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German Pages 325 [328] Year 2000
Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft Band 1
Universelle Entwürfe Integration - Rückzug: Arnims Berliner Zeit (1809-1814) Wiepersdorfer Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft Herausgegeben von Ulfert Ricklefs
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Umschlagabbildung: >Das Königl. OpernhausVolk< in den Schriften Achim von Arnims von 1805 bis 1813
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Lothar Ehrlich Arnims poetisch-politisches Theaterprojekt und die »Schaubühne« von 1813
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Johannes Barth »Dieses Elend der Gelehrten« Wissenschaftskritik in Arnims »Die Päpstin Johanna«
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Jürgen Knaack Achim von Arnim und der »Preußische Correspondent«
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Ulfert Ricklefs >Ahasvers Sohnnormales< Leben gar nicht zu: »Hätte ich mich wie ein andrer frü-
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her beschränken gelernt, vielleicht wäre bei mir manches ähnliche entstanden. Wie hundertmal denk ich, nun bin ich ergeben in eine gewisse Lebensart, gebunden an einen gewissen Ort; aber ein Tröpflein Honig, das mir wieder hérniederthaut, bringt das ganze Gefäß meiner Wünsche wieder in Gährung, die Blasen steigen farbig auf - im Grunde, wie wenig verlang ich, und doch find ich es nicht!« (25. 5. 09) Auf »rauhen Wegen einsam umhergetrieben« sei er, »manches an mir ist trauriger, ungefälliger entwickelt, und das Sonderbare hat sich meiner oft ermächtigt«. Das Motiv von Hoffmanns poetisch-utopischem Rittergut in Atlantis erklingt präludierend an im Bekenntnis an die Herzensfreundin: »Als ich Dich zum erstenmal sah, wäre ich meiner Neigung am Rheine zu bleiben gefolgt, hätte mir dem Ostein gegenüber das Gütchen auf dem Berge angekauft, das damals im Handel war, von schönerem Standorte hätte ich die Welt übersehen, denn Du wärst mir näher gewesen!« (18. 4. 09) Nie habe er »eine solche Wirkung von der Natur empfangen außer damals auf dem Ostein«, schrieb auch Brentano an Arnim (7. 9. 05). Heiratswünsche bewegten Arnim: »Es ist mir zuweilen, als sollten wir beide zusammen in alle Welt gehen, aber wo liegt alle Welt? und fast ermüde ich. Paßte ich in irgend eine bürgerliche Ordnung und könnte eine Frau ernähren, so könnten wir uns wie andre ehrliche Leute dreimal aufbieten lassen, Gäste laden, kochen und backen und heirathen.« (21. 8. 09) Die wirtschaftliche Situation Arnims war prekär und bedrohlich, und sie änderte sich auch nach dem Tod der Großmutter Labes nicht wesentlich (10. 3. 10), weil sie das Erbe in einem Fideikommiß nicht schon dem Enkel, dessen wirtschaftlichem Sinn sie mißtraute, sondern erst Arnims zukünftigen Kindern vermacht hatte. Der Stadt und der Gesellschaft steht er ambivalent gegenüber. Die »junge Schriftstellerwelt« mied er, die Gesellschaft und das gesellige literarische Leben läßt ihn unbefriedigt: »Mein Herz verlangt indessen sehr bei aller Geselligkeit sich zu erfrischen, und ich fühle zuweilen mit dem Tannhäuser die unerklärliche Sehnsucht nach den Gebürgen, besonders nach den kernfesten Felsen; mir ist hier der Boden zu weich, ich tret ihn wie gar nichts zusammen« (1.4. 09). Die Arbeit, Schreiben und Erkenntnis, sind ihm des Lebens und der Mühe wert - »Selbstgeschaffhe Seligkeit, / Alles, alles drin ersteht, / Und die Zeit so schön vergeht«, heißt es in einer Allegorie (5, 873). Zeitweise überlagern politische Ambitionen die poetischen Pläne: »Nach einem Abend, wo ich mit der Pflugschar über eine ausgebrannte Stadt meiner Entwürfe hingefahren, denn wisse, sobald ich hier in diese unseligen Mauern komme, ergreift mich eine Lust zum Einrichten des Staats, die sich auf alle Art anbaut und sich an jede Möglichkeit schwalbenartig anhängt, so hing ich auch mein Nest wieder an Humboldt, machte mich zu seinem geheimen Sekretär, endlich fand ich, daß mit dem allen noch nichts wär, und da sank ich in die Leere, wie ein Seiltänzer, der von einem Thurm zum andern sein Seil gespannt zu haben glaubt und findet, es ist nur ein Sonnenstrahl gewesen durch ein Thurmfenster. Nachts ärgerten mich lauter Canalgenträume«. (15. 1. 09) Und Arnim hatte so Unrecht nicht. Denn von Humboldt (28. 2. 09 an seine Frau) ist ein Wort überliefert, das dem Todesurteil gleichkam, was öffentliche Wirksamkeit im Staatsdienst betraf: »Auch an den Achim von Arnim, den Wunderhornmann,
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der wirklich in Dienst gehen will, habe ich gedacht. Allein er hat so grobe Streitigkeiten mit Voß und Jacobi und geht in solcher Pelzmütze und mit solchem Backenbart herum, und ist so verrufen, daß nicht daran zu denken ist.« Hoffte er mit der Protektion Humboldts auf eine Anstellung, so will dieser ihn zuvor zwingen, »die verfluchten Gesellschaften [zu] besuchen«, »den Leuten einen andern Begriff von mir zu geben, die mich für einen Wilden halten, der mit Gott und Welt trotzt, da ich doch eigentlich den Hauptfehler habe, daß ich zu weich bin.« (10. 3. 09). Das Berlin, in das Arnim zurückkehrte, war eine Stadt zwischen 153.128 Einwohnern (ohne das Militär, Stand 1803) bzw. 236.830 Einwohnern (mit Einschluß der Garnison, Stand 1828). Trotzdem oder gerade wegen dieser geistig und persönlich nicht unproblematischen Situation beginnt mit der Berliner Zeit für Arnim das außerordentliche Jahrfünft der bedeutsamsten Wirksamkeit, der Einlösung von Hoffnungen und Entwürfen, die programmatisch profiliert waren, und die in einem weiten Sinn politischen Charakter zeigten. Es sind die Jahre der Öffentlichkeit, der Integration in die führende großstädtische Gesellschaft und der Mitwirkung an Refonnversuchen in jener schwankenden und ungewissen Übergangszeit des preußischen Staates. Vor allem ist es die Zeit der universalen Entwürfe in bedeutenden Werken infolge einer raschen und intensiven souveränen Produktivität. Die Jahre sind der Zenit dieses Autorenlebens, zumindest nach den äußeren Gesichtspunkten und nach Zahl und Bedeutung der Werke, die neben der journalistischen und der Rezensionstätigkeit und neben den Aktivitäten in der politisch und gesellschaftlich renommierten Christlich-deutschen Tischgesellschaft in rascher Folge erschienen oder wie die »Päpstin Johanna« druckfertig vorlagen. Die Entwürfe und Konzepte sind von universaler Dimension, so besitzen die zwischen 1809 und 1814 entstandenen Werke bei großer poetischer Schönheit, Unmittelbarkeit der Diktion und artistischer Komplexität gesellschaftliche und politische Sprengkraft und universalpoetisch-philosophischen Anspruch. Auch das private Leben, die Verlobung mit Bettine Brentano am Abend, als er sein erstes Drama, »Halle und Jerusalem«, als Buch in Händen hielt, die Heirat und die Rheinreise des jungen Paares 1811, geben diesen Jahren ihren besonderen Glanz. Man hat bisher nicht betont, daß dieses Berliner Jahrfünft, das zugleich die Zeit der größten europäischen Machtentfaltung und des Sturzes Napoleons umfaßte, in Arnims Leben und Schaffen die stärkste Herausforderung, die Periode der Reformideen und die einer versuchten Einheit von Leben, Poesie und Politik bildete. Vielleicht liegt das an dem ungewissen, bis heute nicht ganz geklärten Ausgang. War es Resignation, ökonomische Notwendigkeit, Ahnung der kommenden Restauration, oder war ein übergreifender, symbolischer Entwurf im Spiel, der ihn zum plötzlichen Rückzug nach Wiepersdorf trieb? Welches Lebens- und Poesiekonzept bestimmte danach die zurückgezogene Existenz in dem herrschaftlichen Gutshaus im Ländchen Bärwalde? Die Zeit gab und forderte ein Vielfaches: Überwindung der gesellschaftlichen Depression nach der Lockerung der französischen Besatzung, die späte Wiederkehr des Königspaares und des Hofes aus dem ostpreußischem Exil, forcierte Reformen auf allen Ebenen, in allen Bereichen der Gesellschaft, zu
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denen Arnim nicht zuletzt eigene Konzepte beitrug und politisch vertrat. Die Jahre seiner vielseitigen Etablierungsversuche und der poetisch-politischen Programmschriften sahen zugleich die Bauernbefreiung, die Kapitalisierung von Grund und Boden, die Militärreform, die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung, die Einfuhrung der Selbstverwaltung der Städte, die Gewerbefreiheit, neue Besteuerungsgrundsätze und durchgreifende Verwaltungsreformen in allen Bereichen, auch entworfene und noch nicht eingelöste Verfassungskonzepte. Eindrucksvoll ist die Universalität des Problembewußtseins und des Interesses, der Sinn für den Zusammenhang aller Dinge und Erscheinungen, wie er sich in den geistigen Entwürfen und Horizonten der Werke und Schriften Arnims in den Berliner Jahren mitteilt. Nicht zuletzt lösten die umfassende ideelle und politisch-faktische Bedeutung der französischen Revolution und der Imperialismus Napoleons, die alles berührenden europäischen Erschütterungen, neben den universalistischen, kunstreflexiven Tendenzen der Frühromantik, jene Impulse entscheidend aus, die zu einer solchen Themen- und Perspektiven-Ausweitung in Literatur und Publizistik führten. Die Erschütterungen kumulierten und gipfelten in Preußen in einer Periode der tiefgreifendsten Wandlungen zwischen 1806 und 1815, einer Zeit der tiefsten Depression und der größten Reformanstrengungen in seiner Geschichte. Alles rief nach Neubegründung oder Legitimation des Bestehenden. Zu den sich aufdrängenden Themen gehörten: Volk und Nationaliät, Tradition und Geschichte, die Rolle der Kunst, Religion und Christentum, Staat, Gesellschaft und Verfassung, Behauptung oder Untergang im moralischen oder staatspolitischen Sinn. Und Arnim wich den Themen und Herausforderungen nicht aus. Zahlreiche dramatische Werke der »Schaubühne« und Prosatexte des »Wintergartens« haben frühneuzeitliche Texte oder Stoffe zur Vorlage und Zeitbezug als Wirkungsabsicht. Die Intention leitet sie, mit der Dichtung unmittelbar auf die Gegenwart einzuwirken und zugleich den Blick auf das zu lenken, was nicht dem Tage und dem flüchtigen Interesse angehört. Impulse zu einer Spracherneuerung aus dem Geist der Poesie und der Stilwahrheit der vorsubjektiven Epochen, vor allem des 16. Jahrhunderts und des Barock, wirken entscheidend hinein. Der angeborne kritische Berliner Realismus, verbunden mit einer aus dem Idealismus gespeisten Spiritualität und der oft magischen Surrealität der Worte und Dinge gibt Arnims Texten den einzigartigen, modernen Glanz und die klassische Schärfe. Vor allem enthalten die Hauptwerke der Berliner Zeit, die »Gräfin Dolores«, »Halle und Jerusalem«, der Erzählungsband von 1812 mit der »Isabella von Ägypten« und die »Päpstin Johanna« (1812/13) Entwürfe, die - idealistisch und idealismuskritisch zugleich - die Erscheinungen von Natur, Geist und Leben, der Politik und des Nationalen, von Realität und Transzendenz, Leben und Kunst, Gesellschaft und Ich universell und synoptisch sehen und das hierin begründete Spannungsgeflecht in einer modern anmutenden Motiv-, Bild-, Ding- und Themensprache und einer bis dahin kaum erreichten Bezüglichkeit und werkinternen Intertextualität exponieren. Der poetologisch innovativ und modern strukturierte Roman »Die Gräfin Dolores« realisiert mit apokrypher Verflechtung der Sprach-
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elemente und mit einer neuartigen Ding- und Motivsprache eine Unkonventionalität der Diktion und mit anspruchsvollstem Ernst, die das Unprätentiöse, Ungeschützte und Gewagte einschließen, eine Sprache jenseits aller poetischen Rhetorik und literary correctness. »Die Worte bedeuten mir etwas andres als den meisten, [sie] leben mir frisch und flammend, die jenen abstarben, keine Silbe ist mir zum leeren Mechanismus geworden.« Eichendorff erkannte »dieses Historische, diese großartige Gerechtigkeit seiner Poesie«, »man möchte seine Poesie eine historische nennen, wo, fast ohne Räsonnement, nur die poetischen Tatsachen reden«, wo nur die Sprache sich selbst und darin die Dinge ausspielt. Daß die Poesie allein in der Sprache ist, »Gott die Weisheit in die Sprach gelegt hat«, diese Formulierung Bettinens ist gemeinsames Credo mit Arnim (Jan. 1810). Die Berliner Werke Arnims, die Themen und Beiträge des Wiepersdorfer Kolloquiums - so wenig und kaum erschöpfend eine einzige Tagung der Themenvielfalt gerecht zu werden vermag, auch für Neues zur Tischgesellschaftsproblematik der WAA-Band von Stefan Nienhaus abzuwarten ist - begründen und illustrieren die Zusammenhänge. Der »universale romantische Gegenwartsroman« (E. L. Offermanns) »Die Gräfin Dolores« (1810) ist eine der undogmatischsten, zukunftsgerichteten Antworten auf die französische Revolution, auf die Impulse und die Beschädigungen, die von ihr ausgingen. Der in seiner Form modernste, vielstimmigste Roman mit seinen subtextuellen Verwebungen und Verknüpfungen, dessen Thematik von Liebe und Vaterland, Zeit und Ordnung, Magie des Ästhetischen, Sog und Vorbild der Vergangenheit und Pflicht zur Weiterentwicklung - bis zu Utopie, Dämonie der Leidenschaft, Losreißen der Subjektivität vom »Allgemeinen« und zur manieristisch grotesken Verkehrung der Dinge im Ländchen des Prinzen von Pallagonien reicht, transzendiert dies alles auch auf eine politische Ebene. Volks-, Staats-, Gemeinschafts- und Verfassungsfragen sind überall konnotiert. Diese »Geschichte mit den 1000 Geschichten« (Eichendorff) bildet ein gesellschaftliches, moralisches und ästhetisches Universum. Der Erzählungsband von 1812, dessen »Isabella von Ägypten« Heinrich Heine ebenso entzückte, wie er die achtungsvolle Tradition französischer Arnim-Rezeption begründete (Christof Wingertszahn hat seinen Beitrag in Wiepersdorf zur Fortentwicklung für seinen bevorstehenden WAA-Band zurückbehalten), erweist sich ebenfalls als ein durchkomponierter politischuniversaler Zyklus, eine Tetralogie als Zeitspiegel vom Gelingen und Verfehlen der Gegenwart. Seine ethisch und anthropologisch vertieften Themenschwerpunkte sind erstens:Vaterland, Staat, Wirtschaft, Europa, Erlösimg und das Gericht der Weltgeschichte (»Isabella«); zweitens: Revolution, Utopie und das Schicksal des Ancien regime (»Melück Maria Blainville«); drittens: Kapital, Wirtschaft, der Lebensprozeß geschichtlicher Metamorphose in seinem Bezug zu Poesie und Liebe (Der »glückliche Färber«); und viertens: Kunst, Poesie und Artistik, Ursprungssuche und Liebe, Herkunft und Bestimmung (»Cosmus, der Seilspringer«). Arnims »Wintergarten« ist eine Allegorie der Berliner Gesellschaft unter der französischen Besatzung. Der Winter bezeichnet die Erstarrung und Läh-
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mung, die Preußen, Deutschland und Europa in der napoleonischen Ära überfallen hatte, der >Wintergarten< mit seinen künstlichen Blüten das Scheinleben der Kunst, solange es sich dem Leben nicht stellt und das überlieferte Wort nicht achtet. Bernd Fischer zeigt in seiner Studie, daß Arnims kulturpolitisches Programm auf den Historismus des individuellen Erlebnisses baut, der sich in Memoiren, Autobiographien und anderen Formen der Erinnerungskultur manifestiert, statt dem globalen Überblick aus olympischer Perspektive zu folgen, der in der Geschichtsschreibung herrschend ist. Statt der einzigen großen »Aussicht in die Welt, die vom Chimborasso«, befriedigt jetzt »allein der kleine belebte Winkel, den ich ganz erkennen konnte«. Nach Arnims universalistischem Denken ist dieser perspektivische Ausschnitt universal vermittelt, sind »diese ungeahndeten Welten alle mit uns zu einem Leben verbunden«. Was Brentano »verfluchtes Zusammenknittelungswesen« nennt, das erweist sich vielmehr als von einem kulturpolitischen Adaptionsprogramm geleitet, das den subjektiven Historismus überwindet und universalpoetisch auf die lebendige, vorbildhafte, politische Wirkung der alten europäischen Texte setzt. Arnim zollt dabei, so Fischer, »der organischen Qualität der adaptierten Texte« und »dem kulturhistorischen Zeitgeist« ihrer Entstehung wenig Respekt. Das frühromantische Projekt einer neuen Poesie, die »wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt« vereinigen sollte, hat der Krieg zunichte gemacht. An die Stelle tritt, so zeigt Fischer, das bescheidenere Projekt einer Wiederentdeckung all der poetischen Zeugnisse, die uns in einer verschütteten Geschichte überliefert sind. Bettina Knauer richtet den Blick auf die europäische Novellentradition seit Boccaccio, die Arnim in allen wesentlichen Elementen weiterführt und umformt, wobei die kritische Referenz auf Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« die Erzählsituation und das Programm des Zyklus prägen. Goethes Modell wird für Arnim »zum kritischen Prüfstein und Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Novelle und ihrer gesellig-gesellschaftsbildenden Relevanz«. Die Übereinkunft, von der bedrängenden Aktualität abzusehen, in Verbindung mit der Hoffnung, im Erzählen gegen das Bedrückende, gegen Tod und Untergang gegenanzusprechen, verbinden die Modelle. Arnims Versuch, »die Vorstellung eines neuen Allgemeinen dabei auf der Grundlage einer weltanschaulich, kulturell und national heterogenen Gesellschaft« zu entwikkeln, legt aber »den Illusionismus eines Kunst- und Novellenmodells bloß«, wo im Medium der Unterhaltung über das Schöne die Utopie einer besseren Welt zum Vorschein komme. Arnim verbindet die Kunst wieder mit dem Leben, das Erzählen mit der Tat. Das »poetologische Zentralsymbol« eines alten, aber modern überschriebenen und übermalten Buchs, eines Ritterromans in Bildern, verknüpfte Arnim nach Knauers Ausführungen mit der frühromantischen Arabeskentheorie als Darstellungsprinzip. Sein »arabeskes Verfahren bei der Anund Umverwandlung historischer Quellen« ist Fortschreiben und »ständige Umschrift« im Sinn der Frühromantik. Etwas wie eine »neue Mythologie« ist so auch das Ergebnis, ein Impuls, der »die trübsinnige Wintergartengesellschaft aus ihrer Erstarrung, Ausdrucks- und Verstehensnot befreit und ein neues, gemeinsames Kultur- und Kommunikationssystem« für die heterogene
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Grappe antizipiert. Die Verbundenheit mit dem All-Leben suggerieren Arnims Worte: »alles Glück dieser Welt ist da mit uns verbunden, auch wir, auch wir können dahin, auch zu uns strömt Leben aus den zackigen Urfesten der Erde, die das Ende der Welt begrenzen«. Auf überraschende Weise hat Roswitha Burwick das frühe naturwissenschaftliche Werk Arnims, dessen Ausläufer bis 1809 und darüber hinaus reichen, mit dem kulturpolitischen Programm der Berliner Jahre verknüpft und darin die Kontinuität zwischen Naturwissenschaft und Poesie, die Einheit von Arnims Denken evident gemacht. In dieser Naturwissenschaft um 1800, in der Beobachtung und Spekulation, Philosophie und Experiment noch nicht getrennt sind, wird die Meteorologie, die es mit dem ständig Bewegten zu tun hat, zum Paradigma für eine neue naturwissenschaftliche Erkenntnislehre, die wiederum im Denken der Kulturwissenschaften, in Poetik und Geschichtsauffassung, unmittelbare Analogien findet. Arnim führt das Geschichtsdenken in die Naturwissenschaft ein und reflektiert den Anteil des Subjekts an einer Erkenntnis, die als Prozess begriffen ist. So bewegt sich der Forscher »systemlos durch Systeme«, das Wissen selbst befindet sich auf einer unendlich fortschreitenden Bahn, beweist dauernd wechselnde Perspektiven und bildet ein Konstellationsgefüge, das sich, wie der Zusammenhang der Dinge selbst, in steter Beweglichkeit und progressiver Bewegung fortentwickelt. Arnim griff 1809 Resultate und Ideen der eigenen Arbeiten von 1800 auf und verknüpfte naturwissenschaftliche Objekterkenntnis mit der Reflexion auf den Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisentwicklung überhaupt, die als integraler Bestandteil jeder Naturerkenntnis begriffen wurde. Diese Einführung eines historischen Perspektivpunkts in die Naturwissenschaft, der Wissenschaftsprozeß als Erkenntnisbedingimg gesehen, führte, so zeigt Burwick, notwendig zur Erweiterung und Übertragung des Ansatzes auf die anderen Felder der Erkenntnis. Arnim verband so ganz selbstverständlich alle Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens. Der moderne Ansatz eines strikt methodisch angewandten historischen Relativismus erwies sich als jene flexible Betrachtungsart, die sowohl dem Prozeßcharakter der Objekte wie dem der Erkenntnisse zu entsprechen vermochte. Damit ist ein universelles, allumgreifendes Sach- und Erkenntnisprinzip innerhalb der Natur- und Geisteswissenschaften fortschreitend wirksam: in den Bereichen von Natur, Geschichte, Gesellschaft, Staat, Recht, Literatur usw. Es verbindet das Alte mit dem Neuen, vermittelt Tradition mit Innovation. Denn »Wissenschaft, Kunst und Politik, als >freye Geistesthätigkeiten< verstanden, bauen auf, >drängen vorwärts*, dienen der Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, die auch im Fortschritt der Gesellschaft und ihrer Staatsformen reflektiert ist. Systeme dürfen nicht zu >entgültigen Wahrheiten* ideologisiert« werden. Damit sind Grundlagen Arnimschen Denkens formuliert, ist die Basis jener universellen ErkenntnisVerknüpfung, die im gesamten Œuvre begegnet, aufgewiesen, wird die von vielen als irritierend empfundene Verbindung von Konservatismus und Progressivität bei diesem Autor verständlich. Günter Oesterle weist an der Überschreitung der Regelsysteme und Diskurse, der Zeiten und nationalen Räume in Arnims Erzählung »Der tolle Inva-
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lide auf dem Fort Ratonneau« eine weitere Spielart des universellen Perspektivismus und der historischen Relativierung auf. In seiner gattungspoetologischen Reflexion auf der Folie der aufklärerischen Anthropologie und der frühromantischen Universalpoesie interpretiert er Grenzüberschreitungen im Verhältnis von Anekdote zu Novelle und von Novelle zu Legende als konstitutive Verfahrensweisen von Dezentralisierung und Dekonstruktion. Arnim setzt die >anthropologische Wende< der Spätaufklärung voraus, geht nicht von der Metaphysik, sondern von Beobachtung aus, verknüpft das Anekdotische aber zuletzt mit Legendenperspektivik. Die Umschrift von der charakteristischen Anekdote in »ein Konzept romantischer universeller Poesie« gelingt Arnim durch vier komplexitätsfördernde bzw. Eindeutigkeit unterminierende Operationen. Er erreicht dadurch »Ironie und Zweideutigkeit« und setzt »den Kippmechanismus von heiterem Spiel zu groteskem, tödlichen Schrecken« in Gang durch die Störung von Mitteilung, durch Abbruch der Kommunikation, Verstummen, Angst und Mißtrauen, aber auch durch die narrative Nutzung der anthropologischen Zusammenhänge von Aberglauben, Melancholie und Wahnsinn. Zugleich erhält die Novelle mit ihrer Poetik des Neuen, Einmaligen und >Skandalösen< ein Gegengewicht durch die Legende mit ihrer Topik des Wunderbaren. Signifikative Motivketten und Begriffsreihen regeln die Verknüpfungsartistik im komplizierenden Textverfahren. Arnim als »Spezialist für die Darstellung von Sonderkulturen und Minoritäten« historisiert die Befindlichkeiten der Protagonisten und entspricht damit der Polyperspektivität der Kulturanthropologie am Ende des 18. Jahrhunderts. Er realisiert das durch eine Polyphonie sozialer Redeformen »aus allen denkbaren mentalen, nationalen, geschlechts- und altersspezifischen Gesichtspunkten«. Aber nicht Relativismus, sondern die »im Sprung« aufscheinende und die Einzelsichten kombinierende »Idee des Ganzen« entspricht dem romantischen Blick auf das vexierhaft vermittelte Universale. Oesterle zeigt, mit Referenz auf die beiden national, historisch und politisch unterschiedlichen Quellen Arnims, die Differenz von Ehrenkasus und medizinischem Fall, von Problemlösung im Rahmen des militärischen Ehrenkodex und einer gleitenden Überführung in den medizinisch-psychiatrischen Diskurs, der die Doppellist in der Erzählung legitimiert. Die auf dem Weg von der Anekdote zur Novelle benutzte motivische und thematische Erweiterung durch Eifersucht, durch das Kunstspiel des Feuerwerkers, vor allem durch die gestörte und verdächtig gewordene Kommunikation sowie durch die Problematik des Verhältnisses von Krankheit und Irrglauben, von Aberglauben, Melancholie und Wahnsinn wird gegenüber der eindeutigen Anekdote weiter kompliziert durch die gattungsmäßige Spannung zwischen der dem Mann zugeordneten Novelle und der der Frau zugeordneten Legende mit ihren Gattungscharakteristika. Die empirisch und motivisch vielfaltig begründete Verständnislosigkeit und Kurzsichtigkeit der Personen ist, damit berührt sich das Resultat mit Burwicks Beitrag, methodischer Perspektivismus, Historizität der Wahrnehmung. Der Zeitungsschreiber und -herausgeber Arnim suchte die Vermittlung von Tagesaktualität und den »Sagen und Wahrsagungen«, er sah das Alte im Neuen und das neue Alte, selbst wenn er als Herausgeber der Einsiedler-Zeitung den
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»wesentlichsten Bestandteil« der >gelesenen Blättere die »Tagesneuigkeiten« ausgeschlossen hatte. Doch auch das »Leichteste« war ihm in der EinsiedlerZeitung »kein leichtsinniger Lückenbüßer«. Zwei Wiepersdorfer Beiträge befaßten sich mit Arnims journalistischer Tätigkeit in der Berliner Zeit, in der zugleich die großen Texte und Werke und daneben die Rezensionen für die Heidelberger Jahrbücher entstanden. Peter Staengle klärt mit geistreicher Akkuratesse Arnims Anteil an Kleists »Berliner Abendblättern«, deren Entstehung Arnim anspielungsreich den Grimms nach Kassel gemeldet hatte, zugleich mit der Aufforderung, durch >amüsante< Zulieferungen beizutragen. Auch ein Porträt Kleists aus facettenhaften Äußerungen Arnims entsteht dabei, und ein indirektes Selbstporträt Arnims als Journalist. Das Berliner gesellschaftliche Milieu wird scharf und detailreich umrissen. Detektivisch erforscht sind die Probleme der Autorzuschreibung und die Entstehungsdaten von Arnims Beiträgen, gedruckte und ungedruckte, mögliche und wirkliche; mit plausibler Klassifizierung und Typologie wird der Arnimsche Einsatz charakterisiert. Die politischen Positionen und unterschiedlichen Interessen zwischen Kleist, Müller und Arnim in Bezug auf Kraus und Hoffmann werden mit ihren Anlässen, Themen und Konsequenzen ins Licht gerückt. Es bleiben die beiden Rätsel um eine Studie Kleists und einen Roman »in der Art wie die Manon Lescoult«, die durch beiläufige Formulierungen und Hinweise Arnims den Forschern aufgegeben sind. Nicht nur als Beiträger, sondern als verantwortlicher Herausgeber und Beschaffer von Nachrichten wirkte Arnim in vier welthistorischen Monaten vom 1. 10. 1813 bis zum 31. 1. 1814; er gab als alleiniger Redakteur und Nachfolger Niebuhrs und Schleiermachers den »Preußischen Correspondenten« heraus, die dritte bedeutende >Tageszeitung< Berlins jener Tage, mit einem Gehalt vom Verleger Reimer, das einem Offizierssalär gleichkam. Die aus gründlicher Spezialforschung hervorgegangene Studie von Jürgen Knaack über Arnim als Herausgeber des »Preußischen Correspondenten« zeichnet den journalistischen Werdegang Arnims ebenso nach wie seine frühen Ambitionen auf diesem Felde, sie hebt die vergleichsweise Professionalität Arnims hervor, die jene der Vorgänger beim »Preußischen Correspondenten« übertraf. Knaack macht die Mühsal bei der Informationsbeschaffung in drängender Konkurrenz mit den beiden anderen Berliner Zeitungen anschaulich, verdeutlicht die schwierige Quellenlage und untersucht die Herkunft und Zuverlässigkeit der Hauptquellen, die Arnim gewöhnlich zur Verfügung standen. Am Beispiel der Berichte über die Völkerschlacht bei Leipzig werden das hohe Maß von journalistischer Verantwortung und der Erfolg im Kampf um möglichste Aktualität, auch die kritische Haltung Arnims gegenüber >gut beglaubigten Gerüchten< und »verfälschten Nachrichten« erkennbar. Seit 1804 suchte Arnim mit journalistischen Konzepten wie »Preußens Volkszeitung« hervorzutreten. Der vielleicht von Francis Bacons induktiver und von Adam Müllers dialektischer Pro und Contra-Methode beeinflußte Plan einer Perspektivierung der Meldungen und Berichte in zwei opponierende Figuren: »Der Behaupter« und »Der Widerleger«, bezeugen Arnims frühe Relativierungsmethode bzw. die Ausrichtung auf eine aus der Dialektik des Widerstreitenden resultierende Totalität. Informations-
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kritisch reflektierte Arnim sogar die künftige Bedeutung des »Preußischen Corrrespondenten« als Geschichtsquelle. Die Problematik der permanent driikkenden Zensur definierte Arnim in dem weitesten politischen Horizont: »Völker können nicht aus der gegenseitigen Erfahrung lernen, denn sie erfahren nichts Wahres von einander.« Bei einem Autor, der das Individuelle, Subjektive und Einzelne stets mit dem >A11-LebenOben-unten-< und >Innen-Außen-Relation< des Begriffs, der bei Arnim nie in der Bedeutung von »Staatsvolk« begegnet. Vielmehr unterliegt er signifikativ einem Zeithorizont als vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Größe und kann in diesen Perspektiven die unterschiedlichsten Wertungen und Besetzungen erfahren. Es gibt die verhängnisvolle Spaltung zwischen den Gebildeten und dem tätigen Teil des Volkes, die Arnim (im Gegensatz zu Tieck, der die Volksüberlieferung den oberen Ständen nahebringen wollte) programmatisch durch ein kulturpolitisches Projekt der poetischen Missionierung des Volkes aufzuheben suchte. Die im Ästhetizismus der gebildeten Stände verlorene kräftige literarische Überlieferung soll, wie auch das Beste der modernen Literatur, dort wirksam werden, wo es tätige Resonanz findet, im »Volk«, das zu lebendig tätiger Fort- und Höherentwicklung fähig ist. Arnim polemisierte gegen die vom Leben isolierte, ästhetisch subjektive Empfindungskultur. Durch den Absolutismus und als Folge der Französischen Revolution, die durch das Ersterben der Volkskultur überhaupt erst möglich geworden sei, ist es im »Volk«, das zu einer Untertanenmasse wurde, zu einem Identitätsverlust gekommen, dem entgegengesteuert werden müsse. Nienhaus definiert die mannigfaltigen Bedeutungsdifferenzen in den zugehörigen Kontexten. In der Dimension der uralten Vergangenheit gibt es eine Dimension, wo in den Hervorbringungen des »Volkes« die »Weisheit in der Bewährung von Jahrhunderten« überlebt hat. In diesem Bereich muß jedes Volk nach Arnims Auffassung vor kulturellen Einflüssen von außen, Einflüssen des »Fremden«, bewahrt werden, damit es - im Sinne Herders - das universalhistorisch Unvergleichliche der eigenen Individualität und Identität bewahren kann. Im futuren Sinn erscheint bei Arnim »Volk« trotz der Begriffsparallele zur französischen »nation« weniger als künftiges Volk nationaler Einheit, sondern als Kulturvolk, das seine Traditionen wiederentdeckt bzw. nicht vergessen hat. Im Kontext des Überlebens des preußischen Staates und im Zusammenhang der Freiheitskriege ist unter »Volk« zumeist nicht das >deutsche VolkBürgerfamilie mit Königsoberhauptchristlich< bildet keinen Widerspruch dazu. Die Vorstellungen von Religion folgen, maurerisch beeinflußt, einem Entwicklungskonzept von >Religion in der Geschichte«, das analog zu Arnims poetologischem und wissenschaftsgeschichdichem Prozeßdenken zu sehen ist. Die »Spuren der Ordens- und Geheimgesellschaftsmotivik« im Œuvre werden erstmals aufgedeckt. Mehrere Gesellschaften spielen eine Rolle: Der Studentenorden in »Halle«; der Orden der Ritter vom heiligen Grab in »Jerusalem«, welcher mit dem Deutschen Orden, wie Arnim ihn 1807 in Königsberg ken-
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nenlernte, einiges gemein bat; ein mit Brentano früh geplanter, kunstthematisch konzipierter »Geckenorden«; und die vielseitige Freimaurermotivik; auch ein politisches Ordenskonzept Arnims zur Reform der ständischen Gesellschaft und des preußischen Staates, das im Umfeld der preußischen Reformer in Königsberg entstand, fügt sich zu dem facettenreichen Bild. Die religiösen Einflüsse, die auf Arnim durch Chateaubriand, den Kreis um Mme. de Staël und Frau von Krüdener einwirkten, und seine systematisch noch nicht untersuchte Stellung zum Christentum, zu Religiosität, Religionsentwicklung und Konfessionsfragen sowie der Zusammenhang mit maurerischen und philosophischidealistischen Denkmotiven stehen im Mittelpunkt des Schlußabschnitts, der der Interpretation der religiösen und religionskritisch-satirischen Szenentableaus von »Jerusalem« gewidmet ist. Die forciert eingesetzte Bußthematik spiegelt die Notwendigkeit zur Umkehr, zu inneren Reformen Preußens. Das heilige Grab aber ist, wie bei Novalis, zentrales Motiv, Grenzscheide zwischen physischer und spiritueller Welt, Natur und Geisterreich, Realität und Idealität. In Analogie zu der als Ordensoberer fungierenden Christusfigur in Zacharias Werners gleichfalls maurerisch geprägtem Drama »Die Söhne des Thaies« gibt in der Grabeskirche die »Stimme aus dem Grabe«, gibt Christus selbst der Ordensgemeinschaft der Ritter im europäischen antinapoleonischen Kampf Losung und Weisung. Ein Desiderat besonderer Art war seit langem eine über 1925 hinausreichende bibliographische Darstellung der Arnimforschung und -edition. Die von Johannes Barth erarbeitete Arnim-Bibliographie 1925-1995, die Otto Mallons Arnim-Bibliographie von 1925 fortsetzt (daneben gab es den Forschungsbericht Volker Hoffmanns von 1973 [in DVjs 47] mit anderer Zielsetzung) schließt eine von der Arnimforschung oft schmerzlich empfundene Lükke. Der Herausgeber ist dankbar, daß auch die Arnim-Bibliographie im ersten Band der Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft erscheinen konnte. Die Fortsetzungen werden im Fünf- oder Zehnjahresturnus ebenfalls in dieser Bandreihe vorgelegt werden. Einer der Höhepunkte der Tagung auf Schloß Wiepersdorf in den sommerlichen Julitagen 1997 war die öffentliche Nachmittagslesung von Günter de Bruyn aus seinem autobiographischen Werk mit der anschließenden Gesprächsrunde. Dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, das durch seine Zuwendung das Kolloquium in Wiepersdorf gefördert und ermöglicht hat, sind der Vorstand und Beirat der Internationalen Arnim-Gesellschaft und die Teilnehmer des Kolloquiums verpflichtet und dankbar. Zu der guten geselligen und Arbeitsatmosphäre während der Tagung in den historischen Räumen des märkischen Landschlosses mit Terrasse und Park hat die Gastlichkeit der Institution Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf viel beigetragen. Vor allem ihrer Direktorin, Frau Doris Sossenheimer, sei dafür freundlich gedankt. ULFERT RICKLEFS
Roswitha Burwick
»Der Kreis des Wissens dreht sich wandelnd um ...« Arnims kulturpolitisches Programm in den Berliner Jahren Die »Kleinen Schriften« 1809-1814
Wie die bisherigen Arbeiten zeigten, ist Arnims poetisches Werk in den literarisch produktiven Jahren 1809-1814 ein voll integrierter Teil seines kulturpolitischen Programms. Auch die publizistischen Beiträge zu den verschiedenen Zeitschriften, den »Heidelbergischen Jahrbüchern der Litteratur«, der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung«, den »Berliner Abendblättern«, dem »Preussischen Correspondenten«, oder der »Vossischen Zeitung« sind keine Ausnahme und bilden einen festen Bestandteil der komplexen Vernetzungsstrukturen des Amimschen Werkes. Ich habe bereits an anderer Stelle argumentiert, daß auch die naturwissenschaftlichen Schriften des jungen Arnim im Gesamtzusammenhang verankert sind.1 In meinem Aufsatz über »Hollin's Liebeleben« habe ich zu beweisen versucht, daß Arnim das für die Naturwissenschaften aufgestellte Paradigma der komplexen »Wechselwirkung« aller Natuiphänomene, die auch den Menschen mit einbeziehen, mit der Fusion von Naturwissenschaft, Philosophie und Poesie thematisch und narratologisch in die Dichtung transponierte.2 Eine Zusammenstellung der literarischen, politischen und kunsttheoretischen Schriften aus den Jahren 1809-1814 zeigt nun, wie dieses Paradigma erweitert und zur Grundlage seines gesamten kulturpolitischen Programms wird, das er nicht nur im Rahmen seiner vielseitigen Interessen, sondern auch in der Vielschichtigkeit seiner Beiträge konsequent verfolgt. Während seine Arbeit als Naturforscher auf die wissenschaftliche Methodologie beschränkt bleiben mußte und sein dichterisches Werk ihm die Freiheit zur poetischen Gestaltung gab, schuf ihm seine journalistische Tätigkeit ein öffentliches Forum zur Kommentierung der Zeitereignisse und Implementierung dieser Theorien. Wie die hier ausgewählten Texte aus den Jahren 1809-1814 zeigen, zeichnet sich Arnims Verlagerung vom Uterarischen zum kulturellen und politischen Interessenbereich gut ab. Sein Selbstverständnis als Dichter und die in der Intertextualität seiner Werke verarbeitete poetische Darstellung der in den Naturwissenschaften entdeckten Wech1
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Roswitha Burwick: Achim von Arnim. Physiker und Poet. In: Literaturwiss. Jahrbuch im Auftrage der Görres-Ges. 1985, S. 123-127. - Dies.: Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin 1989, S. 39ff. - Dies.: Arnims Erzählungen von Schauspielen. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hrsg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin 1994, S. 68-70. - Dies.: »Sein Leben ist groß weil es ein Ganzes war«. Arnims Erstlingsroman Hollin's Liebeleben als »Übergangsversuch« von der Wissenschaft zur Dichtung. In: »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Hrsg. Walther Ch. Zimmerli, Klaus Stein und Michael Gerten. (Natur und Philosophie 12). Stuttgart, Bad Cannstatt 1997, S. 51ff. Zimmerli 1997, vgl. Anm. 1, S. 49-89.
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selwirkungen aller Phänomene, die er später in der Diskussion über Natur- und Kunstpoesie mit den Brüdern Grimm theoretisierte, wird in der Auseinandersetzung mit Voss über die Bearbeitung alter Texte in der »Zeitung für Einsiedler« und dem »Wunderhom« zum ersten Mal öffentlich verteidigt.3 Die Rezensionen, oft Repliken auf bereits publizierte kritische Beurteilungen, thematisieren »Kritik« und definieren die Rolle des Kritikers. Für den Redakteur des »Preussischen Correspondenten« stehen im Jahre der Befreiungskriege nationale, soziale, militärische und juristische Reformen zur Debatte. Die Wiederaufnahme seines Saussure Projekts aus dem Jahre 1800 (»Zueignung an Ritter«, 1809) ist nicht allein Rückschau, sondern bewußtes Zurückgreifen in die Vergangenheit, um die Verbindung herzustellen mit Arnim, dem Naturforscher, dem Dichter und dem Publizisten, der seine Theorien nun in vielschichtigen Strukturengefügen erweitert. Da sich einige Beiträge bereits mit Arnims Verhältnis zu Kleist und den »Berliner Abendblättern«, dem Konvolut der Tischgesellschaft, und seiner Herausgebertätigkeit des »Preussischen Correspondenten« beschäftigen, sollen hier die in den nicht besprochenen Journalen publizierten Texte in Auswahl herangezogen werden. Während sich Arnims naturwissenschaftliche Publikationen nicht zuletzt unter dem Einfluß Gilberts auf empirisch gewonnene Forschungsergebnisse stützen, zeigen seine zahlreichen handschriftlichen Aufzeichnungen sein Bemühen, über die reine Experimentalphysik und -chemie hinauszugehen und die Gesetze der inneren Zusammenhänge, das komplexe »Wechselwirken« der allen Erscheinungen zugrundeliegenden Prozesse zu ergründen.4 So zeigen ζ. B. Fragmente wie »Philosophischer Standpunkt auf dem Brocken«,5 »Verhältniß der chemischen 3
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An Hn. Hofrat Voß in Heidelberg. In: Achim von Arnim: Schriften. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt am Main 1992. (Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. Von Roswitha Burwick u. a., Bd. 6), S. 258-261; 264-266. Seitenzahlen in runden Klammern im Text verweisen auf diese Ausgabe. Michael Gerten: »Alles im Einzelnen ist gut, alles verbunden ist groß«. Ort und Methode der Naturforschung bei Achim von Arnim. In: Zimmerli 1997, vgl. Anm. 1, S. 91142. - Klaus Stein: »Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt«. Philosophie der Chemie: Arnim, Schelling, Ritter. Ebd. S. 143-202. - Dieser Band enthält (unter den seinerzeit gültigen Siglen, ediert von Klaus Stein und Michael Gerten) im Anhang unveröffentlichte Texte und Fragmente aus dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar. Die Texte werden jetzt von mir auch zur Veröffentlichung in der historisch-kritischen Weimarer Arnim-Ausgabe vorbereitet: Ludwig Achim von Arnim: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs, Christof Wingertszahn. Tübingen 2000ff. Im folgenden zitiert als WAA (bes. der 2000 erscheinende Band 30: Briefe 1788-1801. Hrsg. von Heinz Hart). Da die Herausgeber in jenem Band die oft fragmentarischen und schwer lesbaren Handschriften z. T. recht frei zu einer Lesefassung rekonstruieren und meine Transkriptionen für die WAA deshalb häufig abweichen, werde ich aus den von mir konstituierten Textfassungen zitieren. Verweise auf die Handschriften erfolgen unter der Sigei GSA 03/ (Arnim-Nachlaß im Goethe- und Schiller-Archiv), wobei sowohl die neue wie auch alte Numerierung angeführt wird. Vgl. Findbuch und Konkordanz der im GSA befindlichen Handschriften. Dem Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, Stiftung Weimarer Klassik, Herrn Dr. Jochen Golz, wird für die Erlaubnis gedankt, auszugsweise aus den Handschriften zu zitieren. GSA 03/401 (221,6).
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Ausbildung zur poetischen«6 oder das Konzept »Der Naturforscher, in die Mitte des großen Ganzen frey strebender Thätigkeiten gestellt«7 Arnims Versuch, als Naturforscher diese Gesetze der Natur nicht als Analogie auf Poesie und Wissenschaft zu übertragen, sondern alle Bereiche in einer kunstvollen Vernetzung von Strukturen mit einander zu verknüpfen, um das Zusammenwirken von Wissenschaft, Poesie und Philosophie darzustellen. In seinem »Übergangsversuch« »Hollin's Liebeleben« gestaltete Arnim poetisch dieses Wechselwirken aller Elemente, indem er in die letztlich rational nicht erklärbaren Strukturen aller naturwissenschaftlichen Phänomene auch Philosophie und Poesie mit einbezog. In der kunstvollen Verknüpfung von Thematik, symbolischer und metaphorischer Vielschichtigkeit und narratologischer Technik zeigte er die Interaktion und Subversion von Kräften, die scheinbar willkürlichen Gesetzen folgen, jedoch in einem komplexen Verhältnis miteinander reagieren und alle Beziehungen vom Individuimi zur Familie oder Gemeinschaft, weiter zur Nation, zu den Völkern der Erde und dem Universum schlechthin reflektieren. Der Wirkungskreis des in seiner Individualität beschränkten Einzelnen wird nur dadurch erweitert, daß er als bewußt und unbewußt wirkendes Agens in einem unüberschaubaren Kräftespiel des Ganzen integriert ist, dessen Wechselspiel von unendlichen Kombinationen und Konstellationen ihm unverständlich bleiben muß, da er nur aus seinem jeweiligen historischen Standpunkt und seinem individuellen, d. h., begrenzten Wissenskreis subjektiv zu urteilen vermag. Obwohl die Gesetze von Ursachen und Wirkungen bis zu einem bestimmten Grade in wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen empirisch zu berechnen sind, können sie nie als universale »Wahrheiten« gelten, da alle Voraussetzungen zu den Versuchen einer ständigen Mutabilität unterworfen sind und nur das, was tatsächlich beobachtet werden kann, in der Naturwissenschaft gelten darf. Dieses Bewußtsein der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens findet sich auch an mehreren Stellen der publizierten Aufsätze, so zum Beispiel in »Ideen zu einer Theorie des Magneten« Ich versuchte, ob durch Ablöschen der einen angebrannten Seite des Magneten im Wasser der Magnetismus der kleinen Nadeln nicht verändert würde: ich konnte es aber nicht bemerken, ungeachtet es doch wohl möglich war, daß es statt fand; (40f.)
Absolute »Wahrheit« oder »Wissen« sind demnach nie zu erreichen, sie werden vielmehr zu momentanen Durchgangsstufen in einem fortwährenden Prozess. Der Begriff »Bildung« dagegen, der organisches Wachsen, ein Sich-Aus-Bilden, oder »den bildenden Trieb« mitsignalisiert, wird zum übergreifenden Begriff der körperlichen und geistigen Entwicklung des Einzelnen und des Ganzen. Aus dieser Dynamik des Vorwärtsdrängens ist auch Arnims Geschichtsverständnis zu verstehen, ein »gewaltiges tätiges Drängen in der Zeit«, (»Über gelehrte Gesellschaften«, 238) das sich nicht in einzelnen Fakten, Daten und »Ansichten« erschöpft, sondern aus dem dynamischen Zusammenwirken aller Kräfte und ihrer Erscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart erklärt werden muß. In diesem scheinbar unüberschaubaren Stnikturengefiige von Weltgeschichte, nationaler Geschichte und Leben des Einzelnen gibt es Schnittpunkte, wo sich die agieren6 7
GSA 03/312 (209,8). GSA 03/307 (209,3).
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den und richtungsweisenden Kräfte als »Ahndung« dem Menschen offenbaren. Im Moment der Fusion von Individualität, persönlicher Erfahrung und bewußtem Wollen mit der gemeinsamen Erfahrung eines kollektiven Ganzen und dem unbewußten Handeln erwachsen Sprache und Bilder, die zur sinnlichen Darstellung drängen und je nach Talent des Einzelnen zur Ausführung gelangen. Wie diese Fusionspunkte oder »Fermentationsprozesse« wiederum abhängen von dynamisch wirkenden Prinzipien, artikuliert Arnim in einem im Konzept erhaltenen Brief an Stephan August Winkelmann, als ihm durch Zufall dessen 1803 erschienene »Einleitung in die dynamische Physiologie«8 in die Hände fiel: Das Princip aller Bildung heißt in meinem System Ahndung, die Metamorphose wäre ohne dieses Princip nicht vorhanden, eben so wenig ihr Gesetz die Combination, ohne diese Ahndung hätten wir weiter nichts gewiß als was uns Kant's metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft geben, aus welchem Standpunkte ich mich durch mein erstes Buch die Theorie der elektrischen Erscheinungen zu befreien suchte, weil mich diese Tiefe ohne Grund, diese unendliche Nichtigkeit schreckte. Ich kann es nicht begreifen, daß Kant gedichtet, wie seine Bekannten versichern, wie hat er je auf einen Reim hoffen können?9
Aus diesen Prinzipien wächst Arnims Theorie einer Ästhetik, die er dann 1812 in dem Blatt an Jakob Grimm mit dem Titel »Theoretische Untersuchungen« auf den geistigen Schaffensprozeß schlechthin transponierte. Meine Theorie poetischer Erfindungen, die ich Euch letztlich aufstellte, wie die Phantasie nur dann wahr sei, wenn sie täuschend sich selbst täuscht, wie der Verstand nur dann Überzeugung fühlt, wenn er von der Wahrheit, die er sucht, selbst wahr gemacht wird. (401)
Eine Zusammenstellung von wissenschaftlichen, poetischen und journalistischen Texten zeigt, wie Arnim die in den handschriftlichen Aufzeichnungen über naturwissenschaftliche Phänomene bereits fragmentarisch ausgearbeiteten Konzepte von den Gesetzen der Bewegung, Attraktion, Repulsion, »freyer Repulsivkraft«, »Wechselwirkung«, »Ahndung«, »Bildung«, »Erfahrung«, »Geschichte« und »Poesie«, im »Hollin« zum erstenmal poetisiert, in den Zeitschriften der Berliner Jahre dann aktualisiert im Diskurs um nationale Bildung, staatliche und private Institutionen, das Erbe eines absolutistischen Staates und die Zukunft einer liberalen Regierungsform. In die im »Hollin« problematisierte Aufsplitterung von Wissenschaft, Kunst und Philosophie, bezieht er nun auch Politik, Wirtschaft, Justiz und Heereswesen mit ein und transponiert damit das Paradigma der Fragmentation der Wissenschaften auf die menschliche Gesellschaft und den Staat schlechthin. Wie in den naturwissenschaftlichen Aufsätzen erinnert Arnim daran, daß den Einzeluntersuchungen, der Systematisierung und Kodifizierung aller Forschungsergebnisse die Synthese folgen muß, die alles wieder in den Gesamtzusammenhang bringt. Wissenschaft, Kunst und Politik als »freye Geistesthätigkeiten« verstanden, bauen auf, »drängen vorwärts«, dienen der Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, die auch im Fortschritt der Gesellschaft und ihrer Staatsformen reflektiert ist. Systeme dürfen nicht zu »entgültigen Wahrheiten« 8
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Stephan August Winkelmann: Einleitung in die dynamische Physiologie. Göttingen 1803. GSA 03/246a (223,3).
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ideologisiert, sondern müssen von den nachfolgenden Generationen als dynamische historische Prozesse verstanden und weitergedacht werden. Institutionalisierte Wissenschaft, Kunst oder Politik werden sonst utilitarisch und auf den »status quo« ausgerichtet; auf Macht bedacht führen sie zu Despotismus, staatlicher Kontrolle der Meinungsäußerung durch Zensur, politischer Unterdrückung, Mitläufertum und Kadavergehorsam. Arnims publizistische Tätigkeit ist demnach aus dem Bestreben zu verstehen, öffentlich zu wirken und sein kulturpolitisches Programm der Zusammenfuhrung und Integrierung aller Teilbereiche tatkräftig von der Theorie und Poesie in die Praxis umzusetzen. Unter den Kleinen Schriften aus den Berliner Jahren finden sich Texte über den Physiker Johann Wilhelm Ritter, die, zum Teil bereits 1800 entstanden und 1809 und 1810 fortgesetzt, die Brücke zu den naturwissenschaftlichen Arbeiten des jungen Arnim bilden. Aus Briefen und Aufzeichnungen geht hervor, daß sich Arnim, der 1807 noch einmal einen Aufsatz über Haarröhrchen in Gilberts »Annalen der Physik« publiziert hatte,10 um 1809 auf Bitten seiner Freunde entschlossen hatte, eine Sammlung ausgewählter naturwissenschaftlicher Aufsätze zu veröffentlichen und sie Ritter zu widmen. Am 2. März 1809 berichtete er in einem Brief an Bettina, daß er zuhause »einige Tage [...] in weitläuftiger Arbeit« damit zugebracht, was sich an Papieren und Büchern seit seiner Kindheit angehäuft habe, zu ordnen und zu vernichten, und manche Bücher, die ihn nicht mehr interessierten, gegen altdeutsche auszutauschen.11 Bei dieser Arbeit muß ihm sein Saussure Projekt wieder in die Hände gefallen sein, dessen Veröffentlichimg er unter dem Titel »Sammlungen zur Meteorologie« in Gilberts »Annalen der Physik«12 1800 und in Scherers »Allgemeines Journal der Chemie«13 angezeigt hatte. Damals plante Arnim eine Übersetzung der 1796 erschienenen Bände 5-8 der »Voyages dans les Alpes«, wobei er den »physikalischen Theil der Reisebeobachtungen« übernehmen wollte. Der bekannte Geologe und Paläontologe Leopold von Buch (1774-1853) wollte den mineralogischen Teil bearbeiten. Der von Arnim übernommene Teil sollte mehr als 23 Bogen umfassen und des Absatzes wegen unter drei Titeln er10
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Eine Berichtigung, die Haarröhrchen betreffend. Von L. A. von Arnim. In: Annalen der Physik. Hrsg. von Ludwig Wilhelm Gilbert. Bd. XXVI, 4 (1807), S. 47ÇM80. Im folgenden zitiert als Annalen mit Bandnummmer, Heft, Jahrgang und Seite. Dieser Aufsatz ist eine Replik auf einen in den Annalen XIV, 4 (1803), S. 425-432 erschienenen Aufsatz von G. G. Hällström: Ob das Wasser in längern Haarröhrchen höher als in kürzern ansteigt. Reinhold Steig: Achim von Arnim und Bettina Brentano. ( = Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Bd.2). Stuttgart, Berlin 1913, S. 259. Anzeige einer Uebersetzung der vier letzten Theile der »Voyages dans les Alpes par Saussure«: »Eine Zusammenstellung aller meteorologischen Beobachtungen aus den vier letzten, noch unübersetzten Bänden der Voyages dans les Alpes par Saussure, wird der erste Band der Sammlungen zur Meteorologie von L. A. v. Arnim enthalten; eine Übersetzung des übrigen mineralogischen Theils dieser Reisebemerkungen erscheint, von einem bekannten Mineralogen bearbeitet, als ein besonderes Werk«. Hinterer (letzter) Schutzumschlag der Annalen VI,1 (1800). Allgemeines Journal der Chemie. Zweyten Jahrganges zwölftes Heft. Junius 1800, Β. IV, Η. 24, S. 659-668.
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scheinen: »Sammlungen zur Meteorologie«, herausgegeben von Arnim, erster Band; »Saussure's neue Reisen durch die Alpen«, übersetzt von Arnim und Buch, zweiter Band; »Saussure's physikalische Reisebeobachtungen«, übersetzt mit Anmerkungen und Zusätzen von A. als dritter Band. In der Anzeige in Scherers Journal heißt es: Hier haben Sie kurz meinen Plan bey diesen Sammlungen, meine Idee, welche ich mit Mineralogie verbinde etc. So wie die Physik jede vereinzelte Erscheinung als nie getrennt betrachtete Wirkung des Ganzen zu rechtfertigen sucht, so sucht die Meteorologie das Ganze der Erscheinung in einzelne Momente zu zerlegen, und nur dadurch wird sie begreiflich. 14
Scherer, den Arnim bei der Suche nach einem Verleger um Hilfe gebeten hatte, teilte ihm am 25. November 1800 mit: »Noch habe ich keinen Verleger zu Ihrem Saussure, aber ich verzweifle keineswegs«.15 Nachdem sich Gilbert16 bereit erklärt hatte, die Arbeit in Teilen in seinen »Annalen« zu veröffentlichen, sagte auch der mit Arnim befreundete Göttinger Verleger Heinrich Dieterich am 30. November 1800 zu, das Werk zu drucken. Am 13. Dezember 1800 veröffentlichte Dieterich unter der Rubrik »Ankündigung neuer Bücher« im Intelligenzblatt der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« folgende Anzeige:17 In meinem Verlage erscheint zur Oster-Messe eine Übersetzung der vier letzten Theile der: Voyages dans les Alpes par Saussure etc. Der erste Theil mit Anmerkungen und Zusätzen von H.L.A. von Arnim, wird eine Zusammenstellung aller physikalischen Reisebeobachtungen und Saussure's Leben nach dem so eben erschienenen merkwürdigen Mémoires sur la Vie de Saussure, bearbeitet, enthalten. Göttingen, im Nov. 1800. Heinrich Dieterich. 18
Eine Publikation dieses für Arnim so wichtigen Projekts wurde 1811 in der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« noch einmal in dem Beitrag »Antikritik. Jedem das Seine«. (398-400) angekündigt, in dem Arnim gegen Johann Friedrich Benzenberg Stellung nahm, der in einer anonymen Rezension Arnims These über Fallräume19 angegriffen hatte. In seiner Replik bekennt sich Arnim zu mehrerern Fehlern in den früheren wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die nur durch den Gebrauch ungenauer Instrumente oder durch falsche Schlüsse seiner Beobachtungen entstanden waren, und eigentlich genau das bestätigten, was er bereits 1800 im ersten Teil seiner »Ideen« angedeutet und 1801 am Beispiel der Fallhöhen noch einmal definiert hatte (59). In der vom Rezensenten angeführten Stelle hatte Arnim auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die entstehen, wenn Phänomene durch Erfahrung und Beobachtung 14 15
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Ebd.: S. 666. Hermann F. Weiss: Unbekannte Briefe von und an Achim von Arnim aus der Sammlung Varnhagen und anderen Beständen. Berlin: 1986, S. 26. Gilbert hatte im Auftrag Arnims mit dem Hallenser Buchhändler Jakob Heinrich Schiff vom 10. bis 13.8.1800 über das Projekt verhandelt und Gebauer als Verleger vorgeschlagen, der bereits Arnims »Theorie der elektrischen Erscheinungen« veröffentlicht hatte. Künftig in WAA Bd. 30. Weiss 1986, vgl. Anm. 15, S. 26f., Fußnote 9. Jean Senebier: Mémoire historique sur la vie et les écrits de Horace Bénédict Desaussure, pour servir d'introduction à la lecture de ses ouvrages. Genève 1800. Arnim besaß ein Exemplar, vgl. Arnim-Bibliothek, Sign. Β 2320. Ideen zu einer Theorie des Magneten, Annalen VIII (1801), 84-108.
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zwar nicht mehr empirisch zu beweisen, aber als Prozesse angenommen werden können. Gilbert, der auf empirische Beweisführung bestand, hatte Arnim gegenüber seine Bedenken über diese »Ideen«, bereits ausgeprochen und aus diesem Grunde dem Beitrag in den »Annalen« eine Fußnote beigefügt. 20 Nun sah sich Arnim gezwungen, noch zwölf Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes den Vorwurf des Rezensenten zurückzuweisen, der in dem Beitrag »die Objektivität der mystischen Schule klar und rein dargestellt« zu sehen glaubte. 21 Arnim betont in seiner »Antikritik«, daß trotz fehlerhafter Forschungsergebnisse seine »Ideen« Gilbert damals zur eigenen Untersuchung gereizt hätten und er sich vor zwölf Jahren gerade von ihm das Zeugnis verdient habe, ihn durch seinen »Eifer im Übersetzen und Zusammentragen im Anfange der Annalen« unterstützt zu haben. Wie die Korrespondenz zwischen Arnim und Gilbert zeigt, hatte Benzenberg mit seinem Vorwurf des Mystizismus Arnim getroffen. Der Briefwechsel von Mitte 1800 bis zum Ende der Studienzeit 1801 gibt Aufschlug über die zunehmende Spannung zwischen Arnim und seinem früheren Lehrer und Herausgeber der »Annalen« über seine »Neigimg«, die einzelne wissenschaftliche Analyse wieder synthetisch verbinden zu wollen, d. h., Gesamtzusammenhänge zu schaffen und Ideen oder Ideenverbindungen der reinen Empirik vorzuziehen, so daß demnach manche seiner Arbeiten mehr »Geschloßenes und Vorherbestimmtes, als Gesehenes und durch den Versuch erreichtes« 22 enthielten. Gerade der Aufsatz über den Magnetismus hatte damals Gilbert zu einer kritischen Bemerkung veranlaßt: Mit Recht nennen Sie Ihren Aufsatz eine Ideensammlung; und als solche habe ich nichts dagegen einzuwenden. Freylich möchte ich nicht alle diese Ideen unterschreiben, und wünsche sie einzeln mehr ausgebildet und geprüft, als in solcher Zahl aneinander gereiht und aufgehäuft zu sehen. 23
Obwohl Gilbert Arnim anbot, den Saussure in Teilen in den »Annalen« zu veröffentlichen und Arnim ihm bereits seinen Aufsatz »Beitrag zur Berichtigung des Streits über die ersten Gründe der Hygrologie und Hygrometrie« zugeschickt hatte, 24 kann man heute annehmen, daß es weniger der Wunsch war, das Ganze geschlossen zu drucken als weitere Meinungsverschiedenheiten über die Methodologien der experimentellen Naturwissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts zu vermeiden. Wie aus den handschriftlichen Aufzeichnungen zu schließen ist, sollte sich gerade das Projekt über die Meteorologie mit diesen immer dringlicher werdenden Fragen beschäftigen und Arnims eigene Theorie eines Systems liefern, das die Unzulänglichkeit sowohl der Empirik als auch der Spekulation thematisierte, wie sie in der reinen Mathematik oder Schellings Philosophie des transzendentalen Idealismus vertreten wurde. 25 20 21 22 23 24 25
APh VIII (1801), S. 87-90. Jenaer Allgemeine Literatur Zeitung, Nr. 116, Sp. 68. Gilbert an Arnim, 13.7.1801. WAA 30. Gilbert an Arnim, 7.1.1801. WAA 30. Gedruckt in Annalen IV, 3 (1800), S. 308-329. Arnim setzte sich immer wieder mit den drei frühen Werken von Friedrich Wilhelm Schelling auseinander, den »Ideen zu einer Philosophie der Natur«, 1797, »Von der Weltseele«, 1798, und dem »System des transzendentalen Idealismus«, 1800.
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Seine »Studien« sollten Johann Wilhelm Ritter »als ein kleines Freundschaftszeichen« gewidmet werden, da manche ihrer Untersuchungen »unerwartet schon zusammentrafen« und ihm Ritters Urteil wichtig war. 26 Noch auf seiner Bildungsreise hatte Arnim Material in Paris und London für sein Projekt zusammengetragen,27 das, obwohl mehrmals angekündigt, vermutlich weder 1800 noch 1811 im Druck erschien. Man könnte hier spekulieren und den »Übergangsversuch« »Hollin's Liebeleben« als poetische Ausarbeitung der als Metawissenschaft konzipierten meteorologischen Studien sehen, eine Hypothese, die durch die beigefügte Saussurebiographie noch unterstützt werden könnte. Unter den umfangreichen handschriftlichen Aufzeichnungen über Meteorologie konnte ich fragmentarische Konzepte zur Gesamtanlage des Projekts· methodologische Überlegungen, Vorarbeiten28 und mehrere Übersetzungsfragmente aus dem 7. Band von Saussures (1740-1799) »Voyages dans les Alpes« identifizieren.29 Meine weitere Arbeit an den naturwissenschaftlichen Schriften wird es mir ermöglichen, Umfang und Inhalt dieses Projekts näher zu bestimmen und die genauere Verbindung von Wissenschaft, Philosophie und Poesie zu skizzieren. Mit seinem Saussure Projekt stand Arnim in der Reihe der Naturforscher Le Roy, Saussure, Deluc30 - , die im Kontext der chemischen Untersuchung des Wassers sich auch die Frage nach seiner Bedeutung für athmosphärische Veränderungen stellten. Die Arbeiten von Oerstedt, Humboldt, Le Monnier, Beccaria, Volta und Saussure hatten am Ende des 18. Jahrhunderts dazu geführt, die reduktionistisch orientierte Theorie einer »Histoire naturelle« der Buffonschen Schule, die spezialisierte Teilwissenschaften entwickelte und von ihrem Kontext abstrahierte Phänomene untersuchte, in eine Wissenschaft überzuführen, die alle Erscheinungen als Teil eines komplexen Gesamtprozesses der Natur verstand und die Ergebnisse von Einzeluntersuchungen in Mathematik, Chemie und Physik der Lehre von der ganzen Erde einordnete. In diese Bemühungen, anstelle einer beschreibenden und klassifizierenden, eine genetische Erdgeschichte zu schreiben, fällt die Arbeit an der Meteorologie als Wissenschaft, da hier die vielen ineinandergreifenden Einzelprozesse nicht nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, sondern in ihrer Wechselwirkung innerhalb des Gesamtprozesses der Atmosphäre und deren Auswirkungen auf die Erde in einem System von komplexen chemisch-physikalischen Prozessen dargestellt werden konnten.31 Ohne auf eine ausführliche Beschreibung der wis26 27
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GSA 03/414 (221,20). Zueignung an Ritter, S. 289. Vgl. auch Arnims Brief an Scherer aus Göttingen vom 20.5.1800. In: Allgemeines Journal der Chemie, vgl. Anm. 13, S. 659-668, wo er von seinen Pariser und Londoner Beobachtungen spricht. Arnims Rezension zu Steffens »Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde«; eine Abhandlung zu Schelling und eine Art Geschichte der Physik und Chemie waren geplant. GSA 03/415 (221,21). GSA 03/317 (208,10). Voyages dans les Alpes, vgl. Anm. 12, Tome VII, S. 393-420. Manfred Durner: Theorien der Chemie. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797-1800. Ergänzungsband zu Werke 5 bis 9 der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe. Stuttgart 1994, S. 146f. Ebd., S. 144ff. - Francesco Moiso: Theorien der Elektrizität, ebd., S. 261ff.
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senschaftlichen Fragen weiter einzugehen, sollen hier die Grundkonzepte herausgestellt werden, die Arnim in seinen Werken und Schriften weiterentwikkelte. Die auf 1809 zu datierende »Zueignung an J. W. Ritter« zeigt, daß Arnim mit der Wiederaufnahme des vermutlich nicht publizierten Saussure Projekts von 1800 nicht nur dem Rat einiger wohlwollender Freunde folgte, sondern mit einem für ihn zentralen Werk noch einmal Bilanz zu ziehen versuchte. Mein Unternehmen ist eins von denen, die ihren Lohn großentheils schon in sich selbst fanden. Es diente ein Bedürfniß in etwas zu befriedigen, das lebhaft genug mich ansprach, um es auch in andern mit Zuversicht zu erwarten. 32
Den durch quantitative Messungen im Labor erhaltenen fragmentierten und katalogisierbaren Forschungsergebnissen der »Kompendiumsprofessoren«, die die elektrischen und chemischen Phänomene als modifizierte Einzelerscheinungen eines mechanischen Grundprinzips verstanden, setzte er seine These vom Denken als »verschiedne Vorstellbarkeit« entgegen. Wie aus der bereits angeführten Stelle aus dem Aufsatz über den Magneten ersichtlich wird, geht es Arnim darum, die nicht mehr wieg- und meßbaren Erscheinungen zu ergründen, die wohl nicht mehr physiologisch, aber geistig nachvollziehbar sind. Indem er das menschliche Denkvermögen wie die physiologischen und psychologischen Vorgänge mit integriert in das Wechselspiel aller Kräfte, kann die Meteorologie zu einer Art Metawissenschaft werden, die weit über die naturwissenschaftlichen Grenzen greift und nicht nur Chemie, Physik und Mathematik verbindet, sondern auch Philosophie und Kunst mit einschließt und damit paradigmatisch für das Wechselwirken aller Kräfte steht, deren Gesetze weder durch empirische Forschungsarbeit noch durch Hypothesen erstellt werden können, sondern in einem Strukturengefüge von unendlichen Kombinationsmöglichkeiten vernetzt sind Imponderabili tat, Fluidität und Mutabilität verhindern bestimmte rationale und spekulative Vorausberechnungen von Ergebnissen und führen notwendigerweise zu einer neuen Definition des Denkprozesses und Wissens, das Arnim auch etymologisch mit Weisheit und Weissagung verbindet. In unserem Volke ist also, wie vorher schon angedeutet worden, alle Weissagung und aller Glaube [...] zur Wissenschaft und Kunst übergegangen, ein jeder Deutsche möchte lernen und erfinden, die Politik ist allen eine lästige Störung, [...]. 33
Unter den handschriftlichen Aufzeichnungen des GSA soll hier das Fragment »Philosophischer Standpunkt auf dem Brocken« 34 mit herangezogen werden, da es den in der »Zueignung« angeführten Begriff von »Denken« als »Vorstellbarkeit des Verschiedenen« und dazu »Wissen« als »Verschiedene Vorstellbarkeit des Verschiedenen« 35 genauer definiert. »Das höchste Princip wodurch erst philosophiren überhaupt möglich ist[,]« ist die »verschiedene Vorstellbarkeit des Verschiedenen^]« die »Möglichkeit!,] verschiedene Vorstellungen zu 32 33 34 35
GSA 03/423 (223,1 u. 2). Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 314. Philosophischer Standpunkt auf dem Brocken, GSA 03/401(221,6). GSA 03/401 (221,6).
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haben[,]« oder sie »wechseln zu können«.36 In der Verbindung von apriorischen Voraussetzungen und sinnlicher oder apparativ vermittelter Erfahrung entsteht die Art der Naturerfahrung, in der Erscheinungen für die inneren Prozesse stehen, deren letzte Gesetze in ihren unendlichen Kombinationsmöglichkeiten nur vorgestellt, d. h. gedacht, aber nie in festen Regeln als endgültige Wahrheiten aufgestellt werden können. In diesen stets wechselnden Konfigurationen findet sich der Naturforscher ohne festen Standpunkt und ist gezwungen, gerade in der Vielfalt und scheinbaren Gesetzlosigkeit Einheit und Strukturengefuge zu sehen. Ich fordre kühn die Physiker mit dem was wir bisher wissen, heraus, die Einheit[,] das Regelmäßige der Bewegungen des Sternenhimmels mir zu zeigen, den Regen wie die Sonnenfinsternisse vorherzusagen, und doch kann regellos auch hier die Natur [üdZ Zufall] nicht walten, wir müssen einst auch hier die Regeln bezweifeln lernen. Das wäre dann echt praktisch, ganz in dem Sinn des großen Rufs der jezigen Zeit, denn wie viel echt praktischer Zeitvertreib stört nicht der Witterung Unbeständigkeit [arR: veränderliche üble Laune, unvorhergesehene Änderung],(Doch praktischer wärs noch, sie zu ändern.) Daß einige für unmöglich dies so wie manches andre glauben ist dem Meteorologen kein Hinderniß[,] denn gegen Dogmatismus aus Anmaßung braucht er des Scepticismus Waffen und doch geht er mit jenem [?] zu einem Ziele[,] doch mit dem Unterschiede, daß er zu der Überzeugung bedarf, daher verschiedne Vorstellbarkeit ein und desselben die auszeichnende Bedingung seiner Studien ist. Die Meteorologie endet wo das Dogmatische (der transzendentale Idealismus gehört auch darunter) System anfängt [...]."
So liegt in allen Versuchen »ein tieferer Sinn«, der einzelne Versuch kann nie zum Repräsentanten des Ganzen werden, sein Daseyn und Wirken ist nicht allein für den vorhanden, der ihn beobachtet, und Gesetzen unterordnet, er hat ein Daseyn[,] ein bestimmtes Wirken für das Daseyn, das Wirken und die Fortschreitung der ganzen Natur, er ist wie die großen Erdrevoluzionen, [üdZ welche wir sorg faltig nach Jahr und Tag aufzeichnen] nach unten dem Geologen, nach oben dem Meteorologen eine Quelle von Verändrungen, die nie versiegen kann. 38
Arnim argumentiert weiter, daß Naturwissenschaft nicht in der Kenntnis der einzelnen deduzierten Gesetze und der Dokumentation der mechanischen Abfolge gewisser Naturphänomene besteht, denn »Begreifen ist ein Begrenzen«,39 sondern nur in der steten Fortbildung des gewonnenen Wissens vorangetrieben wird. In diesem Prozeß der organischen Weiterbildung wird der Naturforscher zum Glied in einer Kette, das seine Funktion und sein Ziel nicht isoliert aus dem gegebenen Standort, sondern nur aus der Verbindung von Herkunft und Zukunft verstehen kann. Diese kühne Fordrung meiner Freyheit, alle Verändrungen am Himmel, allen Wechsel auf der Erde aus einem bestimmten Erfahrungspunkte in Gegenwart und Zukunft zu entwickeln, den Regen wie Sonnenfinsternisse, das Bilden der Gebirge wie die Wiederkehr der Comete[,] ist, ich gestehe es, wie jede astronomische Aufgabe durchaus eine
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GSA GSA GSA GSA
03/401 03/423 03/423 03/415
(221,6). (223,1 und 2). (223,1 und 2). (221,21).
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Programm in den Berliner
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endliche Auflösung einer unendligen Aufgabe, aber eben indem in jeder Auflösung wieder die Quelle weiterer Auflösungen [...]. 40
Versuche müssen aus verschiedenen Perspektiven gemacht und verschieden ausgewertet werden. So nähert sich mit jedem Schritte die Theorie der ganzen Erfahrungswelt' frey bewegen wir uns systemlos durch Systeme, wir sehen worauf der Weg uns fiihrt[,] befragen die Erfahrung um die Folgen, sehn wir im Falschen enden, was uns Wahrheit schien, worauf sie uns geführt, das ist doch wahr, [üdZ die Theorie vergeht doch[,] fest ist das gefundene Gesetz] der Kreis des Wissens dreht sich wandelnd um und jeder Schritt zeigt uns die Welt von andern Seiten. Was hier gesucht wird ist nicht innere noch äußere Naturgeschichte [üdZ Steffens] es ist die Geschichte der Natur. 41
Dieser Begriff der »freyen Geistesthätigkeit«, sich systemlos durch Systeme zu bewegen, wiederholt sich in den einzelnen Varianten der Konzepte zur »Zueignung«. Daß die Idee des »systemlos sich durch Systeme frey Bewegens« eine zentrale Stelle einnimmt, zeigt die Tatsache, daß sie sich in allen Konzepten von 1800 und 1809 fast wörtlich wiederholt. Dies Bedürfniß die Erfahrung durch kein System erschöpft zu sehen und folglich doch Systeme zu errichten und daher ist kein andres systemlos durch Systeme frey sich zu bewegen und all und jedes hinein zu zwingen und in ein andres umzuformen, und das worauf es fiihrt daraus zu folgern und die Erfahrung das einzige Allgemein Notwendige [...] und so den Kreis des Wissens stets verwandelt, erweitert und doch nie ganz beendet zu sehn 42
Noch 1809 betont Arnim, Um das Verhältniß zu der Zeit, wo diese Abhandlungen geschrieben sind, nicht zu verwischen, das immer noch historisch bedeutend bleibt, wenn auch alles übrige in erhöhter Thätigkeit der Gedanken aufgenommen und vernichtet ist, habe ich nichts aus späterer Ansicht hinzugefügt [...]. 43
Durch die Verbindung mit Philosophie und Geschichte versteht Arnim Meteorologie nicht in ihrer »engen Bedeutung«, sondern im weitesten Sinne, »über den jezigen Sprachgebrauch« hinaus. Mit Vorbehalt des eignen Urtheils sagt der Geschichtsschreiber der Wissenschaft den fremden Glauben, das Eigne sagt der Meteorolog, doch ohne es zu glauben. Die hypothetische Methode setzt das Unbewiesene voraus, das Wahre daraus zu folgern, die meteorologische kennt keinen solchen Unterschied in der Gewißheit, doch wenn man ihren Weg in jener Sprache ausdrücken wollte, sie geht vom Gewissen aus und folgert daraus das Unbewiesene. So wie der Physiker das Einzelne aus dem Allgemeinen und das Allgemeine aus dem Einzelnen mit gleichem Rechte ableitet, (jenes in der angewandten Kraftlehre dieses in der Experimentalphysik.) so auch der Meteorolog, doch braucht er nicht das Allgemeine durch ein absolut Allgemeinstes begründet^] noch das Einzelne in dem notwendigen Umfange zu kennen, um jeden Zweifel abzuschlagen 44
Da »Wahrheit« nicht absolut, sondern durch das nicht vorauszubestimmende Wechselwirken aller Kräfte und Bewegungen vielschichtig wird, kann sich der 40 41 42 43
44
GS A 03/423 (223,1 und 2). GSA 03/423 (223,1 und 2). GSA 03/423 (223,1 und 2). GSA 03/423 (223,1 und 2). In modernisierter Schreibweise Abdruck in: Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 290. GSA 03/423 (223,1 und 2).
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Mensch nur in der »freyen Geistesthätigkeit«, aus dem »einzig Allgemein Notwendigen« der Erfahrung in »Bildern« und Sprache seine Welt vor- und darstellen. Diese »freye Geistesthätigkeit«, die »nichts von andern Lohn« weiß, »als daß sie ungleich fortschreiten« und sich mitteilen darf, 45 wird als schaffendes Prinzip verstanden, das sich im Einzelnen wie im Kollektiv gleich manifestiert. Kulturelle Leistungen wie politische Ereignisse werden zu sichtbaren Zeichen dieser geistigen Kräfte in der Geschichte eines Volkes, die als individuelles (bewußtes) und kollektives (unbewußtes) Handeln in Kunst, Wissenschaft und Geschichte Ausdruck findet. Der Vergleich der handschriftlichen Konzepte zur Meteorologie mit Arnims literarischem Werk macht deutlich, wie Arnim die für die naturwissenschaftlichen Phänomene entwickelte Theorie auf alle geistige, psychologische und politische Erscheinungen transponiert und weiterentwickelt hatte. Seine Beschäftigung mit den Jugendschriften im Jahre 1809 darf nicht naiv als Nostalgie gesehen werden, ein Lieblingsprojekt endlich zu publizieren, um seiner Tätigkeit als Naturforscher damit einen Abschluß zu geben. Sie ist eher ein Zeichen der Selbstbestätigung, ein Beweis, daß sich seine Theorie über das Wechselspiel der Kräfte, Erfahrung, Historizität, Gesetzmäßigkeit in der Gesetzlosigkeit, innerer Fortschritt in Stagnation und äußerem Niedergang, als tragfähig bewährt hat. Die »Zueignung an J. W. Ritter« reflektiert »in nuce« dieses von den Naturwissenschaften transferierte »universale« Paradigma auf das in seiner Subjektivität und Historizität verwurzelte Individuum innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges. So definiert sich Arnim selbst als individuell/bewußt und kollektiv/unbewußt handelndes Subjekt, das im Wechselspiel der Kräfte seine Funktion fand und in der Ausübung seiner »freyen Geistesthätigkeit« sich einen Wirkungskreis schuf, der die zeitgenössische Politik, Kunst und Wissenschaft aus ihrem geschichtlichen Kontext zu verstehen sucht. Er betont, daß erst der Blick auf die eigene Vergangenheit bestätigt, wie sich das Richtige und Falsche in seinen Publikationen auf den Fortgang der Wissenschaft, an dem er selbst seit seinem Weggang aus Göttingen nicht mehr voll teilgenommen hatte, auswirkten, kam es doch nicht so sehr auf die Fakten der Forschungsergebnisse an, sondern vielmehr auf die Ideen, die anderen zu Impulsen für weitere Denkprozesse wurden. 46 In diesem Sinne erscheinen auch seine damaligen Streitereien mit Ritter in neuer Perspektive, da sie als Diskussionsgrundlagen der Wissenschaft förderlich wurden. Der Blick auf die Papiere, die jetzt mehr Mühe machen »zum Verstehen als damals beim Verfassen« (289) verdeutlicht ihm, wie durch den Zeitabstand das Eigene zum Fremden werden kann und es neuer Arbeit bedarf, um das früher Gedachte in den jetzigen Wissensstand wieder aufzunehmen. Die Erkenntnis, daß nur im Bewußtwerden der eigenen Historizität das Subjekt zum Objekt werden kann, bestärkt ihn in seinem Glauben, daß gerade für den Künstler, der mit seiner Zeit wie mit der Vergangenheit verwurzelt ist, sich jede Darstellung zeitgenössischer Ereignisse und Personen problematisiert. So ist es dem Bildhauer und Maler nicht erlaubt, »mit dem Historischen unhisto"5 46
GSA 03/423 (223,1 und 2). Antikritik. Jedem das Seine. In: Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 399.
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risch willkürlich zu verfahren«, und das Historische mit dem Allegorischen in einem bunten »Gemisch von Wahrheit«, zusammenzustellen, wie es Canova's Napoleon expliziert. (278) Der Mensch ist mit seinem Leben an die Zeit gebunden, und nur die Nachwelt mag ihn davon befreit erblicken. 47
Diese Erfahrung der eigenen Historizität macht Arnim durch die Beschäftigung mit den früheren Schriften; die Scheidewand der Zeit stürzt ein, die ihn von der Jugend trennte, und öffnet den Blick auf das »weite« Land, in dem er unter den »breiten Irrgängen« auch die »richtige Straße« erkennt, in denen seine Fußstapfen noch zu sehen sind, die sich überschneiden. Diese Erfahrung, »etwas Subjektives und etwas Objektives zu denken«, führt zu der Erkenntnis, daß das »Subjektive mit dem Objektiven so verbunden, daß sie sich gegenseitig hervorbringen«.48 Es gilt damit das Gesetz, daß dieser Vorgang zugleich identisch und synthetisch sei, »identisch[,] denn er sagt[,] daß das Verschiedene verschieden sey, denn anders heißt hier das Seyn nichtsf,] als gedacht werde, synthetisch in so fern dieses verschiedene noch immer anders verschieden gedacht wird. Das Subjekt stellt sich darin als Objekt dar..«. 49 Das Objekt Arnim, der Naturforscher - wird noch e i n m a l nachgedacht von dem Subjekt Arnim, dem Dichter und Publizisten - , ein Prozeß, der nur bestätigen kann, daß jede menschliche Tätigkeit, die vom Willen bestimmte wie die vom Unbewußten vorangetriebene, Impulse gebend und empfangend, Wirkungen und Gegenwirkungen auslöst, die sowohl die Einzelprozesse wie auch die Gesamtprozesse bestimmen. In seiner Rezension von Ritters Autobiographie »Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers« hebt er am Beispiel des Lebens und Werkes des befreundeten Naturforschers noch einmal hervor, wie Talent, Intention, Störungen und Hindemisse ineinandergreifen und das »Nach-Denken« und damit das »Weiter-Denken« der Gedanken anderer, hier Saussures, vorantrieben: Doch, ich muß mich hier des Physikalischen enthalten, zu Betrachtungen geben diese Fragmente besonders in dem Verhältnisse zur allgemeinen Entwickelung der Naturkunde reiche Veranlassung, welch' eine Mannigfaltigkeit gegen die Agenda des Saussure, welch' eine gemeinschaftliche Liebhaberei mit Lichtenberg, das Weltall zu organisieren und mit uns in vertraulichere Bekanntschaft zu bringen, welch' ein scharfsinniges Benutzen der Philosophie, ohne sich ihr je zu ergeben, frei fügt sich sein Geist in alle Methoden, doch vor allem braucht er die Ausnahmen, um zu einem neuen Gesetze zu gelangen, wer diese Fragmente gelesen, und noch von Luftteilchen, Wassermolekülen und Wärmepartikeln spricht, mag sich nur immer für alle heutige Physik aufgeben, in keinem Schriftsteller hat sich die neuere, organische Physik so herrlich verkündet. (321)
Was individuell durch die Wiederaufnahme des Eigenen geschieht, wiederholt sich im weiteren Kreis mit der Lektüre der frühen Werke anderer. Es ist nicht zufällig, daß sich Arnim zur gleichen Zeit (1809) auch mit Brentanos Schriften
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Ebd., S. 278 GSA 03/401 (221,6). GSA 03/401 (221,6).
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beschäftigte und »Lust« bekam, »Brentanos sämtliche Arbeiten vom Anfange seiner Schriftstellerey zu characterisiren«. [...] manches von ihm, das ich wieder in die Hände bekam hat mich so neu und anmuthig überrascht, dass ich auch andern die Freude gönnte und machen wollte.50
In seiner Rezension von Brentanos 1809 erschienenem »Goldfaden« erweitert Arnim nun den Kreis, in dem die Erfahrung der eigenen Historizität durch die Konstellation von Ich als Subjekt und Objekt stattfindet, durch die Variante von Ich und Fremdem. Das beste Zeugnis, wie nahe, lebendig, tüchtig und freundlich manche Werke unserer früheren Dichter uns zusprechen, gibt uns das Bemühen manches Ausgezeichneten statt in eignen Werken lieber in solchen wieder herausgegebenen älteren seiner Nation den Wunsch ihr zu dienen, mühsam darzulegen. (282)
In der Bearbeitung der fremden Texte ist es wichtig, die »eigne Tätigkeit« zu überwinden, die »nur im Eigensten ihre Befriedigung findet«, und »sich der Abschrift und geringfügigen Berichtigung fremder Wortfügungen hinzugeben«. (»Der Goldfaden«, 282) Behutsam muß die Modernisierung alter Werke vorgenommen werden, damit der neu herausgegebene Text nichts von seinem urprünglichen Ton verliert. Im Falle von Wickrams Erzählung ist dies besonders wichtig, da dieser in der »Nationalisierung«, d. h. Übersetzung und Bearbeitung, seiner wahrscheinlich älteren portugiesischen Quelle die Erzählung bereits aus ihrem kulturell und historisch bestimmten Kreis gelöst und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hatte. Die Übersetzung fremdsprachiger alter Texte oder die Herausgabe von Schriften im Dialekt fordern nicht nur genaue Sprachkenntnisse, sondern auch Vertrautheit mit dem Kulturgut des Volkes zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, was stets die Kenntnis historischer Prozesse mit einschließt. Schlegels Modernisierung der Griechen im »Ion« sei wie Goethes »Iphigenie« wohl gelungen, doch letzten Endes nicht mit den Originalen zu vergleichen, da er »wegen moderner Anforderungen sein Vorbild verlassen hat, unter ihm in Wahrheit und Zartheit des Ganzen geblieben ist, während er ihn in mancher Einzelheit übertroffen hat«. (396) Großes Lob erteilt Arnim Schlegels Bearbeitung des »Tristan«, da es ihm hier gelungen sei, »alle Freiheit neuerer Deutschen Sprache in der Kenntnis aller ihrer Zeiten und in der Berührung mit allen angrenzenden Sprachen, durch Übertragung der fremden Dichter in dieselbe errungen« habe [...] (397). Darüberhinaus werden literarische Texte als »rein erzählte Geschichte« »so wahr wie eine Weltgeschichte«, ein Thema, das Arnim in der Rezension zu Werner's »Attila« voll entwickelt. Wer irgend einmal den vernichtenden Attila darstellt, der die Geißel Gottes ist, es aber nicht weiß, der forttreibend und fortgetrieben sich nicht trennen kann von der bösen Art seines Völkerstammes, darf diesen Charakter nicht auslassen. (298f.)
50
Reinhold Steig: Zeugnisse zur Pflege der deutschen Literatur in den Heidelberger Jahrbüchern. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 11 (1902), S. 180-284, hier S. 199. Auch in: Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 1186.
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Arnims eigene Überarbeitung alter Texte und ihre Integration in sein dichterisches Werk werden in seinem Streit mit Voss über die »Zeitschrift für Einsiedler« und mit Jakob und Wilhelm Grimm über Natur- und Kunstpoesie expliziert. Von Voss war er des »Betrugs«, der »Forgery«, der »Schmuggelei« und der »mutwilligen Verfälschung« in seiner Behandlung alter Texte beschuldigt worden (258). Nicht weniger polemisch warfen ihm später die Grimms vor, mit den alten Texten, die er im »Wunderhorn« und »Der Zeitschrift für Einsiedler« bearbeitet und in seine dichterischen Werke oft unmittelbar integriert hatte, willkürlich verfahren zu sein und sie verstümmelt zu haben. Jakob Grimm glaubte, der Vergangenheit »objektiv« entgegentreten zu können, solange er den eigenen Erfahrungs- und Wissenskreis beschränkte und von »modernen« Einflüssen unberührt erhielt. Nur so schien ihm der Zugang zur »Naturpoesie«, vom Kollektiv in unreflektierter kommunaler Stammesmentalität hervorgebracht, möglich. In der Verleugnung der eigenen Individualität, d. h., dem Bewußtsein der eigenen Historizität, meinte er, das aus magischen Riten und Bräuchen erwachsene Kulturgut eines mythischen Urvolks in den überlieferten Dokumenten rekonstruieren zu können. Für ihn ist Geschichte die lineare Entwicklung vom kollektiv unbewußt denkenden und handelnden Subjekt zum modernen autonomen Selbst. Die Texte der Vergangenheit werden zu Monumenten einer untergegangenen Kultur; als Darstellungen der Gedanken der Alten erinnern sie an eine paradiesische Urzeit, die für den modernen Menschen verloren ist. Das Epos wird zur »göttlichen Mythologie«, die neuere Dichtung zur »Menschengeschichte«.51 Diesem Argument stellt Arnim sein Paradigma der Dichtung und Geschichte entgegen, die sowohl linear als zyklisch in dem komplexen Wechselwirken aller Kräfte vorwärtsdrängt und in dem der Einzelne, bewußt und unbewußt agiert. Texte sind nicht als »fixiert« verstanden, sondern leben fort und wecken »das erfindende Talent immerfort«.52 Geschichte wird damit zum erzählten Text, an dem alle Schichten eines Volkes aus ihrer Perspektive mitwirken. Das Spektrum der mannigfaltigen Darstellungen der histiorischen Begebenheiten ist vielschichtig: es beginnt mit der Authentizität historischer Urkunden und Dokumente und endet mit der Fiktionalität der Dichtungen und den Darstellungen in der Kunst. Dazwischen liegen Chroniken, Augenzeugenberichte, Anekdoten, die, in der mündlichen Tradition des Erzählens bereits »weitergedichtet«, die Lücken füllen. [...] der bildende,/ortschaffende Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend und schlechterdings unaustilgbar. Gott schafft und der Mensch, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werks. Der Faden wird nie abgeschnitten, aber es kommt nothwendig immer eine andre Sorte Flachs zum Vorschein. [...] Was Du erfinden nennst, das existirt gar nicht in der Welt, selbst in Christus nicht. Nichts fängt mit dem einzelnen Menschen an, und das originellste Werk ist doch nur Fortsetzung von etwas.
51
52
Reinhold Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm ( = Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Bd. 3). Stuttgart, Berlin 1904, S. 235. Ebd., S. 223.
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Roswitha Burwick das vielleicht gerade nicht so sichtbar geworden. Für alles giebts eine Ahndung, manchmal läßt es sich sogar geschichtlich erweisen, jede Zeit entwickelt ihr Theil. 53
Wie die verschiedenen Augenzeugenberichte eines Ereignisses beweisen, ist selbst das Festhalten historischer Fakten subjektiv und hat keinen Anspruch auf Authentizität. Der Name der Stadt Jena kann dem einen die Gelehrtenrepublik um die Jahrhundertwende, dem anderen die militärische Niederlage und den Untergang Preußens bedeuten. Geschichte ist demnach keineswegs eindimensional, sondern ein vielschichtiges Phänomen, das sich in einer dichten Vernetzung manifestiert. Erst das Zusammenkommen der vielfältigen Perspektiven, die Integration der geistigen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder geschlechtsspezifischen, der individuellen und kollektiven Strukturengefüge der Vergangenheit, ermöglicht Erkenntnis und Kenntnis der Gegenwart. Monumente der Alten sind demnach nicht tot, »Kadaver«, wie sich Arnim einmal abfällig in einem Brief an die Grimms äußert,54 sondern lebendige Zeugnisse, die nur durch das Eingreifen der Nachkommen, durch ihr NachDenken weitergebildet werden und so in die Gegenwart wirken. Bedeutende Ereignisse und Zeiten, wie sie außerordentliche Taten erzwingen, so begeistern sie auch die Kunst durch aufmunternde Größe zum bedeutenden Werke, das über diese Zeit hinaus, die Zukunft erheben und belehren kann, während es der Gegenwart nur als ein freundliches Zusammendrängen der mannigfaltigen Ereignisse scheint, welche überall in Fülle zerstreut sich entwickelten.53
Arnims Worte, seine Gedanken seien so alt wie die in der Edda, sind aus seiner Definition der »freyen Geistesthätigkeit«, zu verstehen, die, sich »systemlos durch Systeme« fortbewegend, in der Fusion des einmal Gedachten mit dem eigenen Gedanken nicht Rekonstruktion oder Aktualisierung des Alten, sondern das Wirken einer Kraft sieht, die alle Entwicklungen der Menschheit aktiv vorantreibt. Arnim betont immer wieder, wie wichtig es ist, das Prinzip dieser »systemlos durch Systeme« sich bewegenden »freyen Geistesthätigkeit« nicht als Systemlosigkeit mißzuverstehen. Er plädiert vielmehr für das Aufsuchen und Aufstellen von Gesetzen und Systemen, die, als offene Strukturen verstanden, vorantreiben und vorangetrieben werden und ständig fortbilden. Poesie als zeitloses schaffendes Prinzip, das »weder jung noch alt« ist und »überhaupt keine Geschichte« hat,56 wird damit synonym mit dieser »freyen Geistesthätigkeit«, die die Entwicklung des Menschengeschlechts vorantreibt. W i e im literarischen Werk so tauchen auch in den Kleinen Schriften naturwissenschaftliche Konzepte auf. So verwendet er den zeitgenössischen Begriff »Meteor«, der alle Phänomene der Witterung bezeichnet,57 in der Rezension zu Jean Pauls »Des Feldpredigers Schmelzle Reise« bereits metaphorisch: 53
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Ebd., S. 248f. - Vgl. Ulfert Ricklefs: »Poetologisches Vorwort«. In: Ders.: Magie und Grenze. (Palaestra 285). Göttingen 1990, S. 19-58, bes. S. 41ff. Ebd., S. 224. Arnim 1992, vgl. Anm. 3; S. 413 Steig 1904, vgl. Anm. 51, S. 225. Winde, Thau, Reif, Nebel, Wolke, Regen, Schnee, Blitz, Donner, Wetterleuchten, Nordlicht, Feuerkugeln, Sternschnuppen, Irrwische und -lichter, Regenbogen, Höfe, Nebensonnen und -monde etc. In J. T. Gehler. Physikalisches Wörterbuch. Artikel Meteore, Teil 3, 1790, S. 200f.. Vgl. Schelling, Ergänzungsbd., vgl. Anm. 31, S. 145.
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[...] wir rezensieren demnach diese Reisebeschreibung aus Furcht vor der Furcht, wogegen er uns bei Gewittern (und heute ist allerdings wegen des blauen Himmels ein solches Meteor wegen der Ungewöhnlichkeit mehr zu fürchten) mit triftigen Gründen warnt. (310)
In seiner Rezension zu Ernst Wagners »Wilibald's Ansichten des Lebens« vergleicht er den Untergang der Hoffnungen auf einen kulturellen Mittelpunkt, einer »Bundesstadt deutscher Nation«, mit der Handauflegung eines Magnétiseurs, der seinen Patienten voll in seiner Gewalt habe und jegliches eigene Denken und Handeln verhindere; anstelle von geistigen Anregungen stehe Stumpfsinn, herrsche »das entsetzlichste Scheinleben des Witzes«. (276) Über den erkrankten Körpern herrscht aber die schauerliche Geisterhand der magnetischen Berührung. (276)
Napoleon oder Attila, die »Geißel Gottes«, von persönlichem Machtwillen getrieben, fegen wie ein »Meteor« über die Landschaft und bringen Niederlage und Zerstörung. Wie bei Naturkatastrophen gehen dabei aber auch verhärtete, bereits funktionslose Elemente mit unter und schaffen Raum für neue Entwicklungen, da das geistige Prinzip unzerstörbar ist (»Fragmente aus dem Nachlasse«, 313). Interessanter als die rein metaphorische Verdichtung einzelner Konzepte ist die Verarbeitung der als universal verstandenen naturwissenschaftlichen Phänomene und ihrer komplexen Gesetze in zwischenmenschlichen Beziehungen, politischen und wirtschaftlichen Ereignissen, der kulturellen Entwicklung eines Volkes schlechthin. Wie in den Naturwissenschaften spielen bei der »Erforschung« und »Entdeckung« dieser Gesetze »Erfahrung« eine Rolle, die individuelle des Einzelnen und die Kollektive des Volkes. Zu diesem Zwecke müssen alle sichtbaren und greifbaren Phänomene, d. h., die zur Darstellung gelangten Ideen in Kunst, Literatur, Geschichte, der Gesetzgebung und Wirtschaft untersucht werden. [...] die gewöhnlichen Juristen, die im Gesetz nur die allgemein gültige, allgemein verstandene Formel sehen, mögen [...] aufstaunen, wie mannigfaltig die Gesetzgebung mit allen lebenden, waltenden Geistern, mit der Geschichte eines Volks, mit seiner Religion, Philosophie, Staatswirtschaft und Familienwirtschaft, mit seiner ganzen Art zu sein und zu wirken in genauer Wechselwirkung stehe, oder wie die alte Erklärung heißt: rerum divinarum atque humanorum notitia nicht bloß justi atque injusti scientia, sei, eben so wie vor einigen Jahren die ehrlichen Krausianer oder Smithisten aufstaunten, daß es wirklich mit Teilung der Arbeit und freiem Handel in der Staatswirtschaft nicht allein auszukommen sei. 58
Gesetze können wie Dichtungen nicht aus Absicht oder Willkür entstehen, sie sind vielmehr Offenbarungen dieser inneren und äußeren Kräfte: Es kann nicht laut genug gesagt werden, daß so wenig gute Gesetze, wie gute Gedichte aus bloßer Willkür und Absicht hervorgehen, sondern daß ein bestimmter äußerer Drang in seiner Wechselwirkung mit dem innern Streben, etwas hervorbringt, das mächtig wirkt und keinem gehört; und daß eben deswegen Gesetzgeber und Dichter in der glücklich beobachtenden ersten Zeit der Völker überall als göttlich [...] erkannt und verehrt wurden.59 58 Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 4S8f. 59 Ebd., S.459. - Vgl. Ulfert Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart. In: Volk - Nation - Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung
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Ist Denken als »Vorstellbarkeit des Verschiedenen« und Wissen als die »verschiedene Vorstellbarkeit des Verschiedenen« verstanden und darf die Übung freyer Geistesthätigkeit nicht eingeschränkt werden, so ist Kritik demnach problematisch, da die oft beschränkte individuelle Ansicht als universal gültig propagiert, eher zerstört als fördert und weder Achtung vor dem andern noch Achtung vor dem Kunstwerk übt. Die bereits in der Handschrift der »Zueignung« angeschnittenen Themen von Historizität, Beschränktheit durch Ideologie oder geographische Gebundenheit werden auch in der Doppelrezension »Über Gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck« (235-245) aufgegriffen. Der Text ist eine Besprechung von Friedrich Heinrich Jakobis Antrittsrede als Präsident der Bayrischen Königlichen Akademie der Wissenschaften zu München und den Repliken von Karl Rotthammer und Karl Aman. Arnim beginnt mit einem Lob des bayrischen Königs, der 1807 inmitten politischer Wirren mit der Förderung der Künste und Wissenschaften »die Heilung aller Wunden ahnete, welche die Zeit geschlagen« (235). Wohl ist die Berufimg Gelehrter zu den leitenden Ämtern der Akademie persönliche Auszeichnung, bringt aber auch Verantwortung mit sich, da die Aufgabe nicht allein eine pädagogische, sondern auch eine bildungspolitische ist, die in alle Bereiche der moralisch ethischen Erziehung übergreift und den ganzen Menschen erfaßt, um ihn nicht allein zu einem tugendhaften, sondern auch politisch mündigen Bürger zu erziehen. Dabei spielt das Selbstverständnis des Pädagogen die entscheidende Rolle: er muß heraustreten können aus dem engen Kreis der eigenen Ideologie und des regionalen Geschichtsverständnisses und national denken lernen. Arnim rügt Jakobi als einen Gelehrten, der dem Leben und den zeitgenössischen Ereignissen zu fern stehe, Rottmanner sieht er zu eng in die bayrische Lokalpolitik verstrickt. Beide stellen Pole dar, die die Situation aus ihrer eigenen beschränkten Ansicht beurteilen und nicht in der Lage sind, ihre Aufgabe voll zu verstehen und zu erfüllen. Die Schärfe der von allen geäußerten Kritik tadelt Arnim als unangemessen, da sie aus dem Mißverständnis der Geschichte als »Name, Jahreszahl und Ansicht« erwuchs und nicht aus dem Erkennen des »gewaltigen tätigen Drängenfs] in der Zeit« (»Über gelehrte Gesellschaften«, 238). Damit ist der »eine Zweck, das ruhige Umfassen alles Gedachten über den Sinn und den Wert gelehrter Gesellschaften aus einem so wesentlichen Gesichtspunkte«, wie dem historischen (»Über gelehrte Gesellschaften«, 239) verfehlt, der Enthusiasmus, der über alle Vernunft hinausgeht, von Jakobi verkannt. Der Schein von »ruhigem Überblick und allgemeiner Betrachtung« täuscht darüber hinweg, daß alles aus der beengten Sicht des Einzelnen beurteilt ist. Die Rezension schließt mit der Idee, daß trotz aller Engstirnigkeit der Gelehrten, der Aufteilung in spezialisierte Teilwissenschaften und quantitativen Methoden die Begeisterung denen Naturen, die ihrer fähig und würdig, eine Kraft verleihen kann, die den Blick und die Bewegung ganzer Nationen nach ihren Worten richtet, wie J's frühere Schriften, so ist doch diese Kraft eine verliehene und keine unterworfene; wenn politischer Begriffe. Hrsg. von Alexander von Bormann. (Stiftung für Romantikforschung IV). Würzburg 1998, S. 65-104, S. 87.
Arnims kulturpolitisches Programm in den Berliner Jahren
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sie sich ihnen versagt, werden sie umso schwankender fortschreiten, weil sie sonst des Fliegens gewohnt, aber nur die Kunstausbildung gibt uns ein freies Bewußtsein, wo uns der Genius trägt, und wo er uns zu begleiten verschmäht. (242f.)
Die Thematisierung von »Kritik« ist kaleidoskopisch in fast allen Texten der Berliner Jahre aufgefächert. Arnim gibt selbst ein Beispiel der negativen Kritik in seiner Streiterei mit Voss, die ihm Humboldt's Unwillen eintrug und letztlich eine Anstellung im Staatsdienst kostete. Mehrere seiner Rezensionen sind Repliken auf Angriffe anderer Kritiker, denen er Anmaßung, Borniertheit und Parteilichkeit vorwirft, da sie aus dem »mückentanzenden Sonnenradius in ihrem Innern ohne Breite und Tiefe«, ihre Gefühle als »universalhistorisch« für alle (»Drangsale des Persiles und Sigismunda«, 246) ausgeben und statt einer klaren Beurteilung eher »Vorurteile« verbreiten, und Verurteilung, ja oft Todesurteile aussprechen. (1174) Arnims eigene Texte sind bewußt als Beispiele aufbauender Kritik verstanden. So ist das rechte Lesen, das Mit- und NachDenken, das Suchen nach der vom Autor internierten Aussage und das sorgfältige Herauslösen des »Diamanten aus der Mutterlauge« zu üben und bloßes Nachsprechen von Meinungen anderer, Nachahmung fremder Vorbilder, französischer Witz, Sentimentalität oder Ruhm- und Gewinnsucht als bedauernswerte Zeichen der zeitgenössischen Kultur zu tadeln. Rezensieren ist »Lesen«, »Mit- und Weiterdenken« des Gedachten, behutsames sich Einfühlen in die Gedanken anderer, ähnlich der Herausgabe alter Texte. Der Kreis dieser Dichtungen bezeichnet überhaupt in allem mehr Ergreifen des Lebendigen in dem Gelesenen, Fortbilden des Gedachten als ein Darstellen des in Wirklichkeit Erlebten; 60 Wahre Talente sind oft verborgen, da wo sie zu Tage treten, bleiben sie meist unbeachtet. 61
Die von Arnim vorgeschlagene Art der Kritik soll den Leser, der selbst nicht dazu fähig ist, behutsam leiten, ihn lehren und erziehen, damit er am Ende selbst in der Lage ist, das Gelernte weiterzugeben. Wie der Lehrer zum Lernenden, so muß wiederum auch der Lernende selbst zum Lehrer werden, der an dem großen Bildungswerk, der Erziehung der Nation, aktiv teilnimmt. Arnims Vision einer Bundesstadt deutscher Nation, eines zentralen Punktes, von dem Impulse empfangen und weitergegeben werden in die Provinzen (»Wilibalds's Ansichten des Lebens«, 275f.) ist keineswegs allein geographisch gebunden, sondern national bzw. transnational zu verstehen. So finden sich Anspielungen, ein deutsches Athen oder Rom zu schaffen, ein Nationalinstitut nach dem Vorbild von Paris oder London einzurichten. In seiner Rezension zu Rehberg's »Einführung des Code Napoleon« warnt Arnim auch vor der Gefahr, die einem Staat entsteht, wenn diese Institutionalisierung zur Verhärtung und im Falle der Gesetzgebung zur Verflachung und Verbürokratisierung des gesamten Justizwesens führt. Mag Deutschland unter seinen Gelehrten wie unter seinen Geschäftsmännern immerhin Einzelne aufzeigen, die hohe Einsicht in die unendliche Mannigfaltigkeit der wirklich
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Ebd., S. 304. Ebd., S. 275f.
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Roswitha Burwick lebenden geistigen Welt und in das Heraustreten ihrer schmerzlich und schmählich beschränkten Organisation haben, die meisten sind aber aus Mangel an öffentlicher Verhandlung über Gesetzgebung diesem tiefen Geiste schaffender Gesetzgebung durchaus abgestorben, und die unsinnigen Bemühungen flacher Köpfe nach allgemeiner Gesetzgebung haben der Welt ein Surrogat für die eigentlich schwere Anstrengung der Gesetzgeber aufzureden versucht, das viel Absatz gefunden hat, bis es endlich gar für echt gehalten wurde. (459)
Dogmatismus und Stagnation durch Institutionalisierung kann nur durch Öffentlichkeit, verhindert werden, d. h., die geistige Elite eines Staates muß im politischen und kulturellen Bereich, an den Ministerien, Gerichten, in den Akademien, Universitäten und Schulen durch Publikationen aller Art in Journalen, Tagesblättern, Zeitschriften und Taschenbüchern proaktiv sein, um in die Breite zu wirken und alle Bevölkerungsschichten zuerreichen. Arnims Auffassung von positiver und aufbauender Kritik ist ebenfalls aus diesem Kontext zu verstehen: die Schärfe des Kritikers zerstört nicht nur das einzelne Talent, sie führt auch zur Hierarchie und Intoleranz der Meinungen anderer. Auf nationaler Ebene wiederholt sich diese Praxis der Unterdrückung in Zensur und Polizeistaat. Arnim klagt in einem Brief an die Brüder Grimm, daß Kleist »seine bittre Noth mit der Censur« unter der Regierung Hardenberg habe und »wegen einiger dem hiesigen Ministerio darin anstößiger Aufsätze beinahe gar nichts mehr abdrucken darf«. Von ihm seien beinahe zehn Aufsätzen das Imprimatur verweigert. 62 Als Herausgeber des »Preussischen Correspondenten« hatte Arnim wie sein Vorgänger Schleiermacher große Schwierigkeiten mit dem Zensor. Am 18.11.1813 schrieb er ärgerlich an Reimer, daß ihm die Behörden seine Artikel so »zerstrichen, daß am Ende eine Lüge übrigbleibt«. 63 Brentano warnte er vor dem Polizeirat Naude, der »satyrische Sarkasmen« nicht leiden könne und »barbarische Kreuze streiche«, daß oft meine besten Gedanken an dies Kreuz geschlagen untergehen«. 64 Aller »Censurplage ungeachtet« sei jedoch manches im Correspondenten zu finden, was ihm einige Unterhaltung gewähre. 65 In der Rezension zu Jean Pauls »Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz« hatte er sich nicht nur über Philisterei und Jean Pauls »Witzkultur« satirisch geäußert, er mockierte sich auch über den Polizeistaat und Wilhelm Buttes Buch »Versuch der Begründung eines endlichen und neuen Systems der Polizeiwissenschaft« (1807). Wie Arnim in »Plattdeutsche Gedichte« (407) und »Der erste Auszug Britischer Freiwilligen« ausführt, versteht er den idealen Staat als klassenlose Gelehrtenrepublik, als geistige und nicht politische Gemeinschaft, die über geographische bzw. historische Grenzen hinausgreift und in diesem Sinne Universalität schafft. Vorbild ist eine durch die Verfassung garantierte freie Gesellschaft, ähnlich der englischen,
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Reinhold Steig. Achim von Arnim und Clemens Brentano. ( = Arnim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. Reinhold Steig und Herman Grimm. Bd. 1). Stuttgart 1894, S. 96. Siehe auch Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 1202. Steig 1894, vgl. Anm. 62, S. 326. Ebd., S. 326f. Ebd., S. 326.
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wo sich alles und demnach das Beste mit heilig siegender Kraft durch alle Klassen der Einwohner frei mitteilt, weil jeder sich in seinem Kreise als ein tätiger Bürger für das öffentliche Wohl fühlen kann, weil jeder mitwirkend auch mitfühlend vor dem beweglichen Bilde der allgemeinen Weltbegebenheiten steht und aus seinem Standpunkte es fassen muß, weil er davon ergriffen und fortbewegt wird. (413)
Die politische Liberalisierung bringt die wirtschaftliche mit sich, die Zusammenarbeit von Gelehrten und Geschäftsmännern zum allgemeinen Nutzen fördert nicht allein privaten, sondern auch öffentlichen Wohlstand (»Noch ein Wort der Billigkeit«, 335). Da Bildung aller Bevölkerungsschichten größtes Desiderat ist, schlägt Arnim dem Göttinger Beispiel folgend, die Verwendung von Privatmitteln zum Ankauf von Büchern vor. Ein Wunsch, den wir schon in dem Abendblatte äußerten, wird dabei in uns wieder recht lebhaft, daß doch alle Reiche teils bei ihrem Leben, teils in ihren Vermächtnissen unsre öffentlichen Landes-Bibliotheken, deren Einkünfte sehr gering sind, bedenken möchten, die Ehre unsres Volkes fordert es, [...] der allgemeine Nutzen wird jede Aufopferung belohnen. 66
Privatinitiative ist in Arnims Augen nicht nur für die Bildung breiter Bevölkerungsschichten, sie ist auch für das Heer (»Der erste Auszug britischer Freiwilligen im Jahre 1803«) und bei der Lösung sozialer Fragen zu bewundern und öffentlich bekannt zu machen. In »Allgemeine Bewaffnung« (436f.) betont Arnim die Wichtigkeit der Freiwilligen, die sich aus allen Standen zusammensetzten, in den Zeiten größter Not einsprangen und in wenigen Monaten ein Heer lieferten, »das auf den Schlachtfeldern sich gleichen Ruhm mit ihren Mitstreitern erwarb« (436). Sein ausführlicher Bericht über »Das Krankenhaus des Frauenvereins zu Berlin« schildert detailliert die Ordnung, Sparsamkeit und die verbesserten hygienischen Zustände, die unter der Verwaltung des Berliner Frauenvereins ein Modell für ein Lazarett entstehen ließen, in dem die Würde des Einzelnen, Freund oder Feind, arm oder reich, gewahrt wurde. Angeregt von einem Bericht über den Breslauer Frauenverein hatte Arnim seine Bekanntmachung der Tätigkeiten des Berliner Frauenvereins verfaßt. Er weist zuerst auf die Geschichte der Krankenpflege hin, die wenn sie von Ordensfrauen wie den barmherzigen Schwestern ausgeübt wurde, beispielhaft wirkte. Unbewußt und unerwartet wiederholt sich immerdar die Kraft eines heiligen Naturgesetzes durch einzelne Frauen, es scheint nämlich, daß die weibliche Natur nicht nur ein großes Geschick, einen Trieb für die Pflege der Kranken habe, sondern auch eine glückliche Ahndung der Heilmittel. (429)
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Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 449f.
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Diese öffentliche Tätigkeit, von Frauen wie Frau von Krüdener67 und Frau Podewil vorgelebt, genügen nicht nur einem Bedürfnis der Zeit, sie bietet auch den Frauen, vor allem den unverheirateten, die Möglichkeit, dort mit Tatkraft vorzugehen, wo sonst lange Beratungen nur zu Verzögerungen sofortiger Hilfsmaßnahmen führen und außerhalb des Hauses Entscheidungen zu treffen, die das Gemeinwohl fördern. Während die Männer beratschlagten und zweifelten, reifte der Gedanke dem Hauptübel aller Lazarette, dem Mangel an treuer Pflege und guter Nahrung durch freiwillige Dienstleistungen abzuhelfen, in einer edlen Frau zur Ausführung; Frau von Podewils sammelte Unterschriften zu Beiträgen und eigenen freiwilligen Dienstleistungen, um ein Lazarett zu stiften, das unter geschickter ärztlicher Leitung unter täglicher Aufsicht unbezahlter zuverlässiger Frauen, allen andern Unternehmungen der Art als Muster dienen könnte. (432)
Für das Lazarett wurde ein Privathaus unter günstigen Bedingungen gemietet, das mit seiner ruhigen Lage inmitten eines Gartens nicht nur eine häusliche Atmosphäre bot, sondern auch durch seine Reinlichkeit und gute Verpflegung wohltuend auf die Verwundeten wirkte. Erfolgreich durch sorgfaltige Arbeitsteilung und gute Organisation verdienten Einrichtungen dieser Art Nachahmung (435). Wie wichtig die Bekanntmachung eines solch exemplarisch gelebten Lebens für Arnim war, zeigt ein 1807 in der Zeitschrift »Vesta« veröffentlichter Aufsatz, der fast bis zum Wortlaut hin, diese schon aus der Saussurebiographie bekannten Gedanken formuliert.68 (217-222) Einzeln steht alles Große da und wirkt durch die Einzelheit gewisser Naturen, nur indem wir dieses näher kennen und achten lernen wird das Allgemeine wieder ein vollständiges Zusammenwirken. (221)
In »Betrachtungen über ein allgemeines Stadtgespräch« macht Arnim Vorschläge zur Eindämmung venerischer Krankheiten durch Prostitution. Er spricht gegen polizeiliche Unterdrückung und setzt sich für die soziale Hilfe zur moralischen Besserung der Frauen ein. Nach dem Londoner Vorbild sollen staatlich oder privat finanzierte Wohnungen für Prostituierte geschaffen und Anstalten wie das Magdalenenspital eingerichtet werden, die den Mädchen, die oft aus Armut zur Prostitution gezwungen, helfen, ihren Unterhalt zu verdienen und den Weg zurück zu einer bürgerlichen Existenz zu finden. Der Erfolg der Jubelfeier in der Waisenhauskirche veranlaßt ihn zu dem Vor67
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Vgl. auch Arnims Aufsatz von 1807: »Frau von Krüdener in Königsberg«. In: Arnim 1992, vgl. Anm. 3, S. 216-223. Nach der Schlacht von Eylau hatte sich Frau von Krüdener tatkräftig um die Pflege der Verwundeten eingesetzt: »Während sich die größte Zahl der Zuschauer bei der traurigen unabsehbaren Schlittenfahrt der Verwundeten darüber stritt, wer eigentlich Sieger sei; ob nun Pest oder allgemeine Feuersbrunst, bei einem Sturme der Stadt erfolgen müsse, gehörte Frau von Krüdener zu den ersten, die den halberstarrten und verhungerten Unglücklichen mit Erfrischungen beistand. Während andre ihre Habe zusammen hielten, und unsicher saßen auf ihren ererbten Stühlen, war sie ruhig mit der Verteilung ihres Eigentums [...] beschäftigt, und jedes der Ihren stand ihr darin bei« (S. 217). Arnim hatte Frau von Krüdener, die er 1802 auf seiner Bildungsreise in Genf kennengelernt hatte, in Königsberg wiedergesehen und sie auf der Fahrt zu einem schwer verwundeten französischen Dragoner-Offizier begleitet (S. 219). Arnim: Werke in sechs Bänden, vgl. Anm. 3, Bd. 1: Hollin's Liebeleben. Gräfin Dolores. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M 1989, S. 99.
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schlag, daß die Chöre, die in den engen Räumen der Singakademie vor einem kleinen Publikum auftraten, für ihre Aufführungen eine der Hauptkirchen wählen sollten, um eine breitere Wirkung zu haben und den »verschollenen Kirchengesang wieder zu beleben« (»Bei Gelegenheit der Jubelfeier in der Waisenhauskirche«, 349f.)· Auch die Errichtung eines Denkmals für die Befreiungskriege scheint Arnim in einer Zeit der äußeren Not als gemeinschaftliches Projekt möglich, an dem neben Fachleuten, wie dem Baumeister Schinkel, alle Bewohner der Gegend mit Spann- und Handdiensten sich beteiligen können. Nicht allein die Vielschichtigkeit seiner Publizistik und seiner Dichtung ist aus der genaueren Analyse der naturwissenschaftlichen Schriften zu ermitteln, auch die Intention, durch Sammeltätigkeit Vielseitiges zusammenzutragen, durch Berichte über progressive Einrichtungen des Auslandes Eigenes anzuregen und breit zu wirken, ist bereits beim jungen Arnim voll realisiert. Als Naturforscher hatte er Einschlägiges geleistet und hatte, allgemein geachtet, im Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses gestanden. Wie er später argumentiert, waren seine Forschungsergebnisse der Wissenschaft förderlich, seine Gedanken wurden wieder zum Impuls für die Untersuchungen anderer. In Arnims publizistischer Tätigkeit verlagerte sich der Schwerpunkt vom naturwissenschaftlichen auf den politischen und gesellschaftlichen Bereich. Gerade die Berliner Zeit, die die Niederlage Preußens und die Vorbereitungen zu den Befreiungskriegen sah, war eine Zeit des Umdenkens und der inneren und äußeren Reformen. Arnims Werk zeugt von dem Bewußtsein eines Umbruchs, dem Anbruch einer Zeit, die durch den Kapitalismus und die Industrialisierung alte Stände- und Gesellschaftsordnungen zerbrechen und neue erstehen lassen würde. Aus diesem neuen Geschichtsbewußtsein ist auch seine Sicht des »Wechselwirkens« zeitgenössischer Ereignisse und Kunst zu verstehen. Wie er in »Der erste Auszug Britischer Freiwilligen im Jahre 1803 ein Gemälde von Ströhling«, (411-415) schreibt, erzwingen »bedeutende Ereignisse und Zeiten« »außerordentliche Taten«, und »begeistern« die Kunst zum bedeutenden Werk, das »über die Zeit hinaus, die Zukunft erheben und belehren kann, während es der Gegenwart nur als ein freundliches Zusammendrängen der mannigfaltigen Ereignisse scheint, welche überall in Fülle zerstreut sich entwickelten« (413). Da Kunstwerke genau wie die Texte zu historischen Darstellungen des Zeitgeistes werden, plädiert Arnim immer wieder für das Zusammenstellung von Sammlungen aller Art, sei es Texte, sei es Kataloge zu Kunstsammlungen, da gerade sie die Progressivst der geistigen und kulturellen Entwicklungen eines Volkes reflektierten. »Considerations de Γ etat« (285-288), die Rezension des 1808 erschienenen Katalogs von 110 älteren Bildern aus einer italienischen Privatsammlung, ist nicht allein eine detaillierte Beschreibung vieler Gegenstände, sie ist auch Anlaß auf ähnliche Bemühungen in Deutschland, wie die der Brüder Boisseree, hinzuweisen. Im Bewußtsein einer Übergangszeit versteht Arnim seine literarische und publizistische Tätigkeit als festes Programm zur Erhaltung eines kulturellen Erbes, die sich nicht in einer Sammeltätigkeit erschöpfen darf, die ehrfurchtsvoll vor den Kunstwerken der Alten steht und den Untergang einer mythischen Zeit betrauert. Sammlungen werden erst
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fruchtbar, wenn sie Repräsentation der von Anbeginn der Menschheit wirkenden geistigen Kräfte sind; nur in der historischen Folge kann Vergangenheit verstanden und Zukunft geschaffen werden; nicht durch Ehrfurcht und Andacht, sondern durch Erneuerung werden die Werke der Alten tragfähig für die Zukunft und können hinübergerettet werden in die noch unverständliche und beängstigende Epoche der Moderne. Arnims journalistische Tätigkeit steht demnach unter dem Zeichen eines festen kulturpolitischen Programms, das sich aus seinem Verständnis von Staat und Gesellschaft, Individuum und Gemeinschaft, erklärt. So wird er nicht müde, öffentlich Anregungen zu geben und diejenigen zur Mitarbeit aufzufordern, die an privaten und staatlichen Institutionen Einfluß haben. Bildung, politische Mündigkeit, liberale Wirtschaftspolitik, Philanthropie, Privatinitiative im militärischen und sozialen Bereich, gehören zu seiner Agenda, die er in seinen Schriften konsequent vertritt. Arnim glaubte fest daran, daß für die Erfüllung dieser Aufgabe, die mit der Verbesserung des Staates auch eine Verbesserung des persönlichen Lebens bringt, jeder Einzelne, ohne Rücksicht auf Alter, Klasse oder Talent verantwortlich sei, sei es in öffentlichen Institutionen oder im privaten Bereich. Nur in der Erneuerung der politischen und sozialen Zustände sah er auch eine Erneuerung des Menschen als geistig und politisch mündigen Staatsbürgers, der im Sammeln und Bewahren und in der behutsamen Erneuerung das Erbe der Vergangenheit hinüberrettet in eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung.
Günter Oesterle
Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau Aufklärerische Anthropologie und romantische Universalpoesie
I. Gattungsmetamorphose und Gattungsbalance: Anekdote, Novelle, Legende Achim von Arnim hat bei der Bearbeitung seiner Erzählung »Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau« zwei Quellen benutzt und umgeschrieben. Das Entscheidende dabei ist, daß die eine Quelle französischer Provenienz ist und aus der Zeit vor der Revolution stammt, die zweite hingegen eine deutsche Fassung aus der nachrevolutionären Zeit darstellt.1 Bislang wurden im Blick auf die Umschrift Arnims nur motivliche Übernahmen und adaptierte »sprachliche Eigenheiten« festgestellt.2 Unberücksichtigt blieb, daß beide Vorlagen Arnims eine je eigene narrative Struktur und poetische Form besitzen. Beide Geschichten sind durch eine Pointe sowie durch die Eigentümlichkeit und Sonderbarkeit eines Falles ausgewiesen. Diese Merkmale zeigen die Zugehörigkeit zur Gattung Anekdote an.3 Die 1772 in Frankreich publizierte Anekdote weist sich mit ihrer Präsentation einer einzigartigen und bizarren Geschichte als eine französische Kurzerzählung, Conte, aus.4 Die später, nämlich 1808, in dem Berliner Blatt »Der Freymütige« erschienene Kurzfassung trägt typische nachrevolutionäre Züge und hat deutsches Kolorit. An der französischen vorrevolutionären Geschichte lassen sich drei Besonderheiten festmachen: Der Protagonist der Geschichte, ein französischer Offizier, glaubt im Wahn ein absolutistischer Herrscher zu sein; dieses Problem wird aber im Rahmen der Soldatenehre abgewickelt (insofern sagt der gefangene Offizier zurecht: »Das ist gut abgelaufen, sie haben mich als Ehrenmann genommen und ich habe mein Königreich aufgrund des Ausgangs des Waffengangs verloren [978]« [Übersetzung, G.Oe.]. Konsequenterweise wird dieser wahnsinnig gewordene 1
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Vgl. den Kommentar zu der Erzählung in: Achim von Arnim: Sämtliche Erzählungen 1818-1830. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt 1992, S. 975ff. Die Klammern im Text verweisen auf diese Ausgabe. Für kritische Lektüre und Unterstützung danke ich Christiane Holm. Renate Moering: Die offene Romanform von Arnims »Gräfin Dolores«. Heidelberg 1978 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 16), S. 102. Hans Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote. In: Jb. des Freien deutschen Hochstifts 1973, S. 458-480; Heinz Grothe: Anekdote. Stuttgart 1971; Jürgen Hein: Die Anekdote. In: Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1981, S. 14ff. Vgl. Joel Fineman: The History of the Anecdote: Fiction and Faction. In: The New Historism. Hrsg. von H. Aram Veeser. New York, London 1989, S. 49-76. Vgl. Günter Damann: Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« als Essay über die Gattung der Prosaerzählung im 18. Jahrhundert. In: Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Hrsg. von Harro Zimmermann. Heidelberg 1990, S. 6. Dort auch weitere Angaben zu der literarischen Gattung >conte< in Frankreich und Deutschland.
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Soldat gesellschaftlich nicht ausgegrenzt. Er wird von seinen militärischen Vorgesetzten nach einem Jahr Irrenhausaufenthalt in Ehren ins Hotel Royal überführt (979). Ganz anders hingegen wird der Sachverhalt in der deutschen nachrevolutionären Anekdote dargestellt. Hier wird von einer zweifachen List erzählt, zum einen von der List der Machtergreifung durch einen wahnsinnig gewordenen Soldaten, zum anderen von der List der Entthronung des »Königs von der Insel Ratonneau«. Die entscheidende Differenz zur französischen Vorlage findet sich darin, daß Francoeur von dem militärischen in das medizinische Regelsystem überwiesen, nämlich bis zu seinem Tode ins Irrenhaus gesperrt wird, wo er an der fixen Idee leidet, einer Kabale erlegen zu sein.5 Die Arnimsche Umschrift trägt Spuren dieser doppelten Perspektive der beiden Vorlagen. Bekanntlich verlagert Arnim die Geschichte in die Zeit des Siebenjährigen Krieges. Es spiegeln sich darin aber auch die zeitgenössischen Erfahrungen der Befreiungskriege. Zugleich stellt er die zwischen den beiden vorliegenden Anekdoten offene Frage nach Ausschluß oder sozialer Eingliederung des kranken Außenseiters neu: Die Erweiterung der Anekdote zu einer Novelle erlaubt, die Entstehung des Wahnsinns zu schildern und seine Therapiemöglichkeiten zu bedenken.6 Damit ist der Argumentationsgang des ersten Abschnitts vorgegeben. Zunächst sollen die Eigenheiten der Anekdote, insbesondere ihre sich in der Aufklärung anbahnende anthropologische Neufundierung erörtert werden, danach soll die Erweiterung und Umformung von der Prosa der Anekdote zur Poesie der Novelle behandelt werden. Schließlich soll die in der Erzählung zum Austrag kommende Gegenläufigkeit der beiden Gattungen Novelle und Legende nachgezeichnet und das prekäre Gleichgewicht dieser verschiedenen Erzähltraditionen interpretiert werden. Kehren wir zunächst einmal zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Beide anekdotenartigen Vorlagen Arnims, die französische vorrevolutionäre und die deutsche postrevolutionäre, entsprechen trotz aller von uns gemachten Binnendifferenzierungen präzis dem, was Novalis als bedeutender Anekdotentheoretiker der Romantik unter einer »charakteristischen Anekdote« versteht: Sie zeige eine »menschliche Eigenschaft auf eine merckwürdig auffallende Weise«, so daß mehrere von ihnen eine »Galerie« von der »Karakteristik der Menschheit« liefern könnten.7 Novalis fuhrt dazu eine Beispielfolge an, die wir komplett in unseren beiden Anekdotenvarianten gestaltet finden: »Eine große Klasse von Anekdoten sind diejenigen, die eine menschliche Eigenschaft auf eine merckwürdige, auffallende Weise zeigen, ζ. B. List, Großmuth, Tapferkeit, Veränderlichkeit, Bizarrerie, Grausamkeit, Witz, Fantasie, Gutmüthigkeit, Sittlichkeit, Liebe, Freundschaft, Weisheit, Einge5
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Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/M. 1989. Wie sehr Wahnsinn und seine Therapie Lieblingsthema der Zeitgenossen war, läßt sich an »Wilhelm Meisters Lehrjahre« exemplifizieren: »Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren.« Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.7. Hamburg, 6. Aufl. 1965, S. 346. Novalis: Anekdoten. In: Novalis Schriften. Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hrsg. von Richard Samuel. Stuttgart bzw. Darmstadt 1965, S. 567f.
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schränktheit.« 8 Novalis läßt in der folgenden Erklärung (»Sie sind Anekdoten zur Wissenschaft des Menschen«)9 keinen Zweifel aufkommen, daß er diese Art von Anekdoten einer neuen Wissenschaft, der Anthropologie, zuordnet. Seit 1770 hat sich die Anthropologie als »Wissenschaft des Menschen« auf neuartige Weise konstituiert. Die Anthropologie geht nicht mehr von der Metaphysik aus, sondern von der empirischen Beobachtung des Menschen und seinen Eigentümlichkeiten. 10 Diese »anthropologische Wende«11 verbindet medizinische Befunde des Menschen, seine Anatomie, Physiologie, Psychologie und Affekttheorie, mit der sogenannten kleinen familiären Gesellschaft, dem oikos, und darüber hinaus mit der großen, der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft. 12 Vermittelt durch Anekdoten bezieht sich Achim von Arnim wie Novalis auf diese »neue Wissenschaft des Menschen«. Da nach Novalis die Anekdote »ein historisches Molecule«13 darstellt, adaptieren die romantischen Schriftsteller mit diesem Gattungszugriff nicht nur den Stoff und das Material der Anthropologie, sondern das gesamte aufklärerische Erkenntnismodell. Bezug genommen wird also nicht nur auf »Kranckheiten, Unfälle, sonderbare Begebenheiten«, sondern zugleich auf eine bestimmte Theorie der Mitteilung und des Gedächtnisses und damit verbunden auf eine bestimmte Art der Geschichtsschreibung und Didaxe. 14 Achim von Arnim bezieht sich in seiner Erzählung »Der tolle Invalide« auf den gesamten anthropologischen Verbund von Medizin, Psychologie, kleiner familiärer und großer bürgerlicher Gesellschaft. Die Pointe nun ist, daß Arnim wie Novalis diesen Zugriff auf die »charakteristische«, anthropologisch grundierte Anekdote nutzt, um sie durch Erweiterung zur Novelle zu poetisieren. Er stellt sich die Aufgabe, eine anthropologisch-didaktisch-historische Anekdote in eine die Einbildungskraft und nicht nur das Erkenntnisvermögen beschäftigende, poetische Novelle zu verwandeln. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß die romantischen Schriftsteller versuchen, die narrative Darstellung der in der Aufklärung innovativ geschaf-
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Ebd. Ebd. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 309f., sowie Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL 1994 (Sonderheft 6), S. 94-157. Vgl. Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 40. Ein gutes Beispiel für diese »neue Wissenschaft des Menschen« ist Villaumes Schrift »Geschichte des Menschen«. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt instruktiv den Argumentationsgang, der vom »Außen des Menschen«, der »Geschichte der verschiedenen Zeiten des Lebens« über ein Kapitel »Von der Seele und ihren Kräften« bis zu dem Abschnitt »Von der bürgerlichen Gesellschaft« reicht. Das Buch endet bezeichnenderweise mit dem Abschnitt: »Vom Wohl und Wehe«. Peter Villaume: Geschichte des Menschen. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig 1788. Den Hinweis verdanke ich Jörn Garber. Novalis 1965, vgl. Anm. 7, S. 568. Novalis 1965, vgl. Anm. 7, S. 567: »Eine Geschichte in Anekdoten - etwas Ahnliches hat Voltaire geliefert - ist ein höchst interessantes Kunstwerck.« Vgl. Fineman, 1989, vgl. Anm. 3.
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fenen Anthropologie als Studium der »Eigentümlichkeit« des Menschen zu nutzen, um sie in ein Konzept romantischer universeller Poesie zu transformieren. Achim von Arnim gelingt die Umschrift von einer charakteristischen Anekdote zu einer poetischen Novelle durch vier poetologische Operationen: 1. Durch die Aufnahme der Liebes- und Ehegeschichte eines kranken fremdländischen Soldaten holt der Erzähler die traditionelle erotische Subschicht der Novelle mit ihrem bekannten Eifersuchtsmotiv ein15 und eröffnet damit die in den anekdotischen Vorlagen ungekannte Möglichkeit für Ironie und Zweideutigkeit. 2. Die in den vorgegebenen Anekdoten angesprochene Virtuosität des Kanoniers Francoeur greift der Erzähler Arnim auf, nicht nur um den Artismus der Feuerwerkskunst auszubauen, sondern vielmehr den Kippmechanismus von heiterem Spiel zu groteskem, tödlichen Schrecken vorzuführen. 3. Das in der Anekdote verwirklichte anthropologische Konzept störfreier Mitteilung wird in der Erzählung verkehrt. Das Problem des Mitteilungsabbruchs, des Verstummens, der Angst und des Mißtrauens werden zum zentralen Thema der Erzählung. An die Stelle unproblematischen Verstehens und mit Evidenzen arbeitender Didaxe tritt das permanente Mißverstehen und die Schwierigkeiten multikultureller, schichten- und genderspezifischer Verständigung· 4. Als Kern der Umschrift und Erweiterung der »charakteristischen Anekdote« zur poetischen Novelle dürfte schließlich die narrative Ausgestaltung des in der Anthropologie verhandelten Zusammenhangs von Aberglauben, Melancholie und Wahnsinn gelten.16 Mit der Thematisierung des Aberglaubens, dieser, wie es Goethe formuliert,17 »Poesie des Lebens«, entsteht eine »poetogene Situation«.18 Der Einbildungskraft wird nicht nur ein neutraler Raum zugebilligt, sondern sie wird in einen Spannungsraum versetzt, der die Trennschärfe von Rationalismus und Irrationalismus herausfordert.19 Die Frage Jean Pauls nach dem »wahren Glauben [...] am After- oder Aberglauben«20 wird in der Erzählung zugespitzt zur Frage nach der Entstehung und der Heilungsmöglichkeit von Wahnsinn. Die Romantik wäre nicht Romantik, wenn sie bei der Umwandlung von prosaischer Anekdote in poetische Novelle stehenbliebe und nicht zur Potenzierung der Formen weiterschritte. Und das mit guten Gründen. Denn die Poeti15 16
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Vgl. Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart 1993, S. 26f. Vgl. Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 27f.; Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' Anton Reiser. Frankfurt 1987, S. 88f. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: ders. 1963, vgl. Anm. 6, Bd. 12, 5. Aufl., S. 494. Vgl. Aleida und Jan Assmann: Exkurs: Archäologie der literarischen Kommunikation. In: Einfuhrung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos u. a. Stuttgart 1995, S. 204. Hans Adler: Artikel »Irrationalismus«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd.4. Tübingen 1998, Sp. 625-633. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Jean Paul Werke. Hrsg. von Norbert Miller. Bd. 5. Darmstadt 1967, S. 96.
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sierungsaktion, bei der die anthropologisch fundierte Anekdote sich mauserte zur poetischen Novelle, ist aus romantischer Perspektive nicht ohne poetologische Problematik. Die Novelle mit der ihr eigenen Poetik des Neuen und Einmaligen erhält nämlich ein Gegengewicht in der Legende. Auf diese Weise wird die der Anekdote und Novelle eigene Ästhetik des Skandalons ausbalanciert durch eine Topik des Wunderbaren.21 Anekdote wie Novelle sind Gattungen der modernen Zeit - geprägt durch Neuheit, Eigentümlichkeit, durch Pointen und Effekte, durch Strategien und Bizarrerien, durch Historisches und Juristisches - die Legende ist dagegen, wie Herder ausführt, eine Gattung der »mittleren Zeit« - also der Vormoderne, einer Zeit, in der die Naturwissenschaften noch nicht ihren Siegeszug angetreten hatten.22 Daher herrscht »Andacht«, das »Wunderbare« hat Platz und Raum, es kann sich an Orten, in Gegenden festmachen. Während Anekdote und Novelle räum- und geschichtsausgreifend sich temporalisieren, d. h. sich prognostisch und vergegenwärtigend verhalten, ist die Legende auf Einfriedung, Begrenzung ausgerichtet. Die Legende versteht sich als Gattung der Weisheit und kollektiver Langzeiterfahrung, in der die »Einbildungen der Völker« gespeichert bleiben.23 Während Novelle und Anekdote sich konsequent modern auf Neues und Neuestes kaprizieren und damit konsequent auf Deviationen, auf Unfälle und Monstrositäten verlegen, bleibt die Legende auratisch raumbegrenzt, das Unzivilisierte der wilden Barbaren »bezähmend«.24 Während das Novellistisch-Anekdotische ganz zur Individualität und Schicksalhaftigkeit drängt, ist die Legende, nach Herder, »schicksallos« - sie streift jede Subjektivität von sich ab.25 Während das eine Gattungssystem sich Kraft seiner Innovationsdynamik zu Verdacht und Wahn, d. h. zu einer Art modernem Aberglauben steigert, repräsentiert die Legende andersartige Formen von »Aberglauben, Wahn und Schwachheit«. »Die geheime, innere Denkart der christlich gewordenen Völker, ihren Wahn, Aberglauben, Schwachheiten, kurz den dunklen Grund ihrer Seele«, schreibt Herder, »lernt man aus mancher Legende mehr kennen, als in diesen Zeiten aus ihrer sämmtlichen Staatsgeschichte.«26 Die Erzählung »Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau« ist ein kühnes Experiment, weil es die beiden unterschiedlichen Gattungen, Novelle und Legende, und die beiden korrespondierenden »Sprachgebärden«27 auf kunstvolle Weise ineinanderschreibt. Von der Temposteigerung bzw. -verlangsamung bis 21
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Die von Arnim in der Erzählung »Der tolle Invalide« erprobte Gattungsmetamorphose von der Anekdote zur Novelle und die parallel dazu ausgeführte Gattungsbalance von Novelle und Legende läßt sich poetologisch durch den Rekurs auf die Poetik der Anekdote von Novalis, die Poetik der Novelle von Friedrich Schlegel und die Poetik der Legende von Johann Gottfried Herder plausibilisieren. Johann Gottfried Herder: Wahrheit der Legenden. In: Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 16. Berlin 1887, S. 388ff. Ebd., S. 389. Ebd., S. 392. Vgl. Hellmut Rosenfeld: Legende. Stuttgart 21961, S. 28ff. Herder 1887, vgl. Anm.'22, S. 393. Vgl. André Jolies: Legende. In: Einfache Formen. Darmstadt 1958, S. 45.
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zum Habitus der Kontrahenten und ihrer ikonographischen Gestaltung läßt sich die Gegenläufigkeit von Novelle und Legende am Höhe- und Wendepunkt der Erzählung verdeutlichen. Auf der einen Seite steigert sich der mißtrauische, von »Grillen« (34) zeitweise heimgesuchte Francoeur in die Rolle des Teufels, »des König[s] aller Könige dieser Welt« (46) derart hinein, daß er in krasser Entzweiung seiner selbst sich in Hyperaktivität ausläßt. In höchster Blasphemie und zugleich technisch innovativer Raffmesse läßt er das Kanonenfeuer über dem Haupt seiner Ehefrau kreuzen (wir kommen darauf noch einmal zurück), während sie selbst, Rosalie, der Legende gemäß ohne Bängnis ihrer inneren Stimme folgt, um dem Grundprinzip der Legende zu folgen, »der Zeit [nicht] vor[zu]greifen« (53) und sich hingebungsvoll niederzuknien.28 Arnim setzt genre- und genderbewußt Legende und Frau als tableauartiges Gegengewicht zur Hyperdynamik und Novitätssteigerung von Novelle und Mann ein. 29 Der innere und äußere »Kampf« des Mannes Francoeur wird körperlich und gestisch unter Einbeziehung der technischen Möglichkeiten militärischer Gewalt bis zur höchsten Exaggeration ausgestaltet, während Rosalie als Frau den inneren und äußeren Frieden repräsentiert. Die Physiognomie Francoeurs steigert sich von der karikaturesken Form (»sein dunkles Auge befeuerte sich, sein Kopf erhob sich, seine Lippen drängten sich vor«, 43) bis zur grotesk anmutenden Körperentgrenzung hin, die schließlich zur heilenden Befreiimg führte: Er riß Rock und Weste an der Brust auf, um sich Luft zu machen, er griff in sein schwarzes Haar, das verwildert in Locken starrte und riß es sich wütend aus. Da öffnete sich die Wunde am Kopfe in dem wilden Erschüttern durch Schläge, die er an seine Stirn führte. (53)
Je mehr Rosalie »sich nicht mehr schicksallos« fühlte (49), desto klarer konturiert sie sich als Lichtgestalt, die zusammen mit ihrem Kind von ikonographischen Zeichen des Heiligen und Friedlichen umspielt wird. Der historisch bezeugte, anekdotisch überlieferte Fall, wie ein einzelner Soldat eine ganze Stadt tagelang in Angst und Schrecken hält, wird durch die Ausgestaltung seiner staunenerregenden und zugleich tödlich gefährlichen Künste zur novellistischen Einzigartigkeit gesteigert. Spiegelbildlich zu dieser novellistischen Darstellung eines teuflischen »Tausendkünstlers«30 tritt Rosalie still verzeihend in 28
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Es würde sich lohnen, die Bild- und Metaphernfelder, die Herder bei der Beschreibung der Legende gebraucht, mit Arnims Darstellung von »Rosalies« Opfergang zu vergleichen. Vgl. z.B. Herder 1887, vgl. Anm. 22, S. 390: »Lasset der Sage ihren Gang, daß ihn Stimmen gerufen, getröstet, bewillkommt haben; daß ein ambrosischer Duft, ein himmlischer Glanz den zum Himmel Eilenden umschwebte.« Man wird aus dieser Perspektive Forschungsthesen überprüfen müssen, die behaupten, die Legende sei in der Moderne, weil unterkomplex, antiquiert und obsolet, nur noch der Parodie fähig. Vgl. Christof Wingertzahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. St. Ingbert 1990, S. 131. Auch die These von Hannelore Schlaffer, die Legende zerstöre in restaurativer Absicht die Novelle, dürfte auf Arnims Ausgleichverfahren von Novelle und Legende nicht zutreffen. Vgl. Schlaffer 1993, vgl. Anm. 15, S. 277f. Artikel »Teufel«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 21. München 1984, Sp. 269.
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ein sie entindividualisierendes Schicksalsmuster der imitatio Christi ein.31 Eine derartige hochartifizielle Balance findet sich in der Erzählung nicht nur auf der Ebene der Gattung und Ikonographie, sondern zugleich in der gegenläufigen Entwicklung von multikultureller Perspektivität auf der einen Seite und ornamental verdichteten Totaleindrücken auf der anderen Seite.
II. Motivketten und ornamentale Evidenzbilder Der Hinweis, daß Arnims Erzählung »Der tolle Invalide« bestimmte Vorstellungskomplexe wie etwa Teufel, Feuer, Liebe in vierzig und mehr Varianten darbietet, mag erklären, warum die Forschung in immer wieder neu einsetzenden Versuchen sich vornehmlich der Analyse der Motivketten zugewendet hat. 32 Doch Vorsicht ist geboten. So aufschlußreich der Versuch ist, bestimmte Motivfelder auf verschiedene Sinnebenen zu beziehen (die politische, die religiöse, die sexuell-symbolische oder poetologische), so sehr bleibt ein derartiges Interpretationsverfahren einer klassifikatorischen Zuordnung verhaftet. Neben der Serie und Variation, die solche Sprachbäume wie etwa beispielsweise Feuer-, Brand-, Raketen- und Kanonenmotivik organisieren, muß die Aufmerksamkeit der Interpretation gleichermaßen auf die Nennung einzelner Worte gerichtet bleiben. Die nur einmal vorkommenden Begriffe wie »Vertrauen« (37), »Eingebung« (49), »stille Größe« (33) oder »meteorisch« (48) verweisen auf die in der Gesamtheit der Erzählung realisierten Konzepte des Kommunikativen, der »inneren Religion«, der Ästhetik und der Naturwissenschaft, die ihrerseits wieder die Beziehung der Motivketten untereinander steuern. Die Dynamik der Textbewegung kommt freilich erst in den Blick, wenn über eine derartige Einzelbeobachtung hinaus das kulturtheoretische Konzept benannt wird, das verantwortlich zeichnet für die Mutation der Motive, die Generierung der Topikketten und die Positionierung abstrahierender Einzelbegriffe. Um es in Kürze vorwegzunehmen, sei die Hypothese formuliert: Achim von Arnim bezieht sich in seiner Erzählung »Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau« auf zwei verschiedene Konzepte der Aufklärung, auf eine anthropologisch ausgerichtete »Lebensphilosophie« und eine von Thomasius entwickelte Theorie des Aberglaubens und der »inneren Religion«. Beide versucht er in sein Modell romantischer Universalpoesie zu integrieren, aber so, daß keineswegs die >Romantik< bloß verschiedene Formen der >Aufklärung< 31 32
Jolies 1958, vgl. Anm. 27, S. 48. Vgl. Benno von Wiese: A. v. Arnim: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. In: Ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Bd. II. Düsseldorf 1962, S. 71-86; Laurence M. und Ida H. Washington: The Several Aspects of Fire in A. v. Arnims Der tolle Invalide. In: German Quarterly 37, 1964, S. 498-505; Moering 1978, vgl. Anm. 2, S. 105ff.; Wingertzahn 1990, vgl. Anm. 29, S. 125ff.; Hans Georg Werner: Zur Technik des Erzählens A. v. Arnim. In: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Hrsg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer. Bern u. a. 1990; Sheila Dickson: Preconceived and Fixed Ideas. Self-Fulfilling Prophecies in Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. In: Neophilologus 78, No. 1, S. 109-118.
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korrigiert, sondern eine allseitige Ausgleichs- und Balanceartistik entsteht. Man hat schon oft bemerkt, daß Achim von Arnim als Spezialist für die Darstellung von Sonderkulturen und Minoritäten gelten kann. Es ist augenfällig, wie sehr die narrative und sprachliche Vitalität der Erzählung sich aus dem Kontrast französischer und deutscher Mentalität sowie der Differenz der Geschlechter speist. Einprägsam wird hier vorgeführt, wie jeder der vier Protagonisten der Erzählung milieubedingt wahrnimmt und urteilt. Die Motivketten in der Erzählung entstehen aus der Preisgabe einer normativen Sphäre des Kulturellen. Die vorgeführte Varianz eines Motivs hat ihren Grund in dem prinzipiellen Eingeständnis der Aspekthaftigkeit jedweder Position. Verschiedene Mentalitäten, Milieus und unterschiedliche Situationen erzeugen je andersartige Perspektiven und Deutungen und damit je andere Redeformen und Variationen von Metaphern. Dem »gute[n] alte[n] Kommandanten« (32) »Kurzsichtigkeit« vorzuwerfen, wie es in der Forschung geschehen ist, 33 weil er die ihm angegebene Gefährdung durch den Soldaten Francoeur nicht ernst nimmt, verfehlt die in der Erzählung vorgeführte radikale Perspektivität. Alle Protagonisten der Erzählung sind ihren mentalen Voraussetzungen und ihrem Wissensstand nach notwendig kurzsichtig. Es ist plausibel, daß der alte verständige französische Kommandant Rosalies Bericht über das outrierte Benehmen des französischen Invaliden, ihres geliebten Ehemanns, mißversteht, nämlich als Unverständnis einer Deutschen gegenüber der französischen tollkühnen soldatischen Mentalität. Die aufgeklärte Erklärungsweise für die »Grillen« (34) des französischen Soldaten Francoeurs durch den Kommandanten ist genauso berechtigt und glaubwürdig wie die scheinbar abergläubische Sichtweise der durch den Fluch ihrer Mutter verängstigten, um ihren Ehemann besorgten Rosalie. Die Reaktionen beider Protagonisten auf das extravagante und außergewöhnliche Verhalten Francoeurs sind in sich und aus dem jeweiligen Verstehenshorizont so verständlich und akzeptabel wie in der Folgezeit verhängnisvoll. In der Erzählung wird die radikale Aspekthaftigkeit jeder Wahrnehmung und jedweden Tuns und damit verbunden die Irrtumsmöglichkeiten im Rahmen einer prinzipiell kontingenten Geschichte in denkbarer Schärfe vorgeführt. Es spricht viel dafür, diesen narrativen Entwurf von Polyperspektivität auf die Kulturanthropologie der Spätaufklärung zu beziehen. In kritischer Auseinandersetzung mit den »Systemtheorien des älteren Rationalismus« sowie mit Kants von den vielfältigen Kultur- und Lokalgeschichten absehender Progressionsidee der Menschheit bildet sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine anthropologisch ausgerichtete »zweite Aufklärung« heraus. 34 Sie geht vom natürlichen »ganzen Menschen« und seinen unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen aus. Die daraus resultierende Akzeptanz der aus je unterschiedlichen Mi33 34
Moering 1978, vgl. Anm. 2, S. 106. Vgl. Jörn Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors. Anthropomorphe Bewußtseinsgrenzen von Erfahrung (Georg Forster). In: Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Hrsg. von Markus Bauer und Thomas Rahn. Berlin 1997, S. 13-35. Die folgenden Überlegungen verdanken dem 1997 am Sonderforschungsbereich »Erinnerungskulturen« in Gießen tätigen Gastprofessor Jörn Garber viel.
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lieus stammenden, je verschiedenen Sinneswahrnehmungen führt in diesem Konzept der Spätaufklärung nicht nur zu einem gesteigerten Interesse an regionalen und partikularen kulturellen Bezugsfeldern,35 sondern zugleich zu einer Geschichts- und Gesellschaftstheorie, die behauptet, »allein durch die Kommunikation von Differenzstandpunkten lasse sich zivilisatorische Dynamik entfalten«.36 Das Interesse an möglichst vielen, divergierenden Milieus und Kulturen läßt sich für einen Erzähler in den Reiz umwandeln, möglichst viele verschiedene soziale Redeformen einzufangen und bestimmte Motive möglichst aus allen denkbaren mentalen, nationalen, geschlechts- und altersspezifischen Gesichtspunkten sprachlich zu variieren. Der Rekurs auf die in dieser »Lebensphilosophie« der Spätaufklärung vorgetragene »situationsgebundene Hermeneutik«37 hat allerdings nicht nur den Effekt, Motive variantenreich zu perspektivieren. Die Aspekthaftigkeit jeder Position führt nämlich in dieser »zweiten Aufklärung« nicht zu einem zunächst erwartbaren Relativismus. Der behaupteten Einheit von Körper und Geist, von Materiellem und Ideellem entspricht der Versuch, den durch den Augenschein gewonnenen Teilperzeptionen einen »Totaleindruck« gegenüberzustellen.38 Der anthropologische Beobachter und konstruktive Erzähler kombiniert die verschiedenen milieubedingten, empirisch gewonnenen Innenansichten, damit - gleichsam im Sprung - die Idee des Ganzen aufscheine. Dieses bewegte Wechselreiten zwischen Binnenperspektiven und metaphorisch reflexiver Gesamtansicht greift der Erzähler Arnim auf, um als Gegengewicht zu den, die Vielzahl partikularer Gesichtspunkte spiegelnden, additiven Motivmutationen, ornamentale Evidenzbilder zu komponieren. In der weitausholenden Eingangssequenz der Erzählung »Der tolle Invalide« werden zwei kontrastierende Bewegungen choreographisch aufeinander bezogen. Auf der einen Seite wird in der Vorstellung »eine lebhaft gesellige Bewegung« evoziert, die sich auf einem für die Jugend von Marseille angesagten »großen Ball« konkretisieren kann (32). Auf der anderen Seite wird dieses mögliche bewegte Geschehen aus der Perspektive des »alten frierenden Kommandanten« erzählt, dessen Invalidität ihn für das Tanzen ungeeignet macht. Sein Stelzbein scheint gerade noch »brauchbar« zu sein, den »Vorrat grüner Olivenäste« in den Kamin zu schieben (ebd.). Die Dynamik der Textbewegung entsteht nun dadurch, daß die die Erzählung eröffnende, implizite binäre Opposition von natürlich tänzerischer Bewegung und künstlichinstrumenteller Verwendung eines Beinersatzes auf subtile Weise in einen im Folgenden dominanten Motivkomplex »Feuer« eingeht und ihn verwandelt. Aus der Differenz jung-alt, natürlich-künstlich, ersteht eine neue, aus der Einbildungskraft geborene, ornamentale Konfiguration, die die gesamte Erzählung in einem ersten Evidenzbild zusammenfaßt. Auf der einen Seite entsteht aus den »halbbrennend[en], halbgrünend[en]« Olivenblättern, gleichsam wie von " 36 37 38
Ebd., S. 19. Ebd., S. 17 Ebd. Ebd., S. 25.
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selbst ein Ornamentbild zweier »verliebte[r] Herzen« (ebd.), auf der anderen Seite formt sich als Kopfgeburt eines alten Militärs ein erhaben-erhebendes Feuerwerk. Hier am Kamine schien ihm [dem alten Kommandanten] dagegen sein hölzernes Bein höchst brauchbar, [...] um den Vorrat grüner Olivenäste, den er sich zur Seite hatte hinlegen lassen, allmählich in die Flamme zu schieben. Ein solches Feuer hat großen Reiz; die knisternde Flamme ist mit dem grünen Laube wie durchflochten, halbbrennend, halbgrünend erscheinen die Blätter wie verliebte Herzen [Kursiv, G. Oe.]. Auch der alte Herr dachte dabei an Jugendglanz und vertiefte sich in den Konstruktionen jener Feuerwerke, die er sonst schon für den Hof angeordnet hatte und spekulierte auf neue, noch mannigfachere Farbenstrahlen und Drehungen, durch welche er am Geburtstage des Königs die Marseiller überraschen wollte. Es sah nun leerer in seinem Kopfe als auf dem Balle aus. Aber in der Freude des Gelingens, wie er schon alles strahlen, sausen, prasseln, dann wieder alles in stiller Größe leuchten sah, hatte er immer mehr Olivenäste ins Feuer geschoben und nicht bemerkt, daß sein hölzernes Bein Feuer gefangen hatte und schon um ein Dritteil abgebrannt war. Erst jetzt, als er aufspringen sollte, weil der große Schluß, das Aufsteigen von tausend Raketen seine Einbildungskraft beflügelte und entflammte, bemerkte er, indem er auf seinen Polsterstuhl zurück sank, daß sein hölzernes Bein verkürzt sei und daß der Rest auch noch in besorglichen Flammen stehe (32f.).
An dieser Passage läßt sich eindrücklich ein Netz an ironischen Motivbeziehungen demonstrieren. Nicht nur die am Ende des zitierten Textes explizite Korrespondenz von Metapher und erzählter Realität in Gestalt eines »entflammte[n]« Enthusiasmus auf der einen und brennenden Holzbeins auf der anderen Seite, sondern auch die durch den temporalen Vorgang mögliche Demontage des anfanglich noch begrenzt »brauchbaren]« Holzbeins (das zwar nicht zum Tanzen, aber als Schürhaken dienen konnte) zum über der Spekulation mit dem Feuerwerk unbrauchbar gewordenen, brennenden Stelzfuß, wobei, im Einschub, das Begriffspaar Ball - Holzbein nicht vergessen wird, um nun auf einer neuen Ebene erkenntnistheoretisch in Beziehung zur Meditation und Konzentration gebracht zu werden: »Es sah nun leerer in seinem Kopfe als auf dem Balle aus«. Entscheidend für unseren Interpretationszusammenhang ist freilich, daß diese Motivkonstellation (natürliches - künstliches Feuer) überhöht wird durch eine reflexive ästhetische Konstruktion. Mit dem in dem Begriffsfeld »Feuer« ausgespannten Kontrast von brennender Natürlichkeit des Herzens und Artifizialität des gedachten Feuerwerks korrespondiert der Kontrast einer durch »Reiz« und ornamentale Figur ausgewiesenen Rokokoästhetik39 und eines folgenreichen, durch Überraschung, Brillanz und »stille Größe« ausgezeichneten französischen Klassizismuskonzeptes.40 Die Dynamik des Textes wird auf komplizierte Weise beide ästhetischen Modelle steigern und überhöhen: die eingangs der Erzählung kontrastierbaren ikonographischen Hinweise auf rokokoartige Ornamente verliebter Herzen verwandeln sich im Lauf der Geschichte in Anspielung auf Andachtsbilder mit »Heiligenschein« 39
40
Vgl. Frank-Lothar Kroll: Zur Problematik des Ornaments im 18. Jahrhundert. In: Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Hrsg. von Ursula Franke und Heinz Paetzold. Bonn 1996, S. 63f. Vgl. Norbert Miller: Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron. In: Propyläen. Geschichte der Literatur. Bd. IV. Berlin 1988, S. 315-366.
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(35, vgl. auch 52) und »Tauben«, die »in ihren Schnäbeln grüne Blätter« tragen (54); die schön-erhabene Spekulation mit der »stillen Größe« des Feuerwerks gerät hingegen unversehens in die Nähe zunächst komisch anmutender, Hann grotesker Selbstzerstörung.41 Es bedurfte nun nur einer minimalen Verschiebung des bislang aufgezeigten Kontrastes einer natürlichen Welt des feurig-knisternden Herzens versus einer künstlichen Welt entflammter »Einbildungskraft«, um zu der zentralen Konfiguration der Erzählung vorzustoßen, nämlich zu dem Kontrast einer sympathetisch geleiteten Liebe Rosalies versus einer dem Fluch der Mutter unterliegenden Handlungshemmung. Rosalie erzählt dem alten Kommandanten »ins Geheim« (33) von der Entstehung und den Folgen der »seltne[n] Liebe« (34) zwischen ihr, der Deutschen, der Tochter einer Marketenderin und einem verwundeten gefangenen Franzosen mit dem vielsagenden Namen Francoeur. Dabei kommt mit dem poetologisch einschlägigen Stichwort »da weiß ich nicht wie mir geschah« (35) (dem »je ne sais quoi«) nicht nur ihre unbewußt geschehende Zuwendung zu dem hilfebedürftigen Franzosen zur Sprache, sondern auch die furchtbare, folgenreiche Ahndimg der Verbotsübertretung durch die Mutter. Entscheidend bei dieser kontrastiven Konstellation von unwillentlicher Liebe der Tochter und willentlich gesteuertem Haß der Mutter ist die gesteigerte Fortschreibung der vorgängigen Konfiguration Feuer/Herz versus Feuerwerk/Kopf zur nun überhöhten Form der Sakralisierung bzw. grotesken Verteufelung. Diese Steigerung und Überhöhung geschieht nicht nur durch die integrative Verkettung der in der Erzählung dominanten Motivkomplexe Liebe, Feuer und Teufel, sondern zusätzlich durch den Ausdruck ästhetischer Zeichen und entsprechender Rituale. Dabei gilt es bei der Darstellung der Liebesbegegnung darauf zu achten, mit welcher konstruktivistischen Präzision in die Erzählung und den Dialog ein Bild-Schrift-Verhältnis eingelassen ist, das zugunsten des Wortes entschieden wird. Das ikonographisch traditionelle Bild vom »Heiligenschein um [den] Kopf« der karitativ tätigen Rosalie wird aufgelöst zugunsten eines inneren Bildes, eines »wahren, schöne[n] Wortfes]«, »der Heiligenschein komme aus [Rosalies] Augen!« (ebd.) Ich [...] wußte dem Verwundeten gleich das beste Strohlager zu erflehen. Und als er darauf gelegt, welche Seligkeit, dem Notleidenden die warme Suppe zu reichen! Er wurde munter in den Augen und schwor mir, daß ich einen Heiligenschein um meinen Kopf trage. Ich antwortete ihm, das sei meine Haube, die sich im eiligen Bemühen um ihn aufgeschlagen. Er sagte: der Heiligenschein komme aus meinen Augen! Ach, das Wort konnte ich gar nicht vergessen, und hätte er mein Herz nicht schon gehabt, ich hätte es
Die in der Erzählung »Der tolle Invalide« aufgefächerte Entfaltung der »stillen Größe« eines Feuerwerks, das unversehens zum komischen Unfall mutiert, um sich dann im Verlauf der Erzählung zu gewalttätiger Fremd- und Selbstzerstörung auszuwachsen, läßt sich, poetologisch gewendet, an eine Gedankenfigur anschließen, die Jürgen Nieraad entwickelt hat: »Die aus den Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen geschwundene Macht der Vereinigung« (Hegel) »ist allenfalls in den apokalyptischen Konstellationen des ehemals Schönen noch zitierbar, im Feuerwerk als dem sich selbst zerstörenden Kunstwerk.« (Jürgen Nieraad: Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie. Lüneburg 1997, S. 69).
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Günter Oesterle ihm dafür schenken müssen. Ein wahres, ein schönes Wort! sagte der Kommandant, und Rosalie fuhr fort: Das war die schönste Stunde meines Lebens, (ebd.)
Die Vereinigung der Beiden im Liebesblick findet sogleich die zeremonielle Beglaubigung, indem der kranke Francoeur seiner Helferin Rosalie »einen kleinen Ring an den Finger steckte« (ebd.). Diese »Seligkeit«, diese »schönste Stunde« ihres »Lebens«, in der sich Rosalie »so reich« »fühlte«, wie sie »noch niemals gewesen«, »diese glückliche Stille« (ebd.) wird aufs brutalste unterbrochen und gestört durch die Fluchgebärde der eintretenden Mutter und die darauf erfolgende »feierlich«-zeremonielle Teufelsübergabe der Tochter. Während bei der Liebesevokation Elemente sakraler Ikonographie bemüht werden, kommen hier bei der Fluchszene groteske Elemente zum Zug. Wie verzog sich das Gesicht meiner Mutter; mir wars, als ob eine Flamme aus ihrem Halse brenne, und ihre Augen kehrte sie in sich, sie sahen ganz weiß aus; sie verfluchte mich und übergab mich mit feierlicher Rede dem Teufel. Und wie so ein heller Schein durch meine Augen am Morgen gelaufen, als ich Francoeur gesehen, so war mir jetzt als ob eine schwarze Fledermaus ihre durchsichtigen Flügeldecken über meine Augen legte; die Welt war mir halb verschlossen, und ich gehörte mir nicht mehr ganz. Mein Herz verzweifelte und ich mußte lachen. Hörst du, der Teufel lacht schon aus dir! Sagte die Mutter und ging triumphierend fort, während ich ohnmächtig niederstürzte. (36)
Wie wichtig neben der Aufmerksamkeit auf Topikketten und Motivrelationen der Blick für ornamentale und ästhetische Zeichen ist, dürfte ein weiteres Beispiel verdeutlichen können. Wir haben das ornamentale Gebilde eines »halbbrennend, halbgrünend[en]« »verliebte[n] Herzen« (32) sowie das »wahre« »schöne« Wort vom »Heiligenschein«, der aus Rosalies Augen kommt (35), noch im Gedächtnis, um kurz vor dem novellistischen Wendepunkt in die Familienkatastrophe, die ornamentale Zeichnung eines scheinbar erreichten »gesegnet[en]« (42) Paradieseszustandes in seiner Vernetzimg mit den vorgängigen Evidenzbildern und seiner Unheil drohenden zukünftigen Bedeutung ermessen zu können. Die Vergabe des angeblich vor den Toren von Marseille gelegenen Forts »Ratonneau« an Francoeur durch den Kommandanten »versetzt« die an »harte Einkerkerung auf Wagen und in Wirtsstuben« gewohnte Soldatenfamilie in eine fast paradiesesähnliche »andere Welt« (ebd.). Der Teufel schien »in diese[r] höheren Luftregion« gebannt zu sein, die krankhaft erscheinenden »Grillen«, von denen Francoeur bislang geplagt war, schienen zu »ruhen« (ebd.). Dieses friedliche Intermedium von Geschlossenheit und Freiheit findet in einer von dem Wort »gesegnet« umrahmten Textsequenz ihren zeichenhaften Ausdruck. Ein Aufsicht und »Aussicht« gleichermaßen ornamentierendes »zierliche^] Werk« (41) wird entworfen: [...] und Rosalie segnete den Tag, der ihn in diese höhere Luftregion gebracht, wo der Teufel keine Macht über ihn zu haben schien. Auch die Witterung hatte sich durch Wendung des Windes erwärmt und erhellt, daß ihnen ein neuer Sommer zu begegnen schien; täglich liefen Schiffe im Hafen ein und aus, grüßten und wurden begrüßt von den Forts am Meere. Rosalie, die nie am Meer gewesen, glaubte sich in eine andere Welt versetzt, und ihr Knabe freute sich, nach so mancher harten Einkerkerung auf Wagen und in Wirtsstuben, der vollen Freiheit in dem eingeschlossenen kleinen Garten des Forts, den die frühen Bewohner nach der Art der Soldaten, besonders der Artilleristen, mit den künstlichen mathematischen Linienverbindungen in Buchsbaum geziert hatten. Drüber flatterte die Fahne mit den Lilien, der Stolz Francoeurs, ein segenrei-
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ches Zeichen der Frau, die eine geborne Lilie, die liebste Unterhaltung des Kindes. So kam der erste Sonntag von Allen gesegnet [...].(42)
In dieses Bild scheinbarer Seligkeit und Harmonie der Familie ist das die Dynamik des Textes steuernde Begriffspaar natürlich/künstlich gänzlich als Form eingegangen. Der »künstlichsten mathematischen Linienverbindung« im ornamental strukturierten französischen Garten korrespondiert nicht nur das doppelsinnige Symbol des Lilienbanners, sondern auch die gewaltsam anmutende syntaktische Formation, die die komplizierte Beziehung der Mitglieder der Familie, Mann, Frau, Kind in einem höchst artifiziellen Parallelismus zum Ausdruck zu bringen versucht: »die Fahne mit den Lilien, der Stolz Francoeurs, ein segensreiches Zeichen der Frau [...] die liebste Unterhaltung des Kindes.« Der Höhepunkt dieser Inszenierung ornamentaler Zeichen in der Erzählung findet sich schließlich in der kontrastiven Darstellung des obsolet und damit lächerlich gewordenen offiziellen kirchlichen Exorzismus und einer aus dem Herzensglauben entstandenen wahrhaftigen und glaubwürdigen Teufelsaustreibung. Grundmuster ist in beiden Fällen die Form des Kreuzes. Die traditionelle »Beschwörungs«-Zeremonie verfällt der Lächerlichkeit und endet in einer Burleske, zumal weil die kirchlich-zeremonielle Machtgeste des Staberhebens mit der militärischen Interpretation derartiger Zeichen konfligiert und entsprechend kläglich scheitert.42 Der Geistliche meinte seine Beschwörung anbringen zu müssen, redete den Teufel heftig an, indem er seine Hände in kreuzenden Linien [kursiv, G.Oe.] über Francoeur bewegte. Das Alles empörte Francoeur, er gebot ihm, als Kommandant des Forts, den Platz sogleich zu verlassen. Aber der unerschrockne Philip eiferte um so heftiger gegen den Teufel in Francoeur und als er sogar seinen Stab erhob, ertrug Francoeurs militärischer Stolz diese Drohung nicht. Mit wütender Stärke ergriff er den kleinen Philip bei seinem Mantel und warf ihn über das Gitter, das den Eingang schützte, und wäre der gute Mann nicht an den Spitzen des Türgitters mit dem Mantel hängen geblieben, er hätte einen schweren Fall die steinerne Treppe hinunter gemacht. (43f.).
Ganz anders hingegen gestaltet sich der Opfergang, nachdem »Rosalie« ihrerseits sich entschließt, den Teufel, der ihren Mann angeblich beherrsche, »in ihm« zu »beschwören« (50). An die Stelle eines äußerlichen Zeremoniells tritt eine innere Glaubensgewißheit. Francoeurs »wahres [...] schönes Wort« der ersten Liebesbegegnung, »der Heiligenschein« komme aus Rosalies »Augen« (35), wird nun in dieser Schicksalsstunde wieder aufgegriffen und fortgeführt. Himmel und Sonnenstrahlen werden zur Metapher für den Zustand innerer Befreiung Rosalies. »Da verließ sie [ihr Kind] mit einem Seufzer, der die Wolken in ihr brach, daß blaue Hellung und das stärkende Sonnenbild sie bestrahlten« (52). Damit ist die szenische Abfolge und ikonographische Vorgabe des folgenden Geschehens plausibilisiert: Den vom Teufelswahn befallenen Mann »vor sich auf dem Festungswerk [...] und das Kind hinter sich schreiend]« von einer »Stimme« »innerlich« getragen, »zuih Himmel« blickend, erreicht Rosalie »drei Stufen von den Kanonen entfernt« den strategischen Punkt, an dem sie niederkniend die christliche Geste der Hingebung vollzieht, wäh42
Vgl. Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995.
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rend sich über ihr »das Feuer kreuzte« [alle Kursivierungen, G.Oe.] (53). Mit dieser kühnen Kreuzung von christlicher und militärischer Semiotik haben wir keineswegs die im Text lesbare Sequenz an sprachlich realisierten ornamentalen Evidenzbildern ausgeschritten. Die Katastrophe selbst findet ihre Zuspitzung in einer Konfrontation eines von Herzen kommenden Benehmens und einer im Verhältnis zu dem Lebenskontext abstrakten, nonverbalen Zeichendeutung. Der durch die Erzählung seines ehemaligen Kriegskameraden mißtrauisch gewordene Francoeur interpretiert das Verhalten seiner Frau gegenüber dem Gast nicht als »Artigkeit« des Gastgebers, »das Meiste« der Speisen und Getränke anzubieten (44), sondern als Zeichen einer gegen ihn gerichteten heimlichen Favorisierung des Kommandanten und der diesem Nahestehenden. An die Stelle einer situationsgebundenen Hermeneutik setzt Francoeur fanatisiert und abergläubisch auf das Zeichen einer ungerechten Verteilung. An die Stelle der Kontextdeutung oder kommunikativen Klärung tritt Francoeurs gebannter Blick auf ein die Scheidung symbolisierendes Zeichen. Eifernd spricht Francoeur zu Basset, dem Diener des Kommandanten: [E]uch suchte sie als einen Diener des Kommandanten zu gewinnen, darum füllte sie euren Teller, daß er Überfloß, euch bot sie das größte Glas Wein an, gebt Achtung, sie bringt euch auch das größte Stück Eierkuchen. Wenn das der Fall ist, dann stehe ich auf, dann fìihrt sie nur fort, und laßt mich hier allein. - Basset wollte antworten, aber im Augenblicke trat die Frau mit dem Eierkuchen herein. Sie hatte ihn schon in drei Stücke geschnitten, ging zu Basset und schob ihm ein Stück mit den Worten auf den Teller: Einen bessern Eierkuchen findet ihr nicht beim Kommandanten, ihr müßt mich rühmen! - Finster blickte Francoeur in die Schüssel, die Lücke warfast so groß wie die beiden Stücke, die noch blieben [kursiv, G.Oe.], er stand auf und sagte: Es ist nicht anders, wir sind geschieden! (44f.).
Rosalie kann dieses für sie völlig überraschende, aus allen sozialen Bezügen herausfallende, ichbezügliche, abergläubische, an Mantik erinnernde, zeichendeuterische Verhalten ihres geliebten Ehemanns nur aus ihrem Verstehenshorizont deuten: »Gott, ihn plagt der Böse« (45).43 Diese Interpretation führt erneut (wie schon angesichts der verfluchenden Mutter) zu dem Kernproblem der Erzählung, zu dem latenten, willentlich kaum zu steuernden Übergang von Alltags- zu wahnhaften und abergläubischen Vorstellungen, die nur durch Herzensglauben zu heilen sind.
III.
Aberglauben und Herzensglauben: Die Konzeption von Christian Thomasius
Spätestens an den Kreuz- und Knotenpunkten der Geschichte, die sich in ornamentalen Zeichen verdichten, wird ersichtlich, was sich schon bei der Sakralisierung Rosalies durch Francoeur und der Verteufelung durch ihre Mutter abzeichnete. Als zentrales Thema der Erzählung kann das Verhältnis von Her43
Vgl. zum Problem von Mantik und Omen: Rudolf Wittkower: Die Wunder des Ostens: Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In: Rudolf Wittkower: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1977, S. 369.
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zensglauben und Aberglaube gelten. Zurecht hat man die Aktualität dieses Problemfeldes in der von Arnim rezipierten bayrischen Erweckungsbewegung und der von ihr ausgehenden Reaktivierung des Teufelsglaubens gesehen.44 Der aufgeklärte Romantiker Arnim geriet dadurch in eine dilemmatische Situation. Auf der einen Seite konnte er der in der Erweckungsbewegung vorgeführten schwärmerisch mystischen Gottesschau und dem alle Vernunft ausblendenden Teufelsglauben nichts abgewinnen, auf der anderen Seite wußte er, daß eine rationalistische Verdrängung des unmerklichen und willentlich kaum steuerbaren Übergangs von verständigen zu abergläubischen Vorstellungen eine die Kontingenz darstellende Kunst überflüssig machen würde. Eben in dieser Gefahr war aber die »Lebensphilosophie« der »zweiten Aufklärung«. Sie weiß zwar um den Irrtum und die Kontingenz der Geschichte, betont aber gerade deshalb als Gegengewicht die Selbstorganisation und Autonomie des Individuums auf besonders nachdrückliche Weise. 45 In dieser dilemmatischen Situation greift Achim von Arnim auf eine in der Aufklärung von Christian Thomasius formulierte Theorie des Glaubens und Aberglaubens zurück. Thomasius entwarf das Konzept einer die lutherische Gnadenlehre einschließenden »natürlichen Religion«, um ihr eine Aberglaubenstheorie entgegenzustellen.46 Die Geschichte des »tollen Invaliden« läßt sich mit Hilfe dieses Theorieentwurfs unter Einbeziehung der in der Erzählung vorkommenden entscheidenden Stichworte »glückliche Stille«(35), »schuldlos« (36), »Vertrauen« (37), und »Eingebung« (49) präzis nacherzählen. Gegenüber verschiedenen Formen schwärmerischen Offenbarungsglaubens verteidigt Thomasius einen praxisorientierten Herzensglauben.47 Gottesliebe ist in seinen Augen eine nicht Pflicht und Gebot folgende Tugend, sondern eine innerer Trieberfüllung folgende Menschenliebe, die in »kindlichem Vertrauen und Ehrfurcht« ihren Ausdruck findet.48 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Rosalies unbewußten Trieb zu helfen. An einer entscheidenden Weichenstellung der Erzählung sucht Rosalie in größter Not nach einer Orientierung. In dieser Situation wird in fast überscharfer Betonung die Möglichkeit einer äußerlichen göttlichen Offenbarung zugunsten eines innerweltlichen, sich der Gnade Gottes anvertrauenden Herzensglaubens verworfen. Rosalie, so heißt es im Text, »brachte ihr Kind zur Ruhe, während sie selbst mit sich zu Rate ging und zu Gott flehte, ihr anzugeben, wie sie ihre Mutter den Flammen und ihren Mann dem Fluche entreißen könne. Aber auf ihren Knien versank sie in einen tiefen Schlaf und war sich am Morgen keines Traums, keiner Eingebung [Kursivierungen, G.Oe.] bewußt« (49). Auch die Darstellung des Ge44 45 46
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Wingertszahn 1990, vgl. Anm. 29, S. 132f. Garber 1997, vgl. Anm. 34, S. 30. Pott 1992, vgl. Anm. 16, S. 78ff. Die folgenden Ausführungen zu Thomasius' Konzeption von Aberglauben und Herzensglauben stützen sich auf die wichtige Arbeit von Martin Pott. Die zentrale Quelle in diesem Zusammenhang ist die 1692 erschienene Einleitung zur Sittenlehre. Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen. Ebd., S. 79. Ebd., S. 94.
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mütsglücks in den Augenblicken der entstehenden (35) und später wiedererreichten Liebe (53) entspricht aufs Genaueste der von Thomasius vorgetragenen Liebesethik, der »Liebesnatur des Menschen«, die ihre Gemütsruhe nicht so sehr aus dem »individuellen Glücksstreben« [kursiv, G.Oe.], sondern aus dem »Streben nach Vereinigung mit anderen Menschen« erreicht.49 Diesem dezidiert nicht theologischen, sondern philosophischen Ansatz entspricht die in der Erzählung bemerkbare artistische Tendenz, die christliche Ikonographie, ζ. B. den »Heiligenschein« als vom Menschen innerlich erzeugten darzustellen. Dieser Theorie einer innerweltlichen, ethischen, wenn auch auf göttliche Gnade angewiesenen »vernünftigen Liebe< stellt Thomasius eine Theorie des Aberglaubens als »unvernünftiger Liebe< entgegen.50 Letztere erschließt sich aus der thomasianischen Affektenlehre. Der Fluch der Mutter, die die Tochter als Leimrute für heimliche Hazardspieler mißbraucht, verweist genau auf das von Thomasius anvisierte negative Milieu der von ihren Leidenschaften, insbesondere von der Laster-Trias Wollust, Ehr- und Geldgeiz beherrschten Menschen.51 Die grotesk-physiognomische Verzerrung des Gesichts der Mutter und die dazu korrespondierende Verdrehung ihrer Augen (»ihre Augen kehrte sie in sich, sie sahen ganz weiß aus«, 36) ist der präzise Ausdruck der von Thomasius beschriebenen »Anthropopathie«, der »Perversion vernünftiger Gottes- und Menschenliebe«.52 Die Folgen sind für die Mitmenschen fatal. Nach Luther und Thomasius verleugnet »der Aberglaube nicht allein Gott«, sondern bringt »dem Nächsten, dem Mitmenschen, moralischen Schaden bei«.53 Die folgenschwere Belastung des jungen Ehepaares durch den Fluch von Rosalies Mutter läßt sich mit Hilfe des thomasianischen Konzepts »geselliger Vernunft« bzw. ungeselliger Unvernunft und »vernünftiger Liebe« ebenfalls plausibilisieren. Melancholie und Aberglauben, die Rosalie nach der Verfluchimg durch die Mutter befallen, läßt sich danach auf das »Vorurteil menschlicher Autorität« zurückführen, das nach Thomasius besonders leicht jungen Menschen widerfährt.54 Der dadurch eintretende Verlust an »Vertrauen« (37) führt konsequenterweise zur Störung der »auf Verständigung angelegten (kommunikativen) Vernunftnatur des Menschen«.55 Die seelische Disposition zu dem outrierten Verhalten Francoeurs hinwiederum wird ausgelöst durch die von dem »alte[n]« Geistlichen bei der Eheschließung beschworene ungute Verbindung von Liebe und Zwang, »alle [...] Not« und »alles Unglück gemeinsam [zu] tragen« (37).56 Diese partnerschaftliche Unfreiheit zerstört nicht nur das zentrale Axiom dieser Liebesethik, das »Vertrauen« (ebd.), es verführt auch zu dem der Geldfixierung korrespondierenden kaufmännischen 49
Ebd., S. 84. W Ebd., S. 82ff. 51 Ebd., S. 97. 52 Ebd., S. 98. » Ebd., S. 99. 54 Ebd., S. 112. 55 Ebd., S. 84. 56 Vgl. ebd., S. 82. Thomasius betont in diesem Zusammenhang die »Nichterzwingbarkeit vernünftiger Liebe«.
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Maßnehmen und Wägen. So spitzt, wir haben es schon erwähnt, der mißtrauisch gewordene Francoeur seine Entscheidung, sich von seiner Frau zu scheiden auf deren Verhalten zu, dem Gast ein größeres Stück Eierkuchen zu geben als ihm, ihrem Ehemann. Dabei verkennt er das lebensweltlich intakte, weil dem Gast gegenüber höfliche Verhalten seiner Frau. Dem problematischen Teilungsauftrag des die Ehe schließenden Geistlichen entsprechend wägt und mißt er nun die Leistungen der Partnerin in falscher, nach Thomasius eben abergläubischer Praxis: »sie hat unendlich viel für mich getan und gelitten, sie hat mir unendlich wehe getan, ich bin ihr nichts mehr schuldig, wir sind geschieden!« (43). Mit der These eines Rekurses Arnims auf die thomasianische Kommunikationstheorie, Liebesethik und Aberglaubenstheorie gerät die hier vorgetragene Interpretation in Gegensatz zu Ansätzen, die in der Erzählung ausschließlich Ambiguitätsstrategien am Werke sehen. Die Zustimmung zur Ablehnung einer religiösen theologischen Deutung der Erzählung im engeren Sinn darf keineswegs die »Unbestimmtheit des Textes« programmatisch festschreiben wollen.57 Die Polyperspektivität des Textes, die milieubedingte Aspekthaftigkeit der Sichtweisen der verschiedenen Protagonisten steht keineswegs in Widerspruch zur Abarbeitung, ja Widerlegung bestimmter Ansichten im Verlauf der Erzählung. So wird die Überholtheit des kirchlichen Exorzismus deutlich vorgeführt und resümiert (51); so wird die Hoffnung auf eine göttliche, äußerlich sichtbare, Offenbarung verneint (49). Die latente Disposition zu abergläubischen Vorstellungen wird dem Leser ebenso eindringlich deutlich gemacht, wie die Heilung von Aberglauben durch Herzensglauben überzeugend dargetan wird. Es ist also keineswegs so, daß der Text durch seine »Unbestimmtheit« »die zeitgenössische Unsicherheit über die Beziehung von Transzendenz und Diesseitigkeit« repräsentiere.58 Jenseits einer »Alternative« von »metaphysischem Zusammenhang« oder bloß »zufällige[r] Relevanz« wird hingegen eine die lutherische Gnadenlehre nicht verleugnende Vernunftlehre, ein innerweltlich ausgerichteter Herzensglauben ernstgenommen. Ganz ohne Ironie oder Ambiguität spricht Francoeur in Anlehnimg an biblische Worte zu seiner ihn rettenden Frau: [W]as ist sterben? Starb' ich nicht schon einmal, als du mich verlassen und nun kommst du wieder und dein Kommen gibt mir mehr, als dein Scheiden mir nehmen konnte, ein unendliches Gefühl meines Daseins, dessen Augenblicke mir genügen. (S3).
Die offenbleibende Frage nach den Ursachen des outrierten Verhaltens des Invaliden Francoeur, ob dies bloß medizinisch anatomische Ursachen oder auch psychische Faktoren gewesen seien, darf nicht verwechselt werden mit der klaren Botschaft von Liebe und Vertrauen, die jenseits des kaufmännischen >Do ut des< Prinzips zu suchen und zu finden ist: »und dein Kommen gibt mir mehr, als dein Scheiden mir nehmen konnte.« 57
s»
Wingertszahn 1990, vgl. Anm. 29, S. 134. Die hier vorgetragenen kritischen Überlegungen zu Wingertzahns Studie gehen von einer hohen Wertschätzung dieses methodenreflektierten Ansatzes aus. Ebd.
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Günter Oesterle
Die Erzählung »Der tolle Invalide von Ratonneau« startet, so können wir zusammenfassen, das kühne Experiment eines ausgeklügelten Balanceakts gegenläufiger Erzählbewegungen zwischen Novelle und Legende. Mit der Transformation der anthropologisch fundierten Anekdote zur poetischen Novelle leistet die Erzählung einen Beitrag zur ästhetischen Modernisierung der Literatur; mit dem Ausgleich von Novelle und Legende versucht sie zugleich eine Modernisierungskorrektur. Sie führt ein nicht minder spannungsreiches Netz an einerseits milieubedingter Polyperspektivität andererseits von mit Ornamenten arbeitenden Totaleindrücken vor. Sie zeigt schließlich in einem ästhetischen Parallelismus wie sich einerseits das Naive von abergläubischen Vorstellungen bis zum vergeistigten Herzensglauben entwickeln kann59 und andererseits wie sich das Komische vom heiter-humoresken Spiel bis zur gewalttätigen destruktiven Groteske zu steigern vermag.60
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Achim von Arnim greift in der Darbietung der Metamorphosen des Naiven auf die begriffsgeschichtlich extrapolierbare Mehrdeutigkeit der Naivität zwischen liebenswürdiger Unschuld aber auch roher Dummheit zurück. Vgl. Artikel: »Naiv, Naivität«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 6. Basel 1984, Sp. 360. Vgl. Günter Oesterle: »Illegitime Kreuzungen«. Zur Ikonität und Temporalität des Grotesken in Achim von Arnims »Die Majoratsherren«. In: Etudes Germaniques 1988, S. 25-51.
Bernd Fischer
Achim von Arnims »Wintergarten« als politischer Kommentar
I. »Überaus ein edel und hübsche Meinung ist's, sich in dem Spiegel der alten Historien, die uns von den Voreltern verlassen sind, zu besehen, uns dadurch zum Guten zu wenden, das Üble zu fliehen, Herzen und Gedanken in den Dienst des Allmächtigen zu richten« (3, 74).' So beginnt Arnim seine »Einführung der Leser« in den »Wintergarten«. Es handelt sich um ein Zitat aus »Von den Exempeln der gotsforcht und erberkeit« des Ritter von Turn. Das französische Original entstand 1371/72, die Übersetzung des Marquard vom Stein erschien 1493 in Basel. Arnim stellt seinen »Wintergarten« in die Tradition der poetischen Traditionsvermittlung, die, wie dieses Zitat unter Beweis stellen soll, mindestens bis ins Mittelalter zurückreicht. Günter Oesterle hat diese kulturpolitische Orientierung, die er Arnims literarischem Bemühen in diesem Zeitraum insgesamt zuschreibt, mit guten Argumenten vom radikalen Traditionsbruch der Französischen Revolution abgegrenzt. Wenngleich die Sachlage vermutlich komplizierter ist, insofern auch die Revolution ihre eigene politisch motivierte Traditionsvermittlung und Erbediskussion betreibt, kann die Gegenüberstellung dennoch wichtige Aspekte des Aminischen Denkens erläutern. »Nur eine vorausgreifende Reform bietet die Voraussetzung, daß, nach dem chirurgischen Eingriff der Französischen Revolution und ihrem guillotinenhaften Schnitt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Wertvolle der Vergangenheit für die Zukunft wieder fruchtbar gemacht werden kann.«2 In Arnims Worten: »Was untergegangen muß nicht aus dem Grabe zitiert werden, aber was lebendig begraben, muß aufgeweckt werden« (6, 203). Die neuere Arnimforschung hat diese Position zumeist in die unmittelbare Nähe der preußischen Reformer gerückt: als auf politischer Vernunft basierendes, realistisches, evolutionäres Reformprogramm. Doch hören wir Adam Müller, der sich als propagandistischer Vertreter der alten Ständegesellschaft und Gegner der neuen Freihandels- und Marktordnung à la Adam Smith und Christian Jacob Kraus publizistisch in eindeutigen Gegensatz zu den Stein/Hardenbergschen Reformen stellt: In einer Zeit, wo die Satzungen der Väter größtenteils umgestoßen werden, wo heilig Altes mit dem geistlos Veralteten in dieselbe Gruft begraben wird, wo eine große Ver-
Ich zitiere nach Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick u. a., Frankfurt am Main 1989-1994 Günter Oesterle: »Commentar dieser unbegreiflichen Zeit«. Achim von Arnims Beitrag zum komplexen Verhältnis Frankreich - Deutschland«. In: »Die Erfahrung anderer Länder«. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Hrsg. von Heinz Härtl und Hartwig Schultz. Berlin 1994, S. 25-38; hier S. 31.
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Bernd Fischer wirrung und Vermischung aller Dinge, Gesetze, Stände und Religionen, kurz, ein allgemeiner plebejischer Zustand herbeigeführt werden soll, in solcher Zeit kann eine Tischgesellschaft ihre gründliche Protestation gegen die ephemeren Neuerungen der Tageswelt nicht besser zu erkennen geben, als durch Verbannung der Juden, dieses Widersachers aller Ordnung, dieses neugierigen und neuerungssüchtigen Volkes. 3
Auch dieses Denken stützt sich auf den Gegensatz von heilig Altem und geistlos Veraltetem. Müllers Worte beziehen sich auf die Christlich deutsche Tischgesellschaft, als deren Gründer Arnim gilt und in deren berüchtigten »Scherz«-Reden Philister und Juden zum imaginären äußeren Gegner gestempelt und zugleich Projektionsflächen der eigenen Unsicherheit über verlorene ständische Einbindung und stellungslose Intellektualität werden.4 Die relative Unentschiedenheit der Arnimforschung, ihren Autor Stein/Hardenberg oder Müller zuzuordnen, mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß politische und gesellschaftliche Positionen sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts in ungewohntem, sich beschleunigendem Flux befinden, daß zahlreiche Autoren politische Positionen im raschen Verlauf der politisch-militärischen und ökonomischen Entwicklungen gewissermaßen versuchsweise annehmen. Die Zusammenstellung politischer Äußerungen Arnims aus dem Jahre 1806, die im 6. Band der Arnimausgabe des Klassikerverlags vorgeschlagen wird, macht das sehr augenfällig. Auf die Anzeige des neuen Wochenblatts »Der Preuße«, dessen Titel emphatisch mit dem Argument verteidigt wird, daß Deutschland gegenwärtig nurmehr in Preußen noch sei (6, 188), folgen unmittelbar die zwischen Resignation und Reformeifer oszillierenden Angriffe auf die antiquierte Verkommenheit des preußischen Staats-, Wirtschafts- und Militärwesens, dem die Schuld für die Niederlage zugeschrieben wird: »Es mußte ein Krieg sein« und »Das Unglück ist geschehen« (6, 189-195). Direkt danach kommen Arnims vielleicht radikalste Reformschriften: »Indem ich die Feder ansetzte« und »Was soll geschehen im Glücke« (6, 195-205). Ich werde unten etwas auf dieses merkwürdige Reformprogramm eingehen. Ein weiteres Verstehensproblem liegt auf unserer Seite, nämlich darin daß die uns heute geläufigen politischen Lager und Trennungslinien um 1810 noch nicht deutlich entfaltet, sondern allenfalls gerade erst im Entstehen waren, und entsprechend schlecht greifen. Es leuchtet in den 1990er Jahren zwar wieder ohne Mühe ein, daß konservative Orientierungen progressiv und überkommene progressive Diskurse konservativ sein können. Arnim hat aber wohl überhaupt noch nicht in dieser Oppositionalität gedacht bzw. 3
4
Zitiert nach Günter Oesterle: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum, 1992, S. 55-89, hier S. 67. Neben Oesterles informationsreichem Aufsatz vgl. auch Gunnar Och: Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindl. Blutschuld-Mythen durch die Romantiker. In: Aurora 51, 1991, S. 81-94. In mancher Hinsicht weist der Identitätsterror in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, der ethnische und religiöse Abgrenzungen festschreiben und bloß juristisch fundierte und geregelte Zugehörigkeiten durch Gesinnungsidentität ersetzen will (darum der perniante Dualismus von Geist und Buchstabe in Programmen einer romantischen Kulturpolitik) übrigens Parallelen zum heutigen »illiberalen Multikulturalismus« auf, wie er von K. Anthony Appiah bezeichnet wird. K. A. Appiah: The Multiculturalist Misunderstanding. In: The N. Y. Review of Books, 15, 1997, S. 30-36, hier S. 34.
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versuchte gerade ihrer Entfaltung durch konkrete Alternativen und den Dialog (ζ. B. in seiner »Freß«- und Diskussionsgesellschaft) zu wehren. Daß dieser frühe deutsche Stammtisch die unseligsten Aspekte der Geschichte des deutschen Stammtisches bereits zutagetreten läßt, darf dabei nicht übersehen werden. Arnim hat zu den politischen Aggressionen eines kulturpolitischen Lagerdenkens beigetragen, obgleich er in seinen schriftstellerischen und kulturpolitischen Unternehmen immer wieder versuchte, Alternativen dazu zu entwickeln. Er ist mit diesen Versuchen, wenn auch nicht ästhetisch, so doch weitgehend politisch gescheitert. Der Grund liegt meines Erachtens in erster Linie darin, daß der romantische, gesellige »Frey«- und Gesinnungsstaat ohne Interessengegensätze, aber »in Opposition zu den Hardenbergschen Reformen« (Oesterle 1992, S. 79) keine politisch tragfähige Vernunft entwickeln kann, daß Arnim wie die meisten Romantiker kein ausreichendes Verstehen für die politischen Strukturen eines verfassungsmäßig garantierten, parlamentarischen Staatswesens entwickelt und darum u. a. nicht versteht, daß domestizierte Oppositionalität (Parteienstreit) und Diversivität einem solchen Staatswesen unbedingt notwendig ist. Der entscheidende Punkt ist bereits hier der ambivalente Umgang mit der Verfassungsfrage. Die historische Rechtswissenschaft etabliert sich in diesen Jahren als Antwort auf die revolutionären Verfassungen und den Universalitätsanspruch des Code Napoleon, wobei die prinzipielle Notwendigkeit einer Verfassung für die deutschen Staaten von den meisten Romantikern keineswegs geleugnet wird. Arnim kennt ζ. B. die englische Gesetzgebung und klagt in »Indem ich die Feder ansetze« über den Mangel an fortschrittlichen Gesetzen und das Fehlen eines adäquaten Gesetzgebungsverfahrens in Preußen: »die Gesetzgebungskommission war eine Nebenbeschäftigung sehr beschäftigter, ausübender Rechtsgelehrten« (6, 195). »Dieser große Selbstmord, die Auerstädter Schlacht, war in allen ihren einzelnen Verhältnissen und Folgen die vollkommenste Rechenprobe, daß unser Verfassungs-Exempel durch und durch falsch sei, eine ganz notwendige, gewaltsame Probe« (6, 196). Wie viele seiner Zeitgenossen entwickelt auch Arnim die Reform des Staates aus der Reform des Militärs. Die Auerstädter Niederlage bietet den unwiderleglichen Beweis, daß die aufgrund ihres Standes und Alters eingesetzten adligen Offiziere durch fähige und verdienstvolle Soldaten ersetzt werden müssen. Daraus folgt: Der Erbadel muß einem Verdienstadel weichen, der im Prinzip allen offensteht. Das Volk, soll es für den Befreiungskampf begeistert werden, muß sich in Freiheit mit dem Staat identifizieren. »Der König erklärt das ganze Volk adelig« (6, 199). Arnims Denken rückt hier nahe an Strukturen eines republikanischen Verfassungsstaates, und doch meint er im Prinzip etwas ganz anderes. Denn der philosophische und ideologische Kern des von ihm anvisierten Staatswesens liegt nicht im Gedanken der Freiheit, Gleichheit und unveräußerlicher Rechte des Individuums, sondern... Arnim hat Mühe diese entscheidende Leerstelle seines politischen Denkens zu füllen. Der Staat schien lange äußerlich und innerlich gar nichts zu wollen und konnte daher nichts, als er etwas Großes unternahm; in dem allgemeinen Schlafe waren noch Arm und Bein besonders eingeschlafen und jeder einzelne fühlte daher ein unbequemes Stechen, was vielleicht mehr als alle heiligen Zwecke zum Kriege stimmte. [...] Was sind
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Bernd Fischer heilige Zwecke? Nur die welche uns mit Notwendigkeit, gleichsam in geistigem Bann bis zum letzten Lebenshauche an die Hervorbringung einer Erscheinung bindet. Haben wir einen solchen Zweck? Ich glaube noch daran, ich glaube, so wunderbar Preußen aufgegangen, so wenig wird es auf immer verlöschen, eher kann der Morgenstern vom Himmel gerissen scheinen, weil er am Tage verschwindet. Aber haben wir die Zwecke jetzt, unter dieser Regierung? Kein Zweifel, sobald die Regierung von diesem Zwecke ganz durchdrungen, auch daran glaube ich noch, sei es im Frieden, sei es im Kriege, denn es hieße eben so gut sein Dasein aufgeben oder die heiligen Zwecke, ungeachtet ein Teil unsres Staates jetzt in Selbstmord gefallen, so glaube ich das noch nicht vom Ganzen (6, 195f.).
Der preußische Staat ist heiliger Zweck in sich selbst. Es geht für Arnim entsprechend nicht nur darum, Preußen von Napoleon zu befreien, sondern auch darum, nicht von einer fremden Macht, ζ. B. Rußland befreit zu werden. »Endlich kann freilich unser Land durch Russen vielleicht ganz gelüftet yverden, aber ohne eine völlige Ausbildung nach dem größten Sinne unsrer Zeit, würde es dann zu einer Provinz von Rußland dem Wesen nach herabsinken« (6, 197). Alle Reformen, der Anschluß an den Zeitgeist in Politik, Militär und Ökonomie, die Arnim in den Blick nimmt, beruhen auf dem gefühlsgeladenen Zirkelschluß, daß der heilige Zweck des Staates der Staat selbst sei (womit Arnim keineswegs Fichtes verstiegene philosophische Begründungsversuche einer anderen Moderne meint, die ein paar Jahre später entstehen). Es kann darum nicht verwundern, daß Arnim, nachdem er im 1. Hauptpunkt von »Indem ich die Feder ansetze« daß ganze Volk adeligt und im 2. Hauptpunkt alle waffenfähigen Männer zu Soldaten erklärt, dem Volk bereits im 3. Hauptpunkt den Stamm einer neuen Rittersschaft vor die Nase setzt: eine neue Ober- und Führungsschicht (Offiziere, Richter, Räte, Professoren), die einzelne »Erfinder« aus Künsten, Handwerken und Wissenschaft in ihre Reihen wählt. Dieser neue »Stamm der Ritterschaft« kann weiter eingeteilt werden in »Großritter« und »niedere[n], dienende Brüder«, die keinen Degen tragen dürfen und »nicht das rote Kreuz dieses neuen Deutschen Ordens, der sein Gesetzbuch nach dem Alten im Geiste der Zeit transfiguriert« (6, 199). Man kann Arnims späte Einsicht nur bestätigen: »Mein Plan war darum nicht so praktisch, weil er die Adelsidee voran setzte, die vielen ein Aergerniß.«5 Es scheint mir wichtig, diese Grenzen des Arnimschen Denkens im Auge zu behalten, wenn wir seine politische und kulturpolitische Agenda als bedenkenswertes Reformprogramm beschreiben: von der Revolution lernen und ihre erfolgreichen Innovationen und Umwälzungen reformatorisch nach- und wenn möglich überholen - ζ. B. Heeresreform, Verdienstadel statt lähmender Ständebürokratie, Anschluß an die europäische Wissenschaftselite usw. Hinzukommt, daß Arnim (wie nahezu alle Romantiker) die Bedeutung des (ja eben in der Karikatur des Philisters zum absoluten Gesinnungsfeind denunzierten) Bürgertums und einer diese Klasse zur politischen Partizipation befähigenden Gesetzgebung verkennt. Er fällt damit letztlich hinter den Gesellschafts- und Kulturbegriff des späten 18. Jahrhunderts (ζ. B. Herders) zurück.
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Zitiert n. Jürgen Knaack: Achim von Arnim - Nicht nur Poet. Darmstadt. 1976, S. 16.
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Was das häufig vom Vorbild des Auslands angeregte Reformvorhaben auch sein mag, Arnim versucht immer ganz konkret einer deutschen oder vorrevolutinären europäischen Tradition verpflichtet zu bleiben - davon eben handeln seine literarischen Entwürfe. Immerhin bleibt Arnim, trotz seiner Enttäuschung über Hardenberg und trotz seiner politisch fragwürdigen Parteinahme für Adam Müller im Streit um Christian Jacob Kraus' »StaatsWirtschaft«, dem Reformgedanken verpflichtet, und läßt sich auch nicht zur Emphase des totalen Untergangs und Neuanfangs hinreißen. Selbst 1809, zum Zeitpunkt des französisch-österreichischen Krieges, ist er kaum vom antifranzösischen Haß eines Fichte der »Reden an die deutsche Nation«, eines Kleist der »Hermannsschlacht« oder eines Arndt infiziert. Noch scheint er es der Mühe wert zu erachten, sich mit deren divergenten philosophischen, polemischen oder radikalästhetischen Visionen einer alternativen Moderne auseinanderzusetzen, die eine preußische bzw. deutsche Nation im Zentrum eines erneut radikal umgewälzten Europas anvisierten. Immerhin finden sich zu Beginn des 3. Winterabends folgende Anspielungen aus dem Munde des Gesandten, der u. a. die Intellektualität im Umkreis der idealistischen Moderne zu verkörpern scheint. »Wir Deutsche haben mancherlei Tugend, es fehlt uns nur gerade diese eine die wir brauchen können, die Tugend der Rache [...] und sie werden fühlen, daß die Rache kein Laster ist, wie die Moralisten meinen, sondern recht verstanden das Schwert der ewigen Gerechtigkeit« (3, 153). Das liest ich wie eine einsinnige Interpretation von Kleists Propagandaschriften aus demselben Jahr. Der Gesandte fährt fort: [..] entsetzlich wird mir wenn sie dem Deutschen die Ehre absprechen, die ohne Stockschläge im Herzen schlägt, oder ganz träge sich aufgeben zu aller Besserung und rufen, ja wäre die Städteordnung in England da ist Bürgersinn [...] aber bei uns ist höchstens noch auf die Kinder zu wirken. Aber wisset, daß die Kinder noch dreifach schlechter als wir geraten, wenn wir uns zum Besseren aufgeben, denn nur das lebendige Beispiel erzieht, das gleichzeitig vom Alter zur Jugend zum Alter übergeht, keine Pestalozzische Schule für sich allein. Einen Menschen zum Menschen erziehen zu wollen ist eitel menschlicher Kram (3, 154).
Der Gesandte setzt sich hier explizit von Fichtes »Reden an die deutsche Nation« ab und zwar auf eine Weise, die wiederum an Kleist erinnert. Arnim glaubt von der Französischen Revolution lernen zu können, weil er selbst kein Revolutionär sein will. Fichte z.B. glaubt dagegen in seiner mittleren Phase nichts mehr von Frankreich und der voridealistischen Aufklärung lernen zu können, weil er selbst eine nach der Anlage seiner Philosophie ins Werk gesetzte Revolution propagiert (»Der geschloßne Handelsstaat«, »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, »Die Reden an die deutsche Nation«), Eine der, wenn auch nicht zeituntypischen, Charakteristiken von Arnims kulturpolitischem Programm liegt in der expliziten Bedeutung, die er der Tradition einer vermeintlichen - aber weitgehend erst noch zu erfindenden Volkskultur beimißt. Es handelt sich hier nicht allein um bildungspolitische Konzepte oder um die Entdeckung oder Propagierung kultureller Strategien zur Bildung von nationalem Identitätsbewußtsein. Vielmehr liegt der Grund in Arnims Auffassung von den Möglichkeiten und Grenzen einer kulturpolitischen Reform. Es scheint, als sei sein oft beschriebenes Mißtrauen am Wahr-
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heits- und Zukunftsanspruch jeglicher intellektueller Systematik in der Tat so ausgeprägt, daß jede Erneuerung sich zunächst aus einer ihr gemäßen populären Tradition zu legitimieren hat. Reform ist somit weniger Umsetzung einer wie auch immer herbeiphilosophierten Moderne, sondern kritische Auswertung, Aneignung und Umgestaltung überkommener Werte. Die Bewährungsprobe zukunftsorientierter Ideen und Programme in volkskulturellen Traditionen besteht bei Arnim häufig in einer Art ästhetischen Abtastens. Es geht weniger um historische Logik oder Stimmigkeit als um die Erkundung von gefühlsmäßigen Reaktionen auf andere Lebenswelten und -formen, um die Begegnung mit historischen Mentalitäten, Vorlieben und Ästhetiken. Deshalb wird ζ. B. zu Beginn des 6. Winterabends der Wert von Memoiren gegenüber dem Tagesgeschwätz der Zeitungen und der objektivierten Geschichtsschreibung betont. Arnim zielt auf die Erkenntnise, die sich aus der privaten, intimen Erlebnissphäre gewinnen lassen. Der Gesandte lobt Massenbachs Lust, Memoiren oder Erinnerungen während eines tätigen Lebens zu sammeln und darzustellen, sein Beispiel wird eine Kunst fordern, ohne welche die schönste Tat, nur zum Einfall eines Einzelnen und nimmer zur Entwicklung eines Volkes wird, die noch Jahrhunderte fortlebt, eine Kunst die bei uns eben so selten, als unter den Franzosen häufig ist. Es ist eine seltene Kraft etwas Erlebtes darstellen, weil in der Geschichte das Beste meist nicht wahr ist (3, 272).
Daß dieses Bekenntnis zur Wahrheit individuellen Erlebens darüber hinaus einen Historismus befürwortet, der sich gegen die zeitgenössische idealistische und universalistische Geschichtsphilosophie stellt, mag folgendes Zitat andeuten, das dem 8. Winterabend vorausgeht. »Die Jahrtausende, die ich voraus zu übersehen glaubte, schienen mir so leer wie ein ewiger Kalender, ich hatte das Einzelne in der Geschichte achten gelernt, und wie ich sonst nur eine einzige Aussicht in der Welt, die vom Chimborasso glaubte, so befriedigte mich jetzt allein der kleine belebte Winkel, den ich ganz erkennen konnte« (3, 326f.). In einem der Schlußtableaus des »Wintergartens«, wird dieses Bild dann wieder um eine universale Perspektive ergänzt. Erst aus der Sicherheit und Geborgenheit einer sinnerfullten, überschaubaren Ordnung ermöglicht sich der produktive Blick in die Welt. »Doch verweilet endlich der Blick am liebsten auf der fernen, zwischen dem Schloß und dem Walde weit eröffneten, Welt. [...] diese ungeahndeten Weiten alle mit uns zu einem Leben verbunden« (3, 414).
II. Die »Einführung der Leser« in den »Wintergarten« endet mit einem eindringlichen Appell: »Tausend Leser wie ihr, teilnehmend und gütig, und die deutsche Lesewelt wäre nimmermehr verloren und verraten« (3, 81). Es kann, angesichts der Dedikationen am Ende des »Wintergartens«, wohl kaum ein Zweifel bestehen, daß Arnim bei diesen teilnehmenden und gütigen Lesern nicht zuletzt an Brentano gedacht hat. Hier nun ist die tatsächliche Reaktion dieses Lesers auf die Lektüre des »Wintergartens« (Brief von Anfang Mai 1809 an Bettine, die das Buch noch nicht erhalten hatte):
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Ach er hat so schöne alte feine Familienwäsche, so manches liebe Hemd von interessanten Freundinnen gemacht, so manchen schönen welken Strauß von lieben Händen, so manche Kugel aus dem Beine verstorbener Krieger geschnitten, alte Einladungsbillets zu schönen Zirkeln und fleisig gearbeitete Schulprogramme seiner Jugend in seinem Koffer, warum hat er diese nicht ausarbeitend in Beete gereiht, und klar dem Leser gegeben. Aber da sind die verfluchten kuriosen Bücher, alte und neue, die ich ihm gegeben, und seine alten Landschaften, und einige himmellange Gedichte von ihm dazwischen geknittert, und ich ärgerte mich, denn es ist manches da, waß ich gern reiner und gerechter der Welt wiedergegeben hätte. Die Verbindung der Geschichten ist herlich von ihm ersonnen, ganz einzig vortreflich ausgeführt, und unbegreiflich ist es wie ein Mensch, der so einzig gehalten und fein erschaffen kann, ein so verfluchtes Zusammenknittelungswesen treibt (3, 1095).
Brentano glaubt, daß Arnim allerlei Persönliches zum Zeitgeist zu sagen hat und es deutlicher und klarer hätte sagen können, daß aber seine Adaptionen der »alten und neuen Bücher« weder dem zeitpolitischen Anliegen noch diesen selbst gerecht geworden seien. Was Brentano mit der feinen Familienwäsche, den schönen Zirkeln, den gefallenen Kriegern und fleißig gearbeiteten Schulprogrammen meinen mag, läßt sich vielleicht als engagierte Haltung beschreiben, die von geradliniger, rational pragmatischer Erziehung, familiärer, regionaler, ständischer Verpflichtung und protestantischer Handlungsethik geprägt ist. Ich denke, Brentano hat damit eine der spezifischen Charakteristiken von Arnims Literatur gut getroffen. Es kann freilich kein Zweifel bestehen, daß Arnim seinen in diesen Jahren vielleicht noch immer intimsten Leser genau da verliert, wo er glaubt, kulturpolitisch bedeutende Kunst zu schaffen - im »Zusammenknittelungswesen.« Er verliert auch einen anderen derzeit noch gutmütigen Leser, dem er doch aus dem Buch mit Erfolg und wachsender Sicherheit vorgelesen hatte, an eben demselben Punkt. Von Goethe berichtet Brentano folgende Reaktion: »Leider, sagte er, streift dieser ungemein geistreiche und talentvolle Dichter oft so plötzlich an Wahn und Traum, daß wir selbst, die ihn doch alle kennen und lieben, ihn aus dem Gesichte verlieren« (3, 1096f.). Görres gegenüber liest sich der Bericht folgendermaßen: »Wenn wir, die wir ihn kennen, lieben und hochschätzen, von dieser unangenehmen Empfindung gepeinigt werden, wie darf er sich betrüben, daß andere ihn aus solchem nicht kennen, lieben und hochschätzen lernen werden« (3, 1097). Die zeitgenössischen Rezensionen sollten Goethe recht geben (vgl. 3, 1106-1117). Sie zeigen auf, daß der »Wintergarten« seit seinem Erscheinen ein hohes Maß an Unsicherheit, bisweilen gar Unbehagen oder Ärger provoziert hat. Die Unsicherheit betrifft das poetische und schriftstellerische Talent des Autors, mangelnden Formwillen, unzureichende Disziplin und fehlenden Respekt vor der organischen Qualität der adaptierten Texte und vor dem kulturhistorischen Zeitgeist ihrer spezifischen Entstehungsgeschichten. Die neuere germanistische Auseinandersetzung mit dem »Wintergarten« hat sich weitgehend apologetisch oder wertenthaltend auf eine Position zurückgezogen, die den Zeitgenossen offenbar auch bekannt war, aber mit weniger Überzeugung diskutiert wurde. Jörn Göres Dissertation von 1956 mag für die Betrachtung des »Wintergartens« in der Nachkriegsgermanistik federführend gewesen sein. Er deutet die Adaption überlieferter Texte und die wenigen original Amimschen Texte als »Beispielerzählungen.« »Denn hier wurden die
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poetischen Motive nun erstmals in Aktion gesetzt und durften nicht mehr in sich selbst verharren, wie in der Anthologie [»Wunderhorn«, B.F.], sondern mußten als moralische Beispiele ihren Gehalt bekunden und das Geschehen der Gegenwart erhellen.«6 Dieser Ansatz, der den »Wintergarten« als Sammlung moralischer Erzählungen auffaßt, die bestimmte didaktische Inhalte vermitteln wollen, ist in der Arnimforschung vereinzelt auf die ein oder andere Weise konkretisiert worden. Die vorläufig entschiedendste Deutung stammt vielleicht von Vieckie Ziegler, die den »Wintergarten« im engeren politischen Sinne »als nationale Literatur« interpretiert.7 Vergleicht man den »Wintergarten« mit der tatsächlichen nationalistischen Literatur um 1809, kann Zieglers ungebremst nationalistische Deutung, die sich ja schon (bzw. noch) in Migges Kommentar findet, freilich kaum überzeugen. Denn es handelt sich eben nicht nur, wie Ziegler merkwürdigerweise unterstellt, um Beispielerzählungen aus der deutschen Literaturgeschichte, sondern die Ausrichtung der Textsammlung ist eindeutig europäisch: literarische Traditionen aus Italien, Deutschland, Frankreich, England werden ohne Begründungsnot zusammengefugt. Es handelt sich auch nicht nur um eine Beschäftigung »mit der älteren deutschen Literatur [...], um in der [Arnim] bekannten älteren Literatur notwendige Vorbilder für seine Generation zu suchen« (ebd. 209). Wohin eine Deutung führt, die im überzogenen Maß auf deutsch-nationale Intentionen abhebt, mögen die folgenden Zitate aus Zieglers Aufsatz erläutern. »Arnims idealisierende und gereinigte Nacherzählung [erster Winterabend] betont die Unmöglichkeit der Liebe und Treue zwischen Ausländem, da die Staatspolitik sich immer als störendes Element dazwischen schiebt« (ebd. 210f.). Oder: »Mit diesem hehren Ziel kämpfte Arnim gegen den Pessimismus, gegen die Abneigung gegen alles, was als deutsch bezeichnet werden konnte, und gegen den Mangel an festem Willen und notwendigem Mut« (ebd. 211). In ihrem zum Buch erweiterten Ansatz von 1991 erwähnt Ziegler selbst beiläufig, worin die Problematik dieser Deutung liegen mag. »The preceding discussion has shown that »Wintergarten« had to be didactic and had to depend heavily on sources for Arnim to achieve the goals most dear to him. Many of these sources were, as Göres points out, not originally moral stories per se, but Arnim changed their focus in his adaptation and made them exempla for the characters in the frame.«8 Wenn diese These zutrifft, muß man sich in der Tat mit Brentano (und gegen Migges, Göres' und Zieglers unkritische Apologetik fragen), ob Arnim es sich zu Schulden kommen läßt, neben anderen Dingen, wiederentdeckte Klassiker der europäischen Überlieferung oder populäre Romane wie »Die Insel Felsenburg« zu engen moralischen Beispielserzählungen zu verkürzen. 6
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Jörn Göres: Das Verhältnis von Historie und Poesie in der Erzählkunst Achim von Arnims. Phil. Diss. Heidelberg 1956, S. 146 (Masch.). Vieckie L. Ziegler: Schreibt für Deutschland: Achim von Arnims »Wintergarten« als nationale Literatur. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Hrsg. von Albrecht Schöne. Bd. 9. Tübingen 1986, S. 208-214, hier 208. Vickie L. Ziegler: Bending the frame in the German cyclical narrative: Achim von Arnim's »Der Wintergarten« and E. T. A. Hoffmann's »Die Seraptionsbrüder«. Washington, D.C. 1991, S. 16.
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Einen wichtigen Schritt zu einer innovativen Betrachtungsweise hat Ulfert Ricklefs vorgeschlagen, indem er die zahlreichen und vielschichtig komplexen Aussagen des »Wintergartens« zur Existenz- und Kunstproblematik in eine interpretative Ordnung bringt. Er interpretiert insbesondere die Rahmenhandlung als fragmentarisch oder lakonisch allegorische, illusionistische und phantastische (bisweilen gar gespenstische) Entfaltung von Identitäts- und Orientierungsfragen des Autors. In einem zweiten Schritt entfaltet er ein dichtes Netz von zum Teil sehr kurzen, lakonischen Allusionen und häufig unaufgelösten Allegorien zum Relationsverhältnis von Dichtung zu Wirklichkeit, Traum, Wahrheit, historischem Gehalt, Engagement, Diskursivität. »Arnims Dichtung hatte nie künstliche Paradiese geschaffen, war nie eine illusionistische Beschreibungs- und Darstellungskunst gewesen, sondern hatte sich seit je durch die Intellektualität und den Lakonismus einer zugleich symbolischen wie realistisch-abstrakten Kunstart ausgezeichnet.«9 Diese symbolistische Deutung ist freilich um die Beobachtung zu ergänzen, daß Arnim offenbar dermaßen vom arabesken, barocken, derben, naiven Stil der adaptierten Erzählungen fasziniert ist, daß er sich ihm bisweilen gewissermaßen ausliefert. Dabei entwickelt er freilich wenig Respekt vor dem Formwillen des jeweiligen Autors oder den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, die Autor, Werk und zeitgeschichtlichen Leser bestimmen mögen. Arnim streicht, kürzt, überbrückt oder schreibt um, was ihm allzu langatmig oder allzu derb erscheinen mag, z. B. moralische oder aufklärerische Ergüsse des auktorialen Erzählers oder einzelner Figuren, Gewaltszenen und erotische Anspielungen. Abgesehen von einigen plakativen Lehr- oder Erbauungsgedichten im naiv treuherzigen - damit also schon wieder uneigentlichen oder anachronistischen Stil, wie z. B. »Der Krieg« (nach Blücher) - , sollen letztendlich nicht der Autor, der Erzähler oder eine bestimmte Erzählfigur belehren; sondern das poetische Leseerlebnis selbst. Religion kommt deshalb nicht als theologische Spekulation oder Lehre daher, sondern als moralische Haltung, z. B. als Martyrium (»Der Amtsbericht vom Tode des Grafen Schaffgotsch«) oder als mystische Erfahrung inmitten des Alltags (Böhme), die nicht in Theorie rückübersetzt wird, sondern nachempfunden werden will. »[...] wäre es wohl am besten, sein Leben in treuer Erzählung zu überschauen, ein falschglänzendes verkehrtes Talent kann sich wohl in Schriften verstecken, aber ein heiliges Licht macht sich an dem reinen Glänze seines Lebens kenntlich« (3, 326). Arnim ist auf der Suche nach versteckten Toren zur verborgenen, im zeitgeschichtlichen Diskurs und Betrieb verschütteten, Wahrheit eigentlichen Lebens. Die Frage lautet z. B.: Was ist das Geheimnis eines Jakob Böhme? Warum öffnet die mystische Welt sich für ihn? (Die Verserzählung trägt denn auch den Titel »Der Durchbruch der Weisheit«.) Was über die Geschichtsschreibung angesichts von Massenbachs Memoiren gesagt wurde nämlich daß die Wahrheit im subjektiven Erkenntnisraum bedeutender Menschen liege und nicht in der systematisierten Darteilung ohnehin bekannter 9
Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Tübingen 1990, S. 119.
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Fakten - , gilt auch für das poetische Verfahren des »Wintergartens«. Das Eindeutige, In-Sich-Stimmige, Sich-Abschließende wird verweigert. Arnims Poesie ist auf der Suche; sie will das Andere des als bloße Systematik durchschauten, leicht eingängigen und rational entfalteten Wissens. Das poetische Erlebnis, auf das Arnim zielt, darf und muß deshalb häufig eigentümlich bleiben: ζ. B. als anachronistischer, volkstümlicher, altertümlicher Stil und Duktus, als arabeske Sprach- und Handlungsführung, als enigmatische Gedankenführung. Die poetischen Mittel umfassen Chiasma, Anakoluth, Zeugma, Katachrese, Periphrase, fragmentarisches Puzzle, hermetische oder offene Allegorie, lakonische Allusion. Die ästhetische Attraktion des Ungewöhnlichen und Merkwürdigen soll durch sich selbst begeistern - nicht im Sinne einer einfachen Identifikation, sondern immer auch im Sinne einer hoffentlich produktiven Konfrontation: z. B. mit einem fremdartigen Gemüt, von dem Chroniken oder Memoiren zeugen können, mit anderen Mentalitäten, von denen Volksbücher oder Reiseerzählungen künden, oder mit der nichtkanonisierten literarischen Tradition. »[...] ich will kuriose Geschichte lesen, und dazu suche ich jetzt die Perlen zusammen,« schreibt Arnim an Goethe im Zusammenhang mit dem »Wintergarten«.10 Arnims Widerstand gegen die Reproduktion des Bekannten führt zu einem poetischen Experiment, das erprobt, ob denn tatsächlich im poetischen Erlebnis selbst ein Stück Wahrheit steckt - und zwar nicht ein Stück Wahrheit des auktorialen Bewußtseins, sondern der mittlerweile fremden Kulturen und Epochen der eigenen Tradition, in denen die adaptierten Stile und Texte möglich waren. So gesehen macht es Sinn, daß Arnim auf ein gewisses Maß von poetischem Chaos, scheinbar undisziplinierter Überfrachtung und willkürlicher Verknüpfung, mysteriöser Gedankenführung, arabesker Grammatik, unstimmiger Allegorien und Metaphern nicht verzichten will. Arnims »Wintergarten« ist somit kein Reader's Digest der literarischen und kulturellen Traditionsaneignung, wie er häufig dargestellt wird, sondern eine allusionistische und ästhetizistische Montage, die den gegenteiligen Effekt anstrebt. Produktionsästhetisch können wir wohl annehmen, daß Arnim bei der Zusammenstellung und Transkription seinem eigenen ästhetischen Empfinden vertraut, daß er auswählt, was bei ihm selbst auf irgendeine Weise einen unaufgelösten ästhetischen Eindruck hinterlassen hat, und daß er die Texte mit dem Ziel überarbeitet, diesen Eindruck zu vermittlen, indem er dem Leser Raum zum eigenen innovativen Erlebnis verschafft. Ästhetisch meint hier natürlich nicht oder nicht unbedingt das Gefühl des Wohlgefallens, sondern auch des Merkwürdigen und Widerständigen, bisweilen sogar des Beunruhigenden - nicht aber des Häßlichen, Obszönen, Brutalen; entsprechende Stellen läßt Arnim aus. Das Problem dieses poetischen Verfahrens besteht offensichtlich darin, das der Leser nicht weiß noch wissen kann, was er mit dem Text anfangen soll, wenn sich in seinem Leseerlebnis die poetische Begeisterung, die Faszination am ästhetisch Fremden eigener Traditionen nicht oder nur vereinzelt einstellt. 10
Am 18. April 1809. Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen. Tl. 2. Hrsg. von Carl Schüddekopf und Oskar Watzel. Weimar 1899. S. 141.
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Der Sinn, der sich ohne dieses Erlebnis ergeben mag, ist häufig naiv und bisweilen fragwürdig (ich werde unten ein Beispiel bringen). Der Leser (oder Literaturkritiker) kann sich auch nicht auf die Deutung des Formwillens zurückziehen, der ja - ohne eine intensive, ästhetisch gesteuerte Einfühlung - als entschlüsselbarer ebenfalls nicht vorhanden zu sein scheint. Der Leser, dem der Text im immittelbaren oder auch reflektierten poetischen Erleben wenig zu bieten hat, muß sich fragen, ob es ihm an poetischer Empfänglichkeit mangelt, oder ob er dem Autor die Schuld zuweisen soll. Beim »Wintergarten« ist es offenbar vielen Lesern so ergangen. Die verhaltene Rezeption sagt allerdings wenig darüber aus, ob Arnims Experiment auf die vornehmlich ästhetische Erfahrimg der historistischen oder transkulturellen, explorativen Lektüre darum gescheitert ist, ob seine spezifische Weise eines engagierten Ästhetizismus, der keine entschlüsselbare Alternative zur Alltagsrealität konstruiert, aber auch nicht bloß unterhalten will, letztlich in einer subjektiven Ästhetik verfangen bleibt, wie Brentano und Goethe mutmaßen. Eine problemgeschichtliche Fragestellung nach der Rekonstruktion einer historischen, sozial-kulturellen Konstellation, in der die Ästhetik des »Wintergartens« hätte Sinn machen können, hätte auf offene Fragen und Bedürfnisse, auf leere Unbestimmtheit reagieren können, mag hier weiterhelfen. Arnims Versuch, die Voraussetzungen einer künftigen gesellschaftlichen und politischen Erneuerung poetisch zu ergründen, ist 1808/09 ohne Zweifel sowohl zeitpolitisch als auch persönlich begründet. So zog also der Winter ein, wo die Feinde ausgezogen, und meine frohen Erwartungen und Gedanken erstarrten wie der lebendige Strom, der durch die Straße flöß. Alles besetzte und bewachte dieser traurige Winter mit seiner langweiligen Heerschar, selbst wo die kaufmännischen und adlichen Häuser ihre hohen Stirnen, mit mancherlei Bildwerk gekrönt, erheben, hing er seinen weißen Glanzteppich auf, und selbst an dem Boden knirschten die gejagten Füße noch unwillig, daß auch der treue Boden, den selbst die Feinde mußten stehen lassen, seine Farbe angenommen. Sogar meinen Atem fand ich im Dienste des Winters, wie er sich an die Fensterscheiben legte und mir den tröstenden Anblick der Sonne verschloß (3, 77).
Diese Allegorie - daß es sich um eine solche handelt, versichert uns der Erzähler im vorausgehenden Satz - zeichnet die private und die gesellschaftliche Situation im selben Bild. Es ist detailliert genug, um auf die militärische Besatzung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten vormals etablierter Handelsund Adelshäuser anzuspielen, und bleibt dabei doch in erster Linie ein Stimmungsbild - vielleicht das gelungenste des »Wintergartens« - einer tiefen gesellschaftlichen und persönlichen Krise. »Krieg oder Frieden, dachte ich, eins von beiden sei nur gewiß, dieser Mittelzustand bringt mich um« (3, 78). Wenn die Leere und unerträgliche Unbestimmtheit Preußens in diesem allegorischen Bild dem weißen, unbeschriebenen Papier gleicht, so will Arnim es nicht mit den bodenlosen Erfindungen einer neuen Welt füllen, sondern mit alten Historien, »weil die schönste lebende Gestalt unsrer Zeit selten dem schlechtesten, plastischen, alten Kunstwerke zu vergleichen würdig. - Das klang sehr modern, doch machte uns diese gemeinschaftliche Liebhaberei an alten Kunstwerken bald vertraulicher« (3, 79). Hier wird kein neuer Mensch geboren weder im Sinne der Französischen Revolution noch im Sinne der Bestimmung
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des Menschen im deutschen Idealismus-, sondern die neue Gemeinschaft, die sich in der Schneewüste Preußens bildet, findet sich ästhetisch durch die Liebhaberei an alten Kunstwerken. Die Geschichten, die in dieser Gesellschaft schließlich ausgetauscht werden, dienen einerseits dem künstlichen, künstlerischen Überleben inmitten des intellektuellen Winters und bleiben doch eng auf die erfrorene Starre außerhalb dieses künstlichen Gartens bezogen. Indirekt wird durchaus von der Zeit geredet. Das Gesetz der Gesellschaft fordert ja auch nur, »nichts Bestimmtes von den Begebenheiten der Zeit zu reden und dafür allerlei Geschichten aus andern Zeiten und Ländern zu sammeln, die dann gemeinschaftlich genossen wurden« (3, 80). Es geht um die Möglichkeit eines Gartens im Winter, um die Möglichkeit, den Frühling im Winter zu erleben, bzw. den Winter mit der künstlichen Erinnerung an den Sommer zu überleben, im abgeschlossenen Refugium sich vor dem Winter zu verschließen, experimentell und paradigmatisch den erhofften Frühlingsgarten inmitten des Winters zu bestellen usw. Ich will hier nicht nochmals auf die genrespezifische Ästhetik dieser Rahmenhandlung eingehen. Dazu ist ja bereits vieles, gerade im Vergleich mit dem »Decamerone« und Goethes »Unterhaltungen« gesagt worden. Ein in diesem Zusammenhang vielleicht noch nicht genügend berücksichtigter Aspekt ist der bohemische Zuschnitt der Wintergartengesellschaft. Arnims Protagonisten sind nicht im Exil oder in der Quarantäne, sondern lassen sich als »milde« Aussteiger aus der preußischen Gesellschaft beschreiben: Invalider, Gesandter ohne Hof, Kranke, Liebeskranke, vagabundierender Poet, der auf »einer Geschäftsreise nach den Wohnplätzen der alten Lieder« (3, 75) von der Schwermut Überfallene Erzähler, kritizistische Genialität usw. - , die gleichwohl noch in die preußische Gesellschaft rückwirken wollen. Der Winter ist nicht nur die unbestimmte Zeit nach Niederlage und Besatzung, sondern bezeichnet die Erstarrung einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung, das Gefühl in einer erstorbenen Welt zu leben, ein Gefühl, mit dem der Erzähler, der dieser toten Welt verpflichtet ist und sein will, umgehen muß, soll es sich nicht zur hilflosen Depression ausweiten. Deshalb wohl wird der Winter so grotesk personifiziert - nämlich auf eine Weise, die den fiktiven Umgang mit ihm erlaubt und sein anderes Gesicht, die Ausweglosigkeit von vornherein verstellt. Arnims Winter wird gleich zu Beginn so eingeführt, das aus der Angst vor der persönlichen und gesellschaftlichen Kapitulation (vor dem Aufgeben) Aufgaben werden können, konkrete Fragestellungen, die es zu lösen gilt, auf die zumindest reagiert werden kann. Arnim geht andere Wege auf dieser Sinnsuche als viele seiner Zeitgenossen. Eine Begründung findet sich in dem oft autobiographisch interpretierten Ariel-Kapitel am Ende des 7. Winterabends. Der Krieg hat die universalpoetische Ausrichtung der Romantik - für Arnim offenbar endgültig - widerlegt. »[...] wir hofften auf eine schöne Zeit für Deutschland, und arbeiteten fleißig, es sollte wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt vereinigen. Schnell über und fort, wie eine wilde Taube im Sturm; der Krieg brach ein, zerschlug den Spiegel; wohl recht sagt Sofokles, er raubt die Guten nur« (3, 322). Erzählen ist jetzt nurmehr ein Experiment in Richtung Sinnsuche. Das ist nicht
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untypisch für Arnims Zeit (Kleist, Jean Paul etc.). Das Besondere der Arnimschen Sinnsuche im »Wintergarten« besteht - neben seinem spezifischen Vertrauen auf die Potenz des ästhetischen Erlebens - in der Unbestimmtheit zwischen ahnender Emphase und hinterfragender, auch selbstkritischer Skepsis. Was bleibt, wenn weder das bewußte und ironische Spiel willkürlich witziger Weltkonstruktion, die sich in der Teleologie einer progessiven Universalpoesie in Richtung Unendliches aufgehoben meint, länger zulässig scheint noch der absolut negative Kritizismus, der in Andeutungen von der Genialen und dem Gesandten in die Wintergartengesellschaft eingeführt wird? Arnims Suche in den poetischen Zeugnissen einer verschütteten Geschichte ist weitaus bescheidener, glaubt nicht eine neue Welt einfach herbeischreiben zu können. Sie verfährt in der Hoffnung, daß diese Zeugnisse vielleicht nicht aus einer besseren, aber doch vielleicht aus einer bestimmteren, sinn-volleren Zeit überkommen sind. Arnim geht bekanntlich auch nicht den Weg des philologischen Herausgebers, der die Zeugen vergangener Zeiten möglichst authentisch zur Verfügung stellt. Vielmehr ist die eigene Suche als ästhetisches Experiment dem Text selbst eingeschrieben. In der Tat ein »Zusammenknittelungswesen«, das den Leser potentiell überfordern kann und für allerlei Mißverständnisse offen bleibt. Ein schon angesprochenes Schlußtableau kann als immanenter poetologischer Kommentar gelesen werden. Ich meine das Buch mit mittelalterlichen Bildern, das der Gesandte am letzten Tag mitbringt. Die Bilder schienen auf echt alten, die wahrscheinlich verdorben waren durch Nichtachtung, mit erneueter Kunstfertigkeit und brennender Farbenpracht aufgemalt und mit mancher Erfindung bereichert, alle in Wasserfarben auf Pergament wie in den Gebetbüchern alter Fürstenhäuser, das Gold war aber nie als Grundlage, einzig als Verzierung gebraucht; es sah uns an wie ein Werk von heute, was alle Kunstforderungen unsrer Zeit erfüllte und tief verschlossen in sich die ganze Tiefe, Würde und Wahrheit alter Kunst trägt (3, 412f.).
Diese Beschreibung ist selbstreferentiell und meint die Poetik des »Wintergartens« bzw. die ästhetische Intention des Autors. Inhaltlich bietet das mittelalterliche Buch die idealisierte Gestaltung des sinnerfüllten Friedens einer ständischen Ordnung, deren überzeitliche Normativität am Symbol der Zeitenlosen sehr deutlich gemacht wird. Wenngleich es richtig ist, das dieses Tableau nur einen der Schlüsse des »Wintergartens« ausmacht, kommt ihm doch von daher eine zentrale Bedeutung zu, als die anderen Schlüsse nicht erkennnen lassen, daß sie Potenzen zu einer vergleichbaren Ordnung des Friedens bereithalten. Das gilt sowohl für die karitative Heirat der Frau des Hauses und die Entsagung des Invaliden (der sich mit Ariel auf eine Weltreise macht) als auch für die endliche Öffnung des Wintergartens für die kalte Realität des Nordens, in der die tropischen Blumen sofort ihre Blüten schließen. Die illusionistische, exotistische und kompensatorische Potenz der Wintergartenkunst ist damit verabschiedet. »[...] wie ist die Kunst zu schwach den Abgrund zu bedecken mit schönem Schein, doch diese Kunst ist schrecklich, die betrügt, die rechte Kunst ist wahr, sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann« (3, 421). Was der desillusionierten Wintergartengesellschaft als Alternative zur »zeitenlosen« Ordnung der Ständegesellschaft noch bleiben könnte,
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ist die Hoffnung auf das Volk, der zumindest die von ihrer unseligen Liebe zum Feind geläuterte Frau des Hauses enthusiastischen Ausdruck verleiht. »Es wacht mein Volk, nichts schläfert es mehr ein, die Zeit ist aus des schönen Traums, der uns Verzweiflung hat versteckt. Kühn war's den Riesen, des Volkes Geist, zu wecken, denn wenn er aufwacht schlägt er um sich, Freund und Feind in trüben Sinnen sich vermischend und erst am Schrei erkennt er, daß er wache« (3, 420). Die Fortführung dieser Vision ist denkbar merkwürdig und unbestimmt, birgt aber auf jeden Fall revolutionäre Potentiale, die der kulturpolitischen Intention des »Wintergartens« letztlich zuwiderlaufen würden. »So lebhaft uns die letzten Worte an ein Possenspiel erinnerten, das wir zu jener Zeit oft mit einander spielten, von der Sündflut, so konnte doch keiner von uns lachen; es ist als wenn jede Begeisterung eine neue Welt anzufangen das Recht hätte, das alte verliert gleich seine allgemeine Bedeutung« (3, 421). Die Frau des Hauses wendet sich zur Tat und verläßt (und zerstört) den Garten der Kunst. Die kritizistische Geniale schließt sich an. »[...] sie wäre zu jeder Anstrengung fähig und könnte sie auch nicht Krieg führen, sie könnte wenigstens den Krieg predigen« (3, 421 f.). Ist das auch Arnims Perspektive? Ich denke nicht, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht und auch später nur als episodisches Engagement für den Landsturm. Der letzte Satz lautet denn auch: Die Frau des Hauses »fühlt sich jetzt frei aber freudenlos; o möchte doch die Rückkehr des Weltumseglers ihr neue Freude bringen!«
III. Doch nun zu der angekündigten Probe dessen, was bleibt, wenn sich die ästhetische Emphase nicht einstellt - ein Beispiel, das vielleicht Brentanos Wunsch widerlegt, Arnim hätte einfach seine »Familienwäsche« und »fleißig gearbeitete Schulprogramme seiner Jugend« als politisches Programm erkennbar und nachvollziehbar ausbreiten sollen. Ich wähle eine offenkundig utopistische Traditionsanknüpfung, die »Insel Felsenburg«, von der die Frau des Hauses sagt, daß sie nicht ohne Einfluß auf ihren Entschluß gewesen sei (vgl. 3, 328), den alten Winter zu heiraten und den Schritt aus dem Wintergarten in eine neue, offenbar den Pakt mit dem Volk suchende, »moderne« Ordnimg zu wagen. Schnabels Roman muß von Arnim nicht wiederentdeckt werden, wohl aber geht es darum, diesen gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zum Teil noch im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der seriösen Literaturkritik verpönten Erfolgsroman in die Nähe des anvisierten Volkskanons zu rücken.11 Der Vergleich von Original und Arnimscher Adaption des ersten Teils der »Insel Felsenburg« ist insgesamt interessant und dürfte für den heutigen Geschmack nicht immer zu Arnims Gunsten ausfallen. Ich beschränke mich hier aber auf 11
Vgl. Dieter Martin: Arnims Quellenkombination im »Wintergarten« (1809). Schnabels Albert Julius als Pflegesohn des Grafen Schaffgotsch. In: Jahrbuch der JohannGottfried-Schnabel-Gesellschaft. St. Ingbert 1996, S. 9-31; hier 13f.
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nur ein Detail. Arnims spezifische Adaption und Bearbeitung einzelner Textpartien läßt u. a. vermuten, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, die von Schnabel nicht untypisch in der Tradition der Robinsonade dargestellte Situation von vier Schiffbrüchigen, die einen zweiten Garten Eden entdecken oder erschaffen, zur Illustration einer seiner zentralen gesellschaftspolitischen Thesen zu nutzen. Ich spreche vom Programm des Verdienstadels, der sich im Arnimschen Denken (wie oben beschrieben) so durchsetzt, daß der verdienstvolle und tatsächlich edelmütige Adel die verdienstvollen und edelmütigen Teile des Volkes zum Adel heraufzieht - bzw. indem ein vom König eingesetztes neues, berufsständisch gestaffeltes Rittertum eine neue, am Verdienst orientierte Ständeordnung entwirft. Von den vier Schiffbrüchigen sind drei von Adel, wobei es noch ein paar diffizile Standesunterschiede (übrigens auch nationale Unterschiede, die hier die These der »Liebesgeschichte des Kanzler Schlick« widerlegen) zwischen dem Liebespaar van Leuven und Concordia gibt. Einzig der Erzähler, der jugendliche Albert, ist von nichtadeliger Geburt. Auf der Insel hebt van Leuven die Standesschranken auf. Den Schiffskapitän Lemelie, der seinen Adel auf niederträchtigste Weise desavouiert, ermahnt er: »Hört auf zu brutalisieren, die Zeiten haben sich leider verändert, es gilt einer so viel als der andre, und will der dritte nicht was zwei wollen, so muß er krepieren« (3, 130). Diese neue Brüderlichkeit darf freilich nicht auf dem Status Quo des Pöbels praktiziert werden, sondern auf dem Zivilisationsstand eines tugendhaften, edelherzigen Adels, den Arnim über Schnabel hinausgehend betont. Lemelies perfiden Vorschlag, daß die Männer sich Concordia in der außergesellschaftlichen Notsituation teilen sollten, weist van Leuven mit folgenden Worten zurück. »So lange noch adlich Blut in meinen Adern rinnt, werde ich meine Concordia mit keinem Menschen teilen« (3, 133). In der Stunde seines Todes erfahren wir näheres über den verkommenen Schiffskapitän: »Er war aus edlem Geschlechte in Frankreich, wollte es aber nicht nennen wegen seiner Schande; von erster Jugend an wechselten Blutschande, Kindermord und Vergiftungen. Durch Mord machte er sich zum Besitzer eines Kaperschiffes; der letzte große Sturm hätte ihn beinahe zur Erkenntnis seiner Sünden gebracht« (ebd. 140). Dieser französische Adelige wird schließlich von Albert »als ein Vieh fern von den [...] Frommen« (3, 142) begraben. Nach dem Tod der beiden adeligen Männer entsteht die interessante Situation, daß Concordia sich allein mit dem jungen Gemeinen Albert auf der einsamen Insel findet und zudem van Leuvens Kind zur Welt bringt. Nachdem Albert geschworen hat, Concordias Ehre unter keinen Umständen zu verletzen, obgleich er sie innigst liebt, folgen für ihn vierzehn Monate der Enthaltsamkeit, aufopferungsvollen Bewährung und verzweifelten Entsagung. Schließlich wird er belohnt, von Concordia in ihren Stand erhoben und geheiratet. Was bin ich gegen euch. Sie schlug mir sanft auf die Hand: Laßt diese Schmeicheleien, ihr seid mir lieber als die Fürsten aller Welt, und ich habe nichts eure Dienste zu lohnen, wenn ich euch nicht wert bin. Ich sprach, daß ich mich ihr ganz zu eigen gebe, sie aber antwortete: Nein, ihr sollt meinem Willen keine Folge leisten, ich werde euch als meinen Herrn ehren, als meinen Ehemann lieben (3, 150).
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Die beiden begründen ein neues Hauswesen und schließlich ein neues Geschlecht, das keine Standesunterschiede kennt. Albert geht auf die Jagd und richtet allerlei Geräte zum nützlichen Gebrauch ein; Concordia verwaltet das Haus. Doch wer bestellt die Felder, fährt die Ernte ein, beschützt das Anwesen vor wilden Tieren? In Schnabels Roman domestiziert das-Paar eine Gruppe von Affen, die Schnabel kurios anthropomorphisiert und ironisch als unsere »Untertanen« bezeichnet.12 Die Affen versuchen zunächst, die Trauben der Weinernte zu stehlen, und müssen mit Büchsenschüssen veijagt werden. Schließlich wird eine kleine Gruppe ins Hauswesen aufgenommen, »als ob sie würklich bei uns zu Hause gehöreten« (3, 209). Sie »bezeugten sich im übrigen dermaßen untertänig und klug, daß ich fast nichts als den Mangel der Sprache bei ihnen auszusetzen hatte.« Die Affen lassen sich zu allerlei Arbeiten abrichten, »so, daß uns dieses unser Hausgesinde, welches sich zumalen selbst beköstigte, nicht allein viele Erleichterung in der Arbeit, sondern auch außer derselben mit ihren possierlichen Streichen manche vergnügte Stunde machten« (3, 209f.). [...] derowegen bauete ich vor dieselben einen geraumlichen festen Stall mit einer starken Türe, machte vor jedweden Affen eine bequeme Lagerstätte, nebst einem Tische, Bänken, ingleichen allerhand Spielwerk hinein, und verschloß unsere Bedienten in selbigen, nicht allein des Nachts, sondern auch bei Tage, sooft es uns beliebte (3, 210).
Schnabels Affen bekriegen sich mit anderen Affen aus den nahegelegenen Wäldern, bis daß Albert »alle fremden Affen täglich mit Feuer und Schwert verfolgte, und dieselben binnen Monatsfrist in die Waldung hinter der großen See vertrieb, so, daß sich kein einziger mehr in unserer Gegend sehen ließ« (3, 215). Wenn sich ein verbleibender Hausaffe eine Verfehlung zuschulden kommen läßt, wird er ausgepeitscht (3, 219). Diese Hinweise müssen genügen, um anzudeuten, daß Schnabels Anthropomorphisierung der neuartigen Haustiere auch umgekehrt als Entmenschlichung des Hausgesindes in einer Art kolonialen Situation gelesen werden kann und auf Tropen der Sklaverei anspielt. Die Eingeborenen, die das neue Anwesen belagern, werden getötet oder vertrieben. Einige werden domestiziert und als Sklaven gehalten. Arnim streicht oder euphemisiert diese Stellen und dichtet dafür eine Reihe von Details hinzu, die seine Affen, da kann gar kein Zweifel bestehen, zu dienstwilligen und respektvollen Bauern machen. Folgendermaßen werden die Affen bei ihm eingeführt, nachdem Concordia einem verunglückten Affen das gebrochene Bein gestreckt und verbunden hat. [...] der Patient reckte seine Pfote gegen sie aus, als wollte er seine Dankbarkeit bezeugen, er war so verbindlich für den Verband, daß es mit Lust anzusehen. Die zwei Alten liefen hierauf fort, als ob ihnen plötzlich etwas einfiele, was sie vergessen, sie brachten uns zwei grosse Kokosnüsse, die wir gar nicht auf der Insel geglaubt hatten, diese schlugen sie sehr sorgfaltig auf, die eine reichten sie uns dar, die andere dem Kranken. Der Kranke wurde in sechs Wochen völlig geheilt, aber weder er, noch die zwei Alten wollten uns verlassen, sie brachten noch zweie mit und taten alles was sie uns an den 12
Johann Gottfried Schnabel: Die Insel Felsenburg. Hrsg. von Peter Gugisch. München, Berlino. J., S. 207.
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Augen absehen konnten; sie spalteten Holz, sammelten Früchte ein, die mir zu hoch zum Erklettern waren; machten sie einen Unfug, so fügten sie sich willig in die Strafe (3, 144).
Später fahren sie die Ernte ein, bewachen die Felder und führen unter Alberts Kommando Krieg gegen die fremden Affen, die darin »rammelten« (ebd.). Doch damit ist die utopische Phantasie eines preußischen Adeligen, der im Abstrakten die allmähliche Aufhebung der Stände propagiert, aber weiß, daß jemand die Arbeit zu verrichten hat, offenbar noch nicht erfüllt. Arnims Affen, wie könnte es anders sein, sind treuherzig, edelmütig und fromm. Sie haben eine eigene Volkskultur und beachten ζ. B. ein stark ritualisiertes, einfaches aber rührendes Begräbnisritual mit festen Trauerriten und -Zeiten. [...] hatten schon die vier Leidtragenden sie in feierlich ernstem Schritte mit gesenkten Schwänzen fortgetragen und warfen sie in den Westfluß, der den teuren Leichnam in das Meer und zu den jenseitigen Wohnungen des Friedens sanft hinunterführte. [...] Die vier Leidtragenden gingen langsam in ihren Stall, blieben einen Tag ohne Essen und Trinken, dann kamen sie freudig heraus und gingen, nachdem sie tapfer gefressen und gesoffen, an ihre alte Arbeit (3, 145).
Sie wissen auch, wie sie sich auf der Hochzeit des Grundherrn zu benehmen haben. »Unsre kleine Concordia war während der Trauhandlung so still wie ein Lamm gewesen, die Vögel sangen draußen gar lustig, wir setzten uns zu Tische, auch unsre treuen Diener wurden gut bewirtet, und sie waren an dem Tage sehr feierlich« (3, 151). Als moralische Erzählung und politisches Programm gelesen, ist Arnims Adaption der »Insel Felsenburg« mehr als fragwürdig. Brentano: »das schlechteste Stück mit aus der Insel Felsenburg« (3, 1095).
Bettina Knauer Achim von Arnims »Wintergarten« als Arabeskenwerk
Arnims »Wintergarten« steht in der Nachfolge der großen Novellenzyklen Boccaccios und Goethes. Im Gegensatz zu den anmutigen Gärten der Florentiner und dem sommerlichen Aufenthalt der Ausgewanderten auf dem Land, ist Arnims Rahmengesellschaft jedoch in einem schneebedeckten Landhaus, dem ein Wintergarten angebaut ist, versammelt. Die Symbolik des Wintergartens invertiert den äußeren Zwang, der die Gruppe zum Zusammenschluß führte und macht zugleich ihre innere Erstarrung anschaulich. Das künstliche Klima, in dem allerlei exotische Pflanzen und Tiere gehalten werden, ist sowohl für den politischen Zustand als auch für das Kunstprogramm charakteristisch, auf das man sich gegen die Unbilden der Zeit verpflichtet hat. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund bildet die zweijährige französische Besetzimg Berlins 1806/08, die einen Zustand der Lähmung und Indifferenz nach sich zieht: So zog also der Winter ein, wo die Feinde ausgezogen, und [die] frohen Erwartungen und Gedanken erstarrten wie der lebendige Strom, der durch die Straßen flöß. Alles besetzte und bewachte dieser traurige Winter mit seiner langweiligen Heerschar, [...] auch der treue Boden, den selbst die Feinde mußten stehen lassen, [hatte] seine Farbe angenommen. 1
Die Folgen der Fremdherrschaft werden von Arnim im Motiv des Wintergartens symbolisch konzentriert, wobei er auf zeitgenössische Nationalstereotypien zurückgreift. Im kollektivsymbolischen System der Zeit wird die französische Nation und Staatsverfassung mit einem künstlichen Treibhauswachstum verglichen, da sie - nach einer Diskursposition, die auf dem Gegensatz zwischen abstraktem Maschinenstaat und organischen Lebensformen beruht2 einer substantiellen und natürlichen Begründung entbehre. Als Fremdgesetz ist diese Treibhausexistenz auch der Wintergartengesellschaft eingeschrieben und determiniert dort Verhalten und Vorstellungen der Mitglieder. Insbesondere ihr apathisches Verhalten gegenüber der Realität, ihre Flucht in »illusionistische Scheinwelten« und »aussichtslose Amouren«,3 werden von Arnim in einen 1
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Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802-1817. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt a. M. 1990, S. 77. Seitenzahlen in runden Klammern verweisen im Text auf diese Ausgabe. Vgl. Ute Gerhard, Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hrsg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1991, S. 16-52. Hier: S. 26f. Vgl. Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen
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Begründungszusammenhang mit der französischen Okkupation gestellt. Personal und sozial ist die Gruppe ohne individuelle Kontur. Es »sind Menschen ohne Umgebung, ohne Zusammenhang realer Verhältnisse, mit abstrakten Namen«. Die Identität der Figuren ist zum Verschwinden gebracht, »in ihrer Abstraktion und Konzentrierang auf geistige, innere Intentionen« wirken sie »gespenstisch«.4 Von welchem Bezugsfeld die eine gesund, die andere krank oder genialisch genannt werden kann, ist nicht auszumachen. Alle Personen sind wie der »Gesandte eines Hofes, der gar nicht mehr vorhanden war« (S. 79), ohne gesellschaftlichen und sozialen Rückhalt, ohne Heimat und eigenen Besitz. Der Winter hat sein Haus, das durch die fremde Einquartierung ihm unerträglich geworden war, selbst angezündet (S. 75). Ariel hat durch den Krieg alles bis auf seine Bücher verloren und nennt nun seinen Mantel als Heim (S. 323). Die Geniale schwebt in der Luft, erkennt dabei aber selbst, daß ohne Zeit- und Wirklichkeitsbezug »der Ausdruck« genial »ganz leer« ist (S. 299), bzw. sich verkehren, und zum Zynismus werden kann. Als sie am Flügel sich und die Gesellschaft mit Schillers Reiterlied zu erheitern hofft, konfrontiert sie der Invalide mit den realen Folgen dieses >schönen< Kriegsliedes, mit der »ganze[n] Last von armen Seelen, die sich an dem Liede begeisterten und entgeisterten« (S. 203). Arnim umreißt das Dilemma der Wintergartengesellschaft mit dem Begriff des »wunderbare[n] Zustand[es] ohne Gegenwart« (S. 271). Im politischallegorischen Kontext weist dieser auf eine fehlende Verwurzelung im Boden - selbst »der treue Boden« (S. 77), so der Erzähler, ist unter Schneelast des Winters unkenntlich geworden - und auf eine ausstehende, notwendige realpolitische Fundierung, beides Merkmale, die in der Geschichte deutscher Nationalstereotypien zentral geworden sind. Der Invalide, dessen hölzernes Bein ihm nurmehr, wie er sagt, einen »hüpfenden Gang« (S. 84) erlaubt, macht Arnims Kritik und ihren Fluchtpunkt deutlich: [...] wir stehen nun einmal gar nicht mehr auf der Erde wie die andern Weltteile, sondern, von diesen auf dünnem Seile in der Luft getragen, sei es unser Bemühen wie gute Seiltänzer, wo wir der Menge unvermeidlich als fallend erscheinen, uns am höchsten von dem Seile aufschnellen zu lassen; das feste Bestehen ist doch einmal nicht möglich. (S. 84)
Die Logik, mit der hier Arnim dem deutschen Nationalcharakter wohl Tiefe und Phantasie, aber Bodenlosigkeit zuschreibt, faßt Heine Jahre später im »Wintermärchen« in die polemischen Verse: Franzosen und Russen gehört das Land, Das Meer gehört den Briten, Wir aber besitzen im Luftreich des Traums Die Herrschaft unbestritten.5
4 5
Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen 1990, S. 124. Ebd., S. 89f. Deutschland - Ein Wintermärchen. Caput VII. In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd. 7. München 1976, S. 592. Siehe auch Gerhard/Link 1990, vgl. Anm. 2, S. 20f.
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Ist die französische Fremdherrschaft mittels einer künstlichen Symbolik kodiert, so liegt es nahe die eigene Nation als Organismus davon abzugrenzen.6 Ex negativo führt Arnim diesen Gedanken in seiner Kritik an der Treibhausexistenz bereits mit. Am Ende des »Wintergartens« wird er ihn im Symbol der Zeitenlosen, also im Bild organischen Pflanzenwachstums, das Verwurzelung und Tiefe gleichermaßen bedeutet und sich so als widerständig gegen die Zeitläufte behaupten kann,7 Anschauung geben. Auch die Akzeptanz der nördlichen, europäischen Realität einschließlich ihrer klimatischen Bedingungen, die das Ende des Wintergartens bedeutet, steht im Zusammenhang einer organischen Begründung der eigenen Nation. Arnim betreibt die organische Symbolisierung Deutschlands dabei nicht exklusiv oder patriotisch, sondern stellt sie in den Kontext einer Revitalisierung europäischer Kultur und Gesellschaft insgesamt. »Deutschland«, so formuliert Ariel, soll »wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt vereinigen« (S. 322). Und im Bild der Zeitenlosen, das »Ruhe und Fülle« ausstrahlt, eine »unendlich[e]« Belebung »bis zu den kleinsten Winkeln« zeigt, wird zugleich der Blick auf die »fern[e] [...] weit eröffnete] Welt« freigegeben (S. 414). »Allverbundenheit [...], Ausgleich und Vermittlung der Gegensätze«, so hat Christof Wingertszahn dieses Bild interpretiert,8 beschreiben Arnims Antwort auf die aktuelle Gegenwartsproblematik. Nicht zuletzt macht diesen höheren Versöhnungsanspruch die Liebesgeschichte der Hausherrin deutlich. Noch ihrer Liebe zu einem Franzosen nachtrauernd, wird sie von dem Antrag des deutschen Kriegsinvaliden überrascht, der sie »in ihrer Liebe künftig patriotischer« machen will (S. 84). Sie schlägt dieses Angebot aus und wählt stattdessen den Winter, der für die gesamte Misere, in der sich die Gesellschaft befindet, verantwortlich ist. Bei der Hochzeit erwärmt dieser sich Hann so, daß er sich selbst nicht überlebt, und der Frühling seinen Einzug halten kann. Diese Liebe der Hausherrin ist weit mehr als ein subjektives Gefühl, sie ist Ausdruck einer höheren Verbindung, durch die Heterogenes und Getrenntes miteinander vermittelt werden, so daß wie Schleiermacher es in seiner »Theorie des geselligen Betragens formulierte« - »auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse [...] befreundet und gleichsam nachbarlich werden können«.9 Gebrauch und Reflexion verschiedener Nationalstereotypien charakterisieren Arnims Novellenzyklus als ein Werk der politischen Romantik. Arnim entwickelt die Vorstellung eines neuen Allgemeinen dabei auf Grundlage einer weltanschaulich, kulturell und national heterogenen Gesellschaft, in der Unterschiede angemerkt, zugleich aber durch die historischen Ereignisse eine all6 7
8
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Gerhard/Link 1991, vgl. Anm. 2. »Sie heißt die Zeitenlose,/Weil ihr die Zeit nichts tut; [...]«. Arnim, vgl. Anm. 1, S. 418. Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert 1990, S. 44. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: F. D. E. Schleiermacher kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner u. a. Berlin 1984. Bd. 2, S. 165.
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gemeine Mobilität von Nationalcharakteren, Meinungen und Diskursen konstatiert wird, die eine Festlegung auf bestimmte Ländergrenzen nicht mehr zuläßt. Das Landhaus der Wintergartengesellschaft gleicht daher auch mehr einer Durchreisestation, als einer distinkten gesellig-gesellschaftlichen Institution. In ihm bildet sich ein Sammelsurium von Meinungen, die »nichts als das gefällige Papier, woraus gute Taschenspieler bald einen Vogel, bald ein Schilderhaus, bald ein Buch nachmachen«, bedeuten (S. 153). Durch diese Unverbindlichkeit, Substanz- und Konturlosigkeit scheinen Aspekte wie Abgrenzung, Identitätssicherung und Konsensbildung, die jedem Novellenmodell zugrunde liegen und das Zusammensein der Rahmengesellschaft bestimmen, weitgehend verloren. Das Landhaus, designierter Ort der Erzählgemeinde seit Boccaccio, verschwindet bei Arnim gleichsam vor der weißen Fläche des Winters und muß demnach erst wieder neu gebildet werden: als - wie dies Ulfert Ricklefs ausdrückt - ein »Sinn- und Existenzraum«, in dem durch »Gespräche, Begegnungen und Erzählungen«10 eine neue Geselligkeits- und Gesellschaftskonzeption ihre Keimzelle findet. Für Arnim machen die historischen und gesellschaftlichen Veränderungen eine Neukonstitution der Gattung Novelle und eine Reflexion auf ihre gesellschaftsbildende Form und Funktion notwendig. Das trifft insbesondere für die situativen Voraussetzungen des Erzählens, wie sie im Rahmen seit Boccaccio vorgegeben worden sind, zu. Sie müssen neu verortet werden, soll die Novelle ihre Bedeutung und ihre Ausdruckskraft im Horizont der eigenen Zeit nicht verlieren. Arnims Ausgangspunkt für die poetologische Reflexion bilden Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«. Denn nicht nur das Fremdgesetz, die französische Besetzung Berlins, sondern auch das Kunstgesetz, das Goethes Novellenzyklus bestimmt, und dem sich die Wintergartengesellschaft zunächst verpflichtet, zeichnet Arnim verantwortlich für den »Zustand ohne Gegenwart«, für passives Verhalten und melancholische Stimmung der Mitglieder. Arnims Referenz auf das Goethesche Modell wurde schon oft bemerkt; wie weit jedoch seine kritische Auseinandersetzung mit diesem Vorbild geht, bedarf noch der eingehenden Untersuchung. Übellaunig und »unzufrieden mit den ganzen Welt« verlegt man sich in der Wintergartengesellschaft, anstatt tätig zu sein, auf das Erzählen von Novellen, die »bloß erzählt und nicht geschehen« sind (S. 74). Das Gesetz, das »in der Gesellschaft [...] strenge beobachtet wurde«, ist von Goethe geborgt und lautet: Es war nur ein Gesetz in der Gesellschaft, das aber strenge beobachtet wurde, nichts Bestimmtes von den Begebenheiten der Zeit zu reden und dafür allerlei Geschichten aus andern Zeiten und Ländern zu sammeln, die dann gemeinschaftlich genossen wurden, entweder frei vorgetragen oder abgelesen. (S. 80)
In den »Unterhaltungen« formuliert die Baronesse das nämliche so: [...] vielleicht haben wir nie nötiger gehabt, uns aneinander zu schließen und, wäre es auch nur wenige Stunden des Tages, uns zu zerstreuen. Laßt uns dahin übereinkommen, 10
Ricklefs,vgl. Anm. 3, S. 94.
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daß wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen. 11
Die oberste Maxime heißt »Schonung«.12 Die Baronesse verlangt die Anerkennung eines gemeinsamen Sinnes, indem »Gleichgesinnte sich im stillen zueinander fügen und sich angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt«.13 Abschließend fordert sie: Bietet alle eure Kräfte auf, lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein! Und das alles werden wir - und noch weit mehr als jetzt - benötigt sein, wenn auch alles völlig drunter und drüber gehen sollte. 14
Das verpflichtend eingeführte Gesetz macht das sozialpsychologische Dilemma der Gruppe, den Konstruktcharakter und auch die Brüchigkeit des Erzähl- und Gesprächskunstwerkes deuüich. Der bürgerlichen Revolution sucht man mit einer Form aristokratischer »Höflichkeit«15 zu begegnen, die ihre gesellschaftlichen Fundamente gerade einbüßt. Über »allem, was neu ist« und der »Zerstreuung« dient,16 wird in den »Unterhaltungen« der Stab gebrochen, in der Befürchtung, durch »eine Folge von erzählten Neuigkeiten immer von einem Gegenstande zum andern« fortgerissen zu werden17 und den Welthändeln damit die Einfallstelle zu öffnen. Goethes Novellenmodell dient der Bewahrung und stellt damit eine konservative Abwandlung des alteuropäischen Modells dar. Während in der Rahmengesellschaft Boccaccios noch »heiteres Miteinanderumgehen statt ängstlicher Isolation, Selbstbewußtsein, statt Schicksalsergebenheit« waltete, schlägt bei Goethe die »aktive Schwungkraft um in reaktive Maßnahmen zur Absicherung des Bestands«.18 Politische und soziale Destabilisierungstendenzen werden aufgefangen, jedoch nur durch gleichzeitige Beschränkung individuellen Meinens und Handelns. Für Arnim werden Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« zum kritischen Prüfstein und Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Novelle und ihrer gesellig-gesellschaftsbildenden Relevanz. Angesichts der heterogenen Gesellschaft, wie sie der »Wintergarten« versammelt, spielen die Möglichkeiten der Meinungsbildung und der Gesprächskunst, wie sie Goethe vorgibt, eine entscheidende Rolle, insofern sie nach Arnim eine adäquate Reaktion auf die Zeit und die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zulassen. Goethe hat dem Gesetz der Baronesse das unverfängliche Erzählprogramm des Alten zur Seite gestellt. Um von den Welthändeln nicht belästigt zu werden, beschränkt man sich vornehmlich auf seine aus »alten 11
12 13 14 15
16 17 18
Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. München 1993. Bd. VI, S. 139. Ebd., S. 138. Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Vgl. Claudia Schmölders: Einleitung. In: Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. Hrsg. vonders. 2. Aufl. München 1986, S. 57ff. Goethe, vgl. Anm. 11, S. 141. Ebd. Volker Klotz: Erzählen als Enttöten. Vorläufige Notizen zu zyklischem, instrumentalem und praktischem Erzählen. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982, S. 319-334. Hier: S. 328f.
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Büchern und Traditionen«19 zusammengestellte Novellensammlung. Der Alte, dem es, wie er selbst bekennt, zur »Übersicht der großen Geschichte« an »Kraft und Mut« gebricht,20 schränkt durch das Gebot, »man solle keine [seiner] Geschichten deuten«,21 seine Zuhörer zudem darin ein, durch kontroverse Besprechung und Deutung die Geschichten mit dem eigenen Leben zu verbinden. Der Zusammenhang von besprochener und erzählter Welt, der für die ältere Novellistik konstitutiv war und dem Erzählen erst Hintergrund und Substanz verliehen hat,22 wird damit von Goethe aufgehoben. Durch die Konzentration auf ästhetische Gegenstände und auf das Gespräch über Literatur wird der ursprünglich fest umrissene Ort der Rahmengesellschaft auf ein Utopia verschoben, das räum- und zeittranszendent die historische wie gesellschaftliche Verankerung, einschließlich der unmittelbaren Wirkungsabsicht und Intention des Novellenerzählens aufhebt. Konsequent enden die »Unterhaltungen« daher mit dem »Märchen«, einem Werk, das, so der Alte, »wir ohne Forderungen genießen« können.23 Denn die Phantasie macht keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem die sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden.24
Im »Märchen« ist eine alles »Stoffliche transzendierende Einbildungskraft inthronisiert« und dem Schonungstheorem der Baronesse sowie dem korrespondierenden Erzählprogramm des Alten adäquater Ausdruck verliehen.25 Nicht nur die reale Konturlosigkeit des Landhauses im »Wintergarten«, auch die Identitätsproblematik der Figuren, die Indifferenz und Planlosigkeit in Meinung und Handlungen werden von Arnim als Folge des Kunstgesetzes, wie es die »Unterhaltungen« vorgeben, gewertet. Die Hausherrin und der »gräuliche Alte« namens Winter (S. 75) können daher in ihrer komplex allegorischen Bedeutsamkeit auch als Reflexionsfiguren auf das Goethesche Novellenmodell verstanden werden. Arnims Beschränkung des Erzählstoffes im »Wintergarten« auf altes Literaturgut hat ebenfalls ihr Vorbild bei Goethe. Mit bestechender Konsequenz und in pragmatischer Absicht legt Arnim nun im »Wintergarten« den Illusionismus eines Kunst- und Novellenmodells bloß, das in der Unterhaltung über das Schöne die Utopie einer besseren Welt zu lesen vermag, und sprengt zugleich den geschlossenen, von Goethe ästhetisch autonom konstituierten Kreis. Die Dynamik von Arnims Novellenwerk sowie die implizite Kritik am Goetheschen Modell lassen sich mit Volker
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Goethe, vgl. Anm. 11, S. 145. Ebd., S. 142. Ebd., S. 145. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964. Zitiert nach dem Auszug in: Novelle. Wege der Forschung. Hrsg. von Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 481-498. Hier: S. 487. Goethe, vgl. Anm. 11, S. 209. Ebd. Werner Keller: Johann Wolfgang von Goethe. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Düsseldorf 1981, S. 72-90. Hier: S. 78.
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Klotz' Formel vom »Erzählen als Enttöten«26 beschreiben. Im Kontrast zu seinem Vorbild und damit gegen die Voraussetzungen, wie sie zunächst für die in einer Erstarrung sich befindende Wintergartengesellschaft gelten, entwickelt Arnim eine Form praktischen Erzählens und verbindet dies mit dem Anspruch, erzählend »wirksam ins Leben einzugreifen«. »Erzählen wird da nicht nur getätigt als defensive Maßnahme wider gewaltsamen - leiblichen, gesellschaftlichen oder geistigen - Tod. Es vollstreckt geradezu ein Gegenprinzip zum Prinzip des [Ab]sterbens. Wer instrumental und praktisch erzählt, kontert letalem Schwund durch sinnvolles Hervorbringen und Vollbringen.«27 Arnims Anspruch, die Kunst wieder mit dem Leben zu verbinden, die Kluft zwischen Erzählen und Tat zu überbrücken, findet Ausdruck im poetologischen Zentralsymbol seines Erzählwerkes, einem »große[n] Buch in Maroquin gebunden« (S. 412), von dem es beziehungsreich heißt, daß in ihm »oft so viel Leben sei, daß man ihm ein eignes Haus bauen möchte, wie viel lieben Besuch würde es bekommen, welche Auswahl der Gesellschaft um sich sammeln« (S. 413, Hervorhebungen von Β. K.). Ein Buch also, in dem die Aussattung einer neuen, künftigen Rahmentopographie vorweggenommen wird und durch das die erstarrten Strukturen in der Wintergartengesellschaft aufgebrochen werden sollen. Der Rahmengesellschaft wird es folgendermaßen präsentiert: Der Gesandte ließ ein großes Buch in Maroquin gebunden hereintragen, die Frauen wollten gleich darüber herfallen. Halt Barbarinnen, rief er, so will kein Kunstwerk besehen sein, erst ein großer Tisch in die Mitte des Zimmers, nun alle hierher, wo das Licht am wenigsten spiegelt und am meisten färbt. - Die Farben sind wie von heute, so keck malt doch keiner mehr, was stellt es vor, es scheint eine einzige Geschichte? Schreibt die, ihr Herren und Frauen, versucht, ob sie sich daraus erraten läßt, ich will nachher die wahre Erklärung vorzeigen und vergleichen. [...] es wurden nun die Stimmen über jedes Bild abgehört und bald von dem einen, bald von dem andern, die Erklärung in Versen dazu geschrieben. (S. 412)
Als Quelle für die äußere Gestaltung des Buches diente Arnim das Gebetbuch Maximilians.28 Durch Dürers Randleisten verziert, spielt dieses in der zeitgenössischen Bestimmung romantischer Arabeskenkunst neben Raffaels Arabesken und Runges »Zeiten« wohl die bedeutsamste Rolle. So heißt es von dem Buch weiter: Die Bilder schienen auf echt alten, die wahrscheinlich verdorben waren durch Nichtachtung, mit erneueter Kunstfertigkeit und brennender Farbenpracht aufgemalt und mit mancher Erfindung bereichert, alle in Wasserfarben auf Pergament wie in den Gebetbüchern alter Fürstenhäuser, das Gold war aber nie als Grundlage, einzig als Verzierung gebraucht; es sah uns an wie ein Werk von heute, was alle Kunstforderungen unsrer Zeit erfüllte und tief verschlossen in sich die ganze Tiefe, Würde und Wahrheit alter Kunst trägt. (S. 412f.)
Auch der Inhalt des Buches - ein Ritterroman in Bildern - weist auf die Arabeskentheorie der Romantik. So fordert Friedrich Schlegel, »das Chaos der Ritterwelt noch einmal [zu] verwirrfen]. Da würden die alten Wesen in neuer 26 27 28
Klotz 1982, vgl. Anm. 18. Ebd., S. 329, S. 332. Vgl. Roswitha Burwick: Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim. Berlin, New York 1989, S. 276.
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Gestalt leben; [...] Das wären wahre Arabesken [...].«*» Ziel dieser Verwirrung und des Rückgangs ins Chaos ist, wie es bei Arnim heißt, die Konfinierung einer »einzige[n] Geschichte« (S. 412), zu deren Bildung die Wintergartengesellschaft aufgefordert wird. Dies ist ebenfalls im Sinne Schlegels zu verstehen, der die »neue«, personale und kollektive Identität umfassende »Mythologie«, u. a. aus dem »Chaos der Ritterwelt« herauf beschwört, so daß sich ein Kunstwerk generiere, das alle anderen Kunstwerke in sich faßt: ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und sèlbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.30
Nicht nur nach äußerer Gestalt und nach Inhalt ist das Buch poetologisches Symbol für Arnims Arabeskenwerk. Als ein »Integral« für seine eigene Bearbeitung alter poetischer Texte,31 die als Binnenerzählungen die neun Winterabende füllen, konzentriert er in ihm zugleich sein arabeskes Verfahren bei der An- und Umwandlung historischer Quellen. Gegenüber Brentano, und zwar auf dessen Vorwurf hin, im »Wintergarten« sei alles nur »förmlich zusammen gematscht«,32 hat Arnim seine Quellenanverwandlung so beschrieben: Ich glaube gerade darin die eigentümlichste Kraft bewährt zu haben, ohne den Erzählungen von ihrer ersten Ausbildung zu nehmen, ihnen neue Organisation und Beziehung zu geben.33
Für die erzählerischen Einlagen der Winterabende hat Arnim verschiedene Vorlagen herangezogen und kombiniert. So werden u. a. Schnabels »Insel Felsenburg« und der »Amtsbericht von dem Tode des Generals Grafen von Schaffgotsch«, Moscheroschs »Soldatenleben« und Grimmelshausens »Springinsfeld« oder Reuters »Schelmuffsky« und Christian Weises »Erznarren« miteinander kombiniert.34 Arnim sucht dabei »Fugen und Nahtstellen« in den verschiedenen Texten auf, nicht um heterogene Elemente philologisch zu scheiden, sondern »um eine Vorlage an eine andere anzuknüpfen oder beide ineinander zu verflechten«.35 In seiner Bearbeitung werden die Texte nicht fixiert und historisiert, sondern - wie es Ingrid Oesterle einmal formulierte der »poetischen Progression« überantwortet.36 Quellenbearbeitung bei Arnim 29
Friedrich Schlegel: Brief über den Roman. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hrsg. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1967, S. 337. 30 Schlegel, vgl. Arnn. 29, S. 337. 3 > Ricklefs 1990, vgl. Arnn. 3, S. 121. 32 Ende Juni 1809 an Bettine. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. HistorischKritische Ausgabe. Bd. 32 (Briefe 1808-1812). Hrsg. von Sabine Oehring. Stuttgart, Berlin, Köln 1996, S. 163. 33 Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearbeitet von Reinhold Steig. Stuttgart, Berlin 1894 (= Achim von Arnim und die ihm nahestanden 1), S. 281. 34 Vgl. Dieter Martin: Arnims Quellenkombination im Wintergarten (1809) - Schnabels Albert Julius als Pflegesohn des Grafen von Schaffgotsch. In: Jahrbuch der JohannGottfried-Schnabel-Gesellschaft 1996, S. 9-31. 35 Ebd., S. 25f. 36 Ingrid Oesterle: Arabeske Umschrift, poetische Polemik und Mythos der Kunst. Spätromantisches Erzählen in Ludwig Tiecks Märchen-Novelle »Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein«. In: Romantisches Erzählen. Hrsg. von Gerhard Neumann. Würzburg 1995, S. 167-194. Hier: S. 189.
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ist »arabeske Umschrift«, ist »erzählendes Schreiben«, das »dem mündlichen Erzählen nachgebildet« ist, ist nicht »abschreiben, sondern fortschreiben«, »ständige Umschrift als eine Form progressiver im unendlichen Werden begriffener Poesie.«37 Friedrich Schlegel hat eben solche Umschrift als eigentümliche »Methode« der Mythologie bestimmt. In ihrem »Gewebe«, so Schlegel, ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigenthümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode [...]. 3 8
Die »einzige« Geschichte, wie sie in der Rahmengesellschaft auf Grundlage des Ritterromans gebildet werden soll, und die arabeske Umschrift, wie sie die Textverfassung der Binnengeschichten bestimmen, bilden eine strukturelle Homologie. Dies macht auch verständlich, wie hier im Fortschritt von Erzählen und Unterhalten ein belebender, die übellaunige Gesellschaft aus ihrer Erstarrung befreiender Impuls freigesetzt wird, dem am Ende die Mitglieder Ausdruck in ihrem neuen Haus, das ein Haus des Frühlings sein soll, geben. Ein Impuls auch, der die trübselige Wintergartengesellschaft aus ihrer Erstarrung, Ausdrucks- und Verstehensnot befreit und ein neues, gemeinsames Kultur- und Kommunikationssystem antizipiert, das die heterogene Gruppe vereint. Schlegel fordert das nämliche im Programm einer neuen Mythologie, als neue »allgemeine Mitteilbarkeit« und »lebendige Wirksamkeit«, so daß der Einzelne »Halt« in seinem »Wirken« erfährt und einen »mütterlichen Boden« erhält.3» Vom Ursprung her ist die Arabeske eine Kunst des Rahmens.40 Die Novelle mit ihrer Struktureigentümlichkeit von Rahmen- und Binnenerzählung kann daher als ein paradigmatisches literarisches Experimentierfeld der romantischen Arabeskentheorie gelten. Im Zusammenhang von Arnims Neukonstitution der Rahmengesellschaft und novellistischen Erzählens insgesamt sind Rand resp. Rahmen des Buches in Maroquin, der sich intentional auf die Rahmengesellschaft und deren diskursiver Applikation des Bildgegenstandes bezieht, deshalb von besonderem Interesse. Nach Präsentation des Buches werden »Stimmen über jedes Bild abgehört«, enträtselnd, besprechend und schreibend wird um das Buch die neue/alte Kunstform des Rahmengesprächs wieder aufgebaut, die in der alteuropäischen Novelle dem Erzählen Substanz und Hintergrund verliehen hat. Kunst und Geselligkeit, der Zusammenklang von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Werk und Rezeption werden von Arnim im Sinne romantischer Sympoesie thematisiert. Hier gelingt etwas, was man sprechendes Schreiben und schreibendes Sprechen nennen kann. Der durch Progression, An- und Umverwandlung geprägte Erzählstil Arnims erfüllt sich in einem neuen Geselligkeitsmodell. Die Konzentration auf geschriebene Literatur, wie sie in den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« beschlossen 37 38
» 40
Ebd., S. 189f. Schlegel, vgl. Anm. 29, S. 318. Ebd., S. 315. Vgl. Oesterle 1995, vgl. Anm. 36, S. 187.
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wurde, ist durchbrochen und das Mündliche und Gesellige als Basisenergie romantischen Schreibens zurückgewonnen. Daß Arabesken als Rand- und Rahmenformen einen solchen neuen, auch zwischen Autorintention und Leser vermittelnde Funktion haben, betont ebenfalls Brentano, der sich von Runge Arabesken zu seinen »Romanzen vom Rosenkranz« wünscht, in der Hoffnung sich einen verständigen Leserkreis zu erschließen. Er schreibt an Ph. O. Runge: [...] es ist nur das herzliche Verlangen, daß Einzelnes in diesen Liedern, etwa in jedem die Bedeutung oder das höchste Moment der Erscheinung, durch einen geistreichen Meister mit wenigen Linien dem Leser näher gerückt sey. 41
Arnims Arabeskenwerk des Buches weist über die romantische Sympoesie hinaus auf eine durch Poesie erschlossene Wirklichkeit und tätige Wirksamkeit. Der Erzähler erklärt »das letzte Bild« des Buches, »weil es die Geschichte des Tages und unsres Kreises näher berührt« (S. 413) mit Worten, welche die Perspektive für die mit neuer Lebenskraft erfüllte Wintergartengesellschaft vorgibt. Er lenkt dabei den Blick von den Darstellungen im Vordergrund ab und läßt ihn verweilen »auf der fernen, zwischen dem Schloß und dem Walde weit eröffneten, Welt« (S. 414): alles Glück dieser Welt ist da mit uns verbunden, auch wir, auch wir können dahin, auch zu uns strömt Leben aus den zackigen Urfesten der Erde, die das Ende der Welt begrenzen; daher strömt unsre Luft, daher schmilzt der Felsensaft aus den ewigen rötlichen Eisbehältern des Himmels, kühlend stürzt er in die glühenden Adern der Erde. (S. 414f.)
Diese Perspektive öffnet Bild- und Fiktionsrahmen, bricht sich im gegenwärtigen Zustand von Ich und Welt und hebt damit die Erstarrung und die Enge des Kunstraumes auf. Im Optischen wiederholt sich damit noch einmal die Durchbrechung des Rahmens, wie sie schon in der deutenden und im Gespräch vollzogenen Applikation des Buches vollzogen wurde. Mediale Begrenzungen werden aufgehoben und transparent auf einen Sinn- und Existenzraum, der die Wintergartengesellschaft mit dem Draußen des Lebens in Berührung bringt. Es ist wiederum die arabeske Struktur, die hier ihren eigentlichen Verweisungszusammenhang und die Ahnung einer anderen Ordnung entfaltet. Die Arabeske schreibt nicht fest, sondern ist, wie Schlegel sagt, eine »Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der Einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur.«42 Eine solche »Hieroglyphe der Natur« gestaltet Arnim im Geschehen des Eisgangs, das gleichsam ein naturpoetisches Pendant zur Kunstpoesie des Buches darstellt. Der Eisgang erweckt in der Rahmengesellschaft zunächst ambivalente Gefühle: »Die hypochondrischen Leute wurden auf einmal sehr lebhaft und ängstlich, sie befürchteten neuen Krieg, gelbe und schwarze Fieber, Erdbeben« (S. 408), Katastrophen also, die als Voraussetzungen für die Bildung von Novellengemeinden bekannt sind. Doch nicht erneute Abschottung, son41
42
Clemens Brentano - Philipp Otto Runge. Briefwechsel. Hrsg. und kommentiert von Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt a. M. 1974, S. 16. Schlegel, vgl. Anm. 29, S. 334.
Arnims » Wintergarten« als Arabeskenwerk
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dem Tätigkeit, soziales Miteinander und auch todesmutige Hilfsbereitschaft werden nun angesichts der gewaltigen Veränderungen in der Natur als erforderliche und adäquate Reaktion auf das Draußen des Lebens empfunden. Im ungeheuren Naturereignis wird eine chaotische Kraft frei, die die Ordnung des künstlichen Raumes sprengt bzw. sie transparent macht auf den Urgrund alles geschaffenen Seins.43 Das ist die wahre Kunst, die, wie die Hausherrin zum Schluß sagt, nicht versucht »den Abgrund zu bedecken mit schönem Schein, [...] sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann.« (421) Arnim holt in der Darstellung des Eisganges dasjenige ein, was vor der Vermittlung eines symbolischen Gesetzes, das die gesellschaftlichen Verhältnisse regelt, liegt, und das bei Goethe künstlich ausgegrenzt wurde. Damit akzentuiert er im naturpoetischen Kontext den energetischen, progressiven Aspekt, der die Metamorphose der Gesellschaft, ihre Befreiung von der politisch wie kunsthematisch begründeten Erstarrung vollendet und schafft somit neuen Raum für individuellen Ausdruck und innovatives Handeln. Durch den progressiven Aspekt werden die Ausgangsbestände, die sich ein streng zyklisch orientiertes Novellenmodell wie dasjenige Goethes jeweils nur als restituierbar vorstellt, qualitativ überboten und ein neues Gesellschaftskonzept im Haus des Frühlings antizipiert. Arnims Überlagerung von Naturzyklus und Kunst- resp. Novellenzyklus, von Geschehen des Eisganges und von der Buchpräsentation, die beide den Schluß des »Wintergarten« bestimmen, weist auf die höhere Synthese von Natur- und Kunstpoesie, wie sie auch Schlegels Arabeskentheorie eingeschrieben ist. Schlegel gilt die Arabeske als die »älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie«.44 Arabesken sind die »einzigen Naturprodukte unsers Zeitalters«.45 Ihrem naturpoetischen Ausdruckscharakter konvergiert auch Arnims Darstellung der Naturpoesie des Eisgangs. Durch die Verzahnung dieses Ereignisses mit dem Kunstwerk des Buches entsteht jene Synthese, die Schlegel »Kunstwerk der Natur« nennt, die Idealform der romantischen Arabeskenkunst.46 Das neu belebte Rahmengespräch, die tätige Wirksamkeit angesichts des Naturereignisses, die Öffnung des Wintergartens und die Akzeptanz des nördlichen Europas, der Aufbruch Ariels und des Invaliden zu einer Weltreise fassen Intention und Stoßrichtung von Arnims Novellenzyklus noch einmal zusammen. Erzählkunst erscheint im Kontext von Lebenskunst und Bildung selbstbestimmter Tätigkeit. Aktiv macht man sich gegen die Unbilden der Zeit auf den Weg und sucht den eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen. Der Sinn- und Existenzraum, der sich dadurch konturiert, ist integrativ und universal zugleich. In ihm gewinnt die Wintergartengesellschaft Welt- und Selbstvertrauen zurück. 43
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Zum Zusammenhang von Erstarrung/Eis und Bewegung/Chaos im Kontext einer Poetik des Ornaments und der Arabeske vgl. auch Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes »West-östlichen Divan«. Stuttgart, Weimar 1994, bes.: S. 85ff. Schlegel, vgl. Anm. 29, S. 319. Ebd., S. 337. Ebd., S. 318.
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An der Stelle, wo Friedrich Schlegel im »Gespräch über die Poesie« von der »neuen Morgenröte der neuen Poesie« spricht, fügt er bei der Überarbeitung für die Werkausgabe 1823 einen Passus ein, der als Reflex auf Arnims realisierte Arabeskenkunst im »Wintergarten« verstanden werden kann. Amalia sagt, nachdem das Stichwort von der »neuen Morgenröte der neuen Poesie« gefallen ist: Den Winter haben wir wohl lange genug erlebt und sind alle darin aufgewachsen; wo man sich denn bei der rauhen Jahreszeit im geselligen, erwärmten Zimmer an den sparsamen Blumen erfreut, wie sie die künstliche Pflege sorgsam hervorzutreiben vermag. Wohl werden Sie also unsern Dank verdienen, wenn Sie uns einen neuen Frühling eröffnen und hinausfuhren in die freie, große Natur.47
47
Ebd., S. 311; siehe auch Ricklefs 1990, vgl. Anm. 3, S. 125.
Peter Staengle
Achim von Arnim und Kleists »Berliner Abendblätter«
I. Aus der weitgehend im dunkeln liegenden Gründungsphase von Heinrich von Kleists »Berliner Abendblättern« (künftig: BA) besitzen wir lediglich zwei Zeugnisse; es sind dies zwei Briefe, in denen um Mitarbeiter geworben wird.1 Der eine, von Kleist an Friedrich de la Motte Fouqué nach Nennhausen adressiert - vom 2. September 1810 - , ist die quasi-offizielle Einladung zur Teilnahme an dem Zeitungsprojekt, das am 1. Oktober 1810 zum ersten und am 30. März 1811 zum letzten Mal erschien. Einen Tag später folgt das zweite Schreiben, diesmal aus Arnims Feder. Scheinbar en passant - tatsächlich aber schlafwandlerisch sicher, das assoziativ umspielte Schlüsselwort ist »Dantes Hölle« - meldet er Jacob und Wilhelm Grimm nach Kassel: Kleist, der sich jetzt hier aufhält, hätte eigentlich eine ungemeine Anlage, so ein zweiter Dante zu werden, so eine Lust hat er an aller Quälerei seiner poetischen Personen, er ist dabei aber der beste Kerl und giebt jetzt ein Abendblatt im Hitzigschen Verlage heraus, wozu Ihr einige Casseler Notizen, Späße u. dgl. liefern müßt, es soll sich vorläufig gar nicht auf Belehrung oder Dichtungen einlassen, sondern mit allerlei Amüsanten die Leser ins Garn locken; lächerliche Briefe u. dgl. sind ein besondrer Fund. 2
Wie die Formulierungen »es soll sich vorläufig gar nicht auf Belehrung oder Dichtungen einlassen«, und: »die Leser ins Gam locken« verraten, war Arnim über die Strategie, mit der die BA etabliert und lanciert werden sollten, offenbar gut informiert. Dies zeigt sich freilich erst in der Retrospektive. Bei den Zeitgenossen hingegen wird wohl, durchaus beabsichtigt, zunächst der Eindruck entstanden sein, als ob das Profil des neuen Organs nicht das einer Zeitung im eigentlichen Sinne, sondern das einer apolitischen Unterhaltungspostille hätte werden sollen.
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Die Vorgeschichte der BA ist nicht zuletzt deshalb so unklar, weil die künftigen Beiträger fast ausnahmslos in Berlin ansässig waren und Kleist sich mit ihnen überwiegend wohl gesprächsweise verständigte. Daran änderte sich offenbar auch nichts, als die Zeitung erschien. Dies geht aus Kleists Brief an Arnim vom 14. Oktober 1810 hervor, worin Kleist seinen Autor daran erinnert, »daß ich Sie [...] um einer undeutlichen Stelle willen, die Einer Ihrer Aufsätze enthielt, zu mir rufen ließ«. (Vf.: »Berliner Abendblätter« - Chronik. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11. Basel, Frankfurt am Main 1997, S. 372) - Dieser Brief ist übrigens, neben den beiden Briefen an Christian von Ompteda (24.11. und 2.12.1810), mit dem Kleist persönlich nicht bekannt war, das einzige überlieferte Schreiben des ¿M-Herausgebers an einen seiner Autoren im Zusammenhang redaktioneller Belange. Reinhold Steig (Hrsg.): Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart, Berlin 1904 ( = Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm, Bd. 3), S. 70.
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In diese Richtung weist denn auch die erste öffentliche Ankündigung des Blattes - in der »Vossischen Zeitung« vom 25. September - , die den Unterhaltungscharakter des neuen Periodikums betont. Doch wie auf leisen Sohlen kündigt sich schon in dieser Annonce eine signifikante Einschränkung an: Die von Hitzig verlegte Zeitung werde ein Blatt sein, »welches das Publikum, in sofern dergleichen überhaupt ausführbar ist, auf eine vernünftige Art unterhält«.3 Eine weitere Einschränkung des prätendierten Unterhaltungkonzepts positiv formuliert: eine schärfere Konturierung des spezifisch journalistischen Programms - findet man bereits im 4. Blatt vom 4. Oktober: »Die Polizeilichen Notizen«, heißt es unverblümt, »haben nicht bloß den Zweck, das Publikum zu unterhalten [...]. Der Zweck ist zugleich, die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse zu berichtigen«.4 - Der auszugsweise Abdruck der Polizeirapporte, vom Berliner Polizeichef Justus Gruner, der anfanglich zugleich auch Kleists Zensor war, zur Verfügung gestellt, hatte für die BA somit mindestens zwei Funktionen: Die Rapporte waren zum einen der Publikumsköder überhaupt, zum anderen aber verliehen sie dem Blatt den Anstrich von unzensurierter Authentizität und Glaubwürdigkeit. Am 5. Oktober läßt Kleist die Katze dann vollends aus dem Sack. Selbstbewußt verkündet er - mit gesperrten Lettern - in einem beigelegten Avertissement jetzt, »daß bloß das, was dieses Blatt aus Berlin meldet, das Neueste und das Wahrhafteste sei«.5 - Mit anderen Worten: Die BA nehmen für sich in Anspruch, als einzige Zeitung aktuell und authentisch aus und über Berlin zu berichten. Sie reklamieren damit für sich das Monopol auf die publizistische Lücke zwischen den beiden großen, offiziösen Berliner Zeitungen, der »Vossischen« und der »Spenerschen Zeitung«, auf der einen Seite und den ortsansässigen Intelligenzblättern auf der anderen. Berücksichtigt man nun, daß das »täglich, mit Ausschluß des Sonntags«6 erscheinende Blatt herausgekommen ist, ohne daß ihm ein Privileg erteilt worden war - für politische Blätter unerläßlich - , so wird verständlich, weshalb bei seiner Etablierung strategisch vorgegangen werden mußte.7 Von den örtli3
4
5 6 7
Vf.: Kleists Pressespiegel. 3. Lieferung: 1810/1811. In: Brandenburger Kleist-Blätter 5. Basel, Frankfurt am Main 1992, S. 36 (Hervorheb. v. Vf.). Berliner Abendblätter. Hrsg. von Roland Reuß und Vf. 2 Bände. Basel, Frankfurt am Main 1997 (H. v. Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Vf., Bd. II/7 und II/8), Bd. II/7, S. 24. - Im folgenden zitiert als BKA mit Bandnummer und Seite. Ebd., S. 32. Ebd., S. 10. Daß Kleists Tageszeitung über einen Monat lang, d. h. bis zum 3. November, als sie eine Meldung über französische Kriegsverluste in Portugal brachte, von der Zensur offenbar relativ unbehelligt blieb, hängt zum einen gewiß mit der »Sicherheitspartnerschaft« zusammen, die die Berliner Polizei zum Zwecke der Strafverfolgung von Brandstiftern und zur Eindämmung der Alltagskriminalität mit Kleist unterhielt, zum anderen aber vermutlich auch mit dem Wohlwollen höfischer Kreise, die einen publizistischen Widerpart zu Hardenbergs staatlichen Reorganisationsmaßnahmen für unerläßlich erachteten. - Das überlieferte Aktenmaterial zu den obrigkeitlichen Maßnahmen gegen die BA und zum publizistischen Kontext von Kleists Zeitung wird vollständig mitgeteilt in der Dokumentation von Arno Barnert in Zsa. mit Roland Reuß und Vf.:
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chen Intelligenzblättem hatten die BA keinen Widerstand zu gewärtigen; soweit letztere überhaupt Anzeigen brachten, waren dies Annoncen, mit denen der erste BA-Verleger Hitzig für seine sonstigen Publikationen warb. Ganz anders dagegen die Konkurrenz der »Vossischen« und der »Spenerschen Zeitung«. Diese Konkurrenz gipfelte schließlich in einer gemeinsamen Eingabe beider Zeitungsverlage vom 22. Dezember 1810, worin sie unter Berufung auf ihr allerhöchst erteiltes Privilegium das ihnen verliehene Verlautbarungsmonopol anmahnten.8 Wenn die BA sich prononcierterweise an »alle Stände des Volks« wandten statt einzig und allein an die »gebildeten Stände« - und wenn sie außerdem die »nach allen erdenklichen Richtungen« zielende »Beförderung der Nationalsache überhaupt«9 auf ihre Fahnen geschrieben hatten, so waren sie dadurch dem Absatz der per Privilegium geschützten Zeitungen abträglich, zumindest aber für die Manipulatoren der öffentlichen Meinung eine vehemente Provokation.
II. Das Zeugnis, das wir Achim von Arnim über die Entstehung und Planung der BA verdanken, fuhrt zu der Frage nach seinem persönlichen Umgang mit Kleist in Berlin, und zwar zunächst während der Zeit vor dem Start der Zeitung am 1. Oktober 1810. Hierzu seien kurz die wenigen Daten und Namen in Erinnerung gerufen, die bislang bekannt geworden sind. Ende November 1809 war Kleist, wie uns scheinen muß: unvermittelt in Berlin aufgetaucht. Kleists Motive, nach dem Scheitern publizistischagitatorischer Projekte, die er um die Jahresmitte 1809 in Prag betrieben hatte, sich künftig in Berlin zu niederzulassen, sind unklar.10 Noch am 23. Novem-
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Polizei - Theater - Zensur. Quellen zu Heinrich von Kleists »Berliner Abendblättern«. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11. Basel, Frankftirt am Main 1997, S. 29-352. Vgl. auch Dirk Grathoff: Die Zensurkonflikte der »Berliner Abendblätter«. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Frankfurt am Main 1972, S. 35-168. Bamert 1997, vgl. Anm. 7, S. 309f. BKA, II/7, S. 98; die Formulierung »für alle Stände des Volks« auch in Kleists Brief an Eduard Prinz von Lichnowsky vom 23. Oktober 1810 (Vf. 1997, vgl. Anm. 1, S. 374). Die erste Skizze zu Kleists Biographie - Wilhelm von Schütz hat sie nach Auskünften von Marie von Kleist für Ludwig Tieck angefertigt - gibt hierzu die lakonische Auskunft: »Muß nach Prag zurük: lebt ein Zeit lang dort. Schwere [nachträglich] Krankheit: Reise nach Brün. Umgang [aus: Bekanntschaft] mit Arnim, Müller; Benkdorf [i. e. der &4-Autor Ludolph von Beckedorff]; Redaktion des Abendblatts [aus: Beiträge zum Abendblatt]«; zitiert nach Vf.: Kleist - in der Hand von Wilhelm von Schütz. Faksimile und Umschrift. In: Berliner Kleist-Blätter 2. Basel, Frankfurt am Main 1989, S. 41. - Für die in Berlin kursierenden Gerüchte um Kleists Aufenthalt in Prag gibt es mehrere zeitgenössische Äußerungen, ζ. B. den Brief Arnims an Bettina, 5. September 1809: »Heinrich von Kleist, der Herausgeber des Prometheus [!], ist in Prag bei den barmherzigen Brüdern gestorben«; zitiert nach Reinhold Steig (Hrsg.): Achim von Arnim und Bettina Brentano. Stuttgart, Berlin 1913 ( = Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm, Bd. 2), S. 329; siehe auch Anm. 11.
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ber 1809 nämlich hatte er seiner Schwester Ulrike von Frankfurt an der Oder aus mitgeteilt, »nach dem Österreichischen« zurückgehen zu wollen. Im Januar des folgenden Jahres unternahm er Aam eine Reise nach Frankfurt am Main, deren Grund uns, wie der so mancher anderen Reise Kleists, unbekannt ist. Am 4. Februar kehrte er, über Gotha kommend, wo er seinen Freund Hartmann von Schlotheim aufgesucht hatte, nach Berlin zurück und logierte sich dort im »Hotel de Prusse« ein. Ein paar Tage später bezog er sein letztes Domizil, eine Wohnimg in der Mauerstraße Nr. 53, unweit des Pistorschen Hauses, Nr. 34. Wie Brentano berichtet, wird Kleist bereits im Februar »Beisitzer« im Arnim/Brentanoschen »Freßkollegium«.11 Von da an sind weitere persönliche Kontakte zwischen Arnim und Kleist gelegentlich belegt. Berühmt geworden ist das Porträt, das Arnim in dieser Zeit Wilhelm Grimm gegenüber zeichnet: Kleist [...], eine sehr eigentümliche, ein wenig verdrehte Natur, wie das fast immer der Fall, wo sich Talent aus der alten Preußischen Mondirung durcharbeitete. [...] er ist der unbefangendste, fast cynische Mensch, der mir lange begegnet, hat eine gewisse Unbestimmtheit in der Rede, die sich dem Stammern nähert [...] er lebt sehr wunderlich, oft ganze Tage im Bette, um da ungestörter bei der Tabackspfeife zu arbeiten. 12
»Ungestörter«, oder vielleicht auch, es ist Februar: um nicht frieren zu müssen: Brennholz ist teuer und Kleist arm, wie Brentano etwa Freund Görres Mitte Februar 1810 zu berichten weiß13 - . Auch erfahren wir in dem Porträt von der hohen Wertschätzung, die Arnim dem »Phöbus«-Druck des »Kohlhaas« zollt: »eine treffliche Erzählung, wie es wenige giebt.« A propos »Phöbus«: Von Arnims Aufmerksamkeit für dieses Journal wissen wir aus der »Zeitung für Einsiedler«,14 wo sich der Hinweis auf Kleists Formulierung »Organisches Fragment« findet - von Kleist auf den »Phöbus«Druck der »Penthesilea« gemünzt. Und es ist die »Penthesilea« wiederum, seit Spätsommer 1808 im Handel, die sich Arnim zur Rezension (mglw. für die »Heidelberger Jahrbücher«) vom Berliner Verleger Georg Andreas Reimer erbeten hat.15 Arnims bereits erwähntes Urteil über Kleist als einem zweiten 11
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Brentano an Wilhelm Grimm, zweite Februarhälfte: »Unsre Tischgesellschaft hat sich jetzt sehr vermehrt. Der Poet Kleist, den Müller einmal tod gesagt, [...] ist frisch und gesund unser Mitesser, ein untersetzter Zweiunddreißiger, mit einem erlebten runden, stumpfen Kopf, gemischt launigt, kindergut, arm und fest.«; zitiert nach Reinhold Steig (Hrsg.): Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Stuttgart, Berlin 1914, S. 84f. Steig 1904, vgl. Anm. 2, S. 53f. Kleist »kann aber das Dichten nicht lassen und ist dabei arm«; zitiert nach: Clemens Brentano. Briefe. Zweiter Band 1810-1842. Hrsg. von Friedrich Sebaß. Nürnberg 1951, S. 30; siehe auch Anm. 11. Vgl. Nr. 8 vom 26. April 1808, Sp. 57f. »[...] ferner erbitte ich mir zur Durchsicht, wenn Sie gerade diese Bücher liegen haben oder mir gefalligst verschaffen könnten: Attila von Werner, Seumes Miltiades, Kleists Penthesilea [...]. Ich soll das recensieren und hab noch nichts als das erste mit Augen gesehen, das ist doch zuviel verlangt«; zitiert nach Reinhold Steig: Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelberger Jahrbüchern. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 11, 1902, S. 198, Anm. 1. Manuskript oder Veröffentlichung einer »Penthesilea«-Rezension von Arnim ist nicht nachzuweisen.
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Dante stützt sich, wie man annehmen darf, in der Hauptsache wohl auf die Lektüre der »Penthesilea«. Welche Personen bildeten das gesellschaftliche Milieu, in dem sich sowohl Arnim als auch Kleist bewegt haben? Zunächst und vor allem gehört hierzu A Ham Müller, der sich, aus dem Königreich Sachsen ausgewiesen, bis Anfang Juni 1811 in Berlin niedergelassen hatte.16 Januar bis März 1810 hielt Müller im großen Saal des Akademiegebäudes seine wöchentlichen Vorlesungen »Über König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preußischen Monarchie« - »Vorlesungen«, so Arnim an Wilhelm Grimm, »mit Beziehungen auf Änderungen unsrer Verfassung, die jetzt im Werke sind.«17 Müller wiederum schätzte die »Dolores«, wie aus dem Empfehlungsschreiben vom 5. Juni 1810 hervorgeht, mit dem er Arnim ein Entrée bei Friedrich Gentz verschaffte.18 Und vielleicht war es ebenfalls Müller - so die ältere Forschungsmeinung19 - , aus dessen Feder die kurze, aber desto rühmendere Vorstellung von »Halle und Jerusalem« in den BA vom 29. Dezember stammt; nach neuerer Auffassung20 hingegen war der Autor dieses Textes Kleist selbst, was immerhin bedeuten würde, daß auf diese Weise wenigstens eine Äußerung von Kleist über eine Arnimsche Dichtung überliefert wäre. Weitere Namen kommen ins Spiel durch überlieferte Nachrichten dreier gesellschaftlicher Zusammenkünfte, bei denen Arnim und Kleist einander begegnet sind. Die früheste dieser Zusammenkünfte ist eine Abendgesellschaft bei dem Arzt und Schriftsteller Karl Wolfart, von der Otto Heinrich von Loeben, ein Beiträger zu Kleists Zeitung wie auch wahrscheinlich der Gastgeber,21 in seinem Tagebuch unter dem Datum 23. Februar 1810 berichtet:22 anwesend außer Arnim und Kleist waren Brentano, Müller, der Prediger Franz Theremin, Charitédiretor Heinrich Kohlrausch sowie der Leiter des Königstädter Theaters Heinrich Eduard Bethmann (Ehemann der gefeierten Sängerin und Schauspielerin Friedrike Unzelmann). 16
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Am 7. Juni zieht Müller nach Wien, wo er bis Mitte August bei dem wirklichen Hofsekretär Freiherr Alois du Beine-Maschamps, Riemerstraße 871, logierte; diese Adresse hat Kleist für Arnim auf einen Zettel notiert, der sich, eingeklebt in Arnims Stammbuch, erhalten hat. Steig 1904, vgl. Aran. 2, S. 54. »Den Überbringer dieses Schreibens, Herrn Ludwig Achim von Arnim, brauche ich Ihnen so wenig zu empfehlen, als seine Arbeiten, von denen eine der neuesten und vortrefflichsten, >die Geschichte der Gräfin Dolorese so eben erschienen ist, die Sie lesen müssen«; zitiert nach Jakob Baxa (Hrsg.): Adam Müllers Lebenszeugnisse. Bd. 1. München, Paderborn, Wien 1966, S. 536. Reinhold Steig: Heinrich von Kleist's Berliner Kämpfe. Berlin, Stuttgart 1901, S. 504506, und in der inzwischen klassischen Studie von Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Berlin 1939 (Schriften der Kleist-Gesellschaft, Bd. 19), S. 32. Seit Helmut Sembdner: Neuentdeckte Schriften Heinrich von Kleists. In: Euphorion 53, 1959, S. 179-181. Wolfart konkurriert in der Kleist-Forschung mit Friedrich Gottlob Wetzel um die Verfassersigle »W...r« für den A4-Artikel »Über Darstellbarkeit auf der Bühne« (20.10.). Mitgeteilt von Dombrowsky, Alexander]: Tagebuchnotiz Graf Loebens, Berlin d. 23.2.1810. In: Euphorion 15, 1908, S. 575.
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Wohl im Juni desselben Jahres begegneten sich Arnim und Kleist abermals bei einer abendlichen Geselligkeit, diesmal bei der Frau des, so Brentano, »dicke[n] gute[n], alle Jahr einmal verrückte[n] Buchhändler[s] Sander«;23 mit von der Partie, natürlich, Brentano und Müller sowie Rahel Varnhagen und Amalie von Helvig nebst deren beiden Schwestern; Rahel hat sich zehn Jahre später in einer reizenden Miniatur daran erinnert: »Achim Arnim und Clemens Brentano in schwarzen Theekleidern und Bestrumpfung [...]. Kleist, mit straßenbeschädigten Stieflen«.24 Das dritte gemeinsame gesellschaftliche Auftreten, das dokumentarisch belegt ist, fand anläßlich der Taufe Cäcilie Müllers am 16. November 1810 statt.25 Der erwähnte Franz Theremin nahm die Taufe vor. Als anwesende Paten verzeichnet das Kirchenbuch u. a. Arnim, Friedrich von Pfuel, Kleist, den Architekten Langhans und Ludolph von Beckedorff sowie Elisabeth Stägemann, Gunda von Savigny, die Ehefrau des unglückseligen KleistNekrologen Peguilhen und last but not least Henriette Vogel. Zu diesen Namen werden sich durch künftige Forschungen gewiß noch weitere hinzufugen lassen. Skepsis gegenüber solcherart Personenkumulation scheint jedoch angebracht. Namenslisten taugen zur Erhellung der &4-Historie bzw. des Verhältnisses von Arnim und Kleist nicht sonderlich viel, sofern man nicht, wie dies etwa Reinhold Steig26 getan hat, aus Namen Platzhalter ideologischer Positionen macht, deren Schematik im vorhinein entschieden ist, und das vielfältige Verwobensein dieser Namen in die Berliner Gesellschaft und ihrer zahlreichen Zirkel sub specie Verschwörung in Steinchen eines Puzzles bricht, das am Ende das Bild von drei in sich gleichgeschalteten Kriegsparteien - Reformer, Reformgegner, Juden - ergibt. Die rekurrente Erwähnung bestimmter Personennamen besitzt zwar durchaus suggestive Qualitäten, angesichts der Kontingenz des Überlieferten aber nur eine geringe Beweiskraft.
III. Um Achim von Arnim als Autor der BA ein detailliertes Profil geben zu können, halte ich ein schrittweises Vorgehen für angebracht. Zunächst rekapituliere ich deshalb Arnims Produktion für das Blatt im ganzen. Sodann thematisiere ich das Problem der Autorschaft im Zusammenhang mit Kleists Zeitungsprojekt im allgemeinen. In einem weiteren Schritt gehe ich näher auf Arnims ungedruckt gebliebene Artikel ein, ehe ich dann abschließend zu den publizierten Texten Arnims kommen werde. M 24
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Cf. Steig 1914, vgl. Anm. 11, S. 88. Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Zweiter Theil. Berlin 1834 (Photomechanischer Neudruck. München 1983), S. 611. Hierzu Jakob Baxa: Die Taufe der Cäcilie Müller. In: Euphorion 53, 1959, S. 92-102, und Horst Häker: Zu einigen Bekanntschaften Adam Müllers und Heinrich von Kleists in den Jahren 1810/11. In: Euphorion 84, 1990, S. 367-396. Mit nachgerade zwanghafter Gesinnungsschnüffelei und Einordnungswut in Steig 1901, vgl. Anm. 19.
Achim von Arnim und Kleists »Berliner Abendblätter«
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Nach Kleist, wie sich von selbst versteht, und nach Adam Müller, den man in Berichten auswärtiger Journale verschiedentlich für den Mitherausgeber gehalten hat,27 rangiert Arnim als der fleißigste Mitarbeiter. Der Vollständigkeit halber sei schon hier erwähnt, daß Arnim auch indirekt mitgewirkt hat. So hat er, sehr zum Verdruß Wilhelm Grimms, dessen Manuskript »Räthsel aus der Hervararsaga« zum Abdruck (23.1.1811) weitergeleitet. Denkbar, aber nicht belegt ist, daß er an Kleist auch Bücher entliehen hat, etwa das Exemplar von Froissarts »Croniques de France, d'Engleterre, d'Escoce ...« oder Bände seiner »Hans-Sachs-Ausgabe« (für die beiden »Legenden nach Hans Sachs« in den BA vom 3. bzw. 8.12.); der Froissart-Druck, der Kleist freilich auch aus dem Besitz Brentanos oder Fouqués zur Verfügung hätte gestellt worden sein können, steht in intertextueller Kommunikation mit der »Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs« (20./21.2.1811)28 und bekanntlich mit der in Kleists Erzählungsband von 1811 erstpublizierten Erzählung »Der Zweikampf«.29 Zweifelsfrei auf Arnim zurückführbar sind 13 Texte der BA, die mit sprechendes Kürzeln signiert sind (neunmal: L. Α. ν. Α.; je einmal: Α. ν. Α., ava., vaa., aa.). Die einmal anzutreffende Sigle »aa.« erklärt sich vermutlich aus dem Umstand, daß der Schlußteil des Artikels »Übersicht der Kunstausstellung«, der damit unterzeichnet war, im selben »39ten Blatt« (14.11.) erschien wie Arnims Gedicht anläßlich der Taufe Cäcilie Müllers »Auf einen glücklichen Vater« (gezeichnet: Α. ν. Α.). Als Autor beteiligt und in den BA auch als solcher namhaft gemacht ist Arnim außerdem an dem gemeinsam mit Brentano verfaßten, von Kleist redaktionell umgearbeiteten Aufsatz »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« (13.10., signiert: cb.) Nimmt man nur die mit den gesicherten Kürzeln versehenen Texte, so ist Arnim erstmals am 11. Oktober 1810 (mit dem Gedicht »Räthsel auf ein Bild der Ausstellung dieses Jahres«), letztmals am 31. Januar 1811 (mit der biographischen Skizze »K. L. Fernow«) in Kleists Zeitung vertreten. Seine Mitarbeit fällt damit in die gleichsam heroische Phase des Blatts, in sein erstes Quartal, in welchem die Zeitung zu über Dreiviertel aus Originalbeiträgen bestand (im zweiten Quartal machten sie nur noch ein Fünftel aus). Ein weiterer Teil des Korpus von Arnimschen Artikeln besteht aus solchen, die ungedruckt blieben. Nach heutiger Kenntnis zählt man hierzu sieben Texte. Einige waren vermutlich von Kleist abgelehnt worden, andere hatte der Zensor unterdrückt. Zu letzterem bemerkt Arnim in einem Brief an die Brüder Grimm zu Neujahr 1811: »Beinahe zehn Aufsätzen von mir ist das Imprimatur verweigert.«30 27 28
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Vf. 1992, vgl. Anm. 2, S. 42, 48. Zuvor in den in Hamburg erschienenen »Gemeinnützigen Unterhaltungs-Blättern«, 21.4.1810, Nr. 16; nach Helmut Sembdner: Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit an einem Hamburger Journal. Neuentdeckte Prosatexte. In: JDSG 25, 1981, 4 7 - 7 6 . Hierzu das Nachwort von Roland Reuß in: Der Zweikampf. Hrsg. von R. R. in Zsa. mit Vf. Basel, Frankfurt am Main 1994 (H. v. Kleist. Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von R. R. und Vf., Bd. H/6), S. 88f. Steig 1904, vgl. Anm. 2, S. 96.
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Und schließlich sind vier in den BA publizierte Texte zu nennen, deren Zuschreibung kontrovers ist und für die in der Forschung verschiedentlich Arnim als Verfasser erwogen wird. Das Kuriosum vorneweg: Steigs Arnim-Zuschreibung der Anekdote »Muthwille des Himmels« (10.10., unsigniert). Zur Erheiterung lese man in »Heinrich von Kleist's Berliner Kämpfe«, S. 360-362, wo u. a. mitgeteilt wird, der Druck sei mit »r.« unterzeichnet! Ungleich problematischer ist eine eindeutige Autorzuschreibung bei der Geschichte »Von einem Kinde, das kindlicher Weise ein anderes Kind umbringt« (13.11., unsigniert). Diese an einen Bericht aus Jörg Wickrams »Rollwagenbüchlein« - im Druck bleibt diese Quelle ungenannt - anknüpfende Betrachtung gehört seit Rudolf Köpkes Edition »Heinrich von Kleist. Politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken« (1862) zum Kleistkanon, und es ist abermals Steig, der eine dissidente Auffassung vertritt.31 Zwei von Steig vorgetragene Argumente verdienen indes Aufmerksamkeit: zum einen die Übernahme der genannten Wickram-Erzählung in den »Anton-Roman« der »Kronenwächter«,32 und zweitens, daß die in den BA vorgenommene Applikation des Wickram-Textes auf Weimarer Aufführungen von Zacharias Werners Trauerspiel »Der 24. Februar« unmöglich von Kleist herrühren könne, da dieser, im Unterschied zu Arnim, weder über das Weimarer Theater auf dem laufenden war noch zu Werner irgendwelche Verbindungen unterhielt. Der dritte mit Arnim in Verbindung gebrachte Text: Am 1. Dezember machten die BA unter der Rubrik »Vermischte Nachrichten« u. a. auf dressierte Kanarienvögel aufmerksam, die seinerzeit in Dresden für Furore sorgten. Ungeklärt ist, ob diese unsignierte Miszelle ein Nachdruck oder ein Originalbeitrag ist. Hermann F. Weiss hat 1984 die Verfasserfrage aufgeworfen wohl zum ersten Mal überhaupt - und unter Hinweis auf Arnims scherzhafte Tischrede »Einführung des gelehrten Kanarienvogels« deren Autor als möglichen Kandidaten ins Gespräch gebracht.33 Das von Weiss gesetzte Fragezeichen möchte ich dick unterstreichen. Einmal könnte die auf 1811 zu datierende Tischrede von dem Ä4-Druck inspiriert sein und also auf ihn zurückgehen, zum anderen hätte Arnim durchaus Gelegenheit gehabt, die dressierten Kanarienvögel - zum Jahreswechsel 1810/11 - mit eigenen Augen in Berlin zu sehen.34 Als vierter zur Gruppe möglicher Arnim-Beiträge gehörender Text zählt die Anekdote »Der verlegene Magistrat« (4.10.), signirt: rz.. Dieselbe Sigle 31 32
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Steig 1901, vgl. Anm. 19, S. 201-203. Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989 (Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwicku. a., Bd. 2), S. 454ff. Hermann F. Weiss: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist. Tübingen 1984, S. 184. Lt. Annonce im »Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici«, 24.12.1810, Nr. 307, S. 5022: »Herr Jeantet macht den hohen Adel und respektiven Publikum bekannt, daß seine gelernte Canarienvögel, welche buchstabieren und rechnen können, noch immer zu sehen sind. Der Schauplatz ist in der Königsstraße im Gauseschen Hause No. 61.«
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begegnet noch zwei weitere Male: unter zwei Theater-Artikeln (13.11. bzw. 27.11.), die mit den anläßlich der Aufführung des Singspiels »Die Schweizerfamilie« ausgebrochenen Publikumstumulten in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Für beide Artikel nimmt die Forschung Kleist als Autor in Anspruch; einzig Steig enthält sich einer Zuschreibung, zumindest schließt er Kleist als Verfasser aus. Die »Magistrat«-Anekdote hat Theophil Zolling 1884 in die Kleist-Ausgaben eingeführt; seit Steig wird der Ä4-Druck als Kleists Bearbeitung einer von Arnim stammenden Anregung, womöglich sogar Vorlage betrachtet (Arnim veröffentlicht seine eigene Version der Anekdote im »Preußischen Correspondenten« vom 31. Januar 1814).35
IV. Im Zusammenhang mit der Zuschreibung von Texten rückt ein grundsätzliches Problem in den Blick, dessen Reflexion für ein adäquates Verständnis des Status der BA insgesamt wie auch des Status jedes einzelnen Textes in ihnen mir unverzichtbar erscheint.36 Gesetzt den Fall nämlich, es ließe sich einem jeden Text zuverlässig ein Autor zuordnen, und außerdem angenommen, ein jeder dieser Autoren bekäme eine eigene Ausgabe seiner Werke, so erwiese sich das historische Textensemble, das die BA sind, als Chimäre, bestenfalls als Depot, in welchem die Beiträger ihre Artikel Zwischenlagern, ehe sie vom jeweiligen Editor daraus wieder hervorgeholt und in eine Werkausgabe als ihrem letzten Bestimmungsort transportiert werden. Einer solchen Auffassung stehen aber wohl mehrere Faktoren entgegen; an erster Stelle der Umstand, daß Kleist als Herausgeber, Redakteur und Arrangeur des Blattes die Publikation des ihm vorliegenden Materials verantwortet hat. Hieraus ergibt sich im Hinblick auf die editorische Isolierung einzelner Zeitungsartikel eine höchst unangehme Frage, beispielsweise: Sind die mit Arnims Siglen unterzeichneten Ä4-Texte Texte Arnims? Kleist selbst gibt darauf eine Antwort. Im berühmten 19. Blatt vom 22. Oktober 1810 - berühmt zum einen wegen seines Aufmachers mit dem Titel »Erklärung«, worin Kleist sich als Herausgeber nach über dreiwöchiger Anonymität outet (»[...] unterschreibe ich mich, | der Herausgeber der Abendblätter. I Heinrich von Kleist«) - in jenem Blatt also findet sich, abschließend, unter dem Strich, eine weitere »Erklärung«; deren Anlaß ist bekanntlich die schwere Verärgerung insbesondere Brentanos über die Publikation der von Kleist eigenmächtig, so der Vorwurf, umgearbeiteten - und zwar rigoros umgearbeiteten Bildbetrachtung von C. D. Friedrichs »Mönch am Meer«; pikanterweise ist Kleists Abdruck mit den Buchstaben »cb.« unterzeichnet.37 35
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Achim von Arnim: Sämtliche Erzählungen. 1802-1817. Hrsg. von Renate Moering. Frankfurt am Main 1990 (Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick u. a., Bd. 3), S. 905f. Zum Folgenden siehe auch Roland Reuß, BKA II/8, S. 384-389. Mit der Sigle »B.A.« erschien der von Arnim und Brentano eingereichte Text erstmals
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In letzterer »Erklärung« lautet Kleists Antwort auf das Problem Autorschaft, nicht ohne Hintersinn: »nur der Buchstabe desselben [i.e. des Aufsatzes] gehört den genannten beiden Hrn.; der Geist aber, und die Verantwortlichkeit dafür, so wie er jetzt abgefaßt ist, mir.« Diese Auskunft gilt, wie ich behaupten möchte, für jeden Artikel, der auf dem Weg über Kleist in die BA gelangt ist, und es besteht keinerlei Grund zu der Ansicht, daß es noch andere Wege gegeben hätte. Kleist behält sich die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Artikels vor, ebenso die Entscheidung über Art und Ausmaß redaktioneller Eingriffe bzw. Nichteingriffe. Er ist Autor und Nicht-Autor zugleich, Nachdrucker und Redakteur. Er reklamiert für sich, wie zitiert, sowohl den Geist der zum Abdruck gelangten Artikel wie auch die Verantwortlichkeit für sie. Indessen, Arnim und Brentano haben >ihren< Dialog vor Friedrichs Bild zuerst am Buchstaben, keineswegs am Geist, nicht wiedererkannt, ja sie haben ihren Buchstaben nicht einmal mehr wiedergefunden, denn der Geist - notabene Kleists Eigentum - hatte in den BA längst einen andersartigen Buchstaben angenommen, nämlich den von Kleist. So paradox es klingen mag, es scheint mir in der Konsequenz von Kleists »Erklärung« zum Friedrich-Aufsatz zu liegen, daß zunächst nur diejenigen Beiträge als authentische Arnim-Texte gelten können, die nicht in den BA gedruckt worden sind. Andererseits, und durchaus nicht in sophistischer Absicht gefragt: Kann man Texte, die, im Auftrag oder aus freien Stücken, wir wissen es nicht, für die BA geschrieben, aber dort nicht abgedruckt worden sind, überhaupt als »Beiträge* sensu stricto bezeichnen? Wohl kaum, denn mit dem Eintritt in die Zeitung wird ein Text in Kontexte und Intertexte verstrickt und es wachsen ihm Sinnebenen zu, die er als isolierter, als Werk eines bestimmten, namhaft zu machenden Autors, nicht hat. Von daher schlage ich vor, die Bezeichnung >&4-Beitrag< allein für solche Texte zu reservieren, die, redigiert in welcher Form auch immer, in Kleists Periodikum erschienen sind und sich zugleich auch im Manuskript erhalten haben, etwa Arnim Glosse »Sonderbares Versehn« (3.11.) oder eben der erwähnte Aufsatz bzw. Dialog zu Friedrichs Bild.38
V. Die Entstehungsdaten von Arnims ungedruckt gebliebenen Arbeiten für Kleists »Berliner Abendblätter« sind, mit einer Ausnahme, bestimmbar (nach Bd. 6 der Arnim-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag; künftig: DKV-Kommentar).
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im Journal »Iris. Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen und Nützlichen«, 28.1.1826, Nr. 20, S. 77f. Diplomatische Edition des Arnim/Brentano-Manuskripts durch Arno Barnert in Zsa. mit Roland Reuß und Vf.: Zwei literarische Quellen aus dem Umkreis der »Berliner Abendblätter«. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11. Basel, Frankftirt am Main 1997, S. 357-360.
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Der möglicherweise früheste Text sind die »Betrachtungen über ein allgemeines Stadtgespräch«, die vom DKV-Kommentar auf »etwa Ende Oktober oder November 1810« gesetzt werden.39 Mit Bezug auf diesen Artikel schreibt Arnim am 14. Juli 1811 an Jacob Grimm, »daß die Äußerungen gegen H-rerei in der Philisterabhandlung [Brentanos] aus einem Aufsatze von mir entlehnt sind, dem die hiesige Censur den Abdruck untersagte, weil er Staatseinrichtungen angegriffen.«40 - Allein, war es wirklich die Zensur? Der Text der »Betrachtungen« ist nicht eben kurz, und es ist an Kleists bereits erwähnten Brief an Arnim vom 14. Oktober zu erinnern, worin es heißt: »was soll ich aber mit Euren anderen Aufsätzen machen, die es Euch leicht wird, lustig und angenehm hinzuwerfen, ohne daß Ihr immer die nothwendige Bedingung, daß es kurz sei, in Erwägung zieht?«41 Als früheste ungedruckt gebliebene Arbeit kommt freilich auch in Frage die »Erinnerung an eine ältere Mordbrennerbande«; das mit Rotstift durchgestrichene Manuskript trägt die Signatur »L. A. v. A.«. Der DKV-Kommentar setzt den Text auf Oktober oder November und hält dafür, daß er »unter dem unmittelbaren Eindruck der Brandstiftungen« der Horstschen Bande, dokumentiert in den Polizeirapporten der ersten &4-Lieferungen, niedergeschrieben sei.42 Weiterhin zu erwähnen sind die satirischen Miszellen »Aeronautische Aufforderung« und »Neue Religion«, die sich zusammen mit der am 3. November gedruckten Glosse »Sonderbares Versehn« auf einem an Kleist adressierten Doppelblatt finden.43 Demnach sind sie vor diesem Datum niedergeschrieben und als Ä4-Beiträge beabsichtigt. Das Fehlen von redaktionellen Korrekturen scheint dafür zu sprechen, daß Kleist sie für einen Abdruck nicht in Erwägung gezogen hat. Mit der Sigle »ava« gezeichnet ist der ungedruckt gebliebene Aufsatz »Theater«. Er wäre, entgegen der Datierung »vermutlich Oktober/November 1810« im DKV-Kommentar,44 wohl eher auf Mitte/Ende November zu setzen. Zum einen ist zu berücksichtigen, daß Anfang Dezember die Zensur Kleists Zeitung und dem Berliner Journal »Der Freimüthige« den Abdruck von Theaterartikeln verbot;45 zum zweiten ein Brief Arnims an Iffland vom 6. Dezem39
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Achim von Arnim: Schriften. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt am Main 1992 (Achim von Arnim. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick u. a., Bd. 6), S. 1208. Steig 1904, vgl. Anm. 2, S. 138. Vf. 1997, vgl. Anm. 1, S. 372f. (Hervorheb. v. Vf.). Arnim 1992, vgl. Anm. 39, S. 1204. Abgebildet in: Heinrich von Kleist und Achim von Arnim. Zwei Autographen aus dem Jahre 1810. Mit Faksimiles und einem Kommentar von Horst Häker. Frankfurt (Oder) 1995. Arnim 1992, vgl. Anm. 39, S. 1205. Vgl. hierzu die in Anm. 7 genannten Quellendokumentationen; außerdem Arnim an Goethe, 6.1.1811: »Was ich lange fürchtete, aber mir mit Hoffnungen fortschmeichelte, ist endlich auch bey uns geschehen, es habe[n] einige an wirksamer Stelle so viel Liebhaberey für ihre Ideen gewonnen, daß sie das Volk einmal auf einige Zeit wieder nach ihrer Art zum Glück zwingen möchten [...]. Die ruhigsten Aufsätze darüber, die H. H. von Kleist, in einem Tagblatte, das hier erscheint und mancherley Gutes enthielt, von
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ber 1810, worin dieser »Theater«-Text erwähnt wird.46 »Die Polizei«, klagt Arnim dort, »ist bis zum Wahnsinn, (der alles auf eine fixe Idee bezieht) ängstlich geworden in allem was das Theater betrifft«, weshalb ihm sein »ganz unschuldiger [...] Aufsatz« verworfen wurde. - Ursache der polizeilichen idée fixe sind tumultuarische Vorkommnisse bei zwei Aufführungen des Singspiels »Die Schweizerfamilie« am 21. und 26. November. In dem Bericht der von Hardenberg eingesetzten Untersuchungskommission - »Iffland und Hardenberg hängen wie Rad und Wagenschmiere zusammen«, schreibt Arnim am 30. Dezember 1810 an Wilhelm Dorow47 - werden 22 Personen als Urheber bzw. Teilnehmer der Publikumsunruhen nahmhaft gemacht, als Drahtzieher gilt der Major v. Möllendorff; unter Nr. 20 firmiert darin »v. Arnim, der jüngere«, über den es heißt: »gehört ebenfalls zu den Gesellschaften bei dem ν Möllendorff. Dort hat man eines Tages nach dem Vorfall [26.11.] behauptet, daß er mitgepocht habe. Er soll darauf aber erklärt haben, daß er bei dem Vorfall seinen Stock in die Höhe gehalten hätte, damit man sehe das er nicht poche. Er ist an dem zu seiner Vernehmung angesezten Termin nicht erschienen und wegen der Geringfügigkeit seiner Concurrenz, und um die Sache nicht weiter aufzuhalten, nicht wieder vorgeladen.«48 Auf Mitte November fallt die Entstehung von Arnims »Schreiben an den Herausgeber dieser Blätter«, das Kleist nicht eingerückt hat.49 Mit dem »Schreiben« beabsichtigte Arnim, seinen Streit mit dem Staatsrat Johann Gottfried Hoffmann zum Abschluß zu bringen, der ihn im Verlauf der Auseinandersetzung um den Königsberger Nationalökonomen Christian Jacob Kraus bezichtigt hatte, gefahrlicher als der zu Festungshaft verurteilte Verfasser der »Feuerbrände«, Friedrich von Cölln, zu sein. Bleibt schließlich ein für die BA bestimmter Text, der nicht genauer datierbar ist. Es ist dies die mit Kleists Korrekturen versehene »Anfrage über Vielmaurerei«. Der DKV-Kommentar setzt das Manuskript in den »Zeitraum Mitte Oktober-Dezember 1810« und stellt dazu die Erwägung an, der Zensor habe den Artikel möglicherweise als respektlose Stichelei gegen die preußische Justiz empfunden.50 Einen weiteren Bezug, der für die Unterdrückung des scherzhaften Leserbriefs maßgeblich gewesen sein könnte, kann man in mehreren Aufsätzen und besonders Nachrichten der BA sehen, in denen von Napoleons Bauwut und der imperialen Umgestaltung von Paris die Rede ist - etwa am 8. November, in einem Nachdruck aus Zschokkes »Miszellen für die Neueste Weltkunde«: »Es
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verschiednen Verfassern mittheilen wollte, wurden ebenso zurückgewiesen vom Abdruck wie der gutmiithigste Scherz; und das Nationaltheater erfuhr gleichen Schutz [...].«; zitiert nach Heinz Härtl: Ein Brief Arnims an Goethe 1811. In: Goethe-Jahrbuch 96, 1979, S. 197. Vf. 1997, vgl. Anm. 1, S. 384. Vf. 1997, vgl. Anm. 1, S. 391. Barnert 1997, vgl. Anm. 7, S. 294. Diplomatische Edition der Handschrift durch Vf.: Kleist bei Varnhagen in Krakow. Eine Bestandsaufnahme mit Anhang. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7. Basel, Frankfurt am Main 1994, S. 85. Arnim 1992, vgl. Anm. 39, S. 1207.
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wäre ein weitläuftiges Geschäft, wird aus Paris geschrieben, die große Menge öffentlicher Arbeiten herzuzählen, die jetzt daselbst im Werke sind und sich mit einer Schnelligkeit, der kaum das Auge folgt, ihrer Vollendung nähern«.
VI. Die unter Arnims Initialen in den BA gedruckten Arbeiten, um die es nun gehen soll, lassen sich, nimmt man die (einmalige) Gemeinschaftsproduktion mit Brentano aus, zunächst auf drei Sparten verteilen. Die Klassifizierung, die von der Arnim-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags vorgenommen wird, hat folgende Differenzierung: Erstens: Drei Gelegenheitsgedichte (»Räthsel auf ein Bild der Ausstellung dieses Jahres«, 11.10.; »Der Studenten erstes Lebehoch bei der Ankunft in Berlin am 15ten Oktober«, 15.10.; »Auf einen glücklichen Vater«, 14.11.), Zweitens: Eine Erzählung (»Warnung gegen weibliche Jägerei«, 5./6.11.), Drittens: Neun »Prosatexte«. Letztere Sammelbezeichnung rührt, wie mir scheint, von einer Verlegenheit gegenüber spezifisch journalistischen Textsorten her, die, wenn ich etwa die bisherigen Kleist-Ausgaben zum Vergleich heranziehe, dort in ähnlicher Weise anzutreffen ist. Um diese neun in Frage stehenden Texte hinsichtlich ihres jeweiligen Status näher bestimmbar zu machen, möchte ich eine Typologie vorschlagen, die am Leitfaden der Mitteilungsformen, wie sie in Kleists Zeitung vorkommen, gewonnen ist. Demnach ergäbe sich folgendes Bild: Glossen: »Sonderbares Versehn« (3.11.); »Die sieben kleinen Kinder« (8.11.); »Austern und Butterbrodte, die an den Bäumen wachsen« (13.12.) historische Miszelle: »Nachricht von einem deutschen Seehelden« (28.11.) wirtschaftspolitischer Kommentar: »Noch ein Wort der Billigkeit über Christ. Jacob Kraus« (31.10.) Gegendarstellung: »Wer ist berufen?« (10.11.) Kunstkritik: »Übersicht der Kunstausstellung« (12.-14.11.) Lokalbericht: »Bei Gelegenheit der Jubelfeier in der Waisenhauskirche« (27.12.) Porträt: »K. L. Fernow« (30./31.1.). Betrachtet man Arnims Auftreten in den BA in toto, so wird eine große Kluft von Anspruch - vielleicht auch Selbsttäuschung - und Wirklichkeit sogleich sichtbar. Der Beitrag, mit dem Arnim sich am 31. Oktober in die Kontroverse um Kraus und die sozioökonomische Reorganisation des preußischen Staates eingemischt hatte, war kaum gedruckt - und schon gestand Arnim am 2. November den Brüdern Grimm: »Ich bin noch immer ein thätiger Mitarbeiter am Abendblatte, ungeachtet es mir im Ganzen nicht gefällt, blos um hin und wieder meine Gesinnung über allerlei Minister zu sagen.«51 Als ob das 51
Steig 1904, vgl. Anm. 2, S. 84.
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so einfach gewesen wäre, unter den gestreng-ängstlichen Augen der Zensur. Als ob sich Arnims »Lust zum Einrichten des Staats« (an Bettina, 15. Januar 1809)52 in einen Zwang zu persönlicher Polemik verwandelt zu haben schien. Nein, Arnims Begründung für seine Teilnahme an Kleists Zeitung ist burschikose Vollmundigkeit, schwerlich etwas anderes. Man bedenke vor allem: Bis zu dem Brief an Jacob und Wilhelm Grimm hatte Arnim außer dem besagten Beitrag zu Kraus lediglich zwei Gelegenheitsgedichte sowie den Aufsatz über das Friedrich-Bild im Blatt untergebracht, und es war selbst für Steig, der mit politischen Insinuationen ansonsten schnell bei der Hand war, nicht möglich, in sie einen Einspruch gegen Hardenbergs Reformpolitik - gegen wen auch sonst? - hineinzulesen. Wie verhält es sich des näheren mit Arnims Wunsch, in den BA »hin und wieder seine Gesinnung über allerlei Minister zu sagen«? Zur Charakterisierung von Arnims politischer Haltung geben seine Artikel, sieht man von dem Aufsatz über Kraus ab, nicht sonderlich viel her. Die aus Zensurgründen wohldosierten kritischen Anspielungen auf Ifflands Theaterdirektion etwa oder auf die Kontinentalsperre halten sich, harmlos genug, auf der allgemeinen Linie des Blattes. Ob er sich bewußt war, daß sein Gedicht »Der Studenten erstes Lebehoch bei der Ankunft in Berlin am 15ten Oktober«, gedruckt am Geburtstag des Kronprinzen und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bericht eines mutmaßlich scheiternden Baiionaufstiegs, ein Komplement bildet zu dem höhnischen Willkommensgruß »An unsern Iffland bei seiner Zurückkunft in Berlin« (3.10.) und Kleists »Ode auf den Wiedereinzug des Königs im Winter 1809« (5.10.), einer fragwürdigen Huldigung voller frommer Lügen - wir wissen es nicht. 53 Arnims Aufsatz »Noch ein Wort der Billigkeit über Christ. Jacob Kraus« erschien am 31. Oktober 1810. Er ist die erste publizistische Stellungnahme eines Adligen in der Kontroverse um Kraus, die einen persönlichen Hintergrund hat: Adam Müllers gescheiterte Bewerbimg auf den Lehrstuhl für Kameralistik an der neuen Berliner Universität.54 Müllers Artikel vom 12. Oktober, der den Streit eröffnet, ist eine Kampfansage an den neuberufenen Lehrstuhlinhaber Johann Gottfried Hoffmann, einen Schüler und Amtsnachfolger von Kraus. Aus der Feder des angegriffenen Hoffmann stammt denn wohl auch die erste ausführliche Replik in den BA vom 22. Oktober. Zum Zeitpunkt, da Arnim in die Debatte eingriff, die sich im Kern um die Aufhebung der Erbuntertänigkeit drehte, hatten sich die Fronten bereits geklärt. Auf der einen Seite Adam Müller, der den Antagonismus zwischen hergebrachten Gesetzen und der neuen Administration beschwor, auf der Gegenseite Hoffmann als Repräsentant der Reformer, die die Macht im Staat » 53
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Steig 1913, vgl. Anm. 10, S. 247. Zu Kleists Ode und zu ihrem Kontext in den BA siehe Walter Hettche: Heinrich von Kleists Lyrik. Frankfurt am Main, Bern, New York 1986 (Europäische Hochschulschriften I, Bd. 859), S. 222-231. Ich folge hier und im weiteren der Darstellung, die Heinz D. Kittsteiner auf einer deutsch-italienischen Tagung zu Kleists BA in der Villa Vigoni im April 1997 vorgetragen hat; die Tagungsakten erscheinen demnächst im Druck.
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innehatten, den Verwaltungsapparat weitgehend hinter sich wußten und sich durch eine naturrechtliche Interpretation des wirtschaftlichen Wachstums als Quelle von Aufklärung, Freiheit und Gerechtigkeit legitimierten. Bekanntlich ergriff Arnim Adam Müllers Partei. Grundsätzlich stimmt er mit dessen Urteil über Kraus überein, macht aber, das ist wohl charakteristisch für ihn, regionale Differenzen für Kraus' Wirkung geltend. Allenfalls auf die Verwaltung, so Arnim, habe Kraus Einfluß gehabt, wie das soeben erlassene Finanzedikt über die Tilgimg der Kriegsschulden beweise. Im übrigen seien besonders Kraus' Verdienste um die »Separationen und Dienstaufhebungen« übertrieben dargestellt worden; schon Friedrich II. habe sie gefordert; bezeichnenderweise läßt Arnim jedoch unerwähnt, daß die sogenannte »spätfriederizianische Urbarienpolitik« vom Adel nachhaltig hintertrieben worden war, weshalb mit Ausnahme von Ostpreußen, wo ein liberaler Adel vom florierenden Getreideexport profitierte, sich mehr oder minder spätfeudale Agrarverhältnisse behauptet hatten. Fazit von Arnims Aufsatz: Der heraufziehende Konflikt einer reformsüchtigen Administration mit den überkommenen Rechtsverhältnissen werde von der gegnerischen Partei durch vorgeschützte »Gegenversicherungen« verharmlost. Und: Es werden indirekt Revolutionsängste geschürt, wenn Arnim ein »Durchbrechen der Hindernisse« an die Wand malt. Mit Arnims Intervention zugunsten des Müllerschen Standpunkts gewann die Auseinandersetzimg, die bis dahin von bürgerlichen Intellektuellen in einem Stellvertretergefecht geführt worden war, an Bodenhaftung. Mit ihr kamen nun die Interessen des landbesitzenden Adels, Stichwort: Erbuntertänigkeit, ins Spiel. Allein, die offensive Verteidigung dieser Interessen war keineswegs der einzige Anlaß für Arnims Aufsatz. Hoffmann nämlich, gegen den Arnim seinen Hauptschlag führt, habe den die Debatte vom Zaun brechenden ersten Artikel bei der Regierung angeschwärzt und nichts anderes zu tun gewußt, als auf die Gefährlichkeit des Autors und seiner Lehren für die Jugend hinzuweisen. Also war Arnims Aufsatz auch ein Freundschaftsdienst für Adam Müller. Für Arnim selbst nimmt die Debatte daraufhin den Charakter einer Privatfehde mit Hoffmann an, mit gedruckten und ungedruckten Erwiderungen, Richtigstellungen und so fort. An der Kontroverse über den »Nationalkredit« aber und die damit zusammenhängende Diskussion um die Tilgung der preußischen Kriegsschulden, die den totgelaufenen Zwist um Kraus ablösen sollte, hat sich Arnim nicht mehr publizistisch beteiligt.
VII. Arnims Begegnung mit Kleist im Kontext der »Berliner Abendblätter« hatte nur ein kurzes Nachspiel - übrigens hat Arnim die Zeitung nach Kleists Tod, soweit ich sehe, kaum wieder erwähnt.55 55
Eine der wenigen Ausnahmen ist eine kurze Notiz, die mitgeteilt wird von Heinz Härtl:
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Nachdem die meisten von Kleists näheren Bekannten Berlin den Rücken gekehrt hatten, schrieb der gescheiterte Zeitungsherausgeber an seine Cousine Marie von Kleist Mitte Juli 1811: Derjenige, mit dem ich jetzt am liebsten, wenn ich die Wahl hätte, in ein näheres Verhältniß treten mögte ist der gute sonst nur zu sehr von mir vernachläßigte Achim Arnim. Aber dieser läßt sich, seitdem er verheiratet ist, weder bei mir noch einem Andern sehen. 56
Wenig später verließ aber auch er Kleists Aufenthaltsort. Freilich nicht ohne zwei Rätsel zu hinterlassen, an der sich die Phantasie von Kleistforschern und -lesern bis heute entzündet. Das eine: In einem undatierten Billett - wohl zwischen März und Sommer 1811 - schreibt Arnim an Reimer: »Ich sende Ihnen die ersten und zweiten Bogen von Kleists Studie zurück. Sie haben sich neulich vergriffen und würden sie vielleicht bald vermissen.«57 Ist die ominöse Studie einer der Aufsätze, die Kleist auf Anraten seiner Cousine im Sept. 1811 Gneisenau überreicht hat? Das andere Rätsel ist Kleists vielleicht verschollener, vielleicht ungeschriebener Roman. Arnims Brief an Savigny vom 4. Dezember 1810 erzählt davon. Nach einer erbitterten Haßtirade auf Henriette Vogel - der Brief steht unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachricht von Kleists Mord und Selbstmord - heißt es da: »Sonderbar ists, daß er mir das letztemal, als ich ihn sprach, sagte, er habe Lust ein Buch in der Art wie die Manon Lescoult zu schreiben wahrscheinlich, daß er schon damals von dem verfluchten Weibe angezogen war.«58 Ob Kleist, der, wahrscheinlich Ende Juli, seinem Verleger Reimer brieflich einen zweibändigen Roman anbietet, der angeblich schon weit gediehen sei, diesen Plan tatsächlich ausgeführt hat, wissen wir nicht. Daß Kleist sich mit der Manon Lescaut beschäftigt haben soll, klingt plausibel, fast ein wenig zu plausibel, und es mag daher mitunter so scheinen, als habe Arnim in dieser Mitteilung sein Denkmal für Kleist gestiftet. Allerdings, noch im Jahr 1816 weiß der bei Reimer angestellte Ferdinand Grimm zu berichten, es gebe »ein[en] Roman von Kleist in zwei Bänden«, dessen Manuskript er zwar nicht gesehen habe, von dem man aber sage, daß er »sehr gut sein soll.«59 Dieses Phantom - vielleicht ist es das einzige wirkliche Gemeinschaftswerk von Arnim und Kleist, und wer weiß - vielleicht konnten die beiden Dichter nicht anders zueinander finden als im fortwährenden Faszinosum eines imaginären Romans.
Unbekannte Äußerungen Arnims über Kleist. In: Weimarer Beiträge 9, 1977, S. 180: »Heinrich von Kleist. | Lord Biron. Logenorden. Tieck, Politik. Arbeitsmanier. Handschrift. Verhältniß mit Hardenberg. Zu Müller. Zu Clemens. Policeiblatt.« 5 « Vf. 1989, vgl. Anm. 10, S. 58. 57 Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Briefe Achim von Arnims nebst anderen Lebenszeugnissen. II: 1811-1830. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 22, 1981, S. 73f. 58 Arnims Briefe an Savigny 1803-1831. Mit weiteren Quellen als Anhang. Hrsg. und kommentiert von Heinz Härtl. Weimar 1982, S. 58. 59 Reinhold Steig: Neue Kunde zu Heinrich von Kleist. Berlin 1902, S. 128.
Stefan Nienhaus
»Wo jetzt Volkes Stimme hören?« Das Wort >Volk< in den Schriften Achim von Arnims von 1805 bis 1813
»Wir sind das Volk!« Als Westdeutscher las man diesen Satz mit nicht geringen Erstaunen Ende des vorigen Jahrzehnts auf den Spruchbändern der Protestierenden in der DDR. Man sah sich damals mit der irritierenden Tatsache konfrontiert, daß der rebellierende andere Teil Deutschlands hiermit offensichtlich einem Wort eine positive Identifikationsleistung zutraute, das in der Bundesrepublik inzwischen in einem überwiegend pejorativem Sinne gebraucht wurde. Einem der »Volks«-Rhetorik entwöhnten Ohr werden Appelle ans »deutsche Volk« befremdlich klingen, desungeachtet folgte aber ζ. B. auch das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht bis zum Frühjahr 1999 - entsprechend dem ius sanguinis - einer Vorstellung von »Volkszugehörigkeit« und nicht etwa dem Gedanken, daß deutscher Staatsbürger zu werden, jeder das Recht habe, der lange genug auf dem Territorium des deutschen Staates gelebt hat. Es ist nicht einfach, die Bedeutung des Begriffs »Volk« exakt zu definieren, auch der moderne »Brockhaus«1 sieht ihn einerseits politisch-historisch als Parallelbegriff zu »Nation« im internationalen Gebrauch, nach welchem eben aus dem »Law of Nations« im Deutschen das »Völkerrecht« wurde, der »Völkerbund« die deutsche Entsprechung für »Société des Nations« war. Nun haben wir dafür aber heute nicht die »Vereinten Völker«, sondern die »Vereinten Nationen«: ein Zufall?! Die Antwort könnte gerade in der grundsätzlichen Bemerkung des »Brockhaus« zum Stichwort »Volk« liegen: »Der Begriff hat im Laufe der Geschichte verschiedene Wandlungen erfahren und ist nicht immer eindeutig abgrenzbar.« Daß dies nicht nur eine Ausflucht der allgemeinen Enzyklopädie ist, zeigt ein Blick in die für ihre definitorische Präzision zu Recht gerühmten »Geschichtlichen Grundbegriffe«:2 Auch der an der Synchronie besonders interessierten strukturalistischen Geschichtsforschung gelingt im Falle des Volksbegriffs nur eine sehr dünne Fixierung konstanter Bedeutungsrichtungen und zwar hinsichtlich der semantischen Gemeinsamkeiten der - uns im Folgenden sehr wohl nützlichen - Differenzierungen der »Oben-untenRelation« und der »Innen-außen-Relation«.3 Insgesamt gilt für die Begriffe »Volk, Nation« die Feststellung ihres »relativ hohen Abstraktionsgrad[es], der
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Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 17, Wiesbaden 1974, S. 682 - Die Vortragsform wurde beibehalten und nur um Fußnoten ergänzt. Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. v. O. Brunner, W.Conze u. R.Koselleck, Bd. 7, Art.: »Volk, Nation, Nationalismus, Masse«, Stuttgart 1992, S. 141^t31. Geschichtliche Grundbegriffe, vgl. Anm. 2, Bd. 7, S. 145.
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eine allgemeine Verwendung ermöglicht«,4 mit anderen Worten: jeder hat mehr oder weniger das in die Wörter hineingelegt, was ihm gerade paßte (und konsequenterweise gehen auch die »Geschichtlichen Grundbegriffe« so rasch wie in kaum einem anderen Fall zu einer Geschichte der jeweiligen Verwendung der beiden Begriffe, vor allem aber des im Deutschen lange prominenteren Volksbegriffs, über). Bevor ich Ihnen im Folgenden darzulegen versuche, wie Arnim diese Worthülse »Volk« im Kontext der Jahre »peußischer Not und Erneuerung« jeweils füllte, müßte ich eigentlich auf den Gebrauch des Begriffs bei Herder eingehen, dessen Geschichtsphilosophie wohl als prägend für die Arnimsche Generation vorausgesetzt werden kann.5 Ich belasse es aber hier aus Zeitgründen bei dieser Erinnerung; nachlesen kann man Herders Gebrauch des Wortes »Volk« in konzentierter Form in einem Aufsatz von Wulf Köpke:6 Äußerst bemerkenswert ist in seiner Übersicht die Tatsache, daß Herder - und hier werden wir im Folgenden eine entscheidende Differenz bei Arnim feststellen können - den Begriff »Volk« nirgendwo in der Bedeutung von »Staatsvolk« verwendet. Ohne mich hier weiter bei Herder, Moser oder Fichte aufzuhalten, komme ich also nun direkt auf den Gebrauch des Wortes »Volk« bei Arnim zu sprechen.7 Das kulturprogrammatische Nachwort zum »Wunderhorn« (1805)8 ist geprägt von einem emphatischen Gebrauch des Volksbegriffs, was jedoch keineswegs heißt, daß »Volk« nur in einer einzigen, geschweige einer klar definierten Bedeutung eingesetzt würde. Der Begriff unterliegt einer durchgängigen, allerdings differenzierten Verzeitlichung, ändert seine Semantik je nachdem, ob er im gegenwärtigen, vergangenen oder - und dies ist der häufigste und angesichts des programmatischen Charakters des Aufsatzes auch der wichtigste - zukünftigen Zeithorizont verwendet wird. Bei dieser Dreistufensemantik verweist »Volk« im kontemporären Kontext als Unten-oben-Relation auf die als verhängnisvoll angesehene Spaltung zwischen »Gebildeten«, »Gelehrten« - die gleichgesetzt werden mit einer bestimmten elitären Kunst - einerseits und dem »thätigen lebhaften Theil des Volkes«9 andererseits. Die Lieder der Gegenwart kommen nicht mehr aus dem Volke selbst, sondern werden 4 5
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Ebd., S. 142f. Vgl. H.-G. Werner: Freiherr vom Stein, die preußischen Reformen und das dichterische Weltbild Ludwig Achim von Arnims. In: Preußische Reformen - Wirkungen und Grenzen (Sitzungsber. der Akad. der Wiss. d. DDR 1982, Nr.l/G). Berlin 1982, S. 116. W. Köpke: Das Wort »Volk« im Sprachgebrauch J.G. Herders. In: Lessing Yearbook 19, 1987, S. 207-221. Die grundlegenden Untersuchungen zu Arnims Position in der preußischen Verfassungsdiskussion und zu seinen politischen Auffassungen allgemein hat Jürgen Knaack vorgelegt: J.Knaack: Achim von Arnim - Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Darmstadt 1976; ders.: Achim von Arnim: eine politische Biographie. In: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Hrsg. v. R. Burwick u. B. Fischer. Bern usw. 1990, S. 9-24. C. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6: Des Knaben Wunderhorn. Hrsg. v. H. Rölleke. Stuttgart usw. 1975, S. 4 0 6 ^ 4 3 ; Bd. 9,1: Lesarten und Erl., S. 706-734 Brentano, Sämtl. Werke, vgl. Anm. 8, Bd. 6, S. 407.
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ihm von einer pseudopopulistischen und dabei dennoch von ihm abgetrennten Schnellproduktion gleichsam von oben verabreicht als »die schlechten Worte«.10 »Volk« ist hier als kultursoziologischer Terminus verwendet, eher in der Nähe des Begriffs der »Masse« im Sinne einer entmündigten, nur noch quantitativ, nicht mehr aktiv für das kulturelle Leben bedeutenden, amorphen Menge von Kulturkonsumenten. Jener denunzierten Austreibung der Poesie aus dem Gesang des Volkes entspricht auf historisch-politischer Ebene ein Identitätsverlust aufgrund eines ahistorisch und rational-utilitaristisch agierenden, aufgeklärten Absolutismus: »manches Volk kannte seinen eigenen Namen nicht mehr«.11 Auch hier ist die Unten-oben-Relation entscheidendes Strukturmerkmal: »Volk« wird hier klarer als »Staatsvolk« intendiert, allerdings nicht länderspezifisch als ein bestimmtes, sondern im allgemeinen Sinne einer von der Mitsprache bei der Regierung ausgeschlossenen Bevölkerung, welche als breites Unten auf die Entscheidungen eines schmalen Oben keinerlei Einfluß hat und diese nur duldend hinnehmen kann wie ein Naturereignis. Hier kommt es bei Arnim zum ersten Mal zu einem angedeuteten Verfassungsverlangen, wenn er »die Mühe verschiedene Sinne zu vereinigen, wie es in der Berathschlagung versucht, in der Gesetzgebung ausgeführt wird«,12 der Regierungspraxis des absolutistischen Verwaltungsstaats gegenüberstellt. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt prangert Arnim somit vor allem die »Heimlichkeit der Beratungen« an, fordert eine öffentliche Diskussion über Staatsangelegenheiten. Nivellierung und Entindividualisierung des vorangegangenen, also des aufgeklärten Jahrhunderts haben zu einer gegenwärtigen Lage der »Nation«, hier bei Arnim = deutsches Volk, geführt, in der das verknüpfende Band des »Thätigen« und des »Poetischen« fehlt. >Tat< und >Poesie< sind dabei für Arnim ein- und dasselbe, bzw. das eine vermag nicht ohne das andere zu existieren. Unterdrückung, Austreibung des poetischen Sinns aus dem Volk ist für ihn gar eine der Voraussetzungen für den Ausbruch der französischen Revolution: »So waren schon in Frankreich noch vor der Revolution, die dadurch erst möglich wurde, fast alle Volkslieder erloschen«,13 heißt es in der Zeitschriftfassung (im Buch fügt er in jenen gewagten Mittelsatz wenigsten ein leicht zurückhaltenderes »vielleicht« ein). In Deutschland ist Folge des erloschenen Kunstsinns, daß die Nation nicht mehr als Einheit zu existieren vermag, sondern im »neueren Deutschland^ ]14« nurmehr der »Verfall des Volks«13 und in Konsequenz ein »zerstreutes Volk«16 zu konstatieren bleibt. »Volk« als gegenwärtiges Resultat der Umwandlungsprozesse der näheren Vergangenheit ist also nur ein Dekadenzphänomen. Anders ist hingegen die Lesart des Volksbegriffs, wenn er auf das im Volk noch Sedimentierte fernerer Vergangenheiten bezogen wird. Hier nun gibt es "> 11 12 13 14 15 16
Ebd., S. 408. Ebd., S. 415. Ebd., S. 418. Brentano, Sämtl. Werke, vgl. Anm. 8, Bd. 9,1, S. 708. Brentano, Sämtl. Werke, vgl. Anm. 8, Bd. 6, S. 430. Ebd., S. 429. Ebd., S. 441.
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ein Restphänomen, ein Einheitspotential, das der volksnahe, nicht-elitäre Künstler zu bergen hätte: nun handelt es sich wieder um »das Volk« oder auch »unsefr] ganze[s] Volk«, das seine »Weisheit in der Bewährung von Jahrhunderten« bewahrt hat. Ein nationaler »Reichtum«, die Summe von »Glauben und Wissen des Volkes«.17 Dieses nurmehr einzeln aufscheinende, im Übrigen als verborgene Lantenz postulierte Volk erhält nun eine ungeheure prognostische Sprengkraft. »Volk« wird Hann zu einem Zukunftsbegriff, der auf etwas noch zu Realisierendes verweist.18 Deutlich wird nun von der Bedeutung »Volk«=»Staatsvolk« abgerückt zugunsten eines umfassenderen Ausdrucks vom »deutschen Volk«, das es so (nicht mehr und) noch nicht gibt: schüfe man zur Sprach- die echte Kultureinheit, dann »wäre ein Volk, so weit man deutsch am Markte reden hört«. Erst in diesem Argumentationszusammenhang kommt auch das Grundschema der Innen-außen-Relation klarer zum Ausdruck: Für Deutschlands Wiedergeburt< bedarf es einer Reinigung von allen kulturellen Einflüssen von Außen, »alle fremde Pestilenz« hat sich zwar einerseits schon historisch nicht lange in der »Heimath«19 halten können (das Fremde fällt hier wie das bloß stets Neue durch das kollektive Gedächtnis des Volks qua seiner »große[n] Kunst des Vergessens«), scheint aber andererseits dennoch eine durchgängige aktuelle Bedrohung darzustellen, der es durch die Besinnung auf das Innere, das »Einheimische«,20 zu begegnen gilt. Volk wird nun im futuren Sinn als Parallelbegriff zum französischen »nation« gebraucht, freilich bei Arnim in der Prognose einer nicht durch politische/staatliche Grenzziehung hergestellten und garantierten nationalen Einheit, sondern als Prophezeiung einer Sammlung des Volks durch die (WiedelEntdeckung der Volks-Weisheit, die als kulturelles Band die Deutschen zum »größten neueren Volk[.]«21 machen wird. Während der Volksbegriff in Arnims kulturpolitischen Überlegungen als Beitrag zum Projekt der Nationalerziehung sich insgesamt auf das Volk der Deutschen bezieht, findet sich in den folgenden Jahren ab 1806 ein verengter und präzisierter Gebrauch, der »Volk« wieder überwiegend als Staatsvolk, d. h. als Volk des preußischen Königreichs begreift. Als es darum geht, durch Verwaltungs- und Heeresreform das Überleben des preußischen Staates zu sichern, gerät die Argumentation zwangsläufig in die Defensive, gilt es doch zunächst einmal, Einheitsutopien zugunsten konkretisierbarer Vorschläge zur Umwandlung des Staatssystems zurückzustellen. Wenn Arnim in seinen Denkschriften jetzt vom »ganze[n] Volk«22 spricht, so ist damit die preußische Bevölkerung gemeint. Im Kontext der Reformideen wird »Volk« allerdings auch in diesem Fall zu einem Begriff, dem noch keine politisch-soziale Realität 17
Ebd., S. 441. 18 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe, vgl. Anm. 2, Bd. 7, S. 149. 19 Brentano, Sämtl. Werke, vgl. Anm. 8, Bd. 6, S. 437; dies ist übrigens die einzige Stelle, wo dieser Begriff, in Opposition zu »Fremde« eben, auftaucht. 2 ° Ebd., S. 437. 21 Ebd., S. 441. 22 A.v. Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Schriften. Hrsg. v. R. Burwick, J. Knaack u. H. F. Weiss. Frankfurt/M. 1992, S. 199.
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entspricht und der in Arnims Vorstellung auf das Projekt der Abschaffung des Erbadels und der Stiftung einer neuen >leistungsorienten< Ständeordnung verweist. »Volk« bleibt somit selbst in dieser auf Preußen eingeschränkten Geltung gleichfalls ein Erwartungsbegriff, dem in der Wirklichkeit noch keine Erfahrung korrespondierte. Arnim verknüpft ihn in »Was soll geschehen im Glücke« mit dem Begriff der »Bewegung«, von der er sich in Preußen nichts Geringeres erwartet als eine - freilich evolutionär konzipierte23 - radikale Umgestaltung entsprechend dem Beispiel der Französischen Revolution, die er die »größt[e] Volksbewegung unsrer Zeit«24 nennt. Zu fragen ist nun, welche der verschiedenen Prägungen dieses Zukunftsbegriffs »Volk« in den Berliner Jahren Arnims - nach der in Tilsit endgültig besiegelten Niederlage Preußens, aber auch nach ersten konkreten Fortschritten vor allem in der Heeres-, dann Ansätzen einer durch den Freiherrn vom Stein eingeleiteten Verwaltungsreform - zum Tragen kommen. Da Arnim ja weiterhin eine Stelle im Staatsdienst verweigert wurde, ist die Berliner Zeit durch seine verschiedenen Versuche gekennzeichnet, auf schriftstellerischem, geselligen und journalistischem Gebiet öffentlich zu wirken. Als einer seiner Erfolge darf dabei die Kantate zur »Nachtfeier nach der Einholung der hohen Leiche Ihrer Majestät der Königinn« verbucht werden, die am 18.8.1810 im Saal des Königlichen Opernhauses aufgeführt und eine Woche darauf »auf Begehren«25 wiederholt wurde. Der Mythos der >verklärten< Königin Luise wird zum einigenden, sinnstiftenden Band für das von Napoleon gedemütigte, in Bedeutungslosigkeit absinkende Restpreußen, Luise spendet als »Schutzgeist« auch nach ihrem Tode den Trost über den Verlust der Größe, der hier nicht mehr nur als die »verlorene Bataille des Königs< begriffen werden soll: Du trauerst, treues Volk, Das Sie geliebt. Um Dich hat Sie so oft getrauert, Als Dich die Übermacht umlagert, Ich sah die Thränen fließen, Du sähest nur Ihr trostreich Bild. 26
Zwar wird der König noch im patriarchalisch-absolutistischen Sinne als »Vater« angeredet, doch Volk und König werden in einer Weise eins, daß auch der Herrscher Trost im Leid bei seinen Untertanen finden kann: König, sieh auf uns're Herzen, Komm in Deines Volkes Mitte, Das Dich liebte, fiir Dich stritte, Unser sind auch Deine Schmerzen.
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Ebd., S. 202: »das ruhige Anschließen an die Vergangenheit, um zur Zukunft zu gelangen«. Ebd., S. 200. Zit. W.Wülfing: Die heilige Luise von Preußen. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Hrsg. v. J.Link u. W.Wülfing. Stuttgart 1984, S. 254. Zit. wird nach dem in der Berliner Staatsbibl. aufbewahrten Exemplar: »Nachtfeier nach der Einholung der hohen Leiche Ihrer Majestät der Königinn. Eine Kantate von Ludwig Achim von Arnim in Musik gesetzt von Georg Abr. Schneider. Berlin 1810. Gedruckt zum Besten der Armen.«
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Der König leidet nicht als unerreichbar ferner Herrscher, sondern als Mann um den Verlust der geliebten Frau, wird zum Privatmensch, der fühlt, wie einer aus dem Volk mitfühlen könnte; die vertraute Nähe seines persönlichen Verlassenseins dient zur Metapher für das notwendige Zusammenrücken des Volks >in den Jahren der NotVölkerStämmevox populi< im strengen Sinne als Referenz auf das freie römische Staatsvolk verstanden werden. Arnims frühere Kritik an der Modernisierungspolitik des aufgeklärten Absolutismus wendet sich nun radikal gegen die Art der Durchführung der Reformen von Seiten der Hardenbergverwaltung: Wo jetzt Volkes Stimme hören? Heimlich wird die Welt beraten, Heimlich wie die Missetaten, Kommt Gesetz und kommen Lehren[.]
Die Verse bekommen nun gar den fast drohenden Charakter einer Warnung, die schon in die Richtung einer Verfassungsforderung geht: Nur wo frei mit offnem Muthe Zu dem Volk der Herrscher spricht, Dient es frei mit seinem Blute, Blinder Herrschaft dient es nicht.
Ein solches Konzept des Staatsvolks hat nun jene Oben-unten-Relation von Herrscher und Beherrschten als König und bloß duldendem, gedrücktem Untertanenvolk ad acta gelegt zugunsten eines freiwilligen, nur konstitutionell vorstellbaren, gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses. Im Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen das napoleonische Frankreich verschiebt sich konsequenterweise auch wieder die äußere Abgrenzung: Zwar bleibt es noch bei der engeren Bestimmung von Volk=Staatsvolk=Volk des preußischen Königreichs, aber diese Bestimmung wird nun wieder zu einer Binnendifferenzierung, die an Gewicht verliert angesichts der postulierten Vereinigung aller »deutsche[n] Staaten« »in einem Haß«, bzw. der »Völker« im »Völkerbund«: Völker sollen sich verbinden, Die von fremder Macht getrennt, Lieb und Treue soll verkünden, Wer mit Recht sich Deutscher nennt.
Jene >fremde Macht . Berlin 1986, S. 346. Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Briefe Achim von Arnims < . . > . In: Lit.wiss. Jb. der Görres-Ges. N.F. 21, 1980, S. 89-169, hier S. 106. Weiss 1986, vgl. Anm. 21, S. 100.
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Im Vergleich zu der ersten Skizze ist Johannas Charakter in der Euklidszene schon gemildert; so sagt sie zwar zunächst verächtlich: »Hat Gott so Großes mit mir vor, / Was soll ich da mit Knaben vor dem Thor«, wünscht sich aber später doch, sich den anderen Kindern anschließen zu dürfen. Ein wiederum deutlich positiveres Bild der Protagonistin zeichnet dann die in die »Gräfin Dolores« integrierte Gartenhausszene. Johanna ist hier zunächst ein noch gänzlich unschuldiges Kind, »weder gut noch böse«.24 Ihre im schlechten Sinne 'gelehrten' Eigenschaften werden nun nicht mehr auf fnihkindliche Veranlagung, sondern auf die Verfuhrung durch Spiegelglanz zurückgeführt. Es war nicht willkürlich, daß Arnim gerade diese Episode in der »Dolores« in den Mittelpunkt stellte, denn tatsächlich lag an dieser Stelle der Handlung auf der damaligen Stufe der Konzeption, die man in Anlehnung an die »Faust«Philologie als »Gelehrtentragödie« bezeichnen könnte, noch der entscheidende Wendepunkt. Es handelt sich um Johannas persönlichen Sündenfall, der darum angemessen in einen paradiesischen Garten verlegt und durch eine Rezitation der biblischen Schöpfungsgeschichte präludiert wird. Spiegelglanz verleitet am Ende der Szene Johanna dazu, als Preisaufgabe in der Schule ein in Wahrheit von ihm selbst verfaßtes Gedicht vorzutragen und so den Ruhm durch Betrug zu erlangen. In der Zustimmung zu dieser Lüge liegt Johannas eigentlicher Teufelspakt und der Beginn ihrer zweifelhaften Karriere als Gelehrte: »Mit Weinen nahm sie den Preis an, der von allen beneidet wurde - es war der Preis ihrer Seele«.25 Obwohl die Episode auch in der Endfassimg der Jugendgeschichte bedeutsam bleibt, ist Johannas 'Sünde' doch entscheidend gemildert und weitgehend auf Spiegelglanz abgeschoben worden. Das wird möglich, weil die gefälschte Preisaufgabe nun nicht mehr ein Gedicht über die Weltschöpfung ist, sondern das von Johanna geträumte »Frühlingsfest«, das Spiegelglanz anschließend in lateinische Hexameter gebracht hat. Entsprechend der von Ulfert Ricklefs bereits in der »Dolores« nachgewiesenen Konzeption der beiden Figuren als Repräsentanten der schöpferischen Grundkräfte Natur bzw. Stoff (Johanna) und Kunst bzw. Form (Spiegelglanz)26 ist das Preisgedicht somit doch zu einem, und zwar in Arnims Sinne dem entscheidenden Teil Johannas Eigentum. Im übrigen spricht der Erzbischof Johanna den Preis ausdrücklich nicht wegen Spiegelglanz' Formkunst zu, sondern weil ihr innerer Anteil an dem Vorgetragenen sich in »Augen und Gebärden« mitreißend ausgedrückt hat.27 Das Kind verdankt seinen Erfolg also nicht dem Lehrer, sondern der überwältigenden Macht der »Naturpoesie«, die hier aus ihm spricht. Wie an diesem zentralen Punkt deutlich wird, hatte sich Arnims Auffassung der Hauptfigur mittlerweile grundsätzlich gewandelt. Ihre kritische Sicht als ruhmsüchtige Wissenschaftlerin war zurückgetreten zugunsten der Dualismus-Problematik, die Ulfert Ricklefs in seiner Studie ausführlich dargestellt 24 25 26 27
Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 497. Ebd., S. 502. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 89. SW 19, S. 173.
Wissenschaftskrítik in Arnims »Die Päpstin Johanna«
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hat. Noch am Beginn der Exzerpte aus Creuzers »Symbolik und Mythologie der alten Völker«, die später eine entscheidende Rolle für die Romhandlung spielen sollten, hatte sich Arnim gleichsam selbst ermahnt, den Aspekt Johannas als hybrider Gelehrter nicht aus den Augen zu verlieren. Die ersten Worte dieses Notizblattes lauten: »Das Gelehrtenwesen, ihr Stolz muß sich noch näher entwickeln.«28 Dieses Programm hat Arnim nicht mehr erfüllt. Die Johanna der Jugendgeschichte ist nun weniger durch eine zunehmende Hinwendung zur Gelehrsamkeit gekennzeichnet als vielmehr, wie gerade das »Frühlingsfest« erweist, durch ein poetisch kreatives, aber auch gefährliches Phantasieleben. Der gemeinsame Nenner beider Konzeptionen ist natürlich die Problematisierung einer einseitig subjektiven Haltung. Typisch für Arnims Arbeitsweise ist dabei, daß einige der in der ersten Skizze geplanten Motive beibehalten, aber in einen völlig neuen Kontext gestellt wurden. So bleibt etwa die Isolation von der Gesellschaft zwar ein Hauptmerkmal von Johannas Jugendgeschichte, ist aber nicht mehr ihre eigene Schuld, sondern das Werk des Spiegelglanz, der sein Adoptivkind eifersüchtig vor aller Welt verschließt und es in seinen ersten Lebensjahren gar in einer Höhle versteckt, um an ihm die Ursprache zu erforschen; ein Motiv, das aus einer Anekdote über den ägyptischen Pharao Psammetich in Herodots »Historien« (II, 2) übernommen ist,29 auf die Arnim auch in der II. Abteilung der »Gräfin Dolores« anspielt,30 auch dort übrigens im Zusammenhang mit der Entwicklung poetischen Vermögens. In die Neufassung der Euklidszene wird entsprechend eine veränderte Begründung dafür eingefügt, daß Johanna sich den Knaben auf der Gasse nicht anschließt: »Ich darf nicht hin zum Kranz, / Weil ich bei Spiegelglanz.«31 Diese »gefahrvolle Einsamkeit«, wie die spätere Prosafassung der Dichtung formuliert,32 hat nun den Sinn, daß Johanna in sich selbst zurückgetrieben wird und beginnt, sich in Phantasie und Jenseitssehnsucht zu verlieren. Sogar ein kleineres Detail aus dem ersten Plan, das Zerbrechen des Spielzeugs, kehrt in entsprechend gewandelter Bedeutung in der ausgeführten Dichtung wieder, nämlich in der Pfalzepisode: Als Grund wird jetzt Johannas metaphysische Melancholie angegeben, die mit der Erinnerung an den von ihr später als Frühlingsgott mythisierten Raphael verbunden ist: »Johannes war oft trübsinnig in dieser Sehnsucht, er langte und sah nach etwas das nirgend zu finden, und zerbrach aus Ungeduld alles was ihm in die Hände fiel.«33 Hatte das Motiv in der Skizze 28 29
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Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 428. Vgl. Herodot: Historien I-V. Übersetzt von Walter Marg. Mit einer Einführung von Detlev Fehling und Erläuterungen von Bernd Zimmermann. München 1991, S. 121f. Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 310 (in den Erläuterungen nicht kommentiert). SW 19, S. 108. Auch sonst hat diese Episode, wie die Gartenhausszene, in der Endfassung eine völlig neue Bedeutung erhalten: Statt gelehrter Ruhmsucht zeigen sich in der Beschäftigung mit Euklid nun vielmehr die Phantasie und Kreativität des Kindes, denn die Geometrie hat nach der neu hinzugekommenen Einleitung der Szene »so viel Spielendes [...], so viel Anschauliches mit den Figuren, und so viel Anregendes für eigne Erfindung, daß Kinder von eigner Thätigkeit sehr leicht davon ergriffen werden« (ebd., S. 106). Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 503. SW 19, S. 65.
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noch auf die destruktive Negativität des Gelehrtenstandes vorausgedeutet, so veranschaulicht es nun zum erstenmal die gefährlichen Folgen von Johannas Weltvergessenheit, die dann nach ihrem Aufstieg zur Papstwürde akut werden. Daß in den späteren Phasen der Textgenese nicht mehr Johanna, sondern Spiegelglanz - sowie in einem geringeren Maße Chrysoloras - Ziele der Gelehrtenkritik werden, hängt wohl auch damit zusammen, daß Arnim Gelehrte grundsätzlich eher als groteske denn als tragische Figuren zu gestalten pflegt. Von den Entwürfen zum Arielroman34 bis zu späten Werken wie den »Holländischen Liebhabereien« neigt der Dichter mehr zu Gelehrtenburlesken als zu Gelehrtentragödien. Die Verlagerung der Gelehrtensatire von Johanna auf Spiegelglanz läßt sich auch am Beispiel der zahlreichen »Faust«-Reminiszenzen der Dichtung nachweisen. Eine Beziehung zwischen dem Päpstin-Stoff und der Faust-Tradition war schon von Gottsched in seinem Kommentar zum Abdruck des SchernbergStückes nahegelegt worden: Wer weis, wo noch ein heutiger brittenzender Shackespear drüber kömmt, der nächst der versprochenen Comödie vom D. Faust, auch das Trauerspiel unsers Scherenbergs von Papst Jutten erneuert und umschmelzet, um ein recht erstaunlich rührendes Stück, trotz dem Kaufmanne zu London, oder Miß Sara Samson [sie!], daraus zu machen?35
Der ironische Ton dieser Passage ist unverkennbar; Gottsched spielt hier natürlich auf Lessings 17. Literaturbrief an, der neben dem berühmten Generalangriff auf den Leipziger 'Literatuipapst' auch eine Probe von Lessings eigenem geplanten Faustdrama (ohne Angabe des Verfassers) enthalten hatte. Weiter oben hatte Gottsched seinen Erzfeind schon spöttisch eingereiht unter die »berühmten heutigen Schriftsteller, und eingebildeten großen Kunstrichter [...], die den brittischen Abgott Shackespear, und andre dramatische Helden dieses Volkes aus viel neuem Zeiten, verehren und anbethen«.36 Ernsthafter empfahl aber auch Jacob Grimm nach dem Abdruck der Gartenhausszene in der »Gräfin Dolores« Arnim, er solle aus der »Päpstin Johanna« »wenigstens ein so großes Stück, wie Göthes Faust« machen.37 34
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Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen 1990, S. 78. Gottsched 1765, vgl. Anm. 11, S. 141. - Gelegentlich hat man sogar Gottscheds Schernberg-Abdruck als eine Quelle für Goethes »Faust« erwogen; vgl. Valters Nollendorfs: Der Streit um den Urfaust. The Hague / Paris 1967, S. 107f. Lessing hatte in der Einleitung zu seiner »Faust«-Szene den »englischen« Charakter des Stoffes betont und unter anderem bemerkt: »'Doctor Faust' hat eine Menge Szenen, die nur ein Shakespearsches Genie zu denken vermögend gewesen« (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 5. München 1973, S. 73f.). Gottsched verweist am Ende der oben zitierten Passage ausdrücklich auf die gegen Lessing gerichteten »Briefe, die Einführung des Englischen Geschmacks in Schauspielen betreffend, wo zugleich auf den Siebzehenten der Briefe, die neue Litteratur betreffend, geantwortet wird« (Frankfurt und Leipzig 1760), in denen als ironische Glosse zu dieser Stelle bemerkt wurde: »[...] vielleicht steht er [Faust] nun bald mit grösserer Ehre wieder auf. Wir haben Hoffnung dazu, da er shakespearisiret; und da sich Herr Niemand [Lessing] vornimmt, diesen Engländer zum Schutzpatron unsrer Bühne zu machen« (S. 117). Steig III, vgl. Anm. 1, S. 73. Vgl. auch Jacobs Brief an Wilhelm vom 4. September
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Die Faust-Sage, wenn auch noch nicht das Goethesche Drama, klingt bereits in der oben zitierten frühesten Skizze an: Die Episode mit Johannas Bedrohung durch böse Geister, die sich um ihren Zauberkreis versammelt haben, stammt aus dem Wagner-Volksbuch, auf das Joseph Görres 1807 in seinen »Teutschen Volksbüchern« hingewiesen hatte.38 Arnim setzte sie später an das Ende der 1818 erschienenen Vorrede zu Wilhelm Müllers Übersetzung von Marlowes »Dr. Faustus«,39 die auch für sein Verständnis der Goetheschen Fassung aufschlußreich ist: Sich ganz auf den ersten Teil des Dramas, die »Gelehrtentragödie«, konzentrierend, deutet Arnim Goethes Protagonisten als kritisches Porträt des modernen Wissenschaftlers, der »ungeheuren Mangel« an Welt mit »eben so ungeheurem Hochmute« verbinde.40 Dies läßt sich mit der unveröffentlichten Szene »Auch ein Faust« zusammenhalten:41 Dort ist Faust, der mit dem Erfinder des Buchdrucks identifiziert wird, vor allem charakterisiert durch seine »Ruhmsucht«; wie die Johanna der Euklidszene beharrt er egoistisch auf dem Eigentumsanspruch für seine Entdeckung (»das Werk, was noch mir einzig eigen«; vgl. in der Euklidszene: »Und das ist mein, ganz mein«42). Sowohl die Gartenhausszene in der »Dolores« als auch die Erstfassung der Euklidszene weisen deutliche Anklänge an Goethes »Faust I« auf. So beschäftigt sich Johanna in der erstgenannten Szene mit der Bibel und wird dabei von Naturstimmen abgelenkt, die hier noch - im Gegensatz zur ausgeführten Dichtung - vom Teufel verursacht sein sollen;43 der Bezug zu Fausts durch den 'Pudel' Mephisto gestörter Bibelübersetzung in der ersten Studierzimmerszene liegt auf der Hand. In der frühen Euklidszene weist Johannas Begeisterung für das erotische Buch des Spiegelglanz parodistisch auf Fausts Enthusiasmus beim Anblick der Zeichen des Makrokosmus und des Erdgeistes zurück.44 In der ausgeführten Dichtung ist nicht mehr Johanna, sondern Spiegelglanz ein parodistischer Reflex der Goetheschen Figur. Parodistisch wird der Bezug
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1810: »Das allerliebste im ganzen [Buch] ist mir das Bruchstück aus der Päbstin Johanna, worin wunderschönes, obwohl es an den Faust erinnert; warum fiihrt er so etwas nicht aus!« (Zitiert nach der Handschrift; SPK 376, 24-29. Die bislang vorliegenden Abdrucke sind falsch datiert und auch sonst fehlerhaft.) Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher. Mit einem Nachwort hrsg. v. Lutz Mackensen. Berlin 1925, S. 224. Arnim Werke VI, vgl. Anm. 18, S. 621ff. Ebd., S. 619. Dorothea Streller: Achim von Arnim und »Auch ein Faust«. In: Jb. der Sammlung Kippenberg N.F. 1, 1963, S. 150-162. - Vgl. zu Faust-Varianten bei Arnim insgesamt: Helene M. Kastinger Riley: Scientist, sorcerer, or servant of humanity. The many faces of Faust in the work of Achim von Arnim. In: Seminar 13, 1977, S. 1-12. Ergänzend Nicholas Saul: »Das Zweifelhafte menschlicher Verdienste.« Arnims Faust-Gestalten. In: Faust. Annäherung an einen Mythos. Hrsg. v. Frank Möbus, Friederike SchmidtMöbus und Gerd Unverfehrt. Göttingen 1995, S. 109-112. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 380; entsprechend in der späteren Fassung SW 19, S. 107. Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 492. Vgl. Faust I, v. 430ff./Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 383.
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deshalb, weil bei dem 'schrecklichen Philologen' dem faustischen Streben nach Erkenntnis in ihrem umfassendsten Sinne bloße Ruhmsucht entspricht. Nur so ist es zu verstehen, wenn Luzifer von Spiegelglanz, in einer scheinbaren Parallele zu Faust, sagt: »Er möchte übersteigen alle Schranken, / Die bildende Naturkraft Menschen setzet«.45 Die magische Verjüngung46 ist in diesem Fall, wie alles Teufelswerk bei Arnim, ein bloßer Schein und bleibt im übrigen blindes Motiv: Raphael beschimpft den Gelehrten später dennoch als »alter Narr«; 47 in der Prosaüberarbeitung hat Arnim diese Goethe-Reminiszenz denn auch ganz fallen lassen.48 Selbst Luzifer hat Anteil an den ironischen Faust-Reflexen. Freilich erinnert dieser wahrhaft dumme Teufel nirgendwo an den souveränen Intellekt des Goetheschen Mephisto; dafür kann der Schluß seines großen Auftrittsmonologs wiederum als Parodie des Faustschen verstanden werden: Während Faust sich von der unbefriedigenden Wissenschaft zur Magie wendet, feiert Luzifer vielmehr seinen 'Aufstieg' von der Magie zur Wissenschaft.49 Wiederum zeigt sich, daß die Arnimschen Wissenschaftler-Figuren zwar mit Faust - jedenfalls nach Arnims eigener Interpretation der Goetheschen Figur - das moderne »Elend der Gelehrten« gemeinsam haben, sich aber darin wesentlich von ihm unterscheiden, daß sie sich ihres Weltverlusts nicht einmal bewußt sind und keineswegs nach dessen Überwindung streben. Trotz dieser Umakzentuierungen behält die Wissenschaftsproblematik eine bedeutsame Position auch in der Endfassung der »Päpstin Johanna«. Das zeigen nicht nur die eingangs angesprochenen Passagen, sondern ebenso gestalterische Mittel wie die Lichtmetaphorik, die sich leitmotivisch durch die gesamte Dichtung zieht. Dabei wird antithetisch das wahre göttliche Licht, für das die Sonne steht, der Wissenschaft als einem teuflischen Schein im doppelten Sinne gegenübergestellt, was sicher auch kritisch auf den Begriff der »Aufklärung« anspielt.30 Schon im einleitenden Mythos heißt es über die isländische Gelehrtenwelt nach ihrer Wendung zum Teufel: »[...] und so hing der Pallast hoher Wissenschaft statt der glänzenden Himmelslichter voll teuflischer Spinngewebe, in denen sich Leuchtgewürme selbst gefangen hatten, sich für das Licht haltend und sich selbst nur sehen wollend.« 51 Gleich anschließend wird Luzifer, »einer der dümmsten Teufel«, als der eigentliche Herrscher die-
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Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 447; vgl. ebd. S. 452: »Du überspringst in Wünschen alle Mühn«. Ebd., S. 452: »Erscheine jung ob gleich du grau und alt«. SW 19, S. 33. Ricklefs 1990, vgl. Aran. 2, S. 495. Ebd., S. 445: »Ich habs entdeckt und nicht durch Zaubers Gunst, / Durch eignen Scharfsinn allerhöchste Kunst [...]«. So schon Renate Moering: Die offene Romanform von Arnims »Gräfin Dolores«. Mit einem Kapitel über Vertonungen Reichardts u. a. Heidelberg 1978, S. 19. SW 19, S. 6. Auch hierzu ist wiederum die »Faustus«-Vorrede zu vergleichen: Nach dem Glauben der Reformationszeit soll das »wissenschaftliche Treiben [...] viele Adepten in die Gewalt des Teufels, wie zu einem höheren Lichte geführt haben« (Arnim Werke VI, vgl. Anm. 18, S. 619).
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ser Scheingelehrten eingeführt. Der aus Jesaja 14, 12 übernommene traditionelle Teufelsname des »Lichtträgers« wird damit ironisch abgewertet; Luzifer bringt nicht das »Licht« politischen und kulturellen Fortschritts, wie in den Dichtungen Byrons und anderer europäischer Romantiker, sondern einen bloßen trügerischen Abglanz der wahren Erkenntnis. Schon Luzifer, der explizit mit dem alten Topos vom Teufel als simia Dei in Verbindung gebracht wird52 und dem jede Kreativität fehlt, macht sich mit seinen fruchtlosen Schöpfungsexperimenten im Hekla lächerlich; noch mehr die menschlichen Gelehrten, die ihr Licht wiederum von Luzifer beziehen. Um dies onomastisch zu kennzeichnen, hat Arnim den Namen »Spiegelglanz«, bei Schernberg für einen der Unterteufel gebraucht, der ursprünglich wohl das Laster der Eitelkeit personifizieren sollte, für den Hauptrepräsentanten der Gelehrtenzunft in der »Päpstin Johanna« gewählt. Tatsächlich wird Spiegelglanz in der die Heklaszene abschließenden Verkündigung von dem vermeintlichen Gabriel alias Luzifer buchstäblich mit einem Scheinwissen belehnt: »Erscheine hochgelehrt und wisse nichts, / Und jede Schule freu sich deines Lichts«.53 Daß Spiegelglanz hingegen das wahre Licht, den Sonnenschein, scheuen muß, lassen seine überempfindlichen rötlichen Augen erkennen.54 In der ersten Fassung der Romgeschichte wurde eine ähnliche Augenschwäche bezeichnenderweise auch noch Johanna zugeschrieben.55 Daß für Arnim das Wissenschaftsproblem bis in die Endfassung der Dichtung relevant bleibt, belegen nicht zuletzt einige ernstere Untertöne, welche die Darstellung des Spiegelglanz bei allen lächerlichen Zügen aufweist. Unter anderem zeigt sich hier eine auch sexualpsychologische Kritik gelehrter Einseitigkeit als widernatürliche Triebunterdrückung, die letztendlich scheitern muß. Arnim wollte dies ursprünglich durch eine drastische Symbolik ausdrükken: Laut einer Stelle im Luzifermonolog der Heklaszene hat Spiegelglanz seine »Manneskraft« schon in jungen Jahren an eine Hexe verkauft.56 Diese Passage wurde zwar, wie zahlreiche andere derbe Stellen, später gestrichen; verblieben sind aber Anspielungen wie Spiegelglanz' Bemerkung: »Ich opferte ihm [dem Geschick] alle Erdenlust«57 und seine Bitte an »Gabriel« um die Rückerstattung seiner Liebesfähigkeit: »Kann ich durch dich auch wieder Jugend fühlen, / So weck auch Liebeskraft im Herzensgrund.«58 Dieser Wunsch wird Johannas Lehrer radikaler erfüllt, als ihm recht sein kann: Seine bis dahin verdrängte Libido plagt ihn während Johannas Erziehung wiederholt als »böse Lust«59 und bricht schließlich in Rom hervor, als er, rasend vor Begierde, Johanna vergewaltigen will, was zu seiner Besessenheit 52 53 54 55
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Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 437. Ebd., S. 452. SW 19, S. 8. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 395; vgl. dazu in der Endfassung noch SW 19, S. 240, 247. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 447. Ebd., S. 451. Ebd., S. 452. SW 19, S. 97.
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führt. 60 Der Teufel, der sich des Gelehrten bemächtigt, ist sinnvoll mit Asmodäus, dem traditionellen Lustdämon, identifiziert. In den Entwürfen zur Romepisode war die Besessenheit noch als Wahnsinn des Spiegelglanz rationalisiert und das Verlangen nach Johanna ausdrücklich als Hauptursache dieser Geistesverwirrung gekennzeichnet;61 hier sollte er sogar nach dem als Stephania verkleideten Pfalzgrafen Ludwig lüsten.62 Der in den gelehrten Chrysoloras inkarnierte Luzifer wiederholt später Spiegelglanz' Schicksal: Auch seine Pläne scheitern, weil er seine Lüsternheit gegenüber Johanna gerade im falschen Moment nicht mehr bezähmen kann; und die Fürstin Reinera, die nicht umsonst das Pseudonym Venus benutzt, weiß ihn im folgenden sowohl mittels seiner Eitelkeit als auch mittels seiner Wollust an sich zu binden. Eine ähnliche psychologische Kritik läßt sich am Ende der frühen Euklidszene bei Johanna/Jutta selbst beobachten: Ihre einseitige Konzentration auf die gelehrte Arbeit schlägt mit einemmal in ebenso maßlose pubertäre erotische Erregung um, die sie noch weiter in die Hände des Teufels bringt. Wie schon erwähnt, wurde dieser Aspekt in der Neubearbeitung der Szene gestrichen, dafür aber um so stärker in der Verwendung für die IV. Abteilung der »Dolores« betont, wo die seelischen Nöte des Primaners, der manche Gemeinsamkeiten mit der frühen Konzeption der Johanna hat, eingehend geschildert werden: [...] der sinnliche Brand der Lust in dem Buche der sich im tiefsten Verderben der Zeiten zu kühlen suchte, erweckte eine Seite in ihm, die bis dahin tief geschlummert hatte. Er las sich heiß an dem Buche, daß ihm der Atem verging; ganz gegenwärtig umschwebten ihn alle schändlichen Lüste verwilderter Naturen, fast mit Gewalt mußte er sich losreißen, als der Lehrer kam, der bald mit Verwunderung sein fremdes Wesen bemerkte. Mit Lügen wußte er sich durchzuhelfen; Lüge wurde sein ganzes Leben zu andern. 63
Parallele, wenn auch weniger drastische Motive findet man bei anderen Gelehrtengestalten Arnims, so etwa bei Adrian in »Isabella von Ägypten«, der beim Anblick der schlafenden Titelheldin ungewollt den Typus des verliebten Alten variieren muß,64 und bei Hemkengriper in den »Holländischen Liebhabereien«, der plötzlich Verlangen nach der jungen Primula verspürt.65 In letzte-
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Ebd., S. 30Iff. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 390. Ebd., S. 393. Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 554f. Arnim Werke III, vgl. Anm. 18, S. 706f. Arnim Werke IV, vgl. Anm. 18, S. 563f. - Auch »Martin Martir« läßt sich in diese Reihe stellen, geschieht doch der vermeintliche Mord des Geistlichen an Marielle nach dessen späterer Selbsterkenntnis aufgrund der »bösen, mir selbst lange versteckten Glut«, der »schrecklichen irdischen Lust« (IV, 838). In diesem Fall kommt freilich zur Gelehrten- noch die Zölibatsproblematik hinzu, die jedoch auch zur Tradition der Gelehrtensatire gehört: So beruft sich Damis in Lessings »Jungem Gelehrten« auf die alte Maxime, »der ehelose Stand sei für einen Gelehrten der schicklichste« (Lessing 1970, vgl. Anm. 15, S. 297). Daß Martin im Kontext Arnimscher Wissenschaftskritik zu sehen ist, zeigen weitere Parallelen zu Spiegelglanz wie etwa die vermeintlichen höheren Eingebungen und die blasphemische Erwartung eines persönlichen Pfingstwunders, bei dem Martin »ohne Mühe die Gabe der Sprachen« zu erhalten hofft (IV, 835).
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rem Fall ergibt sich eine noch konkretere Übereinstimmung: Das Objekt der gelehrten Begierde in dieser späten Erzählung sollte nach einem Entwurf ursprünglich »Aloysia Sigäa« heißen, ein Name, der, wie Christof Wingertszahn nachgewiesen hat,« dem Untertitel von Nicholas Choriers Elegantiae latini sermonis entnommen ist - eben jenes Buch, von dem Juttas erotische Phantasien in der ersten Fassung der Euklidszene angeregt werden und das auch an der entsprechenden Stelle in der »Gräfin Dolores« erscheint.67 Wird hier das »Elend der Gelehrten« unter individualpsychologischem Aspekt gesehen, so erhält es in der Romgeschichte eine auch politische Dimension. Daß dort die Repräsentanten des Gelehrtenstandes, Spiegelglanz und Chrysoloras, zunehmend an aktiver Bedeutung für das Geschehen verlieren, ist nicht nur auf die Verlagerung von Arnims Interesse auf andere Probleme zurückzuführen, sondern ergibt sich zwangsläufig aus seiner Sicht dieses Menschenschlags. Als die »Päpstin Johanna« in der Romhandlung die historischen Vorgänge um Johannes XII. dichterisch zu deuten versucht, wird offenbar, daß Arnim den Gelehrten im Geschichtsablauf eine zwar durchaus bedeutsame, aber größtenteils indirekte Funktion zuschreibt, was eben auf ihre Abkapselung von der Gesellschaft zurückzuführen ist, die sie im praktischen Leben naiv und instrumentalisierbar macht. Sie stellen, ein offensichtlich sehr moderner Gedanke, ahnungslos diejenigen Mittel bereit, die andere dann unheilvoll benutzen: Die Gelehrten sind auf ihr weniges Wissen meist sehr stolz und sind wie Kinder, sie spielen mit Gift und Schießpulver, tragen unendliche Massen davon zusammen, kennen es selber nicht und verwundern sich, wenn ein lebendiger sinnvoller Mensch ihren Schatz erkennt, sich und die Welt damit zerstört. Dann rühmen sie wohl nach solcher Zerstörung ihre Geduld, was sie noch für Haufen Mordwerkzeuge auf dem Schlachtfelde der Vergangenheit zusammen gelesen haben. So unschuldig sind Gelehrte in ihren Sammlungen, selbst Spiegelglanz, so verrucht hoffärthig er sonst war. 68
In diesem Fall ist das »Gift und Schießpulver« die Wiedererweckung der heidnischen Kultur durch Chrysoloras und Spiegelglanz. Während Spiegelglanz das Heidentum nur gleichsam spielerisch preist, wird es für Johanna zu einer bedrohlichen Verführung. In einem anderen Zusammenhang, nämlich bei Chrysoloras' Ermutigung der Vorlesungen über die Differenzen von römischer und griechischer Kirche, verallgemeinert Arnim: Diese scheinbare Ruhe in einer Angelegenheit des Gewissens, die alle bis zur Raserei erhitzte, ist die gefährlichste Äußerung der alles überschauenden Gelehrsamkeit, die in der Beurtheilung unendlich viel umfaßt, das zu einer Thätigkeit des ganzen Lebens erhoben sich gegenseitig schrecklich zerstören würde. 69
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Christof Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achim von Arnims. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert 1990, S. 161. 67 Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 554. «> SW 19, S. 239. 69 Ebd., S. 203 (dort gesperrt). Vgl. dazu auch die Kritik an Friedrich Heinrich Jacobi in der Sammelrezension »Ueber gelehrte Gesellschaften«: »Wozu diese Annahme eines Scheins von ruhigem Überblick und allgemeiner Betrachtung, während das Einzelne
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Arnim hat diesen Satz in seinem Manuskript unterstrichen. Noch die makabre Schlußpointe der ansonsten so burlesken »Holländischen Liebhabereien«, bei der der Philologe Hemkengriper seinen Rivalen Zahnebreker mit der Pest ansteckt und dabei fahrlässig oder gleichgültig die halbe Stadt Leyden mit ins Verderben reißt, demonstriert nicht nur die Boshaftigkeit der Gelehrten, sondern auch ihre fatale Blindheit für die sozialen Folgen ihres Handelns. Es ist nur konsequent, daß Wissenschaftler wie Spiegelglanz und Chrysoloras zu Werkzeugen der wahrhaft Mächtigen der Geschichte werden, die in diesem Fall durch die eigentlichen Herrscher von Rom repräsentiert werden, die 'Machtweiber' Reinera alias Venus und Marozia. Letztere begnügt sich damit, die geistige Elite Roms schlicht zu unterjochen: Wenn sie spricht, »so schweigen alle hochgelehrten Leute«;70 auch ihr »hochgelehrter« Ehemann Alberich wird von ihr unterdrückt.71 Die raffiniertere Reinera hingegen beweist wahrhaft politisches Geschick, indem sie einen Kreis »geistreicher Männer« um sich sammelt,72 den sie für ihre Zwecke zu nutzen versteht und in den sie auch Chiysoloras einreiht. Nach der Skizze zur Romgeschichte sollte der inkarnierte Luzifer schließlich sogar, quasi als Pendant zu dem von Marozia beherrschten Alberich, Reinera heiraten und an ihr die Hölle auf Erden haben73 - eine Variante des Schwankthemas vom Teufel als Ehemann. Agiert Chrysoloras in den ersten Fassungen der Romgeschichte auch nach der Papstwahl noch teilweise selbst, so wird er in der Endfassung reiner Handlanger der Venus, der zunehmend in den Hintergrund tritt. Ein persönlich-biographischer Hintergrund für Arnims Gelehrtenkritik ist zweifellos die Auseinandersetzung mit Johann Heinrich Voß wegen des »Wunderhorns«. Durch Wissenschaftlerkarikaturen wie Spiegelglanz oder Hemkengriper reagierte Arnim bekanntlich immer auch einen Teil seines Ärgers über diesen Erzfeind der Heidelberger Romantik und dessen Verbündete ab. Auf Voß zielt schon deutlich die Darstellung des Spiegelglanz in der »Gräfin Dolores«, wo der Teufel heuchlerisch »von seinem großen Rufe in der Metrik« spricht und Johanna von ihrem Lehrer die Abenteuer des Odysseus erzählt bekommt.74 Daneben wirken sicher auch Arnims eigene Erfahrungen als junger Naturwissenschaftler und vor allem der Streit mit Johann Wilhelm Ritter nach, der Arnim tief verbittert hatte.75 Die vielzitierte Klage aus dem Weihnachtsbrief an Brentano von 1803 »Ich konnte fast nichts denken in der Physik, was nicht zu gleicher Zeit Ritter, Schelling oder andre bekannt mach-
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noch unser Gemüt bewegt? So häufig diese Art von Verstellung von Stylisten und Moralisten anempfohlen wird; wir halten sie für gefährlicher, als die ungerechteste sich ganz überlassene Hitze« (Arnim Werke VI, vgl. Anm. 18, S. 239). SW 19, S. 312. Ebd., S. 327. Ebd., S. 324. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 2, S. 394. Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 500, 498. Vgl. Paul Hoffmann: Achim von Arnim über Johann Wilhelm Ritter. In: Archiv für Geschichte der Mathematik 10, 1927/28, S. 357-362.
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ten [...]«76 wird noch in der Briefstelle von 1817, von der die vorliegenden Überlegungen ausgingen, wiederaufgenommen: Mit dem »Elend der Gelehrten« ist dort nämlich konkret die paradoxe Koppelung von egoistischem Eigentumsanspruch auf wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Abhängigkeit von fremdem Denken gemeint: Es ist eine seltsame Zeit, wo keiner sein Haus zu finden meint, sondern es sich aus den Trümmern andrer Häuser zu bauen verpflichtet glaubt, und hat der Eine seinen Pallast mit aller Sorte Kritik und Theorie eben fertig, so hat ihm der andre schon wieder die Fundamentsteine untergraben, oder vielmehr, jener bemerkte nicht, daß er das Eigenthum eines andern mit hineingebaut hat. 77
Verwundern muß dennoch die radikale Verdammung aller Gelehrsamkeit, die als Leitmotiv die »Päpstin«-Dichtung durchzieht und in folgendem persönlichen Bekenntnis gipfelt: »Es ist sehr schwer, gelehrt zu sein und sich dieses Dienstes [nämlich an den »Gottheiten« Dummheit und Bosheit] zu erwehren, weswegen ich mich auch schon lange aller Gelehrsamkeit enthalte.«78 Dementsprechend ist in der versöhnlichen Schlußutopie der Dichtung für die Repräsentanten der Gelehrsamkeit kein Platz mehr: Spiegelglanz versinkt, in Parallele zum Höllensturz seines satanischen Patrons, im »tiefsten Schlamm«;79 Chrysoloras, die irdische Hülle Luzifers, wird nach dem Ausfahren des Teufels von Ungeziefer buchstäblich in Nichts zersetzt. Wie vor allem Roswitha und Frederick Burwick in ihren Arbeiten gezeigt haben,80 bedeutete Arnims 1801 beginnende Abkehr von den Naturwissenschaften keineswegs, wie in der früheren Forschung angenommen wurde, eine Absage an die Wissenschaft überhaupt, sondern lediglich an ein rein theoretisch-spekulatives Modell derselben und an eine bestimmte Art von Gelehrten, die »Kompendiumsprofessoren«. Hier ist auch an Arnims enge Freundschaft mit Gelehrten 'neuen' Typs wie vor allem Savigny zu erinnern.81 Man muß also wohl den Blick auf andere Dichtungen Arnims ausweiten, um das rein negative Gelehrtenbild der »Päpstin« zu differenzieren: Schon die »Beilage« zu Arnims erstem Roman, »Hollin's Liebeleben«, hatte bekanntlich das positive Exempel eines Gelehrten vorgeführt, nämlich den historischen Schweizer Naturwissenschaftler Horace Bénédict de Saussure. In Arnims Darstellung hat Saussures Wirken einen geradezu utopischen Gehalt; sein Beispiel »könnte 76 77 78 79 80
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Steig I, vgl. Anm. 1 , S. 104. Steig III, vgl. Anm. 1, S. 402. SW 19, S. 288f. Ebd., S. 444. Vgl. ζ. B. Roswitha Burwick: Achim von Arnim, Physiker und Poet. In: Lit.wiss. Jb. der Görres-Ges. N.F. 26, 1985, S. 121-150; Frederick Burwick: Elektrizität und Optik. Zu den Beziehungen zwischen wissenschaftlichen und literarischen Schriften Achim von Arnims. In: Aurora 46, 1986, S. 19-47 sowie besonders den im vorliegenden Band enthaltenen Aufsatz Roswitha Burwicks über die für die Entstehung der »Päpstin Johanna« relevante Berliner Zeit Arnims. Stefan Nienhaus spricht im Titel eines kürzlich erschienenen Aufsatzes treffend von »Achim von Arnims Aufhebung [also nicht Negation] der Naturwissenschaften in der Poesie« (Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft 6/7, 1994/95, S. 158-167). Vgl. Heinz Härtl (Hrsg.): Arnims Briefe an Savigny 1803-1831. Mit weiteren Quellen als Anhang. Weimar 1982.
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allen fruchten, weil alle darnach streben sollten.«82 Saussures Tätigkeit zielt nämlich darauf, »den Wurmstich aller neuern Kultur, die Trennung der Spekulation vom Leben [...] auszurotten, alles Wissen sollte jedem entstehen«,83 die paradiesische Urwissenschaft aus dem Islandmythos der »Päpstin Johanna« also quasi wiedergewonnen werden. Folgerichtig ist Saussures Leben, im Gegensatz zu dem der charakterlosen Gelehrten der Romepisode, ein »harmonisches Ganzes«,84 wozu nicht zuletzt eine glückliche Ehe gehört. Und auch in einer nach der »Päpstin« entstandenen Dichtung, nämlich in den schon mehrfach zum Vergleich herangezogenen »Holländischen Liebhabereien«, die etwa 1825 zu datieren sind, erscheint ein beispielhafter Gelehrter. Nach einem Entwurf, auf den Christof Wingertszahn aufmerksam gemacht hat85 und den Renate Moering in ihrer Ausgabe zitiert, sah Arnim in Jan Vos alias Secundus »ein Vorbild jener edlen wissenschaftlichen Befreundung mit allem Guten [...], die noch in unsern Tagen berühmte Philologen auszeichnet, die Verträglichkeit mit vielen durch die hohen Talente gewonnen, Anerkennung jedes Verdienstes, Gott weiß es, sie sind nicht alle wie Voß.«86 Jan Vos ist allerdings kein Gelehrter im strengen Sinne, sondern ein Dichter, ein poeta doctus, der sein Wissen kreativ umsetzt. Man kann hier also wohl Arnims Programm gespiegelt sehen, Gelehrsamkeit im besseren Sinne und Dichtung zu verbinden.
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Arnim Werke I, vgl. Anm. 18, S. 90. Ebd., S. 96. Ebd., S. 99. Wingertszahn 1990, vgl. Anm. 65, S. 446. Arnim Werke IV, vgl. Anm. 18, S. 1216.
Jürgen Knaack
Achim von Arnim und der »Preußische Correspondent« Eine letzte großstädtische Aktivität vor dem Umzug nach Wiepersdorf
Von Oktober 1813 bis Januar 1814, genau vier Monate lang, war Achim von Arnim Herausgeber und Redakteur des gerade gegründeten »Preußischen Correspondenten«, der dritten wichtigen Berliner Tageszeitung neben den beiden alteingesessenen, der sogenannten »Spenerschen« und der »Vossischen«Zeitung. Kurze Zeit nach Abgabe der Herausgeberschaft des »Preußischen Correspondenten« verließ Arnim Berlin, ging nach Wiepersdorf und blieb dort bis zum Ende seines Lebens wohnen. Um zu erklären, wieso Arnim die Zeitung so quasi aus dem Stand übernehmen konnte, muß ich ein wenig ausholen und zunächst einen kurzen Blick zehn Jahre zurück werfen. »Ich habe Lust, dort [in Berlin, J. K.] Zeitungsschreiber zu werden«,1 schrieb der 23jährige Arnim im April 1804 aus London, nachdem er die Nachricht vom Tode seines Vaters erhalten hatte, an seinen Freund Clemens Brentano. Arnim war zu diesem Zeitpunkt zwar noch minderjährig - in Preußen endete die Minorennität erst mit dem 24. Jahr - doch er machte sich natürlich Gedanken darüber, was er nach Beendigung seiner Europareise, die ihn über Paris nach London geführt hatte, in seiner Heimat machen sollte. Einige Zeit zuvor hatte er in seinem Taschenbuch2 einen sehr knappen Plan skizziert, etwas über »Preußens Volkszeitung« und wie man sie machen müßte. Er wollte am liebsten gleich zwei Zeitungen herausgeben, eine mit dem Titel »Der Behaupter« und als Gegenstück »Der Widerleger«, um die Vielfalt der Meinungen und damit die Diskussion in der Öffentlichkeit anzuregen. Eine sehr romantische und auch eine typisch Arnimsche Idee, die der Publizist und Arnimfreund Adam Müller etwa sechs Jahre später tatsächlich aufgriff und in Berlin zu realisieren versuchte.3 Ob und wieweit Arnim bei diesem Plan Müllers Einfluß hatte, ist bisher nicht untersucht worden. Als Arnim im Herbst des Jahres 1804 aus London nach Berlin zurückkehrt, denkt er jedoch zunächst nicht mehr an seine Zeitungspläne, sondern dichtet, wie Brentano schreibt, stapelweise Lyrik. Erst zwei Jahre später, im September 1806, greift er diese Idee wieder auf und veröffentlicht einen Plan 1
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Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearb. von Reinhold Steig. Stuttgart 1894 ( = Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hrsg. von Reinhold Steig und Herman Grimm. Erster Band), S.106. Hs-FDH Β 69, S. 5. Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hrsg. von Walter Schroeder und Werner Siebert. Neuwied 1967. Bd.2, S. 305. Vgl. dazu auch Andrea Hofmeister-Hunger: Pressepolitik und Staatsreform. Göttingen 1994, S. 205 ff
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für das Wochenblatt »Der Preuße. Volksblatt«.4 Er schreibt am 1. September sogar an Goethe, daß er ein »Tageblat für das Volk« mit Hilfe mancher braver Leute herausgeben will, um das »Nothwendige mit dem Vergnüglichen zu vergegenwärtigen«.5 Diese Ankündigung, geschrieben am 19. September 1806, erscheint am 5. Oktober im »Allgemeinen Anzeiger der Deutschen« und ist eine Reaktion auf die veränderte politische Situation in Deutschland. Und sie ist wohl eher eine Philippika gegen Frankreich als der reale, ausgereifte Plan, eine Zeitung herauszugeben. Schon wenige Tage später kommt es Hann zum Krieg Preußens gegen Frankreich, der mit der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstädt am 14. Oktober beginnt und mit der Besetzung Preußens endet. Arnim flieht nach Königsberg, und die Zeitungspläne zerschlagen sich, da es im besetzten Preußen nicht gut möglich war, eine patriotische Zeitung, wie Arnim sie plante, zu verwirklichen. So gründete er knapp zwei Jahre später, im April 1808, in Heidelberg bekanntlich die »Zeitung für Einsiedler«, ein mehr literarisches Blatt, das den Höhepunkt der sogenannten Heidelberger Romantik markiert und von dem bis Ende August 1808 insgesamt 37 Nummern erschienen und das dann wegen wirtschaftlichen Mißerfolges eingestellt wurde. Damit war zwar Arnims Karriere als Zeitungsherausgeber zunächst beendet, nicht jedoch als Zeitungsschreiber. Als Heinrich von Kleist ab 1. Oktober 1810 seine »Berliner Abendblätter« herausgab, wurde Arnim sehr bald Mitarbeiter und veröffentlichte dort Gedichte, Anekdoten und Aufsätze, den letzten am 31. Januar 1811. Ende März wurde das Blatt vor allem wegen wirtschaftlichen Mißerfolgs eingestellt. Arnim, der auf Broterwerb durch seine schriftstellerische Arbeit bisher nicht angewiesen war, weil seine Großmutter ihm zumindest das zum Leben nötige Geld immer geschickt hatte, sah sich in einer völlig veränderten Situation, als am 10. März 1810 seine Großmutter starb und er sich nun in einer neuen, wirtschaftlichen Lage als Erbe eines Vermögens wähnte. Als sich nach Eröffnung des Testaments herausstellte, daß die Großmutter eine Fideikommißstiftung zugunsten ihrer Urenkel gemacht hatte - das heißt zugunsten der noch nicht geborenen Kinder von Achim und seinem zwei Jahre älteren Bruder Karl Otto - , da heiratete Arnim einen Jahr und einen Tag nach dem Tode der Großmutter seine Freundin Bettine, um mit ihr Kinder zu haben und dadurch in den Genuß des Fideikommisses zu kommen. In dieser Zeit mietete er seine erste Wohnung in Berlin, gründete die »Christlich-deutsche Tischgesellschaft«, schrieb das Drama »Halle und Jerusalem«, Erzählungen und andere Theaterstücke, die er als Schaubühne veröffentlichte, im Mai 1812 wurde sein seine erster Sohn geboren, den er Freimund nannte. Seine finanzielle Situation war aufgrund verschiedener Umstände, das Erbe betreffend, nicht besonders gut, 4
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Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Schriften. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt/M 1992, S. 186-189. Goethe und die Romantik. Hrsg. von Carl Schiiddekopf und Oskar Walzel. Bd. 2. (Schriften der Goethe-Gesellschaft 14).Weimar 1899, S. 124.
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er schreibt an seinen Bruder, 1812 sei bis dahin »das allerschlimmste Jahr für unsre Verhältnisse«6 gewesen. Als am 17. 3. 1813 der preußische König die beiden Aufrufe »An mein Volk« und »An mein Heer« veröffentlichte und damit der Befreiungskrieg gegen die französische Besatzungsmacht begann, änderte sich auch Arnims Situation. Er bewarb sich um aktive Teilnahme bei der Landwehr, das Militär lehnte ihn jedoch ab, was ihn sehr verbitterte. Er wurde dann im Mai 1813 wenigstens zum Hauptmann und Vize-Bataillonschef beim Landsturm ernannt und nahm diese Aufgabe auch sehr ernst. Zunächst sah es auch so aus, als ob Berlin von den Franzosen unter General Ney angegriffen würde, dann verlagerten sich jedoch die Kämpfe, die Gefahr für Berlin war gebannt, und der Landsturm wurde sehr schnell schon Mitte Juli 1813 wieder aufgehoben. Viele Frauen aus dem Freundeskreis der Arnims waren während des Krieges vor der drohenden Gefahr aus Berlin geflohen, Bettine jedoch war mit ihrem Sohn geblieben, wohl auch weil sie wieder schwanger war. Am 2. Oktober wurde der zweite Sohn, Siegmund, geboren. Soviel zu Arnims persönlicher Situation, als er am 1. Oktober 1813 die Redaktion des »Preußischen Correspondenten« übernahm. Die Zeitung war auf Initiative des Verlegers Georg Andreas Reimer und des Geheimen Staatsrates und Professors der Geschichte Barthold Georg Niebuhr zu Beginn des Jahres 1813 gegründet worden und erschien seit dem 2. April des Jahres, und zwar vier mal wöchentlich - montags, mittwochs, freitags und sonnabends.7 Niebuhr war nur gut drei Wochen Herausgeber des Blattes, dann mußte er im Auftrag des Königs nach Dresden. Der Jurist Johann Friedrich Ludwig Göschen übernahm für die beiden nächsten Monate die Herausgeberschaft, sein Nachfolger wurde für drei Monate der Theologe Friedrich Schleiermacher. Zu dieser Zeit hat Arnim zumindest einen ihm eindeutig zuzuschreibenden Artikel für das Blatt geschrieben, eine Rezension zu einem Buch vom Generalstabschef Gneisenau über den »Feldzug von 1813«. Arnim schreibt darüber am 23. 9. 1813 an seinen Schwager Savigny: Die Schrift von Gneisenau über den Feldzug 1813 ist sehr schön, ich habe sie für den Correspondenten rezensiert, aber die Censur macht mir noch Umstände. 8
Schleiermacher hatte große Schwierigkeiten mit der Berliner Zensurbehörde, in deren Angelegenheiten sich auch König Friedrich Wilhelm einschaltete und schon Mitte Juli wegen eines Zensurvorfalls die Entlassung Schleiermachers anordnete, die nur durch die Intervention des Staatskanzlers Hardenberg aufgehoben und in einen strengen Verweis geändert wurde.9 Im September stritt sich Schleiermacher erneut so heftig mit dem für die politische Zensur alleinverantwortlichen Polizeipräsidenten Le Coq, daß er sein Amt als Herausgeber 6 7
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Arnims Briefe an Savigny 1803-1831. Hrsg. von Heinz Härtl. Weimar 1982, S. 263. Zur Geschichte des »Preuß. Corr.« vgl. vor allem Max von Lettow-Vorbeck: Zur Geschichte des Preussischen Correspondenten von 1813 und 1814 (Historische Studien 95). Berlin 1911. Härtl: Savigny, vgl. Anm. 6, S. 71. Vgl. Hofmeister-Hunger 1994, vgl. Anm. 3, S. 260.
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sehr kurzfristig niederlegte. Der Zeitungsgründer Niebuhr war nicht im Lande, der Verleger Reimer war ebenfalls im Krieg, seine Geschäfte wurden von seiner Frau geführt, die am 24. September noch keinen Nachfolger für Schleiermacher hatte. Arnim muß sich also sehr kurzfristig, das heißt binnen einer Woche, für die Übernahme der Zeitung entschieden haben. Als vierter Herausgeber und Redakteur des Blattes war Arnim bestimmt derjenige, der am meisten journalistische Erfahrung mitbrachte und auch den Willen zu einer volksnahen Darstellungsweise. Deshalb wird es wohl auch nicht der Blattgründer Niebuhr gewesen sein, der Arnim vorgeschlagen hat, sondern eher der mit Arnim befreundete Prediger Schleiermacher. Und Arnim war im Hause Reimer auch kein Unbekannter. Sein Roman »Gräfin Dolores« war in der Reimerschen Realschul-Buchhandlung erschienen, und Reimer gehörte mit zum Kreis der Arnimschen Tischgesellschaft. Arnim war, abgesehen von seiner literarischen Arbeit, beschäftigungslos, außerdem brauchte er Geld und war als Zeitungsschreiber bekannt. Was also lag näher, als ihn zu fragen, ob er Herausgeber des »Preußischen Correspondenten« sein wolle. Arnims Herausgeberschaft fällt in eine der historisch wichtigsten Zeiten Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Befreiungskampf gegen Frankreich, den Sieg Preußens mit seinen Alliierten über Frankreich in der Leipziger Völkerschlacht vom 16.-18. Oktober 1813 und den anschließenden Rückzug der französischen Armee über den Rhein. In dieser Zeit hatte natürlich eine Zeitung eine ungeheure Bedeutung als Informationsquelle und Meinungsbildner für die Bevölkerung, und Arnim hat diese Chance auch in herausragender Art zu nutzen gesucht. Wie schwierig es ist, eine gute Zeitung zu machen, die gleichermaßen unterhaltend wie informierend ist, sollte Arnim sehr bald merken. Zum einen war es für ihn nicht einfach, Informationen zu besorgen, die nicht schon in den anderen Berliner Zeitungen standen, zum anderen hatte er häufig Schwierigkeiten mit der Zensur, weil diese vieles von dem, was Arnim für berichtenswert hielt, nicht mit ihren Vorstellungen von Öffentlichkeit und Politik vereinbaren konnte. Daß es Arnim trotz sehr beschränkter Mittel gelang, eine gute Zeitung zu machen, soll ein Vergleich mit den wesentlich älteren und etablierten »Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen« zeigen, die nach dem Verlag Haude und Spener, in dem sie erschienen, auch kurz die »Spenersche« genannt wurden. Der »Correspondent« erschien in der Regel vier mal die Woche, - Montag, Mittwoch, Freitag und Sonnabend - , die Spenersche nur drei Mal, - Dienstag, Donnerstag, Sonnabend - , beide Zeitungen gemeinsam also nur am Sonnabend. Dafür hatte der »Correspondent« meist nur vier Seiten, die »Spenersche« dagegen acht. Der »Correspondent« hatte so gut wie keine Anzeigen, während öffentliche Bekanntmachungen und private Anzeigen in der »Spenerschen« bis zu vier Seiten ausmachten - der redaktionelle Teil war also ungefähr gleich groß. Über grundsätzliche Prinzipien seiner Zeitung hat Arnim sich schon bald nach Redaktionsübernahme am 11. Oktober 1813 in einer »Anzeige« öffentlich geäußert:
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Wir können es uns zuweilen nicht versagen, Gerüchte, in so fern wir sie von glaubwürdigem Munde empfangen, selbst wenn wir einige Zweifel gegen ihre Wahrscheinlichkeit hegen, unsern Lesern mitzutheilen. Eine Zeitung muß wiedergeben, was die Zeit ihr darbietet, und bei so nahen Begebenheiten kann selbst eine verfälschte Nachricht nicht bloß erfreulich, sondern selbst nützlich werden. Diese Gerüchte nachher jedesmal zu berichtigen wäre allzu umständlich, dennoch wünschten wir unserm Blatte einige historische Brauchbarkeit für den künftigen Geschichtsfreund zu geben und versprechen deswegen von Zeit zu Zeit eine Durchsicht und Berichtigung der mitgetheilten Materialien zu liefern. 10
Außerdem sichert Arnim den Lesern zu, daß die Zeitung spätestens bis um 18 Uhr ausgeliefert wird und daß sie nicht durch Extrablätter zur Kasse gebeten werden sollen. Wie wichtig Arnim seine Arbeit nahm und wie sehr er Korrespondenten und internationale Quellen für eine Zeitung für unverzichtbar hielt, beweist ein Schreiben vom 18. November 1813 an seinen Verleger Reimer." Er klagt darin über den Mangel an ausländischen Zeitungen und daß nur wenige Bekannte ihm bisher brauchbare Informationen zugeschickt hätten, daß von der Zensur sogar Artikel aus der Königsberger Zeitung zusammengestrichen würden und daß die Redaktion der »Vossischen Zeitung« offizielle Bulletins immer einige Stunden vor ihm erhalte. Arnim hatte, anders als sein Vorgänger Schleiermacher, durchaus den journalistischen Ehrgeiz, so aktuell wie möglich zu sein. Denn als Schleiermacher noch Herausgeber war, schrieb Arnim einmal an seinen Schwager Savigny: »Schleiermacher besorgt den Correspondenten sehr schlecht, weil er nicht Zeit und Lust hat nach Neuigkeiten umherzuwandern, so ist er immer wie eine Wiederholungs oder Nachmittagspredigt zu lesen.«12 Arnim war wesentlich engagierter und muß ständig in Berlin von Pontius zu Pilatus gelaufen sein, um an Informationen heranzukommen, zumindest beklagt er später die viele Lauferei, die er durch seine Arbeit hatte. Die Anzahl und Möglichkeit von Informationsquellen war zwar begrenzt, insgesamt jedoch sehr vielfältig. Ich nenne hier nur eine Auswahl der benutzten Quellen, wobei viele davon wahrscheinlich nur indirekte Quellen aus anderen sind: Vossische Zeitung, Spenersche Zeitung, Breslauer Zeitung, Burgischer Courier, Amts-Zeitung, Leipziger Zeitung, Allgemeine Zeitung, Fränkischer Merkur, Zeitung aus dem Feldlager, Oesterreichischer Beobachter, Wiener Zeitung, Deutsche Blätter des österreichischen Heeres, Moniteur, Courier de Londre, Armeebericht, Aus einem Schreiben, Nach eingegangenen Berichten, Aus einer Sammlung französischer Armeebriefe, ein englischer Courier, nach officiellen Nachrichten, Nachricht vom Oberstlieutnant von der Marwitz, Hauptquartier Dessau, Proklamation, Bulletin des Kronprinzen. Besonders aktuell waren die Quellen meist jedoch nicht. Ein kleiner Exkurs über die Berichterstattung nach der Völkerschlacht mag zeigen, wie
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Preuß. Corresp. vom 11.10.1813, S. 4. Steig 1894, vgl. Anm. 1, S. 324f. Härtl, Savigny, vgl. Anm. 6, S. 70.
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schleppend und rudimentär der Informationsfluß zu der Zeit für die Presse gewesen ist. Den ersten Hinweis auf die Schlacht, die am Sonnabend, dem 16. Oktober, begann, hat Arnim bereits Montag den 18. »Victoria! Unser Blücher hat ...4 Corps französischer Truppen ...gänzlich geschlagen.« So beginnt als Aufmacher eine 11-Zeilen-Meldung. Erst am Dienstag, dem 19. macht die »Spenersche« damit auf, 16 zeilig. Arnims Meldung ist nicht nur einen Tag früher aufgrund des Erscheinungstages, sondern im heutigen Sinne auch wesentlich journalistischer formuliert. Am Mittwoch, dem 20., gibt Arnim einen Bericht aus Halle vom 17. mit einer kurzen Schilderung der Schlacht, die Spenersche macht am Donnerstag, dem 20., mit einer detaillierteren Meldung auf und bringt dann die Nachricht aus Halle. Am gleichen Tag liefert Arnim mit einer »Außerordentlichen Beilage« den ersten Augenzeugenbericht »Sturm auf Leipzig, Gefangennehmung des Königs von Sachsen.«, der der Ausgabe vom Freitag, dem 22., beigelegt war. Die »Spenersche« bringt den Bericht mit Nennung der Quelle am Sonnabend auf Seite 2. Arnim war über diesen journalistischen Erfolg so stolz, daß er sogar an seinen Verleger Reimer schrieb, daß die anderen Zeitungen aus seiner Beilage vom 22. Oktober einen ersten Bericht von der Völkerschlacht übernommen hätten und auch sonst ohne zu zitieren aus seiner Zeitung abschrieben.13 Am gleichen Tag, also am Freitag, dem 22., macht sich Arnim in seinem Aufmacher schon Gedanken darüber, welchen Namen die Schlacht haben soll, und benutzt dabei den Begriff »Völkerschlacht«, der sich später durchgesetzt hat. Er will zunächst jedoch lieber von der »Deutschen Schlacht« sprechen. Der Umfang von Arnims Arbeit am »Preußischen Correspondenten« ist immens, er hat insgesamt 69 Nummern herausgegeben, jede Nummer hat im Schnitt 10 bis 15 Meldungen und Berichte, d. h., daß Arnim 700 bis 1000 Artikel veröffentlicht hat. Der Anteil der Eigenhändigkeit muß noch im Detail für die historisch-kritische Ausgabe ermittelt werden, Mallon nennt rund 120 von Arnim selbst verfaßte Artikel, Besprechungen und Gedichte. Einen Beleg über den Wirkungsgrad des »Preußischen Correspondenten« liefert ein Brief von Wilhelm Grimm an seinen Bruder Jacob in Paris. Wilhelm Grimm hatte Arnim Informationen über Ereignisse in Kassel zukommen lassen, Arnim hatte diese ohne Namensnennimg im »Correspondenten« veröffentlicht. Grimm konnte den »Correspondenten« in Kassel zunächst nicht bekommen, er las jedoch in den »Altenburgischen Deutschen Blättern« seine an Arnim gegebenen Informationen.14 Insgesamt hatte Arnim wenig private Zuträger für sein Blatt, obwohl er wiederholt Freunde und Bekannte außerhalb von Berlin um Informationen gebeten hatte, neben Clemens Brentano in Wien und Wilhelm Grimm in Kassel wandte er sich zum Beispiel an den in Frankfurt lebenden Richter und Ober« 14
Steig 1894, vgl. Anm. 1, S. 325f. Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. Hrsg. von Herman Grimm und Gustav Hinrichs. Weimar 1881, S. 251.
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schulrat Johann Friedrich Heinrich Schlosser, den er wohl schon aus seiner Studienzeit in Halle kannte. Arnim schreibt am 11. 11. 1813: Lieber Schlosser! Bekannt mit Ihrer freundschaftlichen Gefälligkeit und mit dem Drange eigner Angelegenheiten wende ich mich an Sie und bitte um einige Nachricht, wie es Verwandten und Freunden ergangen ist, zu der letztem Zahl werden Sie hoffentlich auch sich selbst rechnen, ich habe Sie damit gemeint. Wollen Sie noch mehr für mich thun, und ich glaube, daß jezt die Land und Stadtgerichte etwas feiern, so erzählen Sie mit etwas von den öffentlichen Angelegenheiten, merkwürdige einzelne Züge, alles ist mir wichtig, denn ich bin seit 1 1/2 Monat Zeitungsschreiber, Herausgeber des Preußischen Correspondentes der von Niebuhr angefangen, durch Schleiermachers in meine Hand übergegangen ist, nachdem jener in Geschäften Berlin verlassen muste. Meine Adresse ist bey H P. von Savigny, Ludwigstraße Ν 3, Stafetten werden sicher wöchentlich ein paarmal hieher gehen. 15
Oder an den Heidelberger Historiker Friedrich Wilken, den Mitherausgeber der »Heidelberger Jahrbücher«, für die Arnim geschrieben hatte, in einem Brief vom 29.11.1813: Gegenwärtig pfusche ich in Ihr Fach, oder vielmehr ich will Ihren künftigen Nachfolgern in der Geschichte die soviel meine Kräfte und die Censur gestatten, erleichtern, ich schreibe eine Zeitung, genannt der Preußische Korrespondent seit dem Anfange Oktobers, Niebuhr hat ihn angefangen, Schleiermacher fortgesetzt, wie lange ich dabey aushalte, das hängt von den Umständen ab. Können Sie mir einige Materialien liefern, so werde ich dankbar seyn, nicht Neuigkeiten aus der Ferne, denn das kommt meist auf anderen Wegen schneller, sondern aus der Gegend, Kriegsvorfälle, innere Angelegenheiten, Anekdoten. 16
Ob Arnim von Schlosser oder Wilken Informationen bekommen hat, habe ich bisher noch nicht ermitteln können. Antwortbriefe sind zumindest nicht bekannt. Neben der Schwierigkeit, an berichtenswerte Informationen heranzukommen, hatte Arnim das gleiche Problem wie seine Vorgänger mit der preußischen Zensur. Publizistische politische Zukunftsplanung war während der Befreiungskriege generell unerwünscht, konstatiert Andrea Hofmeister-Hunger17 in ihrer Studie über »Pressepolitik und Staatsreform«. In fast jedem seiner Briefe beklagt Arnim sich über die strenge Zensur, und, als I-Tüpfelchen, hat der Zensor sogar aus dem Abschiedsartikel Arnims »An die Leser« vom 31. Januar 1814 den Satz getilgt: Die Beschränkung dessen, was gedruckt werden darf, unterdrückt die Lust, das Erlaubte mitzutheilen, Völker können nicht aus der gegenseitigen Erfahrung lernen, denn sie erfahren nichts Wahres von einander. 18
Wie Arnim listig versuchte, die Zensur zu umgehen, beweist ein Brief vom November 1813 an den Prediger Ludwig Blanc in Halle, der dort eine Zeitung herausgab: »Ihren Brief ... hatte ich kaum empfangen, als mir die 15
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Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Briefe Achim von Arnims nebst anderen Lebenszeugnissen. Teil II: 1811-1830. In: Literaturwiss. Jahrbuch der Görresges. N. F. 29, 1981, S. 83f. Reinhold Steig: Zeugnisse zur Pflege der deutschen Litteratur in den Heidelberger Jahrbüchern. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 11, 1902, S. 281f. Hofmeister-Hunger 1994, vgl. Anm. 3, S. 261. Preufl. Corresp. Nr. 17 vom 31.1.1814, S. 4.
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hiesige verrückte Zensur Gelegenheit giebt Ihnen schon etwas zu senden, das ich Ihnen nicht ganz gönne, es ist der »Leipziger Schlachtbericht von einem russischen General«, datiert Mühlhausen den 19. Oktober.19 Seinem aufgestautem Ärger macht Arnim dann etwas später, wohl im August 1814, also ein gutes halbes Jahr nachdem er den Herausgeber-Posten abgegeben hatte, in einem Brief an den Staatskanzler Hardenberg Luft. Er schreibt dort: [...], aber bey dem strengen Banne mit welchem die Policey jede Aeusserung über innere Landesverhältnisse unterdrückt, können diese Klagen nie zu den Ohren der ersten Behörden gelangen... Vielleicht wird Ew Durchlaucht diese Behauptung der gänzlich unterdrückten Preßfreiheit als etwas unglaubliches erscheinen; ich habe vier Monate den Preußischen Correspondenten redigirt und bin in dieser Zeit von der Policeybehörde zur Unterdrückung jeder Wahrheit, jedes guten Willens gemißbraucht worden. Sollte meine Meinung hier zu einzeln stehen, so werden die Redacktionen der Spenerschen und Vossischen Zeitung, die Mitredacktoren des Preussischen Corresp die Professoren Scheiermacher Rühs ein Gleiches bezeugen. Eine kurze Unterredung mit dem Censor H Policeyrath Naude würde eure Durchlaucht den Grund einer solchen Policeycensur aufdecken. 20
Arnim konnte oder wollte sich nicht vorstellen, daß König und Staatskanzler Haupturheber dieser Zensurpraktiken waren. Ein dritter Widerpart bei der Herausgabe der Zeitung war dann noch Niebuhr, der Gründer des Blattes. Er war mit Arnims Art des Journalismus überhaupt nicht einverstanden, stritt sich seit seiner Rückkehr nach Berlin im November 1813 immer wieder und sehr heftig mit ihm und schrieb am 29. Januar 1814 an den Verleger Reimer, daß er lieber wieder die Herausgabe des Blattes übernehmen wolle, als zusehen, daß Arnim diese Gelegenheit, seine Feder laufen zu lassen, noch länger so schändlich mißbrauche. ... Seine Flachheit und Kernlosigkeit erkennt man in jeder seiner belletristischen Schriften. 21
Obwohl Arnim auf die 30 Taler, die er monatlich für die Arbeit am »Correspondenten« bekam, angewiesen war - als kleine Anmerkung zur Höhe des Gehalts ein Vergleich: ein preußischer Offizier bekam 27 Taler im Monat - , war Arnim doch froh, die Herausgeberschaft wegen der gehäuften Widrigkeiten abzugeben. Die viermonatige Herausgeberzeit Arnims war für das Blatt ein Erfolg, die Abonnentenzahl hatte sich deutlich erhöht und Inhalt und Form der Zeitung hatten durchaus Lob erhalten. Goethe schrieb am 23.2.1814 an Arnim: »In den beyden mitgetheilten Zeitungsblättem finde ich guten Sinn und Ton; das über Arndt gesagte, so freundlich als gründlich.«22 Und Wilhelm Grimm lobte das Blatt gegenüber seinem Bruder in einem Brief vom 12.2.1814: 19 20
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Henrici Auktionskatalog LXXXV, Berlinl924, S. 38, Nr.203. Hermann F. Weiss: Unveröffentlichte Briefe Achim von Arnims nebst anderen Lebenszeugnissen. Teil I: 1793-1810. In: Literaturwiss. Jahrbuch der Görresges. N. F. 28, 1980, S. 93f. Hermann Dreyhaus: Niebuhr und Achim von Arnim. In: Preußische Jahrbücher 157, 1914, S. 362. Goethe und die Romantik 1899, vgl. Anm. 5, S. 151.
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er [Arnim, J. K.] entschuldigt sich mit Mangel an Zeit, welche ihm der Correspondent geraubt, indessen hat er ihn Ende des vorigen Monats an Niebuhr wieder abgegeben. Es ist eine sehr gute und merkwürdige Zeitung, an Wert und Eigentümlichkeit gar mit den gewöhnlichen nicht zu vergleichen; manches schöne Detail, selbst deutsche Sitten, wird darin beschrieben; ich will Arnim bitten, uns den ersten Jahrgang zu schenken. 23
Auch Arnim selbst war rückblickend mit dem Geleisteten durchaus zufrieden. So schreibt er an Clemens am 22. 4. 1814 aus Wiepersdorf: »Die Freuden über die Einnahme von Paris waren der Schluß meines berliner Aufenthalts. Gewissermaßen kann ich es als einen wohlverdienten Lohn meiner Wünsche und Sorgen annehmen. War mir keine bedeutende Thätigkeit dabei vergönnt, so hab ich doch mit Ergebenheit Zeit und Gedanken und Lieblingswünsche und Geistesspiel dem großen Ernste dieses Jahres geopfert und will nun alle Sorge von mir abschütteln.«24
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Jacob und Wilhelm Grimm 1881, vgl. Anm. 14, S. 251. Steig 1894, vgl. Anm. 1, S. 337.
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>Ahasvers Sohninnen< aussah, welche Antriebe, Obsessionen und Phantasien, welche Diskurse den geistigen Haushalt beherrschten, darüber gibt das Drama, und ebenfalls der gleichzeitig entstandene Roman, Auskunft. Nach dem soeben erschienenen »Wintergarten« schrieb der »grose Fabrikant in der Ekstube«1 im Herbst 1809 und in 1810 zugleich »Halle und Jerusalem« und den romantischen Roman mit dem politischen Subtext »Die Gräfin Dolores«. Innerhalb von drei Tagen war um den 20. Oktober 1809 der erste Akt des Schauspiels niedergeschrieben. So bezeugte Wilhelm Grimm: 1
Brentano an Wilhelm Grimm Febr./März 1810 (Frankfurter Brentano-Ausgabe Bd. 32, S. 228). »Städtedrama« im Titel variiert Arnims Formulierung »dramatisches Stadtgedicht« bei der Übersendung an Goethe. - Zu einer Untersuchung erweiterte Vortragsfassung, die auf meinen WAA-Band »Halle und Jerusalem« voraufweist, der für 2001 geplant ist. Kommentierung bedarf der Matrix, eines Fundaments der Orientierung, das Interpretationsarbeit voraussetzt. Nur so sind die Kontextsetzungen, die der Kommentar leistet, hinsichtlich ihrer Relevanz, ist Kommentarbedürftiges auf der Folie der vorauszusetzenden Zusammenhänge und Verflechtungen abschätzbar. Die Untersuchung bietet so nicht nur einen Referenztext für den Kommentar, sondern einen Einblick in den poetischen Kosmos des Werks und die zugehörigen Kontexte für den Leser; der Umfang mag so entschuldbar sein. Das Drama wird zitiert nach der Ausgabe von Paul Kluckhohn in: Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Hrsg. von Heinz Kindermann. Reihe Romantik. Hrsg. von Paul Kluckhohn. Bd. 21: Dramen von Clemens Brentano und Ludwig Achim von Arnim. Leipzig 1938, S. 47-298. Seitenzahlen in runden Klammern im Text und in den Anmerkungen, auch freistehende Ziffern mit S. (Seite) in den Fußnoten, verweisen auf diese Ausgabe. Die Bände des Deutschen Klassiker-Verlags sind mit arabischen Bandund Seitenzahlen zitiert, mit Kürzel SW analog die Sämmtlichen Werke (1839-1856).
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Ulfert Ricklefs In Zeit von vier Wochen hat [Arnim] ein Trauerspiel fertig gemacht, nach des Gryphius seinem Cardenio, doch wenig beibehalten, voll unendlicher Schönheit, und alles hat, weil er ganz ohne Feile und Zwang niederschreibt, einen so zarten Duft und eine seltene Frischheit, man sieht den Geist leis darüber schweben und walten. [... Er] hat einen letzten Act noch darangehängt voll wunderlicher Abenteuer, aber vielleicht gibt er es als ein besonderes Nachspiel.2
Und an Savigny schrieb er im Januar 1810: »Wie hoch steht doch Arnim über allen diesen, dem, was Kraft zur Dichtung betrifft, kein neuerer kann an die Seite gesetzt werden, und der auch immer klarer und fester wird, wie in einem Trauerspiel Cardenio, das er in drei Wochen fertig machte, und das unbeschreiblich schön ist.« 3 Auf die Tage um den 13. 11. 1809 ist die Konzeptionsphase von »Jerusalem« zu datieren. Am 12. Dezember schon bot Brentano das Drama dem Verleger Zimmer in Heidelberg an: »das Ganze ist fertig, wenn sie diesen Brief erhalten«, es müsse aber wegen der Drucküberwachung, der Voß-Clique und der Heidelberger Zensur in Berlin gedruckt werden. 4 Brentanos ausführliche Charakterisierung des »Halle und Jerusalem zwei Trauerspiele für Juden« betitelten Stücks entspricht, soweit hier erkennbar, dem heutigen Text, nur die Einteilung in insgesamt fünf Akte, drei für »Halle« und zwei für »Jerusalem« (letztere sind in der Druckfassung zugunsten einer Reihung von 13 Szenen aufgegeben), deutet auf weitere Überarbeitungen. Auch das Kupferporträt des Ahasver ist schon vorhanden. Brentano nennt unter den Figuren allerdings auch Chateaubriand, den Autor von »Le Génie du Christianisme ou beautés de la religion Chrétienne« (1802; auch eines »Itinéraire de Paris à Jérusalem«, 1811), der in der Endfassung nicht mehr enthalten ist. 5 Es gebe »keine Moderne Arbeit, seit Göthe«, so Brentano an den Verleger, worinn ein so lebendiger Tummelplatz der Fantasie, ein so hinreißender Wandel und Strom der Begebenheiten, in ganz verständlicher Menschlicher gesprochener Sprache, und zugleich eine so schöne tiefe poetische Seele erscheint.6
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Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. 2. A. Hrsg. von Wilhelm Schoof. Weimar 1963, S. 175. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Roger Paulin: Gryphius' »Cardenio und Celinde« und Arnims »Halle und Jerusalem«. Eine vergleichende Untersuchung. Tübingen 1968 [zugleich Phil. Diss. Heidelberg 1965], S. 5-12. Zur Zitierweise häufig benutzter Werke: Die drei Briefbände Reinhold Steigs, Stuttgart 1894, 1913 u. 1904 (Brentano-, Bettine- und Grimm-Briefwechsel) werden mit Steig I, II u. III zitiert. Der Briefwechsel mit Brentano: Hartwig Schultz: Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe. 2 Bde. Frankfurt/M. 1998 wird zitiert mit Schultz: Freundschaftsbriefe, mit Band- und Seitenangabe (trotz der durchlaufenden Seitenzählung). »Des Knaben Wunderhorn« wird nach der Erstausgabe (Bd. I in der Neuausgabe 1819) zitiert über den Reprint Tübingen 1926. Abgekürzt zitiert wird auch die historisch-kritische Brentano-Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift: Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe. Frankfurter Brentano-Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Behrens u. a. Stuttgart u. a. 1975ff. Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hrsg. von Wilhelm Schoof. Berlin 1953, S. 84. Frankfurter Brentano-Ausgabe Bd. 32, S. 191. Chateaubriands Werk, das im Kontext einer religiösen Europaidee bei Bonald, Novalis und anderen zu sehen ist, scheint, wie später zu zeigen ist, ebenso wie der Genfer Kreis um Madame de Staël und Frau von Krüdener, Einfluß auf die Konzeption des Doppeldramas gehabt zu haben. Siehe unten S. 149f. Frankfurter Brentano-Ausgabe Bd. 32, S. 190.
Arnims »Halle und Jerusalem«
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Die Leser des Rinaldo Rinaldino würden es ebenso gern lesen wie die des Götz und die Shakespeares. Brentano spricht von einer »ernsthafte[n] Zueignung an die Juden in Prosa«, die innerhalb des Arnim-Nachlasses im Goetheund Schiller-Archiv Weimar als Manuskript überliefert ist.7 Da Arnim zehn Tage später, wie Brentano am 22. Dezember 1809 meldete, »seit etwa 14 Tagen einen Roman von 16 Druckbogen«, die »Gräfin Dolores«, angefertigt hat, »und das bloß in 4 Morgenstunden«,8 an dem Reimer im Februar/März 1810 bereits druckt,9 wird deutlich, daß er die Arbeit an dem »großen Zeitroman« wiederaufgenommen und zwischengeschoben hatte, so daß er den ersten Teil des Cardenio nun erst während der Drucklegung der »Gräfin Dolores« im Februar und März für den Verleger Zimmer abschrieb und dabei, wie Brentano berichtete, »auch schon starck umändert aber ich schlage ihn eher tod, als daß er mir etwas störendes einmischen soll«.10 Noch im März 1810 spricht Brentano von der »Doppeltragödie für Juden« als dem Titel des Dramas, »ein herrliches lebendiges wunder schönes Trauerspiel, mir die liebste seiner Arbeiten«.11 Am 8. Mai 1810 ist »der erste Theil beim Abschreiber, der zweite noch in der Feile, dann bekommts Zimmer«.12 Vor der Abreise nach Bukowan im Juni wollte Arnim die Arbeit offenbar abschließen. Creuzer bestätigt von Heidelberg aus schon am 9. August 1810 den Druck in Berlin, er habe »Halle« bereits im Manuskript gelesen, aber »Jerusalem« liege in Heidelberg noch nicht vor.13 Arnim hat wohl noch im Spätsommer oder sogar Herbst 1810 an der endgültigen Fassung von »Jerusalem« gearbeitet. Andererseits betont er sowohl gegenüber Goethe wie in der Verlagsanzeige Anfang 1811, daß das Drama, da es schon ein Jahr zuvor geschrieben sei, fast wie ein fremdes Werk vor ihm liege, es sei »durch Zufälligkeiten fast um ein Jahr verspätet worden«.14 Am 2. November 1810 sind vom Ganzen »noch etwa 7 8
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Siehe unten S. 168. Frankfurter Brentano-Ausgabe Bd. 32, S. 193. Ebd. S. 228. Ebd. S. 228f. - Am 26. 9. 1809 hatte Brentano an Savigny signalisiert: »Arnim bereits ein Grosen Zeitroman und den Prediger Tanner in 12 4° Bänden schier fertig.« (FBA 32, S. 180) Ebd. S. 243. Ebd. S. 272. Auch Brentano aus Berlin am 3. 9. 1810: »Halle und Jerusalem wird jetzt hier für Zimmer gedruckt.« (Ebd. S. 282) An Goethe, 6. 1. 1811 (Heinz Härtl in Goethe-Jb. 1979, S. 196). - »Da sie [die »beyden dramatischen Versuches U. R ] zwar in Beziehung auf die Zeit, aber nicht in Beziehung auf den Augenblick gedichtet worden sind, so haben sie durch erneute Durchsicht gewonnen.« In: Literatur-Zeitung 1811, Sp. 103 (23. 2. 1811). - Falls man das Drama in eine engere Verbindung zur Gründung der »Christlich-deutschen Tischgesellschaft« (18. 11. 1811) rücken müßte, würde die >Programmatik< und >Lehre< des Doppeldramas in einem besonderen Licht erscheinen, daneben aber das, sonst beispiellose, Hinauszögern der Publikation eines doch offensichtlich »fertigen« Werks zugunsten der Niederschrift des neuen und umfangreichen (allerdings nach Brentano am 26. 9. 1809 ggf. »schier fertigten]«), der »Gräfin Dolores«, eine bestimmtere Erklärung finden. Vielleicht hat aber gerade die Aufgabe jener ursprünglichen Konzeption, die in der »Zueignung an die Juden« erläutert wird, den Aufschub motiviert. Siehe dazu unten S. 169f. u. 164f. Auch liegen offenbar Welten zwischen der »deutschen Freßgesellschaft« (so Ar-
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Ulfen Ricklefs
10 Bogen zu drucken«. Am 4. Dezember ist das Buch dann in Arnims Händen, und er sendet sogleich ein Exemplar an Görres, dem es zusammen mit Brentano gewidmet ist. Am Abend verloben sich Bettine und Arnim. Der ungewöhnliche, einen Adressatenkreis nennende Titel »zwei Trauerspiele für Juden« wurde schließlich nicht beibehalten. Neben der »Zueignung an die Juden« (korrigiert aus: »für edle Juden«) ist auch ein Blatt Titelformulierungen im Manuskript überliefert: »Cardenios und Celindes, Lysanders und Olympiens Reise von Halle nach Jerusalem. Ein Schauspiel für [gestr.: Studenten und] Juden« oder »Halle und Jerusalem. Ein Schauspiel zur scherzhaften Unterhaltung [für?] Juden«, oder: »Cardenios Reise von Halle nach Jerusalem«. Unter den deutschen Handschriften der Jagiellonischen Bibliothek Krakau fanden sich außerdem mehr als zwei Seiten Titelformulierungen zur Thematik Reisen und Lieder (unter Arnims Überschrift »Titel«). Sie sind früh zu datieren, weil auch der Titel des um 1805 geplanten gemeinsamen Liederbuchs »Lieder der Liederbrüder« notiert ist, früh ebenfalls wegen der deutlich kunstthematischen Orientierung der Titel. Sie beziehen sich wahrscheinlich auf zwei oder mehr Projekte und lauten u. a.: »Der ewige Jude eine Reisebeschreibung«, »Pilgerleben und Reisebeschreibung«, »Die Kreuzzüge und Wallfahren unserer Zeit beschrieben von einem Kunstpilger«, »Lieder und Wallfahrten des Kunstpilgers«, »Wanderungen, Wallfahren und Kreuzzüge einiger Kunstgesellen«, »Die Gesellen auf der Wanderung durch das Land der Philister«, »Musensöhne aus der Mark«. Danach scheint das Pilger- und sogar das kunstallegorisch verstandene Kreuzzugsthema früher vorzuliegen als seine Beziehung auf das Trauerspiel des Gryphius. Auch in Novalis' »Heinrich von Ofterdingen« ist das Kreuzzugslied auf die personifizierte Poesie aus dem Orient bezogen. Orientalische Poesiefiguren finden sich bei Arnim in der Isabella der Erzählung von 1812 und der Amra des »Gleichen«-Dramas. Der Befund ist typisch für die apokryphe und verzweigte Archäologie der Themen, Motive, Stoffe bei Arnim, typisch auch für ihre Verankerung in der Frühzeit, den Jahren zwischen 1801 und 1805. In »Halle und Jerusalem« sind Poesie15 und Religion eng verwoben, das Religionsinteresse dominiert. Die Aufnahme war bei den Grimms und später bei Eichendorff und vielen anderen äußerst positiv.16 Das »ehemalige Studentenleben, die Judenwirthschaft und die lüderliche Geistreichigkeit jener Zeit, die das Hohe und Gemeine durch Genialität vermitteln wollte«, sei »in festen, sichern Zügen umschrieben«, schrieb Eichendorff und reihte aus »Jerusalem« viele auf die Religion bezügliche Zitate. Die Beobachtung, daß bei Arnim eine jähre-, ja jahrzehntelange Inkubationszeit die eigentümliche Kontinuität der Ideen, Konzepte, Stoffe und Motive im Verborgenen begründet, bestätigt sich auch hier. Irgendwann wurden die beiden unabhängig existieren-
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nim an die Brüder Grimm, Steig III, 95) und dem religiös-transzendenten Ernst »Jerusalems«. Vgl. das Ästhetizismus-Motiv, das in Viren und in der Gestalt des »modernen Reisenden« angedeutet ist (S. 273ff.), in letzerem vielleicht mit Referenz auf Chateaubriand. Vgl. Steig III, 99ff. Das folgende Zitat aus Eichendorffs Literaturgeschichte, HKA IX, S. 337 u. 338f.
Arnims »Halle und Jerusalem*
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den Traditionen: der Vorsatz zum Gryphius und das Wallfahrts- und Reisethema miteinander verknüpft. Das Gryphiusinteresse wurde zweifellos durch die Königsberger Erfahrungen intensiviert, da die Dramenhandlung sie zu spiegeln schien. In der Königsberger Zeit wird außerdem der politischreligiöse Motivkomplex der Ordensgemeinschaft für Arnim wichtig. Der Plan, das gesamte Gryphiussche Dramenwerk und speziell »Cardenio und Celinde«17 in modernisierter Textfassung herauszugeben, ist für Arnim schon 1804 dokumentiert, bei einem Besuch mit Clemens Brentano bei Tieck in Ziebingen Ende November 1804 war davon die Rede.18 Am 27. 2. 1805 bekräftigte er die Absicht, das Cardenio-Drama neu herauszugeben [...], geändert soll so wenig wie möglig werden, nur weggelassen dieser oder jener Sonnenilecken, der den reinen Ton dieses wunderbaren Himmels durchschattet. Der Anfang, die herrligen Liebesscenen sollen während der Erzählung im Hintergrunde als Ballett vorgestellt werden. 19
Damit spielt Arnim auf die dramatische Crux der barocken Tragödie an: die epische, rückblickend referierende Vorstellung der dramatischen Vor- und Hauptgeschichte, die die ganze >Erste Abhandlung< ausfüllt. Arnims Idee, die epische Vermitdung beizubehalten, ihren Inhalt aber zugleich durch Ballettszenen zu spiegeln, beweist seinen Sinn für das Theater und für die Konzepte romantischer Gattungsmischung. Sophie Mereau kam Arnim zuvor mit einer Teilbearbeitung in ihrem Sammelband »Bunte Reihe« (Ostern 1805), sie wies aber in der Vorrede auf die geplante Edition Arnims hin, ihn zu zwingen, wie Brentano formulierte, »deine Privat Aussage einst öffentlich zu halten«.20 Im März 1808 kündigte Arnim den ersten Band einer Reihe »Alte deutsche Bühne« an, der eine Auswahl aus den Dramen des Gryphius enthalte.21 Noch am 22. Oktober 1808 bedauerte er, daß »auch vom Gryphius [von Zimmer] noch nichts gedruckt« sei,22 entlastet aber im Brief vom 22. 4. 1809 den Verleger, er solle sich durch die Zusage nicht binden lassen, man solle den Krieg abwarten, »doch in dem Verhältnisse, daß wenn ich inzwischen einen Verleger finde, der Lust zu dem Unternehmen hat, mich die frühere Verabredung nicht bindet«.23 Will sich Arnim damit auch von dem Projekt befreien, weil er inzwischen die eigene Bearbeitung mit »Halle« plant? Weitere Formulierungen im Brief schließen das nicht aus.24 1817 nahm dann Tieck dieses Gryphius17
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Gryphius' Vorlage war die spanische Novelle »Die Macht der Enttäuschung« (La fuerza del desengaño) von Perez de Montai van (1624). Nach R. Steig in: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Hrsg. von Reinhold Steig. Stuttgart 1894, S. 123. Schultz: Freundschaftsbriefe, Bd. I, S. 267f. Ebd., Bd. I, S. 278. In Creuzers Heidelbergischen Jahrbüchern, 1. Jg., vgl. Otto Mallon: ArnimBibliographie. Berlin 1925, Nr. 40 (S. 34). Vgl. Arnims Brief an Brentano vom 10. 4. 1808 (Schultz: Freundschaftsbriefe II, 532). An Brentano. In: Schultz: Freundschaftsbriefe, Bd. II, S. 548. Ebd., Bd. II, S. 548. Es »soll eigentlich kein Buch gedruckt werden, das sich nicht verkauft, um etwas vor dem Untergange zu bewahren sind Abschriften hinlänglich und das ist bey unsren ältern Büchern noch gar nicht nöthig«. Damit revidierte Arnim das Gesamtprojekt einer Neuedition alter deutscher Poesie. 1812 kündigte er denn auch »Alte deutsche Lust-
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Drama in sein »Deutsches Theater« auf.25 Die als Manuskript erhaltene Überarbeitung der Eingangsszene des »Cardenio und Celinde« durch Arnim ist wohl auf den Heidelberger Sommer 1808 zu datieren. Arnim erweiterte die 358 Verse auf 451. 26 Zwei Änderungen sind bei der Adaption für »Halle und Jerusalem« neben der Historisierung und der lokalen Konkretisierung bezeichnend: Den Liebhaber der Celinde, den Ritter Marcello, der »jung den Ritter-Stand erwehlet / Der ihm die Eh verbeut« (V. 418f.) 27 und den Cardenio in Verteidigung Celindes ermordet, verwandelte Arnim in den Freigeist und obskuren Prediger Lyrer. Er führt damit das religionskritische Thema in das Drama ein. Und das bei Gryphius allgemein verwendete Grabesmotiv transponierte er in einen Motivzusammenhang von kollektiver Bedeutung, ein durch heiligste Tradition beglaubigtes Motiv, das Heilige Grab in Jerusalem. Gestaltete Gryphius aus ontologisch gültiger christlicher Weltsicht heraus, so mußte Arnim das Christliche ausdrücklich thematisieren, und zwar differenziert und vielstimmig in Kritik und Propagierung. Nicht der Erbauungs- und Erkenntnis-Appell innerhalb eines gültigen christlichen Rahmens, sondern die legitimatorische Thematisierung des Christlichen als zeitgenössisches Phänomen prägt das Drama. Wenngleich christliche Religiosität zu Arnims Zeit im Vergleich mit heute, schichtenspezifisch unterschiedlich, viel weitgehender eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit darstellte, Vorgänge wie die »Reden an die Gebildeten unter den Verächtern« und Apologien bzw. Zukunftsentwürfe wie jene Chateaubriands und Novalis' Europa-Schrift28 sowie die vielfältigen Erneuerungsversuche zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Christlichen mit Mitteln des Ästhetischen und der Mystik (z. B. aus dem Geist des Kirchenlieds und des
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spiele«, d. h. abgelegene, unbekannte Texte an, die »künftig den ersten Band meiner Alten deutschen Bühne bilden sollen.« (Steig III, 179) In der »Schaubühne« 1813 und im »Wintergarten« 1809 dagegen ist die jetzt vorrangig geforderte Aktualität, der Bezug auf Gegenwart und Zeitgeschichte, gewährleistet. Briefzitat in: Hermann F. Weiss in JbFDH 1987, S. 269, auch Jürgen Knaacks Briefverzeichnis, vgl. Anm. 209, Nr. 361 (Hs. FDH 13426). Vgl. auch Otto Reichel: Der Verlag von Mohr und Zimmer in Heidelberg und die Heidelberger Romantik. Augsburg 1913, S. 34. Deutsches Theater. Herausgegeben von Ludewig Tieck. 2. Bd. Berlin 1817, S. 81-144. Zeile 1-358 bei Gryphius, die letzte berücksichtigte Zeile lautet: »Ohn alle Schew entweyht: Und Funken auffgeblasen«. Der bei Zimmer geplanten Ausgabe lag (wenn er sich am 22. 10. 08 beklagte oder wunderte, daß vom Gryphius noch nichts gedruckt sei) vielleicht kein Manuskript Arnims zugrunde, möglicherweise war eine (evt. vom Setzer) orthographisch modernisierte Ausgabe beabsichtigt, die Arnim dann durchgesehen hätte; vgl. den Hinweis auf die Ungewißheit der Dauer seiner Anwesenheit in Heidelberg im Brief vom 22. 10. 1808 an Brentano (Schultz: Freundesbriefe, Bd. 2, S. 548). Dagegen entwickelte sich die nach 358 Versen abgebrochene Überarbeitung des »Cardenio« auf eine Neufassung zu, die dann in eine Neuinterpretation des Stoffs (»Halle und Jerusalem«) mündete. Die Stelle mag einen der Anstöße zur Ordensritter-Motivik gegeben haben. Ausfuhrlich zu den zeitgenössischen Europa-Ideen im Schatten Napoleons die beiden Aufsätze von Paul Michael Lützeler: >Europa-Ideen von Novalis bis Heine< und Napoleon-Legenden von Hölderlin bis Chateaubriand^ Abdruck in: P. M. L.: Geschichte in der Literatur. München 1987, S. 228-263 u. 264-299.
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Barock, wie es stellenweise bei Arnim anklingt)29 beweisen auch die Schwäche des Verteidigten. Das Eintreten für die Religion entsprach den Erneuerungsbestrebungen der Romantiker, das Volkslied, die Märchen und Sagen, Rechtsgeschichte, Sprache und Mythologie zu >retten< und die Traditionen wieder literarisch zugänglich und gesellschaftlich wahrnehmbar zu machen. Die Verteidigung der kulturellen Tradition gegen die Aufhebungstendenzen durch Aufklärung und französische Revolution ist im Fall der Religion natürlich mehr als nur historistische und ästhetische Rettung: Nicht allein die literarische und wissenschaftliche Vermittlung ist das Ziel, sondern der Anspruch, das Christliche, sei es durch Neuinterpretation, erneut als glaubhafte Sprache im Kontext der humanitätsbegründenden Sinnfragen und Transzendenzbezüge zu etablieren. Nur das kollektiv Gegebene, die tradierte Vorstellung, erreicht den Menschen verbindlich und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Der Fiktion, dem subjektiv Erfundenen gelingt das nach Arnim nur in der Verknüpfung mit tradierten Motiven und historischen Begebenheiten und Stoffen. Die Erneuerung der Religion wie die Fortschreibimg der Poesie beruht nach Arnims Poetik auf der Verknüpfung von Überliefertem, Faktischem, Historischem mit der stets fortschreitenden Kraft der Phantasie und dem Spiel der Fiktion. Wieweit dabei auch Ideologisches mitwirkt, ob ζ. B. die generationstypische Verbindimg von deutsch und christlich (Hölderlin, Kleist, Arnim u. a.) vorwiegend interessengeleitet und instrumentalisiert auftritt oder ob sie einen wesentlichen Deutungsrahmen bereitstellt, wäre zu untersuchen. Schon auf seiner Europareise 1803 lernte Arnim Chateaubriands apologetisches Werk30 kennen, das seiner Schrift über die Revolution (1797) folgte und das im Kontext der religiösen Europaidee bei Bonald, in Novalis' »Die Christenheit oder Europa« (1799) und von Tendenzen beim jungen Fr. Schlegel, bei Adam Müller (Mitbegründer der »Christlich-deutschen Tischgesellschaft«) und Franz von Baader zu sehen ist. Chateaubriand hatte es 1798 noch während der religionsfeindlichen Phase in Frankreich begonnen. Es erschien wenige Tage vor der Verkündung des Konkordats zwischen Napoleon und der katholischen Kirche, seine zweite Auflage 1803 wurde mit einer Widmung an Napoleon versehen. Arnim, der es wohl noch in Genf bei Mme. de Staël und Frau von Krüdener kennengelernt hatte, schrieb aus Lyon an Brentano: durchblättre das Génie du Christianisme und lies die Atala von Chateaubriand, es ist das Gegenstück zur Delphine und die Erweckungsstimme der Religionspartei in Frankreich gewesen, die, ungeachtet sie es sehr ehrlich meint, viel atheistischer scheint als alle seine Gegnerstimmen. In der Atala ist er ganz, und ich glaube nicht, daß er künftig etwas anders schreiben kann, was nicht mehr oder minder Wiederholung von jenem ist. 2
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»Von Volksliedern«, Wunderhorn I (1819), S. 436; im Drama S. 91. - Vgl. Wunderhorn I (1819), S. 442 über den wahren, menschlichen Ton der Kunst, und im Drama S. 93 das Lob der Sprache des Gryphius: »da ist kein neuer Wortprunk, nein, da ist die Wahrheit«. - Vgl. auch Arnims Verteidigung des alten Porst'schen Berliner Gesangbuchs von ca. 1707/10 (6, 1026f., auch 1048). Auch der Brief Niebuhrs an I. S. Vater (Niebuhrs Briefe, vgl. unten Anm. 75, Bd. Π, S. 297) greift, wie schon Vaters Schrift »Über Mystizismus und Protestantismus«, das Kirchenliedthema auf. Siehe oben S. 144. Vicomte François-René Chateaubriand: Le Génie du Christianisme ou beautés de la religion Chrétienne. London 1802; 2. Aufl. Paris 1803.
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Er hat seine ganze Trauer ausgeschüttet und die Summe aller Trauer ist der Tod, wie die Summe aller Freuden, das Leben: So ist Dein Talent nicht, es ist lebend, und die Trauer ist nur der dunkle Grund, aus dem die hellen Farben noch heller hervorblikken.31
Bezüge zu Arnims eigener Poetik und zum Weihnachtsbrief 1803, zu seiner »Schwermut« und zum Grabesmotiv im Drama sind zu erkennen.32 Die Elegie aus diesem Brief nimmt Arnim als Verse des kritisch skizzierten ästhetischphilosophischen Reisenden in »Jerusalem« auf.33 Die Gryphius-Adaption führte über die Cardenio-Tragödie hinaus zum Doppeldrama, vom Hallenser Studentenspiel zum Zwei-Städte-Schauspiel. Der tendenziell allegorische Charakter der antithetischen Fügung setzte einen bedeutenden Rahmen, die Lokalitäten verbildlichen die geistigen und inneren Verhältnisse. Arnim befestigt an sichtbaren Orten, an den Stadtsymbolen und den allegorisch abstrakten, topisch legitimierten Stätten wie Wüste, Brunnen in der Wüste, Meer und Meerfahrt, Pilgerschaft durch die Wüste zur Stadt des Heils, was bei Gryphius in theologischen, christlichen Begriffen und Kategorien exponiert war. Den Gebildeten unter den Religions Verächtern und den neuen Anhängern des Christenglaubens in der romantischen Ära Europas seit 1798 und Berlins um 1810 lieferte diese poetische Konstitution genügend poetische Unbestimmtheit für die Rezeption und zugleich den Reiz einer neuen Interpretation und Wahrnehmung religiöser Phänomene. So waren poetische Wirkungen erreichbar, die dem Zeitbedürfnis nach >neuer Mythologie« entgegenkamen. Satire, Burleske und Groteske dagegen treffen die Religions-, Bildungs- und Lebensphilister. Von größter Bedeutung ist die Einführung der Ahasver-Gestalt im Doppeldrama. Zeitlich vor der Titelformulierung »Der ewige Jude eine Reisebeschreibung«, die dem Drama nicht direkt zuzuordnen ist, liegt ein Eintrag im englischen Taschenbuch von 1803, in dem bereits sowohl der ewige Jude wie
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Brief vom 12. 1. / 26. 1. 1803 (Schultz: Freundschaftsbriefe, I, 91 - Buchstaben ergänzt nach Beutler JbFDH 1934/35). - Im gleichen Brief nennt Arnim die »Atala« von Chateaubriand und »Delphine« von Madame de Staël »die beyden bedeutendsten Werke, die in neuerer Zeit hier erschienen«, aber es gebe in Frankreich »nur eine Poesie und das ist die Zerstörung« (S. 89). Vgl. auch Paul Laforgues Aufsatz: Die Anfänge der Romantik. Kritische Studie über das Zeitalter der großen Revolution (1896/97). In: P. L.: Vom Ursprung der Ideen. Dresden (1970), S. 135-171, bes. S. 142f. - Über Madame de Staël und über ihren Roman »Corinna« schrieb Adam Müller im »Phöbus« Jan. u. Febr. 1808: »Der Gedanke des vorliegenden Romans ist höchst natürlich und einfach: >über dem Grabe der Welu webt die Dichterin aus aller Fülle ihrer Phantasie eine Liebe.« Arnim rezensierte die »Delphine« (hs. Überlieferung, Werke 6, 125-127), mit aufschlußreichen Bemerkungen über das Verhältnis von Poesie und Religion, er las die »Corinne«, das Buch einer idealen Liebe, mit viel Lob 1807 zusammen mit Reichardt in Königsberg (Steig II, 69). De Staël lud Arnim Ende Juni 1808 ein, in Coppet zu leben (Steig II, 169), bat ihn dann für den Winter nach Coppet, »wo sie ihr Werk über Deutschland beendigen wollte, wo ich ihr rathen und beitragen sollte« (Steig II, 227). Zum dunklen Grund der Trauer bei Arnim vgl. 5, 108-110 u. 1097ff. und Ulfert Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der »Kronenwächter«. Tübingen 1990, S. 5-10. Vgl. S. 281 mit Werke 5, 109-111 und Kommentar.
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auch Sidney Smith und St. Acre zusammengefügt sind, und zwar im Kontext des umfassenden »Ariel«-Projekts.34 Der Zug des Juden Rabuni nach Jerusalem um das jüdische Reich herzustellen. 33 verbindet sich mit dem Ritter u. St. Georg zu der großen Unternehmung landet bey Jean d' Acre, wo ihm Sidney Smith's Thaten erzählt werden, nachher fällt er unter Afganen, die seines Lebens schonen, weil sie finden daß er ein Jude, er beschliest ewige Jude zu werden. 3 6
Er St. die der
Dies ist - erstaunlich genug - eine frühe konzeptionelle Schlüsselstelle, ohne daß der »Cardenio und Celinde«-Stoff schon in irgendeiner Beziehung damit gestanden hätte. Eine Konstellation ist vorgezeichnet, die verwandelt in der Szenenfolge »Jerusalem« realisiert wurde: Das Motiv des Ritters, der Held Sidney Smith, und die Stadt Akre, wo Sidney 1799 Napoleon zum Aufgeben zwang. Und vor allem Ahasver, der ewige Jude, der zur bedeutendsten Rahmenfigur, vergleichbar mit der »Melancholia« der »Päpstin Johanna«, zu einem entscheidenden strukturellen Element des Doppeldramas wurde. Vor allem ergibt sich über den Namen Rabuni ein Deutungshinweis für die Ahasvergestalt und ihre ernste, würdige Auffassung im Doppeldrama. Die Gestalt des Juden Rabuni, der in der Taschenbuchnotiz mit dem ewigen Juden identifiziert ist, wurde nicht ad hoc erfunden. Rabuni erklärt sich durch Joh. 20,16 = Meister.37 Der Jude Rabuni vertritt in »Heymars Dichterschule« im »Ariel« (1804) die jüdische Literatur wie Iliades die griechische, neben den Dichternamen Treubold, Pauline und Adolf und dem Shakespeareanklang in »Ariel« (»The Tempest«). Christlicher und jüdischer Akzent sind verbunden, wenn in einem unterdrückten Text zur Rahmengeschichte des »Wintergarten« eine schwarze Gestalt, »unser großer Dichter Rubin«, mit einer weißen Gestalt verknüpft ist, die unter wechselnden Namen jetzt »Johannes« heißt (3, 1090). Rabuni steht für die jüdische Kultur. Als intellektueller Protagonist (ab 3, 568 mit seinem, wie es heißt, »edleren Vornamen« Raphael genannt) taucht er in der wohl erst im Sommer 1811 entstandenen Erzählung »Die Versöhnung in der Sommerfrische« auf. Er begegnet dort dem »Bruder«, dem Einsiedler und bisherigen Ich-Erzähler, der sich als Arnim-Figur, als »Herausgeber« der »Zeitung für Einsiedler« entpuppt (3, 568). Rabuni vertritt ein Konzept, wie die jüdische Bevölkerung der europäischen Nationen
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Siehe dazu Ricklefs 1990, vgl. Anm. 32, S. 59ff. Vgl. Rabuni in der Erzählung »Die Versöhnung« (1811/12) über die Perspektive, daß die Juden »sich selbst in einem andern Weltteile ein Reich begründen« (3, 558). Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Hs-B 69, S. 64f. in der Transkription von Jürgen Knaack (S. 19). Der Ritter und St. Georg begegnen häufiger im Taschenbuch und auf einzelnen Handschriftenblättern. Einen kunstthematischen Text »St. Georg und sein Knappe« hat R. Moering in der Werkausgabe 3, 9f. publiziert. Das Motiv des Zugs Rabunis, »das jüdische Reich herzustellen«, weist auf »Die Versöhnung in der Sommerfrische« voraus (3, 558). Armenien, und andere Orte des Orients, sind nach dem frühsten englischen Bericht (1228/1235) der Aufenthalt des Cartaphilus, Türhüter bei Pilatus, der erst im deutschen Bericht 1602 Ahasvérus heißt. Bei Arnim ist Georgien das Herkunftsland (259), er wird hier von Kosacken, im Taschenbuchtext von Afghanen überfallen. Vgl. Ricklefs 1990, vgl. Anm. 32, S. 227.
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Ulfen Ricklefs endlich zum Christentume und zu einer bestimmten Nationalität übergehen oder sich selbst in einem andern Weltteile ein Reich begründen [werde;] so schwöre ich, daß die Abkömmlinge meines Volkes, bei dem orientalischen Feuer, das jetzt unter der Asche glimmt, zu einem Glänze durch Tüchtigkeit emporsteigen werden, den sie bisher nur durch tausend vergoldete Lächerlichkeiten nachzuahmen suchten. (3, 558f.)
Die Doppelnamen Rubin und Johannes, Rabuni und Raphael deuten auf jüdisch-christliche Konversion. Auch Ahasver ist Christ geworden, und Cardenio wächst unter Christen auf. Rabuni heißt Meister, und darin mag man, neben der Herkunft vom semantisch analogen >RabbiBeweisPhilister< sind die Erzfeinde der Israeliten, zugleich auch der Inbegriff der philiströsen Gegenwelt zur idealen Welt der Studenten). Das Motiv des Welthebels verbindet einen ganzen Sinnkomplex (auch Napoleon, der den Welthebel anzusetzen sucht, ist wahrscheinlich gemeint). Für den »ein festes dauerndes Leben« angesichts jeder »Unsicherheit in dieser Unsicherheit« suchenden Autor, angesichts eines Lebens, wo das Feste und Ewige nur den »Unbestand« (5, 106f. u. 1217) und einen »Wechsel der andern um und neben Dir« festhält, d. h. in den Reisetagen zwischen Lyon und Paris ist das heilige Grab, ist Rom eines der überlieferten Bilder für den Archimedes-Punkt, von dem aus die Welt auszuhebeln ist. Das führt auch zu der
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höhle in Jerusalem, wo Cardenio seine Mutter wiederfinden wird (191, 291f.), ist im Frühwerk vorgebildet, in der Grab- und Mutterhöhle der Druiden, einem Zentralmotiv in »Ariel's Offenbarungen«. Analog zur Muttersymbolik in den »Majorats-Herren« (4, 142) erscheint in »Jerusalem« die Mutter Cardemos und führt die Lichtgestalt seiner Seele mit sich durch das geöffnete heilige Grab (292). Die Druidenhöhle in »Ariel«, aus der der Ruf der Mutter ertönt, welche die Söhne, zuletzt Freya und Herrmann, zu sich in den Tod ruft, ist eine mythologische Kontrafaktur des Grabes Christi, so in der Prophetie: »Und sieh', so wahr ich hier noch bey dir sitze, / So sitz' ich Abends noch am Muttertische, / Und Freya neben mir. Denn das ist Wahrheit« (Ariel, S. 124). Sie spielt an auf das Wort Jesu am Kreuz Lukas 23, 43 (zitiert am Anfang von »Jerusalem«, 199). Die Druidenhöhle wird geschlossen wie Christi Grab, indem große Felsstücke vor die Öffnung gewälzt werden (Ariel, S. 129). Bromleys Ausruf: »dir nach, du vielgeliebte Mutter, hinab in den Felsenschoß« (292) wird lesbar als Variante von Szenen aus »Ariel's Offenbarungen« (Ariel, S. 72f. u. 123f.). Das Gesamtwerk Arnims ist von textuellen und subtextuellen Motiv- und Ideenverästelungen geprägt. Arnim verband diese thematischen und motivischen Perspektiven mit einer weiteren Konstellation, der genealogischen oder familiengeschichtlichen. Ahasver ist der Vater, die von ihm in Palästinas Wüste vergewaltigte christliche Pilgerin Anthea die Mutter des Cardenio - deshalb auch ist sein Wesen >weiß und schwarzbürgerlichen