbach, State, Conceptual Chaos, S. 89; sowie Ferguson/Mansbach, Polities: Authority, Identities, and Change, S. 57. 24 Berry Buzan, From International system to International Society. Structural Realism and Regime Theory Meet the English School, in: International Organization, 1993, Bd. 47, S. 344 f. 25 Der Begriff ist im Rahmen der Englischen Schule entwickelt worden. Der Originalausdruck lautet „international society", die autoritative deutsche Fassung „Staatengesellschaft". s. Hedley Bull, „Die anarchische Gesellschaft," in: Karl Kaiser/HansPeter Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik: Strukturen, Akteure, Perspektiven, Stuttgart 1985, S. 32. 26 Allgemein zu theoretischen Konzepten Carl G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science (International Encyclopedia of Unified Science, 2 vols., vol 1, No. 7), S. 29-39; Abraham Kaplan, The conduct of inquiry, San Francisco 1964, S. 71-78; Ernest Nagel, The structure of science, London 1961, S. 97-102. 27 So auch Buzon, From International System to International Society, S. 344; sowie David Armstrong, Revolution and World-Order. The Revolutionary State in International Society, Oxford 1993, S. 30. 28 Vgl. Bull, Die anarchische Gesellschaft, S. 32; auch Adam Watson, The Limits of Independence Relations between States in the Modern World, London, S. 148. 24 Vgl., Bull, Die anarchische Gesellschaft, S. 38.

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zigen Norm, die für sich wiederholende Situationen das Verhalten der Akteure verfestigt und auf Dauer stellt. 30 Im gegebenen Zusammenhang interessieren - jetzt bereits auf die zwischenstaatliche Politik bezogen nicht die internationalen Regime, sondern die Konstitutionellen Normen31 oder Konstitutiven Prinzipien. 32 Diese sind nicht auf einen bestimmten Sachbereich beschränkt. Vielmehr ist ihre Wirkung bereichsübergreifend. In der Bindung an sie erkennt sich eine Kollektion von Akteuren wieder; sie wirkt identitätsstiftend. Davon kann es in einer Staatengesellschaft zu jeder Zeit mehrere geben. Es gibt aber nur eine, die als hinreichend und notwendig angesehen werden kann. Ein Staatensystem ist nichts anderes als eine dezentrale räumliche Organisation der Herrschaft 33, d. h. es enthält Herrschaftsräume, bildet aber als ganzes keinen Herrschaftsraum. Andernfalls läge, was in der Geschichte mehrfach vorgekommen ist, ein Universalreich vor - oder, was noch nie eingetreten ist, gar ein Universalstaat. 34 Kommt es zu einer gewaltlosen Vergesellschaftung - eine gewaltsame wäre mit einer Aufhebung des Staatensystems gleichbedeutend - , so wird diese darin bestehen, daß die räumliche Organisation der Herrschaft in eine segmentare Differenzierung 35 der neuen Staatengesellschaft überfuhrt wird. 30 Siehe R. Pieper, Institution, in: Gerd Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, München, S. 296. In dieser Fassung steht „Institution" nicht für einen Beobachtungsbegriff, sondern für ein theoretisches Konzept. Derselben Art sind auch die abgeleiteten und nachgeordneten Konzepte Normative Institution und Faktische Institution. Gleiches gilt für die Interpretationen der allgemeinen soziologischen Konzepte für den Bereich der internationalen Politik. Solche Konzepte müssen durch Operationalisierungen ins Werk gesetzt werden. - Zürn formuliert von den Verhaltenswirkungen her. Vgl. Michael Zürn, Interessen und Situationen in der internationalen Politik. Grundlegung und Anwendung des situationsstrukturellen Ansatzes, Opladen, S. 17, 143, 146, 149. In der Sache ergibt sich kein Unterschied. 31 Zürn, Interessen und Situationen, S. 149 f. 32 Vgl. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt a. M. 1998, S. 173. 33 Robert G. Wesson , State Systems: International Pluralism, Politics, and Culture, New York 1987, S. 41; John Agnew/Stuart Corbridge , Mastering Space: Hegemony, Territory and International Political Econonmy, London 1995, S. 14 f. 34 Im systemanalytischen Jargon wird dieser Systemzustand, welcher der politischen Ordnung moderner Nationalstaaten gleicht, „hierarchisch" genannt: vgl. Morton A. Kaplan, System and Process in International Politics, New York 1957, S. 48-50. Er ist in Staatensystemen noch nie als Endzustand vorgekommen und wird daher auch hier nicht näher besprochen. 35 Genauer zu dieser Art der Gesellschaftsdifferenzierung: Claudio Baraldi, Gesellschaftsdifferenzierung, in: Claudio Bar aldi! Giancarlo Corsi/Elena Esposito , GLUGlossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 65 f.; Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 2. Aufl., Opladen 1971, S. 124; Ri-

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Analog gilt dies für den Fall, in dem ein Teil eines Staatensystems sich als Staatengesellschaft konstituiert. Immer wird die faktische Gleichartigkeit der Subsysteme normativ festgeschrieben und damit geschützt. Mehr ist nicht erforderlich, und mit weniger 36 findet eine Vergesellschaftung nicht statt. 37 Eine Bestandsgarantie gegen Partial- oder Totalannexion ist nur intuitiv, nicht aber analytisch fur die Existenz einer Staatengesellschaft notwendig; daß sie nicht gegeben wurde, hat ja auch in der Sicht der Teilnehmer dem Westfälischen Frieden den Charakter einer Errungenschaft nicht nehmen können. Jene Norm, die der moralischen und rechtlichen Abwehr jedenfalls eines diskriminierenden Fremdzugriffs auf den einzelnen Herrschaftsraum dient, kann als die notwendige und hinreichende Bedingung einer Staatengesellschaft angesehen werden und als die zentrale Konstitutionelle Norm, das fundamentale Konstitutive Prinzip. Es versteht sich, daß hier von einem idealtypischen Entwicklungspfad die Rede ist. Nicht nur theoretisch kann eine segmentar differenzierte Staatengesellschaft auch das Spaltprodukt einer bereits nach dem Prinzip „Zentrum-Peripherie" 38 differenzierten Staatengesellschaft oder eines funktional differenzierten Universalreiches bilden. Analog mag eine Staatengesellschaft, die den Raum des Systems nicht ausfüllt, aus einem Imperium, einem Dominium, einer Hegemonie39 und sogar aus einem Territorialstaat entstehen. Überhaupt trägt die Dynamik der Staatengeographie, die jedenfalls in unserem sich seit ca. 500 Jahren nach und nach

chard Münch, Theorie sozialer Systeme. Eine Einfuhrung in Grundbegriffe, Grundannahmen und logische Struktur, Opladen 1976, S. 28. 36 Dazu Buzan, From International System to International Society, S. 344. 37 Zu derselben Lösung gelangen auf intuitionistische Weise: David Armstrong, Revolution and World-Order: The Revolutionary State in International Society, Oxford 1993, S. 32 f., S. 245; Buzan , From International System to International Society, S. 47 und 346 f. - Diese Art der Segmentierung kann in andere Arten überfuhrt oder gleich für den ersten Wurf gewählt werden. Vgl. dazu Alexander B. Murphy, The Sovereign State System as Political-Territorial Ideal: Historical and Contemporary Considerations, in: Thomas J. Biersteker!Cynthia Weber (Hrsg.), State Sovereignty as Social Construct, Cambridge 1996, S. 91. Dies ändert nichts an der Tatsache, daß segmentäre Differenzierung hinreichend und jedenfalls der Durchgang durch sie notwendig ist. 38 Zu diesen Prinzipien der Differenzierung vgl. Baraldi, Gesellschaftsdifferenzierung, S. 66-71. 39 Zu diesen Strukturkategorien, die auf ganze wie auch Subsysteme anwendbar sind, vgl. Adam Watson, The Evolution of International Society. A Comparative Historical Analasys, S. 14-16. - Historisch ist im europäischen Teil des Staatensystems die Idee der Souveränität aus dem Zusammenbruch einer nach dem Prinzip Zentrum-Peripherie differenzierten regionalen Staatengesellschaft geboren worden.

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den ganzen Globus einverleibenden Staatensystem reichlich für Geburtsund Todesfälle und dafür sorgt, 40 daß es zu jeder Zeit Gebilde gibt, die um den Verbleib im Klub oder aber um den Eintritt in diesen, also um Anerkennung, 41 ringen. Diese Vorstellung einer zentralen Konstitutionellen Norm ist auch in jenem semantischen Raum vertreten, in dem sich der politische Diskurs - er gehört zum Objektbereich, nicht zum Subjektbereich der Wissenschaft - , der unter dem Titel der „Souveränität" seit Jahrhunderten gefuhrt wird, bewegt. Der Begriff der Souveränität ist dabei durch viele Wandlungen gegangen,42 was mit der Eigenart des politischen Diskurses zu tun hat. Dessen Kennzeichen liegt darin, daß er im Unterschied zum wissenschaftlichen Diskurs nicht informativ-designativ, sondern valuativ-präskriptiv ist. 43 Nicht nur um Orientierung geht es, sondern auch und vor allem um die Gestaltung gemeinsamer Universa. Bedürfnisse und Interessen verleiten hier zu strategischem Sprachgebrauch. Dies gilt besonders dann, wenn durch Subsumtionen Schlüsse auf Rechtsfolgen erzeugt werden können. 44 Mit dem Wandel in der semantischen Dimension hat es daher sein Bewenden nicht - es ändert sich auch die Sprach40

Vgl. Theodore Wyckoff, Standardized List of National Political Units in the Twentieth Century. The Russett-Singer-Small List of 1968 Updated, in: International Social Science 32/4, S. 833-846; Kristian S. GleditschlMichael D. Ward, A Revised List of Independent States since the Congress of Vienna, in: International Interactions, 25/4, S. 393-413. 41 Diese erfolgt für gewöhnlich nicht durch internationale Entscheidung, aber auch nicht rein aggregativ; vgl. J. David Singer!Melvin Small , The composition and status ordering of the international system: 1815-1940, World Politics, 18/2, S. 246 f. Es hat aber auch Ausnahmen gegeben; vgl. die Untersuchungen im Teil II von Hedley Bull/Adam Watson (Hrsg.), The Expansion of International Society, Oxford, zu der Aufnahme Chinas, Äthiopiens, Japans, Siams und des Osmanischen Reiches, ferner Gerrit W. Gong, The Standard of »Civilization4 in International Society, London 1984. Erst seit Gründung der UNO reicht für die Aufnahme in diese und in die Staatengesellschaft die Geburt als Staat. 42 Alexander B. Murphy , The Sovereign State System as Political-Territorial Ideal. Historical and Contemporary Considerations, in: Thomas J. Biersteker!Cynthia Weber (Hrsg.), S. 87; Alex Singer , Nationalstaat und Souveränität. Zum Wandel des europäischen Staatensystems, Frankfurt a. M. 1997, S. 25 f., S. 28-31; Adam Watson, The Limits of Independence. Relations between States in the Modern World, London 1997, S. 130-132. 43 Vgl. dazu die Systematik der Diskurse bei Charles Morris, Language, and Behavior, New York 1946, S. 125. Es handelt sich hier um die Kerndiskurse, nicht um die einzelthemenbezogenen Sprachspiele der heutigen Diskursanalyse. Zu dieser vgl.: Jürgen Kriz, in: Nohlen/Schulz (Hrsg.), Lexikon der Politik, 2 Bde., München 2004. Zum Streit um Begriffe im Völkerrecht vgl. Wilhelm G. Grewe, Spiel der Kräfte in der Weltpolitik, Düsseldorf 1970, S. 389.

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pragmatik. Was Wunder, daß „Souveränität" oft auch eine Kampfparole und oft sogar ein Kampfbegriff war! 45 So lange ist es noch gar nicht her, daß man diesen Zusammenhang auch in der Gestalt der BreschnewDoktrin direkt „besichtigen" konnte.46 In diesem Diskurs wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion zu diesem Themenkreis erscheint die obige Frage nach der zentralen konstitutionellen Norm im Gewände zweier Fragen. Die eine richtet sich darauf, was unter der Formel der Gleichheit der Staaten zu verstehen sei. Die andere lautet, ob und, wenn ja, in welcher Weise von außen auf die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten eingewirkt werden dürfe. 47 Mit Wendungen wie domestic authority , structures und Hinweisen auf Autonomie, Interventionsverbot und Anerkennung erreicht die einschlägige wissenschaftliche Diskussion ihr Maximum an Präzision. 48 Daß es um den Schutz eines reichhaltigen und gegliederten Ensembles von Angriffspunkten geht und um eine Palette von Angriffsarten, erschließt sich nur indirekt. Einblick erhält man durch die Beispiele, die in der Literatur zumeist in der Absicht ausgebreitet werden, durch Aufweis der einschlägigen Normverletzungen die Grenzen und die historischen Rückzugslinien der Souveränität abzustecken. Da man nicht weiß, ob die Fallsammlung, die sich in der Summe ergibt, auch repräsentativ ist, soll im Folgenden die Tiefenstruktur der Norm systematisch herausgearbeitet werden.

II. Sofern die Herrschaftsräume als Teile der legitimierten segmentären Differenzierung erscheinen, ist ihre Anerkennung als Entität gleicher Art gegeben. Für neue Mitglieder gibt es, wie weiter unten noch zu zeigen 45 Ähnlich: Thomas J. Biersteker! Cynthia Weber , The social construction of state sovereignty, in: Bier steker! Weber, State Sovereignty, S. 3 f.; Stephen D. Krasner , Sovereignty. Organized Hypocrisy, Princeton N.J. 1999, S. 152; Stephen D. Krasner , Sovereignty. Political, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, vol. 22, New York 2001, S. 14709; Singer , Nationalstaat und Souveränität, S. 22. 46 Henn-Jüri Uibopuu (1983), Die Völkerrechtsauffassung der »sozialistischen4 Staaten, in: Hanspeter Neuhold!Waldemar Hummer!Christoph Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, 2 Bde., Bd. 1, Wien, S. 27 f. 47 Vgl. Krasner, Sovereignty, S. 73. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang für gewöhnlich ganz unbestimmt von „constitutional independence" oder „constitutional sovereignty" gesprochen. Vgl. Ferguson, State, Conceptual Chaos, S. 60. 48 Vgl. Krasner, Sovereignty- Die Ungenauigkeit in der wissenschaftlichen Diskussion kritisieren auch: Joseph A. Camilleri/Jim Falk, The End of Sovereignty: The Politics of a Shrinking and Fragmenting World, Aldershot 1992, S. 238 f.

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sein wird, Aufnahmeregeln. Der anerkannte Staat hat Anspruch auf Achtung der Souveränität, wie sie jeweils materiell definiert ist. Es kann sich ereignen, daß ein Staat faktisch als souverän behandelt wird, soweit die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten betroffen sind, der Anerkennung als Gebilde gleicher Art aber entbehren muß. 49 Diese Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten sind bestimmt durch die Reichweite, die Willensbildung, die Willensdurchsetzung und durch den Modus der Herrschaftsbestellung. 50 Die Einwirkung von außen kann sich auf die Regelung von Ordnungsfragen 51 und, so bei der Willensbildung und der Willensdurchsetzung, 52 auch auf Ablauf (Verfahrensfragen) und Inhalt der Entscheidungen wie auch auf den policy output beziehen.53 Die Regelungen, die statuiert werden, formulieren Rechte des einzelnen Staates, die ihrerseits definiert sind durch Unterlassungs- und Duldungspflichten der übrigen Staaten. Zuerst aber zur Willensdurchsetzung, zur Ausübung der Herrschaft! Nicht in jeder Form, sehr wohl aber in der Gestalt der institutionalisierten Machtausübung mit dem Ziel der Durchsetzung gesamtgesellschaftlich bindender Entscheidungen,54 zum Zweck von rule application und rule adjudication ,55 in der Absicht der autoritativen Allokation von Werten, 56 bedarf Herrschaft der Organisation. 57 Die Herrschaftsstruktur kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, zumal von der Sache her die Gerichtsbarkeit einen integralen Bestandteil der Herrschaft darstellt. 58 Hinzu kommt, daß der Zugang zur Herrschaftsstruktur höchst verschieden geregelt sein mag; er kann der Gesamtheit der Herrschafts49

Krasner, Sovereignty, S. 75. Diese Aufgliederung habe ich von Hättich übernommen. Vgl. Manfred Hättich, Theorie der politischen Ordnung (Lehrbuch der Politikwissenschaft, 3 Bde., Bd. 2), Mainz 1969, S. 23-38. 51 Krasner spricht in diesem Zusammenhang von „institutions": Krasner, Sovereignty, S. 20. 52 Krasner spricht in diesem Zusammenhang von „domestic authority structures": Krasner, Sovereignty, S. 20. 53 Allgemein und genauer zu den Etappen Werner Janni Kai Wegrich, Phasenmodelle und Politikprozesse. Der Policy Cycle, in: Klaus Schubert/Nils C. Bandelow (Hrsg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München 2003, S. 79. 54 Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981, S. 82. 55 Almond! Powell, Comparative Politics, S. 29. 56 David Easton, A Systems' Analysis of Political Life, New York 1965, S. 350. 57 Vgl. Flechtheim, Herrschaft, in: Kerber ! Schmieder, Handbuch der Soziologie S. 218 f. 58 Vgl. Hättich, Theorie der politischen Ordnung, S. 24-28, S. 132 f.; Almond! Powell, Comparative Politics, S. 142-163. 50

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unterworfenen prinzipiell offen, aber auch bestimmten Kategorien oder „Gruppen" 59 vorbehalten sein.60 Dazu nun mögen fremde Regierungen ganz eigene Präferenzen entwickeln. Weniger interessant für das Ausland ist für gewöhnlich die Ablauforganisation. Die Herrschaftsstruktur, der Zugang zu ihr und der Implementationsoutput insgesamt61 wie auch bestimmte Einzelentscheidungen sind hingegen durchaus angetan, im Ausland Interesse hervorzurufen und Handlungsbedarf zu wecken. Der Sachbereich, in dem sich die Ausübung von Herrschaft abspielt, füllt jenen Raum, der mit den Staatsaufgaben abgesteckt ist, 62 nicht aus. Dieser ist groß und unbestimmt. Mit Max Weber kann man sagen, daß kaum eine Aufgabe vorstellbar ist, deren sich nicht irgendwann und irgendwo ein politischer Verband angenommen hätte, und kaum eine, die unter allen Umständen ausschließlich bei einem Herrschaftsverband ressortiert hätte.63 Vielmehr dreht es sich hier primär um die Staatsaufgabe Ordnung des Zusammenlebens, 64 womit die Ordnung der grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen jenseits der politischen und der Herrschaftsbeziehungen gemeint ist. In der Terminologie der strukturellfunktionalen Theorie läßt sich der Sachbereich auch mit einem Verweis auf das soziale und das wirtschaftliche Teilsystem angeben.65 Umgangssprachlich formuliert, handelt es sich um die Ordnung des familiären, des gesellschaftlichen und des wirtschaftlichen Lebens. Insofern, als gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen nichts bedeuten, wenn sie nicht durchgesetzt werden, kommt überall dort, wo die Politik sich

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Dieser Terminus hat sich für sekundäre Kollektive eingebürgert. Wissenschaftlich sinnvoller ist die Unterscheidung zwischen Gruppen als primären Kollektiven, gekennzeichnet durch direkte Interaktionsbeziehungen zwischen allen Einheiten, Systemen als sekundären Kollektiven, gekennzeichnet durch mindestens indirekte Interaktionsbeziehungen zwischen allen Einheiten, und Kategorien als Ensembles von Einheiten ohne Sozialstruktur. Vgl. dazu Johan Galtung, Theory and Methods of Social Research, London 1970, S. 39 f. 60 Hättich, Theorie der politischen Ordnung, Bd. 2, S. 58-64. 61 Werner Jann/Kai Wegrich, Phasenmodelle und Politikprozesse. Der Policy Cycle, in: Klaus Schubert/Nils C. Bandelow (Hrsg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München 2003, S. 79. 62 Zu verschiedenen Möglichkeiten der Systematisierung vgl. Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 213-218. 63 Max Weber, Staatssoziologie, zitiert nach Günter Hesse, Staatsaufgaben. Zur Theorie der Legitimation und Identifikation staatlicher Aufgaben, Baden-Baden 1979, S. 15. 64 Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz , S. 324-346. 65 Vgl. Karl W. Deutsch, Analyse internationaler Beziehungen: Konzeptionen und Probleme der Friedensforschung, Frankfurt a. M. 1968, S. 24.

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weitere Staatsaufgaben gestellt hat, bei der Ausübung von Herrschaft auf der Ebene der Implementation deren Erledigung mit ins Spiel. Die Reichweite bemißt sich nach dem Umfang, in dem die herrschaftlich verfügten Ordnungen sich dem Pol der Ablaufsteuerung nähern, 66 mit Konsequenzen fur die Herrschaftsausübung. Man kann in diesem Zusammenhang von totaler im Unterschied zu einer partiellen politischen Repräsentation der Herrschaftsunterworfenen sprechen. Im letztgenannten Fall sind eben nicht alle Angelegenheiten aller Individuen und sozialen Strukturen herrschaftlich geregelt und der herrschaftlichen Durchsetzung zugänglich.67 Es bleibt die Zivilgesellschaft 68 und mit ihr ein Freiheitsspielraum für individuelle Lebensgestaltung. Je mehr die Herrschaftsunterworfenen mit ihrer gesamten Existenz im politischen System aufgehen, vom politischen System repräsentiert werden und in dessen Dispositionsraum fallen, je weiter sich also die politische Repräsentation dem Pol der Totalität annähert, desto stärker dehnt sich der oben skizzierte Sachbereich der Herrschaft auf das kulturelle System aus. Die Willensbildung bis zum Punkt der Entscheidung und auch diese selbst, der Herrschaftsakt, bedürfen nicht unbedingt einer organisatorischen Struktur 69. In den meisten modernen Systemen gibt es fur die „Herstellung bindender Entscheidungen"70 jedoch eine Willensbildungsorganisation. Auch diese kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Abermals gilt, daß der Zugang höchst verschieden geregelt sein kann; er kann der Gesamtheit der Herrschaftsunterworfenen grundsätzlich offen, aber auch bestimmten Kategorien von Personen vorbehalten sein. Es überrascht nicht, daß fremde Regierungen zu solchen Fragen ganz eigene Präferenzen bilden können. Die Struktur der Willensbildungsorganisation, der Zugang zu ihr, die Ablauforganisation und der Prozeß, durch den abschließende Entscheidungen gefällt werden - man denke an die geheimdienstliche Infiltration - , und die ihm vorausgehenden Vorent66 Man kann in diesem Zusammenhang auch von Regelungstiefe sprechen. Genauer àdzuAxel Görlitz!Rüdiger Voigt, Rechtspolitologie. Eine Einführung, Opladen 1985a), S. 177-180. 67 Hättich, Theorie der politischen Ordnung, S. 33-38. 68 Zu den verschiedenen praktisch-politischen und normativen Interpretationen dieses Konzepts vgl. Georg KneerlGerd Nollmann, Zivilgesellschaft, in: Georg Kneer!Armin Nassehi!Markus Schroer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, 2. Aufl. München 2000, S. 228-251. 69 Hättich, Theorie der politischen Ordnung, S. 28-33. 70 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, S. 82.

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Scheidungen: sie alle bilden Punkte, an denen anzusetzen ausländische Regierungen ein Motiv haben können. - Ein Schutz der Willensbildung gegen Fremdeinwirkung läßt sich praktisch nur bereichsspezifisch bewerkstelligen; es ist nicht ersichtlich, wie eine Begrenzung auf die Willensbildung zu Herrschaftsakten durchgehalten werden könnte. Besonders kritisch ist der Prozeß der Verteilung der Positionen im Herrschaftsapparat, der Machtprozeß. 71 Für die Herrschaftsbestellung gibt es diverse Verfahren. 72 Auch hier gilt, daß ausländische Regierungen sich alternative Verfahren wünschen können. Noch öfter wecken laufende Verfahren die Lust auf Beeinflussung; man denke an das Scheitern des Misstrauensantrags gegen Bundeskanzler Brandt im Sechsten Deutschen Bundestag am 27.4.1972. Als Angriffsarten kommen der Befehl, die rechtlich ungestützte Forderung und der Eingriff in Frage. Der Hinweis auf die Handlungsform Befehl mag befremden. Indes ging es historisch, also im europäischen Zentrum des seit ungefähr 500 Jahren mehr und mehr weltumspannenden, globalen Staatensystems - mit Blick auf die Souveränität als Rechts- und Statusbegriff - in erster Linie um genau diese Angriffsart. 73 Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurden solche Rechte, wie sie bis dahin oberhalb der einzelnen Herrschaftsräume, 74 nämlich beim Kaiser und beim Papst, gelegen hatten, kassiert und darüber hinaus den Mitgliedern der neuen Staatengesellschaft für den Umgang miteinander von vornherein und explizit vorenthalten. 75 Was die Angriffsart der rechtlich ungestützten Forderung betrifft, so kann sie durchaus mit positiven Sanktionen unterlegt sein; souveränitätsrelevant ist hier allerdings nur

71 Siehe Charles Lewis Taylor/David A. Jodice, Political Protest and Government Change, in: World Handbook of Political and Social Indicators, vol. 2, 3. Aufl. London 1983, S. 81 f. 72 Hättich, Theorie der politischen Prozesse, Bd. 3, S. 44-51. 73 Zur Frage von historischen Staatensystemen, wie sie vor Beginn der europäischen Welteroberung ihren Zyklus vollendet haben, siehe Barry Buzan, People, States and Fear. An Agenda for International Security Studies in the Post-Cold War Culture, New York 1978, S. 18-25. 74 Im gleichen Zuge mit diesen oberhalb des Herrschaftsraumes angesiedelten älteren Rechten wurden Rechte unterhalb der Spitze des Herrschaftsraumes kassiert. Vgl. Holsti, International Politics. A Framework for Analysis, S. 46 f.; Krasner , Sovereignty (Encyclopedia), S. 14706 f. Vgl. Holstiy International Politics: A Framework for Analysis, S. 46; sowie Ferguson/Mansbach , Polities: Authority, Identities, and Change, S. 12.

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der Normalfall des Druckes, 76 also des Einsatzes negativer Sanktionen diesseits der Gewaltanwendung. Unter die Angriffsart Eingriff fällt nicht nur der Zwang. Einschlägig sind auch Hoheitsakte auf fremdem Territorium, vorwiegend gegen Personen und zumeist mit geheimdienstlichen Mitteln bewerkstelligt. Zu denken ist ferner an inoffizielle Operationen der Destabilisierung wie Infiltration, Diversion und Subversion. 77 Anders verhält es sich mit dem Anspruch. Bereits die erste, historisch weiteste Fassung der Souveränität schränkte die Ausübung der Herrschaft für einen bestimmten Bereich, die Religion, ein. Immerhin hatten solche Fragen in der Sicht der Zeitgenossen im Dreißigjährigen Krieg eine bedeutende Rolle gespielt.78 So überrascht es nicht, daß in der Folgezeit Herrschende die Praxis entwickelten, sich auf bestimmte Praktiken im Umgang mit den Herrschaftsunterworfenen auf ihrem Territorium zu verpflichten, indem sie Verträge oder Konventionen abschlossen.79 Erstere binden zwei oder mehr als zwei Staaten oder einen Staat und eine andere Handlungseinheit, etwa eine zwischenstaatliche Organisation, doch hängt die Einlösung der Verpflichtungen davon ab, ob die Vertragspartner desgleichen tun. 80 Letztere sind Übereinkommen, unter denen die Verpflichtungen unabhängig davon gelten, ob alle Signatare sich an die Konvention halten.81 Verträge oder Konventionen sind es, die 76 In der Literatur wird auch die Auffassung vertreten, daß die Androhung von Gewalt nicht hierher gehöre, sondern in die Rubrik Zwang; vgl. G. R. Berridge, International Politics. States, Power and Conflict since 1945, London 1992, S. 108. Gewiß steht das auch so in der Charta der UNO; vgl. Wilhelm G. Grewe, Spiel der Kräfte in der Weltpolitik, 1970, S. 461 f. In der Praxis wird hier aber ein deutlicher Unterschied gemacht, und dies ist fur die empirisch-analytische Begriffsbildung ausschlaggebend. 77 Bewaffnete Angriffe auf die technische, die wirtschaftliche, die politische, die administrative und die gesellschaftliche Infrastruktur, auf strategisch wichtige Produktionseinrichtungen und auf Elitepersonal gehören hingegen schon zur irregulären, subliminalen, oft indirekten Kriegsflihrung, bekannt als „low-intensity conflict". Dabei geht es nicht mehr nur darum, in die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten einzugreifen, sondern um die Ausübung von Zwang. Vgl. Steven Metz, An American Strategy for Low-Intensity Conflict, in: Strategic Review 1989, 17/4, S. 9-17; W. 1 Olson, Low-Intensity Conflict. The Challenge to the National Interest Terrorism, 12/2, S. 77; V. K. Sood, Low-Intensity Conflict. The Source of Third-World Instability, Studies in Conflict and Terrorism, 15/4, S. 234 f. - Allgemein zu diesem Komplex Holsti, International Politics. A Framework for Analysis, S. 199 f, 202 ff. Wenn einmal Krieg herrscht, ist die Frage nach der Souveränität gegenstandslos. 78 Krasner, Sovereignty, S. 33 f. 79 Krasner, Sovereignty, S. 26. 80 Krasner, Sovereignty, S. 33-36. 81 Krasner, Sovereignty, S. 30-33.

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als Basis fur Ansprüche in Frage kommen. Diese Wirkungsform dient lediglich der Durchsetzung bestehender Verpflichtungen und kann negative (Repression oder Repressalie), aber auch positive Sanktionen einschließen. Ansprüche bestätigen in bezug auf die Souveränität den je erreichten historischen Stand; Befehle, ungestützte Forderungen und Eingriffe stellen hingegen den diesbezüglichen status quo in Frage.

III. Um für eine historische Epoche die Konturen der Souveränität nachzuziehen, müßte man die Frage nach dem idealisierten Forschungsmodell 82 erheben, in welchem Umfang Willensbildung, Herrschaftsbestellung, Reichweite der Herrschaft und herrschaftliche Willensdurchsetzung von außen durch Befehl, rechtlich ungestützte Forderung, Eingriff und Anspruch bestimmt worden sind. Im praktischen Forschungsmodell könnte man hingegen nur vorsehen, je Angriffspunkt und Handlungsform durch Stichproben erstens die in den Köpfen der exekutiv-administrativen Spitzengruppen herrschenden Vorstellungen von der Norm und zweitens die Normverletzungen bzw. -bestätigungen zu ermitteln, woraus man dann das Ausmaß an Konformität schätzen könnte. 83 Empirisch ermittelt werden soll, in welchem Umfang in einer bestimmten historischen Epoche Souveränitätsrechte in der Staatenpraxis bewußt beschnitten oder aber notorisch verletzt werden, vielleicht bis zu einem Punkt, an dem sie zu totem Recht werden. Als Ergebnis erhielte man ein Profil, und dieses würde die Staatengesellschaft als ganze kennzeichnen. Dergleichen ist noch nicht versucht worden. Auf der Grundlage der vorliegenden Analysen läßt sich zusammenfassend nur sagen, daß das Verbot des Befehls, wenn man von der Napoleonischen Zeit absieht, bis heute befolgt wird und daß rechtsgestützte, die Souveränität nicht verletzende Fremd-, besser: Außeneinwirkung, immer häufiger vorkommt. Dies hat damit zu tun, daß dafür immer neue Grundlagen erstellt werden. Dabei handelt es sich um Konventionen - einer Errungenschaft erst des

82 Dazu Russell L Ackoff, The Design of Social Research, Chicago 1953, Kap. III.; sowie Deitert C. Miller, Handbook of Research Design and Social Measurement, London 1991, S. 15. 83 Für eine Analyse mit qualitativer Methodik vgl. Alexander B. Murphy , The sovereign state system as political-territorial ideal. Historical and contemporary considerations in: Bier steker /Weber (Hrsg.), State Sovereignty as Social Construct, S. 81-120.

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20. Jahrhunderts 84 - sowie Kontrakte 85 mit einem Schwerpunkt, der sich von den Minderheitenrechten allmählich über die Menschenrechte schiebt. Für das Gesamtsystem ist hier das Implementationsdefizit freilich noch riesengroß, wenn auch rückläufig. 86 Normverletzungen kommen allerdings gar nicht so selten vor. Deren Gewicht einzuschätzen, ist jedoch außerordentlich schwierig. Eine der Schwierigkeiten hat ihre Ursache darin, daß sich unter den Verträgen auch solche finden, auf die sich einige der Partner nur durch Nötigung oder gar Zwang oder aber aus opportunistischen Motiven eingelassen haben.87 Sie gehen auf rechtlich ungestützte Forderungen zurück, bilden fortan aber eine Grundlage, auf der Ansprüche erhoben werden können. So haben alle bedeutenderen Friedensverträge seit dem Westfälischen Frieden Vorgaben für die konkrete Herrschaftsausübung enthalten, welche die Parteien sehr selektiv belasteten.88 Dasselbe gilt für viele internationale Entscheidungen, durch die auf Kosten schwächerer Parteien Probleme bereinigt wurden, welche als sogenannte Fragen die wichtigen Akteure länger beschäftigt hatten.89 Große internationale Entscheidungen durch Schaffung vollendeter Tatsachen gehören ebenfalls in diese Rubrik. 90 Ähnlich liegt der Fall auch, wenn es um die Aufnahme neuer Staaten in das Staatensystem und zugleich in die Staatengesellschaft geht.91 Es gibt jedoch gute Gründe dafür, bei unserem Staatensystem Ausnahmebetrieb und Routinebetrieb auseinanderzuhalten. Unser Staatensystem war in den letzten paar Jahrhunderten nicht systemdominant, es lag vielmehr in der Nähe des Pols der Subsystemdominanz. Dies bedeutet, daß die Spielregeln nicht für alle Subsysteme im gleichen Maße den Charakter parametrischer Gegebenheiten besitzen.92 Der Grund dafür liegt darin, daß in diesem Staatensystem so gut wie alles, was Ein-

84

Krasner, Sovereignty, S. 30-33. Krasner, Sovereignty, S. 33 f. 86 Thomas Schaber, Internationale Verrechtlichung der Menschenrechte: Eine reflexive institutionentheoretische Analyse des Menschenrechtsregimes der Vereinten Nationen, Baden-Baden 1996, S. 219-224. 87 Krasner, Sovereignty, S. 33 f. 88 Krasner, Sovereignty, S. 28 f. 89 Krasner, Sovereignty, S. 28 f., 33 f. 90 Hier ist die Nachkriegspolitik der Sowjetunion in Osteuropa einschlägig. 91 Krasner, Sovereignty, S. 39 f., S. 224. 92 Morton Α. Kaplan, System and Process in International Politics, New York 1957, S. 16 f. 85

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Wirkung auf bilaterale, plurilaterale und systemweite internationale Entscheidungen verschafft, extrem schief verteilt ist 93 und es stets war. Einige Systemteilnehmer gibt es immer, die der Schutzwirkung systemweit geltender Normen nicht bedürfen, wohl aber über die Mittel verfugen, sich über bestehende Normen hinwegzusetzen oder sie zu ihren Gunsten zu verändern, besonders dann, wenn die Systemteilnehmer zu mehreren sind. Zum Ausnahmebetrieb gehört in den meisten Fällen auch die Aufnahme neuer Mitglieder in das Staatensystem und zugleich in die Staatengesellschaft. Es geht nicht nur um die Zuerkennung von Rechten, sondern auch um die Auferlegung von Pflichten. Die Dynamik der Souveränität als Institution liegt, wie oben dargestellt, mit ihrem Schwerpunkt im Felde der konkreten Herrschaftsausübung. Hier jedenfalls gibt es für alle Systemmitglieder seit jeher und überdies progredient Beschränkungen. Diese müssen, wo immer man es mit Problemfällen zu tun hat, solchen neuen Mitgliedern auch förmlich und unter Umständen in verschärfter Form auferlegt werden. Es ist schwierig, solche Vorgänge als Verletzung der Norm einzustufen. 94 Dies gilt sogar für den Fall, daß die zur Aufnahme als neue Mitglieder anstehenden Herrschaftsräume als Staaten nicht neu sind, 95 also eine erkennbare Identität besitzen. Erst recht erscheint es dringend geboten, den Bruchstücken fortbestehender 96 oder untergegangener 97 Imperien, die zur Staatenwelt stoßen wollen, einschlägige Verpflichtungen gewissermaßen in die Geburtsurkunde zu schreiben. Wie viele es sind, die am Ende als Fälle der erfolgreichen Souveränitätsverletzung oder des geglückten Souveränitätsentzugs durch Druck oder Eingriff für den Routinebetrieb des Staatensystems über die Jahrhunderte bleiben, ist schwierig zu beurteilen. Sie sind selten spektakulär genug, um die Aufmerksamkeit der Berichterstattung und der For93

Daniel Frei, Die Entstehung eines globalen Systems unabhängiger Staaten, in: Kaiser/Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik, S. 23 f. 94 Anders Krasner , Sovereignty (Encyclopedia), S. 14708. 95 Vgl. Die Untersuchungen im Teil II von Hedley Bull/Adam Watson (Hrsg.), The Expansion of International Society, Oxford; ferner Gerrit W. Gong, The Standard of »Civilization4 in International Society, Oxford 1984. 96 Beispiele bietet die Demontage des Osmanischen Reiches. Vgl. Krasner, Sovereignty, S. 84-90. 97 Solche Fälle wurden im Versailler Vertrag mit geregelt. Vgl. Krasner, Sovereignty, S. 90-96. Mit der Osterweiterung läßt die Europäische Union auf einer höheren Ebene dasselbe Verfahren ablaufen.

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schung auf sich zu ziehen. Hinreichend aufsehenerregend scheint nur die Weise gewesen zu sein, in der die USA im 20. Jahrhundert mit den Staaten in Mittelamerika und der Karibik umgegangen sind. 98 - Die Politik der kurzlebigen Heiligen Allianz und die Intra-Block-Beziehungen besonders des Warschauer Paktes in den Jahren des Ost-West-Konflikts fallen wegen des Ausnahmecharakters heraus. - Hier ist also noch viel zu tun. Systematischer Erhebung bedürfen auch die verdeckten unter den Eingriffen. Bekannt dafür waren bzw. sind aus der jüngeren Vergangenheit der Iran, Libyen, Syrien und zu Zeiten des Ost-West-Konflikts einige Staaten des damaligen Warschauer Paktes, aber auch die USA, Israel und das heutige Russland. Zu wenig weiß man ferner über Versuche, zum Zweck der Durchsetzung im Prinzip rechtsgestützter Forderungen verdeckt und zumeist indirekt, gestützt auf lokale Kräfte, in den Machtprozeß anderer Staaten einzugreifen oder gar Regimewechsel zu betreiben.

IV. Dies ist der Kern der Souveränität. Dafür ist die Bezeichnung „Westfälische Souveränität" in Gebrauch gekommen.99 Der Sache nach handelt es sich um Äußere Souveränität; 100 es geht um die Abwehr von Außeneinwirkungen, die Bewahrung der Unabhängigkeit. Wie oben bereits ausgeführt, ist für eine Staatengesellschaft mehr nicht erforderlich und findet mit weniger eine Vergesellschaftung nicht statt. Mit der so definierten Souveränität wird der Kontext für alle Beziehungen zwischen den Staaten hergestellt. 98

Krasner, Sovereignty, S. 38 ff. Genauer dazu Krasner , Sovereignty, S. 20-25. Vgl. ferner Gene M. Lyons/Michael Mastanduno (Hrsg.), Beyond Westphalia? State Sovereignty and International Intervention, Baltimore; sowie Yale H. Ferguson!Richard W. Mansbach , Beyond Inside/Outside. Political Space and Westphalian States in a World of „Politics", Global Governance 2/2, S. 261-287; Mark W. Zacher , The Decaying Pillard of the Westphalian Temple. Implications for International Order and Governance, in: James N. Rosenau/ Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), Governance Without government, Cambridge, S. 5899

101. 100

In diesem Sinne auch Gottfried-Karl Kindermann, Internationale Politik in Theorie, Analyse und Praxis, in: Gottfried-Karl Kindermann (Hrsg.), Grundelemente der Weltpolitik, 4. Aufl. München, S. 73 f.; Alan James, Sovereign Statehood. The Basis of International Society, London 1986. Jackson spricht in diesem Zusammenhang von negativer Souveränität und bezeichnet die operative Unabhängigkeit als positive Souveränität; vgl. Robert H. Jackson, Quasi-States. Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge 1990, S. 26-31.

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Im zwischenstaatlichen Verkehr tritt allerdings stärker hervor, was sich an diesen Kern im Laufe der Zeit anlagert. 101 Wenn in einer Staatengesellschaft über die Statuierung der Westfälischen Souveränität hinaus Völkerrecht entsteht, ergeben sich aus der ursprünglichen Anerkennung der Gleichartigkeit und Gleichheit auch die Gleichheit aller unter dem Völkerrecht und das Vertragsschließungsrecht. 102 Auch entwickeln sich Mindeststandards für den Umgang der Herrschenden miteinander. Mit der Zeit überwuchern die damit verbundenen Normen den Kern der Souveränität. So überrascht es nicht, daß sich in Sachen Souveränität auch die Aufmerksamkeit der Praktiker wie der Akademiker hierher verlagert. 103 Ein eigenes Thema würde alles bilden, was in der Literatur sonst noch unter dem Stichwort der Äußeren Souveränität diskutiert wird. Wohl garantiert der Anspruch auf Gleichheit unter dem Völkerrecht, wie ihn der anerkannte Staat genießt und wie er oben behandelt worden ist, diese Freiheit. Damit hat es aber auch schon sein Bewenden. Es folgt nämlich nicht, daß die anderen alles akzeptieren müssten, was ein beliebiger Staat in der Gestaltung seiner Außenbeziehungen materiell plant, kontrahiert oder tut. Überhaupt sind der Außenpolitik und dem Außenverhalten eines beliebigen Systemteilnehmers über mögliche vertragliche oder ähnliche Beschränkungen hinaus sachlich in den meisten Fällen Grenzen gesetzt,104 denn die anderen Staaten sind genauso souverän, unterliegen in bezug auf die Außenpolitik und das Außenverhalten eines beliebigen Systemteilnehmers keinerlei Duldungspflicht und verfugen oft genug über legale Möglichkeiten, gegen Außenpolitik und Außenverhalten, die ihren Interessen nicht entsprechen, vorzugehen. So gefaßt, wäre der Begriff der Äußeren Souveränität, weil er rechtlich fast ins Leere greift, kein brauchbares Konzept. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Verhaltensbereich, auf den man sich hier bezieht, nicht höchste Aufmerksamkeit verdient. Nur sollte man in der Analyse der

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Krasner spricht hier von „international legal sovereignty", vgl. Krasner, Sovereignty, S. 4, S. 14-20. Zum Gegenstand selbst vgl. Grewe, Spiel der Kräfte in der Weltpolitik, S. 16 f.; Georg Sorensen, The Transformation of the State. Beyond the Myth of Retreat, New York 2004, S. 105. 102 Krasner , Sovereignty (Encyclopedia), S. 14707; Adam Watson , The Evolution of International Society, S. 316. Alex Singer , Nationalstaat und Souveränität, S. 31; Holsti , International Politics. A Framework for Analysis, S. 46. 103 Krasner , Sovereignty, S. 14. 104 Reimund Seidelmann, Souveränität, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik, 6. Aufl. Opladen, S. 398; und Adam Watson , The Evolution of International Society. A Comparative Historical Analysis, S. 316.

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Autonomie 105 oder, terminologisch günstiger, Operativen Unabhängigkeit nach außen 106 für die Designation dieses außerrechtlichen Phänomens nicht den hier irreführenden Ausdruck „Souveränität" einsetzen,107 es sei denn, es ginge bloß darum, auf dieses Thema mehr Aufmerksamkeit zu ziehen. V. Souveränität, wie sie bis hierher diskutiert worden ist, bedeutet der Sache nach Äußere Souveränität; 108 es geht um die Abwehr von Außeneinwirkungen. Innere Souveränität ist hingegen ein Anspruch, der sich an die eigenen Herrschaftsunterworfenen richtet. 109 Hier wird ein Handlungsrahmen reklamiert. Ohne Innere Souveränität ist die Äußere gegenstandslos.110 Mit der Inneren Souveränität wäre aber bereits ein neues Thema angeschlagen. Wohl dürfte sich auch hier eine logische Analyse und Rekonstruktion lohnen. Dergleichen ist aber an dieser Stelle nicht möglich. Einige Hinweise müssen genügen. Das Konzept ist durchaus brauchbar und der Terminus für diesen Zweck sprachökonomisch sinnvoll eingesetzt. Der Begriff bezieht sich auf den Punkt, auf den in einem gegebenen Staat durch autonome Entscheidung, jedenfalls aber ohne Belastung der Äußeren Souveränität, die Reichweite der Herrschaft zwischen dem Maximum des Totalitarismus auf der einen Seite und dem Minimalstaat auf der anderen Seite stabilisiert worden ist. Charakterisiert werden könnte der einzelne Systemteilnehmer, aber auch durch jeden geeigneten Parameter der Verteilung

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So Holsti, International Politics, S. 96 f. Krasner spricht in diesem Zusammenhang von „interdependence sovereignty". Vgl. Krasner, Sovereignty, S. 12-14. 107 Genau das tut Jackson mit seinem Konzept der positiven Souveränität; vgl. Jackson, Quasi-States, S. 26-31. Beispielsweise verwendet Rosenau den Terminus „Souveränität", um eine Facette seines Turbulenzmodells nachzuschleifen. Vgl. James N. Rosenau, Sovereignty in a Turbulent World, in: Lyons!Mastanduno (Hrsg.), Beyond Westphalia?, S. 201-211. 10 In diesem Sinne auch Kindermann y Internationale Politik, in: Kindermann (Hrsg.), Grundelemente der Weltpolitik, S. 73 f. 109 Auf geistesgeschichtliche Weise vgl. ausführlich dazu F. H. Hinsley, Sovereignty; Krasner spricht hier von „domestic sovereignty", vgl. Krasner, Sovereignty, S. 3. 110 Ähnlich Friedrich Kratochwil , Rules, Norms, and Decisions. On the Conditions of Practical and Legal Reasoning, in: International Relations and Domestic Affairs, Cambridge 1989, S. 251 f. 106

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eine beliebige Staatengesellschaft. - In diesem Rahmen macht auch die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Staaten einen Sinn. In der Tat haben drei Wellen der Demokratisierung 111 raumgreifend fur eine Verbreiterung der Willensbildung und der Herrschaftsbestellung gesorgt, und an die Stelle von Systemen hierarchischer Koordination treten zunehmend Verhandlungssysteme. 112 Auch hat sich im Zuge einer hierarchischen Diffusion, 113 wie die Nachkriegspolitik sie gebracht hat, das angelsächsische Staatsmodell114 ausgebreitet und ist geradezu stilbildend geworden, wodurch die Reichweite nicht nur der Herrschaft, sondern der Politik überhaupt zurückgefahren worden ist. Die modale Innere Souveränität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Für die Staatengesellschaft ergibt sich das Problem bereits mit den schwachen Staaten. Eine Herausforderung entsteht aber erst dann, wenn nicht mehr bloß punktuell, lokal, die Innere Souveränität ihre letzte Bastion verliert, die Ausübung von Herrschaft nicht länger akzeptiert oder nicht mehr versucht wird, wenn vielleicht sogar das Gewaltmonopol des Staates zusammenbricht. Gescheiterte Staaten 115 vermindern die Funktionsfahigkeit des ganzen Systems, denn auf ihrem Territorium greift alles internationale Recht ins Leere. Hier bemüht man sich denn auch von Seiten des Systems, den Verfall aufzuhalten bzw. aus Staatsruinen Staatsbaustellen zu machen. Dergleichen ist selbst dann, wenn es mit dem Einsatz von Geld sein Bewenden hat, 116 ohne Einschränkung der 111

Genauer dazu Charles W. Kegley/Eugene R. Wittkopf, World Politics. Trend and Transformation, 9. Aufl. Belmont 2004, S. 70 f. 112 Fritz W. Scharpf Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, PVS 1991, 32 4, S. 627 f. 113 Dabei erfolgt die Verbreitung über strategische Punkte. Zu den verschiedenen Formen der Diffusion vgl. Peter Gould , Spatial Diffusion. The Spread of Ideas and Innovations in Geographic Space (Consortium for International Studies Education of the International Studies Association (Hrsg.), Learning Package Series, No. 11, S. 4 f. 114 Aus kontinentaleuropäischer Sicht können die nach dem angelsächsischen Modell geschnittenen politisch organisierten Gesellschaften als staatslose Gesellschaften („stateless societies") erscheinen: mit wenig Staat und viel Gesellschaft. Vgl. Κ . H. F. Dyson , The State Tradition in Western Europe. A Study of an Idea and Institution, Oxford 1980, S. 43 f., 51 f., 57 f.; Richard Little, Liberal hegemony and the realist assault. Competing ideological theories of the state, in: Michael Banks/Martin Shaw (Hrsg.), State and Society in International Relations, New York 1991, S. 26 f. 115 Genauer dazu Robert I. Rotberg, Failed States in a World of Terror, in: Foreign Affairs vol. 81 2002, S. 132; Daniel Thürer, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: The failed State, in: Daniel Thürer/Matthias HerdegenfGerhard Hohloch (Hrsg.), Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: The Failed State, Heidelberg, S. 10-13. 116 Genauer dazu Krasner, Sovereignty, Kap. 5.

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Äußeren Souveränität nicht zu machen. Daß im Zuge der Entkolonialisierung viele Staaten entstanden sind, die alsbald in die Problemgruppe der scheiternden oder der gescheiterten Staaten gewandert sind, sagt aber nichts über den Umfang, den in der heutigen Staatengesellschaft die Äußere Souveränität noch hat, denn es handelt sich um ein Problem des Managements der modernen Spielart der Peripherie. 117

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Diese Sicht auf die Dinge wird durch den Umstand versperrt, daß seit der Gründung der UNO die Aufnahme in dieselbe als Aufnahme in die Staatengesellschaft gilt und teils aus Gründen der Courtoisie, teils aus solchen der Opportunität mit der Geburt und ohne Prüfung der Sachlage erfolgt.

Die Wahrnehmung des Politischen in ihrer Bedeutung für die Politische Bildung Von Karl-Heinz Breier „Ohne die Kenntnis und Übung im Studium der großen politischen Denker bleibt der eigene Horizont eng. Um die Weite in der gegenwärtigen Weltsituation zu erfassen als etwas in der Tat Neues, das unser aller Schicksal wird, ist die Weite des überlieferten politischen Denkens, wie es in den wenigen politischen Denkern sich zeigt, unerläßlich." 1 Karl Jaspers spricht von der „Weite des überlieferten politischen Denkens", und ebenso wie Jaspers macht Eric Voegelin in seiner „Neuen Wissenschaft der Politik" treffend darauf aufmerksam, dass eine „Schrumpfung der politischen Wissenschaft zu einer bloßen Beschreibung und Verteidigung der jeweils bestehenden Institutionen"2 vermieden werden muss. Die Gegenstände unserer politischen Wissenschaft sind demnach nicht allein die Geschehnisse der tagesaktuellen Politik, sondern es sind ebenso die Verstehensmuster, die es uns allererst erlauben, die Vielfalt der Phänomene einer Beurteilung zugänglich zu machen. In seiner Schrift „Die Idee der Universität" bringt dies noch einmal Karl Jaspers auf den Punkt: „Nach dem Examen wird schnell vergessen. Dann entscheidet nicht der Besitz an Gelerntem, sondern die Urteilskraft. Nicht das Wissen hilft, sondern [...] die Fähigkeit, die Dinge denkend unter Gesichtspunkten aufzufassen." 3 Wer das Politische verstehen will, so können wir Jaspers deuten, muss sich die Welt der Phänomene als eine kategorial geordnete zu Bewusstsein bringen, und daher ist es die Aufgabe der Politischen Wissenschaft, zur Erhellung der Ordnungskategorien beizutragen. Im Einleitungskapitel seines Buches „Über die Demokratie in Amerika" formuliert Alexis de Tocqueville einen mittlerweile berühmten Satz: 1

Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl., München 1988, S. 207. Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einfuhrung, 4. Aufl., Freirg/München 1991, S. 20. 3 Karl Jaspers, Die Idee der Universität, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1961, S. 70. 2

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„Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft." 4 Die Fragen lauten: Welche neuen Kategorien bietet uns Tocqueville an? Welche neuen Begrifflichkeiten benutzt er, um das Leben der Amerikaner sowie deren politische Existenz in Gesellschaft auszuleuchten? Eine erste Antwort lautet: „Richten wir unseren Blick auf Amerika, nicht um die Einrichtungen, die es fur sich schuf, sklavisch nachzuahmen, sondern um diejenigen besser zu verstehen, die uns gemäß sind, nicht so sehr um Vorbilder als um Einsichten zu gewinnen und um eher die Grundsätze als die Einzelheiten seiner Gesetze zu übernehmen." 5 Wenn Tocqueville von „Einsichten" und „Grundsätzen" spricht, so geht es ihm immer darum, seinen in Freiheitsdingen unerfahrenen Landsleuten einen neuen kategorialen Zugang zu ermöglichen. Seit der Französischen Revolution und den damit einhergehenden Umbrüchen in Frankreich hat die Bürgerfreiheit keinen festen Stand gewinnen können. Vor dem Hintergrund des amerikanischen Paradigmas freiheitlicher Selbstregierung bedient sich Tocqueville der „Einsichten" und „Grundsätze", die es den Franzosen ermöglichen sollen, ihre politische Existenz in einer freiheitlichen Ordnung auszulegen: „Die Gesetze der französischen Republik können und müssen in vielen Fällen andere sein als die der Vereinigten Staaten, aber die Grundsätze, auf denen die amerikanischen Verfassungen fußen, die Grundsätze der Ordnung, der Mäßigung der Gewalten, der wahren Freiheit, der aufrichtigen und tiefen Achtung vor dem Recht sind allen Republiken unentbehrlich, sie gelten fur alle, und man kann von vornherein sagen, dass da, wo sie fehlen, die Republik bald verschwunden sein wird." 6 Tocqueville will seinen Landsleuten die Augen öffnen, er möchte neue, erfahrungsgesättigte Begrifflichkeiten einfuhren, und er möchte das Bewusstsein dafür schärfen, die errungene Freiheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, sprich die neue politische Ordnung nicht auf Sand zu bauen. „In den fünfzig Jahren, seit Frankreich in Umwandlung begriffen ist, haben wir selten Freiheit, immer aber Unordnung gehabt. In dieser durchgängigen Verwirrung der Begriffe und der allgemeinen Erschütterung der Anschauungen [...] ist die öffentliche Tugend unsicher geworden und der persönliche Sittenbegriff ins Wanken geraten." 7 Das 4

Alexis de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, hrsg. von Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg/Hans Zbinden, 2. Aufl., München 1984, S. 9. 5 Tocqueville , S. 4. 6 Tocqueville , S. 4. 7 Tocqueville y S. 700.

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Neue seiner politischen Wissenschaft richtet sich vor dem Hintergrund dieser Ausführungen gegen die „Verwirrung der Begriffe" und gegen die „Erschütterung der Anschauungen", die den freiheitlichen Gehalt einer politischen Ordnung aus dem Blick zu verlieren drohen. Tocqueville analysiert die vorherrschenden Denkgewohnheiten, und dabei ist ihm durchaus bewusst, dass die Qualität des Politischen unmittelbar mit der Art und Weise der Wahrnehmung des Politischen zusammenhängt. „Das Phänomen des Politischen zeigt sich in seiner Wahrnehmung und von dieser her. Es ist außerhalb seiner Wahrnehmung gar nicht sichtbar, d. h. kein Phänomen. Noch mehr: das Politische, das - ohne etwas bloß Subjektives zu sein - kein objektives Ding ist, existiert außerhalb seiner Wahrnehmung nicht." 8 Ernst Vollraths Studie „Was ist das Politische?" führt das Phänomen des Politischen auf die Art und Weise seiner Wahrnehmung zurück. So lautet der Untertitel: „Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung". Wahrnehmung bedeutet Wahrnehmung, und politisch gesprochen ist jede Wahrnehmung immer jemandes Wahrnehmung. Aus den Perspektiven unterschiedlich Wahrnehmender stellen sich die politischen Phänomene verschieden dar. Ein vermeintlich eindeutiger Sachverhalt entpuppt sich als durch und durch mehrdeutig, und je nachdem, in welchem Situationszusammenhang der vermeintlich eindeutige Sachverhalt verortet wird, desto offensichtlicher tritt seine Uneindeutigkeit vor Augen. Welche Denkgewohnheiten leiten die Menschen, und unter welchen begrifflichen Perspektiven nehmen handelnde Menschen die politische Realität wahr? Wie also bringen sich Menschen ihre politische Existenz kategorial zu Bewusstsein? „In Krisenzeiten" - so Eric Voegelin - „werden die Grundprobleme der politischen und historischen Existenz deutlicher als in Zeiten verhältnismäßiger Stabilität."9 Insbesondere in Zeiten, in denen Vieles ins Wanken kommt und in denen die Bodenlosigkeit menschlicher Existenz offenbar wird, ist es hilfreich und sinnvoll, den Schatz der Politischen Theorie zu heben und in seiner Fülle zu Rate zu ziehen. Es kommt darauf an, die ursprünglichen Erfahrungen und Einsichten, die in zentralen politischen Begriffen aufbewahrt sind, wieder zu beleben. Es gilt, sie ins Gespräch zu bringen und darüber den Ideen ihre

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Ernst Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003, S. 17. 9 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 20.

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Stimme zurückzugeben. Bezogen auf die Selbstinterpretation in einer Republik hat die Politische Wissenschaft daher die Aufgabe, all das zur Sprache zu bringen, was eine Lebensweise der Freiheit ausmacht, d. h. was es ermöglicht, ein Leben als Bürger zu fuhren. In den Worten von Max Weber: „Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen - den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen."10 In der Tat, hier zeigt sich Max Weber als Tocquevillian. Ebenso wie Max Weber begreift Tocqueville das Politische als eine Wirklichkeit, in die wir selbst hineingestellt sind. Wer wie Tocqueville Abgeordneter war, Mitglied des Verfassungsausschusses, Vizepräsident der Nationalversammlung und auch eine kurze Zeit lang als Außenminister der Zweiten Französischen Republik tätig war, hat eine durch die Praxis geprägte Sicht des Politischen. Das heißt, Tocqueville hat selbst erfahren, dass es im Politischen um die spezifisch menschliche Wirklichkeit geht, um die uns umgebende Realität, die wir im Handeln in ihrer qualitativen Eigenart wahrnehmen. Als Menschen nehmen wir nicht teilnahmslos gegenüber einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit Stand. In „The View from Nowhere" thematisiert der amerikanische Philosoph Thomas Nagel eben diese Problematik, dass Menschen von Natur aus gerade über keinen einheitlichen Standpunkt verfugen. Er macht auf die Beschränktheit allen Objektivitätsstrebens aufmerksam, das sich über die Distanz zu den menschlichen Angelegenheiten definiert. Einen objektiven Standpunkt kann man nur einnehmen, wenn man die menschliche Perspektive hinter sich lässt: „Es gibt jedoch Aspekte der Welt, des konkreten Lebens und unserer selbst, die von einem weitestgehend objektiven Standpunkt aus gerade nicht angemessen verstanden werden könnten, wie sehr er unser Verständnis auch über seinen ursprünglichen Ausgangspunkt hinaus erweitern mag." 11 Nagel hebt hervor, dass die Phänomene der menschlichen Welt „wesentlich an eine besondere Perspektive" 12 gebunden sind, die ein Verstehen humanen Daseins erst ermöglicht. Wir sind durch und durch in Lebenszusammenhänge hinein-

10

Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders. y Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 170. 11 Thomas Nagel, Der Blick von nirgendwo, Frankfurt a. M. 1992, S. 17. 12 Nagel, S. 17 f.

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gestellt, d. h., wir sind eingebunden in Bedeutungsbezüge, die uns und unsere Wirklichkeit prägen. Diese Wahrnehmung des Politischen unterscheidet sich erheblich von der weitabgewandten Perspektive, aus der heraus die zu Tocquevilles Zeiten lebenden Schriftsteller das Politische wahrzunehmen versuchen. Ihre durch die Praxisferne verengte Sicht kritisiert Tocqueville heftig: „Sie kamen ganz natürlich auf den Gedanken, die Gesellschaft ihrer Zeit nach einem vollständig neuen Plan einzurichten, den jeder von ihnen nur im Licht seiner Vernunft entwarf." 13 Gerade weil die Literaten sich allein mit Hilfe ihrer theoretischen Vernunft dem Bereich des Politischen nähern, bleibt ihnen der Zugang zur Phänomenalität des Politischen verschlossen. In ihrer Planungseuphorie, die die politische Wirklichkeit planiert und einebnet, fehlt ihnen jedes Verständnis für die Eigenart des Politischen. Der politische Mensch Tocqueville jedoch weiß um die Kontingenz des Politischen, die jeden Handelnden zwingt, „im Handeln von den Regeln der Logik abzuweichen [...]." 14 Tocquevilles argumentative Stoßrichtung gegen Rousseau und die idealistischen Staatstheoretiker, die das Politische über die Willenskategorie zu erschließen suchen, ist offensichtlich. Im Gegensatz zum angloamerikanischen politischen Denken, in dem die Verfassung und ihre Qualitäten im Zentrum der Betrachtung stehen, lassen sich die dominierenden kontinentaleuropäischen Denkgewohnheiten durch ihre Staatszentriertheit und die damit verbundene Herrschaftskategorie beschreiben. Das Politische wird in Eins gesetzt mit dem Staat, wobei der Staat als Herrschaftssubjekt auftritt. In der Formulierung „Vater Staat" artikuliert sich dieses Verständnis. Dem Staat als eigenständigem Subjekt wird ein einheitlicher Wille zugrunde gelegt, und als überdimensionaler Singular repräsentiert der Staat eine vermeintlich unteilbare Identität. Doch in dieser Sichtweise bleibt die Pluralität handelnder Menschen ausgeblendet. Und genau auf das konkrete Handeln von Menschen richtet sich Tocquevilles Verständnis des Politischen, das - wie Ernst Vollrath es nennt - zur Rekonstruktion der politischen Urteilskraft beiträgt. Alexis de Tocqueville argumentiert von der Pluralität der Bürger her. Sein Verständnis des Politischen ist vom anglo-amerikanischen Selbstverständnis durchdrungen, in dem die politische Ordnung nicht Aus13

Alexis de Tocqueville , Der Alte Staat und die Revolution, hrsg. von Jacob P. Mayer, München 1978, S. 143. 14 Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, S. 19.

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druck eines einheitlichen Volkswillens, sondern Ausdruck institutioneller Vielfalt ist. Und dies ist für die Frage nach den Bedingungen einer intakten Freiheitsordnung entscheidend. Während für eine auf den Staat ausgerichtete Wahrnehmung die Verfassung etwas Sekundäres darstellt, und Bürger allenfalls in ihrer Subordination gegenüber den staatlichen Gewalten gesehen werden, steht bei Tocqueville eben gerade die Bürgerordnung in ihrer Pluralität im Vordergrund. Die Bürger selbst sind da die handelnden Subjekte, die für die Qualität und Integrität ihrer politischen Ordnung Sorge tragen. Sie selbst stehen zueinander in politischen Bezügen. Sie selbst wählen sich Repräsentanten. Sie selbst vertrauen sich Ämter an, und sie selbst müssen aufmerksam eine verfassungsgemäße Amtsführung einfordern. Politische Sichtweisen und Standpunkte können im Gegensatz zu Naturgesetzen keine zwingende Gültigkeit beanspruchen. Erst durch unsere Fähigkeit, erweitert zu denken und die Perspektive anderer zu berücksichtigen, wird Zustimmung ermöglicht. Politisches Urteilen ist aus dieser Perspektive niemals nur subjektiv. „Es [das politische Urteilen] entsteht aus gesellschaftlicher Interaktion und aus dem schöpferischen Bemühen von Individuen, gemeinsam wahrzunehmen." 15 Diese Wahrnehmung wird vor allem durch eine gemeinsame Sprache vermittelt, die als Bindeglied zwischen den Bürgern fungiert. Im Sprechen und Zuhören erkennen sich Bürgerinnen und Bürger in ihrer Eigenart und Besonderheit an, und über die Anerkennung der anderen als sprechende und handelnde Wesen in der gemeinsamen Ordnung vollzieht sich die bürgerschaftliche Selbstentfaltung der Menschen. Erst in dem Maße, in dem die Folgen und Resultate menschlicher Aktivitäten gemeinsam thematisiert und zum Ausgangspunkt neuer Erwägungen gemacht werden, kann von politischen Handlungen gesprochen werden, die aus sich heraus die politische Ordnung stabilisieren. Hingegen bewirkt die bloße Addition von Einzelhandlungen noch keinen dauerhaften Zusammenhalt. „Das ,Wir' und das ,Unser' gibt es nur, wenn die Folgen verbundenen Handelns wahrgenommen werden und ein Gegenstand von Wünschen und Bestrebungen werden, genau wie das ,Ich' und das ,Mein' erst auftauchen, wenn ein besonderer Anteil am wechselseitigen Handeln behauptet oder beansprucht wird." 1 6 Mit John Dewey wird deutlich: Es 15 Benjamin Barber , Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 165. 16 John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, hrsg. von Hans-Peter Krüger, Bodenheim 1996, S. 131.

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ist nicht die Summe von Einzelinteressen, wodurch sich das politisch Gemeinsame konstituiert. Das Politische ist ein Sinnzusammenhang und kein Funktionszusammenhang. Das politisch Gemeinsame gründet in der weltlichen Verbundenheit der politischen Akteure. Erst diese Verbundenheit stiftet den Horizont, vor dem die einzelnen Phänomene sichtbar werden und benannt werden können. Allein wer sich über Sprache mit anderen der gemeinsamen Realität versichert, ist in der Lage, die politischen Angelegenheiten kategorial zu verorten. Politische Wissenschaft zu betreiben - und dies ist die Auffassung Tocquevilles - , ist selbst eine Praxis. Es ist eine Praxis, in der es darum geht, den Ideen, d. h. der jeweiligen Selbstinterpretation, eine Stimme zu verleihen und ihnen darüber Gehör zu verschaffen. Allerdings dürfen Ideen nicht als bloße Meinungen oder gar utopische Wunschvorstellungen abgetan werden. Der kanadische Denker Charles Taylor, der seinem akademischen Lehrer Isaiah Berlin darin folgt, die grundlegende Bedeutung der Ideen für die Konstituierung menschlicher Identität hervorzuheben, weist deshalb darauf hin: „Der Sinn unserer Selbstinterpretationen ist, dass sie uns helfen, unser Leben zu gestalten. Es sind nicht einfach Ideen über uns, sondern sie tragen dazu bei, das zu konstruieren, was wir sind." 17 Ideen sind für Taylor Selbstinterpretationen, die unsere Lebenspraxis durchformen und unserer Existenz Sinn und Orientierung verleihen. Ideen prägen unser Selbstverständnis, und politisch gesehen umgreifen sie die individuellen Selbstinterpretationen, indem sie einzelne Lebenszusammenhänge miteinander verbinden und ein Verständnis von der gemeinsam geteilten Welt hervorbringen. Solchermaßen verstanden bilden Ideen und Kategorien die geistigen Formen, sprich den common sense gemeinsamer Welterfahrung. Unser menschliches Selbst- und Weltverständnis sind untrennbar miteinander verwoben. In den Worten Taylors: „Unsere Identität ist [...] durch bestimmte Wertungen definiert, die untrennbar mit uns als Handelnden verknüpft sind. Würden wir dieser Wertungen beraubt, so wären wir nicht länger wir selbst [...]. Unsere Existenz als Personen und damit unsere Fähigkeit, als Person an bestimmten Wertungen festzuhalten, würde außerhalb des Horizonts dieser wesentli-

17 Charles Taylor, Humanismus und moderne Identität, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 221.

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chen Wertungen unmöglich, wir würden als Personen zerbrechen, wären unfähig, Personen im vollen Sinne zu sein." 18 Der Mensch als handelndes und sprechendes Wesen ist auf Sinn angewiesen und verwiesen. In Sinn- und Bedeutungszusammenhängen zu leben, gehört zur human condition , zur unhintergehbaren conditio humana. Daher warnt Taylor zu Recht vor der reduzierten Herangehensweise des Szientismus, der meint, ethische und politische Phänomene wie Sachverhalte der physikalischen Welt behandeln zu können. 19 Taylor weist darauf hin, dass der szientistische Weltzugriff schlicht vorbeigreift. Denn wo die Bedeutungsdimension menschlichen Handelns und Sprechens unterschlagen wird, wird auch das Politische in seiner Eigenart verkannt. Und wo das Politische wie ein Sachverhalt der physikalischen Welt verortet wird, verlieren politische Phänomene ihren originären Charakter. Sie werden ihrer Bedeutung beraubt und sind damit im erschreckendsten Sinne des Wortes bedeutungslos. Sosehr auch konkrete Lebensführungen immer eine Auswahl verschiedener Möglichkeiten darstellen, so wenig sollten sie jedoch mit der bloßen Auswahl von objektiven Gegebenheiten verwechselt werden. Entscheidend ist, dass es sich um Tätigkeiten handelt. „Das Leben ist nämlich eine Tätigkeit", 20 formuliert Aristoteles, und im Vollzug des Tätigseins - in der Praxis - entwickelt sich unser Selbst- und Weltverständnis. So ist auch Karl Jaspers zu verstehen, wenn er schreibt, dass Freiheit nicht erkannt und auf keine Weise objektiv gedacht werden kann: „Ich bin ihrer für mich gewiß, nicht im Denken, sondern im Existieren; nicht im Betrachten und Fragen nach ihr, sondern im Vollziehen [...]. Freiheit ist nicht absolut, sondern zugleich immer gebunden, nicht Besitz, sondern Erringen." 21 Um das Politische in seiner Qualität zu verstehen, ist es erforderlich, die institutionell bestehende Welt nicht als einmal zu Ende gekommenen Abschluss zu betrachten, sondern als gemeinsam geteilten Lebenszusammenhang, der kontinuierlich hervorgebracht werden muss. Man hat Tocqueville des Öfteren als den Montesquieu des 19. Jahrhunderts bezeichnet; und in der Tat, gerade in Bezug auf die Erziehung stehen beide 18 Charles Taylor, Was ist menschliches Handeln?, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 37. 19 Vgl. Charles Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a. M. 1975, S. 154 ff. 20 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1175 a 12. 21 Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, München 1994, S. 185.

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in einer Tradition des Pragmatischen, die von Aristoteles bis John Dewey reicht. Das eingeübte Ethische, die Lebensweise, ja die im konkreten Tun erfahrbare Praxis bilden das Zentrum ihres politischen Denkens sowie ihrer gesamten Wahrnehmung des Politischen. „In der republikanischen Regierungsform ist man auf die ganze Stärke der Erziehung angewiesen",22 schreibt Montesquieu in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze". Eine zivile Lebensweise entsteht nicht automatisch, sondern die gemeinsame Sorge für die politische Ordnung stellt sich als genuin kulturelle Herausforderung und Errungenschaft dar. Der Begriff Kultur kann in diesem Zusammenhang wörtlich genommen werden. Wie durch ständige Pflege aus einer holzigen Baumfrucht ein genießbares Gartenobst wird, so müssen zu den menschlichen Anlagen äußere Einflüsse hinzutreten, die eine Entfaltung der Menschen zu Bürgern erst ermöglichen. 23 Ohne pädagogische Bemühungen werden die im Menschen vorgezeichneten Möglichkeiten nicht realisiert. Für die bestehende Welt bedeutet dies eine stetige Herausforderung; denn das Erreichte ist niemals selbstverständlich. Es muss bewahrt und gegebenenfalls neu errungen werden. Es gilt, die Neuankömmlinge in die existierende Welt einzuführen und ihnen eine Annahme der Gegebenheiten zu ermöglichen. Kein geschichtlicher Automatismus garantiert den Erhalt einer freiheitlichen Lebensweise, sondern die Bürger müssen kontinuierlich dafür Sorge tragen, dass ihre Welt weiterhin in Ordnung bleibt. Gegen alle neuzeitliche Theorie vom autonomen Subjekt, das meint, alles aus sich selbst heraus hervorbringen zu können, ist jede Formung des Charakters demnach immer eingebunden in einen weltlichen Lebenszusammenhang, der durch Sitten und Gewohnheiten, sowie das Einüben in diese Lebenspraxis seine Prägekraft erst entfaltet. Den vorpolitischen Bedingungen aller politischen Handlungen kommt damit eine eminente Bedeutung zu, und es ist Tocquevilles geradezu soziologische Leistung, immer wieder auch die vorpolitischen Bedingungen des Politischen zu thematisieren. Vor diesem Hintergrund erst geht es um das Politische im Sinne von leadership. So bemisst sich die Qualität von leadership daran, wie sehr es ihr gelingt, diejenigen politischen Möglichkeiten zu verwirklichen, die 22 Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, übers, und hrsg. von Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 53. 23 Vgl. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Das individuelle Gesetz, hrsg. von Michael Landmann, Frankflirt a. M. 1987, S. 118 ff.

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in der lebensweltlichen Tradition angelegt sind. Leadership und citizenship gehören untrennbar zusammen; denn nur derjenige ist im republikanischen Sinne ein guter Amtsinhaber, der die vorherrschenden Deutungsmuster und Selbstinterpretationen der Bürgerschaft geistig durchdringt und sie sprachlich vergegenwärtigt. Ohne sich der Bürgerschaft anzubiedern oder sie in ihrem Mittelmaß zu verachten, liegt die Leistung politischer Führungskraft gerade darin, den Mitbürgern das Vorbild ihrer sittlich-politischen Möglichkeiten und Fähigkeiten vor Augen zu fuhren, und zwar ohne sie in ihrer Durchschnittlichkeit zu beschämen. Im besten Falle heißt Repräsentation, neben dem common man zugleich the best in man zu verkörpern. In diesem Sinne schält Siegfried Landshut in seinem Aufsatz „Der politische Begriff der Repräsentation" den Kern des Repräsentationsbegriffs heraus: „Nicht was alle oder viele wollen, soll fur gemeinverbindliche Entscheidungen maßgebend sein, sondern was ein sittlich gereiftes Urteil im Hinblick auf das Wohl der politischen Gemeinschaft fordert." 24 Wer politische Qualitäten aus sich heraus an den Tag legt, kann darüber die politische Handlungsfähigkeit seiner Mitbürger erweitern und stärken, und wer die ihm zugängliche Einsicht in politische Zusammenhänge artikuliert, kann als Vorbild wirken und andere anregen, die in ihnen angelegten Bürgerqualitäten ebenfalls zu aktualisieren. 25 In diesem Zusammenhang wird die Doppelseitigkeit des Bildungsbegriffs deutlich, der zufolge ,„Bild' Nachbild und Vorbild zugleich umfasst." 26 Politische Bildung als Einübung von Bürgerqualitäten erweist sich damit im weitesten Sinne als - wie Leo Strauss formuliert - „formation of character" 27 . Doch diese formation of character ist angesichts der modernen Daseinsbedingungen, in denen das ungebundene Selbst zum sozialdominanten Typus der Selbstauslegung avanciert, ein überaus schwieriges Unterfangen. Alexis de Tocqueville macht bereits im 19. Jahrhundert auf Entwicklungen der modernen Gesellschaft aufmerksam, die in ihrer Vehemenz

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Siegfried Landshut, Politik als Wissenschaft - Grundbegriffe der Politik, in: ders., Politik. Grundbegriffe und Analysen, Bd. I, hrsg. von Rainer Nicolaysen, Berlin 2004, S. 430. 25 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1099 b 18 ff. 26 Hans-Georg Gadamer , Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 17. 27 Leo Strauss , What is political philosophy?, in: ders., What is political philosophy? And other studies, Chicago/London 1988, S. 36 f.

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erst heutzutage ihre volle Wirkung entfalten. Er hat geradezu seismografisch die Vorboten moderner Daseinsbedingungen erspürt. Aus diesem Grund ist Charles Taylor zuzustimmen, dass „die Begriffe Tocquevilles sicher am geeignetsten"28 sind, um moderne Rückzugsphänomene in die private Existenz zu analysieren. So schreibt Tocqueville: „Es gibt in der Tat einen sehr gefährlichen Übergang im Leben der demokratischen Völker. Entwickelt sich in einem dieser Völker die Vorliebe für materielle Genüsse schneller als die Bildung und die freiheitliche Gewohnheit, so tritt ein Augenblick ein, da die Menschen vom Anblick der neuen begehrten Güter fortgerissen werden und wie außer sich sind. Nur auf das Reichwerden bedacht, bemerken sie nicht mehr das enge Band, welches das Wohlergehen jedes einzelnen von ihnen mit dem Gedeihen aller verknüpft. Man braucht solchen Bürgern die Rechte, die sie besitzen, nicht zu entreißen; sie lassen sie selber gern fahren." 29 Die gesellschaftlichen und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, die sich unter der Gleichheit der Bedingungen bieten, könnten freiheitsunerfahrene Menschen dazu veranlassen, sich auf sich selbst zurückzuziehen und die sie umgebende Gesellschaft ebenfalls sich selbst zu überlassen. Tocqueville bezeichnet diesen freiwilligen Rückzug aus dem Raum des Politischen als individualisme. Die Menschen laufen Gefahr, sich von ihrem eigenen unermüdlichen Wohlstandsstreben vereinnahmen zu lassen, ja in ihrem Wohlstandsstreben unterstellen sie sich vorbehaltlos den Imperativen der Ökonomie. Eben diese Tendenzen hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett radikalisiert, wenn er in seiner pointierten Zeitkritik „The Corrosion of Character" eben diese behandelt. Allerdings erfasst die deutsche Übersetzung „Der flexible Mensch" 30 - nicht im Ansatz die Tiefendimension und Radikalität von Sennetts Krisendiagnose. Denn Sennett fordert nicht etwa flexiblere Arbeitszeiten, die Inkaufnahme längerer Arbeitswege oder die Aufhebung von Ladenschlussgesetzen. Dass dem Einzelnen unter veränderten Lebensbedingungen mehr Geschmeidigkeit, Elastizität und Anpassungsfähigkeit abverlangt werden, ist dem modernen Gesellschaftstheoretiker klar. Was Sennett in radikaler Zuspitzung verdeutlicht, 28 Charles Taylor, Die Beschwörung der „Civil Society", in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), Europa und die Civil Society. Castelgandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991, S. 135. 29 Tocqueville , Demokratie in Amerika, S. 630. 30 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.

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ist die Drift moderner Existenz, welche Lebenszusammenhänge zerreißt, Bindungen auflöst und Individuen in der Folge zu entwurzeln droht. Angesichts der Drift, des „haltlosen Dahintreibens, in dem der flexible Mensch sich als Treibgut preisgibt" 31 , werden soziale Orte und Bezüge menschlichen Daseins radikal entwertet. Die Kontinuität menschlicher Biografie kann nur schwer aufrechterhalten werden, und das Selbst droht sich zu verflüchtigen. Allenfalls diejenigen, die noch in einem selbstverständlichen Bezugsgeflecht beheimatet sind, vermögen diese moderne Dynamik als Strom wahrzunehmen, der sie nicht wegspült, sondern der sie trägt. Wer aber die moderne Welt schon unter den Bedingungen der Heimatlosigkeit erfährt, wird nicht mehr vom Strom der eingelebten Sinngehalte getragen. Er ist vielmehr der Drift, dem haltlosen Abtreiben, ausgesetzt. Angesichts dieser Erfahrung des Ausgeliefertseins, in dem den flexiblen Menschen zunehmend die Kontrolle über ihre Lebensgestaltung zu entgleiten droht, macht Sennett the corrosion of character aus. Die Charaktere werden fragiler, und für die politische Bildung stellt sich die Frage, wie eine gelungene formation of character der corrosion of character Einhalt gebieten kann. Existenziell gesehen muss daher jede politische Bildung, die den Anspruch hat, einer corrosion of character das Wasser abzugraben, in der Vergewisserung über das eigene Selbst ihren Ursprung haben. Erkenne dich selbst, so hat uns Sokrates aufgefordert. Und in den Worten von Karl Jaspers, die er in einem Brief an Hannah Arendt formuliert, heißt es: „Die Philosophie muß konkret und praktisch werden, ohne ihren Ursprung einen Augenblick zu vergessen." 32 Wenn Existenzphilosophen von der „Schwierigkeit der Existenz" (Heidegger), vom „Lastcharakter des Daseins" (Heidegger) und der „Schwere des Daseins" (Arendt) sprechen, so artikulieren sie die konkreten und praktisch erlebten Nöte moderner Existenz. Diese Nöte müssen als grundlegende Daseinsbedingungen den Erfahrungshintergrund jeder ernsthaften politischen Bildung ausmachen. Das bedeutet, dass die politische Bildung sich bemühen muss, sich ernsthaft unserer conditio humana sowie der ihr innewohnenden Frageursprünglichkeit zuzuwenden.

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Karl-Heinz Breier, Richard Sennett, in: Gisela Riescher (Hrsg.), Moderne politische Theorie in Einzeldarstellungen von Adorno bis Young, Stuttgart 2004, S. 451. 32 Karl Jaspers an Hannah Arendt, in: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel. 1926-1969, hrsg. von Lotte Köhler/Hans Saner , München 1985, S. 95.

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Die ungeheure Herausforderung besteht in der Tat darin, gerade angesichts der Zumutungen unserer Moderne, die Tocqueville bereits im Ansatz aufspürt, nicht sarkastisch dem Nihilismus das Wort zu reden. Bürgerbildung im existenziellen Sinne umfasst in der Tat die gesamte Existenz und sie bedeutet mehr, als eine bloße Bürgerrolle anzunehmen oder in eine solche hineinzuschlüpfen. Politische Bildung als existenzielle Bürgerbildung zielt daher in ihrem Kern auf „die Hilfe zum Selbstwerden in Freiheit" 33 . Freiheit ist nun allerdings auch für Tocqueville die zentrale Kategorie. Doch mit Freiheit meint er weniger die private Unabhängigkeit von Individuen als vielmehr die politische Freiheit, die sich als Handlungsmächtigkeit zeigt. Freiheit und Macht sind bei Tocqueville eng aufeinander bezogen, und mächtig, eben handlungsmächtig, werden allein Bürger, die die Kunst der Vereinigung - Tocqueville nennt sie auch „die Grundwissenschaft" 34 - wie selbstverständlich praktizieren. Und von den Orten und Institutionen, in denen diese Verschränkung von Freiheit und Macht erfahren wird, ist Tocqueville ebenso beeindruckt wie von deren politischer Präge- und Erziehungskraft. Die gemeinsame Praxis sowie die aus ihr hervorgehenden Gewohnheitstugenden machen für den Franzosen das Paradigmatische und Bedeutsame der geschilderten Lebensweise aus: „Seht, mit welcher Kunst die amerikanische Gemeinde darauf ausgeht, die Macht gleichsam zu zersplittern, um auf diese Weise viele Leute am öffentlichen Leben teilnehmen zu lassen."35 Erst in der Verbindung und im Zusammenhandeln mit anderen Menschen lässt sich politische Freiheit als originäre Freiheit zum Handeln erfahren. Und auf diese politische Freiheitserfahrung konnten Tocquevilles Zeitgenossen nur bedingt verweisen. „In den Vereinigten Staaten ist die ganze Erziehung auf die Politik gerichtet; in Europa bereitet sie hauptsächlich auf das private Leben vor." 3 6 Tocquevilles Mahnung ist und bleibt aktuell: Erst durch die lieb gewonnene Gewohnheit, sich auf den unterschiedlichen Ebenen handelnd und sprechend an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, wird die Republik den Bürgern zu einem Teil ihrer selbst. Bürgerstolz und

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Diesen Hinweis sowie zahlreiche Anregungen verdanke ich Alexander Gantschow. Vgl. Breierl Gantschow, Einfuhrung in die Politische Theorie, Münster 2006. 34 Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, S. 606. 35 Tocqueville , S. 75 f. 36 Tocqueville , S. 352.

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Bürgerwürde können sich entwickeln 37 , und in dem Maße, in dem diese Qualitäten in möglichst vielen Bürgern verankert sind, bildet sich - wie Manfred Riedel es nennt - ein „Bürgerbund" 38 , der in der Tat als ein unerschütterliches Bollwerk gegen jegliche Verlockung zur Tyrannei angesehen werden kann. Pädagogisch gesprochen heißt dies: Ohne eine über Gewohnheiten abgestützte innere Republik gibt es keine stabile äußere Republik. 39 Die politischen Institutionen sind Ausfluss und Ausdruck der - platonisch gesehen - inneren Ordnung der Bürger. Jedoch, die Art und Weise, wie sich die innere Ordnung, the formation of character , aufbaut, hängt entscheidend von der politischen Lebenswelt sowie ihrer Wahrnehmung ab. So können wir festhalten: Eine Republik ist die freiheitliche Institution der Institutionen, und Tocqueville sieht in der Stärkung der inneren Republik die genuine Herausforderung der Politischen Wissenschaft, die als Bürgerwissenschaft 40 Mitverantwortung fur die Welt übernimmt, in der sie sich artikuliert. Eine republikförderliche politische Bildung bedarf einer anspruchsvollen Politischen Wissenschaft, sprich einer Wissenschaft vom Politischen, die auch das originär Politische überhaupt zu denken vermag. Während Willkürherrschaften allein auf Gewalt und deren Androhung beruhen und ohnehin auf politische Bildung verzichten, steht jede Republik permanent vor der Herausforderung, ihre Bürger hinreichend zu bilden. Wo Menschen den Anspruch erheben, sich selbst zu regieren, sprich: sich existenziell als Bürger zu begegnen, müssen sie dafür Sorge tragen, ihr eigenes Selbstverständnis in möglichst vielen Köpfen und Herzen zu verankern. Einer oder nur wenige philosopher kings reichen da nicht aus, es bedarf einer Vielzahl gut trainierter philosopher citizens 41.

37 Vgl. Charles Taylor, Aneinander vorbei. Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, 103 ff. 38 Vgl. Manfred Riedel, Auf der Suche nach dem Bürgerbund. Die Idee des Politischen und die Sache der europäischen Demokratie, in: Peter Schmidhuber (Hrsg.), Orientierungen für die Politik?, München 1984, S. 83 ff. 39 Vgl. Karl-Heinz Breier, Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung als Bürgerbildune, Schwalbach/Ts. 2003, S. 162 ff. 4 Vgl. Karl-Heinz Breier, Hannah Arendt zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2005. 41 Vgl. Heinrich Blücher, Eine Vorlesung aus dem Common Course, in: Lotte Köhler (Hrsg.), Hannah Arendt/Heinrich Blücher. Briefe 1936-1968, München 1996, S. 567 ff.

Die politische Klasse als dynamisiertes Konzept der Elitenforschung Von Klaus von Beyme Gaetano Mosca hat den Begriff der politischen Klasse, der im Italienischen schon länger gebräuchlich war, international bekannt gemacht. Der Terminus besaß den Vorteil, nicht als Fremdwort zu wirken, wie der Begriff der „elite", der aus dem Französischen eingeführt worden war und der in den Sozialwissenschaften aller Sprachen ungleich einflußreicher werden sollte.1 Das lag schwerlich nur daran, daß Pareto, der den Elitenbegriff in der italienischen Soziologie übernommen hatte, ein stringenterer Denker war als Mosca. Der Streit der beiden Klassiker der Elitenforschung darüber, wer das den Begriffen zugrundeliegende Phänomen zuerst entdeckt hat, ist für die Begriffsgeschichte von zweitrangiger Bedeutung. Mosca erhob gegen „den Marchese", wie er herablassend formulierte, den Vorwurf des Plagiats.2 Pareto konterte mit der Bemerkung, daß es eine alte Tradition des Denkens in Schichten der Macht gebe, die man bis auf Dante zurückführen könne.3 Vilfredo Pareto hielt seinen Elitenbegriff für wertfreier als den Sprachgebrauch Moscas, den er nicht völlig ausschloß. Allerdings lag das weniger an der Wahl des Wortes als an dem bewußten Bemühen um wertfreie Wissenschaft bei Pareto. Es läßt sich also kaum nachweisen, daß Pareto durch den Gebrauch eines anderen Wortes die Priorität, die Mosca in der Diskussion der Sache zweifellos hatte, verdunkeln wollte. Größere Wertfreiheit beanspruchten beide für ihren Begriff. Mosca stellte klar, daß diejenigen, die in einem Land „am besten zum Herrschen geeignet" seien, nicht auch die 1

Die Thematik wird ausfuhrlich in Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993, behandelt, übernommen wurden S. 11-24. 2 Vgl. Gaetano Mosca , Partiti e sindacati nella crisi del regime parlamentare, Bari 1949, S. 116 ff. 3 Belege für die Kontroverse finden sich bei Gottfried Eisermann, Vilfredo Pareto. Ein Klassiker der Soziologie, Tübingen 1987, S. 241 ff.

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„intellektuell und vor allem auch moralisch ,besten' Elemente" seien.4 In einer Fußnote fügte er hinzu: „Aus diesem Grunde halten wir den von Pareto gewählten Ausdruck ,Elite' zur Bezeichnung unserer politischen Klasse' fur ungenau." Gerade im Anspruch auf Wertfreiheit konnte Mosca aber Pareto kaum übertreffen, was nicht bedeutet, daß dieser Anspruch in allen Teilen seines Werkes eingelöst worden ist.5 Aber auch Pareto hatte klargestellt, daß er keine normativ definierten Substanzeliten im Auge hatte.6 Als Elite ihres Metiers konnten auch Schachspieler und Mätressen angesehen werden. Während bei Gaetano Mosca unklar blieb, wer alles zur „politischen Klasse" gehörte, hatte Vilfredo Pareto von vornherein ein klares pluralistisches Konzept der Eliten. Dies zwang ihn dazu, die „classe dirigente" 7 von anderen Elitensektoren gelegentlich begrifflich zu sondern. Den Pionieren der Elitenforschung war die Hoffnung gemeinsam, die altmodischen Klassifikationen von Herrschaftsformen zu überwinden, welche die Staatslehre und Theorie ihrer Zeit beherrschten. Das Kriterium der Zahl der Herrscher schien im Lichte einer Theorie der Herrschaft der Minderheit irrelevant. Für Mosca war die Form der Regierung zweitrangig. 8 Autokratien wie Rußland und die Türkei hatten wenig Gemeinsames, denn der Stand ihrer Kultur und der Stand ihrer politischen Klassen waren grundverschieden. Das monarchische Italien schien der französischen Republik verwandter als Großbritannien, das mit Italien zusammen in der Rubrik „konstitutionelle Monarchie" subsumiert wurde. Paretos Theorie der Minderheitsherrschaft verriet eine stärkere Abhängigkeit von Marx als die Theorie Moscas. Paretos Konzeption der Geschichte als eines „Friedhofs von Aristokratien" wurde mit Recht als eine Variation von Marxens Konzeption der Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen aufgefaßt. 9 Aber Moscas Zentralbegriff der „politischen Klasse" hatte vor allem in Nordeuropa darunter zu leiden, daß der Klassenbegriff auch von Nichtmarxisten in der Nähe der Marxschen Definition angesiedelt wurde. Klasse suggerierte mehr sozialen Zusammenhalt als der Ausdruck Elite. Eliten ließen sich der „Polyar4

Vgl. Gaetano Mosca , Die herrschende Klasse, Bern 1950, S. 363. Vgl. Klaus von Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, Frankfurt a. M. 1992, S. 52 ff. 6 Vgl. Vilfredo Pareto , Trattato di sociologia generale, 2 Bde., Mailand 1916, § 2031. 7 Vgl. Pareto , Trattato, § 2034. 8 Vgl. Mosca , Herrschende Klasse, S. 54. 9 Vgl. Pareto , Trattato, § 2053. 5

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chie" stärker anpassen als der Klassenbegriff. Der Theoretiker der Polyarchie, Robert Dahl 10 , hat die elitistische Interpretation der Demokratie als nicht verifizierbar verworfen, aber gerade wegen ihres manchmal die dichotomischen Machtverhältnisse beschönigenden Pluralismus hatte die amerikanische Theorie eine Vorliebe für den Begriff „Elite". Während Moscas Theorie mit dem generalisierenden Begriff „herrschende Klasse" vielfach unspezifisch blieb, hat Pareto seine Elite in eine regierende und eine nichtregierende eingeteilt.11 Die „classe dirigente" wurde vielfach zum Synonym der „politischen Elite". Mosca hat vielfach von „herrschender Clique", „organisierter Minderheit" oder „regierender Minderheit" gesprochen 12, als ob die Begriffe Synonyme seien. Selbst Dahl, in dessen pluralistisches Konzept die Vorstellung einer „herrschenden Klasse" nicht paßte,13 war manchmal nahe an Moscas Sprachgebrauch, wenn er von „dominant minority" sprach. Politische Klasse im späteren Sprachgebrauch wurde wiederholt der Bedeutung einer geschlossenen Schicht beraubt, und als cluster der Familien, Berufe und Institutionen definiert, aus dem jene Personen stammten, die wichtige Wahl- oder ernannte Ämter innehatten. Pareto betonte in seiner Kreislauftheorie vor allem die Dynamik der Elitenzirkulation. Mosca behielt - trotz der bei ihm noch breiter als bei Pareto eingestreuten historischen Beispiele - ein mehr statisches Bild der Klasse und ihrer Rekrutierungsmuster. Der Ökonom Pareto hatte eine klare Sicht für die Ökonomie des Elitenbedarfs. 14 Der Untergang vieler Aristokratien wurde von Pareto gerade damit erklärt, daß sie „am Elitenbedarf' vorbeiproduzierten, etwa zu viele Soldaten in der herrschenden Klasse, wenn diese nicht gebraucht wurden. Das eher statische Bild der politischen Klasse, das Mosca zeichnete, trägt stärker als Paretos dynamisches Zirkulationsmodell die Züge seiner Zeit. Die politische Klasse Moscas ist geprägt durch die Eigenart des konstitutionellen Regimes mit stark oligarchischen Strukturen und unklaren Parteienverhältnissen in einem cliquenhaft organisierten Frühparlamentarismus, wie er die Ära Depretis bis zu Giolitti in Italien kennzeich-

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Vgl. Robert Dahl, Democracy and its Critics, New Haven 1989, S. 272. Vgl. Pareto , Trattato, § 2034. 12 Vgl. Gaetano Mosca , Elementi di szienza politica, 2 Bde., Bari 1953, Bd. I: S. 34, 49, 78, 80, 153. 13 Vgl. Dahl, Democracy, S. 269. 14 Vgl. Pareto, Trattato, § 2044. 11

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nete. Ein begrenztes Wahlrecht sorgte damals für die Abgehobenheit der politischen Klasse. Ist das Bild der politischen Klasse, das aus einem zwar parlamentarisierten, aber vordemokratischen Regime gewonnen wurde, noch gültig für die entwickelte Demokratie zum Beginn des 21. Jahrhunderts? Die prämodernen Züge der Gesellschaft, in der sich die politische Klasse so klar von der Masse des zum Teil noch nicht politisch mündigen und wahlberechtigten Volkes abhob, schienen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger in den westlichen Demokratien zu finden als in den realsozialistischen Systemen. Das Nomenklatura-System mit fixierten Regeln der Elitenkooptation hat dazu eingeladen, über „Moskau und Mosca" zu kalauern 15. Die sowjetische Ideologie hat zwar am marxistischen Klassenbegriff festgehalten, für ihre politische Führung haben aber vor allem enttäuschte Marxisten immer wieder den Klassenbegriff eingesetzt, wie die Trotzkisten, die von „neuer Klasse" (Djilas) oder „bürokratischer Klasse" sprachen. In bezug auf westliche Demokratien kam unter radikalen Demokraten - nicht ohne vermittelte marxistische Einflüsse - eher der Begriff Machtelite auf, wie ihn C. Wright Mills 1 6 in Amerika populär gemacht hat. Wo der Begriff nicht pauschal für ein Konglomerat von Politikern, Wirtschaftsleuten und Militärs gebraucht wurde, wie bei Mills, ist er - ganz im Sinne vieler italienischer Studien - meist auf den Kongreß angewandt worden, vor allem auf die Verfestigung der Senatselite mit ihren rigiden Senioritätsregeln 17. Mit dieser Entwicklung wurde ein alter Vorwurf gegen Mosca und Pareto korrigiert, daß sie in ihrem Eifer der Überwindung des alten Institutionalismus der Staatslehre zu weit gegangen seien und in der Theorie der Eliten wie der Theorie der politischen Klasse der institutionellen Seite des politischen Systems zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten.18 Der neue Institutionalismus konnte freilich in bester Absicht wieder über das Ziel hinausschießen und die politische Klasse allzusehr mit einer Institution identifizieren. In Italien war dies - wie in

15

Vgl. B. Harasymiw , Mosca and Moscow. Elite Recruitment in the Soviet Union, in: M. Czudnowski (Hrsg.), Does who governs matter?, Northern Illinois UP 1982. 16 Vgl. C Wrigth Mills , The Power Elite, Oxford 1956. 17 E. Shils , The Political Class in the Age of Mass Society, in: Czudnowski (Hrsg.), Does who governs matter?, S. 20. 18 Vgl. M. Cotta , The Italian Political Class in the 20th Century, in: Czudnowski (Hrsg.), Does who governs matter?, S. 158.

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den USA - das Parlament. 19 Das Konzept der politischen Klasse wurde aus dem Kampf gegen einen beengenden Institutionalismus geboren. Es droht erneut in eine Duplizierung institutioneller Befunde einzumünden. Bisher blieb der Begriff „politische Klasse" jedoch der Sehnsuchtsanker einer Theorie der Führungsgruppen, die „analytisch aus ihrer institutionellen Verankerung" gelöst und „als eigenständiger Faktor im politischen Prozeß konzipiert" wurden. 20 Der Einsatz des Begriffs der politischen Klasse stand unter der Notwendigkeit, eine Kohärenz des Denkens und Handelns dieser Gruppe nachzuweisen. Je kleiner und institutioneller die politische Klasse definiert wurde, um so leichter schien dies. Weder Mosca noch Pareto hatten ihre Gruppe je klar abgegrenzt und quantifiziert, aber sie arbeiteten schließlich nicht an Laswells behavioralistischem Projekt über Eliten! Ein italienischer Forscher wie Guido Dorso 21 , der sich auf Mosca berief, hatte die institutionelle Eingrenzung bereits vollzogen. Er reservierte den Begriff „classe politica" für die Regierungspositionen im engeren Sinne. Ein weiterer Begriff von „classe dirigente" wurde - umgekehrt wie bei Pareto - für eine politische Elite im weiteren Sinne eingesetzt. Moscas unklare Begriffsbildung zwang seine Anhänger immer wieder zu neuen Abgrenzungen. Moscas Errungenschaft war die Einsicht in die Herrschaft „organisierter Minderheiten". 22 Aber die Art der Organisation blieb angesichts der vielen Beispiele aus unterschiedlichen Gesellschaften, die Mosca reichlich wahllos nebeneinander stellte, unklarer als bei Pareto. Angesichts der Herrschaft von Parlamentseliten - den „kleinen Helden des allgemeinen Wahlrechts", wie ein italienischer Kritiker des Parlamentarismus zur Zeit Moscas bissig formulierte - schien sich die Organisationsform relativ einfach aufspüren zu lassen. Mosca hat dies aber nicht systematisch versucht. Als sich die Herrschaft der Minderheit demokratisierte, mußte der Begriff der politischen Klasse institutionell weiter gefaßt werden. Die Theorie der politischen Klasse zur Zeit Moscas nahm mehr und mehr die Züge einer konservativen Abwehrideologie gegen den sich demokratisierenden Parlamentarismus an, der die nicht 19

Vgl. M. Cotta, Classe politica e parlamento in Italia 1946-1976, Bologna 1979; und M Cotta, Political Class, in: Czudnowski (Hrsg.), Does who governs matter?, S. 160. 20 Vgl. H. D. Klingemann (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991, S. 27. 21 Vgl. Guido Dorso, Dittatura, classe politica e classe dirigente, Bari 1986, S. 115 ff. 22 Noberto Bobbio, Gaetano Mosca und die Theorie der herrschenden Klasse, hier zitiert nach der englischen Übersetzung in: Quarterly Review 1962, S. 58.

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erwünschte Elitenrekrutierung produzierte. Die Polemik gegen den Parlamentarismus jener Zeit hat nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch Nachahmer gefunden. Auch die Schmittianer haben das parlamentarische System akzeptiert und versuchten lediglich noch, seiner Insuffizienz die Meriten einer wohlfahrtsstaatlich gestimmten Verwaltungselite entgegenzusetzen, die „den Staat" stärker zur Geltung bringen könne als die von Interessengruppen zerrissene parlamentarische Elite. 23 Der Pessimismus der ersten, vom Parlamentarismus enttäuschten früheren Liberalen wie Mosca wich einem neuen Optimismus. Es wurde wieder entdeckt, daß die Theorie der herrschenden Klasse einst auch optimistische Aspekte besessen hatte. War sie nicht Rechtfertigungslehre einer aufstrebenden meritokratisch gestimmten Bourgeoisie gegen das alte Regime einer kaum noch funktionierenden aristokratischen Kooptation der Herrschenden? Von Burnhams Theorie der Manager bis zu Gouldners Theorie der neuen Klasse der Intellektuellen hatte diese neuere Theorie der Eliten nicht nur den Aspekt einer Depravationstheorie. Der Begriff der politischen Klasse war - auch ohne direkte Anleihen beim Marxschen Zweiklassenmodell - von einer dichotomischen Sichtweise geprägt. Überall schien es Eliten und Nichteliten zu geben. Die frühe Literatur schwelgte seit Le Bon in Theorien der Massen. Sighele und andere taten das auch in Italien. Mosca und Pareto hingegen haben sich von einem vordergründig abwertenden Begriff der Nichteliten freizuhalten versucht, auch wenn Paretos Bezeichnung der Beherrschten als „niedere, elitenfremde Schicht" nicht eben wohlwollend klang. 24 Die spätere Literatur, vor allem in Amerika, hat strikter von „Nichteliten" gesprochen, um keinen diskriminierenden Massenbegriff aufkommen zu lassen, wie er bei Kornhauser und anderen noch anklang. Die Demokratisierung der Systeme hatte den Blick dafür geschärft, daß die Nichteliten keine dumpfe, politisch handlungsunfähige Masse darstellten. Die Demokratietheorie mußte wenigstens von der Fiktion eines Einflusses der Nichteliten auf die Eliten per Delegation ausgehen. Die älteren Repräsentationstheorien mit der strikten Abtrennung der Repräsentanten von einem Mandat des Volkes hatten die Beziehung von Eliten und Nichteliten wesentlich lockerer gesehen. Die Nichteliten waren mit der politischen Erstarkung der Arbeiterklasse auch keine politische Einheit mehr. Sie wurden in Mittelklassen und Arbeiterklasse unterteilt. Während der

23 24

Vgl. von Beyme, Theorie der Politik, S. 101 f. Vgl. Pareto , Trattato, § 2034.

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frühe Mosca noch eine strikt hierarchische Beziehung zwischen der politischen Klasse und den Massen annahm, hat der spätere Mosca die Verbindung von politischer Klasse und Beherrschten durch das Band der Ideen stärker in den Blick gerückt. Der Zusammenhalt zwischen politischer Klasse und der Masse der Bürger wurde für Mosca in einer kulturellen Gemeinsamkeit und in einer Ideologie gesehen.25 Er übernahm von Herbert Spencer - gegen dessen Vision einer sich entmilitarisierenden und friedlicheren Handelsgesellschaft er ansonsten fleißig polemisierte - den Begriff des „großen Aberglaubens" für seine „politische Formel". Gramscis Vorstellungen der kulturellen Hegemonie zeigten später den Einfluß der Elitentheorien auch auf das Denken der italienischen Linken. Die politische Klasse war für Mosca mehr als der Produzent von Ideologien - eine Vorstellung, die bei rechten Kritikern der politischen Klasse noch nicht ausgestorben ist. Die moderne politische Klasse wird nicht mehr von Priesterkönigen gestellt, auch wenn Schelsky und andere dies im Eifer des Gefechts gegen die linke Welle in den 1970er Jahren noch einmal suggerierten. Politische Systeme bedürfen der Mobilisierung von Werten, Glaubenshaltungen, Ritualen und institutionellen Spielregeln, um die Tatsache zu begründen, daß einige in der Gesellschaft davon mehr profitieren als andere. Die organisatorische Seite der Bildung politischer Klassen wurde von Mosca mehr beschworen als belegt. Die Hauptschwäche seiner Theorie der politischen Klasse war die Vernachlässigung der Parteien und der Bürokratie. Parallel zum Streit zwischen Mosca und Pareto gab es eine Tradition des Denkens von Ostrogorski bis Max Weber, die gerade die parteiorganisatorischen Aspekte von moderner Herrschaft herausarbeiteten, ohne jedoch zu einer globalen Theorie der politischen Klasse oder der politischen Elite vorzustoßen. Für Ostrogorski war der Caucus der Parteien ein „Virus, stark genug, um das Blut der Gemeinschaft zu vergiften". 26 Ostrogorski - wie Mosca für kurze Zeit Abgeordneter, wenn auch in der parlamentarisch noch unterentwickelten russischen Duma war ähnlich wie dieser angewidert von dem Betrieb der politischen Klasse seiner Zeit. Im Gegensatz zu Mosca sah er jedoch die parteiorganisatorischen Grundlagen der Macht der politischen Klasse im parlamentari-

25

Vgl. Mosca , Herrschende Klasse, S. 69. Vgl. M. Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, 2 Bde., Chicago 1964, Bd. 2, S. 346. 26

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sehen System klarer. Er war andererseits theoretisch nicht breit genug orientiert und soziologisch nicht interessiert genug, um die Unerläßlichkeit von Parteistrukturen zur Überwindung des cliquenhaften Oligarchismus im frühen Parlamentarismus zu erkennen. In einer wohlmeinenden Antiparteienstimmung, wie sie im russischen Klima der Narodniki herrschte - die Bolschewiken haben daraus nicht wenige Vorteile gegenüber den eigentlich stärkeren linken Gruppierungen gezogen - , kam es zur Ablehnung des Partei-Caucus. Er hatte richtig beschrieben, daß diese Organisationsform vom Mittel zum Ziel zu werden drohte. Aber sein Schlachtruf: „Nieder mit den Parteien, es leben die Ligen", klang damals so utopisch wie später so manche grüne Vision von einer Partei, die keine Partei im etablierten Sinne sein sollte. Erst Max Weber kam zu einer klaren Sicht der politischen Führung. Einerseits war sein Blick auf die modernen politischen Unternehmer gerichtet, andererseits auf die Bürokraten. Auch er benutzte den Begriff Caucus für organisatorische Machtzentren im Bereich der Parteien. Trotz seiner Tendenz, abstrakte Begriffe als Idealtypen unnötig wissenschaftstheoretisch zu überhöhen, hat er keinen Idealtyp „Elite" oder „politische Klasse" gebildet. Mit der Ablösung der alten Honoratiorenorganisation entwickelte sich eine Gruppe, für die Weber den Terminus „Berufspolitikerschicht" wählte. 27 Die Eigenart des Deutschen, drei Substantive harmonisch verschmelzen zu können, war in andere Sprachen kaum übertragbar. So hat Webers Begriff als Terminus technicus keine Karriere gemacht wie die Begriffe „politische Klasse" oder gar das noch knappere Wort „Elite". Dabei hätte die Ersetzung des angreifbaren Klassenbegriffs durch das Wort Schicht durchaus attraktiv sein können. Da Weber weder der Bürokratie noch dem Kapitalismus in gleicher Weise fremd gegenüberstand wie viele seiner Zeitgenossen im damals weniger entwickelten Italien, war für ihn selbst die ältere Parteiorganisation - „halb Honoratiorenwirtschaft, halb bereits Angestellten- und Unternehmerbetrieb" - weniger negativ besetzt als für Mosca oder Ostrogorski. Weber hatte mehr Verständnis für die Entwicklung von „Politik als Beruf 4 , in der der Politiker nicht nurfiir die Politik, sondern auch von der Politik lebt. Auch bei Pareto - einem Ökonomen, der größere Beiträge zur Theorie der kapitalistischen Wirtschaft im volkswirtschaftlichen Sinne leistete als Max Weber - war das Verständnis für Kapitalisierung, Monetarisierung und Bürokratisierung der politischen Klasse geringer als bei Weber. 27

Siehe Max Weber, Politische Schriften, Tübingen 1958, S. 522.

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In seinen Gelegenheitsschriften hat Pareto den „plutokratischen Zyklus" schärfer gegeißelt28 als in seinem „Trattato". Manche Äußerung klang wie ein Rückfall in ältere sozialistische Theorien - die Pareto so scharfsinnig in zwei Bänden zerpflückte - , welche immer wieder politische Führung und kapitalistische Klasse identifizierten. Max Weber hatte einen schärferen Blick als selbst Pareto für die Ausdifferenzierung der Sphären der Gesellschaft. Deutlicher als die italienischen Zeitgenossen in einem Lande, in dem der Kapitalismus regional begrenzt und im ganzen noch in den Kinderschuhen steckte, sah Weber, daß die Politik in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht mehr Leitungszentrum der ganzen Gesellschaft sein kann. Im Gegensatz zu Pareto sprach er vom gesellschaftlichen Ganzen noch nicht als dem „System". Das wurde ihm erst später von Parsons unterstellt, in seinem Versuch, die drei Großen der modernen Sozialtheorie, Durkheim, Weber und Pareto, einiger erscheinen zu lassen, als sie waren. Im Gegensatz zu dem Plutokratie-Vorwurf, der in Italien populär war, wurden Politiker in ihrer Unabhängigkeit von der kapitalistischen Klasse gesehen. Andererseits sah Weber schärfer, daß, je stärker die gesellschaftlichen Sphären sich ausdifferenzierten - auch von Subsystemen sprach er natürlich noch nicht - , äquivalente Strukturen in Politik und Wirtschaft sich ausbreiteten. Plutokratische Herrschaft war für ihn eher eine archaische Form von Herrschaft noch ohne Rollendifferenzierung. Einige Andeutungen Webers scheinen die Vereinigten Staaten in diesen archaischen Typ einzuordnen, bei dem die „Leitung eines Staates" in der Hand von Leuten, „welche (im ökonomischen Sinn des Wortes) ausschließlich für die Politik und von der Politik leben", liegt. 29 Klarer als viele Zeitgenossen sah Weber jedoch, daß auch plutokratische Leitung zugleich bedeutete, „daß die politisch herrschende Schicht - hier kam Weber dem Begriff der „classe dirigente" am nächsten - „nicht auch ,νοη' der Politik zu leben trachtete". Aber selbst in Amerika waren die „wirtschaftlichen" und „politischen Bosse" keine einheitliche Schicht. Er übersah nicht, daß auch dort das archaische Beutesystem zunehmend von Bürokraten und geschulten „leitenden Politikern" abgelöst wurde. 30 Ließ Weber mit seinen manchmal altväterlich anmutenden Komposita-Begriffen eine zündende Formel wie die politische Klasse oder die

28 29 30

Vgl. Pareto , Trasformazioni della democrazia, Modena 1946, S. 87 ff. Vgl. Weber, Politische Schriften, S. 502. Vgl. Weber, Politische Schriften, S. 505.

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Elite vermissen, so war seine Analyse, was die Einsicht in die Differenziertheit moderner Führungsauslese anbelangt, ungleich differenzierter als die der Theoretiker, welche als Väter der Elitentheorie gelten. Er hat den Aspekt der Parteiorganisation berücksichtigt, der bei Ostrogorski und Michels überschätzt wurde. Aber er vernachlässigte nicht die Sphären der wirtschaftlichen Eliten und der Staatsbürokratie, wie es selbst Michels tat, der in vielen Punkten von Webers Ansichten abhängig war. Robert Michels' Haß auf die SPD, die seine Karrierewünsche enttäuscht hatte, war allzu groß, als daß er hätte erkennen können, daß die SPD - gleichsam als die am besten organisierte „Urpartei" der Welt auch in ihren negativen Seiten einen unvermeidbaren Trend der Moderne verkörperte. Weber sah die SPD von „Beamteninstinkten" beherrscht. 31 Michels hatte genug von Max Weber gelernt, um die Bedeutung der Bürokratie nicht zu unterschätzen. 32 Dem „Bürokratismus und Zentralismus im Parteiwesen" widmete er ein ganzes Kapitel. Die Parteien müssten ihrer Parteiregierung eine möglichst breite Basis verleihen, um möglichst viele Elemente auch finanziell an sich zu fesseln. Dazu bedürften sie der Bürokratie. Schärfer als Weber sah Michels das Problem der aufstiegswilligen Intellektuellen, die in immer größerer Zahl an die „Staatskrippe" drängten. Der Staat muß daher nach seiner Ansicht die Schleusen der bürokratischen Kanäle weiter öffnen, um „Tausende von Postulanten unterzubringen und aus gefahrlichen Gegnern in eifrige Beschützer und Verteidiger zu verwandeln". 33 So entstehen nach Michels zwei Klassen von Intellektuellen. Die Ingroup findet in der Bürokratie ihr Auskommen. Die andere Gruppe „belagert die Festung, ohne in sie einzudringen". Das Bild wurde von dem italienischen Massenpsychologen Scipio Sighele entliehen. Es erscheint als kein Zufall, daß Michels sich in der Brandmarkung der Parteibürokratie nicht auf Max Weber, sondern auf seinen impulsiven Bruder Alfred Weber berief, der auf dem Wiener Kongreß des „Vereins für Socialpolitik" 1909 einseitig die Freiheitsverluste, die durch Bürokratisierung entstanden waren, herausstrich. „Gesinnungslumperei" als Resultat der Bürokratie klang sehr nach normativer Bewertung und paßte weniger zu Max Webers Analysen, die auch sprachlich die Leidenschaft

31

Siehe Weber, Politische Schriften, S. 530. Vgl. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart 1989, S. 161 ff. 33 Siehe Michels, Parteiwesen, S. 161. 32

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zu bändigen versuchten. Max Webers Terminus ,Anstaltsbetrieb" ließ eine neutralere Bewertung der Tendenzen im modernen Parteiwesen zu. Die unterschiedlichen Ansätze können in einer Vierfeldermatrix anschaulich gemacht werden: Auf der X-Achse lassen sich sozialstrukturelle von handlungsorientierten Ansätzen unterscheiden, auf der YAchse wird der Unterschied von Theorien, welche die Elite als lose Gruppe oder als in Institutionen gut organisiert auffassen, dargestellt.

Elitentheoretische Ansätze Sozialstrukturell (Was ist die organisierte Minderheit?)

Handlungsorientiert (Was tut die organisierte Minderheit?)

Organisierte Minderheit als lose Gruppe

Elite (Pareto) Kapitalistenklasse und ihre politischen Agenten (Stamokap-Theorien) Plutokratie, Demo-Plutokratie (Pareto) Intellektuelle (Gouldner)

Politische Klasse (Mosca) Führung (Welsh u. a. Behavioralisten)

Organisierte Minderheit fest in einer Institution verankert

Classe dirigente (Pareto) Caucus (Ostrogorski, Weber) Berufspolitikerschicht (Weber) Parteibürokraten (Michels) Manager (Burnham)

Machtelite (Mills) Non-Decision-Vetogrupe (Bachrach, Therborn, Offe)

Ein handlungsorientierter Ansatz erhebt höhere Anforderungen an den Nachweis einer relativ homogenen handlungsfähigen Gruppe als sozialstrukturelle Konzeptionen, vor allem wenn sie nicht an Institutionen anknüpfen. Sozialstrukturelle Ansätze müssen vielfach mit der Unterstellung arbeiten, daß die von ihnen festgestellte „Elite" die Gesellschaft oder die Politik auch steuere. Handlungsorientierte Ansätze bedürfen eines größeren Glaubens an die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems. Sozialstrukturelle Ansätze haben es leichter, sich von der Analyse der Folgen politischen Handelns in die Unterstellung eines gleichgewichtigen Pluralismus zurückzuziehen, der durch die sozialstrukturellen und organisatorischen Daten garantiert zu werden scheint. Die

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Wiederbelebung des Konzepts der politischen Klasse in der empirischen Sozialforschung war Ausfluß der Sehnsucht der Detailforscher, die fragmentierten Befunde zusammenzufuhren und einen „eigenständigen Faktor im politischen Prozeß zu entdecken ... beispielsweise als politische Klasse". 34 Es hat schon früher solche integrativen Konzepte gegeben, etwa das durch den Terminus „Elitenformation" umrissene, 35 aber dieser wurde nicht sehr gebräuchlich. Der Begriff der politischen Klasse sollte nach dieser Konzeption den Elitenbegriff nicht verdrängen. Er war gegen die Mystifikation einer „Machtelite" gerichtet. Als der Klassenbegriff entmystifiziert wurde und marxistische Theorien an Überzeugungskraft einbüßten, ließ er sich mit dem Feld politischer Machtstrukturen verbinden. Klasse war auch in der Schichtungslehre kein „ehernes Gehäuse" und „unausweichliches Schicksal" mehr. Der Begriff wurde somit vereinbar mit der Vorstellung von Klasse als losem Netzwerk. Die Entökonomisierung des Klassenbegriffs und die Verwendung für politische Führungsgruppen hatte bereits eine gewisse Tradition. Dahrendorfs Begriff der „Dienstklasse" konnte als Vorläufer in Anspruch genommen werden. Die Reste ganzheitlicher Sehnsucht des Detailforschers können nicht in operationalisierbare Größen übersetzt werden, wenn man nur mit der Netzwerk- und Entscheidungsanalyse an den Gegenstand herangeht, weil das pluralistische Bild häufig einen politischen Klassenbegriff reichlich aufgesetzt erscheinen läßt. Daher gibt es eigentlich nur zwei Wege, um zu einem Begriff der politischen Klasse vorzustoßen: -

durch die Analyse aller Prozesse, die es erlaubt nachzuweisen, daß eine organisierte Minderheit trotz aller demokratischen Postulate als von ihren Wählern abgehoben erscheint,

-

oder durch die begriffliche Abstraktion einer Gruppe, die bei einer Theorie des generalisierten Tausches als Hilfskonstruktion politische Klasse genannt werden kann, auch wenn einzelne Elitensektoren in diesem politischen Tauschgeschäft empirisch gar nicht als Handelnde nachzuweisen sind.

34

H; D. Klingemann, Politische Klasse, S. 27. Vgl. D. Herzog, Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975. 35

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Der erste Ansatz hat den Nachteil, daß die politische Elite gleichsam additiv aus einzelnen Prozessen herausgefiltert wird. Das Verfahren ist zwar noch empirisch, aber gleichsam software-empirisch: Zu viele der Prozesse sind nicht recht quantifizierbar. Selbst wenn genügend quantifizierbare Belege für die Existenz einer politischen Klasse gefunden werden können, erheben sich Zweifel an der additiven Gewinnung eines Begriffs der politischen Theorie. „Wer viele Gründe nennt, hat keinen zureichenden Grund", hat Kant gesagt. Eine Theoriebildung, die jedoch den altmodernen Drang nach abgeleiteten holistischen Konzepten verloren hat, geht bei der Generalisierung von Fakten und Prozessen in einer fragmentierten Gesellschaft nicht anders vor. Wer eine Errungenschaft der Moderne ernst nimmt, wird freilich die Addition immer durch die Gegenrechnung ergänzen und die Prozesse nicht übersehen, die gegen die Benutzbarkeit eines generalisierten Begriffes wie desjenigen der „politischen Klasse" sprechen. In der Gegenrechnung darf nicht unterschlagen werden, daß die Kohäsion der politischen Klasse im modernen Parteienstaat im Vergleich zur organisierten Minderheit vordemokratischer oligarchischer Systeme eher ab- als zugenommen hat. Die Kluft zwischen Eliten und Nichteliten ist durch die moderne Policy-Orientierung, welche der politischen Klasse größere Responsivität gegenüber den Aspirationen der Nichteliten abverlangt, nicht größer, sondern eher kleiner geworden. Ein weiteres Paradoxon tut sich auf: Die Prozesse, in denen die politische Klasse ihre Abgehobenheit von den Wählern stabilisiert, sind nötig geworden, gerade weil die Rückbindung an Wählerwünsche und die Druckmöglichkeiten von in Bürgerinitiativen ad hoc organisierten Minderheiten unter den Nichteliten größer geworden sind. Funktionalistisch ausgedrückt: Ohne ein Minimum an Abgehobenheit der politischen Klasse gegenüber ihrem Volkssouverän könnte diese ihren Handlungsspielraum nicht erhalten und damit langfristig die Erwartungen ihrer Auftraggeber nicht erfüllen. Die nichtadditive Alternative in der Begriffsbildung wäre an zahlreiche Voraussetzungen der Einschätzung eines politischen Systems gebunden, die von der nachmodernen politischen Theorie mehr und mehr angezweifelt werden. 36 Der zweite Ansatz, der mehr Aussicht hat, als Theorie gewürdigt zu werden, ohne - wegen seines Abstraktheitsgrades - der Wertschätzung der Empiriker sicher sein zu können, wäre an den Nachweis eines steu36

Vgl. von Beyme, Theorie der Politik.

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ernden Zentrums gebunden. Netzwerkanalysen haben die Existenz eines solchen Zentrums meist nicht ausgeschlossen, konkrete Entscheidungsanalysen erbrachten - vor allem in Amerika - , daß das Zentrum vielfach „hohl" war. Die Theorie des Korporatismus hat bisher von dem Begriff politische Klasse keinen Gebrauch gemacht. Paretos wegwerfendes Wort über Eliten, als eine Art Gleichgewicht von Arbeiterbewegungen und Bourgeoisie „Demo-Plutokratie" genannt, wird schwer wiederzubeleben sein. Eine Theorie der politischen Klasse auf der Grundlage triangulärer Einflußbeziehungen im Korporatismus stößt auf Schwierigkeiten, weil Korporatismusforscher - nach der ersten Rezession ihres einstigen geistigen Wachstumssektors - einzusehen beginnen, daß auch in korporatistischen Gesellschaften viele Arenen eher status-politisch oder archaisch-pluralistisch organisiert sind. Der etatistische Ansatz des Korporatismus ist mehr und mehr von einem allgemeineren Modell des politischen Tausches abgelöst worden. Generalized political exchanges wurden unabhängig von den Institutionen entdeckt. Sie unterscheiden sich von den klientelistischen Austauschsystemen, die zu der Zeit vorherrschten, als Mosca die „politische Klasse" entdeckte. Verhandlungssysteme herkömmlicher Art sind nicht ausgestorben, erklären aber nicht alle Tauschgeschäfte auf dem politischen Markt. Politischer Austausch wird so genannt, nicht nur weil politische Akteure involviert sind, sondern weil die Ressourcen bei diesem Tausch nichtökonomischer Art sind. Es handelt sich nicht um dyadische Tauschstrukturen, sondern um trianguläre (wie beim Korporatismus) oder noch komplexere Systeme.37 Bei einem so weiten Tauschkonzept könnte der Terminus „politische Klasse" schon als zu vordergründig-substantiell wirken. Dennoch ließen sich alle Akteure über den generalisierten politischen Tausch als eine politische Klasse und als Begünstigte definieren. Austauschbeziehungen im weitesten Sinne können empirisch selbst dort nachgewiesen werden, wo eine Netzwerkanalyse keine direkten Kommunikationsbeziehungen aufzufinden vermag. Die politische Klasse käme damit einerseits aus ihrer institutionellen Verdinglichung, andererseits aus der mystifizierenden Form des Abstraktums heraus, das empirisch nicht nachgewiesen werden kann. Auch der Theorie des generalisierten Tausches bekäme es nicht schlecht, sich in diese Richtung hin zu operationalisieren. 37

Vgl. B. Marin (Hrsg.), Generalized political exchange, Frankfurt a. M./Westview 1990, S. 64.

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Ein solcher Begriff der politischen Klasse hätte mit dem handfesten Terminus von Mosca kaum noch etwas gemeinsam. Politische Klasse ist weniger eine konkret einheitlich handelnde Akteursgemeinschaft, sondern die Abstraktion von gewissen Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften. Die allgemeinste Entwicklungstendenz beruht auf dem Paradoxon, das weder Mosca noch Paereto, der allerdings schon über einen - wenn auch wenig komplexen und eher an naturwissenschaftlichen Modellen gewonnenen - Systembegriff verfügte, gekannt hatten: das Paradoxon, daß die Elitensektoren mit Fortschreiten der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Eliten vordergründig immer verschiedener werden und immer weniger Intervention von anderen Subsystemen erlauben. Andererseits werden die Kooperationsbeziehungen der Elitenangehörigen enger, und die Suche nach Lösungen zur Koevolution der Subsysteme wird gestärkt. Denkt man dieses Paradoxon zu Ende, löst der Begriff der politischen Klasse sich auf, weil er eigentlich die Eliten vieler Sektoren umfaßt, die sich den Terminus politisch verbitten würden.

Pluralistische Vergesellschaftung" und „Pluralismustheorie" auf dem Prüfstand methodenkritischer Einwände

Von Otwin Massing

„Zu den praktisch bedeutsamsten Aufgaben einer jeden Politikwissenschaft gehört es, den politischen Gehalt der Worte aufzudecken, die im Alltag des politischen Lebens verwandt werden."1 Jn der Welt der historischen Werte herrscht die Falschmünzerei."2

Bevor ich mich einigen ideologisch höchst belasteten Problemen des sogenannten politischen Pluralismus westlich-kapitalistischer Industriegesellschaften und ihrer notwendig pluralistischen - panegyrisch-überschwenglich formuliert: „natürlichen" - Verfaßtheit zuwende, um sie einer sozialwissenschaftlich zugespitzten Kritik zu unterziehen, sollen vorab einige methodenkritische Überlegungen angestellt werden, von denen ich glaube, daß sie einen realistischeren, wenn auch vielleicht ungewohnten Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse eröffnen, zumal in der Perspektive, daß diese regelmäßig als „Bauelemente einer freiheitlichen Demokratie" 3 bestimmt werden, mit allen positiven wie negativen Konsequenzen.

1 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a. M. 1991, S. 48. 2 Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, in: KSA 6, S. 434. 3 Waldemar BessoniGotthard Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung, 2. Aufl., München u. a. 1966.

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Otwin Massing

I. In der Art eines Dreierschrittes möchte ich mit einem gewiß nicht wenig überraschenden ersten Beispiel beginnen, selbst auf die Gefahr hin, damit Mißverständnisse zu provozieren, denn noch immer dürfte es recht ungewöhnlich sein, sozialwissenschaftliche Thesen an Hand von Beispielen aus der „schönen" Literatur zu belegen. In Laurence Sternes Roman „Leben und Ansichten von Tristram Shandy" heißt es gleich zu Beginn des ersten Buches (Kap. I): „Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten; hätten sie gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie gerade taten; daß es dabei nicht nur um die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens ging, sondern daß womöglich die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Körpers; vielleicht sein Genie und just die Färbung seines Gemüts; und gar (...) die Wohlfahrt seines ganzen Hauses ihre Wendung nach den Säften und Dispositionen [humours and dispositions ] nehmen könnten, die gerade obenauf waren: Hätten sie all dies gebührend in Erwägung gezogen und wären demgemäß verfahren, ich bin wahrhaftig überzeugt, ich würde in der Welt eine ganz andere Figur vorgestellt haben, als die, in der mich der Leser wahrscheinlich erblicken wird." 4 Leider hat der schöne Schein darunter zu leiden, muß der Zauber eines literarischen Textes gänzlich verfliegen, sobald wir aus der Entschlüsselung einer geheimen Botschaft wie der Sterneschen für die Analyse eines so irdisch-nüchternen Spezialthemas wie dem der pluralistischen Vergesellschaftung Honig saugen wollen. Wenn ich sagte, ich wollte methodenkritisch vorgehen, so ist zunächst darunter nicht mehr und nicht weniger zu verstehen, als nach dem geheimen Sub-Text zu fragen, der jenem Zitat des Ironikers Sterne für unsere besonderen Erkenntnisabsichten abzumarkten sein dürfte, ohne uns vor allzu große Interpretationsschwierigkeiten zu stellen. Ich tue

4

Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, neu bearbeitet von Michael Walter, München 1994, S. 9 f. Da Sterne die physischen und psychischen Umstände, unter denen seine Eltern ihn - wie er behauptet: zufällig - zeugten, mit den Begriffen „humours and dispositions " belegt, wären beide am ehesten mit „Säfte und Konstellationen" zu übersetzen. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß dessen erste deutsche Übersetzung bereits 1769 anonym erschienen war. - Vgl. dazu Hans-Georg Pott, Neue Theorie des Romans. Sterne, Jean Paul, Joyce, Schmidt, München 1990, insbesondere S. 47-93 (49 f.).

„Pluralistische Vergesellschaftung" und „Pluralismustheorie"

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dies, indem ich ein paar Hinweise formuliere, wie man sich über einen literarisch-textanalytischen Forschungspfad selbst an ein brisantes politisches Thema wie das der „pluralistischen Vergesellschaftung" heranpirschen kann. Keineswegs dürfen nämlich die Überlegungen Sternes als feindselige Äußerungen gegenüber seinen leiblichen Erzeugern verstanden, gar als misanthropische Weltsicht abgetan werden. Vielmehr steckt in ihnen ein durchaus vernünftiger Kern. Überlegungen ähnlich den seinen sind auch heute noch gang und gäbe. Vernünftig können sie deshalb genannt werden, weil sie die durchaus sinnvolle, rational von jedermann nachvollziehbare „biopolitisch-disziplinäre" Botschaft zum Ausdruck bringen, anläßlich derart folgenreicher Vorhaben wie die, Kinder in die Welt setzen zu wollen, sei es unabdingbar, sich rechtzeitig einer gründlichen (individuellen) Prüfung hinsichtlich solchen Tuns zu unterziehen.5 Wenn zwei, die in Liebesbeziehungen zueinander stehen, sich zur Erzeugung von Kindern entschließen - wissenschaftlich-technisch ausgedrückt: ihrem besonderen Reproduktionsgeschäft zu obliegen gewillt sind - , dann sollten sie wenigstens verantwortungsbewußt handeln, d. h. folgenorientiert sich verhalten, was immer auch impliziert, sich über die Konsequenzen ihres Tuns nach Möglichkeit rechtzeitig, in jedem Falle gewissenhaft Rechenschaft abzulegen. Zufallspaarung (= random mating) sollte ausgeschlossen sein bzw. gar nicht erst stattfinden dürfen. Es ist dies ein Modell planrationalen Verhaltens vernünftiger Menschen, das Laurence Sterne - in literarischer Verkleidung selbstverständlich - Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur seinen Zeitgenossen als Individuen glaubte einschärfen zu müssen, sondern der englischen Gesellschaft seiner Zeit in aufklärerischer Absicht insgesamt auch glaubte zumuten zu dürfen. 6 Dennoch scheint die Botschaft, die Sterne uns übermittelt und die auf den ersten Blick so überaus vernünftig zu sein scheint, auch wieder unvernünftig zu sein, zumal sie Gefahr läuft, sich kontraproduktiv auszuwirken. Tatsächlich hätten alle - würden sie dieser Empfehlung entspre5 Tatsächlich hatte Sterne in seinem „Tristram Shandy" gerade den eher „unfreiwilligen", zufälligen, um nicht zu sagen unbedacht-animalischen Kopulationsakt kritisieren wollen. 6 Michel Foucault hat auf Grund von Analysen derartiger Zusammenhänge - die er als historisch spezifisches Verhältnis von „Macht und Körper" bestimmte - bekanntlich eine Theorie der „Biopolitik" als eigenständiges sozialwissenschaftliches Programm gefordert. Vgl. Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Frankfurt a. M. 2001 ff.; vgl. insbesondere auch seine „Analytik der Macht", Frankfurt a. M. 2005, darin: „Macht und Körper", S. 74 ff., und „Die Geburt der Biopolitik", S. 180 ff.

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chend sich verhalten - sich ihrer je individuellen spontanen Gefühle zu entschlagen; jede freie, nichtreglementierte Liebe müßte sich gelähmt fühlen. Würden sich die Menschen jedesmal an zwar plausible, gleichwohl moralisch repressive Anweisungen halten, denen zufolge sie hinsichtlich ihrer intimsten Beziehungen nicht anders denn planrational miteinander umgingen - sollten sie also ihr emotionales, erst recht ihr reproduktives Verhalten dem Folgenabschätzungsdiktat „vernünftigen" Räsonierens unterwerfen wollen - , Intimität und Liebe könnten sich nicht einmal ansatzweise entfalten, jede Emotionalität würde abgewürgt, zärtliche Beziehungen hätten nicht die geringste Chance. Sozialer Kältetod wäre programmiert. Um so aufmerksamer sollte auf den Sterneschen Text selbst geachtet werden. Wenn er uns darin vorjammert: „... hätten [meine Eltern] bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten ...", so steht ihm unmittelbar vor Augen, daß er nicht nur ein anderer Mensch hätte werden können, sondern daß er auch ein Anrecht darauf gehabt hätte, ein im Verhältnis zu seinesgleichen ebenso wohlgestalteter und insoweit ein „besserer" Mensch zu werden. 7 Weil ihm aber die besonderen familiären Umstände seiner Zeugung, d. h. jene fatalen humours and dispositions , denen seine Eltern bei seinem Zeugungsakt unterlagen, so übel mitgespielt haben, wie er meint, uns mitteilen zu müssen, legt er sich auf Grund seiner individuellen - nicht zufällig misanthropen - Erfahrung eine Art von negativer, skeptischer Weltsicht zurecht, die nicht nur auf das inkriminierte Zeugungsverhalten seiner Eltern, sondern vor allem auf die besonderen familiären Umstände bzw. sozialen Konstellationen zielt, auf deren Prägung er sein beklagenswertes Schicksal glaubt zurückführen zu müssen - also entrüstet er sich moralisch! Unzufrieden mit seinem Schicksal, mit dem er glaubt hadern zu müssen, projiziert er seine Vorwürfe nicht nur auf Vater und Mutter, sondern auch auf jene besonderen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen jene ihr individuelles Handeln - in ebenso fataler wie unverzeihlicher Unaufgeklärtheit - glaubten einfädeln bzw. arrangieren zu sollen. Doppelt unvernünftig ist diese Misanthropen-Botschaft jedoch insofern, als sie von einem augenfälligen (und gleichzeitig zufälligen) Er-

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Um diese Schlußfolgerung richtig einschätzen zu können, sollte man sich des Umstandes bewußt sein, daß die Hauptfigur des Romans - weil körperlich mißgebildet zur Welt gekommen - das Leben eines, wie wir heute sagen würden, Behinderten zu fristen hat.

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gebnis her argumentiert - dem des verunstalteten, mißgebildeten Kindes - , von einem Ergebnis also, das irreversibel und unter keinen Umständen mehr wiedergutzumachen ist. Da wir dem aufgeklärten Spötter Sterne unterstellen dürfen, daß ihm dieser Fatalitäts-Zusammenhang durchaus bewußt war, kann es ihm kaum darum gegangen sein, wegen der Umstände seiner Zeugung an die Moral seiner Eltern als letzter Appellationsinstanz unnütze Vorwürfe zu richten und es bei dieser leeren, vergeblichen Geste sein Bewenden sein zu lassen. Vielmehr dürfen wir annehmen, daß ihn andere Motive als bloß individualmoralisch-ethische bewogen haben, seine Philippika zu reiten. Ist schon das Ergebnis nicht zu ändern, so kann es sich nur um eine „Botschaft" handeln, die an eine andere, neue Zukunft sich richtet, an eine, die anders gesteuert zu werden verdient, indem rechtzeitig Vorkehrungen gegen alle möglichen gesellschaftlichen Fehlorientierungen und Fehlentwicklungen getroffen würden, zumal jeder individuelle Zeugungsakt in gleicher Weise gesamtgesellschaftliche Wachstumsprozesse tangiert. Ich lese daher den Sterneschen Text als ein literarisch verschlüsseltes, gleichwohl gesellschaftspolitisch ambitioniertes Konditionalprogramm, wonach als Wunsch-Ergebnis räsonierender Aufklärung zu erwarten wäre, daß Menschen sich zwecks „biopolitisch"-eugenisch intendierter Zuchtwahl in etwa so verhalten sollten - und könnten - , wie dies unter sozialhygienischen Gesichtspunkten gesellschaftspolitisch wünschenswert wäre. Insoweit hätte sich jede individuelle Moral der gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns und Lassens rechtzeitig zu vergewissern, und zwar so, daß darin die Bedingung der Möglichkeit von Normen sozialen Verhaltens und ihrer verbindlichen Geltung für alle aufgeklärten Gattungswesen grundgelegt werden könnte. Der offene Vorwurf an seine Eltern transportiert als kaum verschlüsselte Botschaft jenes Züchtungsprogramm einer gesellschaftspolitischen Optimierung von Zeugungs- und Erzeugungsvorgängen - kurz, gesellschaftlicher Reproduktionsmechanismen - , ohne die eine sich zunehmend rationalisierende Gesellschaft sich nicht am Leben zu halten vermag, jedenfalls nicht auf einem, die Gattung als Ganzes optimierenden Zucht-Niveau. Nur so ist die Hoffnung (und die geheime Klage) zu verstehen, daß vom biologischen Vorgang auch gesellschaftlich etwas „Besseres" hätte erwartet werden dürfen. Daß dahinter sozialhygienische Phantasien am Werk sind, dürfte unmittelbar einleuchten.8 Tatsächlich wird Sexualpolitik zunehmend 8 Das scheint heute kaum anders zu sein als damals. Daß ζ. B. an der Wiege von Kindern, die später oft als sogenannte „Horrorkinder" auffällig werden, zumeist die unbe-

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„Bestandteil jener Politik des Lebens, die im 19. Jahrhundert solche Bedeutung erlangen wird. Die Sexualität ist das Bindeglied zwischen anatomischer Politik und Biopolitik; sie liegt am Kreuzungspunkt der Disziplinierungs- und Regulierungsformen, und in dieser Funktion wird sie (...) zu einem erstrangigen politischen Instrument, das es ermöglicht, die Gesellschaft in eine Produktionsmaschine umzuwandeln."9 Zu guter Letzt möchte ich darauf abheben, daß an der Sterneschen „Botschaft" nicht nur vieles vernünftig, einiges sicher auch unvernünftig, sondern vor allem doch vieles falsch ist. Bleibt die Frage zu beantworten, warum das so ist und wieso ausgerechnet der Aufklärer Sterne glaubte, sich auf die Übermittlung einer „falschen" Botschaft einlassen zu dürfen. Wollte er etwa seine Leser bewußt in die Irre führen oder war ihm die „Wahrheit" seiner message einfach schnuppe? Zunächst ist kaum zu bestreiten, daß er mit seinen Vermutungen, was den Zusammenhang anlangt, der auf Grund der vorherrschenden psychischen Stimmung zwischen Zeugungsakt und Zeugungsergebnis besteht, von bestimmten Voraussetzungen ausgeht. Offenkundig war er darüber hinaus der Überzeugung, diese Prämissen als schlechthin gültig unterstellen zu dürfen und ihnen insoweit auch vertrauen zu können. Indem er seinen Überlegungen die Annahme zugrunde legt, brünstig-inbrünstige Stimmungslagen, gefühlvoll „hohe" Empfindungen, eindeutig „positive" Neigungen brächten ebenso eindeutige Effekte zustande, so daß er sich berechtigt glaubt, seine Eltern kritisieren zu dürfen, da sie sich Launen und Flausen hingegeben hätten, die allgemein als negativ eingeschätzt werden, sie also ihre Affekte nicht unter Kontrolle gehabt und daher verunstalteten Nachwuchs in die Welt gesetzt hätten, verlangt er - zumindest indirekt nichts Geringeres als die Umsteuerung des bisherigen, sozusagen blindlings vor sich gehenden generativen Verhaltens der Menschen, anders ausgedrückt: dessen Festlegung auf ein „positives" Konditionierungs-

wußte Absicht stand, ein Superkind heranwachsen zu sehen, ironisiert die amerikanische Familientherapeutin Patricia Love mit den folgenden Worten: „Mit Superkind ist das Kind gemeint, dessen Empfängnis durch Basaltemperatur gesteuert wird, dessen Geschlecht durch Amniozentese schon vor der Geburt bekannt ist, das im Mutterleib klassische Musik hört, bei seiner Geburt auf die Warteliste eines exklusiven Kindergartens ge* setzt wird und noch vor seinem sechsten Geburtstag Unterricht in Linguistik, Tanz, Kampfsport, Gymnastik, Lesen, Stimmbildung, Klavier, Fußball und/oder Fremdsprachen bekommt" (zit. in: Der Spiegel 9/93, S. 235). 9

Michel Foucault , Die Maschen der Macht, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 232.

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Programm, mit dessen Hilfe sich eindeutige Wunschergebnisse garantiert herbeifuhren ließen. Indem seine Botschaft, wie immer verschlüsselt, „positive" Züchtungsergebnisse postuliert, verlangt sie in einem Atemzug, das allgemeine, quasi „naturale" Zeugungsprogramm der Menschheit eugenisch eindeutig zu konditionieren und daran jedes individuelle generative Verhalten auszurichten. Daher wird Affektbeherrschung als universelles moralisches Postulat verkündet. Infolgedessen sollte es auch zulässig, wenn nicht geboten sein, jedes individuelle Verhalten konsequent auf dieses unerbittliche Programm zu verpflichten. „Die Entdekkung der Bevölkerung als Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum, Gütern und weiteren Individuen", schreibt Foucault, „ist zugleich die Entdeckung des Einzelnen und des dressierbaren Körpers, die zweite große Technologie [sc. neben der Entdeckung der Fabrikdisziplin], um die herum sich die politischen Praktiken des Westens veränderten. Zu dieser Zeit kamen Probleme auf wie das der Wohnverhältnisse, der städtischen Lebensbedingungen, der öffentlichen Hygiene oder der Veränderung des Verhältnisses zwischen Geburtenrate und Sterblichkeit. Damals begann man sich auch zu fragen, wie man die Menschen veranlassen konnte, mehr Kinder zu bekommen, oder jedenfalls, wie sich die Entwicklung der Bevölkerung, ihr Wachstum und ihre Wanderungsbewegungen steuern ließen. Eine ganze Reihe von Beobachtungstechniken, darunter natürlich die Statistik, aber auch große administrative, ökonomische und politische Körperschaften übernehmen von nun an die Aufgabe einer Regulierung der Bevölkerung. Es gibt zwei große Revolutionen in der Technologie der Macht: die Entdeckung der Disziplin und die Entdeckung der Regulierung ..." 10 In Wirklichkeit kommt bei Sterne an dieser Stelle eine doppelte Sachverhaltsverfälschung ins Spiel. Wie selbstverständlich glaubt er - nota bene: gegen Ende des 18. Jahrhunderts - , von einer bestimmten psychologischen Weltsicht ausgehen zu dürfen, der er sich als herrschender Meinung „natürlich" verpflichtet weiß: der seinerzeit tonangebenden Humoral - bzw. Affektpsychologie. Sie hatte sich bekanntlich vorgenommen, den Zusammenhang zwischen Gemüt und Temperament, Unlust und Lust, psychischen Affekten und psychosomatischen Reiz-Reaktions-Mustern, darüber hinaus aber auch die durch sie verursachten sozialen Fol-

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Michel Foucault, Maschen der Macht, S. 231 (Hervorhebung, O.M.) [= FN 9].

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geprobleme aufzudecken. 11 Auch heute noch wird nach diesem Muster verbreitet Psychologie „praktiziert", vor allem in der Form ihrer alltagspsychologischen Verballhornung, in der sie vorwiegend über die Massenmedien einem breiten Publikum nahegebracht und vor allem mittels Yellow-Press und Vorbildlernen per TV zur gefälligen Nachahmung breiten Bevölkerungsschichten anempfohlen wird. Nur beiläufig sei daran erinnert, daß - zeittypisch, modisch und unverständlich zugleich noch immer an das pseudowissenschaftliche Theorem einer „Chemie der Säfte" geglaubt wird. 1 2 Tatsächlich ist das psychologische Deutungsmuster, das Sterne seinen Überlegungen zugrunde legt, auf der Grundlage der Erkenntnisse, die wir heute über psycho-somatische Zusammenhänge haben, sachlich nicht zu halten. Es ist aber auch das biologische Deutungsmuster, auf das er seine Schlußfolgerungen stützt, „objektiv" falsch, zumindest dann, wenn wir den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung und ihrer experimentellen Anwendung Glauben schenken dürfen, die wir als gültig und verbindlich hinnehmen, weil und insoweit sie unstrittig, d. h. allgemein anerkannt sind. Hätte Sterne beispielsweise die Mendelschen Vererbungsgesetze in Betracht gezogen oder seine affektpsychologischen Basissätze und die an sie geknüpften moralisch-eugenischen Empfehlungen auf der Kenntnis von Funktion und Bedeutung der sogenannten genetischen Codes formuliert, wie dies heute möglich ist, er könnte nach „seiner Fasson" nicht länger argumentieren: die „Wahl" wissenschaftlicher Basissätze ist schließlich nicht beliebig.

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Vermutlich wirkt hier das Vorbild des Galenos aus Pergamon (129-199 n.Chr.) sozusagen stilbildend nach, der seinerseits „bewußt auf Hippokrates (...) d. h. also auf die Humoralpathologie in ihrer bes. Ausprägung als Viersäftelehre (zurückgriff)", in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, dtv 1975, Bd. 2, Sp. 675. 12 Nicht zufällig widmete sich eine deutsche Wochenzeitung, die Anfang 1993 sich anschickte, den deutschen Pressemarkt zu erobern, auf ihrer Wissenschafts- und Gesellschaftsseite sofort ausfuhrlich der inzwischen zwar einigermaßen obsolet gewordenen, doch, wie es scheint, noch immer hochaktuellen Frage: „Was ist Liebe?". Ebenso oberflächlich wie zeittypisch fiel allerdings die Antwort darauf aus: Liebe sei „kein psychisches Leiden, sondern eine Welle chemischer Reaktionen" (Die Woche). - In solcher Perspektive ist es dann nur konsequent, auf die „ideale Mischung" derartiger chemischer „Säfte" zu vertrauen, wenn es gilt, optimistisch in die Reproduktionszukunft unserer Gesellschaft zu schauen, obwohl die Absichten, die mit der Beherrschung ihres Hexeneinmaleins verknüpft werden, bzw. die Ziele, die mit ihnen ins Visier genommen werden, alles andere als naturwissenschaftlich-neutral sich begründen lassen, sondern genuin bevölkerungspolitisch gemeint sind und insoweit immer auch sozialdarwinistische Hoffnungen zum Ausdruck bringen. - Die Beispiele ließen sich nahezu beliebig vermehren!

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Wahrscheinlich wird man mir entgegenhalten, es sei unzulässig, ja geradezu trivial, einem Mann des 18. Jahrhunderts vorzuwerfen, er stütze sich auf wissenschaftliche Prämissen, die wir heute als falsch bezeichnen. Selbstverständlich konnte Sterne zu seiner Zeit die Mendelschen Gesetze nicht in Rechnung stellen. Ebensowenig konnte er seine Moralvorstellungen und die aus ihnen herzuleitenden praktischen Empfehlungen auf eine Theorie der genetischen Codes und der genetischen Programmierung stützen, wie sie uns heute nahezu zu einer alltagstheoretischen Selbstverständlichkeit geworden sind. Heißt das aber auch, daß er die Meinung, die er uns aus den Kontexten seiner Zeit literarisch vermittelte, heute weiterhin bedenkenlos vertreten dürfte? Im Verhältnis zu solchen Bedenken, die die in Frage stehenden Positionen historisierend relativieren, möchte ich im folgenden versuchen, einerseits methodisch differenzierter, andererseits systematischer zu argumentieren. Natürlich durfte Sterne seine literarische „Weltsicht" zu Papier bringen, wie er es tat, zumal sie in etwa auch dem „wissenschaftlichen" Stand und Sachverstand seiner Zeit entsprach. Weder ist ihm vorzuwerfen noch wäre es tadelnswert zu nennen, sich auf die vorherrschende „öffentliche Wissenschaftsmeinung" zu berufen; schon gar nicht, daß er sie im wesentlichen unbesehen kolportierte. Doch wäre es wohl kaum zu verantworten, die wissenschaftlichen „Erkenntnisse" oder auch nur die Nutzanwendungen aus ihnen, die uns ein Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts, wenn auch bona fide, glaubt auftischen zu dürfen, für heutige Zwecke unbesehen zu übernehmen, sie gar guten Gewissens propagieren zu wollen. Tatsächlich ist jede zeitgebundene Theorie - und keine, die dies nicht wäre - , auch wenn sie von Fall zu Fall durchaus „vernünftige" Einsichten transportiert und „nützliche" Vorschläge macht, der gründlichen, ja grundlegenden Korrektur bedürftig, insbesondere dann, wenn sie auf dem Niveau eines Erkenntnisstandes sich präsentiert, der hinter dem bereits Möglichen zurückbleibt, das sie nachweislich zu realisieren vermöchte, träte sie in avancierterer Form auf. Erst recht müssen sich sozialwissenschaftliche Theorien, zumal solche, die nicht nur als deskriptive Verfahrensweisen sich bescheiden, sondern sich anheischig machen, im Wege präskriptiver Vorgaben und Anweisungen individuelles wie kollektives Verhalten auch zu steuern - und die Pluralismustheorie stellt einen der wichtigsten Unterfälle eines solchen handlungsanleitend-normativen, wie auch des beschreibenden The-

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orietyps dar - , immer wieder empirischen Plausibilitätstests aussetzen und sich im Falle ihrer empirischen Widerlegung revidieren lassen, wenn sie nicht vom Anspruchsniveau ihrer dogmatischen Orthodoxie zu einer opportunen Orthopraxis degenerieren, ideologisch also entarten sollen. Eine zeitenthobene, gesellschaftsleere Theorie als Heil- oder Wunderkraut „Zeitzeitlose" ist uns nicht gegeben; sie ist auch nicht zu erwarten. Wenn Sterne ζ. B. schlußfolgernd zu dem Ergebnis kommt: „Ich bin wahrhaftig überzeugt, ich würde in der Welt eine ganz andere Figur vorgestellt haben ...", so bedeutet das nichts anderes, als daß er seine Überzeugung in der Form eines Glaubenssatzes zur Geltung bringt. Dieser „Glaube" aber basiert auf einer Theorie wissenschaftlicher Observanz, von der wir wissen, daß sie - weil zwischenzeitlich einer irreversiblen Korrektur unterzogen - nicht mehr zu halten ist. Alles andere wäre pseudowissenschaftliche Orthodoxie; erst recht verdienen die gefährlichen, psychohygienischen Ratschläge einer allgemeinen Affekt-Harmonisierung, die er aus seinen falschen Prämissen ableitet, als pseudowissenschaftliches Programm entlarvt zu werden. Indem nämlich die beschreibende Deskription unvermittelt zu normativer Setzung übergeht, transformiert sie die Wirklichkeitsanalyse des Faktischen in das pädagogischgesellschaftspolitische Programm dogmatisch gesetzter Normen - eine geradezu klassisch zu nennende Übersprungshandlung. Allenfalls wäre eine (relative) Verbindlichkeit theoretischer Konstrukte auf Zeit zu akzeptieren, das aber heißt nicht mehr und nicht weniger, als ausschließlich historische, relative „Wahrheit", möglicherweise gar unterschiedliche „Wahrheiten" anzuerkennen - in wertepluraler Vielfalt nämlich. 13 Wenn wir infolgedessen den zeitgebundenen Vorstellungen früherer Epochen bestimmte Gegenwartskonzepte mit nicht minder zeitabhängiger Geltung entgegensetzen - auch sie alles andere als zeitlos, zeitenthoben und also gesellschaftsjenseitig - , so gehen wir jedenfalls davon aus, 13 Zur Illustration dessen, was ich zum Ausdruck bringen will, wäre etwa daran zu erinnern, daß - lang, lang ist's her - zwischen zwei Repräsentantinnen der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung, Bärbel Boley und Regine Hildebrandt, eine leidenschaftliche Debatte ausgefochten wurde, die eine deutsche Tageszeitung untertitelte: „Wir haben unterschiedliche Wahrheiten" (FR vom 8.2.1993). - Dies gilt es vorab zu bedenken, wenn es darum geht, in einer wertepluralen Gesellschaft politische, sozialpolitische und ethische Konflikte auszutragen - und nicht nur auszutragen, sondern sie auch so zu „lösen", daß darüber der soziale Grundkonsens, worauf immer der beruhen mag, nicht verlorengeht. - An dieser Stelle taucht denn auch das Problem einer historisch erst noch herzustellenden, gleichwohl politisch dauerhaft zu garantierenden gesellschaftlichen Toleranz als Vexierbild auf.

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daß wir auf Ergebnisse eines Erkenntnisfortschritts zurückgreifen können, der es uns geboten erscheinen läßt, die Theorien der „Alten" ad acta zu legen und sie, wenn es sein muß, auf dem Scheiterhaufen der Geschichte zu verbrennen. Insoweit wird jeder Theorie- und Paradigmenwechsel immer auch als symbolisches Autodafé inszeniert. 14 Tatsache ist, daß wir, wenn wir ältere Theorien heute mit „guten" Gründen glauben zurückweisen zu dürfen, für uns in Anspruch nehmen, nicht einfach nur als „Neue" über jene zu Gericht zu sitzen, etwa nach dem Motto der berühmten „Bücherschlacht" zwischen den Alten und den Modernen, 15 sondern mit dem Recht derer, die glauben - und nicht nur glauben, sondern es nachweislich tun - , über die von ihnen thematisierten Zusammenhänge genauere, erhellendere, „richtigere" Aussagen machen zu können. Zu korrigieren sind jene Meinungen in der Regel wegen der Unzulänglichkeit ihrer analytischen Reichweite sowie der Schwäche ihres methodischen Ansatzes. Weil es sich demnach um ein vermeidbares cultural lag der Theoriebildung selber handelt, sollte das Mißverhältnis zwischen deren tatsächlichem und ihrem möglichen „Leistungsvermögen" nicht unbehoben bleiben oder als unverschuldetes Sozialschicksal widerspruchslos hingenommen werden. Daraus hat Karl Popper die ebenso einleuchtende wie humane Schlußfolgerung gezogen, gegebenenfalls sollten Theorien sterben dürfen, nicht aber die Menschen, die sie vertreten. Auf unser Thema angewandt, bedeutet das, daß auch wir die Pluralismustheorie möglicherweise verabschieden, sie also „sterben lassen" müssen, und zwar wegen der ihr nachzuweisenden Unzulänglichkeit ihres Realitätsbezugs, wegen mangelnder Plausibilität der auf die Prämis14

„Ein Zwerg, der auf den Schultern eines Riesen steht, sieht weiter als der Riese selbst" - so lautet die im Verlauf seiner Überlieferungsgeschichte immer wieder abgewandelte Grundform jenes Gleichnisses, das im englischen Sprachraum meist Isaac Newton zugeschrieben wird. Vgl. dazu Robert K. Merton , Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt a. M. 1989; dersEntwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1985. 15 Vgl. Jonathan Swift, Ausführlicher und wahrhaftiger Bericht über die Schlacht zwischen den alten und modernen Büchern, ausgefochten am vergangenen Freitag in der Saint James's Library, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, 3. Aufl., Berlin und Weimar 1991, S. 239-267. - Bekanntlich hatte Charles Perrault bereits 1687, als er in seinem „Poème sur le siècle de Louis le Grand" den Vorrang der modernen Schriftsteller vor den Autoren der Antike behauptete, die sogenannte zunächst innerfranzösische, dann aber auch europaweit ausgefochtene „Querelle des anciens et des modernes" vom Zaun gebrochen.

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sen ihres Ansatzes sich beziehenden individuellen wie kollektiven Handlungsanweisungen, wegen ihres harmonisierenden, soziale Konflikte der Tendenz nach einebnenden Kategoriensystems und nicht zuletzt wegen ihrer weitgehend ideologischen Funktion, in der sie gesellschaftspolitisch interessierten Nutznießern in die Hände spielt und ihnen ebenso unkritisch wie beflissen zu Diensten ist. 16 „In der Tat läßt sich das politisch-soziale System allenfalls fiktiv ausschließlich auf Zwecke kooperativer Hilfeleistung festlegen, in Wirklichkeit ist es alles andere als ein symmetrisch strukturiertes Tauschsystem. Die ungleiche Allokation und Verteilung von Macht auf unterschiedliche Zentren, Subzentren und Teilsysteme, einschließlich ihrer Repräsentanten und Agenten, hat zur Folge, daß nicht nur ungleiche historische Ausgangslagen, d. h. historische Zufälligkeiten, darüber befinden, wer und welche Gruppen infolge der gegenwärtig bedeutsamen Kräfteverteilung an die Peripherie sozialrelevanter Handlungschancen gedrängt werden, sondern daß auch die akuten Verteilungsmuster realer gesellschaftlicher Austauschprozesse über ungleichzeitige Entwicklungsstadien und ungleiche Entwicklungsgeschwindigkeiten die Ungleichgewichtigkeiten und Asymmetrien intern nur noch verschärfen. Sie definieren die ins und die outs. Sie befinden darüber, was den top-dogs zugute kommt und den under-dogs vorenthalten wird. Sie schreiben die gesellschaftlichen Privilegierungen und Unterprivilegierungen gleichermaßen fest (...) die Struktur des vorherrschenden Sozialmilieus einschließlich der in seinen Institutionen (und vorherrschenden Einstellungssyndromen) verankerten und auf Dauer sichergestellten Selektivität entscheiden darüber, welche Interessen zum Zuge kommen, welche Bedürfnisartikulationen welcher Art von Lösung nähergebracht werden und welche ohne Durchsetzungschance bleiben." 17

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Nur am Rande sei vermerkt, daß anläßlich dieser Art von theoretischer „Abwicklung" die Notwendigkeit geradezu sich aufdrängt, im selben Atemzug auch ihre ideologischen Eiferer, Handlanger und Nutznießer in den Orkus des Vergessens mit hinabzuschicken, um sie auf die gleiche Art und Weise „abzuwickeln" wie die Theoriepositionen, die sie vertreten - mit jener humanen Einschränkung freilich, die Karl Popper uns so nachhaltig ans Herz gelegt hat. - Vgl. dazu bereits die frühe Kritik bei Margherita von Brentano, Wissenschaftspluralismus. Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffs, in: Das Argument, Nr. 66, Okt. 1971, S. 476-493. 17 Otwin Massing, Politische Theorie und gesellschaftliche Konstitution, in: der s., Politische Soziologie. Paradigmata einer kritischen Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1974, S. 16 f.

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Im Gegensatz zu der verbreiteten wertepluralistischen Illusionsbildung, in unserem demokratischen politischen System bestünde für jedermann - a priori und unverkennbar - die Chance, politische Entscheidungsprozesse ebenso mitgestalten wie sich am kulturellen und gesellschaftlichen Leben aktiv beteiligen zu können, und zwar gleichberechtigt, wäre hingegen nüchtern und unvoreingenommen etwa auf die regierungsamtlichen Befunde des jüngsten (= Zweiten) „Armuts- und Reichtumsberichts" der Bundesregierung zu verweisen. Dort heißt es lapidar: „An der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse sind höhere Einkommens- und Bildungsschichten stärker beteiligt als untere Bevölkerungsgruppen. Dabei wird der Zugang zu Eliten nicht alleine durch Leistung [notabene: hier hört sich das anders an, als es uns die Leistungsideologen regelmäßig einzubläuen trachten, die in den tonangebenden deutschen Industrieverbänden das große Wort führen], sondern auch durch materielle und immaterielle Privilegien gesteuert. Die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite wird durch materielles Vermögen ebenso wie durch kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital (Habitus) begünstigt, während soziale Aufstiegsprozesse nur eingeschränkt gelingen. Sowohl materielle Privilegien wie auch nicht-monetäre Vorteile sind in höheren (Bildungs-)Schichten häufiger als in unteren Gesellschaftsschichten, werden im Prozeß der familialen Sozialisation weitergegeben und bewirken so eine privilegierte Ausgangsposition für den Erwerb eines hohen sozialen Status. Von einer ,Vererbung' von Bildungschancen in dem Sinne kann gesprochen werden, daß Kinder aus mittleren und höheren Schichten durch familiale Sozialisation Kompetenzen erwerben, die ihre berufliche Karriere erleichtern." 18 Eine der ersten Folgerungen, die aus solchen Überlegungen zu ziehen wären, lautet daher: Politische Aussagen, insoweit sie sich auf wissenschaftliche Theoreme beziehen, sollten sich auf dem entwickeltsten Stand der Methodendiskussion bewegen, sich grundsätzlich methodenoffen halten und vor allem realitätsfremde Annahmen unterlassen. Um so befremdlicher muten daher Prämissen an, auf denen z. B. ein Machtbegriff basiert, wie ihn u. a. Romano Guardini in Worte gefaßt hat. In seinem Buch über das „Ende der Neuzeit", in dem er sich notgedrungen auch mit dem „Wesen der Macht" beschäftigt - und in der Tat gehören

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Lebenslagen in Deutschland. Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (= Bundestagsdrucksache 15/5015), Berlin 2005, S. 144.

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„Macht"-Phänomene ins Zentrum jeder Pluralismus-Debatte gerückt - , heißt es: „Von Macht im eigentlichen Sinne dürfen wir (...) nur sprechen, wenn zwei Elemente gegeben sind: Einmal reale Energien, die an der Wirklichkeit der Dinge Veränderungen hervorbringen (...) Dazu aber ein Bewußtsein, das ihrer inne ist (...) Das alles setzt den Geist voraus, jene Wirklichkeit im Menschen, die fähig ist, aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Natur herauszutreten und in Freiheit über sie zu verfugen." 19 Tatsächlich aber läßt eine abstrakt-idealistische Umschreibung der gesellschaftlich-politischen Machtverhältnisse wie die Guardinische so ziemlich alles vermissen, was für eine realistische Betrachtungsweise der in Frage stehenden Phänomene von Relevanz wäre, in erster Linie Methodenoffenheit, aber auch jene Methodenvielfalt, wie sie fur jede sozialwissenschaftlich inspirierte, empirisch informierte Realanalyse vonnöten wäre. Erst recht macht sich das Fehlen jeder kritischen Methodendiskussion durchgängig negativ bemerkbar. Wird das methodenkritische Postulat indes nicht eingelöst, weil es möglicherweise systematisch verletzt oder in abstrakt-idealistischer Obsession hintertrieben wird, dann müssen sich Analysen vom Zuschnitt der Guardinischen unvermeidlich mit analytischer Blindheit geschlagen geben, erst recht, wenn sie sich nicht einmal auf dem Diskussionsstand einer leidlich aufgeklärten „scientific community" zu halten vermögen, hinter den nicht zurückfallen darf, wer vermeiden will, für provinziell, hinterwäldlerisch und parochial zu gelten. Ertragreicher dürfte demgegenüber der Versuch sein, mittels multifaktorieller Ansätze, die einem realitätsgerechten Pluralismusverständnis paßgenau auf den Leib zu schneidern wären, die Entwicklung eines Methoden-Mix zu betreiben, um ein für allemal auszuschließen, daß die zunehmend komplexer werdenden sozialen Umwelten, die zur Analyse anstehen, infolge der methodischen Mängel einer konventionellen, möglicherweise einseitig anwendungsorientierten Wissenschaft zwangsläufig verfehlt werden. 20 Tatsache jedenfalls ist, daß ein

19 Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung - Die Macht. Versuch einer Wegweisung, 2. Aufl. der Werkausgabe, Mainz/Paderborn 1989, S. 102; als krasses, sozial wissenschaftlich aufgeklärtes Gegenstück dazu vgl. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975; ebenso anspruchsvoll und entschieden: Michel Foucault , Maschen der Macht [= FN 9]. 20 Im konkreten Fall der Stemeschen Aussagen käme es beispielsweise mindestens auf die prinzipielle Revision aller erbbiologischen Annahmen an, die der Autor uns infolge seiner spezifischen Wissenschaftsgläubigkeit glaubt auftischen zu müssen, vor al-

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Theorietyp, der von einem einzigen Punkt aus die soziale Wirklichkeit zu konstruieren versucht, um deren umfassende Erkenntnis es angeblich gleichwohl geht, die komplexen sozialen Realitäten und deren Zusammenhänge verfehlen muß. Weder können wir es uns leisten, diese von einem, jedem Realitätsbezug enthobenen „Standpunkt" aus zu entwerfen, wie das früher gelegentlich der Fall war, noch lassen sich solche Konstrukte mit den Alltagserfahrungen der meisten Menschen auch nur andeutungsweise zur Deckung bringen. 21 Wissenschaftstheoretische Fehlleistungen zuhauf, weil gegen Grundregeln hermeneutischen Argumentierens verstoßend, in erster Linie gegen die prinzipielle Verschränkung von Allgemeingültigkeit und Faktizität, 22 bieten vor allem staatstheoretische Ableitungsversuche, die zu gegebener Zeit gewisse Gegebenheiten als Sachverhalt konstruieren, dem gegenüber - als einem Produkt philosophischer Hermeneutik - regelmäßig Respekt eingefordert wird, obwohl bereits die autoritative Fixierung der in Frage stehenden Phänomene, d. h. ihre „Bündelung" qua Sachverhalt, nicht erst im historischen Nachhinein, sondern schon im Hier und Jetzt in der Regel nicht zu halten ist, meist auch noch einen verschrobenen Eindruck hinterläßt. Ich führe in aller gebotenen Kürze lediglich drei ihrer Modellkonstruktionen an. Für eine gleicherweise subtile wie willkürliche Bestimmung des monarchisch-autokratischen Staatsverständnisses mag folgende Passage als Beispiel dienen. Als „organische Anstalt über den Menschen ..." ist der Staat - heißt es darin - „ein sittlicher Organismus, der die Herrschenden lem aber auf die Neubestimmung und Neuvermessung der aus den revidierten Prämissen ggf. zu ziehenden Konsequenzen. 21 Es dürfte kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß die Empfehlungen Sternes im Hinblick auf Entwicklung und „Gestaltung" von Intimitätsbeziehungen, sollten sie heute ausgesprochen, gar praktiziert werden, von wahrscheinlich allen „aufgeklärten" Zeitgenossen als unerträgliche Zumutung empfunden würden. - Daraus folgt, daß die Menschen sowohl weniger bevormundet als auch moralisch weniger belastet würden, wenn und sobald sie sich auf eine „bessere", zeitgemäßere, realitätsgerechtere Theorie berufen könnten. Gleichzeitig kämen sehr viel mehr individuelle wie kollektive Verhaltensvariabilitäten und allemal mehr moralische Freiheitsgrade ins Spiel. Das würde Auswirkungen haben bis hin zu einer (im Prinzip möglichen und wünschenswerten, wenn auch noch so zögerlich sich durchsetzenden) Revision der Sexualmoral, etwa seitens der christlichen Kirchen. Auf diese bereits mögliche, substantielle Wirklichkeit von Pluralismus wäre hinzuarbeiten. Das konziliare „aggiornamento"-Programm wie das ökumenische Programm einer prinzipiellen religiösen Weltoffenheit böten dazu jedenfalls Anknüpfungspunkte in Hülle und Fülle. 22

Vgl. Erwin Hufnagel!Jure lin 2004.

Zovko (Hrsg.), Toleranz, Pluralismus. Lebenswelt, Ber-

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wie die Gehorchenden in sich schließt"; und an anderer Stelle: Der Staat ist „die sittlich geordnete und sittlich verbürgte Gemeinexistenz".23 Demgegenüber läßt sich der staatsrechtliche Positivismus wie folgt verlauten: „Wir denken uns den Staat als einen Organismus, in welchem die sittlichen Kräfte des Volkes zur Erreichung der höchsten gesellschaftlichen Zwecke zusammengefaßt sind, und bekleiden denselben, da er ein wollendes und handelndes Wesen ist, mit der Idee der Persönlichkeit. Die Seele desselben ist die Staatsgewalt (...) Beherrschung (...) verlangt innerhalb der Grenzen des Staatslebens eine vollständige Hingebung und Unterwerfung". 24 Die neuere Integrationslehre wiederum versucht es mit folgender Definition: „Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staats, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates ..."; die von der Verfassung geregelten Lebensfunktionen des Staates kämen, heißt es dann weiter, „wie alles politische Leben, aus der Totalität der Einzelpersönlichkeit und wirken in jedem Augenblick zu der überpersönlichen Totalität des Staates zusammmen".25 Demgegenüber lassen sich Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlichen Zusammenlebens, erst recht solche pluralistischer Vergesellschaftung, nur als historisch und gesellschaftlich gewordene angemessen analysieren, folglich auch nur als werdende adäquat verstehen. Jede gesellschaftstheoretische Invariantenlehre wie jede Lehre vom „Wesen" politischer Vergesellschaftung und daraus abzuleitender eindeutiger gesellschaftspolitischer Therapieempfehlungen ist daher von Übel. Wissenschaftliche Analyse darf nicht mit politischer Quacksalberei verwechselt werden; sie sollte auch nicht als Lebenselixier-Ersatz fungieren; ein antiseptisches Narkotikum ist sie eh nicht. Im Gegenteil: Nicht bis das „Wesen" der Dinge, das „Wesen" der Macht, das „Wesen" des Pluralismus aus ihnen

23

Friedrich Julius Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. II, 3. Aufl. 1856, zit. in: Klaus Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806-1933), München 1988, S. 12 (Hervorhebung, O.M.). 24 Carl Friedrich v. Gerber, Über die Teilbarkeit deutscher Staatsgebiete, in: ZfDeutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte (hrsg. von L. K. Aegidi), H. 1, 1867, zit. in: Klaus Kröger, Einfuhrung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806-1933), München 1988, S. 9; und an anderer Stelle heißt es: „Uns ist der Staat eine (...) auf eigener ethischer Grundlage ruhende Ordnung ... ", S. 12. 25 Rudolf Smendy Verfassung und Verfassungsrecht (1928), wieder abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. (1968), zit. in: Klaus Kröger, Einfuhrung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1803-1933), München 1988, S. 153.

„Pluralistische Vergesellschaftung" und „Pluralismustheorie"

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hervortritt, sondern bis ihr das Unwesen der Verhältnisse aufgeht - so lange ist sie gehalten, mit ihrem bösen, analytischen Blick die wirkliche Wirklichkeit und deren reale Verfaßtheit anzustarren. 26 An der Konstanz der Norm muß um der Wahrheit willen gerüttelt werden. „Invarianten sind (...) unvereinbar mit dem Geist von Dialektik ..." 27 Infolgedessen darf eine Gesellschaftstheorie, die sich auf eine Erörterung von Grundbedingungen pluralistischer Vergesellschaftung, noch dazu auf das „Leitbild der modernen Demokratie" mit ihren vorgeblichen Bauelementen einer freiheitlichen Staatsordnung einläßt, die in Frage stehenden Verhältnisse keineswegs wertepluralistisch beschönigen, auch nicht normativ verkleistern oder gar ideologisch überhöhen, vielmehr muß sie sich der Realität der wirklichen Wirklichkeit so lange aussetzen, bis sich ihr das Medusenantlitz der Verhältnisse enthüllt. II. Was hier nur in vorläufigen methodologischen Überlegungen entfaltet wurde, wäre im folgenden auf die Wirklichkeit „pluralistischer Vergesellschaftung" inhaltlich zu beziehen und in eine zeitgemäße Pluralismusanalyse einzubringen, zu Nutz und Frommen derer, die nicht nur an der ausschließlich naturwüchsigen Entwicklung unserer Gesellschaft interessiert sind, sondern darüber hinaus auch über die Notwendigkeit einer wünschenswerten Umsteuerung ihrer Entwicklungsverläufe, Entwicklungsgeschwindigkeiten sowie ihrer Entwicklungsrichtung nachzudenken bereit sind. Zunächst aber möchte ich entlang der Analyse eines zweiten Beispiels - diesmal nicht der „schönen", sondern der Gattung sozialwissenschaftlicher Literatur entnommen - den individualethischen Ansatz verlassen, auf dessen Niveau wir bisher operiert haben und der seinen Fokus wie selbstverständlich auf individuelles Verhalten und dessen Bewertung legte. Demgegenüber sollen nun in diesem zweiten Annäherungsversuch spezifisch sozialwissenschaftliche, d. h. „künstliche" Konstrukte vorgestellt werden, mit deren Hilfe wir uns - wenn auch sicher nicht weniger

26

Vgl. Otwin Massing, Von der oktroyierten zur revidierten Verfassung. Verfassungsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte (2000), in: ders., Gründungsmythen und politische Rituale. Eine Kritik ihrer Überhöhung und Verfälschung, Baden-Baden 2005, S. 83-125. 27 Theodor W. Adorno, Balzac-Lektüre, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961, S. 19-41 (35).

250

Otwin Massing

heuristisch als im individualethischen Ansatz zuvor - jener „Wirklichkeit" zu nähern versuchen, um deren Erkenntnis es geht. Mit anderen Worten: Auch im Folgenden werden zunächst noch primär methodologische Hinweise diskutiert, um darzulegen, wie man sich des Themas „pluralistischer Vergesellschaftung" noch am ehesten zu vergewissern hätte. Am leichtesten dürfte sich diese Absicht umsetzen lassen, indem wir die Kategorien einer sozialwissenschaftlichen Studie, die unter dem Titel „Ökonomische und soziale Bilanz" 1992 der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, einer kritisch-hermeneutischen Explikation unterziehen. Wenn wir diesen Rechenschaftsbericht der französischen Tageszeitung „Le Monde" ζ. B. im Sinne unserer bisher entwickelten Überlegungen nutzen wollen, müssen wir freilich von einer individuell-ästhetisch-reflektierenden zu einer eher technisch-instrumentell vermittelten Art der Wirklichkeitsanalyse übergehen. In Rechnung zu stellen sind dabei vor allem jene besonderen sozialwissenschaftlichen Vermittlungsschritte, die „soziale Wirklichkeiten" 28 erst mit Hilfe zwischengeschalteter besonderer technischer Vorkehrungen zu konstruieren erlauben, u. a. vermittels statistischer Korrelationsanalysen. So kommen in dieser Analyse eine Reihe von Indikatoren zur Verwendung, ohne die eine verallgemeinerungsfähige Sozialbilanz kaum aussagekräftige Informationen liefern könnte. Im Vordergrund steht zunächst der Indikator „Lebenserwartung" ( Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Wiesbaden 2005.

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Werner Weidenfeld

Projekt ohne Vorlage. Im Zentrum der Europawissenschaft steht damit eine besonders schwierige Frage: Wie kann, wie soll eine demokratische transnationale Ordnung aussehen, die nicht an die Stelle der Nationalstaaten tritt, sondern ergänzend neben diesen steht? Mit der Frage der Verfasstheit der EU haben sich die Mitgliedstaaten seit den 1980er Jahren bis heute in fünf großen Vertragsreformen - die in die Einheitliche Europäische Akte, die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza und zuletzt in die Europäische Verfassung mündeten intensiv auseinandergesetzt. Die Europäische Verfassung stellt hierbei den ambitioniertesten Versuch dar, Antworten auf die architektonischen Grundfragen der Integration zu geben und ein europäisches Modell transnationaler Staatlichkeit zu entwickeln.3

II. Die Europäische Verfassung Mit dem Verfassungsprozess haben die Mitgliedstaaten einem beeindruckenden Integrationsstand Rechnung getragen. Europapolitik ist bereits längst kein exotisches Anhängsel nationaler Außenpolitik mehr, sondern umfasst Fragen der Beschäftigungspolitik, der Innen- und Justizpolitik und der Wirtschafts- und Währungspolitik und wirkt damit unmittelbar in die nationale Politik. Ein Europa aber, das magnetisch immer mehr Aufgaben und immer mehr Mitglieder an sich gezogen hat, lechzt geradezu nach verbürgter Zuverlässigkeit. Es ist nicht länger bloß ein Gegenstand von Pathos und Vision, sondern Produzent von öffentlichen Gütern, an den harte Leistungserwartungen zu richten sind. Den Imperativ handlungsfähiger Zuverlässigkeit hat die Europäische Union daher in eine Verfassung zu gießen versucht. Denn die bisherigen Verträge bieten kein in sich geschlossenes und ausgewogenes Verfassungssystem. Im Europäischen Verfassungskonvent, der zwischen Februar 2002 und Juli 2003 tagte, wurde der Bestand der Integration grundlegend überprüft, mit dem Ziel, demokratische Legitimation, Transparenz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern. Wichtige Prinzipien des gemeinsamen und arbeitsteiligen Handelns sollten systematisch in einer Verfassung verankert werden. Als Hauptinhalte lassen sich folgende Punkte festmachen:

3

Vgl. Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh 2005; Werner Weidenfeld, Die Europäische Verfassung verstehen, Gütersloh 2006.

Das europäische Projekt

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-

die Aufgabenbereiche der EU sollten durch die Einführung von Kompetenzkategorien (ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten, Unterstützungs-, Koordinierungs- oder Ergänzungsmaßnahmen, Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) transparenter gemacht werden;

-

das Demokratieprinzip sollte durch eine weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments stabilisiert werden (Stärkung seines Einflusses bei der Wahl des Kommissionspräsidenten, Festschreibung des Mitentscheidungsverfahrens als Regel in der EU-Gesetzgebung und damit de facto der Übergang zu einem Zweikammer-System aus Europäischem Parlament und Ministerrat);

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die Effizienz der politischen Führung sollte durch Personalisierung (Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates und eines EUAußenministers, Stärkung des Kommissionspräsidenten) und Vereinfachung der Verfahren („doppelte Mehrheit" im Ministerrat, Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen) verbessert werden;

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Die Fortentwicklung der Europäischen Union sollte dynamisiert wer den (Reform der verstärkten Zusammenarbeit, neue Flexibilisierungsinstrumente in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vereinfachte Änderung der Entscheidungsverfahren), wobei gleichzeitig die nationalen Parlamente in die Subsidiaritätskontrolle einbezogen werden sollten.

Jede Verfassung verfügt im Kern über eine solche Ordnung der Zuständigkeiten: Verantwortung, Zurechenbarkeit, Rechenschaft, öffentliche Kontrolle - vieles hängt an einer transparenten Kontrolle. Trotz zahlreicher kritischer Fragezeichen, die ebenso an den Verfassungsvertrag zu richten wären, wie etwa, dass es mit ihm nicht gelungen ist, ein knappes, verständliches Verfassungsdokument zu erarbeiten, war das Ergebnis vor dem Hintergrund der Debatten in den 1990er Jahren eine Überraschung. Damals kam die Verwendung des Begriffs „Verfassung" im Zusammenhang mit der Europäischen Union einem Sakrileg gleich. Dennoch muss man sich vor Augen führen, dass der Verfassungsprozess, der mit der Erklärung von Nizza im Dezember 2000 seinen Ausgang nahm und der am 29. Oktober 2004 in die Unterzeichnung der Europäischen Verfassung auf dem Kapitol in Rom mündete, nicht den ersten Versuch einer Verfassungsgebung für die EU markiert. Den Druck, dem Projekt Europa eine zuverlässige Form zu verleihen, haben die politischen Entschei-

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Werner Weidenfeld

dungsträger zu allen Zeiten der Integration gespürt. So ist der aktuelle Verfassungsprozess schon der vierte Anlauf innerhalb eines halben Jahrhunderts: -

Anfang der 1950er Jahre hatte man - als gemeinsames Dach für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft - den Verfassungsentwurf einer Europäischen Politischen Gemeinschaft parlamentarisch ausgearbeitet. Mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung war dieser ambitionierte Versuch einer Verfassung ebenfalls gescheitert - zugleich aber war dies der Startschuss, die Römischen Verträge auszuhandeln.

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Im Jahr 1962 misslang der Versuch, der unter dem Namen der Fouchet-Pläne eine Politische Union kreieren sollte. Als „Ersatzlösung" wurde 1963 der Deutsch-Französische Freundschaftsvertrag unterzeichnet, der den Beginn einer für die Integration überaus fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen Erzfeinden Deutschland und Frankreich markierte.

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Mit der ersten Direktwahl 1979 definierte das Europäische Parlament sich selbst quasi als verfassungsgebende Versammlung. Unter der Federführung des Italieners Altiero Spinelli feilte das Europäische Parlament über Jahre an einem Verfassungsentwurf. Der verabschiedete Text blieb jedoch in den Debatten der nationalen Institutionen hängen. Ganz nutzlos war die Übung aber dennoch nicht. Die SpinelliInitiative wurde zu einem der Auslöser für die Einheitliche Europäische Akte, mit der Ende der 1990er Jahre das große Werk der Binnenmarktvollendung organisiert wurde. 4

Die schmerzhafte Erfahrung dreifachen Scheiterns begleitete also den Versuch, Europa eine Verfassung zu geben. Und nach den ablehnenden Voten der Niederländer und Franzosen im Frühsommer 2005 droht die Verfassungsgebung nun zum vierten Mal zu scheitern. Zwar werden bereits Alternativen zum Inkrafttreten der Verfassung diskutiert, um die wichtigsten Neuerungen der Verfassung zu retten und die Handlungsfähigkeit der erweiterten EU zu erhalten. Diese Versuche können jedoch nicht mehr sein als Stückwerk. 4

Vgl. zur Geschichte der europäischen Integration z. B. Franz Knipping, Rom 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004; Werner Weidenfeld, Europäische Einigung im historischen Überblick, in: Werner Weidenfed/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A - Ζ. Taschenbuch der europäischen Integration, 9. Aufl., Bonn, S. 13-48.

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III. Drei Bilder von Europa Denn die eingangs geschilderten aktuellen Problemlagen der Integration vermitteln nur ein oberflächliches Bild der europäischen Orientierungskrise. Es gibt einen anderen Schlüssel: Heute existieren drei verschiedene Konstrukte von Europa nebeneinander - keine der drei Konfigurationen dominiert, so dass die aktuelle Verwirrung die logische Konsequenz ist: -

Da ist das Europa des täglichen Pragmatismus. Wir haben uns an Freizügigkeit und europaweite Mobilität gewöhnt. Ohne Masterplan hat sich dieses Europa der Römischen Verträge seit den 1950er Jahren weiterentwickelt. Hier wurde eine kleine Kompetenz nachgetragen, dort wurde ein Entscheidungsprozess leicht korrigiert - alles ohne systematische Evidenz. Die Logik funktionaler Ergänzung bahnte den Weg und führte zur heutigen Intransparenz. Das hohe Niveau der Vergemeinschaftung ließ schließlich den Wunsch nach institutioneller Zuverlässigkeit übermächtig werden. Das Tor zur Europäischen Verfassung öffnete sich.

-

Da ist das zweite Europa: Ein Kontinent, dessen Horizont entgrenzt ist. Die zunächst kleinräumige Gemeinschaft der Römischen Verträge hatte sich - gleichsam wie Jahresringe der Bäume - mehrfachen Erweiterungen unterzogen. Die ersten Erweiterungsrunden, die die Zahl der Mitglieder von sechs auf 15 wachsen ließen, hatten den ursprünglichen westeuropäischen Kern der Einigung nicht in Frage gestellt. Dies geschah erst durch das Ende des Ost-West-Konflikts. Die Vision eines vereinigten, großen Europa wurde Wirklichkeit. Historisch versunken geglaubte Kulturräume tauchten wieder auf der europäischen Landkarte auf, die Spuren des Habsburgerreichs ebenso wie die des Zarenreichs und des osmanischen Imperiums. Die Orthodoxie, der Islam, der römische Katholizismus und der Protestantismus mussten in nunmehr freien Gesellschaften zu einer neuen Koexistenz finden. Dieser große kulturhistorische Wandlungsprozess, politisch organisiert im Europa der 25, hat eben erst begonnen, da vollziehen die Europäer bereits die nächste große Zäsur: Der Beschluss, die Verhandlungen mit der Türkei zur EU-Mitgliedschaft aufzunehmen, ist in seiner Tragweite vergleichbar mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Nicht nur, dass mit der Türkei das künftig bevölkerungsreichste Mitglied aufgenommen werden soll, das heute zugleich das wirtschaftliche Armenhaus Europas bewohnt. Die substantielle Veränderung des

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macht-politischen Gefüges, die durch den Beitritt der Türkei vollzogen würde, muss nüchtern wahrgenommen werden: 1. Die Netto-Zahler, zu denen auch Deutschland gehört, haben dann keine Sperrminorität mehr. Die Umschichtung des Haushaltes zugunsten der Empfänger-Staaten ist damit vorprogrammiert. 2. Die 15 „alten" EU-Staaten, die das Gesicht der Europäischen Union bis zum 1. Mai 2004 allein prägten, verlieren ihre Gestaltungsmehrheit. Das Ende des „Geistes von Messina" (1955) und des „Geistes der Römischen Verträge" (1957) ist damit definiert. Welcher neue Geist an deren Stelle tritt, ist offen. Mit dem Türkei-Beschluss ist Europa nun endgültig entgrenzt. Unsinn zu sagen, die Türkei gehört dazu, die Ukraine aber nicht; Unsinn zu sagen, die Türkei gehört dazu, Marokko aber nicht. Der Kern des Beschlusses zur Türkei bedeutet die Eröffnung eines großen Erweiterungsprozesses, dessen Ende heute rational nicht definiert werden kann. Die Ukraine mit ihrer jahrhundertelangen Einbindung in die polnische wie die österreichische Geschichte wird mittelfristig der EU beitreten. Gleiches gilt für die restlichen Balkanstaaten und die Maghreb-Länder. Und wer will dann Israel und Palästina die Tür vor der Nase zuschlagen? Schließlich werden Interessen und strategisches Kalkül die Gespräche mit Russland und den Staaten des Kaukasus aufnehmen lassen. Mit welchem Argument sollte es Armenien und Georgien verwehrt sein, Mitglied zu werden? Der mit der Ukraine angezeigte Zusammenbruch des post-sowjetischen Imperiums Moskaus wird weit in die Europäische Union hinein ausstrahlen. Je früher Europa diese Reichweite des eingeschlagenen Weges strategisch begreift, desto besser. Aktuell wird diese Realität jedoch politisch verdrängt. Es werden Nebelkerzen eines beruhigenden Pathos gezündet als könne man realistisch davon ausgehen, die Türkei sei das letzte Land, das legitimerweise seinen Eintritt in die Union fordert. -

Das dritte Europa ist die Vorstellung von Mission und Auftrag des Kontinents, die wir in unseren Köpfen haben. Europäische Identität war seit eh und je kompliziert und nur dünn entwickelt, überlagert von nationalen und regionalen Selbstverständnissen. Die europäische Selbsterfahrung hatte durchaus ein relevantes Profil erhalten - gezeichnet durch gemeinsames Leiden wie durch eine gemeinsame Erfolgsgeschichte. Nun aber ist dieser Halt aus seiner Verankerung gerissen. Das pragmatische Europa hatte nicht einmal mehr die Kraft,

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seine kulturellen Wurzeln in seiner Verfassung zu definieren. Das entgrenzte Europa hat den räumlichen Rahmen entfernt, den ein Identitätsprozess benötigt. Zurück bleiben die hilflosen Versuche der europäischen Kulturkongresse, die sich immer wieder neu auf die Suche nach der Seele Europas machen, um dann lediglich Material für die Satire der Feuilletons zu liefern. Die strategische Unentschiedenheit der Politik hat die Verwirrung in den Köpfen der europäischen Bürger befördert. Das Ergebnis ist eine tiefe mentale Orientierungskrise. In solchen Situationen ist Rückzug angesagt: Die Europäer suchen neuen Halt in alten Traditionen: das nationale Bewusstsein, die regionale Heimat, die ethnische Behausung - sie alle bieten mentale Sicherheit, nur keinen europäischen Horizont. Das Entschwinden des europäischen Horizonts wird kompensiert durch den scheinbar sicheren Zugriff auf die kleine politische Scholle. Kein Versuch kann in Zeiten der Globalisierung jedoch wirklichkeitsfremder ausfallen. Der Befund der drei Europas muss uns erschrecken: Für eine Revitalisierung des dahinwurstelnden Pragmatismus sind keine Quellen verfügbar. Für das entgrenzte Europa fehlt uns die strategische Vorstellungskraft. Für das verwirrte Europa in unseren Köpfen fehlt uns die ordnende Idee. So leidet unser Kontinent an dem klassischen Syndrom der Überforderung. Die Geschichte ist voller Szenarien des Untergangs, die aus Überforderung und Überdehnung großer politischer Räume entstanden. Wie soll uns auch die Konstruktion einer transparenten Gestalt Europas gelingen, wenn wir in der Wirklichkeit der Gegenwart den Überblick verloren haben? Wir sollten die Dinge beim Namen nennen. Wir sollten die Anfänge komplett zu Ende denken. Wir sollten zu einer neuen Ordnung unserer Gedanken kommen. Dann hat das Europa, dessen Untergang uns so lebhaft vor Augen steht, vielleicht doch noch eine Chance. Kulturhistorisch betrachtet wäre es jede Mühe wert.

IV. Strategische Herausforderungen auf dem Weg zur transnationalen Staatlichkeit So ist es nur ein erster, aber zentraler Schritt, Europa aus der aktuellen Verfassungskrise heraus zu führen. Es wäre unangemessen, das Verfassungsdesaster nun zu einer Anfrage an die Existenz Europas zu stilisieren. Das „Nein" zur Verfassung ist nicht das Ende der Geschichte. Ganz im Gegenteil: Es kann zum Weckruf für einen erschöpften Kontinent werden. Dies wäre keine neue Erfahrung in der Integrationsge-

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schichte, die in ihrer mehr als fünfzigjährigen Geschichte immer wieder Krisen erlebt und aus diesen neue Kraft geschöpft hat. Es gibt keinen Beleg dafür, dass dieses Mal aus dem Scheitern eines Vorschlags nicht eine neue dynamische Vitalität entstehen könnte. Gefragt sind nun Alternativen zur Europäischen Verfassung. Keine der Kontroversen in den Mitgliedstaaten hat sich am wirklichen Kern der Verfassung festgemacht. Der wesentliche Fortschritt, den die Verfassung im Blick auf die Handlungsfähigkeit, die Effektivität sowie die demokratische Legitimation Europas bringen sollte, wurde nirgends in Frage gestellt. Die Verfassung jedoch war von Anfang an mit einem anderen schweren Webfehler behaftet: Der Text ist zu umfangreich, zu kompliziert, zu unverständlich. Deshalb konnte man als Gegner auch ungestraft alles Mögliche in diesen Text hineingeheimnissen. Zudem lud das TextMonstrum geradezu dazu ein, innenpolitische Frustrationen anzudocken. Das „Nein" war eine Absage an nationale Regierungen und das Resultat von unbegründeten mythologischen Ängsten. Eine Absage an das historische Projekt einer europäischen Friedensordnung wurde hier nicht formuliert. Es bietet sich deshalb an, die Weiterentwicklung des politischen Systems der EU zu entdramatisieren: Aus dem provozierenden Großtitel der Verfassung sollte wieder die bescheidene Variante eines Vertrages werden. Der Kernbestand an Verfassungsneuerungen sollte in die bestehenden Verträge übertragen werden. Hierzu müssten die zentralen Reformen der Verfassung identifiziert und in Gestalt eines Änderungsvertrages zum geltenden Primärrecht gebündelt werden. Die Reform der geltenden Verträge müsste die oben genannten Kerninhalte der Verfassung bündeln: die Frage der Zuständigkeiten, die institutionellen Reformen, die Effizienzsteigerung der Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren, die Reform der Instrumente differenzierter Integration sowie zentrale strukturelle Bestimmungen, wie die „Passarelle-Klausel", mit der die Weiterentwicklung der europäischen Verträge vereinfacht würde. 5 Niemand kann ein Interesse daran haben, dass die politischen und ökonomischen Potenziale des großen Europa nicht ausgeschöpft werden. In der neuen Bescheidenheit könnte daher der erste Teil der Lösung lie5

Siehe den Vertragsentwurf der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am Centrum für angewandte Politikforschung (C.A.P.), Ein Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza. Eine Option aus der Verfassungskrise: Kernbestand der Verfassungsneuerungen retten, im Internet unter: http://www.cap.lmu.de/download/2005/2005_Vertrag.pdf .

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gen: in einem Änderungsvertrag zum Vertrag von Nizza jene Schlüsselfragen zu klären, die ein monströser Verfassungstext eher verstellt und vernebelt. Auf diese Weise könnte für Europa das Scheitern eines Projekts erneut zum entscheidenden Aufbruch werden. In einem weiteren Horizont geht es aber um die gemeinsame Verständigung auf eine europäische Zukunftsstrategie. Beim Brüsseler Gipfel im Frühjahr 2006, auf dem der mittelfristige Finanzrahmen der EU beschlossen wurde, kam klar zum Ausdruck, dass völlig unterschiedliche strategische Perspektiven aufeinander prallten: Während die einen nur in den Vereinigten Staaten von Europa eine Überlebenschance für den Kontinent sehen - so das jüngste Memorandum des belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt - , sagt die britische Regierung, sie sei nur einem Binnenmarkt beigetreten. Diese tiefe Diskrepanz in der finalen Perspektive droht nun der Erfolgsgeschichte der Integration ein abruptes Ende zu bereiten. Unübersehbar ist mittlerweile, dass der integrationspolitische Grundkonsens der Vergangenheit angehört. Vordergründig wird um Finanzen und Vertragstexte gestritten, im Kern geht es um antagonistische Zukunftsfixierungen. Solange dies nicht in aller Klarheit ausgesprochen wird, kann es auch keine positive Klärung der Dinge geben. Vor diesem Hintergrund klingt es geradezu skurril, dass sich die Europäische Union selbst eine „Denkpause" verordnet hat, wo es doch eigentlich um die öffentliche Verständigung auf eine gemeinsame Zukunftsstrategie geht. Ohne eine solche Verständigung wird das Europa der 25 erodieren, ja wahrscheinlich zerfallen. Ganz offenbar stehen wir vor einer Ära der Neu-Begründung Europas, worauf Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung im Mai 2006 aufmerksam gemacht hat6: Es ist zu entscheiden, was auf europäischer Ebene zu regeln ist und wer welcher Art von Kompetenzkreis angehören will. Es wird Kreise von unterschiedlicher Integrationsdichte geben und jeder Kreis wird die Entscheidungsprozeduren definieren, die er für effizient hält. Denjenigen Staaten, die sich im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Justiz- und Innenpolitik enger zusammenschließen wollen, muss die Möglichkeit hierzu eröffnet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die ökonomischen und politischen Potenziale der er6

Vgl. Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 11. Mai 2006, im Internet unter: http://www.bundesregierung.de/regierungserklaerung-4 13.1000920/Regierungserklaerung-von-Bunde.htm.

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weiterten Union voll ausgeschöpft werden können. Deutschland hat in diesem Prozess die Chance, der Motor für die Neudefinition eines dynamischen und vielschichtigen Europas zu sein. Auf das uniforme GroßEuropa der gestressten, ermüdeten und orientierungslosen Art wird so im positiven Falle eine neue politische Komposition folgen, die ein Modell für transnationale Staatlichkeit bilden wird: Dem differenzierten Europa gehört die Zukunft.

Die erweiterte Europäische Union als internationaler Akteur Von Wichard Woyke

Vorbemerkung Die Europäische Union ist im Lauf des Europäischen Integrationsprozesses von einer Wirtschaftsgemeinschaft, die 1951 als Europäische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl von der Bundesrepublik Deutschland, von Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten gegründet wurde, durch vier Erweiterungen 1973 - um Großbritannien, Dänemark und Irland - , 1981/86 um Griechenland, Spanien und Portugal, 1995 um Österreich, Finnland und Schweden und 2004 - um die Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Zypern und Malta - zu einem bedeutsamen Akteur in der internationalen Politik geworden. Mit der letzten Erweiterung zum 1. Mai 2004 sind acht postkommunistische und zwei südeuropäische Staaten der EU beigetreten, wobei die postkommunistischen Staaten einen schwierigen Transitionsprozess durchlaufen haben und ζ. T. noch durchlaufen. Nach der letzten Erweiterung umfasst die Europäische Union 13 Prozent anstelle von bisher 8 Prozent der UN-Mitglieder. Die Zahl der Sprachen stieg von 13 auf 22 an. Das Territorium der Europäischen Union vergrößerte sich mit der letzten Erweiterung um ein Drittel, und die Bevölkerung wuchs von 383 Mio. auf 459 Mio. Damit stieg auch der EU-Anteil an der Weltbevölkerung von 6 Prozent auf 7,2 Prozent. Da es sich bei den meisten neuen Mitgliedern um relativ arme Länder handelt, wuchs die gesamte wirtschaftliche Leistung der Europäischen Union nur um 5 Prozent von 9.580 Mrd. € auf 9.950 Mrd. €, sie nähert sich damit der der USA von 10.300 Mrd. € in Kaufkraftstärken an.1 Die EU bildet zu Beginn des 21. Jahrhunderts den größten und reichsten Binnenmarkt der Welt - mit mehr als 500 Mio. Konsumenten nach dem zum 1. Januar 2007 vorgese1 Michael Dauderstädt, Das erweiterte Europa in einer bedrohlichen Welt, in: Integration 1-2/2004, S. 28-68.

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henen Beitritt von Bulgarien und Rumänien. Sie verfugt über 28 Prozent Anteil der erwirtschafteten weltwirtschaftlichen Leistungen. Sie ist der weltgrößte Exporteur mit einem Fünftel und der zweitgrößte Importeur mit etwas weniger als einem Fünftel Anteil. Mit Blick auf den Welthandel bildet die EU den dominierenden Akteur. Ihr Einfluss auf die Weltwirtschaft wächst weiter. Mit der Schaffung der Einheitswährung Euro, die 2002 als Realgeld erfolgreich eingeführt wurde, hat sich die EU zu einem Konkurrenten für den US-Dollar entwickelt, werden doch bereits zahlreiche wirtschaftliche Geschäfte in Euro transferiert. Zudem halten inzwischen sehr viele nationale Zentralbanken den Euro als Reservewährung. 1992 hat sich die Europäische Union mit dem Maastrichter Vertrag auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gegeben, die sie als Akteur nach außen sichtbar machen sollte. Dies sind alles recht bedeutsame Entwicklungen, die zunehmend die Europäische Union als Akteur auf der Weltbühne kennzeichnen. In der Erklärung des Europäischen Rats von Laeken im Dezember 2001 versteht sich die Europäische Union als Stabilitätsfaktor und als Vorbild in der internationalen Politik. Darüber hinaus beansprucht sie eine Macht zu sein, die jeder Form von Gewalt, Terror und Fanatismus entschlossen den Kampf ansagt - eine Macht, die die Globalisierung geschlossen gestalten will, so dass auch die ärmeren Staaten der Welt daraus Vorteile ziehen können. Auf der anderen Seite haben die Kriege auf dem Balkan, also direkt vor der Haustür der EU, gezeigt, dass die Europäische Union hinsichtlich ihres Machtinstruments - nämlich dass ein politisches System in bestimmten Fällen auch seine Vorstellung militärisch durchsetzen muss noch gravierende Mängel aufweist. Darüber hinaus hat der Krieg der „Koalition der Willigen" unter Führung der USA im Jahr 2003 gegen den Irak Saddam Husseins die innere Zerrissenheit des Akteurs Europäische Union mit aller nur deutlichen Klarheit gezeigt. EU-Europa war gespalten in Kriegsgegner, deren Führung Deutschland und Frankreich übernommen hatten, und Kriegsbefürworter, deren Protagonisten besonders Großbritannien und Spanien waren. Es schien, als ob die GASP ihre bis dahin größte Bewährungsprobe nicht bestanden hatte.

I. Auf dem Weg zum außenpolitischen Akteur War die EWG als reine Wirtschaftsgemeinschaft gegründet worden, die keinerlei außenpolitische Komponente enthielt, so wurde mit dem Übergang zur Zollunion 1970 noch eine außenpolitische Koordination

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der Mitgliedstaaten erforderlich. Damals vereinigten sich die sechs Mitgliedstaaten zur Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Die EPZ war nichts anderes als die Zusammenkunft der Außenminister der sechs Mitgliedstaaten, die gemeinsam außenpolitische Fragen absprachen und sich dazu mehrfach im Jahr als faktischer Außenministerrat trafen. Auch internationale Probleme wie die internationale Entspannungspolitik erforderten zunehmend die Kooperation in der Außenpolitik. In der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäischen Akte wurde die EPZ vertraglich legalisiert und damit zu einem offiziellen Instrument der EG-Politik. Es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, ehe sich die inzwischen von der EG zur EU mutierte europäische Organisation mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine vertragsmäßige Basis gab. Die internationale Entwicklung - vor allem das Ende des Ost-WestKonflikts, der Zerfall der Sowjetunion, die deutsche Wiedervereinigung, die Kuwait-Krise mit dem darauf folgenden Golfkrieg - erforderte von der mittlerweile auf zwölf Staaten angewachsenen Europäischen Gemeinschaft ein deutlich anderes außenpolitisches und inzwischen auch sicherheitspolitisches Profil.

II. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Mit Titel V des Maastrichter Vertrags (in Kraft getreten am 1. November 2003) wurden - wenn auch noch sehr vorsichtig - erstmals konkrete Bestimmungen für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in das Vertragswerk integriert. Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU-Organisation bildete die zweite Säule des Drei-Säulenmodells. Anders als in der ersten Säule war die Kooperation in der zweiten entsprechend dem intergouvernementalen Ansatz realisiert, so dass außenpolitische Entscheidungen einstimmig zu fallen waren. Sehr rasch erwies sich jedoch dieser im Maastrichter Vertrag erreichte Minimalkonsens als nicht ausreichend, um als wirkungsvoller internationaler Akteur auftreten zu können. So gab es Defizite bei der schnellen Reaktion auf die Krisen und Kriege auf dem Balkan, die letztendlich nur durch die intensive Beteiligung der USA einer Lösung zugeführt werden konnten. Bereits im 1997 verhandelten und am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag wurde eine GASP-Reform vorgenommen. Dabei ist vor allem die Übernahme der sogenannten Petersberg-Aufgaben von der WEU hervorzuheben (humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen). Auch die Institu-

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tionalisierung des Amtes des Hohen Vertreters für die GASP war eine Neuerung. Doch die Amsterdamer Reformen waren nur eine Zwischenetappe für die heute geltenden Rechtsgrundlagen der GASP, die im Vertrag von Nizza - in Kraft getreten am 1. Februar 2003 - ihren Niederschlag fanden. Von zentraler Bedeutung ist die „verstärkte Zusammenarbeit", die es einer Gruppe von mindestens acht Mitgliedstaaten ermöglicht, weiterreichende außen- und sicherheitspolitische Schritte zu unternehmen, falls sich die Vertragsbestimmungen als nicht ausreichend erweisen, um die von der EU angestrebten Ziele zu verwirklichen. Die Ziele der GASP sind laut Vertrag von Nizza, Titel V, Art 11 : -

Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union;

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Stärkung der Sicherheit der Union;

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Wahrung des Friedens und Stärkung der internationalen Sicherheit;

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Forderung der internationalen Zusammenarbeit;

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Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Bereits im Vorfeld des Europäischen Rats von Nizza hatte sich die Forderung innerhalb der Mitgliedstaaten wie auch bei der EU selbst verstärkt, dass die Europäische Union nicht nur reaktiv, sondern antizipatorisch handeln müsse. So hieß es im Bericht des Hohen Beauftragten für die Außenpolitik, Javier Solana, vom 30. November 2000: „Der politische Wille ist von wesentlicher Bedeutung, wenn die Union auf allen Ebenen unseres außenpolitischen Handelns neue Akzente setzen und aufrechterhalten, d. h. von einem bisher zumeist nur reagierenden Verhalten zu einem auf Prävention gerichteten Verhalten übergehen will." Auch wenn der Vertrag von Nizza unzweifelhaft einen Fortschritt für die GASP bedeutet, enthält der Vertragstext nach wie vor Schwächen, nämlich vor allem, dass weiterhin die intergouvernementale Entscheidung Anwendung findet und die Kommission nur unzureichend in den außenpolitischen Entscheidungsprozess der Union eingebunden ist.

III. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Teil der GASP Internationale Herausforderungen wie die Kriege auf dem Balkan verdeutlichten, dass sich die Europäische Union zunehmend auch zu einem

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militärischen Akteur wandeln musste. Allein 2003 wurden 218 politische Konflikte gezählt, worunter auf der höchsten Ebene 14 Kriege und 21 ernste Krisen waren. Eine Beschleunigung erfuhr die militärstrategische Zusammenarbeit in der EU durch den Kosovo-Krieg 1999 sowie die Terroranschläge in den USA im September 2001. Aufbauend auf einer französisch-britischen Erklärung von Saint-Malo im Dezember 19982 beschloss der Europäische Rat auf seinen Gipfeltreffen in Köln (Juni 1999) und Helsinki (Dezember 1999) die Integration der Funktionen der WEU in die Europäische Union bis Ende 2000 und formulierte als Planziel (headline goal): Durch freiwillige Zusammenarbeit sollten die europäischen Staaten die Fähigkeit entwickeln, innerhalb von 60 Tagen Streitkräfte bis zu einer Stärke von 50.000 bis 60.000 Mann aufzubauen und diese in einer Krise auch über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr aufrechtzuerhalten. Inzwischen ist dieses Ziel erreicht. Dabei muss aber betont werden, dass es sich um keine europäische Armee handelt, sondern dass die bereit gestellten Soldaten weiterhin den Mitgliedstaaten zugeordnet sind. Außerdem wurde beschlossen, dass die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auch eine zivile Komponente tragen sollte. Die EU erklärte sich über die militärischen Zielsetzungen hinaus bereit, 5.000 Polizeibeamte und 1.000 Mann juristisches Personal (Richter, Rechtspfleger etc.) als Einsatzreserven zur Verfügung zu stellen, damit diese in Krisen und Konflikten, insbesondere in jenen Staaten, die über keine Staatsgewalt mehr verfügen, für Recht und Ordnung sorgen können. Die EU versuchte nach dem Kosovo-Krieg ihre Kapazitäten zur militärischen Krisenbewältigung für jene Fälle auszubauen, in denen die NATO als Ganzes nicht betroffen ist oder sich nicht betroffen fühlt, die EU jedoch auf die NATO-Ressourcen zurückgreifen kann. Organisatorisch wurde die GASP durch die ESVP ebenfalls aufgerüstet. Eine zentrale Rolle nimmt das Sicherheitspolitische Komitee (PSK) ein, das aus den hohen Beamten/Botschaftern in den Ständigen Vertretungen der EU-Länder in Brüssel besteht. Es befasst sich mit allen Aspekten der GASP und ist für die politische Leitung sowie die Entwicklung der militärischen Fähigkeiten zuständig. „Unter der Verantwortung des Rates nimmt das PSK die politische Kontrolle und strategische Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung wahr. Rechtlich bindende Beschlüsse können jedoch nur vom Rat und der Kommission gefasst

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Großbritannien befürchtete aufgrund seiner Nichtteilnahme am Euro ein Ausgeschlossensein im europäischen Entscheidungsprozess in weiteren Politikbereichen.

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werden." 3 Höchstes militärisches Gremium ist der - aus den Stabschefs der Streitkräfte bestehende - Militärausschuss der EU, der gegenüber dem PSK eine beratende Funktion einnimmt. Doch trotz der unzweifelhaften Fortschritte in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union gibt es noch Defizite und damit Nachbesserungsbedarf wie ζ. B. bei der Verfügbarkeit und Verlegefähigkeit der Streitkräfte, dem strategischen Luft- und Seetransport, der Durchhaltefähigkeit und der Interoperabilität der Einheiten.

IV. Die Europäische Sicherheitsstrategie Nachdem die Europäische Union zu Beginn des neuen Jahrhunderts sich strukturell die Institutionen gegeben hatte, um international als gewichtiger Faktor zu wirken, bedurfte es nun auch inhaltlicher Festlegungen hinsichtlich der zukünftigen Rolle der Union. Dazu wurde Ende Dezember 2003 die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) mit dem Titel verabschiedet: „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt". In ihr dokumentiert sich das Leitmotiv der europäischen Außenpolitik mit dem Stichwort „Multilateralismus": „Dieser steht für eine Umgangsform zwischen Staaten und/oder Institutionen und basiert auf der Erkenntnis, dass die Einbeziehung aller betroffenen Parteien und ein gemeinsam erarbeiteter Lösungsansatz langfristig Stabilität liefern können. Die Orientierung der Europäischen Union am Multilateralismus geht einher mit der Verpflichtung zum Handeln in Einklang mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen." 4 Die ESS basiert auf einem umfassenden oder erweiterten Sicherheitsbegriff. Neben der klassischen Außen- und Verteidigungspolitik werden auch wirtschafis- und finanzpolitische, innenpolitische, staats- und völkerrechtliche, entwicklungspolitische, soziale und ökologische Aspekte eine wesentliche Rolle im veränderten internationalen Umfeld spielen. Bei der Erarbeitung des Strategiepapiers mussten nicht zuletzt die unterschiedlichen sicherheits- und verteidigungspolitischen Traditionen der EU-Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Somit sollte ein Leitkonzept geschaffen werden, das als Handlungsanleitung und gleichzeitig als Grundlage für spätere Vertiefungen und Ergänzungen dienen kann. Die Europäische Sicherheitsstrategie wird als Meilen-

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Franco Algieri, Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, Bonn 2004, S. 420-439. 4 Algieri, Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 67.

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stein in der Entwicklung der Sicherheitspolitik der EU bezeichnet5, da sie Klarheit über die zukünftigen politischen Ziele und Mittel der Europäischen Union gibt. Sicherheit wird in der ESS umfassend verstanden; politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte nämlich werden ebenso berücksichtigt wie militärische und zivile Aspekte. Somit können Armutsprobleme und Minderheitenfragen für die Ausgestaltung der internationalen Sicherheit ebenso bedeutsam sein wie militärische Konfliktlösungskonzepte. Strategische Ziele der Europäischen Union sind die Abwehr von Bedrohungen, namentlich durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und regionale Konflikte, sowie die Stärkung der Sicherheit der Nachbarschaftsregionen 6 die Intention einer multilateralen Weltordnung. Im Gegensatz zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 misst die ESS den Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation, der NATO und den regionalen Organisationen eine besondere Bedeutung zu. Auch wird der zivilen Komponente Priorität eingeräumt. Erst wenn diese Maßnahmen nicht mehr greifen, sind Zwangsmaßnahmen entsprechend der Charta der Vereinten Nationen im Kapitel V I I vorgesehen, die von Sanktionen bis zur Anwendung von militärischer Gewalt reichen. „Die Europäische Union legte außerdem großes Gewicht auf die sozialen, ökonomischen und psychologischen Ursachen dieser Bedrohung und räumte ein, selbst von diesen Wirkungszusammenhängen betroffen zu sein (der Feind im Innern). Hinsichtlich zu ergreifender Maßnahmen zeigte die Europäische Union ihre Bereitschaft, entschieden auf die ,neuen Bedrohungen' zu reagieren, Gewalt aber dennoch nur als letztes Mittel einsetzen zu wollen." 7 Die in der ESS thematisierten fünf Hauptbedrohungen stellen nicht nur für sich allein, sondern auch wegen ihrer Interdependenz eine neue Herausforderung dar. Grundlage für die Sicherheit der Europäischen Union ist also eine multilaterale Strategie, im Gegensatz zum unilateralen Ansatz der nationalen Sicherheitsstrategie der USA. Die neuen Gefahren in einem veränderten politischen Umfeld sollen mit vielen verschiedenen Instrumenten abgewehrt werden, um die strategischen Ziele der Europäischen Union realisieren zu können. Ein wichtiges Instrument zur Erreichung dieser Ziele ist nicht zuletzt die 5

Vgl. Klaus Scharioth, Die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und die internationale Rolle Europas, in: Integration Nr. 3/2005, S. 246-250. 6 Hierbei wird insbesondere an die Region östlich der erweiterten EU sowie an das Mittelmeer gedacht. 7 Alysen Balles, Business and Security, Oxford 2005, S. 108.

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Beitrittsperspektive, denn sie ist ebenso ein strategisches Ziel wie auch ein Anreiz fur Reformen. Durch die EU-Erweiterung vom Mai 2004 sind neue Nachbarschaften entstanden, denen sich die Europäische Union im Rahmen einer neuen Nachbarschaftspolitik zuwendet. Ein wichtiges Ziel ist es, die Entstehung neuer Trennlinien in Europa zu verhindern. Dazu werden demokratische Staaten östlich der EU und in der Mittelmeerregion unterstützt. In der ESS werden der Balkan, die arabische Region - bedingt vor allem durch den israelisch-arabischen Konflikt - und der Kaukasus als Zielregionen für eine Nachbarschaftspolitik genannt. Mit Hilfe der Nachbarschaftspolitik will die EU einen Beitrag zur Stabilisierung ihrer Peripherien leisten, was gleichzeitig wiederum ihrer eigenen Sicherheit dient. Natürlich stößt auch das Instrument der Erweiterung an seine Grenzen, denn die EU muss sich in Zukunft dazu bekennen, wie weit ihre Aufnahmemöglichkeiten und ihre Aufnahmefähigkeiten gehen, ohne dass die Union ihren Charakter und ihre Kohäsion verliert. Mit Hilfe der ESS kann die EU Schwerpunkte ihrer Außenpolitik bilden. Die Europäische Union, die sich als Stabilitätsraum versteht und diese Stabilität auch grundsätzlich exportieren möchte, ist durch die Erweiterung auf 25 Staaten näher an Russland, Weißrussland, an die Ukraine und an den Kaukasus herangerückt; auch ist sie stärker im Mittelmeerraum positioniert. Exzeptionelle Bedeutung wird auch in Zukunft den transatlantischen Beziehungen zugewiesen. Aber auch Japan, China und Indien werden bedeutsame, vielleicht strategische Partner der Europäischen Union zukünftig sein. „Der strategische Radius der EU wird sich also über die Nachbarschaftsregionen der EU hinaus global ausdehnen. Das angestrebte breite Aufgabenspektrum soll humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen, Operationen zur Entwaffnung von Konfliktparteien oder die Unterstützung von Drittstaaten bei der Terrorismusbekämpfimg umfassen. Der Einsatz von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Gewaltanwendung wird aber als allerletzte Maßnahme verstanden und bedarf der Legitimierung durch die Vereinten Nationen."8 Es wird nun darauf ankommen, dass die EU eine Strategiekultur entwickelt, die ein frühzeitiges und, wenn notwendig, auch robustes Eingreifen fordert. Mit der ESS hat sich die EU 8

Algieri, Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, S. 431 f.

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eine Grundlage gegeben, die als Richtschnur für zukünftige präventive Maßnahmen für alle 25 bzw. 27 Mitgliedstaaten dienen und damit zur Überwindung der im Irak-Krieg aufgetretenen Spaltung der EU-Mitgliedstaaten führen kann. Der Aufbau von effektiven europäischen Verteidigungsinstitutionen soll laut ESS zu mehr Handlungsfähigkeit der Union im Krisenfall führen. Dazu fordert man auch die Aufstockung und effizientere Nutzung der finanziellen Mittel für die Verteidigung, wobei neben den militärischen auch zivile Mittel zur Konfliktnachsorge gemeint sind. Nur durch eine Kombination beider Maßnahmen kann ein breites Spektrum an Einsätzen durchgeführt werden.

V. EU-Einsätze im 21. Jahrhundert Die Europäische Union konnte bereits erste konkrete Erfahrungen mit internationalen Missionen sammeln, für die die ESS als Richtschnur gelten konnte. So begann eine EU-Polizeimission in Bosnien und Herzegowina im Januar 2003, an der 500 Polizeibeamte aus den EU-Mitgliedstaaten beteiligt waren. Von Ende März bis Mitte Dezember 2003 wurde auf der Grundlage eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrates die Militäroperation Concordia durchgeführt, wobei die Europäische Union die NATO ablöste, aber deren Mittel und Fähigkeiten nutzte. An dieser Operation waren bis auf Irland und Dänemark alle EU-Staaten sowie die acht osteuropäischen Beitrittsstaaten beteiligt. Mit der Operation Concordia stabilisierte die EU die dortige Situation erfolgreich, so dass im Dezember 2003 die EU mit 200 Polizeikräften in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien die Polizeimission Proxima startete. Ende 2004 übernahm die EU von der NATO die Nachfolge der NATO-SFORMission in Bosnien und Herzegowina durch die Operation Althea, „die mit 7.500 Soldaten parallel zur schon existierenden EU-Polizeimission in diesem Land (EUPM) die größte Operation unter Verantwortung der Europäer ist". 9 Im September 2003 führte die EU mit Artemis erstmals eine Operation in vollkommener Eigenverantwortung außerhalb des europäischen Kontinents aus. 1.500 Soldaten aus EU-Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, aber auch kleineren EU-Staaten, trugen unter französischer Führung zur Stabilisierung des Kongo bei. Im Som9

Mathias Jopp, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A bis Z. Taschenbuch der Europäischen Integration, Baden-Baden 2006, S. 77-81.

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mer 2006 wurde eine EU-Truppe, wiederum unter französischer Führung und im Auftrag der Vereinten Nationen, zur Überwachung der Wahlen im Kongo entsandt. Auch wenn die Europäische Union sehr zögerlich internationale Missionen übernommen hat, so ist doch unübersehbar, dass sie sich inzwischen weit über eine reine Wirtschaftsgemeinschaft wie auch über eine politische zivile Macht hinaus bewegt hat. Es handelt sich bei der EU um ein politisches System, das inzwischen auch den Einsatz militärischer Macht nicht scheut, wenngleich es noch weit von einem globalen militärischen Akteur entfernt ist.

VI. Die Europäische Union als Handelsmacht Die EU-15 war 2004 mit fast einem Fünftel am weltweiten Warenhandel und mit fast einem Fünftel am weltweiten Dienstleistungshandel beteiligt. Die Werte dürften sich nach der Mittel- und Südost-EuropaErweiterung der Union noch leicht erhöht haben. Somit ist die Europäische Union die größte Handelsmacht der Welt. Die Außenwirtschaftsbeziehungen der EU gründen sich auf den gemeinsamen Zolltarif der EU, auf die den Organen der Gemeinschaft übertragenen Außenkompetenzen, die vertraglich festgelegten Regeln, einen umfangreichen Bestand von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht sowie einem wachsenden Geflecht multilateraler und bilateraler Abkommen. Gestützt auf Art. 133 EGV zur gemeinsamen Handelspolitik und auf die Befugniskompetenz von Art. 308 EGV kann die Europäische Union mit dritten Staaten und Organisationen Handelspolitik betreiben. Die Handelspolitik ist neben der Agrarpolitik und der Geldpolitik die am stärksten integrierte Politik der EU. Kernstück der EU-Außenwirtschaftsbeziehungen ist die Gemeinsame Handelspolitik, die immer wieder zu Konflikten hinsichtlich ihrer Inhalte zwischen EG und Mitgliedstaaten führte. So wurde im 2003 in Kraft getretenen Vertrag von Nizza bestimmt, dass die Kompetenz der Gemeinschaft ausdrücklich auf die Bereiche Dienstleistungen und handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums ausgedehnt wurde. Allerdings gibt es auch durch den Vertrag von Nizza eine gemischte Zuständigkeit von EU und Mitgliedstaaten - mit Einstimmigkeit und einzelstaatlicher Ratifizierung - für den Handel mit kulturellen und sozialen Dienstleistungen sowie Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheitswesen. Die EU hat im Rahmen ihrer Außenbeziehungen ein umfangreiches außenwirtschaftliches Instrumentarium wie auch ein dichtes Netz inter-

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nationaler Vertragsbeziehungen geschaffen. Mit den Außenwirtschaftsbeziehungen besetzt die Europäische Union ein außerordentlich wichtiges auswärtiges Aktionsfeld. Die Teilnahme des EU-Kommissionspräsidenten an den G 7-Treffen (G 8 Treffen), auf denen es um die ökonomische Zusammenarbeit der sieben am weitest entwickelten Industriestaaten geht, zeigt symbolhaft die Bedeutung der EU in diesem Politikfeld. „Aufgrund der Dynamik des Weltwirtschaftssystems sind intern fortwährend Anpassung des handelspolitischen Instrumentariums und extern neue Impulse fur die Ausweitung der Vertragsbeziehungen mit den Handelspartnern erforderlich." 10

VII. Die Entwicklungspolitik der Europäischen Union Eine weitere Möglichkeit, als internationaler Akteur Einfluss auszuüben, bietet die Entwicklungspolitik. Die Europäische Union, einschließlich ihrer Mitgliedstaaten, ist noch vor den USA und Japan der wichtigste Geber auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe. Allerdings muss dabei betont werden, dass die eigentliche, vergemeinschaftete, EU-Entwicklungspolitik nur knapp 15 Prozent der Gesamtleistungen ausmacht, wodurch deutlich wird, wie weit die Union noch von einer stringenten gemeinsamen Entwicklungspolitik entfernt ist. Die Ursprünge der Entwicklungspolitik auf Gemeinschaftsebene gehen auf die Gründungszeit der EG, nämlich auf die „Römischen Verträge" von 1957 zurück. Auf Drängen Frankreichs wurde die Assoziierung der damaligen Kolonien Frankreichs und Belgiens vorgenommen. Seit 1975 bildete das Abkommen von Lomé zwischen Staaten in Afrika, dem karibischen Raum und dem Pazifischen Ozean - den sogenannten AKPStaaten, darunter viele ehemalige Kolonien - und der Europäischen Gemeinschaft das Herzstück der Zusammenarbeit. Grundlegender Bestandteil des Abkommens ist ein System von Handelspräferenzen. Danach können Fertigerzeugnisse und Agrarerzeugnisse ohne Zölle und mengenmäßige Beschränkungen eingeführt werden. Allerdings dürfen sie nicht unmittelbar mit Erzeugnissen konkurrieren, die unter die gemeinsame europäische Agrarpolitik fallen. Der sonst übliche Grundsatz der Reziprozität findet für die AKP-Staaten keine Anwendung.

10 Jörg Monar, Außenwirtschaftsbeziehungen, in: Weidenfeld/Wessels, bis Z,S. 81.

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Die Entwicklungszusammenarbeit als weiteres zentrales Element des Abkommens von Lomé basiert auf einem sektorbezogenen Ansatz, der gezielte Maßnahmen in verschiedenen Bereichen (Bildung, Umwelt, Gesundheit usw.) vorsieht. Seit den 1990er Jahren wurden auch die Beachtung der Menschenrechte und die Wahrung der Demokratie zu zentralen Bestandteilen der Abkommen. - Das 2000 unterzeichnete und 2003 in Kraft getretene Abkommen von Cotonou (Benin) ersetzt inzwischen das im Februar 2000 ausgelaufene Abkommen von Lomé. Das CotonouAbkommen hat eine Laufzeit von 20 Jahren, wobei alle fünf Jahre eine Überprüfung stattfinden soll. Zentrale Zielsetzungen sind die Ausweitung der politischen Dimension und die Übernahme von mehr Eigenverantwortung seitens der AKP-Staaten. Somit wird das gegenwärtige System einseitiger Handelspräferenzen 2008 WTO-konform auslaufen, allerdings mit einer Übergangszeit von mindestens zwölf Jahren. Der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) ist das wichtigste Instrument im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Der EEF ist nicht Teil des Gesamthaushaltsplanes der Union. Er wird von den Mitgliedstaaten finanziert und unterliegt einer eigenen Finanzregelung. Der aktuelle 9. Entwicklungsfonds hat eine Laufzeit von fünf Jahren und besitzt eine Mittelausstattung von 13,5 Milliarden Euro. Aus dem vorangegangenen EEF stehen zudem noch Restbeträge von über 9,9 Milliarden Euro zur Verfügung. Die 72 AKP-Staaten erhalten nahezu ausschließlich nicht rückzahlbare Zuschüsse. Für die Zusammenarbeit mit den Ländern des Mittelmeerraums dienen Finanzprotokolle. Über die Assoziierungs- und Kooperationsabkommen hinaus hat sich die Europäische Union durch Nahrungsmittelhilfe (meist kostenlos), Katastrophenhilfe, durch finanzielle Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und seit 1971 durch die Anwendung des Systems der allgemeinen Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer aktiv an der Nord-SüdZusammenarbeit beteiligt. Ursprüngliche Ziele der EU-Entwicklungspolitik waren die Unterstützung der Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer, die Förderung der Ernährungsunabhängigkeit mit Vorrang der ländlichen Entwicklung, die Entwicklung der menschlichen Ressourcen, die Entwicklung heimischer Kapazitäten in Wirtschaft, Forschung und Entwicklung sowie eine harmonische Eingliederung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts enthalten die Abkommen mit Dritte-Welt-Staaten Bestimmungen über die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von Einhaltung der Menschenrechte sowie

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über die Umweltschutzbestimmungen. Die Verknüpfung von Entwicklungspolitik und -Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sieht auch der noch nicht ratifizierte Verfassungsvertrag der EU vor. Zusammen mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der gemeinsamen Handelspolitik soll die Entwicklungspolitik im Teil III, Titel V unter der Überschrift „Auswärtiges Handeln der Union" zusammengefasst werden. Somit wird die Europäische Union auf absehbare Zeit nur ergänzend zu den Mitgliedstaaten für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig sein.

VIIL Außenpolitik aus einem Guss? Die Reform im Europäischen Verfassungsvertrag Der Vertrag über die Europäische Verfassung sieht bedeutsame Neuerungen im institutionellen Teil auch hinsichtlich der Gemeinsamen Außen· und Sicherheitspolitik vor. Weiterhin soll der Europäische Rat die allgemeinen politischen Zielvorstellungen bestimmen und die strategischen Interessen der Union festlegen. Der Europäische Rat besitzt auch in Zukunft eine Leitlinienfunktion bei der GASP mit verteidigungspolitischen Bezügen. Der Präsident des Europäischen Rats, der demnächst für zweieinhalb Jahre mit der Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl vom Europäischen Rat gewählt wird, wird neben dem neu einzurichtenden Europäischen Außenminister die Außenvertretung der EU vornehmen. Der Europäische Außenminister wird den bisherigen Hohen Beauftragten für die Außenpolitik nicht nur ersetzen, er wird auch die Funktionen des bisherigen Kommissars für Auswärtige Beziehungen übernehmen. Das bedeutet, dass der zukünftige Außenminister sowohl Mitglied des Rats als auch Mitglied der Kommission (als einer ihrer Vizepräsidenten) ist. In der Person des Außenministers wird die Zusammenfügung des intergouvernementalen sowie des supranationalen Ansatzes des europäischen Integrationsprozesses gespiegelt. Das heißt, dass der zukünftige Außenminister unterschiedliche Vorstellungen von Rat und Kommission in seiner Person bündeln und zu einer effektiveren Außendarstellung der EU beitragen muss. Er sorgt für koordiniertes Handeln der Union. Der Außenminister leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union, einschließlich der ESVP. Durch seine Vorschläge trägt er zur Festlegung der Außenpolitik bei und führt sie im Auftrag des Rats durch. Er ist Vorsitzender im Rat „Auswärtige Angelegenheiten". Der Außenminister führt im Namen der EU den politischen Dialog mit Drittstaaten und mit internationalen Organisationen. Zu seiner Unterstützung soll ein

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einheitlicher Auswärtiger Dienst der EU eingerichtet werden. Es wird sehr stark von der Persönlichkeit abhängen, die mit dem Amt des Außenministers betraut werden wird, welche Position sich der Europäische Außenminister im Institutionengeflecht zwischen dem Präsidenten der EU und dem Präsidenten der EU-Kommission erarbeiten kann. Es muss allerdings die Praxis zeigen, ob der zukünftige Außenminister tatsächlich auch in der Lage sein wird, die ihm vom Verfassungsvertrag zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. - Da jedoch im Mai/Juni 2005 die französischen und die niederländischen Wähler mit deutlicher Mehrheit den Verfassungsvertrag abgelehnt haben, bleibt auch die Zukunft eines Europäischen Außenministers in Frage gestellt. So wird die Europäische Union weiterhin außenpolitisch durch eine Vielzahl von Institutionen und Personen repräsentiert, was ihren Akteursstatus in der internationalen Politik notwendigerweise einschränken muss. So repräsentieren sowohl der amtierende Ratspräsident als auch der EU-Kommissionspräsident sowie der Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU die Europäische Union in der internationalen Politik.

IX. Die Europäische Union als Akteur in der internationalen Politik Voraussetzung einer inneren kohärenten Entwicklung Im Jahr 2004 war die Europäische Union in 122 Staaten und bei fünf internationalen Organisationen diplomatisch vertreten. Bei der EU in Brüssel waren 165 Staaten durch Missionen akkreditiert. Die Europäische Union hat bei der Aushandlung von mehr als 1200 bi- und multilateralen internationalen Abkommen mitgewirkt, so dass sie sich im Verlauf ihrer Existenz zu einer Institution entwickelt hat, die über ein breites Spektrum an zivilen und militärischen Akteursqualitäten verfügt. Von der EPZ im Jahr 1970 bis zur Rolle der EU zur Überwachung der Wahlen im Kongo im Jahr 2006 hat die EG/EU einen kontinuierlichen Anpassungsprozess durchlaufen, der sich sowohl in der Zahl der beteiligten Akteure als auch in den auf die Gemeinschaft zukommenden Herausforderungen zeigt. Mit der Europäischen Sicherheitsstrategie im Jahr 2003 hat sich die EU eine Grundlage gegeben, die als Richtschnur für zukünftige präventive außen- und sicherheitspolitische Maßnahmen für alle 25 Mitgliedstaaten dienen und damit zur Überwindung der im Irak-Krieg aufgetretenen Spaltung der EU-Mitgliedstaaten führen kann. Mit der Erweiterung von der EWG-6 zur EU-25 hat nicht nur mehr als eine Vervierfachung der Mitglieder stattgefunden, die Gemeinschaft

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ist auch durch mehr Heterogenität gekennzeichnet. Damit steigen auch die Ansprüche, die an die EU als kollektiver Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Entwicklungs- und Handelspolitik gestellt werden. Es wird vor allem auf die innere Entwicklung der EU ankommen - darauf, ob es ihr gelingt, eine kohärente Struktur für die Außenpolitik aufzubauen, ob sie als internationaler Akteur mehr als nur die Wirtschaftsgemeinschaft wahrnehmen wird. Auch werden künftige Erweiterungen die Kohärenz der Union ganz wesentlich beeinflussen. Nur wenn sich die Europäische Union der Grenzen ihrer Erweiterungsstrategie bewusst wird und sie eine kohärente Entwicklung im Inneren durchläuft, wird sie als ein wichtiger politischer Akteur, der selbst der heutigen Supermacht USA nicht nur im wirtschafts- und währungspolitischen Bereich ein Konkurrent sein kann, die internationale Politik nachdrücklich beeinflussen.

Die Zukunft des EU-Verfassungsvertrags Von Knut Ipsen Im Jahre 2006 über die Zukunft des Verfassungsvertrags der Europäischen Union Voraussagen zu wagen, mag angesichts des einzigen Umstands, der hinsichtlich dieser Zukunft derzeit gewiß ist, als vermessen erscheinen: Der Verfassungsvertrag wird keinesfalls, wie ursprünglich geplant, am 1. November 2006 in Kraft treten können. Visionen wie die eines „postnationalen Verfassungsbegriffs" oder einer „materiellen Einheit" von europäischem und nationalem Verfassungsrecht 1 haben an ihrem Richtwert für die Diskussion zwar nichts eingebüßt, spiegeln aber nicht nahe und ferne Realität wider. Verfehlt wäre es indessen auch, den Ausgang der beiden Referenden, mit denen Frankreich am 29. Mai 2005 und die Niederlande am 1. Juni des gleichen Jahres den EU-Verfassungsvertrag ablehnten, als (auch nur vorläufigen) Schlußpunkt des Vertragsprojekts zu bewerten. Wie schnell sich Positionen zu dem Vertragsprojekt wandeln können, zeigt das Beispiel Spaniens, dessen Regierung gemeinsam mit der polnischen Regierung noch Ende 2003 die Unterzeichnung eines Verfassungsvertrags blockierte, wogegen die neue spanische Regierung knapp eineinhalb Jahre später, gestützt auf ein konsultatives Referendum vom 20. Februar 2005, das Ratifizierungsverfahren durchführte und Spanien damit als siebter von bisher fünfzehn der fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten dem Verfassungsvertrag zugestimmt hat. Verfehlt wäre es, darauf zu hoffen, daß das spanische Beispiel irgendwann auch bei jenen Staaten Schule macht, die den Verfassungsvertrag bereits durch Referendum abgelehnt haben oder aber beabsichtigte Referenden vertagt haben. Geboten ist jetzt zweierlei: Zum einen eine Lagebeurteilung, die allein an den Fakten und nicht an Erwartungen ausgerichtet ist, und zum anderen eine Sichtung des Instrumentariums, mit dem die Situation zu bewältigen ist.

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Vgl. hierzu Ingolf Pernice, VVDStRL 60 (2000), 155 ff., 172 ff.

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I. Die Patt-Situation 2006 Die negativen Referenden Frankreichs und der Niederlande haben vielfältige Ausdeutungen erfahren. So sollen innenpolitische Motive eine erhebliche Rolle gespielt haben. Die von der Bevölkerung schwer einschätzbaren Lasten der Erweiterung auf fünfundzwanzig und demnächst auf siebenundzwanzig Mitgliedstaaten sollen sich ausgewirkt haben. Nicht zuletzt die Einbuße nationaler Selbständigkeit ist vielfach genannt worden. Man hat die Ablehnung des Verfassungsvertrags in ihrer Dauerwirkung dadurch zu relativieren versucht, daß auf die geringe Beteiligung abstimmungsberechtigter Personen verwiesen wurde (in Frankreich 70 Prozent, in den Niederlanden 62,8 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung). Vor diesem Hintergrund sei die Ablehnung in Frankreich mit 54,9 Prozent und in den Niederlanden mit 61,6 Prozent kein vollständiges Bild der Volksmeinung. Diese und ähnliche Versuche, die Abstimmungsergebnisse zu erklären, sind unzulänglich und führen insbesondere nicht weiter. Die Frage, nach dem Ja oder Nein zur Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation mag ein Staat seinem Volk wiederholt zur Abstimmung vorlegen, wie beispielsweise hinsichtlich der UN-Mitgliedschaft der Schweiz und der EG-Mitgliedschaft Dänemarks geschehen. Die Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation vermögen die Bürger zu verschiedenen Zeitpunkten und unter unterschiedlichen Verhältnissen durchaus unterschiedlich beurteilen. Ein umfangreiches Vertragswerk wie der EUVerfassungsvertrag, der das gesamte primäre Gemeinschaftsrecht vereinheitlicht und systematisiert, ist dagegen einer derartig differenzierten Beurteilung durch die abstimmungsberechtigten Bürger nicht zugänglich. Wer also das Wagnis unternimmt, ein derartig kompliziertes Vertragswerk einem Referendum zu unterbreiten, muß die Konsequenz hinnehmen, daß im Falle der Ablehnung dieses Vertragswerk damit ein für alle Mal der demokratischen Legitimierung entbehrt. Etwa von Frankreich und den Niederlanden zu verlangen, es doch nochmals mit einer Volksabstimmung zu versuchen, wäre eine Mißachtung des Prinzips der demokratischen Legitimierung, welches der Idee eines Referendums zugrunde liegt. Man wird sich also damit abfinden müssen, daß eine französische oder niederländische Regierung, die das einem Referendum zugrunde liegende Prinzip der demokratischen Legitimierung ernst nimmt, den Entwurf des EU-Verfassungsvertrags ihrem Volk nicht noch einmal

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in gleicher Form und mit gleichem Inhalt vorlegen wird - und dies auch nicht können wird. Bei allem Respekt vor dem in Frankreich und den Niederlanden bekundeten Volkswillen ist ebenfalls in Rechnung zu stellen, daß bis Mitte 2006 fünfzehn der fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag ratifiziert haben. Die drei ersten Ratifikanten waren Neumitglieder der Osterweiterung (Litauen, Ungarn, Slowenien). Immerhin hat ein Drittel der fünfzehn Staaten erst nach dem französischen und dem niederländischen Referendum ratifiziert und damit in Kenntnis der Ablehnung des Vertragswerks durch diese beiden Staaten. Estland hat am 9. Mai 2006, den Europatag symbolisch nutzend, als vorerst letzter Staat den Verfassungsvertrag ratifiziert. Der Europäische Rat als das zuständige Gemeinschafisorgan hatte ohnehin bereits am 16./17. Juni 2005 beschlossen, den Ratifizierungsprozeß unbeschadet der beiden Negativreferenden fortzusetzen. Was die zehn verbleibenden Mitgliedstaaten anbetrifft, so hat das Vereinigte Königreich durch Entscheidung der britischen Regierung vom 6. Juni 2005 die für 2006 geplante Volksabstimmung suspendiert. Die polnische Regierung hat in jüngster Zeit mehrfach ihre Reserven gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag bekundet. Andererseits führen weitere Staaten noch das Ratifikationsverfahren durch. Mithin ergibt sich die Situation, daß zwei Staaten durch Volksentscheid definitiv diesen Verfassungsvertrag abgelehnt haben, wogegen fünfzehn Mitgliedstaaten ihn ratifiziert und damit alle Bedingungen für sein Inkrafttreten erfüllt haben. Wie auch immer sich die restlichen zehn Staaten entscheiden werden, gewiß ist, daß die Ratifikation dieses Verfassungsvertrags, so wie er vorliegt, durch alle fünfundzwanzig Mitgliedstaaten, die für sein Inkrafttreten erforderlich sind, nicht erreichbar ist.

IL Die deutsche Position Bedeutet dies, daß der Verfassungsvertrag, wie er am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- bzw. Regierungschefs der fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet worden ist, erledigt ist und ein neuer Vertragsentwurf auszuhandeln ist? Das Nein Frankreichs wird in der französischen öffentlichen Meinung verbreitet derart interpretiert. Bewertungen dieser Art lassen außer Betracht, daß immerhin die Mehrheit der EU-Staaten den von Frankreich und den Niederlanden verworfenen Verfassungsvertrag ratifiziert hat und weitere Ratifikationen anstehen.

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Dies ist ein trotz des Ranges Frankreichs in der internationalen Politik nicht zu vernachlässigender Befund. Die Auflösung der Patt-Situation zwischen Protagonisten und Antagonisten des Verfassungsvertrags läßt sich daher nur in einem Spektrum von Handlungsmöglichkeiten suchen, zu dem weder die Ratifikation des vorliegenden Vertragsentwurfs durch alle Mitgliedstaaten noch die Aushandlung eines neuen Vertragsentwurfs gehören. Nimmt man die von der deutschen Bundeskanzlerin abgegebene Regierungserklärung zum Stand und zu den Perspektiven der europäischen Einigung vom 11. Mai 2006, dann spricht manches dafür, daß die Bundesregierung die Auflösung der Patt-Situation in dem Handlungsspektrum außerhalb der Ratifikation des vorliegenden Verfassungsvertrags durch alle Mitgliedstaaten und der Verhandlung über einen neuen Vertragsentwurf sucht. Die Regierungserklärung geht explizit davon aus, daß der negative Ausgang der Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden nichts über die Notwendigkeit eines Verfassungsvertrags aussagt. Die Sofortreaktion deutscher Presseorgane auf die Regierungserklärung zur deutschen Europapolitik wie insbesondere zur Notwendigkeit des Verfassungsvertrags war überwiegend negativ. So wurde der Bundeskanzlerin unter dem Leitsatz „Eine verpaßte Gelegenheit Europa neu zu denken" vorgehalten, sie wolle die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 „für den Versuch mißbrauchen, den Verfassungsvertrag doch noch irgendwie durchzudrücken" 2. Nach der Erkenntnis des zitierten Presseorgans wollen die Deutschen den Verfassungsvertrag ebensowenig wie die Franzosen und die Niederländer; die EU funktioniere außerdem „ganz passabel" ohne einen solchen Vertrag. Eine andere Kommentierung vermißt eine Antwort „auf die Gretchenfrage, ob der Text der Verfassung verändert, ergänzt oder in erneuten Referenden unverändert behandelt wird" 3 . Diese Erstreaktionen, die weitgehend den Tenor für die nachfolgenden Kommentierungen vorgaben, bilden ein Paradebeispiel dafür, welchen geringen Aufwand die Presse bisweilen betreibt, um erklärte Ziele und Handlungsmöglichkeiten einer Regierung vor dem Hintergrund der tatsächlichen Situation in gebührender Gründlichkeit zu analysieren. Zu dem von deutscher Europapolitik zu berücksichtigenden Hintergrund gehört sicherlich auch der Umstand, daß der Deutsche Bundestag am 12. 2 3

So die Welt am Sonntag vom 14. Mai 2006. Deutsche Welle, Kommentar: Nur schemenhafte Antworten, vom 11. Mai 2006.

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Mai 2005 mit 569 von 594 abgegebenen Stimmen, d. h. mit 95,8 Prozent, für den Verfassungsvertrag gestimmt hat und der Bundesrat am 27. Mai 2005 mit 66 von 69 Stimmen, also mit 95,7 Prozent, dem Bundestagsbeschluß zugestimmt hat. Diese selten eindeutige parlamentarische Entscheidung als politisch obsolet zu betrachten, weil in zwei anderen Mitgliedstaaten gegenteilige Volksabstimmungen vorliegen, dürfte wohl selbst eine von einer großen Koalition getragene Regierung nicht wagen. Doch abgesehen davon - und das ist entscheidend - führt die Regierungserklärung eine Reihe von Sachgründen auf, derentwegen sie einen Verfassungsvertrag für notwendig hält. Die tragende Begründung für die Notwendigkeit des Verfassungsvertrags aber ist - gleich an mehreren Stellen der Regierungserklärung ausgeführt - die Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Die einschlägigen Ausführungen der Regierungserklärung gipfeln in der Feststellung, daß wir „unbedingt den Verfassungsvertrag" brauchen, „um ein handlungsfähiges Europa zu haben". Danach ist die Feststellung nur folgerichtig, daß sich „spätestens die deutsche Präsidentschaft" damit befassen wird. Mit der unabdinglichen Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU aber spricht die Regierungserklärung ein Ziel an, daß der den Vertragsentwurf ausarbeitende Verfassungskonvent durchaus gesehen hat, dessen Erreichung aber von den drei bis zuletzt kontroversen Komplexen bestimmt war, nämlich der Stimmenzuordnung im Rat, der Größe und Zusammensetzung der Kommission und der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Wer also die Handlungsfähigkeit der EU verbessern will, der kommt nicht umhin, nach Lösungen innerhalb dieser drei Problemkomplexe zu suchen. Genau das scheint nach der Regierungserklärung das Ziel der Bundesregierung zu sein: die Analyse derjenigen Problemkomplexe und möglicher Lösungen, welche die Handlungsfähigkeit der EU verbessern, wobei zu berücksichtigen ist, inwieweit diese Lösungen bereits auf der Ebene des vorliegenden Vertragsentwurfs erreicht worden sind und inwieweit diese Lösungen auch für die Antagonisten dieses Vertragsentwurfs akzeptabel sein könnten. Dies ist natürlich nicht mit der in der Presse zur „Gretchenfrage" hochstilisierten Banalität zu bewältigen, ob der Text der Verfassung (!) verändert, ergänzt oder in erneuten Referenden unverändert behandelt werden soll. Schließlich sollte auch die Position der Bundesregierung zum Verfassungsvertrag hinsichtlich des Begriffs zur Kenntnis genommen werden, der durchgängig in der Regierungserklärung verwendet wird. Während sich die Politik vordem nicht scheute, die Vision von einer Europäischen

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Verfassung zu verfechten und der Begriff der Verfassung häufig synonym für den vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates ratifizierten Verfassungsvertrag benutzt wurde, findet sich in der Regierungserklärung ausschließlich und korrekt der Terminus des „Verfassungsvertrags". Damit wird die Regierungserklärung einer Forderung gerecht, die in der Wissenschaft schon vor sechs Jahren gestellt worden ist 4 . Zumindest nach seiner Entstehung ist jeder primäres Gemeinschaftsrecht zwischen den EU-Mitgliedstaaten schaffende Vertrag ein völkerrechtlicher Vertrag, auf den die einschlägigen Regeln des Völkerrechts und der jeweiligen nationalen Verfassungen Anwendung finden. Alle Versuche einer Abweichung von diesem dogmatischen Grundbefund sind bisher als gescheitelt anzusehen, was nicht zuletzt durch die Kontroversen im Rahmen des laufenden Ratifiktionsprozesses hinsichtlich des Entwurfs des Verfassungsvertrags dokumentiert worden ist und weiterhin dokumentiert wird. Was die Kontroversen anregt, ist der Begriff der Verfassung. Nicht nur der öffentlichen, sondern auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird „Verfassung" vielfach staatsbezogen betrachtet. Für Staaten, die über keine geschriebene Verfassung verfügen oder aber erst in jüngerer Zeit in Freiheit über eine Verfassung haben entscheiden können, mag ein besonderes Hemmnis bestehen, nun eine weitere, eine europäische Verfassung zu akzeptieren. Dieses Hemmnis ist nur dann zu überwinden, wenn Klarheit in zweierlei Hinsicht geschaffen wird: Zum einen muß deutlich gemacht werden, daß die Europäische Union bereits jetzt eine Verfassung im materiellen Sinne hat, nämlich eine grundlegende Regelung ihrer Mitgliedschaft, ihrer Struktur, ihrer Organe und deren Kompetenzen sowie - besonders wichtig - Regelungen zur Rechtsstellung ihrer Bürger. Gegenwärtig wird diese Verfassung aus der Gesamtheit dieser einschlägigen Regeln des primären Gemeinschaftsrechts gebildet. Insoweit hat die Europäische Union bereits eine Verfassung im materiellen Sinne; es gibt kaum eine seriöse Ansicht, die dieses bezweifelt. Zum anderen aber sollte man in der gebotenen Deutlichkeit sagen, weshalb man den Begriff der Verfassung für den grundlegenden Vertrag der EU nutzen will. Gerade weil der Begriff der Verfassung in der Geschichte der Staatsgestaltung seit der Aufklärung so eng mit dem Staat verbunden ist, scheint es angebracht zu sein, diesen Begriff auch für die 4

Siehe hierzu Peter Huber, VVDStRL 60 (2000), 234 f.

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grundlegende Ordnung der neuen supranationalen Organisation zu wählen, für die die Europäische Union das erste und bislang einzigartige Beispiel auf dieser Welt bildet. Gerade weil der regionale Zusammenschluß von Staaten mit teilweiser Übertragung staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Funktionen auf die so entstandene Staatengemeinschaft das unbestreitbare Aktionsvakuum zwischen kleinen und mittleren Staaten und Weltmächten mit ihrer wirtschaftlichen Potenz füllt, sollte diese Zwischenform zwischen dem Staat und der klassischen internationalen Organisation auch den Grundlagen dieser beiden herkömmlichen Institutionen Rechnung tragen. Dies scheint besonders dadurch gelungen zu sein, daß man die Rechtsgrundlage der klassischen internationalen Organisation, den Vertrag mit der Grundlage des Staates und der Verfassung, jedenfalls sprachlich verbindet und von einem „Verfassungsvertrag" redet. Da der vorliegende Verfassungsvertrag zudem die bisherigen Grundlagen der EU wie das Subsidiaritätsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die begrenzte Einzelermächtigung an prominenter Stelle bestätigt, ist eindeutig, daß das entscheidende Element nationaler Verfassungsautonomie, nämlich die Kompetenz, Kompetenzen zu bestimmen, bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt hat, sind die EU-Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge" 5, und sie bleiben auch die Herren eines künftigen Verfassungsvertrags. Gerade die Verkoppelung der Grundlagen einer klassischen internationalen Organisation und des klassischen Staates, die Verkoppelung von Vertrag und Verfassung, ist eine gelungene Kennzeichnung für die Basis der neuartigen und einzigartigen Strukturform, wie sie im Bereich internationaler Organisationen allein der Europäischen Union zukommt. Wenn daher die von der Bundeskanzlerin am 11. Mai 2006 abgegebene Regierungserklärung offenkundig ein entscheidendes Gewicht auf die Begrifflichkeit legt und durchgehend ausschließlich vom „Verfassungsvertrag" spricht, und dies, ohne wie der Vertragsentwurf selbst synonym den Begriff der „Verfassung" zu verwenden, dann liegt in dieser Präzisierung dessen, was das große Projekt nun einmal darstellt, zugleich eine klare Aussage über das Instrumentarium zur Realisierung des Projekts wie auch zur Rechtswirkung des Ergebnisses: Wie das bisher geschaffene primäre Gemeinschaftsrecht, so ist auch dieser Vertragsentwurf allein 5

BVerfGE 75, 223 (242).

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mit den Instrumenten des völkerrechtlichen Vertragsabschlusses zur Rechtsgeltung zu bringen. Ist diese Rechtsgeltung mit dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags bewirkt, dann ist dieser Verfassungsvertrag eben das, was im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union auf eben diesem Wege auch bisher geschaffen worden ist, nämlich primäres Gemeinschaftsrecht. Richtigerweise so verstanden, ermangelt es der Regierungserklärung durchaus nicht an der Zukunftsperspektive, die vordergründige Erstkommentierungen der Presse nicht festzustellen vermochten. Das klar fixierte Verständnis des Projekts als Verfassungsvertrag verweist rechtslogisch darauf, daß die Pattsituation nur mit dem Instrumentarium des Völkervertragsrechts zu bewältigen ist. Welche der auf diesem Weg erreichbaren Lösungen mit den 24 anderen Vertragspartnern zu erreichen ist, kann gewiß nicht Inhalt einer Regierungserklärung sein.

III. Die Lösungsvarianten Zwei Lösungsvarianten scheiden, wie im Vorigen deutlich geworden ist, von vornherein aus: Der Respekt vor dem französischen und dem niederländischen Volkswillen, geäußert in den jeweiligen Negativreferenden, verbietet es, eine Lösung schlicht und einfach in der Wiederholung der Referenden zu suchen. Die Wiederholung eines Referendums mag angebracht sein, wenn veränderte Verhältnisse es angeraten erscheinen lassen, daß ein Volk, wie seinerzeit das dänische Volk, ein zweites Mal darüber entscheiden soll, ob ein Staat überhaupt Gemeinschaftsmitglied sein soll oder nicht. Den hochkomplexen Verfassungsvertragsentwurf zum zweiten oder wiederholten Male einem Referendum zu unterziehen, ändert auch angesichts veränderter Verhältnisse nichts, abgesehen von dem Risiko einer weiteren Ablehnung, und dürfte wohl kaum von den Beteiligten seriöserweise in Erwägung gezogen werden. Gleichfalls aber verbietet der Respekt vor den parlamentarischen Entscheidungen von fünfzehn der 25 EU-Mitgliedstaaten, den Entwurf eines Verfassungsvertrages nun schlicht und einfach für obsolet zu erklären, weil zwei Negativreferenden vorliegen. Des weiteren sollte auch nicht angenommen werden, daß ein bloßer Begriffsaustausch die Akzeptanzprobleme löst. So wurde in diversen Pressemeldungen nach dem EU-Außenministertreffen Ende Mai 2006 verlautbart, der deutsche Außenminister habe angeregt, als Konzession an die Euroskeptiker auf das ebenso anspruchsvolle wie Fehlinterpretationen bewirkende Wort „Verfassung" - auch in Verbindung mit dem Begriff des Vertrags - ganz zu verzichten

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und statt dessen, wie in der völkerrechtlichen Vertragspraxis auch anderweitig üblich, etwa von einem „Grundlagenvertrag" zu sprechen. Es ist nicht auszuschließen, daß eine solche semantische Korrektur im Verlauf des Verhandlungsprozesses künftig zu irgendeinem Zeitpunkt hilfreich sein kann; die tragende und womöglich einzige Lösung wird und kann es aber nicht sein, denn - wie bereits in einer der ersten gründlichen Kommentierungen des Verfassungsvertrags vermerkt 6 - dem Gebrauch des Begriffs Verfassung im Vertragsentwurf kommt mehr eine symbolische und keine rechtlich konstitutive Funktion zu. Wenn somit weder eine Gesamtannahme noch eine Gesamtverwerfung des vorliegenden Vertragsprojekts in Frage kommen, dann ist das Nächstliegende, vertragstechnisch eine Lösung anzusteuern, die den sektoralen Konsens der Mitgliedstaaten zugrunde legt. Diesen herauszuarbeiten, ist nach geltendem Gemeinschaftsrecht Aufgabe des Rates (Art. 48 EUV) - und wegen der Bedeutung der Aufgabe, die eine allgemeine politische Zielvorstellung beinhaltet, des Europäischen Rates (Art. 4 EUV). Wird Richtpunkt der weiteren Verhandlungen der sektorale Konsens sein, dann ergibt der gegenwärtige Status des Primärrechts und des Vertragsentwurfs eine zwingende Zweiteilung, nämlich in diejenigen Rechtsvorschriften, die im geltenden Primärrecht und im Vertragsentwurf inhaltsgleich zu verzeichnen sind und diejenigen Vorschriften des Verfassungsvertrags, die neues Primärrecht setzen würden. 1. Kennzeichnung der kongruenten Vorschriften Quantitativ erfaßt, sind etwa neun Zehntel des Verfassungsvertrags, namentlich solche Vorschriften, die bereits mit den verschiedenen Vertragswerken als Primärrecht in Kraft getreten sind, verbunden mit den Namen Rom, Maastricht, Amsterdam und Nizza. Aus dieser Abfolge einzelner Vertragswerke erwuchs zunehmend die Notwendigkeit, das Primärrecht in einem übersichtlichen handhabbaren Vertragswerk zusammenzufassen. Dies war übrigens auch der Hauptzweck des Verfassungskonvents. Dieses aus dem geltenden Vertragsrecht lediglich übernommene Primärrecht findet sich im wesentlichen im ersten und dritten Teil des Verfassungsvertrags, wobei der dritte Teil (Politikbereiche und Arbeitsweise der Union) mit seinen 339 Artikeln den weitaus umfangreichsten Teil des neugefaßten Vertrags darstellt. Hier wird zunächst anzusetzen und eine Synopse der mit dem geltenden Primärrecht inhalts6

Vgl. Volker Epping, Die Verfassung Europas? JZ 17/2003, 821 (824).

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gleichen Vorschriften zu fertigen sein. Durch ein Zusatzprotokoll von Vertragsrang ließe sich sodann die parallele Anwendbarkeit der inhaltsgleichen Vorschriften statuieren, und zwar für die Mitgliedstaaten, die den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, nach dessen Text, und für diejenigen Staaten, die sich nicht zur Ratifikation haben entschließen können, nach dem für sie fortgeltenden inhaltsgleichen Gemeinschaftsrecht. Dies würde für eine Übergangsperiode das entstandene Patt zwischen Ratifikanten und Nichtratifikanten handhabbar machen. Der Weg für weitere Ratifikationen bliebe offen, unter Umständen sogar bis zur entsprechenden Anwendung des Artikels der Schlußbestimmungen, der die Einschaltung des Europäischen Rates vorsieht, wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags vier Fünftel der Mitgliedstaaten nicht ratifiziert haben und in den restlichen Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind. Zwar wird der mit dieser Vorschrift angestrebte Stichtag (1. November 2006) nicht mehr einzuhalten sein. Hier könnte aber eine Ergänzung durch das angeregte Zusatzprotokoll hilfreich sein. Nach dieser Lösung würde unzweifelhaft geltendes Primärrecht von den bislang fünfzehn Mitgliedstaaten, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, im Gewand dieses Vertrages anzuwenden sein, während diejenigen Staaten, die sich bislang noch nicht zur Ratifikation haben entschließen können, an das inhaltsgleiche Primärrecht in der für sie ja unzweifelhaft geltenden Vertragsform gebunden bleiben. 2. Separierung der Neuerungen In bezug auf die übrigen Vorschriften des Verfassungsvertrags, die bei dessen Inkrafttreten neues Primärrecht darstellen würden, wird sich eine Aufteilung der Vorschriften empfehlen, die dem Gewicht der im Verfassungskonvent bis zuletzt wirksamen Kontroversen entspricht. Die drei im wesentlichen kontroversen Komplexe waren die Stimmenzuordnung im Rat, die Größe und Zusammensetzung der Kommission und die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Alle drei Problemkomplexe werden deshalb schwierig bleiben, weil ihre Lösung untrennbar mit dem Gewicht verbunden ist, welches die Mitgliedstaaten dem demokratischen Prinzip innerhalb der Union beimessen. Danach sollte auch innerhalb der EU die Setzung von Primärrecht und Sekundärrecht eigentlich Organen überantwortet sein, die weitestmöglich das Volk repräsentieren. Dies ist bei dem von den Völkern der Mitgliedstaaten gewählten Europäischen Parlament gewiß der Fall,

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nur erfolgt die Masse der Rechtssetzung des Gemeinschaftsrechts auch nach dem Verfassungsvertrag durch den Rat, von den Regierungen der Mitgliedstaaten besetzt, auf Vorschlag der Kommission. Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments bleibt vergleichsweise bescheiden. Wer dies in bezug auf das Europäische Parlament nach wie vor verbleibende demokratische Defizit zumindest ausgleichen will, der muß das demokratische Element einer angemessenen Repräsentanz der Völker in demjenigen Organ berücksichtigen, das die Hauptzuständigkeit der Rechtsetzung innehat, und dies ist der Rat. Insoweit bedeutet der Streit über die Repräsentanz der großen, mittleren und kleinen Mitgliedstaaten im Rat, d. h. die Zuordnung der Stimmenzahl, keineswegs einen Streit darüber, welcher Staat nun besonders wichtig oder gewichtig ist, sondern es geht um die demokratische Repräsentanz der Völker und damit zugleich um die Akzeptanz der Gemeinschaft durch die Völker. Was die Kommission anbetrifft, so ist die Forderung, jeder Mitgliedstaat möge durch ein Kommissionsmitglied vertreten sein, zwar verständlich. Diese Forderung entspricht aber nicht dem Sinn und Zweck der Kommission, die wie bisher der Motor der Fortentwicklung der Gemeinschaft sein soll, die das Gesamtinteresse der Gemeinschaft vertreten soll und die daher gerade nicht das Forum des Widerstreits nationaler Interessen sein sollte. Zuständigkeit und Hauptaufgabe der Kommission, die Fortentwicklung der Gemeinschaft zu betreiben, verlangen ein effizient arbeitendes und übersichtlich strukturiertes Organ. Maßgeblich für die Effizienz der Unionsorgane aber ist ihre Entscheidungsfahigkeit. Dies hatte der Verfassungskonvent durchaus richtig gesehen. Der Entwurf des Verfassungsvertrags erweiterte daher die Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen des Rats von nach geltendem Recht rund 40 auf in Zukunft 70 Fälle. Eigentlich stellt diese Erweiterung der Mehrheitsentscheidungen eine Reform dar, die schon längst überfällig war. Gerade diese Erweiterung aber scheint für einzelne Mitglieder nach gewandelter Grundausrichtung ihrer Europapolitik nicht mehr akzeptabel zu sein. Deshalb wäre es ratsam, die Institutionenreform von der Mehrheitsreform zu trennen. Namentlich der letztgenannte Komplex wird inhaltlich und zeitlich aufwendige Verhandlungen verlangen. Hier könnte womöglich sinnvoll und forderlich sein, den mit Mißverständnissen besetzten Verfassungsbegriff durch einen das immer noch vorhandene Staatsverständnis weniger belastenden Begriff zu ersetzen, was an der Eigenart des grundlegenden Primärrechts als materieller Verfassung ohnehin nichts ändern würde.

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Nach alledem läßt sich festhalten: Der EU-Verfassungsvertrag hat nur dann eine Zukunft, wenn wirklichkeitsgetreu davon ausgegangen wird, daß dieser Vertrag nach seinem Aushandlungsverfahren, nach seinem Abschluß und nach seinem Inkrafitreten ein völkerrechtlicher Vertrag ist. Er fuhrt die Europäische Union keineswegs in größere Nähe zu einem Bundesstaat, wie manche befurchten. Er schafft keine Verfassungseinheit zwischen den Verfassungen der Mitgliedstaaten und seinem Inhalt, wie schon prognostiziert worden ist. Er wirft nicht das Problem des „pouvoir constituant" auf, das im Sinne von John Locke wie im ursprünglichen Sinne als Korrektiv des „pouvoir constitué" durch das Volk bei Mißachtung der Konstitution verstanden werden sollte. Verfehlt wäre es schließlich, weiterhin über die Scheinalternative: Erweiterung oder Vertiefung der Union zu diskutieren, solange sich nicht die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß der Verfassungsvertrag im wesentlichen darauf gerichtet ist, die Vertragswerke von Rom, Maastricht, Amsterdam und Nizza in einen Guß zu bringen. Wenn dies begriffen wird, dann besteht eine Chance für bescheidene Neuerungen im institutionellen Bereich und im Mehrheitsbereich. Dann ist auch zu hoffen, daß insbesondere der bürgerbezogene Teil des Verfassungsvertrags, nämlich die als zweiter Teil aufgenommene Charta der Grundrechte, ihre gebührende Würdigung durch die Völker der Union erhält.

Eine Föderation neuer Art Zur Struktur Europas Von Winfried Böttcher

I. Vorbemerkung In Erwiderung auf Jürgen Habermas' Modelleuropa 1 antwortet Jürgen Kaube mit einigen bemerkenswerten Überlegungen zur Europäischen Union. 2 Er sieht die Europäische Union als „ein Gebilde fast ohne Ideen oder eine , Vision'. Die politische Union, von der man sagte, es sei eine, blieb jenseits von EU-Kommission und Ministertreffen ein Thema für Festreden ... Die Europäische Union ist kein geeigneter Gegenstand für kulturelle Sinnprojektion. Sie bietet vielmehr ein gutes Beispiel dafür, welche Wandlungen die moderne Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. Der Gegensatz zur Demokratie heißt nicht länger Diktatur, sondern Brüssel." 3 Hier wird angespielt auf den zunehmenden Zentralismus, auf die immer wieder genannte „Regelungswut", auf Verordnungen und Richtlinien, die die nationale Ebene einengen. Spätestens nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zu der sogenannten Europäischen Verfassung, müssen die europäischen Nationalstaaten gemeinsam mit Brüssel innehalten. Sie können nun nicht mehr den seit Jahrzehnten gepflegten Brauch „einfach weiter so" pflegen. Jürgen Habermas bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: „Die Politiker hatten ihre Gründe, der öffentlichen Diskussion über das Ziel der europäischen Einigung aus dem Wege zu gehen. Jetzt kehrt ihnen das bockige Wahlvolk den Dreck, den sie seit Jahrzehnten unter den Teppich gekehrt haben, vor die eigene Tür." 4 Das Projekt Europa war, ist und

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Vgl. Jürgen Habermas, in: FAZ vom 31.5.2003. Vgl. Jürgen Kaube, in: FAZ vom 3.6.2003. Vgl. Jürgen Kaube. Jürgen Habermas, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.6.2005.

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bleibt eine brillante Idee. Von den Erbauern war es gut gemeint, aber von den Nachfolgern schlecht gehandhabt, zu elitär, zu verkopft. Europa wurde nach den verheerenden Folgen zweier Weltkriege aus der Idee geboren, dem Frieden zwischen den europäischen Völkern eine Chance zu geben, indem es sich vereinigt. Die Verwirklichung des Friedens auf dem europäischen Kontinent ist und bleibt die herausragende Leistung des europäischen Einigungswillens. Selbst wenn nichts von dem Einigungswerk übrig bliebe als die Tatsache, dass Kriege zwischen den Völkern Europas undenkbar geworden sind, haben sich die Anstrengungen gelohnt. Je stärker jedoch die Friedensidee Realität und für nachfolgende Generationen, die die Schrecken des Krieges nicht mehr miterlebt haben, selbstverständlich wurde, je mehr gewannen andere Erwartungen an eine europäische Einigung Gestalt. Je stärker die Bedrohung durch den Ost-West-Konflikt abnahm, desto mehr glaubten die alten Nationalstaaten, ihr Heil in überholten Souveränitätsvorstellungen finden zu können. Dies ist das eigentliche Dilemma einer fünfzigjährigen europäischen Einigungs- und auch Erfolgsgeschichte - soweit es die Ökonomie betrifft. Was politisch erreicht wurde, gleicht eher einem Trauerspiel. Grundlegend verantwortlich dafür ist der Geburtsfehler bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Damals wie heute war und ist unklar, was für ein Europa wir wollen, in welchem Europa wir in Zukunft leben wollen und uns wohlfühlen können. Der alte Formelkompromiss, der sich bis heute durch die Verträge zieht, „einen immer engeren Zusammenschluss" der Völker zu gewinnen, reicht nicht aus, um die Menschen emotional für Europa einzunehmen. In fünfzig Jahren konnte man sich nicht dazu durchringen, in den Präambeln zu den Verträgen zu schreiben: „Die Völker Europas schließen sich zusammen." Es fehlt also die Finalität Europas. Die Menschen wissen nicht, wo die Reise hingeht, es fehlen die Ziele und Visionen. Wo aber keine Vision ist, werden die Menschen „wild und wüst", wie schon König Salomon vor dreitausend Jahren wusste. Nach unserer Auffassung wird die Finalität Europas durch zwei Elemente geprägt sein: durch eine zunehmende Bedeutung der Regionen bei gleichzeitig abnehmender Bedeutung der Nationalstaaten und durch die Subsidiarität als Architekturprinzip eines zukünftigen Europas. Beide Elemente bilden das Fundament für einen europäischen Föderalismus neuer Art.

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II. Zur Subsidiarität Ohne der etymologischen Bedeutung eine zu große Rolle einzuräumen und ohne in „naiven Begriffsrealismus" 5 zu verfallen, wollen wir zwei Bedeutungsstränge dennoch unterscheiden.6 Die erste Linie führt uns zum lateinischen subsidium in seiner militärischen Bedeutung. In diesem Sinne sind die Reservetruppen gemeint, die erst dann eingreifen, wenn die vordere Schlachtreihe wankt. Überträgt man diesen Gedanken auf das Verhältnis von Staat und seinen Gemeinschaften mit ihren natürlichen Rechten, dann kommt man zum Kernpunkt des gesamten Prinzips. Subsidiarität 7 setzt bei der kleinsten Einheit, dem Individuum, an. Von daher wird auch verständlich, warum das Subsidiaritätsprinzip von denjenigen Staatslehren bevorzugt wird, die vom einzelnen Menschen, seinen natürlichen Rechten, dem Schutz seiner Freiheit und seiner Würde als Bezugspunkt ihrer Überlegungen ausgehen. „In dieser Ausformung dient das Subsidiaritätsprinzip zugleich der Hemmung und Mäßigung der Staatsgewalt, der Abwehr gegen die Ausuferungen der Bürokratie, des Zentralismus und der totalitären Herrschaft." 8 Auch die zweite Linie des Subsidiaritätsgedankens kann man an der ursprünglichen Wortbedeutung festmachen. Die später eingreifenden Reservetruppen bringen der bedrängten vordersten Front Hilfe. In diesem Sinne wird subsidium auch als Beistand oder Hilfe fassbar. Wer jedoch die Subsidiarität vorwiegend unter dem Anspruch auf Hilfe von übergeordneten Gemeinschaften sieht, muss die Kehrseite mit beachten. Hilfe einerseits erfordert Gegenleistungen andererseits. 9 - Der Europarat versteht unter subsidium die Hilfe bis zur Intervention als Pflicht: „It implies a type of help which encourages and authorises autonomy." 10 Darüber hinaus befinden sich im Kontext der Europäischen Gemeinschaft einige Quellen. Besonders verweisen wir auf zwei Entwürfe, ein5 Vgl. Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Berlin 1968, S. 15. 6 Vgl. Otto Kimminich, in: Otto Kimminich (Hrsg.), Die Subsidiarität in der Verfassungsordnung desfreiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, Düsseldorf 1981, Vorwort, S. 10 ff. 7 Wir folgen hier weitgehend der Untersuchung über Subsidiarität in: Winfried Böttcher/Johanna Krawczynski, Subsidiarität für Europa, Münster 2002; insbes. beziehen wir uns auf die Kapitel 2: „Begriff und Geschichte", und Kapitel 7: „Subsidiarität und Regionalismus". 8 Vgl. Kimminich, Subsidiarität, S. 11. 9 Vgl. Kimminich, Subsidiarität, S. 13. 10 SE, No.55/1994, S. 11.1.

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mal auf denjenigen über Subsidiarität von Altiero Spinelli im Kommissionsbericht von 1975 und auf den Entwurf des Europäischen Parlaments zur Europäischen Union aus dem Jahr 1984.11 Dort war in der Präambel und in den Artikeln 12 und 66 das Subsidiaritätsprinzip verankert. In der Präambel wird die Absicht ausgedrückt, in „gemeinsamen Institutionen nach dem Grundsatz der Subsidiarität zu bewältigen, was diese wirkungsvoller wahrnehmen können, als jeder einzelne Mitgliedstaat für sich". Art. 12 behandelt die ausschließliche und die konkurrierende Zuständigkeit der Union. Art. 66 räumt der Union eine vorsichtige Mitsprache bei den internationalen Beziehungen ein. Hier ist der Vorrang der Union an die höhere Effizienz geknüpft. 12 Während das Subsidiaritätsprinzip in der Einheitlichen Europäischen Akte erstmals in einem Vertrag auftaucht, allerdings nur auf die Umweltpolitik bezogen13, wird es im Art. 3b des Maastrichter Vertrags ein eigener Artikel 14 und im Amsterdamer Vertrag wird es zur Querschnittsaufgabe. 15 Der Art. 3b des Vertrages von Maastricht, der zum Art. 5 im Amsterdamer Vertrag wird, lautet: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." 16 - Hinzu kommt Art. 2 des Amsterdamer Vertrages: „Die Ziele der Union werden nach Maßgabe dieses Vertrags entsprechend den darin enthaltenen Bedingungen und der darin vorgesehenen Zeitfolge unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Art. 5 des Artikels zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist, verwirklicht." 17 - In allen Vertragsbestim-

11 Vgl. Jacques Delors in: Jacques Delors (Hrsg.), The Principle of Subsidiarity: Contribution to the Debate, in: Colloquium (1991), S. 8. 12 Vgl. Francesco Capotori u. a., Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, Kommentar zum Entwurf des Europäischen Parlaments vom 15.2.1984, Baden-Baden 1986. 13 Vgl. Einheitliche Europäische Akte (EEA), Bulletin der EG, Beilage 2/86, Art. 130r/4, S. 16. 14 Vgl. Vertrag von Amsterdam, in: Texte EU/EG, Bonn 1994. 15 Vgl. Vertrag von Amsterdam, in: EU, 1997, vgl. Protokoll 21. 16 EU/EG (1994), S. 125. 17 Vertrag von Amsterdam, in: EU/EG, 1997, S. 8.

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mungen geht es um eine verkürzte Sichtweise des Subsidiaritätsprinzips. Es wird lediglich das Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten angesprochen. Subsidiaritätsverlagerungen in die Regionen und Kommunen werden nicht einmal erwähnt, weil die Vertragsgemeinschaft solches auch nicht zuließe. Historisch betrachtet kann man an Abraham Lincoln erinnern, der die Subsidiarität sehr viel grundsätzlicher deutete als zum Beispiel die Europäische Union. Er formulierte 1854: „The legitimate object of government is to do for a community of people whatever they need to leave done but cannot do at all, or cannot so well do for themselves in their separate and individual capacities. In all that the people can individually do as well for themselves, government ought not to interfere." 18 Hier findet die liberale Auffassung der Verfassungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika in Philadelphia im Jahre 1787 ihren Stellenwert. 19 Etwa zur gleichen Zeit sieht Wilhelm von Humboldt (1767-1835) den liberalen Staat als Ausdruck und Aufgabe souveräner menschlicher Vernunft; er muss in seiner Einwirkungsmöglichkeit auf das Mindestmaß des Notwendigen beschränkt werden. Nur dann bleiben dem Individuum möglichst große Wirkungsfelder und Freiräume. Liberale Staatlichkeit gilt nur dann als legitim, wenn sie subsidiär ist. Daneben macht Rationalität das Wesen des liberalen Staates aus, wodurch er in seinem Handeln berechenbar wird - eine seiner wichtigen Eigenschaften. Zweck des Staates ist die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, ohne die sich individuelle Freiheit nicht entfalten kann. Das liberale Staatsmodell Humboldts gründet auf der Autarkie sozialer Einheiten,20 der moderne Wohlfahrtsstaat mit seinem Subsidiaritätsgrundsatz gründet auf der Solidarität. Zum Schluss unserer kurzen Begriffsklärung der Subsidiarität soll noch Robert von Mohl (1799-1875) angeführt werden. In seinen Überlegungen erfüllen sich die beiden Voraussetzungen eines „liberalen Subsidiaritätsprinzips als einer generellen Orientierungsnorm für den Staat, nämlich die individualistische Legitimation und die potentielle All18

Zit. nach: Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, Wien 1980, S. 49. Vgl. Lord Mackenzie-Stuart , Assessment of the Views Expressed and Introduction to a Panel Discussion, in: Delors , Colloquium, S. 38. 20 Ausfuhrlich hierzu: Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Berlin 1968 S. 45-52; außerdem Chantal Millon-Delsol, L'Etat subsidiaire. Ingérence et non-ingérence de l'Etat. Le principe de subsidiarité, aux fondaments de l'histoire européenne, Presses Universitaires de France (PUF), 1992, S. 97. 19

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Zuständigkeit des Staates. Der Staat ist als Lückenbüßer und Ausfallbürge bei Versagen des Individuums subsidiär. Durch diese notwendige Ergänzungsfunktion wird er in seiner Existenz legitimiert. In Mohls Staatslehre wirkt das Subsidiaritätsprinzip auf drei Stufen: „ l . b e i der Rechtfertigung der staatlichen Existenz, 2. bei der Zuweisung der staatlichen Kompetenz und 3.bei der Regulierung der staatlichen Kompetenzausübung."21 Der Staat ist umso enger an die Verpflichtungen zur Subsidiarität gebunden, desto tiefer er in den Privatsektor eindringt. Hier steht jeweils die Freiheit des Einzelnen auf dem Spiel. Dieses eher negative Subsidiaritätsprinzip ergänzt Mohl positiv durch das Prinzip der Solidarität. Der Staat leitet einen Teil seiner Legitimation aus dem Tätigwerden bei einer „Mangellage im privaten Bereich" ab. Dies ist unabhängig davon, ob der Mangel auf einem Unvermögen, dem Fehlen intellektueller oder körperlicher Fähigkeiten oder mangelnder sittlicher Kraft beruht. 22 Darüber hinaus überwindet Mohl den atomistischen Liberalismus, bei dem das vereinzelte Individuum der öffentlichen Gewalt gegenübersteht, ja, oft ihr ohnmächtig ausgeliefert ist. Im föderalistischen Liberalismus dagegen steht das Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung, jedoch ist es eingebunden in eine Stufenordnung von Lebenskreisen: Individuum, Familie, Lebensgemeinschaft, Stamm, Gemeinde, Gesellschaft, Staat und schließlich Staatenverbindung. Hierbei wirkt der Staat einheitsstiftend auf das Gefüge der unterschiedlichen sozialen Organismen. 23 - Auf den Föderalismus als staatliches Gestaltungsprinzip von Einheit und Vielfalt kommen wir später ausführlich zurück.

III. Zum Begriffspaar: Regionalismus - Regionalisierung Beiden Begriffen ist der Anspruch gemeinsam, sich gegen die Herrschaft zentraler Macht zu wenden und für eine weitgehende Autonomie der Region sich einzusetzen. Wir unterscheiden die beiden Begriffe wie folgt: „Regionalisierung sucht stärker in der Auseinandersetzung mit der

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Josef Isensee hat das Verhältnis von liberalem Staatsverständnis und Subsidiarität sowie den Zusammenhang zwischen Föderalismus und Subsidiarität ausführlich aufgearbeitet; Robert von Mohl, Staatsrechtslehre, zit. in: Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 5560; hier zit.: S. 60. 22 Vgl. Helmut Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer Europäischen Union, Berlin 1993, S. 35 ff. 23 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 60.

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Zentralregierung in geordneten Bahnen ihren Weg zur größeren Autonomie. Der Hauptmotor der Regionalisierung ist der Staat selbst. Er strebt vor allem durch Regionalisierung eine effizientere Verwaltung an. Dagegen versteht sich Regionalismus mehr als eine kämpferische Bewegung zur Durchsetzung politischer Rechte in einer größtmöglichen regionalen Autonomie. In diesem Sinne verstehen beide Selbstverwaltung als eine Form unmittelbarer Demokratie." 24 Zu den Antriebskräften fur eine stärkere Regionalisierung können gezählt werden: 25 -

die Versuche, regionalistische Strömungen in geordnete Bahnen zu lenken; - eine Unterstützung seitens der Zentralregierung, Dezentralisierungsund Dekonzentrationstendenzen zu kanalisieren; - föderative Strukturen zu stärken (Entflechtung, Reföderalisierung, Konkurrenzföderalismus); - Belangen von Regionen im Rahmen der Entscheidungsprozesse der Europäischen Union stärker zur Geltung zu verhelfen. Die Regionalisierung in Europa hängt mit dem Föderalisierungsgrad der einzelnen Mitgliedstaaten zusammen. Die Gemeinschaftscharta der Regionalisierung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1988 hatte in Art. 2 die Mitgliedstaaten zur Regionalisierung aufgefordert. Regionen sollten beibehalten oder auch neu geschaffen werden. Als Region wurde in Art. 1 der Charta definiert: Ein Gebiet oder ein Komplex mehrerer Gebiete, die eine geographische Einheit mit einem in sich geschlossenen Gefüge bilden und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist, wie etwa Sprache, gemeinsame Geschichte, Kultur, wirtschaftliche Interessen u. ä. Die daraus resultierenden Einheiten sollten bewahrt und weiterentwickelt werden, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. 26 Diese Forderung des Europäischen Parlaments hängt eng mit dem globalen Strukturwandel zusammen. Hierbei soll eine Rückbesinnung auf die eigenen regionalen Qualitäten bei dessen Bewältigung beitra24

Böttcher/Krawczynski, Subsidiarität, S. 157. Rudolf Hrbek, Die Regionen in Europa in der Europäischen Union, in: Heinrich Schneider /Wolfgang Wessels (Hrsg.), Föderale Union - Europas Zukunft? Analysen, Kontroversen, Perspektiven, München 1994, S. 123-144, hier: S. 128 ff. 26 Vgl. Anlage zur Entschließung des Europäischen Parlaments, in: Amtsblatt der EG (AEG), C 326, 1988. 25

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gen. 27 Die Kernfrage hinsichtlich der Regionalisierung lautet jedoch: „Warum und zu welchem Ende betreibt wer Regionalisierung?" 28 Die Antwort geht dahin, dass Regionalisierung von unten als erster Schritt zur Humanisierung der Lebenswelt und zur Personalisierung der Massen gesehen wird. Im Gegensatz dazu bewirkt der Zentralismus eine Verkrustung. Die Nation als „Nutzungs- und Interessengemeinschaft" sprachlich begründet und durch staatliche Gewalt zusammengehalten „muss den Staatsbürger erst wieder zum Einwohner, zum Bestandteil einer sinnlich erfahrbaren Heimat machen."29 Für Europa kann man vier Zielebenen unterscheiden: -

eine wirtschaftliche, die die Schaffung eines ökonomischen Gleichgewichts anstrebt; eine politische, die auf Demokratisierung aus ist; eine kulturelle, die einer Entfaltung der Vielfalt verpflichtet ist; eine europapolitische, die sich transnational versteht. 30

In diesen Zielen sehen die Zentralisten bereits eine Gefahr für die „eine und unteilbare" Republik - so in Frankreich. Aber auch in Frankreich beginnt langsam ein Umdenkungsprozess. Die Regionen gewinnen mehr und mehr an Selbstbewusstsein, ob man dabei an die Bretagne, die Provence oder an Okzitanien denkt. Zusammenfassend können wir Regionalisierung als Versuch eines mehr oder weniger zentralisierten Staates verstehen, von oben nach unten Verwaltungseinheiten zu schaffen. Die Autonomie dieser Einheiten darf allerdings nicht so weit gehen, dass der Zentrale entscheidende Machtbefugnisse entgleiten. In diesem Sinne ist Regionalisierung immer eine gebremste Strukturreform. Ein gutes Beispiel für diese Auffassung ist Polen. Im Vorfeld des polnischen Beitritts zur Europäischen Union wurde Polen gleichsam gezwungen, eine Regionalisierung durchzuführen, um von Finanzhilfen der EU zu profitieren. Polen hat zwar dem Druck nachgegeben und aus 49 nunmehr 16 Wojewodschaften gebildet, also in gewissem Sinne regionalisiert. Jedoch hat sich Warschau durch die Einsetzung eines „Statthalters", des Wojewoden, neben dem gewähl27 Vgl. Rolf Lindner (Hrsg.), Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität, Frankfurt/New York 1994, S. 7-13, hier bes. S. 7. 28 Nussbaum, in: Medium (1979), H. 12, S. 5-9, hier zit.: S. 7. 29 Nussbaum, S. 8. 30 Vgl. Mudrich u.a., in: Fried Esterbauer (Hrsg.), Regionalismus. Phänomen - Planungsmittel - Herausforderung für Europa, Wien 1979, S. 149 -167, hier: S. 159.

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ten Marschall unmittelbaren Einfluss in den jeweiligen Regionen gesichert. Nach unserer Definition ist Regionalismus dagegen eine Bewegung von unten nach oben, die für die Durchsetzung größtmöglicher politischer Autonomie kämpft. Danach versteht sich der Regionalismus ... „als politische Aktion, als gezielte Verwirklichung bestimmter politischer Vorstellungen - etwa jener, die unter dem Begriff des Subsidiaritätsprinzips zusammengefasst werden". 31 Semantisch sind Regionalismus und regionalistische Bewegungen aufeinander bezogen. Besonders in den 1990er Jahren haben solche Bewegungen verstärkt an Dynamik zugenommen. Insbesondere können hierfür vier Gründe angeführt werden: 1. Wenn das politische Zentrum ökonomisch schwächer ist als dynamische Regionen und dadurch ausgeprägte regionale Ungleichheiten entstehen. 2. Wenn der Nationalstaat sich in einer zentralistischen Krise befindet und nicht bereit ist, sich in ein föderales System mit einem hohen Maß an politischer Autonomie umzuwandeln. 3. Wenn regionale Kultur und Kommunikation stark ausgeprägt sind und dadurch ein Prozess gesellschaftlicher Denationalisierung eingeleitet wird. 4. Wenn ein Nationalstaat stark ökonomisch in internationale Institutionen eingebunden oder gar von diesen abhängig ist. Weiterhin wird infolge der Globalisierung ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Denationalisierung und politischer Fragmentierung gesehen.32 Letzteres scheint sogar eine zwangsläufige Entwicklung zu nehmen. Bei immer stärker fortschreitender Globalisierung verlieren die Menschen immer schneller ihre Orientierung. Die einzige Möglichkeit, eine Identität, die überlebensnotwendig ist, zu bewahren, liegt in der Region. Diese Identitätsvergewisserung ist umso stärker, je besser eine Regionaldemokratie funktioniert. Während in den 1970er und 1980er Jahren der Regionalismus noch eine ausgeprägte linke Strategie zur Bekämpfung nationaler und internationaler Kapitalmacht war, ist er heute eher eingeebnet und weitgehend institutionalisiert.

31

Lang, in: Elsterbauer (Hrsg.), Regionalismus, S. 83-107, hier: S. 83. Vgl. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Dezentralisierung als Chance, Frankfurt a. M. 1998, S. 263 ff. 32

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IV. Historische Einordnung des Föderalismus In gebotener Kürze werden wir drei Aspekte des Föderalismus betrachten: nach einer historischen Einordnung gehen wir der Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg nach, und zum Schluss begründen wir, warum die Europäische Union einen föderalen Ansatz neuer Art braucht. Schon 1972 hat Ernst Deuerlein beklagt, dass der Begriff Föderalismus zwar „in aller Munde" sei, dadurch aber sein Verständnis keinesfalls zunehme. Der Begriff werde schlagwortartig benutzt, sei unverbindlich, wenig konsensual, ideologisch und missverständlich. 33 Wie weit diese Einschätzung auf die heutige Europäische Union zutrifft, dazu später. Begriff und Absicht des Föderalismus lassen sich noch relativ leicht nachvollziehen. Abgeleitet ist der Begriff vom Lateinischen foedus, foederis, was soviel wie Bund, Bündnis, aber auch Staatsvertrag bedeutet. Beim Bund geht es darum, kleinere Einheiten in einem größerem Ganzen zusammenzufassen, ohne dass die kleineren Einheiten im größeren Ganzen aufgehen. Sie werden eher in einem größeren Ganzen aufgehoben, was im Hegeischen Sinne meint, sie gewinnen eine zusätzliche neue Qualität. Das größere Ganze ist unter anderem Schutz für die Autonomieerhaltung der Kleinen. Der zweite Definitionsstrang weist auf das staatsrechtliche, verfassungsgemäße Organisationsprinzip hin. Politische, aber auch gesellschaftliche Ordnung finden durch den Föderalismus eine praktische, lebbare Ausdrucksform. Historisch betrachtet, lassen sich wenige Etappen kurz aufzeigen: In der griechischen Polis ging die Freiheit des Individuums so weit, dass der freie Mann selbstbestimmt die Geschichte des Gemeinwesens mitbestimmen konnte. 34 Dies funktionierte allerdings nur, solange es keine Bedrohung von außen gab. Zwar gab es im damaligen Griechenland durch gemeinsame Sprache, Schrift, Kultur und Religion eine Art Gemeinschaftsgefühl; aber nicht Griechenland war der Hort der Identität, sondern die überschaubare Polis. Um einer Bedrohung von außen zu begegnen, mussten die griechischen Städte Bündnisse schließen. Einige dieser Bündnisse sollen hier lediglich genannt werden, ohne auf die nä-

33 Vgl. Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen desföderativen Prinzips, München 1972, hier: bes. S. 8 ff. 34 Vgl. hierzu: Rolf Hellmuth Foerster, Europa. Geschichte einer politischen Idee, München 1967, S. 10 ff.

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heren Umstände einzugehen: der Attische Seebund gegen die Perser, der Delische und der Peloponnesische Bund, die Stammesbünde der Boioter und Thessaler, der Aufruf des Perikles zur Einberufung eines panhellenischen Kongresses und die sogenannten Amphiktyonien (Umwohnerschaften). Letztere waren weniger klassische Bündnisse als vielmehr übergeordnete Gerichtshöfe, denen man sich bei Streitigkeiten freiwillig unterwarf. 35 Besonders interessant ist die pyläisch-delphische Amphiktyonie, der die Völker Thessaliens und Mittelgriechenlands, sowie die Ionier und Dorer angehörten. In den Rat wurden von jedem der der Amphiktyonie angehörenden Völker zwei Vertreter entsandt. Diese Art des Zusammenschlusses kann „als Vorform völkerrechtlicher Bündnisse angesehen werden." 36 Während die griechischen Poleis sich freiwillig zusammenschlossen, um stark in der Abwehr einer Gefahr von außen zu sein, setzte das Imperium Romanum ganz auf seine zentrale imperiale Macht. Der imperialistische Anspruch bedurfte keiner Bündnisse. Statthalter Roms setzten nach den jeweiligen Eroberungen fremder Gebiete die Macht des Kaisers durch. Karl der Große, nicht selten als Vater Europas bezeichnet, verstand sich noch ganz in römischer, christlicher, imperialistischer und universalistischer Tradition. Erst nach dem Tode des Kaisers (814) und der Aufteilung des regnum in regna war der Weg frei für das Erwachen der Nationalstaaten. Erst nach 500 Jahren, als Frankreich mit Philipp dem Schönen auf Eigenständigkeit pochte, Dante seine „De monarchia" mit dem Konzept der Weltmonarchie schrieb und Dubois den ersten Europaplan veröffentlichte, brach eine neue Zeit an. Mit Pierre Dubois, „praktischer Jurist, königlicher Advokat und Abgeordneter der Ständekammer", 37 tauchte der Staatenbund als Chance auf, den Frieden in Europa zu sichern. Zu diesem Zweck schlug er die Errichtung eines internationalen Schiedshofes vor, der im Streitfalle zwischen den souveränen Staaten einzuschalten war.

35

Vgl. hierzu genauer: Peter MiXthlein, Der Föderalismus als Konzeption für eine europäische Friedensordnung (MA-Arbeit, RWTH Aachen), Aachen 2005, S. 11 ff. 36 Zeit, Lexikon der Geschichte (2006), S. 57. 37 Jacob Ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung, Bd. 1 (1300-1800), Haag 1917, Bd. 2/1 (1789-1870), Haag 1929, Bd. 2/2 (1867-1889), Haag 1940, S. 101.

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Doch es sollte dann wieder ca. 500 Jahre dauern, bis zum ersten Mal die Umsetzung der föderalistischen Idee in praktische, verfasste Politik 1776 in Amerika gelang. Davor erreichten mit Hugo Grotius (1583 - 1645) die Überlegungen, dem Recht als verbindlicher Rechtsnorm in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit Geltung zu verschaffen, eine „völkerrechtliche Normierung 4 '. 38 Neben dem Grundgedanken des klassischen Völkerrechts ist noch die Idee der Gleichheit der Staaten festzuhalten. Diese Idee führt dann 23 Jahre nach der Veröffentlichung des Werks von Grotius „De jure belli ac pacis" im Westfälischen Frieden von 1648 zum Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der selbstständigen gleichberechtigten Staaten. Im Jahre 1795 formulierte kein Geringerer als Immanuel Kant in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden" apodiktisch im 5. Präliminarartikel: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen."39 Im zweiten Definitivartikel gründet er das Völkerrecht „auf einen Föderalismus freier Staaten". Er schlägt einen Völkerbund vor, der aber kein Völkerstaat sein müsste: „... weil ein jeder Staat das Verhältnis eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegeneinander zu erwägen haben, sofern sie soviel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht." 40

38

Emanuel Richter, Leitbilder des europäischen Föderalismus. Die Entwicklungsgeschichte der Idee eines europäischen Bundesstaates bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bonn 1983, S. 34. 39 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, zitiert nach Kurt von Raumer, Ewiger Friede, Freiburg/München 1953, S. 419-460, hier: S. 422. 40 Raumer, Ewiger Friede, S. 429; da es hier nicht darum geht, die Friedenspläne in Einzelheiten zu interpretieren, sondern lediglich herauszustellen, dass ein europaweiter Friede und letztlich auch der Weltfriede nur über einen freien Zusammenschluss souveräner Staaten in einem Friedensbund erreichbar sein wird, tragen die anderen Pläne nichts Neues zum historischen Föderativgedanken bei. Trotzdem sollen die wichtigsten Pläne hier noch genannt werden: Herzog von Sully , Grand Dessin, 1635; William Penn, Essay on the present and future peace of Europe, 1693: Irène Castel Saint Pierre , Projet pour perpetuer la paix, 1713.

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In unserem kurzen historischen Abriss darf Constantin Frantz mit seinem grundlegenden Werk zum Föderalismus nicht fehlen. 41 Schon der Titel weist auf eine Gesamtschau des föderalistischen Prinzips als Lebens» und Ordnungsprinzip hin, ein „universales Entwicklungsprinzip". Unerlässlich für den Aufbau des Staates, wenn er nicht zum „Staatsabsolutismus" verkommen will, ist die Selbstverwaltung der einzelnen Gliederungen: Gemeinden, Kreise, Landschaften. Dort spielt sich das eigentliche Leben ab. Dort muss sich das Zusammenleben auch selbst organisieren, im Gemeinderat, im Dorfgericht, im Finanzwesen, ähnlich auf den nächst höheren Ebenen, den Kreisen und Landschaften. Nur so sieht Frantz das Wesen einer föderativen Verfassung, die „Volksfreiheit" garantiert, gewährleistet. 42 „Kann allein eine föderative Verfassung reelle Freiheit begründen, so allein auch reelle Wohlfahrt. Allgemeine Gesetze und Regierungsmaßregeln von oben herab reichen dazu nicht aus, weil die materiellen Verhältnisse der Menschen überall durch mannigfaltige besondere Umstände bedingt sind, denen sich die Einrichtungen und praktischen Maßregeln anzupassen haben. Noch mehr: sollen die Einrichtungen Leben gewinnen, so müssen sie durch den Gemeingeist getragen werden, und wie kann der Gemeingeist erstarken, wenn er nicht zuförderst sich da entwickelt, wo die Menschen sich noch nahe stehen, zusammengehalten durch Gewohnheiten, Bedürfnisse und Interessen?" 43 Dieser Gemeingeist, der das Leben durchdringt, bildet sich umso stärker heraus je mehr Gemeinsames die Gemeinde-, Kreis- und Landschaftsmitglieder verbindet. Diesen Föderalismus in einem Staat ergänzt er durch den Föderalismus in einem „mitteleuropäischen Bund". Die Notwendigkeit, einen solchen Zusammenschluss auf föderaler Grundlage in Europa zu bilden, begründet er u. a. mit dem Erstarken der Vereinigten Staaten von Amerika. Nur noch ein Menschenalter sieht Frantz die nordamerikanische Union von einer Weltmacht entfernt. Spätestens dann werde Nordamerika „... um seiner Handelsinteressen willen nicht umhin können, auch überall activ in die Weltpolitik einzugreifen". 44 Wolle Europa diesem wachsenden amerikanischen Einfluss etwas entgegensetzen, dann könne es

41

Vgl. Constantin Frantz, Der Föderalismus als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland kritisch nachgewiesen und construktiv dargestellt, Mainz 1879 (Nachdruck 1962). 42 Vgl. Frantz, Föderalismus, S. 134 ff. 43 Frantz, Föderalismus, S. 154. 44 Frantz, Föderalismus, S. 399.

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dies nur tun, wenn es sich zu einem „Gesamtkörper" zusammenschließe. Ein solcher Gesamtkörper - so ein weiterer Grund - könne die selbstständige Entwicklung der verschiedenen europäischen Nationalstaaten am besten in einer föderalen Verfassung aufheben. Ein föderativer Körper bilde „geradezu eine Lebensfrage für unsere zukünftige Weltstellung". 45 Nur der Föderalismus ist nach Constantin Frantz „das politische Entwicklungsprincip der Zukunft". 46 Nachdem die paneuropäische Bewegung des Coudenhove-Kalergi nach dem 1. Weltkrieg zwar eine große Resonanz fand, ebenso wie die Union der Europäischen Föderalisten nach dem 2. Weltkrieg, scheiterten beide an den Partikularinteressen der Nationalstaaten. Für das Konzept der „Vereinigten Staaten von Europa" des Coudenhove, von Winston Churchill in seiner Züricher Rede vom 19. September 1946 aufgegriffen, war Europa nicht reif. Spätestens mit Gründung des Europarates als intergouvernementaler Zweckverband war die Umsetzung des föderalen Gedankens in praktische Politik auf gesamt(west)europäischer Ebene gescheitert. Erschwerend hinzu kam die Ost-West-Teilung. Mit der Rede Trumans vor beiden Häusern des Kongresses im März 1947 und der Weigerung Molotows, Osteuropa am Marshallplan teilhaben zu lassen, zerstoben am 2. Juli 1947, alle Hoffnungen der Föderalisten auf ein föderales Europa. Mit Gründung der EGKS 1952 verlegten sich die sechs Gründerstaaten auf das Machbare. Aber schon diese sektorale Integration war ein großer Schritt weg von den jahrhundertealten Konflikten hin zu Aussöhnung zwischen wichtigen europäischen Völkern, insbesondere zwischen den Völkern Frankreichs und Deutschlands. So weist der mehr als fünfzigjährige Prozess europäischer Einigungsbestrebungen zwei große Erfolge auf: einen friedenspolitischen und einen ökonomischen. Krieg zwischen den Völkern Europas ist undenkbar geworden. Aber auch die wirtschaftlichen Erfolge der Einigung, denen allerdings das soziale Pendant fehlt, sind unstreitig. Genauso unstreitig ist jedoch, dass Europa nach wie vor nicht weiß, wohin es will. Fünfzig Jahre hat sich an der Methode, Europa zu einigen, nichts geändert. Unter Vernachlässigung einer längerfristigen Zielperspektive findet Kooperation/Teilintegration nach dem Verfahren „Versuch und Irrtum" statt. Interessen, Bedürfnisse, Funktionen und Aufgaben suchen sich adäquate Organisationsformen. Man nä45 46

Frantz, Föderalismus, S. 326. Frantz, Föderalismus, S. 443.

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hert sich Europa pragmatisch, ohne zu wissen, welche Gestalt es am Ende haben soll. Die Frage, wie wollen wir morgen in Europa leben, wird erst gar nicht gestellt.

V. Die Vereinten Regionen Europas - ein Föderalismus neuer Art Europa heute leidet unter zwei fundamentalen Defiziten: zum einen unter einer fehlenden Partizipation seiner Bürger, zum anderen unter dem fehlenden Diskurs seiner Finalität. Können wir diese Defizite beheben, so hat Europa eine Perspektive mit einem Föderalismus neuer Art. Die zunehmende Demokratieverdrossenheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union findet auch und besonders ihren Niederschlag in der abnehmenden Beteiligung der Bürgerinnen bei den Europawahlen. Demokratie wird nach wie vor wesentlich als Herrschaftsform empfunden und organisiert. Die sogenannte Volkssouveränität reduziert sich auf die Ausübung des Wahlrechts alle vier bis fünf Jahre. Das Volk als Souverän schließt quasi einen Vertrag, den es erst nach vier bis fünf Jahren kündigen kann. Während der Vertragsdauer wird erwartet, dass das Volk sich möglichst nicht in die Regierungsgeschäfte einmischt. Anders bei der Demokratie als Lebensform. 47 Hier ist Einmischung geradezu Prinzip. Dem Menschen wird die Fähigkeit zugetraut, sein Leben selbst zu bestimmen. Maßstab und Grenze der Selbstbestimmung ist die Selbstbestimmung der Anderen. Die Lösung der Probleme erfolgt betroffenheitsnah. Partizipative Demokratie ist nur in einer kleinräumigen, lokal-regionalen Gesellschaftsordnung möglich. Bezogen auf das von uns vertretene föderative Europamodell, führt dies zu einem regionalen Demokratieansatz, einem gelebten Föderalismus von unten mit einer bürgernahen, von der Basis kommenden subsidiären Kraft, zu einer kleinräumigen, lokalregionalen Gesellschaftsordnung, einer direkten partizipativen Demokratie, zu betroffenheitsnahen Problemlösungen, kultureller Autonomie usw. Wir müssen in einem zukünftigen Europa von den gleichmacherischen, ineffektiven, allgemeinen, nicht auf regionale Bedürfnisse zugeschnittenen Entwicklungen einer Zentralgewalt weg - und hin zu überschaubaren, anpassungsfähigen, flexiblen, kreativitätsfördernden Einheiten kommen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Zentralstaatliche, von den Bürgern als fremd empfundene Macht wird begrenzt, 47 Im weiteren folge ich meinem Artikel: „Ein regional/föderales oder gar kein Europa" in: d'Lëtzebuerger Land, Jahrgang 48, (14.12.2001), S. 33.

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die demokratische Partizipation und damit der Wille zur konstruktiven Mitarbeit werden gestärkt, es ergibt sich eine höhere Problemverarbeitungskapazität - all dies stiftet mehr Identität und vergrößert die politische Stabilität. Wenn Europa Abschied nimmt von transnationaler, aber mittelfristig auch von nationaler Autorität - oder wie immer sich sonst Zentralgewalt manifestiert - und sich hinwendet zu regionaler Demokratie, die sich als Lebensform entwickeln muss, wird eine neue politische europäische Ordnung entstehen, die auch fähig zu einer eigenen Identität ist. Organisatorisch und strukturell basiert das neue Europa auf einem Dreiebenensystem. Dies passt nicht in die Vorstellungen von einem klassischparlamentarischen System wie es heute üblich ist. Die größten Abweichungen von den tradierten Systemen liegen nicht nur in der zusätzlichen gleichberechtigten Ebene der Regionen, sondern auch in der institutionellen und legitimatorischen Verfasstheit der Ebenen. Unseren heutigen Vorstellungen am nächsten ist das Völkerhaus. Hier versammeln sich pro angefangener Million Einwohner die gewählten Vertreter der Völker. In einer Zusatzklausel muss eingeräumt werden, dass jedes Land mindestens zwei Abgeordnete stellt (Minderheitenschutz). Solange es keine europäische Öffentlichkeit und keine grenzüberschreitenden Parteibünde gibt, kann die Wahl noch auf nationaler Ebene erfolgen. Allerdings sollte dies im Laufe der Zeit mit einer sich herausbildenden europäischen Identität überwunden werden. Mit dem Staatenhaus ist es schon komplizierter. Nach unseren Vorstellungen entsendet jeder Staat unabhängig von seiner Größe drei Vertreter in dieses Haus. Mit diesem Vorschlag haben wir das Prinzip der Gleichheit der Staaten zu Ende gedacht. In Zukunft würden sich dadurch Mehrheitsentscheidungen eher an Sach- als an Machtfragen orientieren. Eine Grundbedingung müsste allerdings sein, dass die Gemeinschaft sich aus Eigenmitteln finanziert, also Steuerhoheit erhält. - Während schon der Vorschlag eines Staatenhauses mit völlig gleichberechtigten Mitgliedern an der derzeitigen Machtfrage in Europa rüttelt, wird unsere Forderung nach einem Regionenhaus dies nicht weniger tun. In ein solches Haus werden jeweils zwei Vertreter jeder Region entsandt, unabhängig von ihrer jeweiligen Größe. - Eine progressive Einbindung der Regionen in den europäischen Entscheidungsprozess liegt langfristig im vitalen Interesse der Entwicklung. Unser Hauptargument ist ein demokratietheoretisches. Demokratie als Lebensform kann sich nur dort entwickeln, wo die Menschen nicht nur von Entscheidungen betroffen sind, sondern diese

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Entscheidungen unmittelbar und direkt beeinflussen können, mitverantwortlich in das politische Geschehen einbezogen sind. Dort, wo die Menschen nicht verwaltet werden, sondern sich weitgehend selbst verwalten, ist der Ort demokratischen Erlebens. Kleinräumige Unverwechselbarkeit, Aufgehobensein in solidarischen Gemeinschaften, diskursive Kommunikation und fairer Interessenausgleich sind die Voraussetzungen fur Politikakzeptanz. Der Bürger ist die Zentralinstanz der Demokratie. Die vermittelte Demokratie durch Parteien, die den Staat für ihre Zwecke instrumentalisieren, hat sich gründlich diskreditiert. - Wenn die Demokratie sich in die hier angedeutete Richtung entwickelt, direkt, postparlamentarisch, reflexiv, metaplural, dann entstehen Freiräume, die eine totale Vereinnahmung durch transnationale Prozesse, wie etwa die Globalisierung, verhindern können. Die Zukunft Europas liegt in seinen Regionen, mit der Subsidiarität als Strukturprinzip und der Gemeindeautonomie als Basisdemokratie. Wie sieht nun die Machtverteilung zwischen den drei Ebenen aus? Als Grundprinzip gilt, soviel Macht nach unten wie möglich, soviel Macht nach oben wie nötig. An zwei Föderalismuskonzepten wollen wir dies noch etwas verdeutlichen. So existiert für Ferdinand Graf Kinsky Föderalismus dann, „... sobald in einer politischen, wertschaffenden, gesellschaftlichen oder kulturellen Struktur mehrere autonome Gliedorganisationen existieren, die jedoch institutionell miteinander verbunden sind und zur Wahrung gemeinsamer Angelegenheiten Macht und Kompetenzen an gemeinsame Organe übertragen, sobald sowohl Einheit als auch Vielfalt in einem gewissen Gleichgewicht bestehen, sobald die Macht in einer komplexen Organisation sachgerecht verteilt ist, schließlich sobald autonome Gliederungen und Teilbereiche bei den Entscheidungen der Gesamtorganisationen mitbestimmen und dieselben kontrollieren". 48 Danach ist ein föderales politisches System durch vier Merkmale gekennzeichnet: 1. Institutionell miteinander verbundene autonome Gliedorganisationen übertragen Macht und Kompetenzen an gemeinsame Organe zwecks Wahrung gemeinsamer Interessen. 2. In einem solchen föderalen Gebilde sollte ein Gleichgewicht zwischen Einheit und Vielfalt bestehen.

48

S. 16.

Ferdinand Graf Kinsky, Föderalismus. Ein Weg aus der Europakrise, Bonn 1986,

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3. Die Macht muss sich in einer komplexen Organisation sachgerecht verteilen. 4. Die autonomen Gliedgruppen und Teilbereiche sind durch Mitbestimmung und Kontrolle in Entscheidungen der Gesamtorganisation eingebunden. Denis de Rougemont geht von sechs Leitmotiven des Föderalismus 49

aus: 1. Auf jegliche Form von Hegemonie ist zu verzichten. 2. Auch gilt es, auf das Denken in Systemen zu verzichten. 3. Der Föderalismus kennt keine Minderheitenprobleme, da Minderheiten einen Wert an sich darstellen, unabhängig von ihrer Quantität, also bis zu einem gewissen Grade autonom sind. 4. Nationale Eigenheiten sind nicht aufzulösen, vielmehr werden sie erhalten. 5. Föderalismus zeichnet sich durch Komplexität und nicht durch Einheitlichkeit aus. 6. Föderalismus lebt vom Engagement von Personen und Gruppen, die sich jeder Steuerung durch das Zentrum widersetzen. „Das Ziel der Föderalisten ist eine non-zentrale Ordnung, eine Staffelung des Staates auf mehreren Ebenen entsprechend der Geographie der Probleme. Die Macht muss geteilt und diffundiert werden, sodass am Schluss ,die Macht überall ist, selbst im Zentrum'" (A. Marc). 50 Zusammenfassend halten wir fest: Der Nationalstaat hat seine historische Funktion erfüllt. Er ist heute einer der Hauptstörenfriede im europäischen Integrationsprozess. ' Hierbei verstehen wir unter Integration einen Prozess, bei dem zwei oder mehr politische Akteure einen neuen politischen Akteur bilden (Johan Galtung). Danach ist Europa unter Wahrung kultureller Vielfalt auf der Grundlage gemeinsamer Zielsetzungen und Werte zu vereinigen. Allerdings ist dies nur erreichbar, wenn man Konsens darüber findet, welche Gestalt Europa einmal haben soll. Voraussetzung dafür ist die Aufgabe nationalstaatlicher, machtpolitischer Souveränität und die Unterwerfung unter einen gemeinsamen europäischen Willen. Dieser bildet sich aus der Schnittmenge vieler Regionalwillen. Ohne die Herausbil49 Vgl. Denis de Rougemont, L'attitude fédéraliste (1947), in: Michael Leicht, Föderalismus. Welches Modell für Europa?, in: Schweizer Monatshefte, Jahrgang 77, H. 5, S. 19 ff. (Zürich 1997). 50 Leicht, Föderalismus, S. 20.

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dung eines Gemeinschaftsbewusstseins bleibt Europa - wie schön es auch geredet sein mag - wie ein Haus ohne Mörtel. Europa von oben ist krisenanfällig, wie wir oft in der fünfzigjährigen Geschichte europäischer Bemühungen um Einigung erlebt haben. Seine Chance hat es von unten, wenn es den Bedürfnissen der Menschen in Bildung, Kultur, Freiheit, sozialer Sicherheit, Schutz von außen entgegenkommt, wenn auch der „normale" Arbeitnehmer das Gefühl hat, ihm gehe es ohne die Europäische Union schlechter. Der Bürger/die Bürgerin ist die Zentralfigur der Demokratie. Dies kann er/sie aber nur im unmittelbaren Umfeld in der Gemeinde, in der Region sein. Der Mensch als ein überstaatliches Wesen ist in seiner Region, wo er direkt von politischen Entscheidungen betroffen ist, selbst Träger der Politik. Die regionale Zivilgesellschaft ist ihre eigene Herrin über die politisch notwendig zu treffenden Entscheidungen. Im Idealfall ist jeder Bewohner einer Region auch gleichzeitig aktiver Politiker, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen. Region und Person, Regionalismus und Subsidiarität stehen in einem unauflöslichen Bedingungsverhältnis zueinander. Jede Person mit eigener Identität lebt in einer spezifischen Region mit eigener Regionsräson. Die jeweilige Region hat ein bestimmtes Daseinsgesetz, nach dem sie angetreten ist, bestimmte Lebensbedingungen entwickelt hat, die sie unverwechselbar zu der spezifischen Region machen, die sie ist. Dies kann sich beziehen auf räumliche Ausdehnung, auf eine bestimmte soziale und politische Verfasstheit, auf eine Volks- resp. Stammeszugehörigkeit, auf eine besonders erbrachte Leistung u. ä. In Grenzen ist diese Regionsräson veränderbar. In bestimmtem Maße lässt sie Expansion und Schrumpfungen zu. Eine solche Besinnung auf die eigene Regionsräson, integriert die jeweiligen sprachlichen und kulturellen Besonderheiten und die Vielfalt von Lebensentwürfen zu einem unverwechselbaren Profil. Sie setzt den anonymen und intransparenten Strukturen der jetzigen Europäischen Union ein lebendiges Regionsgefühl entgegen.51 Wir verstehen also unter Regionsräson die vergesellschaftete Staatsraison als theoretischen Überbau eines Europa der Regionen. Sie bedeutet, unter Zugrundelegung des Strukturprinzips Subsidiarität auf subnationaler Ebene, also in einem verfassungsmäßig abgesicherten föderativen europäischen Gefüge, nach eigenen Regeln den Regionszweck zu be51

Vgl. Winfried Böttcher, Mehr Demokratie für Europa wagen durch Regionalismus in: ders. (Hrsg.), Europäische Perspektiven, Münster 2002, S. 56.

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stimmen. Die jeweilige Region lebt nach eigener Räson unter Einsatz ihrer endogenen Potentiale und unter Berücksichtigung ihrer eigenen Besonderheiten in kultureller, sozialer und in weitestgehend politischer Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung. Eine Föderation neuer Art als ein Europa der Vereinten Regionen wirkt als lebendiger Regionalismus, nahe beim Alltag der Menschen, der möglichst mit solidarischer und demokratischer Beteiligung aller Betroffenen die anfallenden Probleme zu lösen vermag. Das Europa der Zukunft wird regional, föderal, ein Volk von europäischen Völkern 52 oder es wird gar nicht sein.

52 In Anlehnung an Friedrich von Schelling, der Deutschland als ein „Volk von Völkern" bezeichnete, zit. nach Martin Schraven, Philosophie und Revolution. Schellings Verhältnis zum Politischen Revolutionsjahr 1848, Stuttgart 1989, S. 114.

Die Europäische Union: von der Handelszur Interventionsmacht? Von Ernst Kuper Nicht erst das Scheitern der Volksabstimmungen über die Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrages (EVV) in Frankreich und in den Niederlanden, also in Kernländern der alten EG/EU, hat die Europäische Union in eine kritische Lage versetzt, weil dieses Integrationsinstrument - von Föderalisten schon als „Verfassung" im Verständnis der Nationalstaaten deklariert - offensichtlich nicht die ihm zugedachte Funktion einer institutionellen Vertiefung der EU erfüllen kann. Dieser Anlass kann allein nicht ausreichen, die tiefe Unsicherheit über die Zukunft der Europäischen Union, die bei Regierenden und in der Bevölkerung einiger Mitgliedstaaten ausgebrochen ist, zu erklären. Da werden der Europapolitik Reflexionsphasen verordnet, es soll ein neues Überdenken der Ziele und der Zielfolgen geben. Viele Probleme stehen auf der Tagesordnung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs und des Europäischen Parlaments. Diese betreffen einmal hochrangig abstrakte Zielprojektionen um die Finalität der Europäischen Union und andererseits pragmatisch, aber sehr kontrovers beispielsweise die Finanzierung der Europäischen Union in den Jahren 2007 bis 2013 durch die Mitgliedstaaten.1 I. Die Frage nach dem Weg, den die Entwicklung Europas nehmen soll, ist nur auf den ersten Blick der Aktualität geschuldet. Entsprechende Diskussionen bestehen seit der Gründung der Europäischen Bewegung 1948 und der Institutionalisierung des Europarates, d. h. der Gemeinschaft der demokratischen Rechtsstaaten westlichen Musters in einer internationalen Organisation. Es gibt zu diesen Fragen eine Unzahl politi1

Stefan Voigt, Ein neuer Anlauf für die Europäische Union. Lehren aus dem gigantischen Mißerfolg des Verfassungsentwurfs, FAZ vom 29.10.2005, S. 15.

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scher und wissenschaftlicher Publikationen, die hier zum Teil als historische Schriften erscheinen würden, längst überholt in Grundannahmen, Interpretationen und Erwartungen, während andere trotz eines gewissen Publikationsalters hochaktuelle Fragestellungen verfolgen und auf die Spekulation über die Zukunft Europas sehr anregend wirken können. Greifen wir zwei Bände heraus, zuerst die von dem Historiker und Publizisten Walter Laqueur 1992 verfasste Monographie „Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945-1992"2. Danach einen 1977 erschienenen Sammelband von Aufsätzen damals aktiver Politiker aus verschiedenen Staaten mit dem Titel „Welches Europa?" 3. Laqueur ordnet die Integration Europas in die historische Entwicklung der nationalstaatlichen Interessenfelder der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein, beachtet dabei besonders die Bedeutung der Entwicklungen im Ost-West-Konflikt für die Dynamik der europäischen Integrationsprozesse und gelangt bereits damals zur heute sehr aktuellen Frage einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Sammelband zum Thema „Welches Europa?" wollte in der Phase der Eurosklerose kurz vor den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament von 1979 Europa eine Perspektive „zurückgeben" und der Europamüdigkeit in der Bundesrepublik entgegenwirken. Im Vorwort der Herausgeber wird festgehalten, die Einigung Europas sei nie ein Schönwetterprogramm gewesen, sondern stets eine Erfindung der Not. Krisenlagen der Einzelstaaten hätten der Vereinigung ihren Sinn gegeben.4 Idealismus allein helfe nicht weiter, Wohlstand bleibe aus, wenn der politische Wille zur Gemeinschaft versage. Der gegenwärtige französische Präsident, Jacques Chirac, schrieb damals (1977), Europa müsse eine neue Dynamik erhalten, aber dies in Grenzen: „Nur die Staatsoberhäupter und Regierungschefs, die die Autorität der einzelnen Mitgliedstaaten verkörpern, können das europäische Gebilde formen und beleben. Zunächst wird Europa ein Staatenbund sein, der die Identität und die Souveränität der einzelnen Staaten respektiert." 5

2

Walter Laqueur, Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945-1992, München 1992. Die Originalausgabe erschien übrigens unter einem weniger machtorientierten Titel: Europe in our Time. 3 Gerhard Meyer-Vorfelder!Hubertus Zuber (Hrsg.), Welches Europa? Stuttgart 1977. 4 Meyer-Vorfelder!Zuber, Welches Europa?, Vorwort der Herausgeber, S. 9 f. 5 Jacques Chirac, Frankreich und Europa, in: Meyer-Vorfelder/Zuber (Hrsg.), S. 190.

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Diese Formulierung Chiracs beschreibt in seiner politischen Zielsetzung ein wesentliches Element der Fortentwicklung der europäischen Einigung als Elitenprojekt. Ist dieser Weg mit dem erwähnten negativen Ausgang der Volksabstimmungen zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden an sein Ende gelangt - wie einige furchten? Diese Frage lässt sich wissenschaftlich kaum beantworten. Allenfalls kann eine Problemanalyse der wesentlichen Faktoren, welche die strukturellen Voraussetzungen fur die Zukunft der Integration bilden, erfolgen. Diese soll sich auf eine Untersuchung der internationalen Konstellation und der inneren Situation, in der sich die Europäische Union als Akteur befindet, stützen; denn um diese geht es in der Regel, wenn heute von Europa gesprochen wird. Nur, an dieser Stelle beginnen die Fragen: Gibt es diesen politischen Akteur Europäische Union - verstanden als geschlossenes politisches System vergleichbar dem traditionellen Nationalstaat - überhaupt, oder muss man der EU diesen Charakter absprechen? Oder andersherum gefragt: Lässt sich Europa auf die Europäische Union reduzieren? In der Literatur erscheinen immer wieder normativ wirkende Perspektiven wie: „die künftige EU muss ..." oder „die EU als Träger der europäischen Einheit wird ...". Wenn diese schon in den Äußerungen rein sprachlich erkennbare Unklarheit über das Subjekt der Untersuchung besteht, muss hier vor Beginn weiterer Auseinandersetzungen eine Klärung erfolgen. Die juristische Literatur hat sich für eine deutliche Definition der Situation entschieden, indem sie vom Charakter sui generis der Europäischen Union europarechtlich zwischen Staats- und Völkerrecht spricht. Nur ist damit für die Politikwissenschaft wenig gewonnen. Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Maastrichter Vertrag, die Europäische Union sei ein Staatenverbund, betont zu Recht die Bedeutung der Staaten für die Entscheidungsstruktur der Europäischen Union, nimmt aber wesentliche Elemente nicht auf, nämlich die Elemente der Supranationalität, welche die Europäische Union von allen vorausgehenden Staatenbünden unterscheidet, wie die direkte Wirksamkeit des in den Institutionen der Europäischen Union generierten EU-Rechts in den Mitgliedstaaten bis hin zu den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH).

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II. Traditionell wird in der Politikwissenschaft das Verständnis der Europäischen Union durch die grundsätzliche Unterscheidung von Föderalisten und Unionisten geprägt. Diese Unterscheidung kann schon auf die Europa-Politik seit den 1920er Jahren angewendet werden. Die Föderalisten gehen davon aus, dass der Prozess europäischer Integration kurz-, mittel- oder langfristig zur Entstehung eines europäischen Bundesstaates etwa nach dem Vorbild der USA, also zu einer neuen Regional- oder gar Weltmacht Europa fuhren wird oder sogar fuhren muss. Die Unionisten betonen die Bedeutung der Nationalstaaten im Prozess der Einigung. Für sie ist die Europäische Union letztlich eine internationale Organisation, die auf der Grundlage gemeinsamer Ziele und Werte auch politisch und rechtlich so stark „verdichtet" oder „verflochten" ist, dass die Mitgliedstaaten nicht mehr eigenständig handeln können, ohne die historischen Traditionen, die politischen Konzepte und die aktuellen Entscheidungen der Partner einzubeziehen.6 Die oben erwähnte Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes im Urteil zum Maastrichter Vertrag von 1992, die Europäische Union sei ein Staatenverbund, scheint eher die unionistische Interpretation zu stützen. Auch Föderalisten gestehen zu, dass die Europäische Union zumindest noch kein Bundesstaat ist. Sie erheben den Vorwurf, die egoistische Politik der Mitgliedstaaten stünde einer Vollendung der Einheit entgegen. Die Unionisten wollen dagegen, dass die EU-Staaten weiterhin ihre Nationalinteressen im Einigungsprozess verfolgen können. Beide Interpretationen gehen davon aus, dass die Grundstruktur der EU durch ihren Charakter als internationales System bestimmt wird. Gegenwärtig wird das Ineinandergreifen beider Sichtweisen in der Benennung des vom Europäischen Verfassungskonvent ausgehandelten - völkerrechtlichen „Vertrags über eine Verfassung für Europa" 7 als „Verfassung für Europa" deutlich. Durch diese Benennung soll eine Analogie zu den Verfassungen der Nationalstaaten in Europa hergestellt werden. Der Verfassungsvertrag kann erst in Kraft gesetzt werden, wenn alle Mitgliedstaa6 Der britische Premierminister Tony Blair sieht die gewachsene Interdependenz zwischen den Nationalstaaten, die wechselseitige Abhängigkeit als Grundlage der Notwendigkeit an, Aussenpolitik entgegen traditioneller Auffassungen nicht auf die nationalen Interessen zu stützen, sondern globale Entwicklungen zu berücksichtigen (Tony Blair, Idealismus wird zur Realpolitik, in: FAZ vom 30.5.2006, S. 10). 7 Vertrag über eine Verfassung für Europa. Einführung - Text der Verfassung - Protokolle und Erklärungen, Köln 2004.

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ten ihn ratifiziert haben. Die innenpolitischen Bedingungen in den Niederlanden und Frankreich haben bisher diesen Prozess gestoppt. Aber auch die eventuell noch zu erwartende Annahme des Verfassungsvertrages würde nichts am internationalen Charakter der Europäischen Union ändern: der Europäische Verfassungsvertrag (EVV) konstituiert keine Europäische Union als Bundesstaat.

III. Wenn die Nationalstaaten mit ihren divergierenden Nationalinteressen gewissermaßen die Träger der Europäischen Union sind, dann stellt sich nicht nur die Frage, was diese Union dauerhaft zusammenhält, sondern vor allem auch die, was die Mitgliedschaft so attraktiv macht, dass bisher kein Mitgliedstaat ausgeschieden ist, dass stattdessen im Verlauf der historischen Entwicklung viele Staaten Mitglieder geworden sind und auch weiterhin Kandidaten EU-Mitglieder werden wollen - wie Bulgarien, Rumänien bis 2007/8. Kroatien, Mazedonien und die Türkei besitzen bereits den Kandidaten-Status. Die Ukraine wie Georgien, Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus haben angekündigt, Mitglieder werden zu wollen. Andere Staaten, die politisch selbständig bleiben wollen, wie die Schweiz und Norwegen, haben sich vertraglich sehr eng mit der EU verbunden. Wenn man mit der vorherrschenden Theorie der Realistischen Schule der Lehre von den Internationalen Beziehungen8 davon ausgeht, dass die Nationalinteressen die Außenpolitik der Nationalstaaten bestimmen und daher die Ziele der Mitgliedstaaten in der EU zueinander in Spannung stehen können, dann ist dieses Phänomen besonders deshalb erklärungsbedürftig, weil die Politikbereiche, in denen Integration stattfindet, bis heute beständig ausgeweitet wurden und damit auch die Zahl der potentiellen Konfliktfelder: Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die die Politik im Montansektor vergemeinschaftete und grundlegende Institutionen schuf, die den Einigungsprozess getragen haben, fortgesetzt mit der Europäischen Atomgemeinschaft, die besonders den Kreislauf des Nuklearmaterials und seine Verwendung kontrolliert, über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur Wirt8

Diese Richtung der Lehre von den Internationalen Beziehungen stützt sich primär auf das Werk von Hans J. Morgenthau, Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963.

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schafts- und Währungsunion. Ein qualitativ neuer Sprung vorwärts begann 1973 mit der Einbeziehung einer kooperativen Außenpolitik in den Gemeinschaftsprozess, später auch der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch der Umweltpolitik, heute bis hin zu Bereichen der Innen- und Justizpolitik. - Letztere sind traditionelle Kernbereiche nationalstaatlicher Politik und Ausdruck der nationalen Souveränität von Staaten. Sichtet man die Vielfalt der hier entstehenden Interessenlagen, dann kann man bestimmte Grundwerte herausfiltern, welche die Tragfähigkeit des Integrationsprozesses trotz aller Divergenzen gesichert haben: Schon die Formulierungen des Schuman-Planes, der zur Entstehung der Montanunion führte, zeigen drei Werte: Frieden konkret sichern, Wohlfahrt schaffen, Demokratie erhalten und - so ist zu ergänzen - die Hegemonie eines Staates oder einer Staatengruppe in der Gemeinschaft verhindern. Robert Schuman, seinen Beratern und den damaligen politischen Führungspersonen der Christdemokraten in Italien und Deutschland ging es darum, militärische Auseinandersetzungen zwischen den Staaten nach der als tief traumatisch erlebten Zeit des „Europäischen Bürgerkriegs" 9 unmöglich zu machen, und zwar nicht durch feierliche Deklarationen, wie den zahnlosen Kriegsächtungspakt von 1926 (Briand-Kellogg-Pakt), sondern indem die damals für die Kriegsindustrie besonders wichtige Montanindustrie einer gemeinsamen internationalen Verwaltung unterstellt wurde. An die Stelle der Repression Deutschlands als Mittel französischer Sicherheitspolitik trat die Kontrolle durch Integration in gemeinsamen Organen. Damit konnte der von den USA auf der Grundlage des Marshall-Planes eingeleitete wirtschaftliche Wiederaufbau Europas im Rahmen der 1948 gegründeten Organization for European Economic Cooperation (OEEC) abgesichert werden. Die 1949 gegründete North Atlantic Treaty Organization (NATO) diente als Seitenstück der OEEC zur sicherheitspolitischen Stabilisierung dieser Entwicklung gegenüber den Unwägbarkeiten des seit 1946 sich vehement verschärfenden OstWest-Konflikts im euro-atlantischen Bereich. 10

9

In der anglo-amerikanischen Literatur erscheint die Zeit vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges häufig als der Europäische Bürgerkrieg. 1 Die USA haben im Unterschied zu der besonders seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa vielfach an exponierter Stelle vertretenen Auffassung offiziell das Einigungsprojekt nicht als entstehende Konkurrenz, sondern als Kooperationsprojekt

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Freilich sollte die Bedeutung der EGKS unter ökonomischen Aspekten der weiteren Entwicklung nicht überbewertet werden, denn es kam sehr schnell zu einer Überproduktion an Stahl, und in vielen Bereichen wurde die zuvor unverzichtbare Kohle durch Erdöl substituiert. Die notwendigen politischen Maßnahmen zur Begleitung der hier stattfindenden Umstrukturierungsprozesse durch Fortbildung der Freigesetzten und den Ausbau anderer regionaler Arbeitsstellen konnte innenpolitisch weitgehend konfliktfrei verlaufen, weil die Verantwortung dafür nicht mehr bei der jeweiligen nationalen Regierung lag, sondern erst in Luxemburg, dann in Brüssel - nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Fusionsvertrag für die Organe der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und Europäische Atomgemeinschaft. Diese Verlagerung der Verantwortung lag im Interesse der nationalen Regierungen. Hieraus haben die damaligen Regierungen schnell ihre Lehren gezogen. Der Agrarsektor, besonders für Frankreich, aber auch für einige andere EGKS-Staaten ein Bereich mit hohem Potenzial an sozialen Unruhen, wurde aus der nationalen Verantwortung genommen und auf der Grundlage des EWG-Vertrags zu einem Kernstück europäischer Politik. Entsprechendes kann für andere wichtige Aufgabenbereiche der EU gesagt werden: So machte beispielsweise die permanente Krise ihrer nationalen Währungen es Frankreich, Italien und Belgien leicht, auf diese zugunsten einer europäischen zu verzichten, wenngleich Frankreich gern weiterhin die Währungspolitik als Instrument der Wirtschaftspolitik genutzt hätte. Die Europäische Union ist trotz aller Integrationsfortschritte kein einheitlicher Akteur geworden, wie es früher die beteiligten Mitgliedstaaten waren. Längst gibt es trotz aller gegenteiligen Beschwörungen, die Einheit zu wahren, ein Europa der variablen Geometrie: Schon vor Beginn der EWG waren die Benelux-Staaten Mitglieder einer sehr engen Wirtschaftsunion. Dänemark kennt dagegen sehr viele Ausnahmeregelungen von Vertragsbestimmungen. Norwegen ist - obwohl nicht EU-Mitglied Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes der EU und dem Vertrag von Schengen assoziiert. Seine Außengrenzen sind für den Personenverkehr Außengrenzen der Europäischen Union. Dasselbe gilt für Island. Die Schweiz betreibt eine Europapolitik à la carte, und die Europäische Uniaufgefasst. Vgl. Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im Integrationsprozess, 1945-1958, Baden-Baden 2000.

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on akzeptiert dies, indem sie Einzelverträge mit ihr zur Regelung bestimmter Politikbereiche schließt. IV. Das Muster, schwierige Politikbereiche auf nationalstaatlicher Ebene dem Arbeitsbereich der Europäischen Union zu überstellen, wirkt sich auf die nationalen und europäischen Diskussionen über eine Politik aus, die notwendig ist, um den Herausforderungen der ökonomischen und währungspolitischen Globalisierung begegnen zu können, die von internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation, dem Weltwährungsfonds und der Weltbank beständig vorangetrieben wird. Die nationalen Steuerungsversuche könnten, so die vielfach vertretene These, nicht mehr greifen. Die EU als großer Wirtschaftsraum könnte aber den geeigneten Rahmen bilden, wenn die Einigung auf gemeinsame Politik gelänge. So weit trägt der Konsens zwischen den Mitgliedstaaten. Die Einigung auf eine gemeinsame Politik kann in dieser Frage auf der Grundlage des EG-Vertrages aber nur in einer Richtung erfolgen - dadurch, dass der eigene Markt durch Abbau von Regulierungen und defensiven Maßnahmen noch effektiver und auf Wohlfahrt orientiert arbeiten soll. Entsprechend argumentieren die Förderer einer Dienstleistungsrichtlinie für die EU in Kommission und Europäischem Parlament: Gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsgewinne würden für die Europäische Union entstehen, wenn die Dienstleister in jedem Land der EU nach den Regeln ihres Landes arbeiten könnten. Es werde ein Wettbewerb um den wirtschaftlich günstigsten Standort für Unternehmen in der EU eintreten. Deutlich wird in dieser Argumentation, dass die EU für sich in bestimmten Bereichen die Anforderungen der Globalisierung vorwegnimmt. Dagegen hat in der EVV-Volksabstimmung in Frankreich das Bild des billigen Fliesenlegers aus Polen, der französische Arbeitsplätze zerstört, zum negativen Votum beigetragen. Trotzdem verfolgen die Regierungen der Mitgliedstaaten weiter das Verfassungsprojekt. 11 Wenn man diese widersprüchliche Entwicklung im Blick hat, dann wird deutlich, dass die Europäische Union tendenziell selbst die Prinzipien der Globalisierung fordert; denn was in ihrem Rahmen steuernd geschehen kann, ist 11

Einen entsprechenden Beschluss fassten sie auf der Aussenministerkonferenz am 28. Mai 2006 in Wien {FAZ vom 29.05.06, S. 2: EU-Außenminister: Das Verfassungsprojekt lebt).

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der Aufbau einer Marktkultur, hergestellt in Konsensfindungsprozessen, wie sie traditionell die Entscheidungen in der EU begleiten. Zwar ist es gegenwärtig eher unwahrscheinlich, dass es in dieser Sache durch Abbau nationaler Regelungen zu einer Einigung für alle Mitgliedstaaten der EU kommt, da vor allem Frankreich, das in nationalwirtschaftlichen Kategorien denkt, defensive Positionen zur Abwehr der negativ gewerteten Einflüsse der Weltwirtschaft mit protektionistischen Maßnahmen aufbauen will. Diese Haltung dürfte in der Europäischen Union nicht durchsetzbar sein. So denkt die britische Regierung unter Premierminister Blair eher daran, als große Handelsmacht den Rückhalt der EU als Faktor der Stärke für eine offensive Politik zum Abbau von Protektionismus weltweit zu nutzen. Generalisierend stellt Wolfgang Knöbl zu diesem Problem fest: „... auf EU-Ebene erfolgten Eingriffe in die Sozialpolitik der Länder mit dem Ziel der Durchsetzung freier Märkte, Eingriffe, die dann tendenziell eher soziale Sicherheiten abbauten - nicht zuletzt auch deshalb, weil auf transnationaler Ebene die Kapitalseite Vorteile hat und Verteidiger einer eher traditionellen Sozialpolitik hier allzu schnell ins Hintertreffen geraten". 12 Damit spricht Knöbl an, dass im Gefüge der EU partikulare Interessen institutionell gesichert vertreten sind, die im Gefüge der Komitologie 13 wesentlichen Einfluss besitzen, während es nicht gelungen ist, den Einfluss der sozialen Kräfte, die für die Entstehung von politischen Gesamtkonzepten verantwortlich sind, wie politische Parteien und Parlamentsfraktionen, auf europäischer Ebene wirksam aufzubauen und zu sichern. Eine europäische Öffentlichkeit, welche die Tagesordnung der europäischen Politik mitbestimmt, kann nur nach und nach mit Hilfe der europäischen Parteienbünde und der aus ihnen hervorgegangenen europäischen Parteien geschaffen werden. 14

12 Wolfgang Knöbl, Europäische Sicherheit aus soziologischer Perspektive, in: Franz Kernic!Gunther Hauser (Hrsg.), Handbuch zur europäischen Sicherheit, Frankfurt a. M. 2005, S. 34. 13 Vgl. Annette Elisabeth Töller, Komitologie. Theoretische Bedeutung und praktische Funktionsweise von Durchführungsausschüssen der Europäischen Union am Beispiel der Umweltpolitik, Opladen 2002. 14 Vgl. Ernst Kuper, Towards a European Political Public - The Role of Transnational European Parties, in: European View 2006. Ernst Kuper/Uwe Jun (Hrsg.), Nationales Interesse und integrative Politik in transnationalen parlamentarischen Versammlungen, Opladen 1997.

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V. Charakterisierte sich die EWG und in ihrer Folge anfangs auch die EU als Handelsmacht ohne die sicherheitspolitischen Ambitionen einer Weltmacht - und diese Selbstdefinition wurde außerhalb der EWG/EU akzeptiert - , so wandelt sich das Selbstverständnis in den letzten Jahren zunehmend. Bis zum Ende des Abschreckungsfriedens - bis zum Zerfall der kommunistischen nationalen und internationalen Herrschaftssysteme gegen Ende der 1980er Jahre - konnte Westeuropa auf den Schutz der USA bauen. Die enge Kooperation war im Rahmen der NATO gesichert. Im Rahmen der KSZE glaubte man sich zudem vor unerwünschten Entwicklungen im Osten Europas schützen zu können. Beim Zerfall des alten Jugoslawien wurde jedoch allseitig sichtbar, dass die Institutionen des integrierten Europa Bürgerkriege und sogenannte ethnische Säuberungen, Vertreibung und Unterdrückung in Südosteuropa nicht verhindern konnten. Die Einbeziehung der Vereinten Nationen half nicht, den Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten. Man war auf die Unterstützung der USA im Rahmen der NATO angewiesen, insbesondere um den Krieg in Bosnien-Herzegowina zu beenden und Friedensverhandlungen zu erzwingen. Genauso wichtig für den Wandel der EG/EU waren strukturelle Änderungen im internationalen System Europas, die durch den Fall der Berliner Mauer und die Herstellung der Einheit Deutschlands bewirkt wurden. Deutschlands „Dachstruktur" der vier Besatzungsmächte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden war, und bis zum Zwei-plusVier-Vertrag aus sicherheitspolitischen Interessen erhalten blieb, 15 wurde aufgegeben. Deutschland wurde fortan keine Sonderrolle mehr zugesprochen. Es blieb - nun als Gesamtstaat - in die NATO und die Europäische Union eingebunden. Der EU-Vertrag von Maastricht integrierte durch die zentrale Stellung der Wirtschafts- und Währungsunion Gesamtdeutschland noch tiefer in den europäischen Einigungsprozess. Die Skepsis Frankreichs und Grossbritanniens gegenüber der deutschen Einheit konnte überwunden werden. Eine wichtige Voraussetzung für eine sicherheitspolitische Annäherung in der EU schufen Großbritannien und Frankreich. In der Erklärung 15

Vgl. Gunther Hellmann (Hrsg.), Alliierte Präsenz und deutsche Einheit. Die politischen Folgen militärischer Macht, Baden-Baden 1994; sowie Werner Weidenfeld!Peter M. Wagner/Elke Bruck, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, Geschichte der deutschen Einheit Bd. 4.

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von Saint-Malo im Dezember 1998 näherten sich deren Positionen. Premierminister Blair erklärte, Großbritannien werde in der Sicherheitspolitik der EU-Doktrin folgen. Beide Staaten gaben gemeinsam eine Erklärung zur europäischen Verteidigung ab, in der die Stärkung der militärischen Handlungsfähigkeit der EU gefordert wurde. 16 Diese Forderung entsprach damals durchaus dem Interesse der USA an einem stärkeren Beitrag der Europäer zur Sicherheitspolitik. Am Ende der 1990er Jahre setzten unter den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat Überlegungen zur Schaffung einer militärpolitischen Komponente der Europäischen Union ein. Es sollt eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) geben und die Institutionen dazu sollten geschaffen werden. Seit dem Vertrag von Maastricht war die sicherheitspolitische Komponente der EU in der Westeuropäischen Union (WEU) eingegliedert gewesen. Insgesamt hatte man dem Schutz der NATO vertraut. Nun ging es darum, in Kooperation mit der NATO die sicherheitspolitische Kooperation neu zu organisieren; denn nicht alle NATO-Mitglieder der EU arbeiteten in der WEU mit, so besaß etwa Dänemark nur einen Beobachterstatus. EU-Nichtmitglied Norwegen dagegen hatte sich als NATO-Staat der WEU assoziiert, um deren Aktionen mit tragen zu können. Außerdem war die Neutralität einiger Mitgliedstaaten zu beachten: die von Irland, Schweden, Österreich und zeitweise von Finnland. Diese Staaten haben jedoch das Solidaritätsprinzip, das in Sicherheitsfragen für sie in Konkurrenz zum Neutralitätsprinzip steht, für sich gelten lassen, um den Aufbau einer gemeinsamen ESVP nicht zu behindern. Die „sicherheitspolitischen Störungen" aus dem internationalen Umfeld der EU besonders in Südosteuropa, aber auch an anderen Stellen der Welt 1 7 haben dazu geführt, dass die militärische Sicherheitspolitik zu einem Bestandteil der Europäischen Union geworden ist. Besonders wirksam waren der Schock des 11. September 2001 und die Folgen der IrakInvasion. Europäische Mitglieder der NATO beteiligten sich an der USgeführten coalition of the willing , während alte EU-Mitglieder diesen Krieg zu verhindern suchten. Hatte schon das Übergehen der NATO durch die USA bei der Afghanistan-Invasion die Europäer düpiert, so 16 Marion Loinger, Europäische Integration und die Idee der GASP und ESVP, in: Kernic/Hauser (Hrsg.), Handbuch, Frankfurt a.M. 2005, S. 74. 17 Schon frühzeitig im Ost-Timor-Konflikt, später in Bezug auf Konflikte in der Demokratischen Republik Kongo.

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traf das entsprechende Vorgehen der USA beim Krieg im Irak noch tiefer das Selbstbewusstsein der europäischen Staaten. Er drohte, die entstehende sicherheitspolitische Kohäsion der EU zu sprengen: Deutschland und Frankreich - im Verbund mit Russland - lehnten eine von den USA und Großbritannien geforderte Intervention im Irak ab und traten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dagegen ein. Während der Verhandlungen gab es dann den sogenannten Brief der Acht (Staatschefs aus Nord-, Mittel- und Osteuropa, die die Intervention unterstützten). Der Bruch, nicht nur in der NATO, sondern auch in der Europäischen Union war unübersehbar.

VI. Zur Überwindung dieser kritischen Situation erhielt der Hohe Repräsentant der EU für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, im Mai 2003 den Auftrag, den Entwurf für eine gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie zu erarbeiten. 18 Die EU-Mitglieder sollten in die Lage versetzt werden, Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und regionale Konflikte zu begegnen.19 Mit der Annahme dieses Papiers durch den Europäischen Rat im Dezember 2003 öffnete sich die EU ganz bewusst den politischen Problemen und Konfliktfeldern der Welt, sie nahm diese als Bedrohung ihrer selbst wahr und streifte die Rolle der unbewaffneten Handelsmacht ab. Die Europäische Union wollte nun sicherheitspolitisch weltweit eingreifen können und gab sich eine Sicherheitsdoktrin, die in manchen Zügen der machtpolitisch orientierten US-Sicherheitsdoktrin ähnelt, aber doch auf anderen Grundlagen beruht und zu anderen Ergebnissen fuhrt. Die Konzepte der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) basieren auf den Prinzipien gemeinsamer Verantwortlichkeit, Prävention und militärischer und politischer Partnerschaft. 20 - Wie passt die Verfolgung dieser Prinzipien mit der Argumentation der ESS strategisch zusammen? a) Die Europäische Union als politische Union von 450 Millionen Menschen, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts der Welt produzieren, 18

Loinger, Europäische Integration, S. 82. Gunther Hauser, Die Sicherheitsstrategie der Europäischen Union, in: Kernic/Hauser (Hrsg.), Handbuch, S. 238. 20 Javier Solana, The European Strategy - The next steps? in: Chaillot Paper Nr. 75: European Security and defence. Core documents 2004, Vol. V, Paris 2005, S. 19. 19

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besitzt schon aufgrund dieser Größe und Stärke regionale und globale Verantwortlichkeiten. b) Stabilität und solide Staatsführung sind in der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union durchzusetzen. Es ist ein Ring sicherer Staaten um die EU zu schaffen. Aus diesem Grund sei die Lösung des Nahost-Konflikts auf der Grundlage der UNO-Sicherheitsresolution 1515 eine strategische Priorität der EU. c) Eine Stärkung der internationalen Ordnung durch Stabilisierung der internationalen multilateral arbeitenden Systeme, besonders der UNO, aber auch regionaler Organisationen wie der OSZE, ASEAN, Mercosur und Europarat, muss erreicht werden. Die transatlantischen Beziehungen werden als Teil des internationalen Systems bezeichnet, an dem die EU beteiligt ist. d) Die Bedrohungen, die von der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ausgehen, sind zu bekämpfen. Gegen den Terrorismus sollen die Instrumente kombiniert werden: nachrichtendienstliche Mittel und der Aufbau eines koordinierten militärpolitischen Rahmens, der in der Lage ist, in gescheiterten Staaten die gesetzliche Ordnung wiederherzustellen. Das auswärtige Handeln der Europäischen Union ist mit der Europäischen Sicherheitsstrategie präventiv angelegt. Sie müsse in der Lage sein zu handeln, „... bevor sich die Lage in Nachbarländern verschlechtert, wenn es Anzeichen für Proliferation gibt, und bevor es zu humanitären Krisen kommt" 21 . Dafür ist eine Strategie-Kultur von großer Bedeutung, „... die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Handeln fördert". Unter robustem Handeln hat man auch den Einsatz militärischer Mittel zu verstehen. Dazu werden eigene Kampfeinheiten aufgebaut, an denen sich auch Drittstaaten beteiligen können. Hinzu kommt eine europäische Gendarmerie-Einheit - eine Polizeitruppe mit militärischem Status, die sich im Aufbau befindet. Sie soll außerhalb der EU im Bereich zwischen militärischem Einsatz und Zivilschutz operieren. Es geht hierbei nicht nur um die Absicherung der EU und des um sie liegenden Ringes befreundeter Staaten als Raum des Friedens und der Demokratie; die Formel von der globalen Verantwortung wird vielmehr politisch als Fähigkeit interpretiert, in Krisenfällen weltweit auch militärisch eingreifen zu können. In dieser Perspektive baut Frankreich bereits 21

Hauser, Sicherheitsstrategie, S. 242.

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seine strategischen Seestreitkräfte für eine neue Generation von Trägersystemen aus.22 Während die US-amerikanische Administration die Bemühungen zur Selbstorganisation der Sicherheitspolitik im Rahmen der EU kritisch betrachtet und glaubt, dadurch könnte die NATO und damit der Einfluss der USA in Europa geschwächt werden, hebt das Strategiepapier, das die ESS entwickelt, die Bedeutung der USA für die europäische Politik hervor: sie seien unersetzbar. 23 Durch die ESVP werde die NATO gestärkt und nicht geschwächt. Zugleich hebt das Papier die Bedeutung der strategischen Partnerschaft mit der Russischen Föderation hervor. Die Betonung dieser Partnerschaft geht weiter als der Aufbau einer vertrauenschaffenden Sicherheitsstruktur in Europa, wie er noch zu Zeiten des Kalten Krieges 1986 von Senghaas gefordert wurde. 24 Es geht um den Aufbau fester Sicherheitspartnerschaften. Durch die Osterweiterung von 2004 würden sich die Chancen einer Kooperation zwischen EU und Russland stark erhöhen. 25 Die Wendung „feste, starke Sicherheitspartnerschaften seien die Voraussetzung eines effektiven multilateralen Systems" 26 soll - ohne dass dies kenntlich gemacht wird - die europäische Sicherheitspolitik von der der USA abheben. Solana definiert das effektive multilaterale System als eine auf festen Regeln beruhende internationale Ordnung mit gut funktionierenden internationalen Institutionen. Im Mittelpunkt dieses Systems stehen die Vereinten Nationen. Aber diese könnten ihre Rolle nur erfüllen, wenn Europa den Willen besitzt, sie zu stärken. Multilateralismus sei nicht ein Instrument der Weichen, sondern der Weisen. „Our Ambition is a Europe more active and more capable; an articulate and persuasive champion of effective multilateralism; a regional actor and a global ally." 2 7 Solana, und damit die EU, setzten sich von der Auffassung von US-Präsident Bush und seines Verteidigungsministers Rumsfeld ab, wonach die Mission die Koalition definiere und nicht um-

22

Hauser, Sicherheitsstrategie, S. 243. Aussage von Frankreichs Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie. 23 Javier Solana, Europe's partnership with the United States is irreplaceable, S. 21. 24 Dieter Senghaas, Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt a. M. 1986, S. 103 ff. 25 Solana, Europe's partnership, S. 21. 26 Solana, S. 20 f. 27 Solana, S. 21.

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gekehrt. 28 Es geht in den USA um Missionen, die wechselnde coalitions of the willing and able bilden können. Nicht nur um eine coalition of the waiting (NATO), 2 9 deren stabile Regeln verlangt hätten, die Nationalinteressen der Mitglieder zu berücksichtigen. Andererseits wird der Multilateralismus von den USA nicht verworfen. Er muss den eigenen Interessen dienen. Damit steht die US-Außenpolitik in einer ihrer Traditionslinien, für die Krasner schon in den 1980er Jahren forderte: Bring the state in! - nämlich die Staatsinteressen in die internationale Politik der USA. Es ist jedem Kenner klar, dass die EU eine entsprechende Außenpolitik nicht betreiben könnte, da sie für jede Aktion erst intern den Konsens zwischen den Regierungen finden müsste.

VII. Geht man zu den Anfängen des europäischen Integrationsprozesses zurück, die am Beginn des Beitrags aufgezeigt wurden, so erkennt man einen erheblichen Wandel in der Selbstdarstellung und Zielsetzung. Die Gemeinschaftsbildung von Staaten, die ihre gegenseitigen Feindschaften und Interessenunterschiede überwinden müssen, um gemeinsame Institutionen und Politiken zu realisieren, die sich am Leitbild einer Macht des Friedens und der Schaffung von Wohlfahrt durch Handel orientieren von Staaten, die das Bestehen von Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft bei ihren Mitgliedern voraussetzen, änderte sich in einer gewandelten internationalen Konstellation, ohne dass die bestehenden Ansprüche aufgegeben werden. Im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ist die Europäische Sicherheitsstrategie vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2003 beschlossen worden. Entsprechende Behörden zur Realisierung bestanden z. T. schon in Keimen, andere wurden neu gegründet oder ausgebaut. Die Entwicklung der ESVP steht regelmässig auf der Tagesordnung des Europäischen Rates. Bisher gab es bereits EU-Polizeiaktionen in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien sowie militärische Operationen in Mazedonien und in Afrika im Gebiet der Grossen Seen.

28

Donald H. Rumsfeld, Eine neue Art von Krieg, in: New York Times vom 27.9.2001. Olaf Theiler, Die NATO im Umbruch. Bündnisreform im Spannungsfeld konkurrierender Nationalinteressen, Baden-Baden 2003, S. 309. 29

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Die ESVP wurde angesichts der Herausforderungen in Südosteuropa beim Zerfall Jugoslawiens und in der Krise um eine Beteiligung der EUStaaten am Golfkrieg entwickelt. Beide Ereignisse bildeten den Katalysator für eine Annäherung der sicherheitspolitischen Interessen der EUStaaten. Jedoch ist dabei aus der EU kein Bundesstaat geworden, der als machtvoller einheitlicher Akteur agieren kann. Die Europäische Union ist eine von Fall zu Fall immer enger verdichtete und verrechtlichte internationale Organisation geblieben. Die immer enger werdende Interdependenz zwischen den Mitgliedern, die es nicht mehr ohne hohe Kosten erlaubt, auszuscheiden, zwingt sie zusammen und damit dazu, auch auf internationale Herausforderungen gemeinsam zu reagieren. Nicht nur das Europa der EWG/EU hat sich verändert, auch die Mitgliedstaaten selbst haben einen Wandlungsprozess vollzogen. Ihre Entscheidungsträger haben gelernt, in Konflikten, d. h. wenn eine ihrer nationalen Positionen bedroht ist, nicht mit einer eskalierenden Gegendrohung zu reagieren oder weich nachzugeben, sondern mit einer Antwort zu reagieren, die der Konfliktforscher Kenneth E. Boulding eine integrative Antwort zur Überwindung von Konflikten nannte.30 Es gibt ein Angebot zur Konfliktlösung, in dem beide Seiten sich wiederfinden können. Dieser Weg ist mit dem Initiativrecht der Kommission im internationalen System der Europäischen Union institutionalisiert. Darüber hinaus ist es für das Verständnis des Verhaltens der Mitgliedstaaten wichtig, dass ihre Regierungen gelernt haben, in funktionalen Gremien, die international besetzt sind, Politik zu gestalten, und dabei Verfahren anzuwenden, wie sie auch in der Arbeit nationaler Parlamente oder politischer Gremien wie beispielsweise dem Bundeskabinett in Deutschland verwendet werden. Die Übertragung derartiger Verfahren in die internationale Politik hat neue Wege friedlicher Konfliktaustragung in der internationalen Politik geschaffen. Deren Bedeutung kann hier nur mit dem Verweis auf die verheerenden Konflikte zwischen den Nationalstaaten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg oder in anderen Regionen der Welt hervorgehoben werden. Die Schaffung von Institutionen der effektiven Multilateralisierung hat den Staaten und ihren gesellschaftlichen Gruppen neue Wege eröffnet, auch die eigenen Interessen in 30 Kenneth E. Boulding , Toward a Pure Theory of Threat Systems; in: American Economic Review, Vol. LIII May 1963, No 2, Papers and Proceedings of the Seventy-fifth Annual Meeting of the American Economic Association, Menasha, Wisconsin, 1962, S. 424-434.

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den sich globalisierenden Strukturen zu verwirklichen. Staaten und Gesellschaften, die sich diesen Wegen nicht oder nur begrenzt öffnen, können viele Interessen nicht realisieren. Die gegen die politischen Systeme des effektiven Multilateralismus erhobenen Vorwürfe des Demokratiedefizits oder der Intransparenz der politischen und Verwaltungsprozesse, sind sicher an vielen Stellen berechtigt, hier sind noch neue Lösungen nötig. Andererseits ist in dieser Situation zu berücksichtigen, dass das bis zum Ersten Weltkrieg wirksame Prinzip der Geheimdiplomatie zwischen den Regierungen der Staaten Europas vollkommen ausgehebelt ist. Europa- und Aussenpolitik ist in den Staaten der EU Gegenstand von öffentlichen Debatten. Besonders bemerkenswert ist es, dass bisher bei keiner internationalen Organisation eine parlamentarische Versammlung 31 mit derart vielen Rechten besteht, wie sie das Europäische Parlament besitzt. Der vom Europäischen Rat erhobene Anspruch, weltweit - im Namen des für einen hohen Wert gehaltenen Friedens - intervenieren zu können, bedarf einer umfassenderen demokratischen Legitimation, als sie durch den Europäischen Rat oder das Europäische Parlament erfolgen könnte. Es stellt sich jedoch die Frage, wer entsprechende Verantwortung im Namen des Friedens wahrnehmen könnte. Sie kann nur durch die Wiederaufnahme des Verfassungsprojektes beantwortet werden.

31 Vgl. Stefan Marschall, Transnationale Repräsentation in Parlamentarischen Versammlungen. Demokratie und Parlamentarismus jenseits des Nationalstaates, BadenBaden 2005.

Europa weiter denken Von Theodor Leuenberger

I. Ein Überblick Man muss sich für das neue Europa nicht nur Neues ausdenken. Man muss auch dort weitermachen, wo die Entwicklung der europäischen Gesellschaft unterbrochen, abgebrochen und für ein Jahrhundert zerstört worden ist. Das ist weit mehr, als einfach dort weiterzumachen, wo wir vor dem Ersten Weltkrieg Halt gemacht haben. Es stehen in diesem neuen Jahrhundert Aufgaben an, zu denen wir ein ganzes letztes Jahrhundert lang nicht gekommen sind. Warum? Weil wir uns mit Jahrhundertkriegen, Unterdrückungen, Zerstörungen und mit dem Wiederaufbau befasst haben. Es blieben uns nur die Zwischenkriegsjahre und die Nachkriegszeiten zum Neugestalten. Es wird deshalb noch lange dauern, bis wir über das letzte Jahrhundert hinauskommen. Was sich heute allmählich vollzieht: die Revitalisierung der alten europäischen kulturellen und geistigen Groß- und Kleinverbindungen - das hat es bereits um das Ende des 19. Jahrhunderts gegeben. Studentinnen aus St. Petersburg studierten Medizin in Paris, Zürich und Berlin; St. Petersburg könnte heute eine europäische Stadt mit einer Französisch und Deutsch sprechenden Intelligenz sein. Europäische Schnellzüge zwischen Berlin und Prag, die Fährverbindungen von Kiel nach Riga und Tallin sie fuhren damals schneller und waren komfortabler als heute. Wir sind dabei, die 1920er Jahre wieder einzuholen. Die Universität von Krakau könnte heute ein führendes geistiges Zentrum in einem universalen geeinten Europa sein. Wir Halb- und Teileuropäer können uns den europäischen Universalismus des Fin de Siècle zum Vorbild nehmen. Wir können von einer neuen, von einer zweiten Gründerzeit im heutigen Europa sprechen. Wir müssten Maß nehmen an der ersten Gründerzeit, in der Budapest und Prag zu rasch wachsenden europäischen Metropolen wurden, in der Großprojekte in kurzer Zeit bewältigt wurden man denke an die Erschließung und Vernetzung des Kontinents durch

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die Eisenbahn. Ähnliches steht auch jetzt an. Das sind nicht einfach Aufgaben für Politiker in Brüssel, sondern Aufgaben für Zivilisations-Ingenieure. Stehen sie zur Verfügung? Jedwede Epoche hat ihr typisches Führungspersonal: Die Epoche der Weltkriege hatte ihre Generäle und Diktatoren, die Profiteure der Kriege und der Kriegsvorbereitungen. Die Nachkriegszeiten hatten ihre Spezialisten der Abrüstung, der Friedenserhaltung, der Neuaufrüstung und die Strategen der Balance. So gab es Gleichgewichts-, Entspannungs- und Globalpolitiker - das waren und sind die Prototypen der letzten vierzig Jahre. Jetzt ist die Chance für neue Prototypen gekommen: Das World Economic Forum in Davos bringt sie auf die Bühne: die Unternehmer als Global Player, die Entrepreneure, die Designer und die Realisatoren internationaler Projekte und Fusionen, die Medien-Tycoons, die Kommunikationsexperten, die Internetspezialisten... Wir brauchen neue Menschentypen von Europäern: Internationalisten, die sich in und zwischen verschiedenen Kulturen bewegen können. Es geht nicht mehr um große Haupt- und Staatsaktionen - es geht um die Politik der großen Ereignisse, wo sich politische und mediale Aufmerksamkeit sammeln. Von solchen Projekten erhofft man sich einen Lokomotiv-Effekt. Akteure, Kapital, Subventionen, Know-How sollen in bestimmte Regionen gelenkt werden. Innerhalb einer Region soll das Großprojekt die lokalen Akteure mitreißen und Innovationen hervorbringen. Große Ereignisse schaffen Aufbruchstimmung, dienen als Kristallisationspunkte, auf die hin Interessen gebündelt werden. Schließlich kann das große Ereignis den Handlungswillen und zugleich die Handlungsfähigkeit der Politik trotz Schwäche und Fragmentierung unter Beweis stellen. Eine solche Politik der großen Ereignisse ist ein Versuch, auf Probleme der Steuerungsfahigkeit von Politik eine Antwort zu erteilen. Allerdings haben sogenannte große Ereignisse meist einen Oaseneffekt - sie drängen andere wichtige Themen an den Rand, sie trocknen andere wichtige Politikräume aus. Wichtig ist heute die Nachhaltigkeit unserer Aktionen: sind sie dauerhaft und innovativ oder bringen sie nur Scheinblüten? Wenn es gelingt, Ressourcen, Akteure und Ideen in eine Region zu ziehen, laufen die regionalen Akteure oft Gefahr, selbst bloße Zuschauer zu sein. Wenn das Spektakel vorüber ist, wurde wenig bewirkt. Es bleibt nur der Wunsch nach dem nächsten Festival.

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II. Was heißt „Europa weiter denken"? Das „Weiter" hat eine dreifache Dimension: die zeitliche, die räumliche und die dialektische. 7. Die zeitliche Dimension Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer hat 1989 unter dem Titel „Das Erbe Europas" gefordert: „Zurückblicken um vorausblicken zu können." Doch wie sollen wir das Zurückblicken und das Vorausblicken miteinander verbinden? Wichtig ist, dass die Zukunft nicht gegen unsere Vergangenheit ausgespielt wird, wie es ein unbedachtes, technokratisches Zukunftsdenken gerne tun würde. Unsere Vergangenheit begleitet uns wie unser Schatten, darum ist es gut, dass wir uns ihrer bewusst werden, allerdings nicht so, dass sie uns den Blick für das Gegenwärtige und Zukünftige versperrt. Der Zukunfts- und Erwartungshorizont soll nicht eingeengt werden. Es geht darum, der Verengung unseres geistigen und politischen Wahrnehmungsraums zu widerstehen. Wir befinden uns hier in einem europäischen christlich-nachchristlichen Raum. Nie wurde ein Erwartungshorizont größer gedacht als in der jüdisch-christlichen Eschatologie. Es ist stets ein Wagnis, diesen Erwartungshorizont mit unserer eigenen - oft einengenden - lebensmäßigen Erfahrung so zu vermitteln, dass der Horizont offen für Neues bleibt. Dieses Spannungsverhältnis gilt es heute aufs Neue auszuhalten. Das mag abstrakt klingen, ist es aber nicht, wenn wir die gesellschaftlichen Implikationen betrachten. Ein Beispiel: Man kann in Bosnien wie auf dem gesamten Balkan die Vergangenheit nicht übergehen: Über Jahrhunderte war Bosnien ein einzigartiger Ort der Begegnung für den Osten, den Westen und den Süden, für Orthodoxe, Katholiken, Muslime und Juden, für das Osmanische und das Österreichisch-Ungarische Reich - und seit dem späten 19. Jahrhundert für zunehmend national bewusste Serben und Kroaten. 1 Das Zusammenleben war nicht immer einfach, es bestand zumeist in einem friedlichen Nebeneinander, nicht in einer Vermischung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dieses Zusammenleben durch die Periode der Weltkriege und der Bürgerkriegskonflikte unterbrochen. Nach 1945 wurde unter Titos eisernem Dach die „Brüderlichkeit und

1

Siehe Timothy Garton Ash, History of the Present, London 1999.

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Einheit" propagiert und nicht nur die Koexistenz wiederhergestellt, sondern die Vermischung gefordert. Das Ende des Kommunismus musste unausweichlich zu einer Krise führen. Es bestand kaum eine Chance, die unterdrückten Spannungen zwischen den unterschiedlichen Völkergruppen und Traditionen - selbst unter günstigsten Bedingungen - friedlich in stabile demokratische Strukturen zu lenken. Titos Erben sind entweder mit manipulativen nationalistischen Programmen an die Macht gekommen (wie Milosevic) oder sie haben sich manipulativer postkommunistischer Methoden bedient, um ihre nationalistischen Programme durchzusetzen (wie Tudjman). Der Westen, namentlich die Europäische Union, hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Unabhängigkeit der ehemaligen jugoslawischen Republiken anzuerkennen - unter völliger Verkennung der historischen Bedingungen. Man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wie dieses einzigartige diffizil ausbalancierte Gebilde in eine überlebensfahige Multistruktur zu überführen wäre. Wenn ein Beobachter im Anschluss an den Berliner Kongress, auf dem 1878 Bosnien-Herzegowina zu Österreich-Ungarn geschlagen wurde, schlafen gegangen wäre und erst jetzt aufwachen würde, dann wäre er über die institutionelle Kooperation zwischen den westeuropäischen Staaten erstaunt. Hier tagt, so könnte er denken, der permanente Berliner Kongress. In der sogenannten Kontaktgruppe würde er Vertreter derselben Mächte wie damals finden: Frankreich, Deutschland und Russland, die noch immer ihre nationalen Interessen in der Balkanfrage vertreten. Schlüge er die „Times" auf, so würde er im Leitartikel etwas über eine neue französisch-britische Entente erfahren, „geschmiedet im BosnienKrieg". Der alleinige Unterschied wäre, dass er Österreich-Ungarn durch die USA ersetzen müsste. Mit anderen Worten: Es scheint, als sei die ganze europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren post-imperialen Frustrationen und multinationalen post-kommunistischen Staaten nur die Unterbrechung eines langen, tiefer liegenden Prozesses gewesen, in dem Völker und Völkergruppen sich abspalten und Nationalstaaten bilden. In Westeuropa hat dieser Nation-Building-Prozess früher begonnen und geendet. Eine Folge des Zweiten Weltkrieges war der europäische Institutionenaufbau von der Montanunion bis zur Europäischen Union. Jean Monnet gehört zu den führenden Denkern und Designern dieses Einigungsprozesses. Jetzt erst - ein Jahrhundert später - folgt der Südosten Europas mit dem Prozess des Nation Building - ein marginalisiertes Anhängsel von Großeuropa.

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Vor 1989 war das ganze Europa wie Berlin: geteilt in Ost und West. Jetzt zeigt sich Europa - um mit Timothy Garton Ash zu sprechen - wie eine amerikanische Großstadt: mit reichen, friedlichen Vierteln sowie mit der Upper East Side um Manhattan und - nur wenige Straßen entfernt - mit den Elendsvierteln der Blacks and Minorities. Es liegen Welten zwischen diesen Vierteln ... Am liebsten möchte man sich nicht darum kümmern. 2. Die räumliche Dimension Wir sind in der Nach-Jalta-Zeit. Mit dem Fall der Mauer 1989 fanden gewaltige Grenzverschiebungen statt. 1990 breitete Mitterand bei einem Treffen mit Kohl seine Vision von drei Europa-Kreisen aus: Sie waren konzentrisch. Den innersten Kreis bildeten Frankreich und Deutschland. Den nächsten die Länder der Europäischen Union. Die dritte Dimension erstreckte sich über den ganzen Kontinent Europa. Bis 1989 deckte sich das Projekt „Kleineuropa" mit der Bonner Auslegung des Begriffes „Europapolitik". Es gab eine Europapolitik auf den Westen hin und eine Ostpolitik auf den Osten hin. Dieses Europaverständnis entsprach den Realitäten von „Jalta". Aber diese Position konnte nach 1989 nicht mehr gelten. Es musste zu einer Wiedervereinigung Europas und nicht nur Deutschlands kommen. Alle Argumente, die in den 1980er Jahren für einen EU-Beitritt der Jungdemokratien Spanien, Portugal und Griechenland gebraucht wurden, mussten in den 2000er Jahren für Polen, Ungarn, die Tschechische Republik etc. gelten. Die Willkürlichkeit der JaltaTeilung galt für ganz Europa und musste überwunden werden. Freilich: Europa konnte nicht beliebig nach Osten ausgedehnt werden. Es gab und gibt historische Bruchlinien - historisch zwischen den Ländern des westlichen und des östlichen Christentums.2 Mitteleuropa: Wer gehört dazu und wer nicht? Dies ist eine Frage von größter Brisanz: Mitteleuropäer zu sein, das heißt im jetzigen Sprachgebrauch, „zivilisiert, demokratisch und kooperativ" und in der Europäischen Union zu sein. Es gibt eine Konkurrenz verschiedener Definitionen Mitteleuropas: geographischer, historischer, kultureller, religiöser, wirtschaftlicher und politischer Definitionen. Jede Grenze dieses Mitteleuropas - im Osten oder Westen, Norden oder Süden - steht zur Debatte. Die mitteleuropäische Idee - wieder belebt durch Milan Kundera und 2

Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Epilog, Europäische Antworten, München 1993, S. 553 ff.

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andere - war gegen Osten und vor allem gegen die Sowjetunion gerichtet. Mitteleuropa, so hat Kundera einmal formuliert, sei der „Kidnapped West". Denn dieses Mitteleuropa von Prag über Budapest bis Warschau war stets Teil der großen kulturellen Bewegungen des Westens - vom römischen Christentum über die Renaissance und die Aufklärung. Russland hat daran nur im intimen Kreise des Zarenhofs teilgenommen. Es existiert ein manichäischer Gegensatz zwischen dem neu erwachten Mitteleuropa und dem Balkan. Laut Huntington gibt es eine Bruchlinie der Welt- und Europapolitik. Diese basiert nach seiner These auf einem „Clash of Civilizations". Gemäß Huntington sind die östlichen und südlichen Grenzen Mitteleuropas zugleich die Grenzen Europas und der westlichen Zivilisation. Es ist die Scheidelinie zwischen der westlichen, katholischen oder protestantischen Christenheit und dem Islam andererseits. Diese Scheidelinie habe sich seit 500 Jahren kaum verändert, und ihre Ursprünge reichen ihm zufolge bis auf die Teilung des Römischen Reiches zurück. Es ist nach Huntington klar, dass sich die Türkei auf der östlichen Seite dieser Grenze befindet. Dagegen sind die baltischen Staaten, halb Rumänien, ganz Kroatien, ein kleiner Teil Bosniens und Serbiens auf der westlichen Seite. Timothy Garton Ash geht mit seiner These des Demokratie-Diktatur-Gegensatzes noch weiter: „Wer das abendländische Christentum, die Renaissance, die Aufklärung, das Deutsche Reich oder Österreich-Ungarn, die Barockarchitektur und Kaffee mit Schlagobers zu seinem Kulturerbe zählen kann, der ist vorbestimmt für die Demokratie. Was aber ist mit jenen, die das östliche (orthodoxe) Christentum oder den Islam, das Russische oder das Osmanische Reich, Minarette und türkischen Kaffee als historisches Erbe haben? Verdammt zur Diktatur." 3 Zu Beginn der 1990er Jahre erschien von Jacques Derrida ein Buch: „L'autre cap" 4 Er versucht darin, eine Antwort auf die Frage zu geben: „Was ist kulturelle Identität? Worin besteht sie?" Dort, wo sich heute in Europa diese Frage der Identität stellt, wird sie häufig als Rückkehr und als Verbleib im Eigenen gedacht und proklamiert. Identität als Rückkehr ins Eigene heißt, dass nach Möglichkeit alles Fremde draußen bleiben soll. Wir sind wir selbst und nur wir selbst. Jacques Derrida stellt die These auf, dass das „Eigene" einer Kultur darin besteht, nicht nur mit sich selbst identisch zu sein. Kulturelle Identität bedeutet für ihn das 3 4

Timothy Garton Ash, Im Namen Europas, S. 421. Jacques Derrida , L'autre cap, Paris 1991, S. 16.

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Vermögen, im eigenen Selbstverständnis Platz für die Begegnung mit dem andern zu lassen. Trotz europäischer Einigung haben wir als Europäer mit unserem Verhältnis zu den anderen Kulturräumen Mühe. „Europa anders denken" heißt, die europäische Identität im Zeichen der Kategorie der Andersheit zu denken. Von uns wird ein „Andersdenken", ein „penser autrement" verlangt. Dies ist die Bedeutung des Titels „L'autre cap". Im Französischen bedeutet le cap das Vorgebirge, das ins Meer hineinragt. Le cap bezeichnet auch eine Kursrichtung - etwa zum „Kap der guten Hoffnung". Wichtig ist der vom Steuermann eingeschlagene Kurs. Übertragen auf „Europa weiter denken" begreifen wir Europa als Ausprägung einer Zielorientierung. Steuern wir auf ein Großeuropa zu? Haben wir ein einheitliches Europaziel? Vom Kap ist der Weg nicht weit zur Kapitale, zur Hauptstadt, zur Leading City, zur Global Leading City. 5 Auch da: Hatten wir nicht schon solche „Leading Cities"? Waren Rom, Prag, Wien, Berlin nicht „Leading Cities"? Dahinter stand ein AlleinVertretungs-Anspruch oder die Suche nach einem einzigen Zentrum, nach einer Schaltzentrale der Macht. Der Titel von Derridas Buch ist hintergründig: „L'autre cap", das meint den Vorschlag einer Kursänderung unseres Denkens: Andere Ziele ansteuern oder - noch schwieriger auf den anderen zusteuern. Zum Grundsätzlichen: Die Grenzen Europas sind nicht mehr festgeschrieben. Erforderlich ist ein neues Denken der Grenzen - nicht als Orte der Abgrenzung, nicht als Trennungslinien zwischen Drinnen und Draußen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, sondern als Grenzräume, als Orte der Vermittlung und Begegnung. Die Euroregios sind ein Versuch in dieser Richtung. Europa als Großraum denken, heißt nicht nur, es von einem irgendwie geprägten Zentrum her zu verstehen, sondern weit mehr von seinen Randzonen und von seinen Grenzräumen her. Wir sind aufgefordert, die geistig-kulturelle Struktur dieses Großraums Europa zu verstehen. Ich verweise wieder auf Hans-Georg Gadamer: Es geht um die „Ausbildung einer einzigartigen Vielfalt kultureller Formationen, die weltweit beispiellos ist." Europa denken heißt, dort Vielfalt, Differenzen zu sehen, wo andere nur auf Einheit und Uniformität bedacht sind.

5

Vgl. Saskia Sassen, Globalization and its Discontents, New York 1998.

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3. Die dialektische Dimension Europa anders denken: Es ist die Kategorie der Vielfalt und der Differenz, die Europa ausmacht. Es ist ein besonderer Vorzug Europas, dass Europäer lernen mussten, miteinander zu leben, auch wenn die Andern anders sind. Uns stellt sich die Frage, wie wir den Bezug zum Andern in unser eigenes Selbstverständnis integrieren - intellektuell, politisch und kulturell. Die Andersheit der Andern ist nicht zu vermeiden, sondern zu akzeptieren. Paul Ricoeur nennt es: „Soi-même comme un autre". Wir sind alle Andere und wir sind alle wir selbst. Das ist nicht einfach eine neue Vorgabe für alle Steuermänner, sondern die Aufforderung, auf etwas loszusteuern, das nicht mehr mit den alten Zielen vergleichbar ist, eben weil es nicht mehr die Gestalt eines klar angesteuerten Zieles hat. Gefragt ist nicht nach neuen Großzielen, sondern nach einem neuen Selbstverständnis. „Soi-même comme un autre" ist der Leitsatz unseres Europa- und Weltgesprächs. Dies verlangt eine Beteiligung, ein Dabei-Sein am europäischen Geschehen - sowohl als Mitspieler als auch als Gegenspieler. Heute sind das Erlernen und das Miterleben europäischer Differenzen gefragt. Junge Menschen müssen weit mehr als bisher dazu motiviert werden, Unterschiede der Erfahrungen und der Mentalitäten als Chance für die eigene Welterfahrung zu sehen. Dies kann nur geschehen, wenn wir gemeinsam das Europäische Haus bauen, zugleich aber darauf achten, dass in diesem Europäischen Haus nicht ein Zimmer wie das andere aussieht. Im 18. Jahrhundert soll Jean-Jacques Rousseau ausgerufen haben: „II n'y a que des Européens!" - und dies war ein Klageruf.

Über den Einfluss des Religiösen Anmerkungen zur Renaissance religiös motivierter Politik Von Anton Pelinka Religion und Nation zählen zu den wichtigsten Phänomenen, die fur zahlreiche Beobachter - im Sinne eines linearen materialistischen Fortschrittsoptimismus - über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hinweg zum logischen und unvermeidlichen Absterben verurteilt schienen.1 Religion erschien, in Fortsetzung der Religionskritik von Feuerbach und Marx, als ein Konstrukt, das sich aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen erklären lässt und mit den grundlegenden Veränderungen dieser Verhältnisse sich verändert; als ein Phänomen des gesellschaftlichen Überbaus, das - mit dem Ende einer bestimmten, Religion gelierenden Entwicklungsphase - mit dieser untergeht. Diese Einschätzung hat am Beginn des 21. Jahrhunderts einer anderen Platz gemacht. Die empirische Grundlage dieses Umdenkens sind Entwicklungslinien sowohl innerhalb wie auch außerhalb stabiler liberaler Systeme, die unter dem allgemeinen Begriff des „religiösen Fundamentalismus" zusammengefasst werden. Unter Nutzung verschiedener Denkansätze - ζ. B. des Begriffes der „politischen Religion" bei Eric Voegelin 2 - wird (mit mehr oder weniger neutralem Unterton) der Stellenwert des Religiösen in der Politik, bzw. des latent religiösen Charakters von Politik verstärkt wahrgenommen. Die empirische Evidenz, die diesen Paradigmenwechsel herbeigeführt oder auch herbeigezwungen hat, gründet sich auf vielfältige Erscheinungsformen. Dazu zählen vor allem: -

Der unter dem Schlagwort „Islamismus" global erkennbare Anspruch einiger Strömungen im Islam, aus den heiligen islamischen Schriften

1 Siehe z. B. Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991. 2 Eric Voegelin, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1968.

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unmittelbar einen globalen politischen Gestaltungsanspruch ableiten und diesen auch mit Gewalt durchsetzen zu können.3 -

Der mit dem Begriff „religiöse Rechte" vor allem in den USA auftretende Trend, christliche (primär evangelikale) Positionen direkt in politisches Handeln umzusetzen.4

-

Die im Hinduismus (im Rahmen der rechten Sammelpartei BJP) und im Judentum (als Teil der orthodoxen Traditionen) beobachtbaren Erscheinungen eines religiös begründeten Anti-Pluralismus. 5

Diese Entwicklungen scheinen dem Erklärungsansatz Samuel Huntingtons Recht zu geben, der - als beherrschendes Konfliktmuster globaler Politik nach dem Ende des Kalten Krieges - die Gegensätze zwischen in erster Linie religiös definierten „Zivilisationen" sieht.6 Auf die auf dem Gegensatz säkular-ideologischer Großsysteme bauenden Konfliktmuster („Freie Welt" gegen „Weltrevolution", „Liberale Demokratie" gegen „Marxismus-Leninismus") folgt die Wiederkehr vor- und frühmoderner Gegensätze: ethnisch-nationalistischer Konflikte (ζ. B. im früheren Jugoslawien und in Ruanda) und religiös-zivilisatorischer Konflikte (von Kaschmir über den Nahen Osten bis in die USA). Diese Entwicklung provoziert die vergleichende Politikwissenschaft, die (von Stein Rokkan und anderen entwickelte) „cleavage"-Theorie entsprechend weiterzuentwickeln. 7 Innergesellschaftlich, das heißt zur Erklärung der Konfliktlinien in den einzelnen politischen Systemen, bietet sich das von Lijphart vor allem für die Niederlande und die Schweiz entwickelte Deutungsmuster der „cross-cutting cleavages" an:8 Die Kon-

3

Vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000; Wilfried Röhrich, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, München 2004, S. 100-136. 4 Siehe John C. Green/Mark J. Rozell/Clyde Wilcox (Hrsg.), The Christian Rights in American Politics. Marching to the Millenium, Washington DC 2003; sowie Röhrich, Die Macht der Religionen, S. 78-99. 5 Anton Pelinka, Democracy Indian Style. Subhas Chandra Bose and the Creation of India's Political Culture. New Brunswick NJ 2003, S. 213-219; Röhrich, Die Macht der Religionen, S. 17-47, S. 137-167. 6 Vgl. Samuel P. Huntington , The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 7 Vgl. Stein Rokkan , Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen Gesammelten Werken und eingeleitet von Peter Flora, Frankfurt a. M. 1977, S. 75-81. 8 Arend Lijphart, Democracy in Plural Societies. A Comparative Exploration. New Haven 1977.

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fliktlinie zwischen zwei Religionen (Zivilisationen), wie die zwischen Hinduismus und Islam in Kaschmir, wird durch die Konfliktlinie zwischen Säkularismus (der weitgehenden Trennung zwischen einem konfessionell neutralen Staat und den verschiedenen Konfessionen) und Fundamentalismus (jedweder Art) überlagert bzw. relativiert. Es steht die eine, tendenziell fundamentalistisch interpretierte Religion gegen die andere, ebenso tendenziell fundamentalistisch verstandene; aber es steht auch das Konzept eines säkularen politischen Systems gegen das Konzept einer vor allem religiös bestimmten Politik. Die Ansprüche, religiöse Normen unmittelbar in Politik umsetzen zu wollen, wurden und werden in der Tradition der Katholischen Soziallehre unter dem Begriff „Integralismus" diskutiert. 9 Darunter ist, erstens, eine deutliche Betonung der Sozialethik zu verstehen - also der gesellschaftlichen (und nicht bloß individuellen) Relevanz der religiösen (kirchlichen) Doktrin. Darunter ist aber auch, zweitens, zumindest der Tendenz nach, ein Anspruch auf Vorrang der eigenen gegenüber anderen, konkurrierenden Vorstellungen sozialer (politischer, wirtschaftlicher) Ethik zu verstehen. Eben ein solcher Integralismus zeichnet die Phänomene aus, aus denen die Wiederkehr des Religiösen in der Politik besteht. Im US-amerikanischen Disput über „intelligent design" ist das, ansatzweise, ebenso deutlich wie in der Vorstellung, dass eine christlich definierte Lehre vom Beginn menschlichen Lebens - ausgedrückt in Strafbestimmungen für Abtreibung - auch direkt Eingang in das Strafgesetzbuch finden muss. Dieser Integralismus dokumentiert sich ebenso in der Forderung nach Sanktionierung von Verletzungen religiöser Tabus (etwa im Zusammenhang mit dem dänischen Karikaturenstreit 2005/06) wie auch in dem Postulat, staatliches Eherecht müsse auch Kernvorstellungen eines kirchlichen Eherechtes reflektieren - wie ζ. B. in der Auseinandersetzung um die Verrechtlichung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Integralismus äußert sich in allen Konzepten, die islamische Sharia zur Grundlage von Rechtssetzung und Rechtsvollzug zu machen - wie auch in der Vorstellung, aus bestimmten Religionsgemeinschaften dürften Menschen (z. B. Hindus in Indien, Muslime in Afghanistan) nicht austreten.

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Siehe August Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit, Wien 1962.

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Die Wiederkehr des Religiösen trifft die Sozialwissenschaften allgemein und die Politikwissenschaft im Speziellen an einem heiklen Punkt. In der Tradition der Aufklärung stehend, sind die Sozialwissenschaften der Gegenwart vom anthropologischen Optimismus Rousseaus und vom Rationalismus Descartes', von der Nüchternheit Schumpeters und vom Skeptizismus Arendts geprägt. In den sozialwissenschaftlichen „mainstream" passt Religion zwar durchaus als Objekt der Forschung; durchaus auch als Gegenstand des Respekts. Religion als Triebfeder der Politik wurde aber lange - wie ein politisch dominanter Nationalismus - als ein Phänomen der Welt von gestern gesehen, die nur noch in Restbeständen in die Welt von morgen hineinrage. Die Politikwissenschaft hat es daher nicht leicht, auf die Wiederkehr der Religion als bestimmendem Faktor des Politischen mit der notwendigen Nüchternheit umzugehen, die von jeder sozialwissenschaftlichen Analyse einzufordern ist. Die Politikwissenschaft kann nicht ignorieren, was real Politik bewegt. Aber die Politikwissenschaft kann auch nicht einfach wertfrei akzeptieren, was die Politik normiert oder zu normieren beabsichtigt.10 Gefordert ist eine Gratwanderung zwischen überheblicher Distanz und unkritischer Nähe. Gefordert ist, das Religiöse als einen Motor der Politik zu erkennen - und Religion nicht einfach abzutun, weil sie vielleicht im Widerspruch zum eigenen rationalen Welt- und Gesellschaftsbild steht. Gefordert ist aber auch, den politischen Charakter von Religion an den Maßstäben zu messen, die von der Politikwissenschaft als normative Standards weitgehend selbstverständlich akzeptiert sind: universelle Menschenrechte, liberale und soziale Grundrechte, politischer Pluralismus, interreligiöse Toleranz. Diese Gratwanderung kann sich, was den konkreten Gestaltungsspielraum politischer Systeme betrifft, auf einige Erfahrungen berufen - Erfahrungen, welche am besten mit dem Konzept des „Säkularismus" umschrieben werden. Dieser Begriff steht für die tendenzielle Separation von Religion und Politik, von Kirche (Moschee, Tempel, Synagoge) und Staat. Diese Separation muss sich nicht in einer strikten Trennung äußern, wie es dem Grundgedanken der Französischen Republik und des in Frankreich verankerten Laizismus entspricht. Aber das tendenzielle Auseinanderhalten der religiösen und der politischen Ebene ist die Voraus-

10

Siehe dazu Röhrich, Die Macht der Religionen, S. 267-271.

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Setzung dafür, dass es ein pluralistisches Neben- und damit auch ein potentielles Miteinander der verschiedenen Konfessionen gibt. Ein Minimum an Säkularismus ist notwendig, damit sich nicht - mit Berufung auf einen „christlichen" oder „muslimischen" Staat - die Angehörigen anderer als der herrschenden Konfession, aber auch NichtGläubige diskriminiert fühlen müssen, bzw. damit sie nicht diskriminiert werden. Dieser Säkularismus entspricht sowohl dem Diskriminierungsverbot der Menschenrechte wie auch den Entwicklungen, die ζ. B. von der Katholischen Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschlagen wurden. 11 Aus den Erfahrungen, die von der Katholischen Kirche aus ihrer Reserviertheit gegenüber Demokratie und liberalen Grundrechten und damit verbunden - von Koalitionen mit nicht-demokratischen Regimen ausging, und vor dem Hintergrund einer extrem klerikalen Tradition und der damit verbundenen Reduktion der „Laien" in der Katholischen Kirche, setzten Johannes XXIII. und das Zweite Vatikanische Konzil wesentliche Schritte. Diese liefen auf eine Aussöhnung zwischen Kirche und Demokratie auf der Grundlage eines nicht dogmatisch verkündeten, aber pragmatisch akzeptierten Säkularismus hinaus. Das Zweite Vaticanum erklärte, „... dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat". 12 Damit ist auch klar, dass dieses Recht einen religiösen Pluralismus mit einschließt - und damit eine Absage an die integralistischen Vorstellungen vom „christlichen", „islamischen" oder sonstwie etikettierten, nicht pluralistischen Staat. Dies bedeutet nicht nur einen Pluralismus in Staat und Gesellschaft, sondern auch einen - politischen - innerkirchlichen Pluralismus und damit eine Absage an den Integralismus, der von „der" katholischen (oder jüdischen oder islamischen) Politik, Partei, Gewerkschaft, Presse ausgeht: „Christen werden ... bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen ...". Es müsste daher klar sein, „dass in solchen Fragen niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen".13

11

Siehe Röhrich, Die Macht der Religionen, S. 244-246. Karl Rahner/Herbert Vorgrimmler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich genehmigten Übersetzung, Freiburg i. Br. 1966, S. 662. 13 Rahner/Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, S. 492. 12

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Die Katholische Kirche hatte bis tief ins 20. Jahrhundert hinein politisch geschlossen agiert - als ein Block, repräsentiert vom Papst und den Bischöfen, der internem politischen Pluralismus ebenso wenig Raum lässt wie dem der liberalen Demokratie immanenten Pluralismus des politischen Wettbewerbs. Damit hat eine von traditionellen Hegemonieansprüchen geprägte Religionsgemeinschaft ein Beispiel gesetzt, wie religiös motivierte Politik in einer mit der Demokratie verträglichen Form artikuliert werden kann: ohne a priori behaupteten Vorrang; und unter prinzipieller Anerkennung innerreligiöser Pluralität. Diese Entwicklung kann daher auch von anderen Religionsgemeinschaften erwartet, bzw. eingefordert werden: Respekt vor der religiösen Vielzahl; und Respekt daher auch vor dem damit verbundenen politischen Pluralismus. Wenn die verschiedenen Religionen diesen Respekt zu geben bereit sind, dann können sie zu Recht erwarten, dass dann auch ihnen - von Staat und Gesellschaft - der entsprechende Respekt entgegengebracht wird. Es war naiv, den Faktor Religion aussterbend zu sehen. Es war falsch, religiöse Motive in der Politik auf sekundäre Phänomene des „Überbaus" zu reduzieren, die sich allmählich von selbst auflösen würden. Es war arrogant, bestimmte - relativ kurzfristige - Erfahrungen in einem Teil Europas für einen Megatrend zu nehmen, der immer und überall Religiöses zurückdrängt. Es wäre aber - vom Standpunkt der liberalen Demokratie aus - ebenso naiv, falsch und arrogant, die Grundnormen eben dieser Demokratie für völlig beliebig zu erklären und zu akzeptieren, dass sie zum Spielball religiöser Fundamentalismen werden. - Die Demokratie kann und muss mit religiösen Triebkräften in der Politik leben. Das heißt aber nicht, dass die Demokratie auf ihre eigene Wertigkeit zu verzichten hätte.

Die Rückkehr des Sakralen als politisierte Religion und die postbipolare Weltpolitik Das Beispiel des Irak-Krieges und seiner Folgen Von Bassam Tibi In einem Vortrag an der London School of Economics kündigte vor drei Jahrzehnten der weltbekannte Harvard-Soziologieprofessor Daniel Bell den „Return of the Sacred"1 an. In unserer postbipolaren Welt heute ist jene Prognose von einer Rückkehr des Sakralen bereits weltweit Realität geworden. Der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsohn, der zu den wenigen in Deutschland gehört, der dieses Phänomen in seiner nahöstlichen Spielart angemessen versteht, wirft vielen Deutschen zu Recht vor, „Religionsanalphabeten"2 zu sein: sie weigerten sich, diese neue Erscheinung und ihre Folgen zu begreifen und führten alles auf die Globalisierung zurück. Selbst der als deutscher „Bundesphilosoph" gefeierte Jürgen Habermas hat sich nach dem 11. September 2001 in seiner Rede „Glauben und Wissen"3 in diese von Wolffsohn beschriebene Kategorie eingefügt, weil er das Phänomen schlicht nicht begreift. Ohne die Fachliteratur hierüber zu kennen, sprach Habermas von der Rückkehr der Religion, verwechselte jedoch sträflich religiöse Renaissance mit politisierter Religion. Die magische Formel von der „postsäkularen Gesellschaft" erklärt nichts. Trotz der Erkenntnis über die Rückkehr der Religion gelang es Habermas nicht zu verstehen, dass die politisierte Religion als Totalitarismus auftritt und es sich hierbei um einen konfliktschü-

1 Daniel Bell hielt seinen Vortrag „The Return of the Sacred" 1977 an der London School of Economics; der Text ist in seiner Essaysammlung: The Winding Passage, New York 1980, S. 324-354, enthalten. Zu der danach ausgelösten Debatte vgl. Bassam Tibi, Islam Between Culture and Politics, new edition New York 2005, S. 234-272. 2 Michael Wolffsohn , Falsche Lehren aus der deutschen Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. März 2006, S. 15. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001, Rede anlässlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche im Oktober 2001. Zur Kritik siehe Fußnote 4.

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renden Faktor handelt. Dieser neue Totalitarismus kommt wesentlich aus der islamischen Zivilisation und beeinflusst die Weltpolitik. 4

Einleitung Die vorliegende Abhandlung geht von dem soeben skizzierten Wissen über die postbipolare Weltpolitik aus und ist Wilfried Röhrich anlässlich seines 70. Geburtstages gewidmet. Ich will ihn ehren, ohne ihm schmeicheln zu wollen. Es ist herauszustellen, dass er fast die einzige Monographie 5 in deutscher Sprache über das angeführte Phänomen der Politisierung der Religion vorgelegt hat, in der die neue Rolle der Religion als Konfliktfaktor in der Weltpolitik erkannt und beleuchtet wird. Es ehrt Wilfried Röhrich, nicht zu den deutschen „Religionsanalphabeten" (Wolffsohn) zu gehören. Er versteht den Prozess der Politisierung der Religion und der Religionisierung der Politik, auch wenn er den von mir in amerikanischen Projekten geprägten Begriff der Religionisierung der Politik nicht verwendet. Hier werden beide Begriffe auf den Irak als Fallbeispiel für die beschriebene Sachlage angewandt. Dieses Land war vor dem Irak-Krieg eine „Republik der Angst" 6 , ein Land der Geheimdienste von Saddam Hussein. Heute haben wir dort als Ergebnis der mit dem verheißungsvollen Motto „Wind of Change" - US-geführten Demokratisierung ein zerrissenes Land, das durch den Terror der Schi'a-

4 Bassam Tibi, Habermas and the Return of the Sacred. Is it a Religious Renaissance or the Emergence of Religion as a New Totalitarianism?, in: Religion-Staat-Gesellschaft, Bd. 3 (2002), Heft 1, S. 266-296. Zum Islamismus als totalitäre Ideologie vgl. Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus, Darmstadt 2004. 5 Wilfried Röhrich, Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, München 2004, neu überarbeitete Auflage 2006. In den älteren deutschen politikwissenschaftlichen Beiträgen zur „politischen Religion" - so von Hans Maier - werden säkulare Ideologien wie der NS-Faschismus und der Stalinismus zur „Ersatzreligion" erhoben; diese gehen - anders als Wilfried Röhrich - an der Problematik völlig vorbei. Vgl. Hans Maier (Hrsg.), Totalitarismus und politische Religionen, Paderborn 1996. Eine bessere Erkenntnislage findet man in den folgenden neueren - ähnlich wie Röhrich - ausschlaggebenden drei Bänden, die in Anlehnung an die Arbeitsweise der amerikanischen TeamForschung aus Projekten hervorgetreten sind, zu denen auch ich beigetragen habe: Georg Pfleiderer/E. Stegemann (Hrsg.), Politische Religion, Zürich 2004 (Baseler Uni-Projekt); darin mein Kapitel auf S. 223-254; und Stefan Alkier u. a. (Hrsg.), Religiöser Fundamentalismus, Tübingen 2005 (Frankfurter Universitätsprojekt), mein Kapitel S. 131-154; und schließlich das Forschungsprojekt des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung von 2004: Gerhard Bester (Hrsg.), Politische Religion und Religionspolitik, Göttingen 2005, mein Kapitel auf den Seiten 229-260. 6 Samir al-Khalil, Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq, Berkeley 1989.

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Milizen 7 und der sunnitischen Djihadisten von Zarqawi 8 beherrscht wurde und wird. Die säkulare „Republik der Angst" ist durch den Terror der religionisierten Politik ersetzt worden, eine Demokratie gibt es im heutigen Irak nicht; die dortige „postsäkulare Gesellschaft" trägt totalitäre Züge. Das Thema der vorliegenden Abhandlung ist generell die religionisierte Politik im postbipolaren Zeitalter, wenngleich eine Fokussierung auf den Islam und den Westen erfolgt. Dies hängt damit zusammen, dass beide Zivilisationen gegenwärtig die einzigen sind, die einen Universalismus für ihre Weltanschauung beanspruchen, dadurch in einem Wettbewerb zueinander stehen und so die Weltpolitik prägen. 9 Hierbei sind sowohl interne als auch externe Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Gerade am Beispiel der Folgen des Irak-Krieges lässt sich die im Mittelpunkt dieser Abhandlung stehende Problematik der Religionisierung der Politik sehr gut erläutern. Ein anderes Beispiel für eine solche Konfliktsituation ist Palästina nach dem überwältigenden Wahlsieg der HamasIslamisten. Eine Verbindung zum Iran in Bezug auf die dortige nukleare Proliferation besteht in der Drohung, „Israel als Judenstaat zu vernichten". Ein weiteres Beispiel hat Europa in den antieuropäischen Protesten und den sie begleitenden gewaltsamen Ausschreitungen islamischer Glaubensanhänger als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen erlebt. Der Widerstand gegen die US-Präsenz im Irak ist mit diesen Beispielen verflochten. Alle bieten einen Vorgeschmack auf die weitere Religionisierung der Politik. Um jeglichem Missverständnis zuvorzukommen, unterstreiche ich einleitend, dass schon die weltpolitischen Tatsachen jedem unvoreingenommenen Beobachter zeigen, dass der Irak-Krieg ein grober strategischer Fehler gewesen ist. Dennoch wäre es naiv, in diesem Krieg die alleinige Ursache des Hasses vieler Muslime auf den Westen erkennen zu wollen. Dass diese die USA und Europa ablehnen, ist historisch und strukturell verankert: dieser Sachverhalt lässt sich nicht tagespolitisch er-

7 Zur Schia im Irak vgl. Faleh A. Jabar, The Shi'ite Movement in Iraq, London 2003; und zuvor Y. Nûkûsh , The Shi'is of Iraq, Princeton/NJ 1994. 8 Zu Zarqawi: Jean Charles Brisard, The New Face of al-Qaeda: Zarqawi, New York 2005. - Zu Zarqawi und seinem Tod s. Seite 7. 9 Zum Islam und zum Westen in der Weltpolitik siehe Graham Fuller/Ian Lesser , A Sense of Siege. The Geopolitics of Islam and the West, Boulder/Col. 1995 sowie Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen, Hamburg 1995, Neuausgabe München 1998 (Neudruck

2001).

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klären. 10 Über die angesprochenen aktuellen Ereignisse hinaus besteht kein Zweifel daran, dass der Islam in seiner heutigen politischen Gestalt als Islamismus die Weltpolitik prägt 11 und beansprucht, das Blatt historisch zu wenden, d. h. islamische Vorherrschaft wiederherzustellen. Es ist bedauerlich, dass der Irak-Krieg ungewollt in die Richtung der Verstärkung dieser Tendenz gewirkt hat. Aus der Retrospektive lassen sich also zwei unübersehbare Folgen feststellen: -

Erstens die weltweite Stärkung des antiwestlichen Islamismus12, einschließlich seines djihadistischen Zweigs,

-

und zweitens der erneute Aufstieg des Iran 13 als geopolitischer Größe in der Region, zuletzt gestärkt durch die mittels formal demokratischer Wahlen erfolgte Machtergreifung der Schi'a-Islamisten im Irak.

In der folgenden Studie werden diese Fakten des Irak-Krieges und seiner Folgen aus der Perspektive eines konzeptuellen Ansatzes der Religionisierung der Politik eingeordnet und entsprechend interpretiert. Die Religion interessiert hier nicht als Glaube bzw. als Anspruch auf eine religionisierte Wahrheit, sondern als Rahmen für eine in der Religion verankerte Ideologie. Deshalb steht die Religionisierung der Weltpolitik im Mittelpunkt. Zudem wird Religion hier auch nach Clifford Geertz als „cultural system" 14 gedeutet. Darüber hinaus werden entsprechende Fakten konzeptuell mit Hilfe der Hypothesen und der Forschungsergebnisse des „Culture Matters"-Projektes 15 von Lawrence Harrison geordnet, zu dessen Team ich gehörte.

10

Zu den Ursachen des Konfliktes Bernard Lewis, What Went Wrong?, New York 2001, deutsche Übersetzung: Der Untergang des Morgenlandes, Bonn 2002. 11 Bassam Tibi, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998, updated edition 2002, die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Die neue Weltunordnung, Berlin 1998 und als Taschenbuch 2001. 12 Zur Deutung des Islamismus als islamischer Spielart des religiösen Fundamentalismus vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam, 3. Auflage Darmstadt 2003; und Tibi, Der neuer Totalitarismus. 13 Zu Irans Außenpolitik seit der islamischen Revolution vgl. Graham Fuller , The Center of the Universe, Boulder/Col. 1993; und Tibi, Fundamentalismus im Islam. 14 Clifford Geertz , Religion as a Cultural System, in: ders., The Interpretation of Culture, New York 1973, S. 87-125. Dieser Theorieansatz wird auf den Islam angewandt in: Tibi, Islam Between Culture and Politics, darin besonders Kapitel 1, S. 28-52. Zur Problematik Religion/Wahrheit vgl. die Festschrift für Gernot Wießner, hrsg. von Bärbel Köhler, Religion und Wahrheit, Wiesbaden 1998, darin mein Kapitel S. 179-194. 15 Lawrence Harrison ist der Leiter des „Culture Matters Project", aus dem folgende zwei Bände hervorgegangen sind: Developing Cultures, New York 2006. Bd. 1 Essays of

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L Gewalt im Namen der Religion und Einschüchterung durch die Schi'a-Milizen Der empirische Gegenstand der neuesten irakischen Geschichte wird durch den Einmarsch der US-Marines in Bagdad eingeleitet. Der Sturz des Diktators wird symbolisch durch das Herunterreißen der Statue Saddams eingeläutet. Nach amerikanischer Darstellung sollte damit der Einzug der Demokratie in den Kern der islamischen Welt, also in den arabischen Nahen Osten beginnen. Ein US-Soldat verhüllte das Gesicht des Diktators mit der US-Flagge. Präsident George W. Bush verglich zuvor in einer symbolisch in Philadelphia, dem Geburtsort der amerikanischen Demokratie, gehaltenen Rede, die USA mit dem Irak. Heute, über drei Jahre später, ist nach dem Ergebnis zu fragen. Die folgenden Ausführungen werden eine Antwort vermitteln. Gleich zu Beginn, vor jeder Erörterung, distanziere ich mich - als ein in der Tradition von Tocqueville stehender Bewunderer der amerikanischen Demokratie und als arabischer Muslim, der den arabischen Diktaturen nach Europa entflohen ist - von allen europäischen und islamischen Spielarten des Antiamerikanismus. Dieser Geist des Antiamerikanismus, der in Europa gegenwärtig gedeiht, ist zur Unsitte geworden und der folgenden Kritik am Irak-Krieg fremd. Diese Standortbestimmung soll den Argumentationsfluss nicht stören, sondern eher die unvoreingenommene These dieses Artikels stützen, nämlich dass der Irak-Krieg kontraproduktiv war, indem er statt zu einer Befreiung eher zur Religionisierung der Politik beigetragen hat, ohne antiamerikanische Untertöne vorzutragen. Die britische Financial Times enthielt einen Bericht aus dem Irak von Peter Spiegel, der darauf hinwies: „Ängste wachsen, dass die Schi'a-Milizen dabei sind, das politische Leben im Irak zu dominieren, ebenso wie dies zuvor Saddam Husseins Baath-Partei tat." Bei dem angesprochenen Konflikt geht es keineswegs um einen religiösen Streit zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen, vielmehr geht es um die Vision einer Gottesherrschaft zunächst als staatlichem Ordnungsrahmen für die Welt des Islam, dann für die ganze Welt. 16 Genau dies ist der zentrale Inhalt der Religionisierung der Politik. Der IsCultural Change, enthält: Bassam Tibi , Cultural Change in Islamic Civilization, S. 245260. Bd. 2, Case Studies, enthält: Bassam Tibi , Egypt as a Model of Development in the World of Islam, S. 163-180. 16 Zur Gottesherrschaft als Vision einer islamischen Ordnung für die ganze Welt und eines islamischen Staates vgl. Tibi, Fundamentalismus im Islam, Kapitel II und V.

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lam ist eine universelle Religion, die in einer politisierten Gestalt unter den Bedingungen der Postbipolarität als Legitimität für den Anspruch herangezogen wird, die Führung für die islamische Zivilisation zu fordern: Die bestehende säkulare Ordnung soll durch eine Gottesherrschaft {Hakimiyyat Allah) abgelöst werden. Der an der University of California in Santa Barbara lehrende Politikwissenschaftler Mark Juergensmeyer konstatiert einen Konflikt zwischen der politischen Ordnung einer säkularen Republik, die auf einer demokratisch gestalteten Zivilgesellschaft basiert, und dem Streben nach einer Gottesherrschaft. Auf diesem Kontrast beruht der Wettbewerb zwischen zwei Ordnungsvorstellungen, den Jürgensmeyer „The New Cold War" 1 7 nennt. Im Irak bringen sich Schi'a-Milizionäre und ihre sunnitischen Gegner im Namen Gottes gegenseitig um, wobei beide ihre Gewalt auf der Basis einer religionisierten Politik legitimieren. Sowohl die arabischen Sunniten als auch säkulare Schiiten wie Iyad Alawi kämpften seinerzeit gegen die Diktatur der Baath-Partei - für die Demokratie und nicht für eine schiitische Gottesherrschaft. Viele Mitglieder der Partei von Iyad Alawi - obwohl Schiit - wurden im Vorfeld der Wahlen vom Dezember 2005 von der schiitischen Mahdi-Armee des Muqtada al-Sadr ermordet; so wurde beispielsweise der schiitische Kandidat des Wahlkreises Amarah von dieser Miliz gelyncht. Kein Nahost-Experte hätte gedacht, dass zwei brutale und fundamentalistisch orientierte schiitische Milizen, die al-Badr-Brigade und die Mahdi-Armee, mit Hilfe der US-Truppen im Irak die Herrschaft erobern und in der Nachfolge Saddams im Namen der Demokratie antreten würden. Die alten Geheimdienste der säkularen Republik sind durch die Terrorherrschafi einer religionisierten Politik abgelöst worden. Die islamistische Da'wa-Partei bildet mit den beiden angeführten Milizen als schiitischem Block die Vereinigte Irakische Allianz, die heute den Irak regiert. Diese Allianz erlangte bei den Parlamentswahlen vom Dezember 2005 die absolute Mehrheit. Bei allen Dreien handelt es sich um schiitische Islamistenverbände, die nur mittels Terror und Einschüchterung der Bevölkerung die formal demokratischen Wahlen gewannen. Journalisten haben ζ. B. in der Stadt Kumayt, wo der Stamm des ermordeten Wahlkandidaten der Partei von Iyad Alawi lebt, beobachtet, dass dort ausschließlich Bilder und Plakate von Muqtada al-Sadr und seiner Anhänger 17

Mark Juergensmeyer , The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular Nation-State, Berkeley 1993.

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der Mahdi-Armee und keine ihrer Gegenkandidaten ausgehängt waren. Wer diese Einseitigkeit zu beanstanden wagte, riskierte, ermordet zu werden. Dort stationierte britische Offiziere räumten ein, dass „Angst und Banditentum" vorherrschten; die Bevölkerung schweigt aus Furcht vor dem Terror. Saddams „Republik der Angst" ist unter umgekehrten Vorzeichen zurückgekehrt. Und es ist schlechter Journalismus, ja antidemokratisch, wenn diese Fakten etwa in der deutschen Presse verschwiegen werden. Stattdessen werden die Leser über den Groll der Irakis gegen die US-Besatzung informiert. Auf dem Niveau der deutschen Presse befinden sich auch die sunnitisch-irakischen Leitartikler, die von einer US-Verschwörung 18 gegen die Muslime sprechen, die mit Hilfe der Schiiten versuchen, den sunnitischen Islam in der arabischen Welt zu schwächen. Die sunnitischen Djihadisten beleben die antischiitischen Polemiken des mittelalterlichen Ibn Taimiyya und exkommunizieren die Schiiten aus der islamischen Umma. Der schiitische Iraker Samir al-Khalil (Pseudonym für Kanan Makiya) veröffentlichte vor dem Sturz Saddams sein Buch „Republik der Angst" 19 , in dem er das Herrschaftssystem der Geheimdienste, der erbarmungslosen Mukhabarat beschreibt. Die von sunnitischen Arabern gestützte Herrschaft Saddams gehört der Vergangenheit an, nicht aber das Muster einer „Republik der Angst". Dieses existiert heute in anderer, d. h. in religionisierter Gestalt weiter. Die schiitischen Irakis fürchteten bislang al-Zarqawis Todesschwadronen. Sein Tod im Juni 2006 änderte daran wenig. Umgekehrt schüren die Milizen der Mahdi-Armee und die al-Badr-Brigade Angst bei den Sunniten. Die al-Badr-Miliz des SCIRI (Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq) fungiert heute als neue Polizei 20 ; sie war ursprünglich der bewaffnete Arm des SCIRI, des schiitischen Clans Ayatollah al-Hakims, und ist heute eine „Ordnungsmacht". Ihr Begründer Ayatollah al-Hakim entfloh Saddams Herrschaft in den Iran und bildete dort den SCIRI sowie die al-Badr-Brigade. Mit dieser irregulären, heute zur Polizei avancierten Armee der Failaq alBadr kehrte Ayatollah al-Hakim nach der „Befreiung" des Irak in sein Land zurück; er wurde zwar von al-Zarqawis Djihadisten ermordet, aber

18 Zu diesem Syndrom vgl. Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, neue erweiterte Auflage Hamburg 1994. 19 Vgl. al-Khalil , Republic of Fear; weitere neuere Literatur zum Irak: Lian Anderson! Gareth Stansfieldy The Future of Iraq: Dictatorship, Democracy or Division, New York 2004. 20 Bericht von D. Filkens , in: International Herald Tribune vom 25.5.2006, S. 4.

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sein Clan sorgt für politische Kontinuität und natürlich für Rache. Nach anfänglicher Ablehnung verbündete sich die US-Besatzungsmacht erstaunlicherweise mit dem SCIRI und nahm aus pragmatischen Gründen Ex-Badr-Brigadisten in den neuen irakischen Polizei- und Militärapparat auf. Diese neuen schiitischen Polizisten und Armee-Offiziere standen und stehen nicht allein auf den Todeslisten von al-Zarqawis al-QaidaGruppe, sondern auch auf denen der Mahdi-Armee von Muqtada al-Sadr, sie sind aber selbst ebenso Killer. Der Krieg im Irak verläuft nicht entlang amerikanisch-irakischer Fronten, er ist vielmehr innerhalb des Islam selbst religionisiert: einmal sektiererisch zwischen al-Badr-Brigade und der Miliz von al-Sadr innerhalb der Schi'a und dann intrareligiös zwischen den djihadistischen sunnitischen Wahhabiten al-Qaidas und den Schiiten im Irak. Der Sunna-Schi'a- Konflikt 21 ist so alt wie der Islam selbst. Im Mittelalter entstanden die Polemiken des orthodox-sunnitischen Sakraljuristen Ibn Taimiyyas gegen die Schiiten, die dort außerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft gestellt wurden. Diese Polemiken werden heute neu belebt und tragen im Schatten der Todesschwadrone des „Märtyrers" al-Zarqawi zur Neubelebung der alten „Republik der Angst" bei. Die Furcht vor dem brutalen Vollstrecker Saddam Hussein wurde durch die Angst vor den schiitischen Milizen und vor al-Zarqawis Djihadisten abgelöst. Wer darüber spricht oder berichtet, riskiert sein Leben. Unter Saddam wurden unliebsame westliche Journalisten ausgewiesen, im heutigen befreiten Irak werden sie ermordet. Im August 2005 berichtete der Korrespondent der New York Times (NYT), Vincent von Basra, wie schiitische Milizionäre in Polizeiuniformen (sie können gleichermaßen aus der Miliz von al-Sadr oder aus der al-Badr-Brigade stammen) nachts wahllos nach Sunniten suchten, um sie zu verschleppen, zu ermorden und ihre Leichen in den Fluss zu werfen. Nach Erscheinen seines Berichts wurde dieser NYT-Journalist entführt und ermordet. Mit der Zurschaustellung seiner verstümmelten Leiche sollte ein Exempel für Folgendes statuiert werden: Wer über die Herrschaft der schiitischen Milizen berichtet und darüber, dass im heutigen Irak Sunni (Sunniten) mit Baathi (Baathisten) gleichgesetzt werden, riskiert ein Freiticket in den Tod. Die Gewalt in der irakischen Stammesgesellschaft ist einzigartig in 21

Als eine Einfuhrung in die Schi'a eignet sich das zentrale Werk: Moojan Momen, An Introduction to Shi'i Islam, New Haven 1985. Zur Spaltung des Islam in Sunna und Schi'a vgl. Gerhard Endress, Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1991, S. 47-57.

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der arabischen Welt. 22 Das ist natürlich nicht die Demokratie in der Region des Nahen Ostens, die Präsident Bush versprach. Trotz der Deutung des Irak-Krieges als strategischem Fehler, darf man die Tatsache nicht übersehen, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen des Aufstiegs des Islamismus eine Demokratisierung des Nahen Ostens kein leichtes Unternehmen ist. 23 So darf man trotz der berechtigten Kritik an den USA nicht alles auf die Fehler der Bush-Administration zurückführen. Es gibt innere und äußere Rahmenbedingungen und Faktoren, die in einem Wechselspiel zueinander stehen. Die Religionisierung der Politik im Irak und in Nahost ist keine US-Verschwörung.

II. Die Thesen der Abhandlung und der falsche Vergleich Deutschland/Irak Der Irak-Krieg und seine Folgen werden im Folgenden in einen weltpolitischen Kontext eingeordnet. Die Fakten untermauern die Thesen, die sich auf die schwerwiegenden Auswirkungen für den Nahen Osten beziehen: 1. Der Sturz Saddams24 war nicht nur das Ende der Herrschaft eines Diktators; mit ihm fiel ein säkulares, allerdings von Sunniten getragenes Regime. Anstelle der panarabischen Republik der Baath-Partei 25 hat sich im Namen der Demokratie eine schiitische Vorherrschaft etabliert, die in den Zeitgeist der Religionisierung der Politik hineinpasst und diese reflektiert.

22 Hierzu Ali al-Wardi, Soziologie des Nomadentums, übersetzt von Ibrahim alHaidiri, Neuwied 1972 (ursprünglicher arabischer Titel: Die Wesensmerkmale der irakischen Gesellschaft). Der Iraker al-Wardi war der Begründer der irakischen Soziologie und er war der erste in den USA promovierte Iraker überhaupt; sein Werk erklärt die Wurzel der Gewalt in der irakischen Stammesgesellschaft. 23 Diese Problematik wird erörtert in: B. Tibi, Education and Democratization in an Age of Islamism, in: Alan Olson (Hrsg.), Educating for Democracy, New York 2004, S. 203-220 sowie ders., Islam, Freedom and Democracy in the Arab World, in: Michael Emerson (Hrsg.), Democratization in the European Neighbourhood, Brüssel 2005, S. 92-

116.

24

Zu Saddam Hussein vgl. die arabische Biographie von Said Aburish, Saddam Hussein. The Politics of Revenge, New York 2000. 25 Zur Baath-Partei vgl. den Klassiker von Kamel Abu Jaber, The Arab Ba'th Socialist Party, Syracuse 1966. Zur irakischen Baath-Partei vgl. Phebe Marr, The Modern History of Iraq, Boulder/Col. 1985, Kap. 8. Die Baath-Ideologie ist panarabisch. Zum Panarabismus vgl. Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und Panarabismus, Frankfurt a. M. 1987.

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2. Der Irak-Krieg gehörte nach Verlautbarungen von Präsident Bush zum „War on Terror". Fakt ist jedoch, dass es unter Saddam zwar eine Diktatur, jedoch keinen Djihad-Terrorismus gab. Statt der bisherigen säkularen Diktatur nimmt der „befreite" Irak unter US-Besatzung heute den Platz des einstigen Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban ein; das Land ist zum Schlachtfeld des sunnitischen Djihadismus 26 geworden. 3. Der Irak-Krieg hat als unbeabsichtigten Nebeneffekt den Einfluss Irans in der Region erweitert und ungewollt erheblich verstärkt. Die heutigen Verbündeten Irans sind nicht etwa andere Staaten, sondern irreguläre Krieger, wie die Hizbollah, die Hamas und nun vor allem die im Irak regierende schiitische Allianz, zu der die al-Badr-Brigade und die Miliz von al-Sadr gehören; sie zählen mittlerweile zu den mächtigsten politischen Kräften in der gesamten Region und bilden das schiitische Gegengewicht zum sunnitischen Djihadismus - beide sind totalitär. In diesem Abschnitt stehen die historischen Vergleiche an, die nach der Befreiung des Irak von der Diktatur der Baath-Partei gezogen werden müssen. Generell: Vergleiche können im Prinzip - wenn sie zutreffen - hilfreich sein, aber sie können ebenso die Zusammenhänge verdunkeln, wenn sie willkürlich konstruiert werden. Letzteres gilt für den Vergleich der Befreiung Deutschlands von Hitler und der NSDAP mit der Befreiung des Irak von Saddam und seiner Baath-Partei. Neben dem Ländervergleich Deutschland/Irak wird auch noch ein Vergleich der tätigen Politiker als Akteure vorgenommen, nämlich der von Colin Powell mit George Marshall. Der seinerzeit amtierende USAußenminister Colin Powell ist, ähnlich wie sein Vorbild George Marshall, der sich mit der Zukunft Nachkriegsdeutschlands befasste, ein zum Außenminister aufgestiegener US-General. Als Powell noch im Amt war, hat er selbst den zitierten Vergleich gefordert, so etwa als er 2003 den Marshall-Preis in Washington annahm. Bei der Feier, bei der ich als Referent anwesend war, wurde nicht nur eine Parallele zwischen den Außenministern, sondern auch zwischen Deutschland und dem Irak gezogen. Die John-Hopkins-Universität und die Marshall-Foundation veranstalteten zeitgleich ein Symposium, bei dem voreilig eine Bilanz des Irak-Krieges gezogen werden sollte. In diesem Kontext wurde die Frage 26

Zum sunnitischen Djihadismus vgl. Bassam Tibi, Der neue Totalitarisme. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004, Kapitel 3, S. 106-137.

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zitiert, die sich George Marshall einst stellte: Wie kann der Frieden gewonnen werden, nachdem der Zweite Weltkrieg mit der Befreiung Europas von Hitlers Herrschaft beendet ist? Darin sollte die Parallele zum Irak nach dessen Befreiung von der Herrschaft Saddams bestehen. Anders als Hitler konnte man Saddam Hussein am 13. Dezember 2003 verhaften und ihn für seine Verbrechen vor Gericht - wenngleich unter merkwürdigen Bedingungen - zur Rechenschaft ziehen. Als kurz davor im November 2003 Colin Powell den Marshall-Preis erhielt, bekannte er sich zum Vorbild von Marshall, der nicht nur half, die Welt von einer Despotie zu befreien, sondern auch einen Aufbauplan für das Nachkriegseuropa entwickelte. Dieser auf die Außenminister bezogene Vergleich steht für den falschen Vergleich zwischen Deutschland und dem Irak. Natürlich steht eine vergleichbare Herausforderung an, doch ist der Vergleich falsch und seine politischen Konsequenzen sind fatal. Beim angeführten Vergleich diente der wirtschaftliche Wiederaufbau Deutschlands als europäisches Modell auch den amerikanischen Vorstellungen von einem politischen und wirtschaftlichen Modell für „The Middle East". Hierbei wird der Kontrast der religionisierten Politik in einem Zivilisationskonflikt völlig übersehen. Diese Zusammenhänge und das Fehlen jeder Entsprechung im Irak wurden auch auf der Feier in Washington nicht beachtet. So wurde Folgendes beim Vergleich nicht erkannt: Während die Deutschen und vor allem die anderen Europäer damals für die Befreiung von der NS-Herrschaft dankbar waren, sind die Muslime im Irak, der Region des Nahen Ostens und in der Welt des Islam nicht nur nicht dankbar, sie sind durch die „Befreiung" paradoxerweise noch antiamerikanischer geworden. Das hat nichts mit Irrationalismus, sondern mit dem Zivilisationskonflikt zu tun. Deutschlands Befreier kamen aus derselben Zivilisation, nicht aber die des Irak. Der Djihad-Islamismus war die Antwort auf die marschierenden Soldaten während des Irak-Krieges. Dies erklärt den neuen Impuls. Der Djihadismus wurde nicht geschwächt, sondern gestärkt. Der weltpolitische Kontext der Religionisierung der Politik wurde in Washington nicht wahrgenommen.

III. Religionisierte Politik, Demokratie und Ethnopolitik im Irak Beim Irak-Krieg ging es entschieden nicht um „Blut für Öl" 2 7 ; das ist ein deutsches Märchen. Es gab das machtpolitische Kalkül, eine Demo-

27

Der Spiegel 3/2003.

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kratisierung des Irak nach dem Sturz der orientalischen Despotie Saddams könnte den Nahen Osten stabilisieren. Aber dieses Kalkül war falsch, weil der Kontext der religionisierten Politik - eingebettet in die ethnische und religiöse Fragmentierung der irakischen Bevölkerung nicht beachtet wurde. Eine Demokratisierung des Irak nach Saddam Husssein ist deshalb nicht gelungen, weil ein politisches Konzept für den Umgang mit der Religionisierung der Politik fehlt. Es ist ein Faktum, dass die 20 Prozent der Bevölkerung umfassende sektiererische Minderheit der arabischen Sunniten den irakischen Staat seit seiner Entstehung 1921 dominierte. Das andere Kollektiv ist schiitisch. Die Umkehrung der Proportionen ist keine Demokratisierung. Im Irak-Krieg von 2003 wurde diese sunnitische Herrschaft mit Hilfe einer westlichen Macht beendet. Diese Macht - die USA - wird von den Muslimen als christlich eingeordnet, und die Kollektiverinnerung an die Kreuzzüge wird mit jenen gleichgesetzt, obwohl die USA damit nichts zu tun haben. Das ist eine Kombination von „return of history" und „invention of tradition". Auf diese Weise wird ein politischer Kontext in religionisierter Gestalt konstruiert. Die bisher unterdrückte Mehrheit (55 Prozent der Iraker), also die arabischen Schiiten, nutzten zwar die Befreiung, ohne aber die angeführte Perzeption aufzugeben. Allein die 20 Prozent der Bevölkerung umfassenden Kurden boten sich den USA als Verbündete an. Kurden und andere ethnische Minderheiten (Berber, Dinka, etc.) werden von den Arabern jedoch als feindliche Kräfte wahrgenommen. Die Mehrheit der irakischen Muslime - gleich ob Sunniten oder Schiiten - , die ethnisch Araber sind, sind dagegen antiwestlich. Diese religiöse und ethnische Vielfalt des Irak wurde unter Saddam Hussein verdeckt, weil die „Republik der Angst", obwohl von arabischen Sunniten getragen, den säkularen Panarabismus als Legitimitätsmuster instrumentalisierte. Mit dem Sturz von Saddam Hussein büßten die arabischen Sunniten ihre Vormacht ein. Daher sind die terroristischen Anschläge im Triangel nördlich von Bagdad, also im sunnitischen Territorium, verwurzelt. Dieser Terror ist nicht nur ein Widerstand gegen eine amerikanische Fremdherrschaft, sondern auch gegen eine Demokratisierung des Irak. Denn diese würde folgerichtig die Mehrheit der Schiiten an die Macht bringen - das ist inzwischen geschehen. Die Herrschaft im Irak ist heute in den Händen der Mehrheit der Schiiten, vor allem ihrer bewaffneten Milizen.

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Es ist bedauerlich, dass sich die westeuropäische Berichterstattung auf die strategischen Fehler der USA konzentriert, die zum Krieg geführt haben, ohne die Nuancen, die Nebenerscheinungen, die Geschichte und die Probleme selbst zu berücksichtigen, oder gar darüber zu informieren. Die den Alltag des Irak charakterisierenden djihadistischen Anschläge sind strukturell verankert, nicht tagespolitisch, wie es aufgrund der Presseberichte erscheint; sie werden für absehbare Zeit anhalten. Die Täter sind nicht nur Iraker, sie kommen auch aus dem Ausland. Unter den im Untergrund agierenden Djihadisten findet man sowohl überlebende Angehörige der ehemaligen Sicherheitsdienste Saddams als auch sunnitische, aus dem Ausland in den Irak eingedrungene Islamisten. Der im Juni 2006 getötete Jordanier al-Zarqawi steht hierfür als Symbol. So mancher Djihadist kommt aber auch aus der europäischen Islam-Diaspora. Was früher in Afghanistan geschah, passiert heute auch im Irak. Unter diesen Bedingungen kann ein vorzeitiger Abzug der US-Truppen nicht nur keine Lösung herbeiführen, sondern darüber hinaus das Blutbad intensivieren, also die Situation verschärfen. Angesichts der beschriebenen Segmentierung existieren drei mögliche Szenarien für die Zukunft des Irak (vgl. Fußnote 19): Das erste prognostiziert einen Irak, der in sunnitische, schiitische und kurdische Teile zerfällt. Die andere Möglichkeit bezieht sich auf einen Irak, der zu einem neuen Afghanistan der islamischen Djihadisten wird. Im Ansatz ist dies schon Realität. Drittens, positiv, wird ein Irak angedacht, der nach dem Vorbild des Marshall-Plans - wie einst in Europa nach 1945 - zu einem Modell für Frieden und Demokratie in der gesamten Region des „großen" Nahen Ostens (von Afghanistan bis Ägypten) werden könnte. Das ist allerdings unwahrscheinlich. Auf der Basis der bisher zugänglichen Hintergrundinformationen lässt sich feststellen, dass die Verkündung „mission accomplished" von den Fakten widerlegt worden ist. Denn der Irak von heute ist eher mit Afghanistan unter sowjetischer Besatzung denn mit Deutschland nach 1945 vergleichbar. Der globale Djihad als islamistischer Internationalismus als von einer „Reimagined Umma" 28 gegen die Ungläubigen gerichteten Weltrevolution - hat durch den Irak-Krieg einen neuen Impuls bekommen. Dieser irreguläre Krieg, der mit der Ideologie des Djihadismus le28

Peter Mandevillle, Transnational Muslim Politics. Reimagining the Umma, London 2001. Der Begriff von Benedict Anderson: Imagined Communities ist der Titel seines 1991 als eine „revised version" in London erschienenen Buches. Die Umma ist die „imagined community".

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gitimiert wird und im heutigen Irak sein Schlachtfeld sieht, verhindert ökonomisch den wirtschaftlichen Aufbau und politisch die Demokratisierung des Landes. Diese Verhinderung kommt nicht nur von den Djihadisten, sondern gleichermaßen von den Milizionären der schiitischen Kräfte. Wahlen, wie die vom Dezember 2005 im Irak oder von 2006 in Palästina machen noch keine Demokratie. Denn Demokratie ist vor allem eine politische Kultur, nicht eine bloße Wahlprozedur. Die schiitische Allianz bzw. die Hamas gingen als Wahlsieger aus der formalen Prozedur einer demokratischen Wahl hervor. Unter den Bedingungen einer Religionisierung der Politik und einer durch ethnische Fragmentation bestimmten Politik gelingt eine solche Anwendung des westlichen Demokratie-Modelles nicht. Hier stehen Volksherrschaft und Gottesherrschaft einander als unversöhnliche, feindliche Modelle gegenüber.

IV. Die religionisierte Politik in Aktion: Der Dhjihadismus als irregulärer Krieg gegen die Ungläubigen und ihre islamischen Verbündeten Im Gegensatz zu Deutschland nach 1945 herrscht im Irak nach 2003 keine Demokratie, sondern ein irregulärer Krieg. Der Djihad wurde bereits von Sayyid Qutb vor mehr als einem halben Jahrhundert als „permanente Weltrevolution" mit folgenden Worten verkündet: „Der Islam erfordert eine umfassende Revolution, die von den Muslimen als Djihad getragen wird, um die Herrschaft Allahs als Ordnung für die Welt zu verwirklichen. Das ist das Heil für die Menschheit (Istinqath al-Baschariyya) ... Der Djihad ist also das Mittel einer Weltrevolution (thaura alamiyya) ... Daraus folgt, dass die richtige Ordnung für die Welt zur Durchsetzung der Kalimat Allah (das Wort Gottes) allein durch einen permanenten Djihad verwirklicht werden kann." 29 Während die in dieser Tradition Qutbs stehenden Muslime den Djihad tragen, führt der Westen seinen „war on terrorism". Der Irak ist heute zum Schlachtfeld djihadistischer Terrorhandlungen geworden. Das ist keine Weltrevolution im klassischen Sinne. Der Djihadismus, der etwas anderes ist als der klassische Djihad, ist eher eine Form des irregulären

29 Das ist Sayyid Qutbs Definition der islamischen Weltrevolution in seinem Katechismus: al-Islam wa al-Salam al-Alami, legale Edition, 10. Auflage, Kairo 1992, S. 171173.

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Krieges 30 des Islamismus. Und doch handelt es sich um eine Revolution, weil das Ziel als Transformation einer Ordnung gedacht ist, die nach dem Umsturz der bestehenden Verhältnisse entstehen soll. Im vorangegangenen Abschnitt war die Rede vom falschen Vergleich Deutschland-Irak. Hier wird ein anderer falscher Vergleich angesprochen, nämlich der mit Vietnam und seinem Guerilla-Krieg nach dem bekannten Vietcong-Muster. Dies geschieht ohne Kenntnis der Tatsachen, also ohne Vertrautheit mit dem Djihadismus als irregulärem Krieg, der kein Guerilla-Krieg ist. So bestehen zentrale Unterschiede zwischen beiden Mustern des Krieges. Der koordinierte Terror aus dem Hinterhalt war in Vietnam anders als die religiös legitimierten Selbstmordanschläge von heute, bei denen Menschen sozusagen als Präzisionsraketen fungieren. Djihadismus ist eine neue Form des Krieges ohne Regeln, kein Guerilla-Krieg. 31 So waren die Anschläge vom 11. September 2001 ebenso Handlungen eines irregulären Djihad-Krieges wie es die heutigen im Irak sind. Die sogenannten „neuen Kriege" (so Herfried Münkler) werden ohne Kenntnis des djihadistischen Terrorismus als Muster des „heiligen Terrors" dem westlichen Publikum vorgestellt. Alle Terroranschläge der al-Qaida - auch im Irak - wurden bisher jedoch nach dem Muster des irregulären Krieges ausgeführt. Die nichtssagende Formel „neue Kriege" kann den neuen Kriegstyp, bei dem Menschen als selbstgesteuerte „smart bombs" wirken, nicht erklären, ebenso wenig wie der Terminus „asymmetrische Kriege". Dieser Begriff stammt übrigens von B. Courmont und D. Ribnikar in ihrem Buch „Les guerres asymétriques" (Paris 2002), und nicht von Münkler. Solche Politikwissenschaftler, die von anderen den Begriff der „asymmetrischen Kriege" übernehmen, aber nur wenig vom Gegenstand verstehen, übergehen zudem die Quellen der Theorie der neuen Kriege nicht-staatlicher Akteure (vgl. Fußnote 31). Die zentralen Arbeiten stammen von Martin van Creveld, Kalvi Holsti 30

Die Quelle des Djihadismus als irregulärem Krieg behandelt (schon vor Qutb) Hasan al-Bannas, Essay: Risalat al-Djihad, enthalten in seiner Aufsatzsammlung Madjmu'at Rasa'il al-Imam al-Shahid, legale Edition, Kairo 1990, S. 271-292. Zur Deutung dieses Djihadismus vgl. Fußnote 26, und zum Krieg im Islam Bassam Tibi, War and Peace in Islam, in: Terry Nardin (Hrsg.), The Ethics of War and Peace, Princeton/NY 1996 Neudruck 1998, S. 128-145. 31 Vgl. Robert Pope, Dying to Win. The Strategic Logic of Suicide Terrorism, New York 2005. Das ist der irreguläre Krieg. Zu den wissenschaftlichen Quellen dieses neuen Krieges gehören: Martin van Creveld, The Transformation of War, New York 1991. Kalvi Holsti, The State, War and the State of War, Cambridge 1996, sowie Bassam Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State War to New Security, New York 1997. Ich bin auch Mitautor von van Creveld (FN 32).

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und mir. Es ist bedauerlich, dass diese Arbeiten sowie jene über den Djihadismus kaum zitiert werden, obwohl einiges daraus übernommen wird. Die „neuen Kriege" gründen zudem nicht auf bloßem Terrorismus, sie sind auch weltanschauliche Kriege. 32 Diese weltanschaulichen Kriege, die „wars of ideas", die auch Da'wa, d. h. die Missionierung der Ungläubigen für den Islam umfassen, dienen als eine Legitimation für die Handlung der Djihadisten. Die Ideologie des Djihad als Weltrevolution wird in einer „transnationalen Religion" mit „Terror Networks" verbunden.33 Als Spiegelbild dieser Religionisierung des Konflikts, die am Werke ist, kann der Irak als Musterbeispiel angeführt werden. Der Djihad beansprucht die Einheit der islamischen Umma. Im Irak ist das Gegenteil Realität. Der zu Lebzeiten wegweisende irakische Soziologe A l i al-Wardi (Fußnote 22) hat die tribal-clientelistische Segmentierung der aus Stämmen und Clans bestehenden irakischen Gesellschaft sehr genau untersucht. Diese ältere Analyse bleibt bis heute aktuell, weil sie helfen kann, die Fragmentierung entlang der Religionisierung der Politik zu verstehen. Jeder Clan (Aschira) hat seinen Scheich. Die Chefs der sunnitischen Clans wurden unter Saddam für ihre Loyalität äußerst großzügig belohnt durch regelmäßige finanzielle Zuwendungen bis hin zu den berüchtigten Mercedes-Zugaben. Die Schiiten hingegen wurden durch Ermordung ihrer Clanführer eingeschüchtert und hierdurch „befriedet". Das System von Zucker für die Sunniten und Peitsche für die Schiiten hat sich jahrzehntelang als Ordnungssystem bewährt. Mit der Entsaddamisierung seit April 2003 brach dieses System der panarabischen Legitimität nach säkularem Muster ersatzlos zusammen. Nach der Auflösung der irakischen Armee und des bisherigen Herrschaftsapparates war die Folge eine totale Anarchie. Mit Saddams System brach auch die Eindämmung der ethnisch-tribalen Segmentierung zusammen und resultierte in einem Vakuum. Der Verlust der Pfründe für die Sunniten und das gewaltsame Verschwinden der gewaltsamen Be-

32

Hierzu Martin van Creveld!Katharina von Knop (Hrsg.), Countering Modern Terrorism, Bielefeld 2005; darin Bassam Tibi, Countering Terrorism als Krieg der Weltanschauungen, S. 131-172. 33 Transnationale Religion wird somit Gegenstand des Faches Internationale Beziehungen; dies war auch der Gegenstand des Cornell-Projektes „Transnational Religion", aus dem der Band von Tim ByrneslPeter Katzenstein (Hrsg.), Religion in an Expanding Europe, Cambridge 2006, hervorging. Ich bin Autor von Kapitel 8, S. 204-224. Zur transnational-religiösen Ideologie des Djihad vgl. Mary Habeck, Knowing the Enemy. Jihad Ideology and the War on Terror, New Haven 2006; und zum Netzwerk Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004, Kapitel 3 bis 4.

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friedungspolitik für die Schiiten endete in der künstlichen Ordnung des Irak - in der eines nominellen Staates wie überall im Nahen Osten.34 Die bestehenden ethnisch-religiösen Konfliktparteien treten nun als religionisierte Akteure auf. Heute gehören die sunnitischen Scheichs zu den Verlierern jeder Demokratisierung amerikanischen Musters. Die Schiiten sind die Gewinner; sie haben die Macht erobert, sind aber in Badr versus Sadr fragmentiert und untereinander zerstritten; zudem sind sie keine Vorreiter der Demokratie. Man muss zwar den Schiiten ihre Rechte geben, darf aber dabei nicht die irakischen Sunniten marginalisieren. Die US-Politik im Irak schafft diese Balance in einer religionisierten Situation nicht und trägt zur Fortsetzung der gewaltförmigen Unordnung und zur Stärkung des Djihad im Irak bei. Die US-Militärs und die Bush-Administration verstehen weder die Religion des Islam noch die Tatsache, dass in postbipolarer Zeit „Culture Matters" vorherrschen (vgl. Fußnote 15). In dieser Abhandlung gehe ich von einer Religionisierung der Politik aus, einem Prozess, bei dem Religion als „cultural system" (Fußnote 14) politisiert und an Ethnizität gebunden wird, wobei ein neuer Faktor „Ethnopolitics" entsteht (Fußnote 39). Somit erhöht sich die Komplexität des Gegenstandes und erschwert politische Lösungen.

V. Der strategische Fehler: Eine Befreiung ohne solides Nach-Saddam-Szenario Dieser Artikel hat die Religionisierung der Politik zum Gegenstand, und hier wird nur en passant aus der Retrospektive festgestellt, dass die als Befreiung dargestellte US-Invasion zum Regimewechsel im Irak auf einem strategischen Fehler beruht. Denn strategische Fragen stehen hier nicht an. Doch die Liquidierung der politischen Macht der Sunniten unter der Formel der De-Baathisierung hat praktisch zur Ausschaltung der arabischen Sunna aus dem Staatsapparat geführt; sie betrifft die im Mittelpunkt dieser Studie stehende Problematik und hat viel mit den als Djihadisten in den Untergrund gegangenen Sunniten zu tun. Aus dem Irak-Krieg gingen die Sunniten als Verlierer hervor. Diese arabischen Sunniten, vor allem ihre Clan-Chefs akzeptieren die Schi'a-Führung des 34 Zu einer Analyse dieses Gegenstandes vgl. Bassam Tibi , The Simultaneity of the Unsimultaneous: Old Tribes and Imposed Nation-States in the Modern Middle East, in: Khoury/Kostiner (Hrsg.), Tribes and State Formation in the Middle East, Berkeley 1990, S. 127-152.

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Irak nicht, und dies gilt auch fur die sunnitischen Nachbarländer, die die irakischen Schiiten misstrauisch als Verbündete des Iran betrachten. Daher hat der in der Überschrift dieses Abschnittes stehende „Fehler" doch, wenn auch indirekt, mit der Religionisierung der Politik zu tun. Dass die USA die Schiiten befreit haben, so dass sie nun ihre Rituale und religiösen Feste ungehindert feiern können und ihre Kleriker von den brutalen Verfolgungen durch die Geheimdienste der Baath-Partei frei geworden sind, hat nicht im Geringsten etwas am Antiamerikanismus geändert. Statt dankbar zu sein und die Freiheit zu schätzen, gehen sie zum Morden gegen andere und unter sich über. Das ist der schiitisch dominierte Irak unter US-Besatzung seit dem Ende der von arabischen Sunniten getragenen Baath-Despotie Saddams. Der sunnitische Djihadismus ist die andere Seite der Medaille der Religionisierung der Politik. Wie eingangs erwähnt, hat der prominente schiitische Iraker Kanan Makiya, unter dem Pseudonym Samir al-Khalil das Buch „Republic of Fear" (Fußnote 6) über Saddam veröffentlicht; er hat Präsident Bush vor dem Krieg getroffen und beraten. Laut Medienberichten soll er in einer eineinhalbstündigen Begegnung im Weißen Haus im Januar 2003 Bush Hoffnung gemacht haben, dass die US-Soldaten als Befreier mit Blumen empfangen werden würden. Die bisherige Analyse zeigt jedoch, dass als Kontrast dazu ein von regelloser Gewalt dominierter Irak der Realität entspricht. In dieser Situation verlangen nicht nur die Sunniten, sondern auch fast alle klerikalen Führer der Schiiten den Abzug der US-Truppen aus dem Irak, ohne zu berücksichtigen, dass die Gewalt danach noch mehr zunehmen würde, weil die sunnitischen Djihadisten dann ungezügelter handeln könnten. Trotz der Feststellung, dass der Irak-Krieg ein strategischer Fehler war, und dass die USA serienweise Fehler begangen haben, muss man realistisch einräumen, dass ein prompter Abzug nur noch mehr Gewalt nach sich ziehen würde. Wie kann der Irak im Rahmen eines inneren Religionsfriedens demokratisiert werden, d. h. ohne eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheiten? Der Schiit Samir al-Khalil, alias Kanan Makiya, schreibt nun, dass die Iraker selbst am heutigen Zustand schuld sind. Zu Recht fügt er hinzu, man könne nicht alle Missstände den Amerikanern anlasten und führt aus: „Wir Iraker haben es selbst nicht geschafft, die Basis für eine neue Ordnung zu legen. ... Das Parlament ist in Wahrheit einfach eine Versammlung ethnischer und sektiererischer Stimmblöcke, ... eine Tyrannei der Mehrheit. ... Der Widerstand der Sunniten wird anhalten; sie mit Gewalt niederzukämpfen, wie das schiitische Hitzköpfe im Parlament fordern, wird eine sehr

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blutige Angelegenheit werden." Und er schließt dann lapidar mit einem Satz ab: „Schuld daran sind nicht die Amerikaner, sondern die Iraker selbst."35 Nicht so selbstkritisch und rational blicken die schiitischen Kleriker auf die Situation. Einer von ihnen sagte im schwedischen Fernsehen: „Wir sind Allah und nicht Amerika dankbar, weil nur Allah uns von Saddam befreit hat." Das klingt so, als wären die US-Soldaten nur im Auftrag Allahs in Bagdad einmarschiert, um den Wunsch der Schiiten zu erfüllen. Alles, was die USA tun, ist fur die Schiiten falsch: Respektieren sie ihren Wunsch, keine US-Soldaten zum Schutz der Heiligtümer in Nadjaf und Kerbela zu stationieren, ist dies falsch; bringen sie die Soldaten dorthin, werden sie als Besatzer beschimpft. So wurde den USA nach den Anschlägen auf al-Hakim und die Ali-Moschee vorgeworfen, sie hätten schiitische Heiligtümer nicht geschützt, sonst wäre der Anschlag nicht geschehen. Dasselbe wiederholte sich, als Sunna-Djihadisten Teile des Heiligtums der Schiiten, die al-Samara-Moschee, zersprengten. Hier ist nicht der Ort, nach dem Schuldigen zu suchen, sondern am Beispiel des Post-Saddam-Irak nach dem Krieg von 2003 den Prozess der Rückkehr des Sakralen und die religionisierten Konflikte zu erörtern. Aus dieser Perspektive lässt sich zusammenfassen: Ein Versuch der Demokratisierung von außen in einem ethnisch und religiös total segmentierten Land ohne eine Tradition der Zivilgesellschaft und eine entsprechende politische Kultur kann niemals funktionieren. Nach den Wahlen vom Dezember 2005 muss man wiederholt hervorheben, dass Demokratie viel mehr als eine Wahlprozedur ist, sie erfordert eine politische Kultur, die dort schlicht fehlt. Diese fehlende Voraussetzung, verbunden mit der Rückkehr des Sakralen bedingt den Widerstand gegen eine Demokratisierung des Irak. Die Kombination einer Djihad-Gewalt aus dem sunnitischen Lager nach afghanischem Muster und die Machtlogik der schiitischen Milizen Badrs und Sadrs bringt in militärischer Gestalt das Phänomen der Rückkehr des Sakralen durch zwei verfeindete Religionsgemeinschaften zum Ausdruck. Hierauf waren die Kriegsplaner in Washington nicht vorbereitet, und das bedingte ihren strategischen Fehler, überhaupt diesen Krieg zu riskieren. - Aus dieser Retrospektive und der in ihr enthaltenen Schlussfolgerung geht hervor, warum das Projekt der Demokratisierung unter Bedingungen der politisierten Religion ein

35

Kanan Makiya (früheres Pseudonym: Samir al-Khalil, wie Fußnote 6), Tyrannei der Mehrheit, in: Die Welt vom 15. Dezember 2005, S. 9.

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schwieriges Unterfangen ist, das kaum von Erfolg gekrönt sein kann. 36 Heute besteht ein großer Bedarf an Verständnis der Wirkung transnationaler Religionen in Konfliktsituationen. Unter den Bedingungen von Globalisierung und globaler Migration, die einen Zustrom von Kriegsflüchtlingen mit sich bringen, können der Djihadismus und die schiitische Gewalt Spillover-Effekte auf Europa d. h. auf die Islam-Diaspora haben. Die angeführte transnationale Funktion der politisierten Religion ist bereits heute in der Islam-Diaspora Europas zu vernehmen; nur die Europäer merken es nicht. Die religionisierte Gewalt kennt im transnationalen Kontext keine Grenzen. Im Irak hat sie drei Formen: Erstens den Djihadismus der Sunniten, dann die religionisierte Gewalt der Badr-Brigade, aus der heute die neue Armee und Polizei rekrutiert werden, und schließlich drittens die schiitische Miliz der Mahdi-Armee, die ihr Unwesen im Untergrund treibt.

Schlussfolgerungen Der durch die religionisierte Gewalt charakterisierte Irak kann weder stabil noch demokratisch sein. Wenn die 20 Prozent der Bevölkerung umfassende Sunna nicht einbezogen wird, kann eine inklusive und versöhnliche Politik nicht verfolgt werden. Nicht jeder Sunni ist ein Baathi. Ich bin selbst Sunni und war mein ganzes Leben lang gegen die totalitäre Baath-Partei. Die „Republik der Angst" dieser Partei ist durch eine Tyrannei der Mehrheit ersetzt worden - dies ist keine Demokratisierung. Opfer dieser „Demokratisierung" sind nicht nur die Sunniten, sonden auch säkulare Schiiten und Kurden, die für eine wirkliche Demokratie eintreten. Demokratie entsteht nicht nur durch demokratische Wahlen, ihr immanent ist vielmehr eine politische Kultur, die eine Volkssouveränität, d. h. Volksherrschaft bedeutet. Daher kann es im Zeitalter des Islamismus keine Demokratisierung unter einer islamischen Gottesherrschaft geben.37 Die gesamte irakische Bevölkerung - also Sunniten, Schiiten und Kurden - kann ohne zivilgesellschaftliche politische Kultur, zu deren Be36

Bassam Tibi, Democratization in an Age of Islamism, in: Alan Olson (Hrsg.), Educating for Democracy, Lanham und New York 2004, S. 203-219. 37 John Voll! John Esposito , Islam and Democracy, New York 1996, deuten den Islamismus als islamische Demokratie. Ich argumentiere dagegen in meiner Rezension, in: Journal of Religion, Bd. 78 (1998), Heft 4, S. 667-69 und in meinen Arbeiten: Fußnoten 4 und 23.

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standteil ein ethnisch-kultureller und religiöser Pluralismus gehört, nicht zusammenleben. Daher erfordert eine konkrete Demokratisierung kulturelle Veränderungen in Richtung Pluralismus, den das islamische Dogma nicht kennt. 38 Zu den Reformen, die die Grundlage eines „broader Middle East" bilden können, gehört die Erkenntnis der „Culture Matters". 39 Auch der euphemistisch als „Widerstand" bezeichnete DjihadTerrorismus aus dem sunnitischen Teil der irakischen Bevölkerung ist in Wirklichkeit eine religiös-kulturelle, wohl militarisierte Erscheinung. Überall im Nahen Osten besteht die arabische Bevölkerung aus ethnischreligiösen Kollektiven, die ein Wir-Bewusstsein (we versus they) im Rahmen religionisierter Identitätspolitik pflegen. 40 Im Irak, wie überall in der Welt des Islam, gibt es keine Bürger, sondern Kollektive. Wer die Region des Nahen Ostens von innen kennt, weiß, dass die Menschen sich dort - also auch im Irak - nicht als Individuen, sondern als zum Kollektiv gehörend wahrnehmen und einordnen, seien dies ethnische Gruppen, Clans, Stämme oder Religionsgemeinschaften. Eine Übertragung der westlichen demokratischen Prozedur „ein Mensch, eine Stimme" unter Umgehung der ethno-politischen Realitäten41 bringt keine haltbare Demokratisierung. Der Saddam-Prozess im Irak verdeutlicht, dass im Gerichtssaal alle arabischen Sunniten des Irak unter Anklage stehen. Das ist die dominierende Kollektiv-Perzeption. Anders war es bei den Nürnberger Prozessen, bei denen Individuen als Verbrecher vor Gericht standen, nicht das deutsche Volk oder ein Segment davon. Das Modell der Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland als Muster für eine Demokratisierung eignet sich - wie die Erfahrung gezeigt hat nicht unter dem Deckmantel der De-Baathisierung bzw. Entsaddamisierung für den Irak; es erwies sich als nicht übertragbar. Generell ist für den gesamten Nahen Osten festzustellen, dass dort von einer Entstehung von nominellen Nationalstaaten zu sprechen ist. So war es im Irak im Jahr 1921, als sunnitische politische Eliten und Clans den Staat formell

38

Bassam Tibi , The Pertinence of Islam's Predicament with Democratic Pluralism for the Democratization of Asia, in: Religion-Staat-Gesellschaft, Bd. 7 (2006), Heft 1. 39 Harrison, Culture Matters Project", dazu Fußnote 15. 40 Zur Identitätspolitik vgl. den Artikel in: Routledge Encyclopedia, New York 2004, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 576-586; sowie Thomas Meyer, Identitätspolitik. Der Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt a. M. 2002. 41 Gabriel Ben-Dar, Ethnopolitics and the Middle Eastern State, in: Itamar Robinovitch/Milton Eastman (Hrsg.), Ethnicity, Pluralism and the State in the Middle East, Ithaca 1988, S. 71-94.

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gegründet haben.42 Es ist keine Demokratisierung, wenn die Herrschaft der Minderheit über Mehrheiten durch eine Herrschaft der Kollektive der Schiiten als Tyrannei der Mehrheit ausgetauscht wird. Weder die Wahlen vom Dezember 2005 und die anschließende Regierungsbildung 2006 noch die im Sommer 2005 verabschiedete Verfassung, die die Schari'a als Quelle jeder Gesetzgebung voraussetzt, haben eine Demokratie herbeigeführt. Eine Demokratie ist keine islamische Schari'a-Ordnung. 43 Die zeitgeschichtliche Erfahrung des Irak-Krieges hat verdeutlicht, dass auch im Nahen Osten ein „Regimewechsel" allein keine Demokratisierung hervorbringen kann. Die Bush-Administration müsste aus dem „regime change" im Irak und den Wahlen in Palästina lernen, dass bei einer formellen Demokratisierung die Islamisten an die Macht gelangen. Das Spiel mit „identity politics" (vgl. Fußnote 40) geht nicht auf. Es wurde klar, dass al-Sistani, al-Hakim, al-Sadr und andere schiitische Kleriker im Zeitalter der Rückkehr des Sakralen unter „islamischer Identität" etwas anderes als die Sunniten des Landes, seien sie Kurden oder Araber, verstehen; für sie ist „Identität" mit „islamischer Ordnung" schiitischer Prägung mit „Gottesherrschaft" 44 gleichzusetzen. Beim Aufbau eines neuen Irak darf es keine Praxis der Taqiyya (Täuschung durch Verstellung) geben - gleich unter welchen Vorzeichen. Solche Spiele dürfen von Anfang an nicht zugelassen werden; es geht um die Aufrechterhaltung des multiethnischen und multireligiösen Irak unter noch zu schaffenden kulturellen und institutionellen Bedingungen der Demokratie und des Pluralismus (Fußnote 36). Angesichts der ethno-religiösen Fragmentation der Bevölkerung ist eine Politikempfehlung vonnöten, die sich auf ein ethnisch-tribal-religiöses Gleichgewicht bezieht. Dies zu schaffen, kann ein Blutbad verhindern. Nur westliche Menschen, die den Nahen Osten nicht kennen, glauben, dass die Despotie im Irak mit der Entmachtung und Verhaftung des Diktators beendet worden sei; aber Demokratie erfordert strukturelle sowie kulturelle Voraussetzungen und muss ethnisch-religiöse Wurzeln in der Bevölkerung haben. Ein Projekt der Demokratisierung in dieser Region - sei es im Irak, sei es in Palästina - erfordert einen Transformationsprozess, der auch kulturelle Einstel-

42

Zur Entstehung des Irak vgl. Marr (Fußnote 24) sowie Christine Mass Helm, Iraq. Eastern Flank for the Arab World, Washington/DC 1984. 43 Bassam Tibi , The Clash of Sharp a and Democracy, in: International Herald Tribune, September 17-18, 2005. 44 Zu Hakimiyyat, Gottesherrschaft als Kontrast zur Volksherrschaft, vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam, 3. Auflage, Darmstadt 2002, Kapitel 5.

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lungsveränderungen umfasst. Die Rückkehr des Sakralen im Rahmen einer religionisierten Politik ist eine gesellschaftliche Realität, die die Welt des Islam allumfassend bestimmt. Ohne sie zu berücksichtigen, ist jede „Rechnung" - wie ζ. B. die Neugestaltung des Nahen Ostens - eine solche ohne den Wirt, also zum Scheitern verurteilt. Abschließend stelle ich fest, dass es drei zentrale Parteien gibt, nämlich die US-Bush-Administration, die nahöstlichen Opinion-Leaders und schließlich die europäischen Intellektuellen, die den Irak-Krieg und seine Folgen im Schatten der Rückkehr des Sakralen nicht angemessen verstehen. Der Unterschied zwischen ihnen ist, dass die Bush-Administration handelt, die nahöstlichen und europäischen Opinion-Leaders nur Stimmung machen; ihnen ist gemeinsam, dass sie die bestehenden Realitäten nicht wahrnehmen. Auf einer Sitzung der Terrorism-Research-Unit des Monterey-Institute for International Studies in Monterey, Kalifornien, fragte mich eine wichtige Person, was ich Präsident Bush raten würde, wenn ich von ihm zu einem Gespräch eingeladen würde. Meine Antwort war: „Ich würde ihm aus „The Last Time" von den Rolling Stones die Strophe singen: „ I told you once, I told you twice, but you don't listen to my advice, you have to pay the price." Ich gehörte nämlich 2002 zu einem Berater-Team bei einem Think Tank der Regierung; alle hierfür engagierten fünf Nahost-Experten waren sich beim internen Symposium des US Naval War College in Newport in dem Rat einig: „Don't go to war, it is too risky." Diese Empfehlung blieb bei der Bush-Administration ungehört. Auf der entgegengesetzten Front hat der Chefredakteur der arabischen Zeitung al-Quds al-Arabi sich, obwohl Feind von Bush, ähnlich verhalten. Auf dem 8th German World Bank Meeting in Hamburg im Juni 2002 hat dieser Palästinenser unbelehrbar die arabische Verschwörungstheorie und den Selbstbemitleidungsstil artikuliert; er sagte: „Wir Araber sind Opfer des Westens." Auf meine Zitierung des Koran-Verses „Allah verändert nichts an einem Volk solange seine Angehörigen sich nicht selbst verändern" (Sure 13, Vers 11), stellte er sich taub. Und für die deutschen Intellektuellen ist die Globalisierung an allem Schuld, und sie erklärt für sie alles. Die „kognitive Dissonanz" ist eine Geisteshaltung, die die von ihr befallenen Menschen daran hindert, die Religionisierung der Weltpolitik im postbipolaren Zeitalter des 21. Jahrhunderts zu begreifen. Dieser Text ist für Leser geschrieben, die lernfähig geblieben sind. Wie gut, dass dieser Beitrag in der Festschrift für Wilfried Röhrich erscheinen kann. Andere würden verhindern, dass ich zu Wort komme. Wenn Michael Wolffsohn ebenso wie ich das Buch

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von Wilfried Röhrich „Die Macht der Religionen" lesen wird, wird er ihn in einer Laudatio nachdrücklich von der Gruppe der „Religionsanalphabeten" ausnehmen. Ich schließe mich diesem Lob an.

Ein heißer Krieg im Kalten Krieg: Frankreichs Algerienkrieg Von Hartmut Elsenhans

I. Die Ausgangssituation der geopolitischen Lage Frankreich ging aus dem Zweiten Weltkrieg militärisch und wirtschaftlich geschwächt hervor. Der französische Widerstand und die gaullistische Exilregierung waren sich darin einig, dass der Verfall, die so gefürchtete „décadence française" 1, nur durch tiefgreifende Verfassungsreformen vermieden werden konnte. Frankreich wollte dabei allerdings auch die Kolonisierung durch die eigenen Kolonien vermeiden, 2 so dass es die Renansche Vorstellung einer auf Einverständnis bestehenden Nation aus Franzosen und in Franzosen verwandelten Kolonisierten nicht wirklich anwandte, auch wenn die Bedingungen eher günstig waren: Die Bevölkerungszahl der Kolonien in Afrika war noch gering. Frankreich war seit dem Wiener Kongress die schwächste im Klub der westlichen Mächte und hatte deshalb an der Kolonisierung der bevölkerungsreichen Länder mit tributären Produktionsweisen in Asien mit Ausnahme Vietnams nicht teilgenommen. Die Niederlage von 1940 hatte die Schwäche des nur metropolitanen Frankreichs vor Augen geführt. Frankreich hatte am Sieg von 1945 vor allem aufgrund seiner kulturellen Ausstrahlung und nicht aufgrund seiner militärischen Macht teilgenommen. Frankreich suchte nicht die Rolle eines Ratgebers für schrittweise in die Unabhängigkeit entlassene Länder, die Großbritannien schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber den weißen Dominions eingenommen hatte, um die

1

Vgl. Jacques Soustelle , Le drame algérien et la décadence française. Réponse à Raymond Aron, Paris 1957. 2 Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Hartmut Elsenhans, La guerre d'Algérie 1954-1962. La transition d'une France à une autre. Le passage de la I V e à la V e République (Paris 2000), dort mit ausfuhrlichen Belegen, insbesondere in den Kapiteln 1, 3, 4 und 5. Der Beitrag beruht auf Passagen dieses Buches.

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Souveränität des nur von britischen Bürgern gewählten Parlaments von Westminster nicht in Gefahr zu bringen. Die Konferenz von Brazzaville 1943/443 zielte nicht auf Selbstregierung zunehmend unabhängiger Territorien innerhalb der französischen Union, sondern auf schrittweise Eingliederung dieser Territorien in einen über Frankreich hinausgehenden Gesamtstaat, wobei den Kolonisierten zunächst nur für den westlich ausgebildeten Teil der Bevölkerung - allerdings unabhängig von der rassischen Herkunft - volle staatsbürgerliche Gleichheit gewährt werden sollte. Algerien sah zwar am südlichen Ufer des Mittelmeers wie ein Brückenkopf Frankreichs in Afrika aus, doch seine geopolitische Bedeutung lag vor allem in der Nähe zum europäischen Frankreich, dem es für Kriegsszenarios vom Typ des Zweiten Weltkriegs strategische Tiefe verschaffen Tconnte. Nach der Besetzung Algeriens durch die angelsächsischen Alliierten im November 1942 war in Algier auf französischem Gebiet eine provisorische Regierung gebildet worden, mit Algier als politischem Zentrum ihrer wesentlichen militärischen Basis.

II. Eine traditionelle Großmacht im internationalen System Die Internationalisierung des Algerienkonflikts war das Ergebnis der Schwäche der algerischen Befreiungsbewegung. Eine Internationalisierung wurde stets angestrebt, aber nie von den Supermächten nachhaltig unterstützt. Die algerische Befreiungsbewegung selbst erhoffte sich keinen militärischen Sieg über die französische Armee, sondern wollte auf politischer Ebene Frankreich zu Verhandlungen zwingen. Der FLN hat nie die Karte einer sowjetischen militärischen Beteiligung am Konflikt gespielt. Schon 1956 trat die Gewerkschaft UGTA (Union Générale des Travailleurs Algériens) dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften bei, in dem die amerikanische AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organisation) eine Hauptrolle bei der Bindung der neu entstehenden Dritte-Welt-Gewerkschaften an westlichen Einfluss spielte. International hat der FLN die öffentliche Meinung gegen den Krieg zu mobilisieren gesucht und dabei die Dritte Welt als Resonanzboden benutzt, um Druck auf die westlichen Alliierten Frank-

3

Vgl. Robert-Charles Ageron, De l'Empire à dislocation de l'Union Française (1939— 1956), in: ders., Catherine Coquery-Vidrovitch: Histoire de la France coloniale (3): Le déclin, Paris 1991, S. 198.

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reichs auszuüben, von denen allein ein nachhaltiger Einfluss auf die französische öffentliche Meinung erwartet wurde. Frankreich brauchte für seinen Algerienkrieg wenigstens teilweise westliche Solidarität. Dabei half sowjetische Zurückhaltung, da Frankreich unter den Alliierten der USA derjenige war, der am wenigsten intensiv die westdeutsche Wiederbewaffnung befürwortete. Mitglieder der Blockfreien wie Indien und Ägypten, aber selbst kommunistische Länder wie die Volksrepublik China schätzten Frankreichs spezifische Rolle in der westlichen Allianz und anerkannten deshalb die langen historischen Bindungen zwischen Frankreich und Algerien, die selbst die entschiedensten Unterstützer der algerischen Sache in der arabischen Welt nicht übersehen konnten. Für die USA war der Kolonialismus zum Absterben verurteilt. Nur nationale Regierungen konnten ihren Bevölkerungen die Entbehrungen des Modernisierungsprozesses auferlegen. Ihr Nationalismus und ihre Modernität eilten ihren Gesellschaften voraus. Zusammenbrüche modernisierender nationalistischer Bewegungen bargen die Gefahr der Stärkung der Kommunisten. Mit dem zunehmenden Einfluss des FLN bei der algerischen Bevölkerung sahen die Vereinigten Staaten in ihm einen Partner für eine nichtkommunistische Unabhängigkeit und nahmen Anfang 1958 offiziösen Kontakt auf. Im amerikanischen Senat war John F. Kennedy ein wichtiger Fürsprecher seit 1957. Ziel war, Frankreich in Verhandlungen mit ausreichend repräsentativen Führern des algerischen Nationalismus und zunehmend des FLN zu bringen. Bereits vom Juli 1955 an wurde die Algerienfrage auf den Vollversammlungen der Vereinten Nationen diskutiert, entweder im Hinblick darauf, ob sie Gegenstand der Tagesordnung werden sollte, oder ob (nach einem positiven Votum darüber) Resolutionen verabschiedet werden sollten. Frankreich brauchte zur Ablehnung der Aufnahme der Algerienfrage auf die Tagesordnung und im Fall des Misserfolgs zur Verabschiedung einer gemäßigten Resolution die Stimmen der lateinamerikanischen Staaten. Diese teilten die amerikanische Position über die Überlebtheit des Kolonialismus, räumten aber spezifische Probleme in der Algerienfrage ein, insbesondere Frankreichs Verantwortung für die europäische Bevölkerungsminderheit. Seit 1956 erfolgten praktisch nahezu alle französischen Initiativen für eine friedliche Regelung des Algerienproblems - auch mit Blick auf die Vollversammlung der Vereinten Nationen, weil dem FLN ein psycholo-

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gischer Sieg über Frankreich in dieser Institution, nämlich eine mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete Verurteilung Frankreichs, verwehrt werden sollte. Eine französische Verurteilung hätte in Algerien die Bereitschaft zur Unterstützung des FLN als einziger repräsentativer Organisation des algerischen Nationalismus verstärkt. Die sukzessiv schwächer werdende Autorität der französischen Regierungen während der Streitereien um Details einer mittleren Lösung 1957 und Anfang 1958 hat der französischen Armee zunehmend Handlungsspielräume verschafft. Sichtbarer Ausdruck waren die Entführung eines marokkanischen Flugzeugs mit vier der historischen Führer des FLN im Oktober 1956 und zahlreiche Luftangriffe auf FLN-Basen in Tunesien, deren umfangreichste im Februar 1958 stattfand. Die USA lehnten den französischen Anspruch auf ein Recht auf Verfolgung auch auf neutralem Territorium ab (obwohl sie später bei ihrem eigenen Krieg in Vietnam und heute bei ihrem Krieg gegen den islamistischen Terror sich auf genau dieses Recht berufen). Gemeinsam mit Großbritannien verfolgten sie eine Mission „guter Dienste," die leicht zu einer Vermittlung zwischen Frankreich und dem prowestlichen tunesischen Präsidenten Bourguiba führen konnte. Dieser angloamerikanische Versuch zur Vermittlung war ein wichtiger Faktor. Im Mai 1958 kam es zum Zusammenbruch der Französischen IV. Republik und zur Präsidentschaft Charles de Gaulies, der - obgleich er als Gegner angloamerikanischer Hegemonie galt - nie das angloamerikanische Eintreten für eine Unabhängigkeit Algeriens in Frage gestellt und dieses eher als Waffe in den internen Kämpfen in Frankreich benutzt hat. Dies erlaubte ihm amerikanische Unterstützung für sein Ziel eines vorrangig französischen Einflusses in Nordafrika (und im westlichen subsaharischen Afrika) als Kompensation für Frankreichs Mitwirkung bei der Unabhängigkeit Algeriens und des subsaharischen Afrika zu gewinnen. Die Strategie der amerikanischen Regierung entsprach der Position der amerikanischen Ölgesellschaften. Obwohl Frankreich für Exxon während des ganzen Krieges ein wichtiges Konzessionsgebiet in der Sahara freihielt, hat sich keine der größeren amerikanischen Gesellschaften bei der Ölsuche in der Sahara vor der Unabhängigkeit des Landes beteiligt. Berichte über Kontakte zwischen Ölgesellschaften und dem FLN lassen kein klares Eintreten der Ölgesellschaften für den FLN erkennen. Die dynamischen Teile des internationalen Rohstoffgeschäfts, nicht nur der Ölindustrie, hielten zu dieser Zeit eine Teilung der Renten mit nationalistischen Führern der Förderländer für unausweichlich, um

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zuverlässige Bedingungen für die Abbautätigkeit in der unterentwickelten Welt zu sichern. Die sowjetische Position im Algerienkrieg spiegelte die angloamerikanische Beachtung spezifisch französischer Interessen der Region wider. Die Sowjetunion wollte nicht die Ersetzung des französischen Einflusses durch den angloamerikanischen. Die UdSSR anerkannte ausdrücklich Frankreichs Recht, eine liberale Lösung in Algerien unter eigener Verantwortung zu finden, insbesondere beim Besuch des französischen Premierministers im Mai 1956 in Moskau, aber im Prinzip während der ganzen Dauer des Krieges, und dies trotz der Rivalität innerhalb des Blocks mit der VR China über das Verhältnis zu den nationalen Befreiungsbewegungen innerhalb der Dritten Welt. 4 Die UdSSR verweigerte bis Kriegsende die diplomatische Anerkennung der 1958 gegründeten provisorischen Regierung der Algerischen Republik und riet öffentlich dem FLN zur Annahme des de Gaulleschen Vorschlags vom September 1959, nach vier Jahren relativer Gewaltlosigkeit unter französischer Aufsicht und unter Kontrolle der französischen Armee in Algerien ein Referendum durchzuführen. Osteuropäische Beiträge zur Ausbildung von Kadern des FLN waren im Vergleich zu französischen Anstrengungen bei der Ausbildung algerischer Eliten sehr begrenzt. Die USA und die UdSSR wollten den OstWest-Konflikt aus Nordafrika heraushalten. Dies beeinflusste den Wettbewerb zwischen Machtgruppierungen im arabischen Raum. Die Nasseristen und Baathisten aus dem Maghreb waren bestrebt, den Algerienkrieg zur Ausdehnung ihres Einflusses im arabischen Raum zu nutzen. Gegner waren die gemäßigten arabischen Kräfte, der tunesische Präsident Bourguiba und der marokkanische König Mohammed V. Um in den eigenen Ländern die nasseristischen und baathistischen Tendenzen zu begrenzen, nutzten sie ihren Einfluss auf Frankreich, um eine französisch-maghrebinische oder eine französisch-afrikanische Lösung, zum Beispiel in der Form eines Commonwealth, zu finden, wobei in den ersten Jahren Algerien nur das Recht auf Unabhängigkeit zugestanden wer4 Vgl. hierzu insgesamt Gilbert Meynier, Histoire intérieure du FLN 1954-1962, Paris 2002; Ronald Hirschfeld, Die Beziehungen der DDR zu Algerien, Syrien und der VAR zwischen 1953-1970 (Dissertation), Bonn 1978; Karl Heinz Woitzek, Die Auslandsaktivitäten der SBZ, Mayence 1967; Manfred Kittel, „Wider die Kolonialmacht der französischen Großkapitalisten und die Rüstungsmillionäre des Nordatlantikpakts". SED und Algerienkrieg 1954-1962, in: Revue d'Allemagne, 31, 3-4 (Juli-Dezember 1999), S. 409; Slimane Chikh, L'Algérie en armes ou le temps des certitudes, Algier 1981, S. 183.

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den sollte. Die Kontakte zwischen beiden Führern und der französischen Führung, insbesondere unter de Gaulle, rissen praktisch nie ab, wobei Marokko und Tunesien auch den FLN zu einer Mäßigung seiner Forderungen, insbesondere zur Annahme von Vorschlägen de Gaulles, drängten.

III. Demokratische Werte durch Transformation realistischer Machtinteressen Die Geschichte des französischen Algeriens ist reich an Versuchen, die muslimische Bevölkerung an der Regierung der Kolonie zu beteiligen und in Frankreich eine Ausweitung der Staatsbürgerschaft anzustreben. Allerdings war die reale Bereitschaft Frankreichs, selbst mit gemäßigten algerischen Nationalisten zu verhandeln, derart begrenzt, dass die Fälschung von Wahlen vor allem ab 1947 sprichwörtlich wurde. Die Niederlage des Faschismus schloss eine offen rassistische Diskriminierung der autochthonen Bevölkerung aus, so dass man das politische Gewicht der muslimischen Mehrheitsbevölkerung mit subtileren Maßnahmen einzudämmen suchte. Gegen solche Praktiken haben sich die basisnahen Kader der nationalistischen Bewegung gewandt, als sie im Sommer 1954 den Guerillakrieg beschlossen, der von August 1955 bis Sommer 1956 zur Befreiung von wenigstens zwei Dritteln des algerischen Territoriums von der Kontrolle der französischen Streitkräfte führte. Die demokratischen Prinzipien der Anti-Hitler-Koalition schlossen einen offen als Wiedereroberungskrieg erscheinenden Eingriff französischer Kräfte aus, bei dem der Sieg durch hohe Opfer unter einer dann resignierenden algerischen Zivilbevölkerung erreicht worden wäre. Zivile Opfer mussten vermieden werden. Die im Land verbleibende Bevölkerung sollte mit anderen Mitteln als bloßer militärischer Gewalt und kollektiver Repressalien „gewonnen werden", auch wenn das die Anwendung solcher Maßnahmen auf lokaler Ebene nicht verhinderte. Eine nur auf Gewalt setzende Strategie hätte Frankreich - angesichts der Rivalität zwischen Ost und West über die korrekte Interpretation demokratischer Prinzipien - international isoliert. Frankreich musste deshalb seine militärische Überlegenheit dazu nutzen, einen politischen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich eine algerische Mehrheit herausbilden konnte, die das Ziel der Unabhängigkeit als nicht erreichbar oder nicht wünschenswert verwarf. Dabei wusste die Zielgruppe der Zivilbevölke-

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rung sehr genau, dass zivile Opfer politische Verluste der Kolonialmacht darstellten. Frankreichs Strategie wandte eine Vielzahl von Instrumenten an. Die Führer der Befreiungsbewegung mussten unabhängig von ihren Aktionsmethoden aus dem öffentlichen Leben verbannt werden. Schon wer nur nationalistische Meinungen vertrat, war so gefährlich wie die Anhänger von Gewalt, weil die bloße Präsenz nationalistischer Positionen im öffentlichen Leben atomisierte und isolierte Sympathisanten des Endes französischer Herrschaft in Algerien zur politischen Organisation verhelfen konnten. Die Guerilla - der Fisch in Maos Teich - musste einzeln aus dem Wasser geholt werden, weil man das Wasser mit Rücksicht auf den Rest seiner Mitbewohner nicht einfach auspumpen konnte. Deshalb wurde die Folter zu einem allgemein akzeptierten Instrument der Informationsgewinnung. Es entstanden 1957/58 rational organisierte und spezialisierte Institutionen der Armee, die die bislang eher chaotische Anwendung der Folter und anderer Gewaltformen in Algerien übernahmen. Die Unterdrückung wurde in den legalen Apparat integriert, um unkontrollierbare lokale Initiativen zu verhindern. Eine erste Gruppe von Maßnahmen betraf die Aufhebung rechtsstaatlicher Garantien im Gerichtswesen durch Ausweitung der Straftatbestände (durch die jede Form der Unterstützung der Nationalisten unter Strafe gestellt wurde), so dass Verdächtige allein aufgrund ihrer vermuteten Meinungen ohne Gerichtsentscheidung festgesetzt werden konnten.5 Da die Kolonialmacht nur sehr begrenzte Brückenköpfe in der kolonisierten Gesellschaft hatte, die in den ersten beiden Kriegsjahren von der Befreiungsbewegung weitgehend liquidiert wurden, und die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung die Rebellion nicht unbedingt aufgrund tiefer Überzeugungen, aber zuverlässig aufgrund der noch bedeutsamen gemeinschaftlichen Strukturierung der Gesellschaft unterstützte, verfügte der FLN stets über ausreichende Kandidaten zur Auffüllung seiner Einheiten, selbst im Fall militärischer Niederlagen. Deshalb mussten nicht nur die aktiven Parteigänger des FLN vom Rest der Bevölke-

5

Vgl. hierzu Sylvie Thénault , Assignation à résidence et justice en Algérie (19541962), in: Droit Social, 34 (1996), S. 105-115; Sylvie Thénault , Armée et justice en guerre d'Algérie, in: Vingtième siècle, 57 (Januar-März 1998), S. 104-114; Sylvie Thénault , La justice dans la guerre d'Algérie, in: Mohammed Harbi!Benjamin Stora (Hrsg.), La Guerre d'Algérie: 1954-2004, la fin de l'amnésie, Paris 2004, S. 77-96.

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rung isoliert werden: Die Bevölkerung musste selbst vom Kontakt mit noch nicht liquidierten potenziellen oder tatsächlich schon engagierten Parteigängern der Befreiungsbewegung getrennt werden. Dazu wurde die Freizügigkeit in Algerien so weit beschränkt, dass über die Zuweisung von Wohnsitzen beliebige Mitglieder der algerischen muslimischen Bevölkerung in Lager eingewiesen werden konnten. Nach Vorarbeiten, die sich auch gegen die kommunistische Bedrohung innerhalb der französischen Gesellschaft wandten, kam es im April 1955 zu einer neuen Form der Notstandsgesetzgebung, in der die Zivilverwaltung zuständig für Notstandsmaßnahmen - einschließlich des Einsatzes der Armee und der Übertragung von Polizeiaufgaben an die Streitkräfte - wurde, mit dem Ziel, legal organisierte Bewegungen zu unterdrücken, die ihren Einfluss auf die Bevölkerung durch friedliche Mittel erlangt hatten. Eine solche vor allem gegen den inneren Feind gerichtete Notstandsgesetzgebung spiegelte die Ersetzung nationaler Konflikte zwischen ethnisch homogenen Bevölkerungen aus der Zeit der klassischen imperialen Realpolitik durch Konflikte zwischen international oder transnational organisierten politischen Bewegungen wider. Die Schaltstellen der Macht, die in der realistischen Analyse als Staaten mit homogenen Interessen miteinander rivalisierten, wurden durch ebenso machtorientierte, aber nicht mehr allein auf Staaten fixierte transnationale Koalitionen ersetzt. Der innere Feind war Teil einer gegnerischen transnationalen oder internationalen Organisation. Die neue Notstandsgesetzgebung bestand in neuen Machtbefugnissen der Verwaltung zur Bekämpfung dieses inneren Feindes auf nationaler Ebene. In der neuen Notstandsgesetzgebung wurde die Schließung von Versammlungslokalen, sogar Bars und Restaurants ermöglicht. Publikationen, Filme und selbst Theatervorstellungen konnten verboten werden. Als gefährlich betrachtete Individuen konnten aus dem Gebiet, in dem die Notstandsgesetzgebung angewandt wurde, ausgewiesen werden. Für ganze Gebietsstriche konnte jeder Zugang von Genehmigungen der Verwaltungsbehörden abhängig gemacht werden.

IV. Kollektive Abschreckung und kollektive Organisation Frankreichs taktisches Ziel war die Gewinnung einer ausreichenden Basis in der Bevölkerung, ohne diese physisch zu dezimieren. Kollektive Abschreckung und kollektive Organisation mussten deshalb die Opfer

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unter der Zivilbevölkerung durch zunehmende Kontrolle begrenzen: Externe Kontrolle war Aufgabe von Polizeimaßnahmen, interne Kontrolle das Ergebnis von propagandistischer Beeinflussung und angemessenen Anreizsystemen. Unmittelbare Folge der rechtlichen Unmöglichkeit, Täter, insbesondere aber Sympathisanten der Befreiungsbewegung, einfach umzubringen, war die Errichtung von zwei Typen von Lagern. In einem Typ der Lager ging es darum, „infizierte" Teile der algerischen Gesellschaft zu identifizieren, um sie von der angeblich profranzösischen Mehrheit dauerhaft abzutrennen. Im zweiten Typ waren die als „infiziert" identifizierten Teile der Gesellschaft dauerhaft vom Rest der Gesellschaft zu trennen. Beim ersten Typ handelte es sich um die „camp de transit et de triage". Hier wurde gefoltert, um Nachrichten jedweder Art zu erlangen, insbesondere über die Mitgliedschaft in der Befreiungsbewegung, die nach konspirativen Methoden organisiert war. Zahlen zum Umfang der Insassen liegen für die erste Zeit, in der diese Lager spontan von französischen Einheiten im Rahmen ihrer wachsenden Kontrolle über algerisches Gebiet errichtet wurden, nicht vor. Anfang 1959 wurden 16.000 Insassen angegeben. Mit den französischen Bemühungen zu Verhandlungen zunächst mit verschiedenen Tendenzen des algerischen Nationalismus, sodann der provisorischen Regierung der algerischen Republik nahm die Zahl recht bald ab. Der zweite Typ von Lagern hatte während der Schlacht von Algier 1956/57 etwa 24.000 Insassen, deren Zahl später auf ca. 10.000 zurückging. 6 Die Identifizierung einer substanziell frankreichfeindlichen Minderheit erforderte die Übernahme der Zielgruppe unter französische Kontrolle. Die Bevölkerung wurde in Umsiedlungslager und geschützte Dörfer gebracht. Wo wegen der Abgelegenheit die französische Armee keinen Schutz vor Guerillakämpfern gewähren konnte, musste die Bevölkerung in Lager umgesiedelt werden. Größere Dörfer mit Anschluss an das Transportsystem wurden in kleine Festungen verwandelt, deren Einwohner für alle Störungen der Sicherheit oder für antifranzösisches Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Die Bevölkerung wurde ökonomisch von den Sicherheitserwägungen der Schutzkräfte abhängig, die zum Beispiel darüber befinden konnten, ob landwirtschaftliche Arbeiten außerhalb der befestigten Zone oder Versorgungslieferungen sicherheits6

Vgl. Guy Pervillé , La guerre d'Algérie: combiens de morts?, in: Harbi/Stora, re, S. 482.

Guer-

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mäßig zu rechtfertigen waren. Kräfte der „Infizierung" konnten noch innerhalb der geschützten Zone präsent sein, doch waren sie stets dadurch gefährdet, dass die Abhängigkeit der Einwohner von den französischen Schutzkräften diesen ermöglichte, Kollaborateure und Informanten zu rekrutieren. Weil die Guerilla beim Betreten der Lager auf ihre Waffen hätte verzichten müssen, musste sie draußen bleiben oder wenigstens auf Einschüchterung innerhalb der Lager weitgehend verzichten. 7 Mehrere Berichte bestätigen den Erfolg dieser Maßnahme im Kampf gegen den bewaffneten Aufstand. Die Guerilla verfügte über keine Möglichkeit mehr, von der Bevölkerung direkt unterstützt zu werden. Die in den Lagern befindliche große Mehrheit der Bevölkerung wurde als umerziehungsfähig angesehen. Mit ihr sollte eine neue moderne algerische Gesellschaft aufgebaut werden. 8

V. Eine demokratische Machtstruktur ohne Basis im Lande Mit Repression konnte man den Muslimen zwar den Mund verbieten, aber keine demokratische Legitimität für Frankreichs Anspruch auf Souveränität in Algerien schaffen. Solange die Bevölkerung in ihrem „mutisme" (Schweigen) verharrte, waren selbst formale korrekt durchgeführte Wahlen kein Beleg für französische Legitimität und führten eher zur Wahl von nicht repräsentativen Brokern zwischen dem Repressionssystem und der davon klientelistisch abhängigen Masse der Bevölkerung. Frankreich musste eine profranzösische Elite finden, die den Staatsapparat auf allen Ebenen übernahm und dabei ausreichend Wahlunterstützung erhielt, damit ein späteres Referendum über die Zukunft Algeriens für Frankreich gewonnen werden konnte. Die Errichtung eines solchen politischen Systems wurde vom FLN klar als bedrohlich empfunden, weil Frankreich ihm damit die Repräsentativität als Vertreter des algerischen Volkes bestritt und im Fall des französischen Erfolgs eine eigene Elite schuf. Die algerische Befreiungsbewegung nutzte deshalb die Periode der eigenen Kontrolle des Territoriums zur Einschüchterung

7 Vgl. hierzu: Michel Cornatoti, Les regroupements de la décolonisation en Algérie, Paris 1970, S. 88; Moula Bouaziz!Alain Mahé: La Grande Kabylie durant la guerre d'Indépendance algérienne, in: Harbi/Stora, Guerre, S. 255. 8 Vgl. Mohamed Teguia , L'Algérie en guerre, Algier 1988, S. 264; Ahmed Benchérif, L'aurore des méchtas. Quelques épisodes de la guerre d'Algérie, Algier 1962, S. 88.

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und Liquidierung aller Kollaborateure und Repräsentanten der kolonialen Ordnung vom lokalen Richter (Kaïd) bis zu den Mitgliedern französischer parlamentarischer Versammlungen, die nicht bereit waren, öffentlichkeitswirksam auf die Seite des FLN überzuwechseln. Die Behandlung der „infizierten" Regionen durch die französischen Streitkräfte hatte zum Ziel, eine neue algerische Elite zu schaffen. Auf allen Ebenen wurden Programme in Gang gesetzt, um muslimische Beamte und Offiziere auszubilden. Der Erfolg war vielleicht nicht für die Aufrechterhaltung des französischen Algeriens groß, wohl aber für die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien.9 Frankreich ließ die Befreiungsbewegung ausbluten, so dass bei der Unabhängigkeit der Aufbau des Staates ohne die von Frankreich ausgebildeten Kader unmöglich war. In den letzten Phasen des Krieges gab es sogar informelle Kontakte zwischen den französischen Ausbildungsinstitutionen und der algerischen Befreiungsbewegung. 10 Auf lokaler Ebene ernannte die französische Armee zunächst lokale Räte entsprechend der französischen Gemeindegesetzgebung, auf die mit zunehmender militärischer Sicherheit durch Wahlen gebildete Räte auf Gemeinde-, Kantons- und Departementebene folgten, so dass eine von der Befreiungsfront unterschiedene institutionelle Struktur entstand. Der Anteil der Muslime an den Räten erreichte ca. 80 Prozent der Gesamtzahl. Das muslimische Militärpersonal umfasste 220.000, also weit mehr als alle Kämpfer der Befreiungsbewegung einschließlich der FLNTruppen in den Grenzregionen Marokkos und Tunesiens. Die territoriale Organisation wurde durch funktionale Massenorganisationen für Jugendliche, Frauen und Kriegsveteranen der französischen Armee ergänzt. Die in die profranzösischen Organisationen integrierten Muslime stellten zwar nicht die Mehrheit der algerischen Bevölkerung dar, wohl aber ein substanzielles Potenzial, sofern sie der Erwartung genügten, weitere Bevölkerungsgruppen um sich zu scharen. Entscheidend war aber, dass ihr Engagement für die Sache Frankreichs sehr viel geringer war als das En-

9

Vgl. hierzu Lounis Aggoun/Jean-Baptiste Rivoire , Françalgérie. Crimes et mensonges d'Etats. Histoire secrète, de la guerre d'indépendance à la „troisième guerre" d'Algérie. Paris 2004; Si Othmane, L'Algérie, l'origine de la crise ou la guerre d'Algérie, suite et fin, Paris 1995, S. 35. 10 Vgl. Ali Haroun , La 7e wilaya. La guerre du FLN en France 1954-1962, Paris 1986, S. 75-83.

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gagement der Freiheitskämpfer für eine unabhängige algerische Republik.

VI. Frankreichs prekärer Sieg in Algerien Die abwartende Haltung der Masse der Bevölkerung ließ sich durch Erfolge auf zwei Ebenen verändern. Frankreich hatte nachzuweisen, dass es die militärischen Kräfte der Befreiungsbewegung viel nachhaltiger beseitigen konnte als jedwede autochthone Regierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den damit gültigen demokratischen Prinzipien konnte eine nationale Regierung sehr wohl mit öffentlicher Gewalt leben, wenn sie nicht durch militärische Instrumente aus dem Amt getrieben oder von der Bevölkerung völlig isoliert wurde. Der algerische Bürgerkrieg hat ab 1992 demonstriert, dass eine lokale Regierung auch ohne Sieg auf dem Schlachtfeld legitim bleibt und sehr viel höhere Niveaus von Gewalt akzeptieren könnte. Die nach der Entkolonisierung entstandenen neuen nationalistischen Regierungen sind wie alle vordemokratischen Regierungen nur ihren lokalen Machtbasen und nur zu einem gewissen Grad auch ausländischen Geldgebern verpflichtet, deren wichtigste wie die Weltbank oder der IMF zwar durch demokratische Forderungen aus dem Westen beeinflussbar, diesen aber nicht verantwortlich sind. 11 Mit ungefähr 60.000 Elitesoldaten hat das Militärregime nach Präsident Chadli Benjedid sich trotz massiver Verluste unter der Zivilbevölkerung und zeitweise allgemeiner Unsicherheit an der Macht halten können. Verschiedene Führungen dieses Militärregimes hatten sogar die Stirn, die Landbevölkerung direkt für die eigene Sicherheit verantwortlich zu machen; sie schoben dieser wiederholt die Verantwortung für von den islamistischen Freiheitskämpfern verübte Massaker zu. Im Ergebnis wurden die Algerier der Unsicherheit und der politischen Einbahnstraßen überdrüssig, so dass sie die islamistischen Kräfte einfach auch als illegitim ansahen. Frankreich war dagegen ziemlich erfolgreich bei der Beseitigung der Guerilla mit relativ konventionellen Militärtaktiken. Nach der Besetzung des Landes wurden regionale und überregionale Reserven gebildet, die konzentriert Guerillaeinheiten aufspürten und vernichteten und dabei alle vorhandenen Waffen einsammelten. Die Verriegelung der Landesgrenzen im Westen und im Osten mit Stacheldrahtbarrieren und Minenfel11

Vgl. Katja Röken, Has the World Bank Changed? Dissertation 2003.

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dem und die völlige See- und Luftherrschaft beseitigten jeden Nachschub an Waffen und Munition fur die Befreiungsbewegung. Die Waffenverluste konnten immer weniger ausgeglichen werden, so dass sich die Guerilla in eine schlecht bewaffnete Truppe von Idealisten ohne Feuerkraft für Militäroffensiven verwandelte. Zu erklären ist, weshalb der militärische Sieg nicht in politische Hegemonie verwandelt werden konnte. Frankreich betrieb wirtschaftliche Entwicklungspolitik in einem noch nicht bekannten Ausmaß, die auch im Rahmen der Entwicklungshilfe aus dem Westen für die unterentwickelte Welt des Südens bisher nicht erreicht wurde. Das Instrument der ökonomischen Interdependenz schuf jedoch keine ausreichende politische Basis in der algerischen Bevölkerung, die von der Unabhängigkeit Algeriens Nachteile erwartete. Ebenso konnte die Überzeugung nicht vermittelt werden, dass Frankreich dauerhaft in Algerien bleiben würde. Der von Frankreich gebildete Brückenkopf vermittelte nicht den Eindruck, er könne ohne dauerhafte militärische und ökonomische Unterstützung von Frankreich überleben. Diese Schwächen des französischen Brückenkopfs in Algerien waren Folge der fehlenden Bereitschaft der französischen Führungen, Algerien als einzig mögliche Quelle französischer internationaler Machtstellung überzeugend glaubhaft zu machen. Die Interessen für ideologische und kulturelle Gemeinschaft mit dem Westen hatten Vorrang und schlugen sich in der Weigerung nieder, einen hohen Preis für die rasche Angleichung des Lebensstandards in Algerien auf das Niveau Frankreichs zu zahlen. Frankreich schreckte davor nicht allein wegen der wirtschaftlichen Kosten eines erneuerten französischen Algeriens, sondern wegen des großen Konsensus innerhalb des mittleren Sektors der französischen öffentlichen Meinung zurück, die in den Algeriern keine Franzosen sahen. Die algerischen Muslime hatten nicht das Recht, die rasche ökonomische Modernisierung Frankreichs durch große Finanztransfers nach Algerien in Frage zu stellen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts fühlten sich die Kolonisierten gegenüber den Metropolen unterprivilegiert, doch waren die finanziellen Ressourcen der Kolonien derart schwach, dass eine Überwindung dieser Schlechterstellung ohne Transfers aus den Metropolen nicht möglich war. Die aber hatten kein Interesse, Kolonialkriege zugunsten verarmter Territorien zu führen, um diese anschließend noch finanziell zu subventionieren.

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Die Theorie konterrevolutionärer Kriegsfuhrung gab das Bild des Kolonisierten als eines glücklichen Wilden auf, der mit einem mäßigen Grad an Rechtssicherheit zufrieden zu stellen war, und räumte die Berechtigung der Forderung der algerischen Muslime in Bezug auf Anerkennung ihrer Würde auf politischer, sozialer und ökonomischer Ebene ein. Ihnen war politische Gleichheit, Verbesserung ihrer ökonomischen Lage durch Beschäftigung und soziale Gleichheit in allen Lebensbereichen mit der französischen Bevölkerungsminderheit in Algerien zuzugestehen. Sie wurden nicht mehr als in traditionellen Gemeinschaften gebunden angesehen, deren Führer die Forderungen der Kolonialmächte durchzusetzen vermochten, sondern waren Staatsbürger wie alle anderen Staatsbürger auf der Welt - auch in Frankreich. Die rassistische Betrachtung der Kolonisierten als radikal verschieden von westlichen Staatsbürgern wurde aufgegeben. Bei Konflikten zwischen transnational organisierten ideologischen Lagern gab es nach dieser Theorie Minderheiten in jeder Gesellschaft, die nicht an der Abhilfe gegen solche Ungerechtigkeiten, sondern an der Zerstörung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung interessiert waren, um später die Macht gegen die nationalen Interessen etablierter und demokratisch legitimierter Mächte zu übernehmen, und dies im Interesse dämonisierter ausländischer Mächte, zum Beispiel der Kommunistischen Internationale, kommunistischer Weltmächte oder der panarabischen Bewegung oder einer Mischung aus allen. Die feste und tiefe Verankerung der französischen Demokratie war ein wesentliches Hindernis für die Durchsetzung der Anhänger der konterrevolutionären Kriegsführung. Der Kampf gegen den Krieg in Algerien war zunächst von linksgerichteten Gruppen getragen worden, die den Kolonialismus prinzipiell abgelehnt hatten; sie gewannen aber allmählich an Gewicht durch Kampagnen gegen die von der französischen Armee in Algerien angewandten Methoden, insbesondere durch die Kampagne gegen die Folter ab Anfang 1957, die sich weniger gegen das Ziel des französischen Algeriens als gegen die moralischen Kosten des Kriegs wandten. Gewicht gewannen solche Kampagnen vor allem deshalb, weil in der öffentlichen Meinung zwei Themen immer präsent waren, wenn sie auch wenig diskutiert wurden, nämlich der Unterschied zwischen algerischen Muslimen und Franzosen sowie die ökonomischen Konsequenzen des

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Krieges. Diese beiden Argumente nahmen der französischen Armee viel Glaubwürdigkeit.

VII. Die öffentliche Meinung in Frankreich Die Integration Algeriens hatte in Frankreich nie eine Mehrheit, nicht einmal unter den entschlossensten Gegnern der französischen Kriegsanstrengungen. Vom Beginn des Algerienkriegs bis zur Darstellung der Integration als einer wünschbaren Lösung durch de Gaulle in seiner Rede zur Selbstbestimmung Algeriens vom 16. September 1959 und selbstverständlich in der Folgezeit hat die große Mehrheit der französischen politischen Elite genauso wie die französische öffentliche Meinung - dort vor allem bei den wirtschaftlich schwächeren und weniger ausgebildeten Teilen der Bevölkerung - die Integration abgelehnt und eine mittlere Lösung präferiert, der zufolge Algerien eine selbstständige Einheit mit begrenzter Autonomie unter Vormundschaft Frankreichs werden sollte, bei der die französischen Interessen und die Interessen der euopäischen Bevölkerungsminderheit in Algerien zu schützen waren. De Gaulle war mit seinem Engagement für eine mittlere Lösung nicht innovativ, auch kaum bei deren allmählich sich wandelnder Ausgestaltung. Am Ende des Kriegs wurde als mittlere Lösung ein unabhängiges Algerien mit engen ökonomischen und einigen militärischen Bindungen an Frankreich präsentiert. Bis 1960 bestand die intermediäre Lösung in einem Algerien mit institutionellen Bindungen an Frankreich - mit Bindungen, die Frankreichs militärische und ökonomische Interessen durch die Bildung eines französischen Korridors zwischen dem Mittelmeer und der noch französischen Sahara garantierte, bei der dann die französische Minderheit zusammen mit frankreichfreundlichen algerischen Muslimen in diesem Korridor anzusiedeln war. Die Algerier wurden weder als Franzosen noch als Kandidaten für eine Französierung angesehen, im Unterschied zu individuellen Einwanderern aus anderen Ländern in Frankreich. Sie waren eine Gemeinschaft oder in Gemeinschaften aufgeteilt, die nicht in eine aus unabhängigen Staatsbürgern bestehende französische Nation integriert werden konnten. Während des Algerienkriegs war Frankreich nur sehr oberflächlich an Renans Konzept der Nation als einem täglichen Plebiszit orientiert. 12 De

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Vgl. Ernest Renan, Qu'est-ce qu'une Nation?, in: ders ., Qu'est-ce qu'une Nation? Et autres écrits politiques, Paris 1996, S. 241.

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Gaulle stand einer solchen mehr an ethnischen als an republikanischen Prinzipien von 1789 orientierten Definition aufgrund seines politischen Hintergrunds ziemlich nahe. Gleichzeitig lehnte die breite Mehrheit der Franzosen - insbesondere die dynamischeren unter den französischen Großunternehmern - es ab, die Kosten eines rasch steigenden Lebensstandards der muslimischen Bevölkerung in Algerien zu tragen, trotz der hohen staatlichen Ausgaben zur Industrialisierung des Landes. In eleganteren Versionen wurde das Argument mit dem Hinweis auf fehlende finanzielle Ressourcen für die Entwicklungsanstrengungen in Algerien vorgetragen. 13 In einer radikaleren Form wurden die negativen Auswirkungen von Ausgaben für die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien für den französischen Lebensstandard dargelegt. 14 Dieser Widerstand gegen die Kosten in breiten Teilen der französischen Bevölkerung nahm zu, als die inflationäre Kriegsfinanzierung, die zwischen 1956 und 1958 vorherrschte, durch eiserne Haushaltsdisziplin ab 1959 mit entsprechenden Konsequenzen für die wirtschaftlich schwächeren Teile der französischen Gesellschaft ersetzt wurde. Charles de Gaulle blockierte alle ernsthafteren Versuche zur Integration 1958/59, er wies 1959 die parlamentarische Unterstützung für ein französisches Algerien zurück, er versetzte die Anhänger der konterrevolutionären Kriegsführung im Offizierskorps nach Europa und teilte die Armee in der Frage der am meisten Frankreich entsprechenden Lösung während des letzten Versuchs der französischen Siedlerbevölkerung, ihre Vorstellungen im Januar 1960 durch einen Aufstand in Paris durchzusetzen, er befreite schließlich die französische öffentliche Meinung von der Schimäre, dass Frankreich die Werte des Westens durch Kontrolle eines hoffnungslos armen Landes wie Algerien verteidigen würde, und zerschlug den Putsch von vier als Galionsflguren von den konterrevolutionären Offizieren benutzten Generälen im April 1961.

13

Vgl. Raymond Aron, La tragédie algérienne, Paris 1957. Vgl. Charles-Robert Ageron, La décolonisation au regard de la France, in: ders./Coquery-Vidrovitch, Histoire, S. 373-385. 14

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Vili. Eine realistische Definition der französischen Interessen als Gegenmittel gegen die konterrevolutionäre Strategie De Gaulles Algerienpolitik brach mit den Ideologien und den universalistischen Konzepten, welche die französische Politik seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg bestimmten. Er gab der unorganisierten schweigenden Mehrheit der französischen öffentlichen Meinung Stimme, welche die Nazi-Methoden zur Wahrung der französischen Identität und deshalb einen totalen Krieg in Algerien ablehnte. Gleichzeitig bot er eine neue Definition der französischen nationalen Interessen auf drei Ebenen an: Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt hing nicht mehr von den Ressourcen der Kolonien, sondern von der Fähigkeit zur Produktion hochtechnologischer Produkte mit Märkten in Frankreich und dem industrialisierten Westen ab. Dabei hätte eine Europäisierung der Entwicklungsanstrengungen in den Kolonien durch Bildung eines Eurafrika mit Zugang ausländischer Investoren zu den Ressourcen der französischen Kolonien zur Folge gehabt, dass ausländische Investoren die profitableren Bereiche nutzten, während Frankreich die Kosten der nicht profitablen Maßnahmen zur Entwicklung der Kolonien auf infrastrukturellem und sozialem Gebiet hätte tragen müssen. Warum sollte Frankreich die Kosten übernehmen, wenn die Gewinne mit anderen zu teilen waren? Frankreichs Großmachtstatus im militärischen Bereich war von seiner Mitgliedschaft im Nuklearklub abhängig. Frankreich konnte als nukleare Supermacht das eigene Territorium durch Abschreckung schützen. Abschreckung zugunsten von dazuhin noch aufmüpfigen Kolonien war in den Augen eines möglichen Gegners sinnlos. Frankreichs Einbettung in einen Zweig freundschaftlicher Beziehungen auf Weltebene musste insbesondere nach der Unabhängigkeit der Kolonien im subsaharischen Afrika durch die Fortdauer des Algerienkriegs beeinträchtigt werden. Dieser beraubte Frankreich der Option, innerhalb der Gruppe der westlichen Mächte etatistischen Regimen, wie sie aus der Entkolonisierung entstanden, am nächsten zu stehen und deren Interessen gegenüber der angelsächsischen Perspektive einer zunehmend deregulierten Weltwirtschaft zu schwächen. Der Verzicht auf die Option einer Teilung Algeriens zielte klar auf die Herstellung guter Beziehungen zur arabischen Welt als einer der Führungsgruppen innerhalb der Blockfreien. Die großzügige Gewährung der Unabhängigkeit an einen militärisch besiegten FLN konnte Frankreichs Rolle als Brücke

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zwischen der Dritten Welt und dem Westen stärken. Frankreich konnte ein Sprecher fur die etatistischen Regime des Südens mit ihrer Forderung nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung wegen der eigenen merkantilistischen Zurückhaltung gegenüber vollständiger Integration in die internationale Arbeitsteilung werden.

IX. Schlussfolgerung: Über die Vorzüge des Realismus als Instrument zur Friedensbildung durch Kompromiss Der französische Krieg in Algerien kann nicht durch ein kulturelles Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg erklärt werden. Die angewandten Formen der Gewalt belegen keine Absenkung der Schwelle für zivilisierten Krieg. Das Muster der Gewalt ist vielmehr direkte Folge des Respekts für die universelle Geltung demokratischer Prinzipien. Die französische Führung akzeptierte Folter zur Vermeidung eines Völkermords, der in früheren Zeiten durchaus akzeptabel gewesen wäre. Das ideologische Erbe des Zweiten Weltkrieges führte zu einer Definition französischer Identität, in der ein solches Ausmaß von Gewalt selbst für den Schutz Frankreichs vom Niedergang als kolonialer Großmacht durch eine große Mehrheit in Frankreich abgelehnt wurde. Ein Ausweg aus der Blockade zwischen dem französischen Interesse an fortdauerndem Großmachtstatus und der algerischen Forderung nach Unabhängigkeit kam aus der Rückkehr zu Großmachtpolitik auf der Grundlage einer realistischen, der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg entsprechenden Auffassung von Außenpolitik mit einer dem Ende des Kalten Kriegs entsprechenden Wahrnehmung der Verteilung der Macht zwischen den gesellschaftlichen Interessen, die hinter Staaten standen. Nicht zufällig haben Mitte-links-Regierungen internalistischer Ausrichtung die Kolonialkriege nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, während realistische konservative Führer wie Nixon und Kissinger in den USA und de Gaulle in Frankreich die Friedensverhandlungen führten. Sie waren dabei sicher nicht stärker auf Frieden und humanitäre Werte ausgerichtet, wohl aber respektierten sie deutlicher die Realitäten. Es war sinnlos, Kriege mit zweifelhaftem Engagement für die Menschenrechte und andere westliche Werte zu führen, wenn die militärischen, ökonomischen und geostrategischen Interessen für den Rückzug aus imperialer Verantwortung sprachen. Ein schönes Dokument für diese Rückkehr zu realistischen Perspektiven war Charles de Gaulles Ansprache vor Offizieren am

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10. Dezember 1960 in Blida: „Die Dritte Welt hat sich verändert. Algerien hat ein Selbstbewusstsein entwickelt, das es zuvor nicht hatte." De Gaulle war aufrichtig genug, um diese neuen Fakten zu bedauern. 15 Für die Frage des Einflusses des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs auf den Algerienkrieg zeigt sich zunächst eine große Bedeutung der Ideologie als Grundlage für die Bildung der Anti-Hitler-Koalition und später der Solidarität innerhalb der beiden Lager des Zweiten Weltkriegs, es zeigen sich sodann aber auch die Hindernisse, die daraus für die friedenstifienden Aspekte des Ansatzes des Mächtegleichgewichts der realistischen Schule erwachsen. Der Realismus in den internationalen Beziehungen geht nicht davon aus, dass Kriege das beste Mittel für die Durchsetzung nationaler Interessen sind, sondern dass Krieg möglicherweise als letztes Mittel dazu notwendig wird. Die Vermeidung von Kriegen durch Verfolgung eigener Interessen mit anderen Mitteln ist vorzuziehen, weil die menschlichen, moralischen und wirtschaftlichen Kosten von Kriegen zu hoch sind. Deshalb verteidigten die Realisten die Notwendigkeit eines Machtgleichgewichts, weil sie eine kriegsvermindernde Wirkung in Bezug auf die wahrgenommenen Kosten von Kriegen erwarteten. Die Rückkehr des Realismus in den internationalen Beziehungen, wie im französischen Algerienkrieg belegt, und die Suche nach Multipolarität des internationalen Systems kündigen keinen höheren Grad der Gewaltsamkeit für das 21. Jahrhundert an, sondern eine Begrenzung solcher Gewalt, wenn die Hegemonie einer einzelnen Macht vermieden wird, die auf ideologischer Ebene weltweit das Bewusstsein mit einem imperialistischen Diskurs kolonisieren würde. 16 Die Kriegsgegner setzten sich in Frankreich durch, weil immer mehr Teile der französischen Gesellschaft den Krieg in Algerien als schädlich für ihre eigenen Interessen und darüber hinaus auch für die französischen Interessen insgesamt wahrnahmen. Es gibt kein Erbe an Ideen aus den 15

Rede de Gaulles an die Offiziere der französischen Armee: „Du fait de l'insurrection même la population de cette Algérie, qui est en très grande majorité musulmane, a pris une conscience qu'elle n'avait pas. Rien n'empêchera cela ... Il est vain de prétendre qu'il s'agit d'une province comme notre Lorraine ou notre Provence." „Décorés par le président de la République, les vétérans auraient préféré de l'argent aux médailles, in: Le Monde, 4 (13. Dezember 1960), S. 4. 16 Vgl. Ulrich Brand , Nach der Krise des Fordismus: Global Governance als möglicher hegemonialer Diskurs des internationalen Politischen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 10, 1 (2003), S. 143-166.

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Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges oder des Kalten Kriegs, das zum Ende des Algerienkriegs beigetragen hätte, sondern eine neue Definition der französischen Interessen. In dieser Neudefinition spielten Ideen eine Rolle. Der deutsche Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen übersieht häufig die große Bedeutung, die realistische Ansätze den Interessen zugebilligt haben, wie Eckart Kehr in seiner Analyse der unterschiedlichen Imperialismen des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts gezeigt hat. 17 Eine solche Rückkehr zum Realismus wurde durch die Blockierungen auf ideologischem Gebiet behindert, die sich aus dem Kalten Krieg ergaben: Nationale Interessen wurden durch die Lagerinteressen und die Behauptung, es bestehe eine unlösbare weltpolitische Konfliktsituation, überlagert. Vielleicht hat der französische Krieg in Algerien mit dem moralischen Prestige, den de Gaulle daraus gezogen hat, als wesentlicher Faktor für die Überwindung dieser Blockade gewirkt, in deren Folge letztlich nach dem Fall der Berliner Mauer ein neues internationales System im Entstehen ist, bei dem - neben den USA und der Europäischen Union - neue Mächte wie Indien und China und vielleicht auch andere Länder ein multipolares internationales Gleichgewicht aufzubauen suchen. Aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges lehnte eine große Mehrheit in Frankreich den „totalen" Krieg ab, durch den sich Frankreich in eine Art Nazi-Deutschland verwandelt hätte. Der Wettbewerb zwischen Ost und West 1945 zwang Frankreich, eine demokratisch legitimierte Lösung anzubieten, die dem Land durch die westlichen Alliierten ohnehin dann aufgezwungen worden wäre, wenn Frankreich unter dem Druck der eigenen öffentlichen Meinung nicht die entsprechenden Regeln befolgt hätte. Der Ost-West-Konflikt selbst war kein entscheidendes Motiv für Frankreich, bei diesen Regeln zu bleiben, insbesondere nach dem Oktober 1956, als die UdSSR viel Prestige durch die Unterdrückung des Ungarn-Aufstandes eingebüßt und selbst bei den ihr zunächst freundlich gestimmten Teilen der westeuropäischen öffentlichen Meinung ein nicht geringes Ansehen verloren hatte. Das wachsende Selbstvertrauen des Westens in die ökonomische und moralische Überlegenheit des eigenen Systems erlaubte die Überwindung einer 1945

17 Vgl. Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930.

Frankreichs Algerienkrieg

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entstandenen Wagenburg-Mentalität, die 1917 ihren Anfang genommen hatte und Teile der westlichen Bourgeoisien verführte, den Faschismus zu unterstützen oder wenigstens zu tolerieren. Dieses wachsende Selbstvertrauen führte auch zum Niedergang der manichäischen Vision eines internationalen Systems, das den Westen zu einem Überlebenskampf zwang, und erlaubte den Aufstieg realistischer Definitionen nationaler Interessen, insbesondere bei demjenigen unter den westlichen Alliierten, der am wenigsten dem manichäischen Lagerdenken verpflichtet war. Die realistische Perspektive eröffnete den Weg für eine Verhandlungslösung zwischen FLN und Frankreich. Identitäre Orientierungen im internationalen System hatten zuvor den grundlegenden realistischen Ansatz in der französischen Politik vernichtet. Erst seine Wiederherstellung ermöglichte Ansätze in Richtung eines Kompromisses und schuf das Potenzial für eine gemeinsame „Vergangenheitsbewältigung", die beide Seiten in einer gemeinsamen Perspektive und im Dialog zaghaft, aber deutlich wachsend unternahmen.

Afrika in der Armutsfalle: Big Push als Antwort auf Afrikas „big problems"? Von Rainer Tetzlaff

Einleitung: Afrika in der Armutsfalle? Ist der Big Push die Antwort auf Afrikas „big problems"? - diese Frage beschäftigt gegenwärtig zahlreiche Entwicklungspolitiker weltweit 1 Die großen Probleme Afrikas sind struktureller Art und werden in UNDokumenten häufig als die Trias des Mangels umschrieben - Mangel an grundlegender Infrastruktur, an Humankapital und einer entsprechenden öffentlichen Verwaltung - , „den Fundamenten wirtschaftlicher Entwicklung und eines vom Privatsektor getragenen Wachstums".2 Zusammengenommen stellen diese Defizite eine Armutsfalle dar, womit bildlich der These Ausdruck verliehen wird, dass diese Länder sich aus eigener Kraft nicht aus den Fallstricken der Armut befreien könnten. In Zeiten der Verunsicherung kommt gerne die Frage auf „Does development aid matter"? Bisher hatten wir nicht hinreichendes empirisches Material zur Beantwortung der fur ODA-Institutionen existentiell wichtigen Frage, welchen Anteil an den wenigen Entwicklungserfolgen und den zahlreichen Misserfolgen die Official Development Aid (ODA) der OECD-Staaten und die International Finance Institutions (IFIs) gehabt haben könnten. Seit Jahrzehnten gibt es ernst zu nehmende Kritiker, die der ODA der Industriestaaten eher lähmende Wirkungen auf das Verhalten wichtiger Akteure im Empfängerland beimessen und fur einen Abbau oder Stopp von Entwicklungshilfe plädieren. 3 Ein anderes Standardargument bezieht sich auf die beschränkte Absorptionsfähigkeit der 1

Vgl. Dirk Messner!Imme Scholz (Hrsg.), Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik, Baden-Baden 2005. 2 U N Millennium Policy 2005, 21, zitiert in: Helmut Asche, Durch einen Big Push aus der Armutsfalle? Eine Bewertung der neuen Afrika-Debatte. DIE Discussion Paper 5/2006, S. 14. 3 Peter Wolff, Entwicklungspolitik und Armutsbekämpfung, in: Messner!Scholz (Hrsg.), Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik, Baden-Baden 2005, S. 107-118.

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meisten postkolonialen , jungen Staaten", die schlicht überfordert seien, die zahlreichen Hilfsangebote externer Geberorganisationen (zu deren jeweils spezifischen Bedingungen) sinnvoll in die Praxis umzusetzen. Desto erstaunlicher muss die aktuelle Diskussion wirken, die im Big Push die Lösung aus der Dauerkrise der Entwicklungspolitik zu suggerieren versucht. Beim Theorem des Big Push, das seit Proklamation der Millenniumsziele vor allem vom amtierenden UN-Generalsekretär Kofi Annan und dem US-amerikanischen Starökonomen Jeffrey Sachs proklamiert wird, geht es im Kern um folgende „regulative Idee" (im Sinne Kants: eine Idee also, die noch nicht realisiert ist, aber die die Regelung konkreter Problemlagen zu initiieren verspricht): die Armutsländer Afrikas stecken so hoffnungslos verheddert in einer Vielzahl wirtschaftlicher und sozialer Probleme, dass ihnen mit einer graduellen Erhöhung der Entwicklungshilfe nicht zu helfen sein würde, sondern nur mit einer massiven kontinuierlichen Transferleistung von außen. Im Unterschied zu bisherigen Anstrengungen der ODA gewährenden Länder handelt es sich bei der Idee des Big Push um eine Strategie, die in kurzer Zeit gleichzeitig mehrere Kernprobleme massiv anzupacken vorsieht. 4 Das Jahr 2000 mit seinem politisch inszenierten Zauber des Beginns eines neuen Jahrtausends - eine Zeit großer Hoffnungen und hehrer Versprechen - hatte in der UNO die sogenannten Millenniumsziele hervorgebracht, deren drei wichtigsten die Folgenden sind: -

Bekämpfung von extremer Armut und Hunger: Halbierung des Anteils der extrem Armen (mit Einkommen unter 1 US $/Tag) und Halbierung des Anteils der Menschen, die an Hunger leiden;

-

Sicherstellung der allgemeinen Primarschulbildung, so dass alle Jungen und Mädchen eine vollständige Grundschulausbildung abschließen können;

-

Reduzierung der Säuglings- und Kindersterblichkeit (unter fünf Jahren) um Zweidrittel.

Niemand wird bestreiten können, dass diese Zielsetzung sowohl politisch wichtig als auch ethisch geboten erscheint. Allein aus sicherheitspolitischen Erwägungen wäre es opportun, die soziale Ungleichheit zwischen den reichen und den armen Staaten und Bevölkerungsgruppen 4

Vgl. Asche, Durch einen Big Push aus der Armutsfalle?, S. 3.

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nicht weiter anwachsen zu lassen; denn eine ökonomisch zusammenwachsende und kulturell hochgradig vernetzte Weltgesellschaft verlangt nach sozialen Ausgleichsmechanismen, um ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenbarkeit zu erreichen und zu halten - gerade auch nach dem 11. September 2001.5 Aber schon nach sechs Jahren seit Verkündung der „Millennium Development Goals" (MDG) mehren sich die Zweifel, ob diese ehrgeizigen Entwicklungsziele noch erreicht werden können. Denn eine erste Zwischenbilanz im Sommer 2006 förderte zutage, dass zwar in einigen Regionen Asiens (VR China, Indien, Vietnam) erhebliche Fortschritte in der Armutsüberwindung erzielt worden sind, dass aber vor allem in Afrika südlich der Sahara (ASS) kaum noch Aussichten bestehen, hier die MDG zu erreichen. Wir haben es offensichtlich mit einer weiteren Differenzierung der Dritten Welt in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer zu tun. Damit soll nicht unterstellt werden, dass diese jüngste Variante des säkularen Modernisierungsprozesses, Globalisierung genannt, die Ursache für die unterschiedlichen Entwicklungskarrieren der Regionen der Dritten Welt sei. Aber die Globalisierung in der Form der neoliberalen Marktwirtschaft, die sich mehr und mehr über nationale Grenzen und nationale Steuerungsmittel hinwegsetzt, gibt den ubiquitären Rahmen ab, in dem sich alle „Volkswirtschaften" und Nationen bewähren müssen. Systemische Wettbewerbsfähigkeit ist gefragt, um in den „Fegefeuern" der Märkte mit ihren gnadenlosen Global Players bestehen zu können. Und nicht alle Gesellschaften sind in der gleichen Weise auf diesen internationalen Konkurrenzkampf um nationale Selbstbehauptung vorbereitet - Märkte akzentuieren bestehende Differenzen. 6

I. Jeffrey Sachs: der Prophet einer Welt ohne Armut Bei diesem betörenden neuen Spiel des Neoliberalismus, „Freiheit der Märkte" genannt, das durch den Beitritt der Volksrepublik China in die Welthandelsorganisation WTO zu Beginn des Jahrtausends in eine neue Runde gegangen ist, scheint Afrika südlich der Sahara noch tiefer in eine Armutsfalle geraten zu sein, aus der es aus eigener Kraft keine nachhal5 Siehe Gunter ScubertfRainer Tetzlaff (Hrsg.), Blockierte Demokratie in der Dritten Welt, 2002. 6 Vgl. Messner!Scholz (Hrsg.), Zukunfisfragen; sowie Maria Behrens (Hrsg.), Globalisierung als politische Herausforderung, Wiesbaden 2005.

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tige Befreiung geben würde. Daher erschien das Buch „Das Ende der Armut" des weltweit bekannten Ökonomen Jeffrey Sachs als eine echte Provokation: Sachs behauptete nämlich, dass die noch immer hohe Zahl von Armen in der Dritten Welt ein unnötiger politischer Skandal darstelle, weil ja die Methoden bekannt seien, Armut weltweit auszurotten, wenn nur der politische Wille bei den Regierungen der Welt mobilisiert werden könnte. Als historischen „Beweis" oder sagen wir besser als historische Analogie für seine Behauptung, dass der Wille Berge versetzen und das Unmögliche möglich machen könnte, verwies er auf die Beendigung der atlantischen Sklaverei vor 200 Jahren. Frankreich und England - die damals fortschrittlichsten Gesellschaften Europas - hatten es nicht länger für tolerierbar gehalten, Menschen zu jagen, zu verschleppen und ihnen die Heimat zu zerstören. Was damals möglich war, sollte heutzutage nicht ausgeschlossen sein, zumal es auch heute wieder im ökonomischen Interesse der europäischen Länder liegt, diese unerträglichen Zustände zu beenden. Der feine Unterschied zu früher besteht allerdings darin, dass vor 200 Jahren die Gier nach billiger menschlicher Arbeitskraft, dem „schwarzen Gold", die Ursache für die externen „Interventionen" gewesen ist, während heute eher das Gegenteil zutrifft: Man will in Europa verhindern, dass „unerwünschte", „überflüssige" , nicht benötigte Afrikanerinnen und Afrikaner in die Industriestaaten des Nordens kommen, die paradoxerweise jetzt als Arbeitsuchende an die Pforten der „Festung Europa" anklopfen. 7 Dafür gibt es einen eindrucksvollen Beweis von Dr. Aderinwale vom nigerianischen „Leadership Forum" (das sich für Demokratie, Menschenrechte und Good Governance in Afrika einsetzt): „Wie in der Vergangenheit versuchen junge Afrikaner, den rauen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen [der Heimat] zu entkommen und sind bereit, überall anders als zu hause zu leben, unter jeder Bedingung, bereit, die Demütigungen, Feindseligkeiten und Widerwärtigkeiten des Gastlandes zu ignorieren. Eine weitere Sklaverei hat begonnen. Diesmal bittet Afrika richtig darum, versklavt zu werden. Muss der Globalisierung die Schuld gegeben werden, oder sind mangelnde Managementfähigkeiten der Afrikaner dafür verantwortlich? ... Für die meisten Menschen in Af-

7

Siehe Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechte Welt, München 2005.

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rika ist die Sache mittlerweile klar. Afrika könnte sich aus dem Globalisierungsprozess nur auf eigenes Risiko verabschieden."8 Ob dem oben zitierte Jeffrey Sachs dieser Zusammenhang bewusst gewesen ist, als er diesen historischen Vergleich zog, darauf gibt es im Buch selbst keinen Hinweis; aber meines Erachtens ist der entscheidende Ansatzpunkt bei der Armutsfrage im 21. Jahrhundert - ganz im Unterschied zur Sklavereifrage des 19. Jahrhunderts - nicht auf der Ebene der politischen oder ethischen Entscheidungen von Eliten zu suchen, sondern im komplizierten Mehrebenensystem einer institutionell verstrickten Weltgesellschaft. Der große Trommler für mehr Entwicklungshilfe Jeffrey Sachs hat Regierungen in aller Welt als Wirtschafts- und Entwicklungsexperte beraten und sich auch als Millenniums-Beauftragter des UN-Generalsekretärs Kofi Annan unter anderem für die Gründung des „Global Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria" in Genf eingesetzt. Als er nun mit seinen neuen Lösungsvorschlägen in Sachen „poverty alleviation" vor die Öffentlichkeit trat, war ihm die Aufmerksamkeit vieler Entwicklungsexperten aus aller Welt sicher. Er rechnete mit einem Team von Forschern vor, dass mit einer Verdreifachung der Finanztransfers aus den reichen OECD-Staaten in die Armutsländer von heute ca. 60 Milliarden US $ jährlich auf ca. 180 Milliarden US $ die Menschheitsgeißel der Armut erstmals in der Weltgeschichte überwunden werden könnte (in Etappen, bis zum Jahr 2025). Dabei misst Sachs der internationalen Entwicklungspolitik - entgegen allen professionellen Schmähungen ihrer Wirksamkeit 9 - die Schlüsselrolle als technisches Heilmittel zu: Wenn Entwicklungspolitik in Afrika südlich der Sahara und in Ländern Lateinamerikas bisher wenig bewirkt hätte (und mancherorts den Gesellschaften sogar geschadet hätte), dann „schlicht deshalb, weil es de facto so wenig Hilfe war!" 1 0 Nicht endogene Faktoren wie Korruption und Kapitalflucht seien primär an Afrikas Misere schuld, sondern in ganz erheblichem Maße strukturelle und exogene Faktoren wie Dürren, Hungersnöte und Tropenkrankheiten begünstigende Klimata sowie last not least der kurzsichtige

8

Siehe Aderirrwale, S. 252, zitiert in: Rainer Tetzlaff Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und Antworten aus den Kontinenten, SEF Bonn 2000, S. 250. 9 Vgl. Jürgen H. Wolff, Entwicklungshilfe. Ein Hilfreiches Gewerbe: Versuch einer Bilanz, Münster 2005. 10 Sachs, Ende der Armut, S. 3.

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Handelsprotektionismus der Industriestaaten: „Die Regierungsführung ist in Afrika so armselig, weil Afrika arm ist. Wahr ist allerdings auch, dass die Wirtschaft in den afrikanischen Ländern im Schnitt langsamer wächst als in ähnlich (schlecht) regierten Staaten woanders auf der Welt ... Das langsame Wachstum lässt sich am ehesten mit geographischen und ökologischen Faktoren erklären. Was die Korruption angeht, so ist sie in Afrika weder größer noch geringer als in anderen Ländern mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen." 11

II. Was bedeutet Good Governance in Afrika und vergleichsweise in Asien? An diesen Thesen wird deutlich, dass es Sachs darauf ankommt, das gängige Governance-Argument der ODA-gebenden Institutionen, allen voran der Weltbank - dass nämlich Korruption, Missmanagement und Ressourcenverschwendung die zentralen Ursachen fur Afrikas Misere seien - zu entkräften. Er will die Politiker der „afrikanischen Staatsklasse" (ein schlankes Wort, geprägt von Hartmut Elsenhans, fur eine komplexe heterogene Wirklichkeit) entlasten, was diese mit Dankbarkeit quittiert haben. Damit hat er den Standpunkt eingenommen, der in Politiker· und Wissenschaftlerkreisen in Afrika vorherrschend sein dürfte. Es fragt sich aber, ob dieser Diskurs bei der Lösung der Sachprobleme helfen kann und ob Sachs' Behauptungen mit den Erkenntnissen der vergleichenden Entwicklungsländerforschung zu vereinbaren sind. Governance ist ein programmatisch anspruchsvolles Konzept, das im Jahr 1989 in der Variante Good Governance (GG) erstmals in Weltbankdokumenten verwendet wurde und das seitdem auch innerhalb des Fachpersonals der Weltbank weiter diskutiert und begrifflich verfeinert wurde. Die Betonung liegt dabei auf einer Verbesserung des „Public Sector Managements", um die bisherigen Störfaktoren für Entwicklung ausmerzen zu können: fehlende Haushaltsdisziplin, mangelnde Kontrolle der Staatsausgaben, eine aufgeblähte und gemeinhin korruptionsanfällige Beamtenschaft und ein wirtschaftlich ineffizienter para-staatlicher Sektor. Dabei wird unterstellt, dass die Erfüllung von Good GovernancePostulaten mit der Beseitigung von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungshindernissen gleichzusetzen sei. Es könnte sein, dass auch diese

11

Sachs, Ende der Armut, S. 379.

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durchaus plausible Annahme an der Komplexität afrikanischer Verhältnisse vorbeigeht. Nicht unwichtig ist die empirisch gewonnene Erkenntnis, dass Good Governance nicht unbedingt demokratische Regierungsführung bedeuten muss. So ist eine Weltbank-Studie über den Einfluss von wirtschaftlichem Wachstum und Rechtsstaatlichkeit auf die Reduzierung von Armut in 14 Entwicklungsländern (während der 1990er Jahre) zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht notwendigerweise „democratic governance" Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Armutsreduzierung sei, sondern vielmehr administrative Implementationsstärke {strong government ) und Rechtsstaatlichkeit {rule of law). Zu den erfolgreichsten Staaten bei der Armutsbekämpfung gehören Diktaturen wie Vietnam, Rumänien, Indonesien und Uganda, aber auch Demokratien wie Ghana, Senegal, Brasilien und Indien. 12 Offensichtlich - so die Schlussfolgerung - müssen mehrere Umstände bedacht werden, um Entwicklungsleistungen erzielen bzw. angemessen beurteilen zu können.13 Warum aber gelang im Regelfall die Transition vom kolonialen Ablegerstaat zum funktionierenden postkolonialen Staat in Asien, nicht aber in Afrika südlich der Sahara - wo doch die externen Rahmenbedingungen ein und derselben Weltgesellschaft als gleich einzuschätzen sind? Diese Frage ist zu komplex, um hier erschöpfend beantwortet werden zu können; aber einige Hinweise können gegeben werden. Es ist immer wieder gefragt worden, warum der Durchbruch aus der (kolonialen bzw. postkolonialen) Armutsfalle einige Male schon in Asien, aber noch nicht in Afrika gelungen ist. Ohne hier eine erschöpfende Antwort geben zu können, 14 ist es doch angemessen, auf die drei unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Länder beider Kontinente hinzuweisen: -

Erstens gab es in Afrika weit weniger als in Asien die Möglichkeit, an noch intakte größere historische Gemeinwesen anzuknüpfen - etwa an Königreiche und Dynastien, die Chancen für eine produktive Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit hätten bereitstellen können. Solche sozial konstruierten Erinnerungskulturen sind wichtig für die nationale Identitätsbildung, worauf der Ägyptologe Jan Assmann hin12

Vgl. FAZ vom 5.7.1995: „Weltbank empfiehlt Wachstum gegen Armut". Siehe Goran Hyden u. a., Making Sense of Governance. Empirical Evidence from Sixteen Developing Countries, London 2004. 14 Siehe Rainer Tetzlaff! Cord Jakobeit, Das nachkoloniale Afrika. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wiesbaden 2005; sowie Mir A. Ferdowsi (Hrsg.), Afrika - ein verlorener Kontinent?, München 2004. 13

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gewiesen hat. 15 In Afrika südlich der Sahara scheint die kollektive Erinnerung an die destruktive Wirkung des atlantischen Sklavenhandels für anhaltende Traumata mit entwicklungshemmenden Wirkungen gesorgt zu haben. -

Zweitens ist dem Zeitfaktor im Hinblick auf Afrika ein hohes Gewicht beizumessen, was der Historiker Wolfgang Reinhard in seinen vergleichenden Betrachtungen über Staatsbildung hervorhebt: "Wenn die Bildung einer Staatsnation aus einem künstlich geschaffenen kolonialen Territorium in Lateinamerika und auf den Philippinen dreihundert Jahre Vorlaufzeit hatte, anderswo in Asien mindestens 150 Jahre, dann standen in Afrika nur wenige Jahrzehnte zur Verfügung." 16 Die Dekolonisierung Afrikas ist zweifellos überstürzt in Szene gesetzt worden, ohne dass einheimischen Gesellschaften genug Zeit blieb, das notwendige „human capital" für eine moderne Weltgesellschaft auszubilden.

-

Und drittens schließlich ist Afrika südlich der Sahara seit Jahrhunderten bis heute von externen Interessenten primär als RohstofjkontinenX wahrgenommen und behandelt worden. Auch von den ehemaligen Kolonialmächten ist wenig getan worden, Afrikas Position auf der untersten Stufe der internationalen Arbeitsteilung - als abhängiger Lieferant von unverarbeiteten Naturprodukten - zu verändern. Die externe Abhängigkeitsstruktur hat sich in eine interne Klassenbildung übersetzt, mit einer neo-patrimonialen Staatsklasse an der Spitze,17 die primär an Rohstoffrenten interessiert war. Das galt und gilt vor allem für Militärregime. Gemeinsam war ihnen das dominante Interesse an Konsumtion und Selbstbereicherung, statt an produktiven Investitionen zur Mehrung des nationalen Wohles oder des nationalen Prestiges. Diese Regime waren stark in Bezug auf Repression der Zivilgesellschaft und erfolgreich bei der korporativen Selbstbereicherung, aber schwach und häufig inkompetent in Bezug auf ihre Fähigkeit, die Schichten der Bevölkerung für die große Anstrengung der Befreiung von Armut durch wirtschaftliches Wachstum zu mobilisieren.

Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass in Afrika südlich der Sahara die externen „circumstances" für nachholende Entwicklung ver15

Siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Aufl. München 2005. 16 Wolfgang Reinhard, Die Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 504. 17 Matthias Basedau!Andreas Mehler (Hrsg.), Resource Politics in Sub-Saharan Africa, Hamburg 2005.

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gleichsweise ungünstig und wirtschaftsfeindlich waren und so auch die endogenen „choices" stark beeinflusst haben.

III. „Afrika gibt es nur im Plural" Jede Diskussion über Afrika leidet an Verallgemeinerungen, die von sensiblen Menschen als unerträglich empfunden werden; dennoch kommen Wissenschaftler nicht ohne begründete Generalisierungen aus. Im Folgenden wird daher ein Vorschlag unterbreitet, wie diesem Dilemma ein Stück weit zu entgehen ist. Auch „Europa" gab und gibt es nur im Plural, aber heute existieren als Ergebnis eines langen mühsamen Lernprozesses trotz noch bestehender nationalstaatlicher Eifersüchteleien mehr intra-kontinentale Gemeinsamkeiten als im stark zerklüfteten Afrika, vor allem was gemeinsam geteilte Werte und Normen, funktionierende Institutionen und gelebte Verfassungswirklichkeit (Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Menschenrechte, interreligiose Toleranz) angeht. Afrika südlich der Sahara hingegen (als marginale Zone der globalisierten Welt) droht zur Zeit von intra-kontinentalen Gegensätzen und widersprüchlichen Entwicklungen zerrissen zu werden - stärker als jeder andere Kontinent. Die große politische und sozio-ökonomische Heterogenität Afrikas lässt sich an drei Gruppen von Staaten mit unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven darstellen: -

Die erste Gruppe bilden acht bis zehn demokratische Regime, die die relativ besten Chancen für demokratische Konsolidierung haben. Hier haben sich die konkurrierenden Gruppen auf gemeinsame rechtsstaatliche Spielregeln des Machterwerbs und des Machtverlustes geeinigt. Es handelt sich um die Gruppe der guten Performer (wie Botswana, Mauritius, Ghana, Benin, Mali, Senegal, Tansania und Südafrika).

-

Eine zweite Gruppe von Staaten umfasst etwa 20 sogenannte Fassadendemokratien, die zwar formal Wahlen durchführen, aber mit repressiven Mitteln die Partizipation der Bevölkerung so gering und wirkungslos halten, dass man sie de facto als neo-patrimoniale Präsidialdiktaturen auffassen kann. In ihnen sind die angelaufenen Demokratisierungsprozesse aus diversen Gründen ins Stocken geraten. Es handelt sich um neo-patrimoniale Hybridregime in der Grauzone zwischen Diktatur und Demokratie.

-

Eine dritte Gruppe von knapp 20 Ländern umfasst die problematischen Fälle: Staaten, in denen das postkoloniale staatliche Gewalt-

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und Rechtsmonopol nicht mehr besteht. Es sind Bürgerkriegsländer und sogenannte „failing states", inklusive „failed states" (Somalia, Sudan, Kongo/Zaire, Ruanda und die Côte d'Ivoire). Hier haben sich in den Hohlräumen einstiger staatlicher Macht diverse private Gewaltunternehmer eingenistet; oft mit ethnisch-politischem Hintergrund: sie plündern, vergewaltigen und zerstören die Reste von staatlicher Governance. Natürlich kann es sich bei dieser idealtypischen Dreiteilung Afrikas nur um eine grobe Untergliederung handeln, die der realen Komplexität der Herrschaftsformen und den zahlreichen neo-patrimonialen Hybridregimen zwischen Demokratie und Diktatur nur annähernd gerecht werden kann. Sie soll dazu dienen, die Afrikadiskussion zu versachlichen und dabei bewusst zu machen, dass die entwicklungspolitischen Prioritäten der internationalen Gemeinschaft auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Länder je nach Zugehörigkeit zu einer der drei Staatengruppen eingehen sollten. Während der dringlichste Bedarf der „good performers" durch internationale Handelshilfe und Entschuldungspolitik befriedigt werden könnte, wäre in Gruppe zwei die „strukturelle Stabilisierung" der Institutionen am vordringlichsten, um das Abgleiten in den Staatszerfall und die armutsbedingte Zersetzung der Gesellschaft aufzuhalten. Den „failing states" schließlich ist mit der klassischen Projekt- und Budgethilfe der ODA-Institutionen nicht mehr zu helfen. Hier müssen - wie zurzeit in Sierra Leone, DR Kongo und Sudan versucht wird - robuste internationale Interventionen (unter der Ägide der Afrikanischen Union und/oder der UNO) zur Beendigung von genozidalen Massakern und zum Wiederaufbau zerstörter Staaten erfolgen. Im Folgenden soll sich die Analyse der Armutsprobleme Afrikas auf die Länder der Staatengruppe eins und zwei konzentrieren, die immerhin gemeinsam haben, dass sie über einen Kernstaat mit Regierung als Ansprechpartner für internationale Gespräche und Abkommen verfügen.

IV. Normative Entwicklungskriterien und die Gretchenfrage der Entwicklungspolitik Was könnten die normativen Kriterien einer angemessenen Bewertung der gesamtgesellschaftlichen Veränderungsleistungen einer postkolonialen Gesellschaft Afrikas sein, wobei sich „angemessen" auf die potentiell machbaren Korrekturen und Innovationen durch Staat und Ge-

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sellschaft beziehen soll, unter Berücksichtigung der optimal genutzten endogenen Ressourcen und dem klugen Einsatz externer Hilfen? Ohne weitere Herleitung und Begründung sollen drei Variablen herangezogen werden, die eine Qualitätsmessung von unten, d. h. aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger, vorzunehmen beabsichtigen: 1. Für wie viele Bürgerinnen und Bürger hat sich das materielle alltägliche Leben durch Einführung der Demokratie verbessert (etwa weil die amtliche Korruption nachgelassen und die Ernährungssicherheit sich erhöht hat)? 2. Haben sich physische Sicherheit und Rechtssicherheit in der Gesellschaft für eine Mehrheit, für Städter und Dörfler sowie für bisher marginalisierte Ethnien und Gruppen tendenziell erhöht oder haben die intra-gesellschaftlichen Spannungen und Verteilungskonflikte als Konsequenz der Demokratisierung zugenommen? 3. Haben sich die Zukunftsperspektiven für die jüngere Generation, vor allem von Mädchen und Frauen, vermittelt über solide finanzierte Bildungs- und Arbeitseinrichtungen, verbessert - gemessen an den Chancen, ausreichende Arbeitseinkommen zu erzielen? Damit können wir auf die Gretchenfrage der Entwicklungspolitik zurückkommen. Was blockiert Entwicklung und Fortschritt am stärksten: „choices or circumstances" (d. h. subjektive Optionen oder objektive Verhältnisse), oder mit anderen Worten: der Mangel an Geld oder der Mangel an Committment (Ownership), das Primat der Gier der Staatsklasse oder das Primat der widrigen klimatischen und geopolitischen Umstände? Davon hängt ab, wie die neue Big Push-Philosophie zu bewerten ist. Wenn deren Apologeten Recht hätten, dann könnte die internationale Gebergemeinschaft ihre Anstrengungen, Regierungen von Entwicklungsländern zu Reformen im Sinne von Good Governance anzuhalten, einstellen; denn dann könnte auch eine perfekte Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik im nationalen Rahmen wenig ausrichten. Dieses Argument ist im Hinblick auf die „good performers" Afrikas (im Jargon der Weltbank) durchaus Ernst zu nehmen. Die Staaten nämlich, die die aktuell propagierte Philosophie der BWI, das „Poverty Reduction Strategy Paper" (PRSP) verinnerlicht und damit all die guten Ratschläge der Bretton Woods-Zwillinge befolgt haben, sind aus der Armutsfall nicht herausgekommen: Sie haben noch nicht, wie Sachs in einem passenden

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Bild beschreibt, die unterste Stufe der Leiter erreicht, auf der erst „Entwicklung" beginnen würde. Nehmen wir die demokratische Republik Mali als Beispiel - einen flächenmäßig großen Agrarstaat Westafrikas mit einer Bevölkerung von 12 Millionen in Frieden lebenden Menschen - , einen Staat mit einer konsolidierten Konsensdemokratie und einem demokratisch gewählten Präsidenten (Ahmadou Toumani Touré), der sich als kluger und verantwortungsbewusster Partner der internationalen Staatengemeinschaft einen guten Namen gemacht hat. Trotz aller Bemühungen auf der politischen Ebene, die Kriterien von Good Governance Ernst zu nehmen, ist auf der wirtschaftlichen und sozialen Ebene kein Durchbruch erfolgt: Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 240 US-$. Das Volk ist also arm geblieben: Good Governance ohne Entwicklung! Man kann auch formulieren: Um Entwicklungshilfe sinnvoll absorbieren zu können, bedarf es eines gewissen Entwicklungsniveaus. Dass die VR China und Indien die absolut größten Empfänger von WeltbankKrediten und auch von deutschen Entwicklungshilfe-Leistungen sind, erklärt sich gerade daraus, dass prosperierende Volkswirtschaften per se eine hohe Absorptionsfähigkeit für ausländische Kredite haben. Daher sind sie für Geberorganisationen (aus innerinstitutionellen Gründen des Mittelabflusses) auch ausgesprochen attraktiv. Somit bestätigt sich hier das bekannte entwicklungspolitische Paradox: In den Gesellschaften, in denen ausländische Entwicklungshilfe noch am besten absorbiert werden kann, wird sie am wenigstens benötigt - und umgekehrt.

V. Interne oder externe Faktoren als Ursachen der Entwicklungsmisere? Das Beispiel Mali - es steht stellvertretend für die Gruppe der armen Länder mit „good performers", zu der auch Ghana, Senegal und Tansania gehören - wirft erneut die alte Frage nach der problemadäquaten Mixtur von internen, externen und strukturellen Faktoren als Bestimmung der Ursachen der Armutsfalle auf. Auf einer allgemeinen Ebene (bevor konkrete Details und Fallbeispiele diskutiert werden) dürfte es in der internationalen Gemeinschaft der Sozialwissenschaftler darüber Einigkeit geben, dass im Falle Afrikas südlich der Sahara die strukturellen (klima- und umweltbezogenen) Faktoren und externe (von Weltmarkt und Industriestaaten bedingte) Faktoren eine „große Rolle" spielen, nicht aber die „einzige", was den endogenen Anteil leugnen würde.

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Wenn als Maßstab fur sozio-ökonomischen Fortschritt heute die systemische Fähigkeit einer Gesellschaft zugrunde gelegt wird, sich in einer globalisierten Ökonomie als „wettbewerbsfähiger Standort" zu behaupten und dadurch allmählich das Wohlergehen der Bevölkerung zu steigern, dann können beispielsweise folgende externe Faktoren auf der Negativseite angeführt werden: -

-

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Der nach wie vor skandalöse Handelsprotektionismus der Industriestaaten, der einigen Entwicklungsländern ihre Exportchancen (bei Baumwolle, Textilien, Zucker, Mais, Obst, Gemüse ...) blockiert; Chinas gnadenlose Exportoffensive nach afrikanischen Ländern, was dort zu Verdrängungswettbewerb und dem Schließen von Industriebetrieben geführt hat; 18 Die nach wie vor umfangreichen Waffenverkäufe nach Afrika, vor allem von Seiten der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas, einschließlich der sogenannten Kleinwaffen.

Die große Zahl der nach Afrika importierten Kleinwaffen beeinträchtigt dessen Entwicklungschancen: ca. 500.000 Menschen werden jährlich Opfer dieses dunklen Geschäfts, das zu den Schattenseiten der Globalisierung - neben Rohstoffraub, Drogenschmuggel, Menschenhandel gehört. Das heißt, Kleinwaffen sind die eigentlichen Massenvernichtungswaffen der vergangenen Jahrzehnte in der globalisierten Staatengemeinschaft. Sie sind im Norden erfunden und produziert worden, und sie werden überwiegend in den Krisenregionen des Südens eingesetzt. „Kleinwaffen sind billig, leicht zu transportieren und zu verbergen, lange haltbar und einfach zu handhaben. Das hat dazu geführt, dass heutzutage weltweit etwa 640 Millionen Kleinwaffen im Umlauf sind. Nicht einmal ein Drittel dieser Waffen befindet sich in den Händen von Militär, Polizei, Zoll oder Grenzschutz. Der größte Teil ist im Besitz vieler nichtstaatlicher Gruppen: Aufständischer, Terroristen, privater Sicherheitsund Wachdienste sowie Sportschützen und anderer Privatpersonen." 19 Kann man da überhaupt noch vom staatlichen Gewaltmonopol als angeblichem Kennzeichen der internationalen Ordnung souveräner Staaten sprechen, oder befindet sich das politische System in Auflösung? Dieser Hinweis auf die Auswirkung des Kleinwaffenhandels in Afrika, mit dem etwa 4 Milliarden US-$ jährlich verdient wird, was aber nur 18

Denis Tuli Die Afrikapolitik der Volksrepublik China, SWP-Studie, Berlin 2005. Rudolf Seiters, „Wenn der Krieg immer weitergeht", in: Süddeutsche Zeitung vom 26.6.2006, S. 2. 19

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ein Bruchteil der Summe darstellt, die durch den illegalen Kampf um Rohstoffe verdient wird, soll hier nur die These unterstreichen, dass bei aller notwendigen Kritik am Verhalten einzelner Neo-Patrimonialsysteme in Afrika (wie etwa zur Zeit der nicht gerade vorbildlich agierenden Regierungen von Kenia, Simbabwe, Sambia, Togo, Kamerun, Namibia oder Äthiopien) die externen Einflussfaktoren auf nationale Verhältnisse größer erscheinen als anderswo - als Störfaktoren der Entwicklung.

VI. Afrikas globale Randposition eine Deutung aus entwicklungspolitischer Sicht Trotz der methodischen Probleme, ausländische Entwicklungshilfeleistungen den sozio-ökonomischen Prozessen in Entwicklungsländern kausal zuzuordnen, kann man doch die These aufstellen, dass nach vier Jahrzehnten internationaler Entwicklungshilfe (in Höhe von ca. 500 Mrd. Euro) die Anstrengungen in kaum einem Entwicklungsland Afrikas den „point of no return" erreicht haben, das heißt, dass sie den Weg aus der Armutsfalle noch nicht gefunden haben (zu den Ausnahmen gehören Mauritius und Botswana). Bevor abschließend die jüngsten Ergebnisse der quantitativen Wirkungsforschung der ODA-Politik vorgestellt und kommentiert werden, soll auf eine qualitative Expertenmeinung hingewiesen werden, die ich für hochgradig plausibel halte. Es handelt sich um das Urteil des Entwicklungsökonomen und langjährigen Landwirtschaftsberaters Theo Rauch: „Afrika schneidet bei einem globalen Konkurrenzkampf um insgesamt eng begrenzte ökonomische Opportunitäten relativ schlecht ab", und zwar aus folgenden fìnf Faktoren überwiegend interner Natur: 20 1. Fehlende Rechtssicherheit für Investitionen, bürokratische Hemmnisse und Korruption, 2. soziale Normen wie familiäre Verpflichtungen, Gemeinschaftsorientierung, wie Misstrauen und Neid gegenüber erfolgreichen Gemeinschaftsmitgliedern, welche am Ziel der gemeinsamen Überlebenssicherung orientiert sind, sich aber tendenziell als hemmend für produktive Investitionen im eigenen Land erweisen, 3. Managementdefizite, 20

Theo Rauch, Perspektiven Afrikas, Vortrag vor dem Geographischen Institut der Universität in Bonn (unveröffentl. Manuskript), S. 6.

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4. vergleichsweise hohe Lohnstückkosten, d. h. die niedrigen Löhne sind in Relation zum Produktivitätsniveau im Vergleich zu China oder Indien noch zu hoch, 5. hohe Transportkosten

für die Binnenstandorte."

Von den fünf Faktoren haben nur zwei - die Kostenfaktoren - etwas mit Globalisierung und internationalem Verdrängungswettbewerb zu tun, die drei erstgenannten sind noch Bestandteile der postkolonialen Hybridkultur, in der mehr konsumiert als produziert wird. Theo Rauch wählt als Fazit der Betrachtung folgendes Bild vom rationalen Verweigerer, der sich dem internationalen Konkurrenzkampf bewusst entzieht: „Afrika gleicht einem Arbeitslosen, der angesichts einer Situation, in der nur 10% der Arbeitsuchenden Aussicht auf einen ziemlich miserablen Job haben, lieber das Erbgut verkauft, Sozialleistungen bezieht und sich einen kleinen Gemüsegarten mit ein paar Hühnern anlegt, als sich in den mörderischen und nahezu aussichtslosen Konkurrenzkampf zu stür«(21 zen. Es soll betont werden, dass man mit solchen idealtypischen Bildern oder Paradigmen immer nur einen Ausschnitt der komplexen Realität Afrikas einfangen kann. Daneben gibt es andere Paradigmen, die im Sinne der These - Afrika gibt es nur im Plural - andere Erfahrungen von Afrikanern bezüglich ihrer Reaktionen auf Globalisierung widerspiegeln, z. B. das Paradigma vom entwicklungswilligen Modernisierer, vom Traditionalisten, vom Verfechter der „halben Moderne" (Technologie aus dem Westen, Moral aus der Heimat), vom Migranten, der vom neuen Leben in der europäischen Diaspora träumt, oder das Paradigma vom Anhänger des Okkulten oder der Scharia etc. 22 Es kommt in einem spezifisch historischen Kontext darauf an, welche der möglichen Reaktionsweisen auf die Herausforderung der Globalisierung stilprägend wirken bzw. die kulturelle Hegemonie zu erringen vermögen. Nach meiner Einschätzung hat das Paradigma vom „rationalen Verweigerer" in der Gegenwart des Triumphes der neoliberalen Marktwirtschaft für zahlreiche Fälle (aus der Staatengruppe zwei) evidente Bedeutung. Denn wer kann heute wirklich mit empirisch gehärteter Beweiskraft behaupten, dass bei 21

Rauch, Perspektiven Afrikas, S. 6. Johannes Harnischfeger, Demokratisierung und Islamisches Recht. Der SchariaKonflikt in Nigeria, Frankfurt/New York 2006; sowie David Singer, Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt, Wuppertal 2004; und Rainer Tetzlaffy Gobalisierung - Fluch oder Segen?, Otto-von-Freising-Gastprofessur an der Katholischen Universität Eichstätt, Eichstätt 2006. 22

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noch mehr Anstrengung auf afrikanischer Seite die Befreiung aus der Armutsfalle wirklich gelingen kann. 23 Die diesbezügliche Skepsis wird genährt durch die jüngste Untersuchung von Helmut Asche aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. In seiner wissenschaftskritischen Analyse „Durch einen Big Push aus der Armutsfalle? Eine Bewertung der neuen Afrika-Debatte" kommt Asche zu einer eher deprimierenden Aussage über die „weiterhin unklare Beweislage" über den Zusammenhang zwischen Entwicklungshilfe und wirtschaftlichem Wachstum. Die mir plausibelste These ist die, dass Wachstum grundsätzlich durch Entwicklungszusammenarbeit positiv beeinflusst würde, aber „nur in günstigem politischen Umfeld" und mit abnehmenden Steigerungsraten, bis hin zur Verkehrung des Nutzens ins Gegenteil. Aber dennoch meint Asche, dass keine einzige der sich widersprechenden Thesen über den Zusammenhang von Hilfe und Wachstum „als endgültig widerlegt gelten" könne. 24 Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass es bislang keinen wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang zwischen den beiden Variablen gäbe: „Das jedoch verdunkelt in der letzten Konsequenz auch den Zusammenhang von Entwicklungszusammenarbeit und Minderung der Armut." 25 „Angesichts des betrieblichen Aufwandes in mehreren hundert Studien kann auch schärfer formuliert werden: der Stand der ökonometrisch gestützten Forschung über die Wachstumswirkung von Entwicklungshilfe ist ein Desaster." 26

Fazit: Internationale Armutshilfe als permanenter entwicklungspolitischer Suchprozess auf wissenschaftlich dünnem Eis Im Lichte der wissenschaftlichen Wirkungsanalysen erscheint Jeffrey Sachs' Appell für einen Big Push als Lösung der Jahrhundertaufgabe der Armutsüberwindung in Entwicklungsländern als sehr naiv und wirklichkeitsfremd (siehe auch die Beiträge in Nord-Süd-aktuell 2006). Denn alle endogenen und institutionellen Hindernisse der Entwicklung, die bisher in schwachen Staaten real oder hypothetisch aufgetreten sind, würden sich ja bei einer quantitativen Vergrößerung der Entwicklungszu23 Ulrich Schiefer, Von allen guten Geistern verlassen? Guinea-Bissau: Entwicklungspolitik und der Zusammenbruch afrikanischer Gesellschaften, Hamburg 2002; sowie MessneriScholz (Hrsg.), Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik. 24 Asche, Durch einen Big Push aus der Armutsfalle?, S. 46. 25 Asche, Durch einen Big Push aus der Armutsfalle?, S. 46. Asche, Durch einen Big Push aus der Armutsfalle?, S. 47.

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sammenarbeit (um das Drei- bis Vierfache pro Jahr) nicht in Luft auflösen, sondern logischerweise - ceteris paribus - auch vermehren. Lediglich ist zu konzedieren, dass die von Sachs und anderen geforderte Intensivierung der internationalen Hilfe für „human capital" langfristig positive Wirkungen zeitigen könnte. Aber auch diese Rechnung könnte nur aufgehen, wenn inzwischen Chancen für neue Arbeitseinkommen eröffnet würden. Auch wenn populäre Lösungsversprechen in der Manier von Jeffrey Sachs höchstens Denkanstöße liefern können, so ist doch die Hoffnung keineswegs unbegründet, dass mittels notwendig und gerecht vermittelbarer politischer Initiativen (in Richtung auf Good Governance) praktikable Auswege aus der Armutsfalle gefunden werden können. Für jeden sozio-kulturellen Kontext ist zu prüfen, was das im einzelnen an Innovationen und „Kulturbrüchen" bedeuten würde. 27 Nachhaltige Wirkungserfolge können heute von niemandem garantiert werden, aber die Unterlassung der Suche nach weiteren Strategien der Armutsbekämpfung im Kontext nachhaltiger Entwicklungspolitik zum Nutzen vieler wäre sowohl ethisch unvertretbar als auch politisch höchst unvernünftig. Tatsächlich kann man wohl heute im Konsens festhalten, dass es noch weiterer systematischer Forschungsanstrengungen bedarf, um zuverlässige Daten über die Wirkung von Entwicklungshilfe und ihrer einzelnen Komponenten zu gewinnen.28 Entwicklungspolitik in ihrer bilateralen Form wie auch in ihrer multilateralen Form (EU-Gemeinschafispolitik und Weltbank-Kredite) ist heute mehr denn je zu einem hoch komplexen „risk business" geworden, das mit zahlreichen vagen Annahmen und oftmals unberechenbaren Verhaltensweisen von diversen Agenten mit unterschiedlichen Interessen und Vorlieben „rechnen" muss. Möglicherweise war das vor vierzig Jahre auch schon der Fall, aber inzwischen haben sich doch einige Rahmenbedingungen für politische Steuerung in schwachen Peripheriezonen der Weltmarktwirtschaft verschlechtert: Mit dem sogenannten „Washington Konsensus" in der Behandlung von verschuldeten Entwicklungsländern (Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung) haben sich die Möglichkeiten nationalstaatlicher Beeinflussung von Volkswirtschaften und nationalen oder regionalen Märkten partiell eher verschlechtert. In einigen Fällen jedoch gingen die durchge27 Siehe Daniel Atounga-Manguelle, Benötigt Afrika ein kulturelles Anpassungsprogramm?, in: L. Harrison! Samuel P. Huntington (Hrsg.), Streit um Werte („Culture Matters"). Wie Kulturen den Fortschritt prägen, Hamburg/Wien 2002, S. 103-122. 28 Vgl. Messner!Scholz, Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik.

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setzten SAP-Reformen auch zugunsten derer aus, die bislang von diktatorischen und/oder unprofessionellen Regierungen (vom Typ der Rentenökonomien) geknechtet worden sind. So also ist nur eine sehr begrenzte Einsicht wissenschaftlich zu rechtfertigen: Nach allem was die internationale „development policy community" bislang erfahren und erahnen konnte, liegt im Strukturreformen bejahenden Verhalten der administrativen und der politischen Entscheidungsträger ein Schlüssel für die Initiierung erfolgreicher (sowie auch missglückter) Entwicklungsstrategien. Als vertrackt hat sich der Umstand erwiesen, dass gerade diejenigen Macht- und Funktionseliten zu Strukturreformen gedrängt werden müssen, die von den bisherigen sozio-politischen Verhältnissen relativ mehr als andere weniger privilegierte Gruppen profitiert haben, so Wachstum blockierend diese auch waren. Dieser umfassende Prozess der inneren Transition in Richtung auf „rule of law" und aktiver Zukunftsgestaltung ist vor allem eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Gruppen. Ein finanzieller Big Push aus dem Ausland kann dabei keine entscheidende Rolle spielen, wohl aber endogene Energien an der Entfaltung hindern. Ohne ehrliches „committment" der politische Verantwortung tragenden Hauptakteure (wie Parlamentarier, Ministerialbürokratie, Zivilgesellschaft, Interessenverbände und Basisinitiativen) in Empfängerländern bezüglich der gemeinsam verabredeten Ziele und Methoden der Entwicklungsförderung kann es zu keiner erfolgreichen Politik der „Armutsüberwindung mit wirtschaftlichem Wachstum" kommen. 29 Ohne politisches „committment" und soziales „ownership" kann es keine Aktivierung endogener produktiver Potentiale geben. Dabei müssten als eine weitere Erfolgsbedingung die externen Signale auf strukturelle Ermöglichung von nachholender Entwicklung gestellt werden, damit nicht die „rationalen Verweigerer" von Entwicklung in den krisenanfälligen Entwicklungsländern triumphieren können.

29

Messner!Scholz, Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik.

Auf dem Wege zu einer Weltumweltpolitik Von Udo E. Simonis Zu seinem 65. Geburtstag hatte es eine Universitätsvorlesung mit dazugehörendem Sammelband gegeben, zu dem ich einen Artikel über eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung als Teil der notwendigen UN-Reform beigesteuert hatte.1 Da trifft es sich gut, zum 70. Geburtstag von Wilfried Röhrich über Erfolge und Misserfolge der Internationalisierung der Umweltpolitik zu berichten. Deren Notwendigkeit ergibt sich nicht nur wegen der global zunehmenden ökonomisch-ökologischen Interdependenzen, der Komplexität biologisch-chemisch-physikalischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, der Langfristigkeit der Wirkungen und der möglichen Irreversibilität bestimmter Umweltschädigungen, sondern auch und besonders wegen der großen Zahl der politischen Akteure, der Widersprüchlichkeit ihrer Interessen und der Unterschiedlichkeit ihrer ökonomischen, technischen und politischen Handlungspotenziale - und schon sind wir bei den wissenschaftlichen Schwerpunktthemen des Jubilars.

I. Internationalisierung der Umweltpolitik Das Interesse an globalen Umweltproblemen hat in jüngster Zeit erheblich zugenommen - sowohl theoretisch als auch praktisch. Dies dürfte einerseits mit dem wachsenden Problemdruck zusammenhängen, der sich aus weiterhin ungelösten ökologischen Problemen ergibt, und es mag andererseits Folge der Erkenntnis sein, dass sich manche Probleme auch durch die beste nationale Umweltpolitik allein nicht werden lösen lassen. In der Disposition muss zunächst zwischen globalen und universell auftretenden Umweltproblemen unterschieden werden, auf die hin Politik formuliert und implementiert wird. Für globale Umweltprobleme 1

Dieter S. Lutz (Hrsg.), Globalisierung und nationale Souveränität. Festschrift für Wilfried Röhrich, Baden-Baden 2000, S. 493-506.

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kann nur eine global konzipierte Politik ursachenadäquat und zielführend sein. Ein Beispiel ist der anthropogene Treibhauseffekt, der das Weltklimasystem destabilisiert und nur durch internationale Kooperation, das heißt global verbindliche Vertragsgrundlagen, Zielvorgaben und Maßnahmenpakete angegangen werden kann. Universell auftretende Umweltprobleme können dagegen lokal oder regional begrenzt sein und erfordern nicht notwendigerweise eine solche Vorgehensweise. Ein Beispiel hierfür ist die zunehmende Wasserknappheit, die lokal und regional bekämpft werden kann, auch wenn es dazu angesichts der höchst unterschiedlichen Problemlösungskapazitäten einer international koordinierten Strategie bedarf. Globale beziehungsweise universell auftretende Umweltprobleme erfordern eine Politik, die den Nationalstaat als traditionellen Hauptakteur von Politik nicht aus der Verantwortung entlässt, ihn alleine aber überfordert. Genau dies macht ökologisch effektive, ökonomisch effiziente und sozial akzeptable Lösungen schwierig. Um Trittbrettfahrerverhalten zu verhindern, sind internationale Kooperation und globale Diplomatie erforderlich, die für abgestimmte Ziele, für ein adäquates Instrumentarium und für angemessene institutionelle Bedingungen einer koordinierten Umsetzung von Politik sorgen. Ein Grundproblem der internationalen Umweltpolitik besteht daher darin, dass ihre Ziele durch freiwilliges Handeln von Individuen, Unternehmen und Institutionen verwirklicht beziehungsweise von Staaten mit territorial begrenzter Autorität durchgesetzt werden müssen und dass bisher erst partiell Mechanismen verfügbar sind, um Nationalstaaten zur Durchsetzung internationaler Umweltpolitik zu veranlassen. Globale beziehungsweise universell auftretende Umweltprobleme können auf ganz unterschiedliche Weise angegangen werden. In der Fachliteratur steht vielfach die „Weltumweltformel" von Anne und Paul Ehrlich - I = Ρ χ Α χ Τ ; in Deutsch: U = f (B,V,T) - im Blickpunkt, wonach die globalen Umweltprobleme (U) bedingt sind durch das Wachstum der Weltbevölkerung (B), den zunehmenden Verbrauch an Gütern und Diensten (V) und die installierte, nicht umweltgerechte Technologie (T). Für die Formulierung praktischer Politik hat diese Formel allerdings keine unmittelbare Wirkung gehabt, wenn auch die Frage nach den demographischen, ökonomischen und technologischen Triebkräften (driving forces ), die hinter der Belastung und Zerstörung der globalen Ökologie stehen (wie Ozonschicht, Klima, Biodiversität, Böden, Wasser und Meere), nicht ausgeklammert worden ist. Es hat sich

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stattdessen eine mediale Grundstruktur der internationalen Umweltpolitik herausgebildet, in der diese Triebkräfte beziehungsweise die intermedialen Zusammenhänge jeweils unterschiedlich stark integriert sind. Der hauptsächliche Grund hierfür ist historisch-pragmatischer Art: Die realen Umweltprobleme entwickeln sich unterschiedlich schnell, werden unterschiedlich intensiv von der Öffentlichkeit wahrgenommen, von der Wissenschaft aufgearbeitet und von der Politik aufgegriffen. Das war so bei der Entwicklung der nationalen Umweltpolitik, wo die Luftreinhalte- und die Abfallpolitik weit fortgeschrittener sind als beispielsweise die Bodenschutzpolitik - und es ist so bei der internationalen Umweltpolitik, wo die Ozon- und die Klimapolitik stärker ausformuliert sind als beispielsweise die Biodiversitäts- und die Wasserpolitik.

II. Ozonpolitik Das am intensivsten behandelte, politisch ausformulierte globale Umweltproblem ist die Schädigung der stratosphärischen Ozonschicht (sogenanntes Ozonloch). Im Rahmen insgesamt zehnjähriger Verhandlungen entstand hierzu ein dynamisches internationales Umweltregime, das auf einer Zweiteilung des rechtlichen Instrumentariums in einen stabilen, institutionellen Teil (Rahmenkonvention) und einen flexiblen, instrumenteilen Teil (Protokoll) beruht. Die „Wiener Konvention" von 1985 definierte das Problem, das „Montrealer Protokoll" von 1987 verpflichtete die Unterzeichnerstaaten dazu, den Verbrauch der die Ozonschicht zerstörenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe (.FCKW) und Halone bis 1999 um 50 Prozent gegenüber 1986 zu reduzieren, ließ jedoch zunächst die Übertragung von Produktionen auf andere Staaten zu. Die Vertragsstaatenkonferenz in Helsinki 1989 leitete die geplante Revision ein, die für FCKW einen vollständigen Produktionsstopp sowie eine schrittweise Regelung für die Reduzierung der anderen Ozon schädigenden Stoffe vorsah. Auf den Nachfolgekonferenzen in London (1990) und Kopenhagen (1992) wurden Verkürzungen der Ausstiegszeiten beschlossen. Neben diesen verschärften Reduzierungspflichten war jedoch eine Ausweitung der internationalen Kooperation geboten, weil sich zunächst nur Industrieländer den Regeln unterworfen hatten, nicht aber Entwicklungsländer - darunter Brasilien, China und Indien, die über einen potenziell großen Binnenmarkt für Autos, Kühlschränke und Klimaanlagen verfügen, für die nach herkömmlicher Technik FCKW verwendet wur-

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den. Um diesen Ländern den Beitritt zu erleichtern beschlossen die Vertragsstaaten, einen speziellen Mechanismus zur Finanzierung von und zum Zugang zu moderner Technologie zu entwickeln. Auf der Konferenz in London 1990 wurde der Multilateral Ozone Fonds (MOF) eingerichtet, der die Aufgabe hat, die erhöhten Kosten (full incremental costs) zu decken, die Entwicklungsländern bei der Umstellung der Produktion auf ozonverträgliche Stoffe und Verfahren entstehen. Durch Produktionsstopp {phasing out) der Ozon schädigenden Substanzen in den Industrieländern und durch internationalen Finanz- und Technologietransfer {substitution) in die Entwicklungsländer gelang so in relativ kurzer Zeit eine Trendwende, die das Ozonregime zu einem, wie es zu Recht heißt, Modellfall für die internationale Umweltpolitik werden ließ.2 Die Erfolgsbedingungen der Ozonpolitik waren jedoch eher spezifischer Art und sind nicht ohne weiteres auf andere Problemfälle übertragbar: Der wissenschaftlich komplizierte aber relativ unstrittige Nachweis des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs (wofür Sherwood Roland, Mario Molina und Paul Crutzen später den Nobelpreis erhielten) machte die politische Bedeutung von Wissenschaft deutlich; die hochkonzentrierte, oligopolistische Produktionsstruktur bei FCKW schwächte den Widerstand der Industrie gegen die Produktionsumstellung; die Gefahr der erhöhten UV-Strahlung wurde von der Bevölkerung als unmittelbar bedrohlich empfunden. Alle diese Faktoren erleichterten und beschleunigten den Prozess der Politikformulierung und -implementation. Die Schädigung der stratosphärischen Ozonschicht bleibt jedoch weiterhin auf der politischen Agenda, weil von verschiedenen Ersatzstoffen gleichermaßen ökologische Schäden ausgehen, weil Umsetzungsprobleme (Substitution FCKW-haltiger Produkte und Produktionsverfahren) in den Nicht-Vertragsstaaten bestehen und weil weiterhin illegale Importe größeren Ausmaßes stattfinden (insbesondere aus Teilen der ehemaligen Sowjetunion in die USA).

2

Vgl. zu den Details R. E. Benedick , Ozone Diplomacy. New Directions in Safeguarding the Planet. Second, enlarged edition, Cambridge, Mass./London 1998.

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III. Klimapolitik Das zurzeit meistdiskutierte globale Umweltproblem ist die stattfindende beziehungsweise erwartete Klimaänderung. Die emittierten klimawirksamen Spurengase - wie Kohlendioxid (CO 2 ), Methan (CH 4 ) und Stickoxide (N 7 0), halogenierte und perfluorierte Kohlenwasserstoffe (HFCs und PFCs) sowie Schwefelhexafluorid (SF 6 ) - stören den Wärmehaushalt der Erde, indem sie die Wärmestrahlung in den Weltraum zum Teil blockieren (daher: zusätzlicher Treibhauseffekt). Den größten Anteil (ca. 50 Prozent) an diesem Erwärmungsprozess hat das CO 2 , das quasi ubiquitär - bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten entsteht und dessen Volumen stark mit Niveau und Wachstum des Bruttosozialprodukts korreliert. Das C0 2 -Problem ist insofern in besonderem Maße ein NordSüd-Problem. Die CH4-Emissionen (die etwa 18 Prozent des Treibhauseffekts ausmachen) stellen dagegen eher ein Süd-Nord-Problem dar, insofern als große Mengen dieses Treibhausgases in der Landwirtschaft, beim Reisanbau und beim Verdauungsvorgang der Rinderherden in den Ländern des Südens entstehen. Anders als bei den FCKW sind die rasche Eindämmung (ireduction ) oder gar der Stopp {phasing out) der Kohlendioxid· und Methanemissionen schwierig beziehungsweise unmöglich. Anders mag es bei den HFC-, PFC- und SF6-Emissionen sein, die alle industriewirtschaftlichen Prozessen entstammen, für die sich Substitute werden finden lassen. Während die Ursachen der künstlichen Erwärmung der Erdatmosphäre relativ gut bekannt sind, besteht über deren Auswirkungen noch erhebliche Unsicherheit. Im Spektrum des erwarteten Temperaturanstiegs von 1.4° bis 5.8°C (Szenarien des 3. IPCC-Sachstandsberichts, 2001) im globalen Mittel für dieses Jahrhundert ergeben sich gravierende Folgen. Die Winter in den gemäßigten Zonen könnten kürzer und wärmer, die Sommer länger und heißer werden. Die Klimaänderung würde schon bestehende, regional schwerwiegende Probleme wie Wetterextreme, Trockenheit oder Bodenerosion verschärfen und die dauerhaft-umweitverträgliche Entwicklung in großen Teilen der Welt gefährden. Weitere gravierende Auswirkungen globaler Erwärmung wären das Schmelzen des Eises (Gletscher und Polkappen) und die dadurch verursachte thermische Ausdehnung des Ozeanwassers. Nach den IPCCSzenarien dürfte der erwartete Temperaturanstieg von 1.4° bis 5.8°C den Wasserspiegel der Ozeane zwischen 9 und 88 Zentimeter anheben - im

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Falle des Abrutschens großer Stücke polaren Eises ins Meer auch noch weit höher. Da rund ein Drittel der Weltbevölkerung in bis zu nur 60 Kilometer Entfernung von der jeweiligen Küstenlinie lebt, wären deren Wohn- und Arbeitsverhältnisse betroffen, für einzelne Länder (wie zum Beispiel Bangladesh) und viele Inselstaaten (wie zum Beispiel Vanuatu) könnte sich die Existenzfrage stellen. Die „Klimarahmenkonvention", die auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet worden war, im März 1994 in Kraft trat und ihr Ständiges Sekretariat in Bonn hat, ist ähnlich wie das Ozonregime dynamisch konzipiert (jährliche Vertragsstaatenkonferenzen, laufende Berichtspflichten und begleitende wissenschaftliche Forschung und Beratung) und enthält eine potenziell mächtige Definition der Stabilisierungsbedingungen (Artikel 2). Sie ist auf der 3. Vertragsstaatenkonferenz in Kyoto 1997 durch ein Protokoll ergänzt worden (Kyoto-Protokoll), das bescheidene, aber konkrete Ziel- und Zeitvorgaben und erste Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen {Quellen) beziehungsweise zur Erhöhung der Aufnahmekapazität der Natur {Senken) sowie institutionelle Vorkehrungen zur Umsetzung der Konvention enthält und im Februar 2005 in Kraft getreten ist. Von Seiten der Umweltwissenschaften sind - was das Instrumentarium der Klimapolitik angeht - mehrere strategische Vorschläge entwickelt worden. Sie reichen von der Einführung nationaler und globaler Ressourcensteuern beziehungsweise Emissionsabgaben über gemeinsame Umsetzungen (joint implementation) bis zu transnational handelbaren Emissionszertifikaten. Die Annahme dieser Vorschläge hätte drastische Änderungen im Wachstumspfad und in der Struktur der Industrieländer und auch der Entwicklungsländer {ökologischer Strukturwandel der Wirtschaft) zur Voraussetzung beziehungsweise zur Folge. Zur praktischen Umsetzung dynamischer Emissionsminderungs- beziehungsweise Absorptionskonzepte kommt eine Reihe von Maßnahmen in Betracht, vor allem - die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe durch Energieeinsparung und Erhöhung der Energieeffizienz bei Transportenergie, Elektrizität, Heizenergie; - die Installation effizienter Energiegewinnungstechnik, wie Blockheizkraftwerke, Fernwärme, Gasturbinen; - die Substitution fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien, wie Biomasse, Windenergie, Fotovoltaik, Wasserstoff und

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- die Vergrößerung der C02-Senken, insbesondere durch Stopp der Regenwaldvernichtung, durch eine nachhaltige Waldbewirtschaftung und durch ein weltweites Aufforstungsprogramm. Bei der Umsetzung der vertraglich konzipierten Klimapolitik stehen somit alle drei zentralen Konfliktthemen einer internationalen Politik der dauerhaft-umweltverträglichen Entwicklung {sustainable development) im Raum: die ökologische Frage nach der Stabilisierung des globalen Ökosystems, die ökonomische Frage nach Quantität und Qualität des weiteren Wirtschaftswachstums und die soziale Frage nach der internationalen und intergenerativen Gerechtigkeit entsprechender Lösungsvorschläge.

IV. Biodiversitätspolitik Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (im Folgenden: Biodiversitäts-Konvention), das während der UN-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 von 154 Staaten unterzeichnet wurde und im Dezember 1993 in Kraft trat, bringt die Einsicht der Staatengemeinschaft zum Ausdruck, dass international ein tief greifender Paradigmenwechsel in Bezug auf den Naturschutz erforderlich ist. Das Konzept der biologischen Vielfalt (oder: Biodiversität) umfasst alle Tierund Pflanzenarten sowie Mikroorganismen, die genetische Variabilität innerhalb der Arten sowie die unterschiedlichen Ökosysteme der Erde, in denen diese Arten zusammenleben. Trotz Einführung zahlreicher völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Schutz beziehungsweise zur sorgfältigen Nutzung der biologischen Vielfalt hält die Zerstörung der natürlichen Lebensräume und das damit einhergehende Artensterben weiterhin an. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die bisherigen Ansätze des internationalen Arten- und Naturschutzes nicht weit genug gehen und es obendrein an politischer und finanzieller Durchsetzungskraft mangelt. Die Biodiversitäts-Konvention erhebt erstmals einen umfassenden Anspruch, diese Malaise zu ändern. Dieser Anspruch kommt bereits in der Präambel der Konvention zum Ausdruck, die den Schutz der biologischen Vielfalt zu einem gemeinsamen Anliegen der Menschheit {common concern of humankind) erklärt. Artikel 1 definiert als Ziele: „... die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile sowie die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Res-

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sourcen ergebenden Vorteile." Als Handlung leitende Prinzipien unterstreicht Artikel 1 den „... angemessenen Zugang zu genetischen Ressourcen, die angemessene Weitergabe einschlägiger Technologien unter Berücksichtigung aller Rechte an diesen Ressourcen und Technologien sowie eine (...) angemessene Finanzierung". Diese Ziele der Biodiversitäts-Konvention bilden einen „Dreiklang", der sich auch in ihrer Umsetzung widerspiegeln soll. Aus der Verknüpfung des Naturschutzanliegens mit wirtschafts- und technologiepolitischen Fragen entstand so ein komplexes Regelwerk, das den allgemeinen Rahmen für künftiges Handeln festlegt. Neben den Artikeln, die den Schutz, die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt und den Finanz- und Technologietransfer regeln (Artikel 1 bis 22), finden sich im zweiten Teil des Vertrages (Artikel 23 bis 42) innovative institutionelle Mechanismen, die sich auf den Kooperationsprozess und die Fortentwicklung des Vertragswerkes selbst beziehen. So findet unter anderem in überschaubaren Abständen eine Vertragsstaatenkonferenz statt, während der die Verhandlungen zu einzelnen Bereichen der Konvention fortgesetzt und die erfolgte Umsetzung der Bestimmungen überprüft werden. Vor der jeweiligen Vertragsstaatenkonferenz erarbeitet ein Nebenorgan für wissenschaftliche und technologische Fragen (SBSTTA) entsprechende beschlussreife Empfehlungen. Für die laufende Betreuung und Verwaltung der Konvention ist in Montreal ein Ständiges Sekretariat eingerichtet worden. Auf der 2. Vertragsstaatenkonferenz 1995 in Jakarta wurde vereinbart, einen Dialog mit den drei thematisch eng verwandten älteren Vertragswerken, dem Washingtoner Abkommen über den Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten (CITES), der Bonner Konvention zum Schutz wandernder Tierarten (CMS) und der Konvention zum weltweiten Schutz der Feuchtgebiete (RAMSAR) zu beginnen. Die Biodiversitäts-Konvention ist durch diesen dynamisch angelegten Verhandlungsprozess grundsätzlich in der Lage, neue Fragen aufzugreifen und strittige Punkte zu verfolgen, über die es bei Vertragsabschluss noch keine Einigung gab. Als besonders wichtig ist hierbei - ähnlich wie bei der Klimakonvention - die Möglichkeit zur Annahme von Umsetzungsprotokollen anzusehen, mit der Ziele, Zeitvorgaben und Maßnahmen zu einzelnen Themenfeldern konkretisiert werden können. Im März 2000 ist in Cartagena ein Protokoll zur biologischen Sicherheit (Biosafety-Protocol) verabschiedet worden, das Regeln über den

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sicheren Umgang mit sowie den Transfer von genetisch modifizierten Organismen (GMOs) festlegte. Zur Biodiversität der Meere und Küstengebiete wurde ein Expertengremium eingerichtet, das Vorschläge zu dieser speziellen Thematik erarbeiten soll. Die handelspolitische Dimension der Biodiversitäts-Konvention erfordert, auch in einen Dialog mit der Welthandelsorganisation ( WTO) einzutreten. Dies betrifft unter anderem das Abkommen über handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (Trade Related Intellectual Property Rights - TRIPS). Eine andere komplexe Aufgabe der Biodiversitätspolitik besteht im Schutz beziehungsweise in der nachhaltigen Nutzung der Wälder. Die Verhandlungen zu diesem wichtigen Teilbereich der biologischen Vielfalt werden im Rahmen des „Zwischenstaatlichen Waldausschusses" (IPF) der Vereinten Nationen geführt, der Vorschläge für künftige institutionelle Regelungen in der internationalen Waldpolitik präsentieren soll. Da in den Wäldern - besonders in den noch verbliebenen Naturwäldern - die meisten landlebenden Tier- und Pflanzenarten heimisch sind, ist deren ökologisch verträgliche Nutzung eine wesentliche Voraussetzung für den Schutz der biologischen Vielfalt insgesamt. Eine der Schwächen der neuen internationalen Biodiversitätspolitik lässt sich an der geringen Finanzausstattung ausmachen, gemessen am tatsächlichen Handlungsbedarf. Die Globale Umweltfazilität (Global Environment Facility - GEF) y als Finanzierungsmechanismus der Biodiversitäts-Konvention, ist daneben auch zuständig für die Umsetzung von Projekten zum Schutz der Ozonschicht, des Klimas, der Meere und vor Desertifikation. Für den Schutz der biologischen Vielfalt standen im Zeitraum 1996 bis 1998 gerade mal 800 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Angesichts eines vom UN-Umweltprogamm (UNEP) geschätzten mehrfach höheren Finanzbedarfs zeugen diese Zusagen von der weiterhin fehlenden Bereitschaft, die Biodiversitäts-Konvention umweltpolitisch effektiv zu machen. V. Boden- und Wasserpolitik Neben dem quantitativen Verlust an Böden vollzieht sich weltweit eine qualitative Verschlechterung ehemals ertragsreicher Böden. Es ist aber strittig, ob es sich hierbei um ein globales oder (nur) um ein universell auftretendes lokales beziehungsweise regionales Umweltproblem handelt.

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Nach neueren Schätzungen dehnen sich die Wüstengebiete der Welt um jährlich etwa 6 Millionen Hektar aus. Bis zu zwei Fünftel der NichtWüstengebiete Afrikas und zwei Drittel in Asien sowie ein Fünftel in Lateinamerika könnten sich in Zukunft in Wüsten verwandeln (sogenannte Desertifikation). Die Zunahme der Bevölkerung, aber auch der Viehbestände in diesen Regionen hat die Vegetation beeinträchtigt und damit wiederum die Bodenerosion beschleunigt. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Prozesse hat gezeigt, dass hierbei sozioökonomische und politische Faktoren im Vergleich zu natürlichen Faktoren weit bedeutsamer sind, als früher angenommen. Daher sind nicht nur technische Maßnahmen erforderlich, sondern auch soziale und institutionelle Innovationen, vor allem die Einführung geeigneter Landnutzungsrechte. Diesen Fragen widmet sich die „Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung und der Dürrefolgen insbesondere in Afrika" (kurz gefasst: Wüsten-Konvention), die auf Drängen afrikanischer Länder erarbeitet und im Juli 1994 unterzeichnet wurde und ihr Ständiges Sekretariat in Bonn hat. Mit dieser Konvention ist noch nicht der Grundstein einer globalen Bodenpolitik gelegt, was mit der unterschiedlichen Perzeption der Dringlichkeit dieses Problems zusammenhängt. Sie ist jedoch ein höchst innovativer, lokale Partizipation fordernder globaler Vertrag; und sie fordert - ähnlich wie die Klima- und die Biodiversitäts-Konvention - internationale Kooperation ein und kann somit als Vorläufer einer globalen Bodenpolitik angesehen werden. In anderer Weise offen ist die Lage in Bezug auf eine künftige globale Wasserpolitik. Nach jüngsten Ermittlungen mangelt es derzeit etwa 1,2 Milliarden Menschen an Wasser; von absoluter bzw. relativer Wasserknappheit sind insgesamt aber etwa 80 Staaten der Welt bedroht, in denen 40 Prozent der Weltbevölkerung leben (UNEP 2003). In vielen Fällen wird das quantitative Wasserangebot durch Dürre, Übernutzung von Wasservorräten und Entwaldung kritisch, während die Wassernachfrage aufgrund künstlicher Bewässerung in der Landwirtschaft, fortschreitender Urbanisierung und Industrialisierung und damit einhergehendem höheren individuellen Wasserverbrauch weiter ansteigt. Auch die Wasserqualität verschlechtert sich zunehmend weltweit. Oberflächengewässer und Grundwasser werden durch Nitrat und Pestizide aus der Landwirtschaft, durch Leckagen der städtischen und industriellen Wasser- und Abwassersysteme, aus Kläranlagen und Mülldepo-

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nien belastet. Die von der Weltgesundheitsorganisation {WHO) empfohlenen Grenzwerte fur Trinkwasserqualität werden so immer häufiger überschritten, die von der EU-Kommission gesetzten Grenzwerte werden von Tausenden von Brunnen in Europa nicht eingehalten - die folglich geschlossen werden müssten. Wasserpolitik hat noch eine weitere internationale Dimension; auf der Welt gibt es mehr als 200 grenzüberschreitende Flusseinzugsgebiete und eine große Zahl von Seen und Gewässern mit regionalem Einzugsgebiet, für die funktionstüchtige und verlässliche Vereinbarungen zwischen den Anliegern zu treffen sind. Neben der Anforderung, geeignete Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen Sicherung der Wasservorräte für eine weiter zunehmende Weltbevölkerung zu treffen - wie Erschließung neuer Quellen, Schaffung integrierter Wasserkreisläufe, Verhinderung der Wasserverschmutzung durch Schadstoffe - , dürfte es in Zukunft deshalb verstärkt um eine gezielte Reduzierung des spezifischen Wasserverbrauchs in Landwirtschaft, Industrie und Haushalten gehen (sogenanntes Nachfragemanagement). Die Alternative hierzu heißt weitere Wasserrationierung und Wasserverschmutzung - mit allen daraus wiederum entstehenden Konsequenzen. Es besteht daher dringender politischer Handlungsbedarf bezüglich einer pro-aktiven Wasserpolitik, einer Neudefinition von Wassernutzungsrechten und des Transfers von Wasserspartechniken. Die entsprechenden Initiativen sollten zu einer international abgestimmten Wasserstrategie entwickelt werden und könnten in der nicht allzu fernen Zukunft in die Formulierung einer globalen „Wasser-Konvention" münden.

VI. Stoff- und Abfallpolitik Viele Industrieprodukte, chemische Stoffe und Abfälle sind nicht beziehungsweise nur schwer abbaubar {persistent organic pollutants, POPs) oder dauerhaft lagerungsfähig; und die wirksame Kontrolle des Transports gefährlicher Abfälle gilt generell als schwierig. Nach erfolgtem Grenzübertritt unterliegen solche Stoffe und Abfalle oft ganz unterschiedlichen, gelegentlich sich widersprechenden Regulierungen. Die weiterhin bestehenden Exportmöglichkeiten vermindern die zu schwachen ökonomischen Anreize zur Stoffkontrolle und Abfallvermeidung vor Ort; sie transferieren damit zugleich einen Teil des Risikos, ohne auch das Wissen und die Technik zu dessen Behandlung zu transferieren.

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Udo E. Simonis

Angesichts dieser Problematik war die Verabschiedung der „Baseler Konvention über die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs mit Sonderabfällen und ihrer Beseitigung" vom Jahre 1989 ein bemerkenswerter Schritt nach vorn. Die Schwierigkeit liegt aber bis heute in der praktischen Umsetzung dieser Konvention auf lokaler und nationaler Ebene. Insbesondere müssten neue technische und institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, um die latent vorhandene Bereitschaft zur Umgehung von Transportkontrollen zu verringern und eine für Mensch und Umwelt möglichst risikofreie Behandlung weiterhin anfallender Abfalle zu gewährleisten. Der grenzüberschreitende Transport gefahrlicher Stoffe und Abfalle und deren Behandlung bleiben, so scheint es, auch für die Zukunft ein ungelöstes Umweltproblem, das Internationalisierung der Politik erfordert und diese angesichts potentieller Gefährdungen zugleich begünstigt. In Bezug auf die POPs ist nach vielen Jahren zähflüssiger Verhandlungen eine internationale Konvention über die zwölf gefährlichsten beziehungsweise langlebigsten Stoffe unterzeichnet worden (Stockholmbeziehungsweise POP-Konvention über das sogenannte dirty dozen); auf EU-Ebene ist eine umfassende Chemikalienpolitik (REACH) im Beratungsverfahren, die bis zu 30.000 Chemikalien kontrollieren soll.

Schlussfolgerungen Wie die Ausführungen in den vorangehenden Abschnitten gezeigt haben, ist die Internationalisierung in den einzelnen medialen Bereichen der Umweltpolitik unterschiedlich weit fortgeschritten - Weltumweltpolitik ist im Grundriss vorhanden, in den einzelnen Bausteinen aber höchst unterschiedlich institutionalisiert. Während sie der Ozonpolitik von Anfang an immanent war, ist sie in der Klima- und Biodiversitätspolitik unbestritten anerkannt, aber erst ansatzweise implementiert. In einer Frühphase der Internationalisierung befinden sich die Boden- und Wasserpolitik, während die Stoff- und Abfallpolitik in dem Sinne und Umfang international ist und bleibt, als die lokal und national ansetzende Strategie der Vermeidung gefahrlicher Stoffe und Abfälle nicht greift, die Internationalisierung des Problems also nicht als Lösung, sondern als Ausweg gesehen wird. Der zentrale Grund für diesen insgesamt bedauernswerten Stand der Dinge der Weltumweltpolitik dürfte in der zu schwachen Institutionali-

Auf dem Wege zu einer Weltumweltpolitik

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sierung im UN-System liegen.3 Das UN-Umweltprogramm (UNEP) muss dringend in eine Weltumweltorganisation beziehungsweise eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung ( World Environment and Development Organization - WEDO) fortentwickelt werden, wie schon an anderer Stelle gefordert worden war. 4 Am 70. Geburtstag des Jubilars Wilfried Röhrich muss hieran erneut erinnert werden.

3 Vgl. A. Rechkemmer (Hrsg.), UNEO - Towards an International Environment Organisation, Baden-Baden 2005. 4 Vgl. Udo E. Simonis, Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung - Teil der notwendigen UN-Reform, in: Dieter S. Lutz (Hrsg.), Globalisierung und nationale Souveränität. Festschrift für Wilfried Röhrich, Baden-Baden 2000, S. 493-505.

Wilfried Röhrich: Buchpublikationen Macht und Ohnmacht des Politischen. Festschrift für Michael Freund (Hrsg.), Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1967. Der Staat der Freiheit. Zur politischen Philosophie Spinozas, Verlag Melzer, Darmstadt 1969. Sozial vertrag und bürgerliche Emanzipation. Von Hobbes bis Hegel. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972. Robert Michels. Vom sozialistisch-syndikalistischen zum faschistischen Credo, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1972. „Demokratische" Elitenherrschafit. Traditionsbestände eines sozialwissenschaftlichen Problems (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975. Neuere politische Theorie. Systemtheoretische Modellvorstellungen (mit Koautoren), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975. Gesellschaftssysteme und internationale Politik. Sozialökonomische Grundrisse (mit Koautoren), Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1976. Politische Soziologie, Verlag W. Kohlhammer (Urban-Taschenbuch), Stuttgart 1977. Italienische Ausgabe:

Sociologia politica, Società editrice il Mulino (La nuova scienza), Edizione italiana a cura di Franco Cazzola, Bologna 1980. Revolutionärer Syndikalismus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977. Politik und Ökonomie der Weltgesellschaft. Das internationale System, Rowohlt Verlag (rde-Taschenbuch), Reinbek 1978. Politik als Wissenschaft. Eine Einführung, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1978.

650

Wilfried Röhrich: Buchpublikationen

Sozialgeschichte politischer Ideen. Die bürgerliche Gesellschaft, Rowohlt Verlag (rde-Taschenbuch), Reinbek 1979. Marx und die materialistische Staatstheorie. Ein Überblick, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980. Die repräsentative Demokratie. Ideen und Interessen, Westdeutscher Verlag, Opladen 1981. Vom Gastarbeiter zum Bürger. Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1982. Politik und Ökonomie der Weltgesellschaft. Das internationale System, 2., neu bearbeitete Auflage unter Mitwirkung von Karl Georg Zinn, Westdeutscher Verlag, Opladen 1983. Die verspätete Demokratie. Zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Eugen Diederichs, Köln 1983. Gesellschaftssysteme der Gegenwart. Politikökonomische Systemanalysen im internationalen Kontext (Hrsg.), Westdeutscher Verlag, Opladen 1986. Politik als Wissenschaft. Ein Überblick, 2., neu bearbeitete Auflage unter Mitwirkung von Wolf-Dieter Narr, Westdeutscher Verlag, Opladen 1986. Serbokroatische Ausgabe:

Politika kao znanost. Jedan pregled, Biblioteka Politica Misao, Informator Verlag (Uvodna studija: Jovan Miric), Zagreb 1989. Aspekte der Kritischen Theorie (Hrsg.), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1987. Die Demokratie der Westdeutschen. Geschichte und politisches Klima einer Republik, Verlag C.H. Beck (BsR-Taschenbuch), München 1988. Denker der Politik. Zur Ideengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Westdeutscher Verlag, Opladen 1989. Überleben durch Partnerschaft. Gedanken über eine friedliche Welt (gemeinsam mit Johan Galtung und Dieter S. Lutz), Verlag Leske + Budrich, Opladen 1990. Ethik und Politik heute. Verantwortliches Handeln in der technisch-industriellen Welt (Hrsg. gemeinsam mit Björn Engholm), Verlag Leske + Budrich, Opladen 1990.

Wilfried Röhrich: Buchpublikationen

Eliten und das Ethos der Demokratie, Verlag C.H. Beck (BsR-Taschenbuch), München 1991. Die politischen Systeme der Welt, Verläg C.H. Beck (Taschenbuch C.H. Beck Wissen), München 1999. - 4., aktualisierte und überarbeitete Auflage 2006. Spanische Ausgabe:

Los sistemas politicos del mundo, Verlag Alianza Editorial, Madrid 2000. Die USA und der Rest der Welt. Ein kritischer Essay, Verlag LIT, Münster 2004. Herrschaft und Emanzipation. Prolegomena einer kritischen Politikwissenschaft, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2001. Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik, Verlag C.H. Beck (BsR-Taschenbuch), München 2004. - 2., aktualisierte und neu bearbeitete Auflage unter dem Titel: Die Macht der Religionen. Im Spannungsfeld der Weltpolitik. München 2006.

Autorenverzeichnis

Prof. em. Dr. Hans Herbert von Arnim

Forschungsinstitut fur öffentliche Verwaltung Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer u. a. Mitglied mehrerer Sachverständigenkommissionen Prof. Egon Bahr

u. a. ehemaliger Bundesminister und Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg Prof. em. Dr. Dr. h.c. Klaus von Beyme

Institut für Politische Wissenschaft Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg u. a. ehemaliger Präsident der International Political Science Association Prof. em. Dr. Winfried

Böttcher

Institut für Politikwissenschaft Rheinisch-Westfälische Technische Universität Aachen Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried

Freiherr

von Bredow

Institut für Politikwissenschaft Philipps-Universität Marburg; u. a. ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Kanada-Studien in den deutschsprachigen Ländern PD Dr. Karl-Heinz Breier

Institut für Politische Wissenschaft Christian-Albrechts-Universität Kiel Prof. Dr. Hartmut Elsenhans

Institut für Politikwissenschaft Universität Leipzig Björn Engholm

u. a. ehemaliger Bundesminister und Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein

654

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Klaus Faupel

Institut fur Politische Wissenschaft Universität Salzburg Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Johan Galtung Friedens- und Konfliktforschung u. a. University George Mason, USA; European Peace University, Österreich; Tromsö Universität, Norwegen Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen Institut für Öffentliches Recht (Humanitäres Völkerrecht) Ruhr-Universität Bochum u. a. ehemaliger Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und Mitglied des Ständigen Schiedsgerichtshofs in Den Haag Prof. Dr. DirkKaesler Institut für Soziologie Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Wolfgang Kersting

Philosophisches Seminar Christian-Albrechts-Universität Kiel Prof. em. Dr. Martin Kriele

Institut für allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht Universität zu Köln u. a. ehemaliger Richter am Verfassungsgerichtshof NRW Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes Prof. em. Dr. Ernst Kuper

Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Claus Leggewie

Institut für Politikwissenschaft Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktor des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität Prof. em. Dr. Dr. h.c. Theodor Leuenberger

Institut für Wirtschaftsgeschichte und Technologiepolitik Universität St. Gallen und Visiting Prof. an der Stockholm School of Economics Prof. em. Dr. Otwin Massing

Institut für Politikwissenschaft Universität Hannover

Autorenverzeichnis

Prof. em. Dr. Wolf-Dieter

Narr

Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft Freie Universität Berlin Prof. Dr. Sven Papcke

Institut für Soziologie Westfälische Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Anton Pelinka

Institut für Politikwissenschaft Universität Innsbruck u. a. Träger des Preises der Stadt Wien für Geistes- und Sozialwissenschaften (2005) Prof. Dr. Walter Reese-Schäfer

Institut für Politikwissenschaft Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Richard Saage

Institut für Politikwissenschaft Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Carsten Schlüter-Knauer

Leiter der Zentralen Studienberatung der Fachhochschule Kiel Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Senghaas

Institut für Interkulturelle und Internationale Studien Universität Bremen u. a. Träger des Friedenspreises der Dr. Roland Röhl Stiftung Prof. Dr. Udo E. Simonis Wissenschaftszentrum Berlin u. a. Mitglied des Committee for Development Policy der Vereinten Nationen Dr. Michael Take, Dipl.-Volkswirt

Rechtsanwalt in Kiel Prof. Dr. Rainer Tetzlaff

Institut für Politische Wissenschaft Universität Hamburg u. a. Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Afrikakunde, Hamburg Prof. Dr. Bassam Tibi

Abteilung für Internationale Beziehungen Georg-August-Universität Göttingen u. a. A. D. White Professor-at-Large, Cornell University, USA

656

Autorenverzeichnis

Prof. em. Dr. Fritz Vilmar

Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft Freie Universität Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld

Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft Ludwig-Maximilians-Universität München u. a. Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung Prof. Dr. Gerhard Wittkämper

Institut für Politikwissenschaft Westfälische Wilhelms-Universität Münster u. a. Vorstandsvorsitzender des Europäischen Zentrums für Kriminalprävention in Steinfurt Prof. Dr. Michael Wolffsohn

Neuere Geschichte und Internationale Beziehungen Universität der Bundeswehr München u. a. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg), Träger des Alois-Mertes-Preises des Historischen Instituts, Washington, DC Prof. em. Dr. Dr. h.c. Wichard Woyke

Institut für Politikwissenschaft Westfälische Wilhelms-Universität Münster u. a. Mitglied des Centre d'Etudes International de Sécurité der Universität Grenoble Prof. em. Dr. Karl Georg Zinn

Institut für Volkswirtschaftslehre Rheinisch-Westfälische Technische Universität Aachen