Das »Wunderhorn« und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz: Heidelberger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft 9783110915495, 9783484108660

The fifth colloquium of the International Arnim Society in Heidelberg (2004) revolved around the imminent 200th annivers

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German Pages 305 [308] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort
DIE QUELLEN: SIMULIERTE MÜNDLICHKEIT AUF BLÄTTERN VON LUMPEN
»Des Knaben Wunderhorn« – eine romantische Liedersammlung: Produktion – Distribution – Rezeption
Zur Entstehung der romantischen Liedersammlung aus der Verseinlage im Roman der Jahrhundertwende 1800: »Des Knaben Wunderhorn« als Beispiel
›Fliegende Blätter‹: Eine »Wunderhorn«-Quellengruppe zwischen Literalität und simulierter Oralität
»Des Knaben Wunderhorn« im Kontext der Anthologien des 19. Jahrhunderts
LITERARISCHES STUDENTEN-LEBEN – RHETORISCHE PERFORMANZ
Eichendorff und der »Eleusische Bund« in Heidelberg
Achim von Arnim und die »Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur«
Nach dem Krieg: Für Versöhnung im Alten Europa – Achim von Arnims Erzählung »Seltsames Begegnen und Wiedersehen«
UNIVERSALPOESIE ALS VIELSTIMMIGKEIT – INTERTEXTUALITÄT DES GESAMTKUNSTWERKS
Ludwig Tiecks »Kaiser Octavianus« als romantisches Gesamtkunstwerk
»Des Knaben Wunderhorn« und Arnims »Die Päpstin Johanna«
Auftritte: Inszenierte Dramatik in Prosa (»Melück Maria Blainville«, »Don Juan«, »Massimilia Doni«)
»Wie soll ich mich gebährden, was soll ich sprechen?« Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama am Beispiel der »Schaubühne«
PERFORMANZ UND/ODER SELBSTREFERENTIALITÄT
Das »Wunderhorn« im Licht von Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis
»grellste Verkettungen von Altem und Neuem«: Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift bei Achim von Arnim
Poesie für das Ohr – Tönende versus gelesene Dichtung: Zur Geschichte eines Strukturproblems von Klopstock bis Wagner
»keineswegs unmittelbar und augenblicklich aus dem Boden entsprungen«: Goethes »Wunderhorn«-Rezeption und sein Konzept des Naturpoeten und der Improvisation
Die legitimatorische Inszenierung von ›Volkspoesie‹ in Achim von Arnims »Scherzendem Gemisch von der Nachahmung des Heiligen«
Cultural Transfer as Performance: Achim von Arnim and Mme de Staël
Literaturverzeichnis
Register
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
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Das »Wunderhorn« und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz: Heidelberger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft
 9783110915495, 9783484108660

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Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft Band 5

Das »Wunderhorn« und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz Heidelberger Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft

Herausgegeben von Walter Pape

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Umschlagabbildung: Titelblatt des zweiten Bandes von Des Knaben Wunderhorn (1808); im Vordergrund das »Oldenburger Horn«, im Hintergrund Heidelberg. Siehe dazu im vorliegenden Band S. 171-176.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10866-5

ISSN 1439-7889

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Walter Pape, Köln Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Verlags- und Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

Vorwort

IX

D I E QUELLEN: SIMULIERTE MÜNDLICHKEIT AUF BLÄTTERN VON LUMPEN

Heinz Rölleke »Des Knaben Wunderhorn« - eine romantische Liedersammlung: Produktion - Distribution - Rezeption

3

Konrad Feilchenfeldt Zur Entstehung der romantischen Liedersammlung aus der Verseinlage im Roman der Jahrhundertwende 1800: »Des Knaben Wunderhorn« als Beispiel

21

Dieter Martin >Fliegende Blättere Eine »Wunderhorn«-Quellengruppe zwischen Literalität und simulierter Oralität

35

Günter Häntzschel »Des Knaben Wunderhorn« im Kontext der Anthologien des 19. Jahrhunderts

49

LITERARISCHES S T U D E N T E N - L E B E N - RHETORISCHE PERFORMANZ

Achim Hölter Eichendorff und der »Eleusische Bund« in Heidelberg

61

Jürgen Knaack Achim von Arnim und die »Heidelbergischen Jahrbücher der Literatur« . . 79

VI

Inhalt

Klaus Peter Nach dem Krieg: Für Versöhnung im Alten Europa Achim von Arnims Erzählung »Seltsames Begegnen und Wiedersehen« . 89

UNIVERSALPOESIE ALS VIELSTIMMIGKEIT - INTERTEXTUALITÄT DES GESAMTKUNSTWERKS

Stefan Nienhaus Ludwig Tiecks »Kaiser Octavianus« als romantisches Gesamtkunstwerk

101

Johannes Barth »Des Knaben Wunderhorn« und Arnims »Die Päpstin Johanna«

111

Uwe Japp Auftritte: Inszenierte Dramatik in Prosa (»Melück Maria Blainville«, »Don Juan«, »Massimilia Doni«)

123

Yvonne Pietsch »Wie soll ich mich gebährden, was soll ich sprechen?« Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama am Beispiel der »Schaubühne«

135

PERFORMANZ UND/ODER SELBSTREFERENTIALITÄT

Ulfert Ricklefs Das »Wunderhorn« im Licht von Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

147

Detlef Kremer »grellste Verkettungen von Altem und Neuem«: Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift bei Achim von Arnim

195

Dieter Borchmeyer Poesie für das Ohr - Tönende versus gelesene Dichtung: Zur Geschichte eines Strukturproblems von Klopstock bis Wagner

207

Walter Pape »keineswegs unmittelbar und augenblicklich aus dem Boden entsprungen«: Goethes »Wunderhorn«-Rezeption und sein Konzept des Naturpoeten und der Improvisation

225

Inhalt

VII

Claudia Nitschke Die legitimatorische Inszenierung von >Volkspoesie< in Achim von Arnims »Scherzendem Gemisch von der Nachahmung des Heiligen«

239

Ann T. Gardiner Cultural Transfer as Performance: Achim von Arnim and Mme de Stael

255

Literaturverzeichnis

273

Register

289

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

293

Vorwort

Für Gadamer galt: »Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung«.' Nicht erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind die Klagen über den Verlust der Unmittelbarkeit zu hören und die Versuche, Unmittelbarkeit zu simulieren, zu lesen.2 Gegen Ende des romantischen Zeitalters kontrastiert Goethe die Einbindung des schottischen Volksdichters Robert Burns in eine angeblich lebendige mündliche Kultur mit den in dieser Hinsicht >ärmlichen< Deutschen und zieht ein negatives Fazit der Schriftkultur; nichts lebte von den »alten Liedern im eigentlichen Volke«, Herder und seine Nachfolger hätten sie wenigstens gedruckt in die Bibliotheken gerettet, wo sie zusammen mit den Liedern von Bürger und Voß stünden. Und über die Kluft zwischen der Literatur und dem Volke klagend ruft er aus: »Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer mir Stellen des >Tasso< sangen!«3 Solcher »Phonozentrismus« muß aber in einem größeren Kontext gesehen werden: Gerade für die Romantik, speziell für die Heidelberger Romantik, die Volkspoesie und die intermediale und gattungsmischende >progressive< Universalpoesie< stehen schon immer Fragen der performativen Konstitution von Texten und deren kommunikativem Sinn im Zentrum des Interesses, Fragen der Aufführung, der Theatralisierung, des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, des Zitierens und der Intertextualität. Im 5. Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft hat sich Des Knaben Wunderhorn - neben anderen Werken im Kontext der Heidelberger Romantik - als besonders geeignet erwiesen, diese aktuelle Fragestellung zu erproben oder auf die Probe zu stellen. Daß Arnim selbst Texte nie bloß als Texte gedacht hat, macht er in seinem Vorwort »Von Volksliedern« zu Des Knaben Wunderhorn deutlich. Und Goethe hebt in seiner Wunderhorn-Rezension den performativen Aspekt hervor: »Von Rechts wegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu lie-

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Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. durch einen Nachtrag erweitert. Tübingen: Mohr 1965, S. 386. Siehe jetzt Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). Paderborn, München: Fink 2005. In einem Gespräch mit Eckermann vom 3. Mai 1827 - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 39, S. 611.

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Vorwort

gen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.« Heinz Rölleke eröffnete das Kolloquium und zog in seinem Beitrag die Summe seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Wunderhorn. Wenn er in seinem Beitrag betont: »Ohne Heidelberg kein Wunderhorn und ohne Heidelberg keine Wunderhorn-Philologie«, so gilt ebenso: >ohne Rölleke kein Wunderhorn-KolloquiumFliegenden Blättern< oder Liedflugschriften, widmet Dieter Martin seinen Beitrag. Das Wunderhorn rückt dadurch in den Kontext anderer historisch orientierter Anthologien, in denen »altdeutsche Texte< der Napoleonischen Kriegszeit angepaßt wurden; Arnim und Brentano jedoch legten auf eine simulierte Mündlichkeit weit größeren Wert als andere Zeitgenossen. Eine Kontextualisierung der Wunderhorns unternimmt auch der Beitrag von Günter Häntzschel; aufgrund einer Fülle von Material zeichnet er nach, wie das Konzept von Arnim und Brentano im Verlauf des 19. Jahrhunderts einerseits nationalistisch oder gar militaristisch verengt oder aber auf einem »weiblichem Buchmarkt trivialisiert wurde. Inwiefern der typische Gestus romantischer Performativität sich auch in der Formierung literarischer Gruppen zeigt, wird deutlich im Essay von Achim Hölter, der den unterschiedlichen Kommunikationsmechanismen nachgeht und die Krise der gerade wiederbelebten Oralität am Beispiel von Eichendorff und dem »Eleusischen Bund« in Heidelberg darlegt und zu dem Ergebnis kommt, daß »das Sichtreffen, Sprechen, Gedichte tauschen, Singen [...] mehr einem regressiven Kommunikationsideal« entsprach. Wie sich der Begriff der >Heidelberger Romantik< gleichsam performativ als kulturelles Ereignis durch das kommunikative Wechselspiel von »Rezensionen in den Heidelbergischen Jahrbüchern und der Resonanz auf diese Besprechungen in anderen Blättern« bildete, legt Jürgen Knaack einläßlich dar. Mit welchen literarischen Mitteln ein politisch zu verstehendes Werk wie Arnims Seltsames Begegnen und Wiedersehen Unmittelbarkeit simuliert und in der Rezeption gleichsam zur politischen Performanz stimuliert, arbeitet Klaus Peter heraus.

Vorwort

XI

Ein anderer Themenkreis des Kolloquiums war die Vielstimmigkeit und Intertextualität des romantischen Gesamtkunstwerks. Ludwig Tieck, als Rezitator die romantische Verkörperung der Performanz, versuchte, wie Stefan Nienhaus ausführt, in seinem Kaiser Octavianus ein universalpoetisches Panorama als Vielstimmigkeit der Welt vorzufuhren, wo dramatisches, lyrisches und prosaisches Sprechen miteinander verwoben werden und einander durchdringen. Johannes Barth, der gerade die historisch-kritische Ausgabe der Päpstin Johanna abgeschlossen hat, verfolgt auch in seinem Essay minuziös das Netz von WunderhornReferenzen aller Art: Das zu Lebzeiten des Autors unveröffentlichte Werk ist durchzogen von Anspielungen, Zitaten und Parodien, einzelne Lieder fungieren als lyrische Einlagen und Wunderhorn-Texte werden sogar in Episoden der Handlung verwandelt. Daß Arnim stets zur romantischen Gattungsvermischung neigt, zeigt nicht nur das bekannteste Beispiel, die Päpstin-Johanna-Episode in der Gräfin Dolores. Uwe Japp analysiert in seinem Beitrag über »Inszenierte Dramatik in Prosa« nicht den viel erörterten Mündlichkeitseffekt im Raum der Schrift, der durch die häufige Einlagerung von Gedichten in die Prosa erreicht wird, sondern er erarbeitet - und dies komparatistisch im Vergleich mit Ε. T. A. Hoffmanns Don Juan und Balzacs Massimilia Doni - Hinweise auf eine Typologie performativer Sprache, wie sie sich in der »performativen Metalepse der Gattungsmischung« zeigt. - Yvonne Pietsch betritt mit ihrer Untersuchung zu den sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama Neuland. Denn Arnim weicht in den SchaubühnenDramen von der modernen dramatischen Redestruktur ab, knüpft an Gestaltungsprinzipien des frühen 17. Jahrhundert an und übernimmt die damaligen Episierungstendenzen - was ihn wiederum modern erscheinen läßt. Grundsätzlichen wie speziellen ästhetischen Fragestellungen im Umfeld des Wunderhorns ist die letzte Gruppe der Kolloquiumsbeiträge gewidmet. Ulfert Ricklefs arbeitet in einem grundlegenden Beitrag die poetologische Leitvorstellung des Wunderhorn-Autors heraus. Wie die in Kunstprogrammen und Lebensplänen Arnims und Brentanos früh konzipierte Rettung, Erneuerung und Propagierung von Volksliteratur mit dem Gesamtkomplex der >Kunstreligion< Arnims vielfältig verbunden ist, wird nicht nur an gemeinsamen Mythologemen, Motiven und Metaphern erwiesen, sondern auch durch eine Art »Geschichte dieser Kunstprogrammatik im Briefwechsel der beiden Freunde« ergänzt. Detlef Kremer stellt die bereits im Titel seines Beitrages apostrophierte Dichotomie der »Präsenz der Stimme und des Archiv der Schrift bei Achim von Arnim« in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Nicht nur am Beispiel der Lieder des Wunderhorn, sondern auch an Halle und Jerusalem, an Seltsames Begegnen und Wiedersehen und an den Holländischen Liebhabereien wird dem Zusammenhang von Oralität und Literalität und einer umfassenden intertextuellen Schreibpraxis in Achim von Arnims Texten nachgegangen und so gezeigt, daß Arnim zu jenen Schriftstellern gehört, »die wohl wissen, daß nicht sie allein die Autoren ihres Werkes sind« (Albert Beguin). Den großen Horizont einer »Poesie für das Ohr« und das Paradigma »Tönende versus gelesene Dichtung« eröffnet Dieter Borchmeyer in seinem von Klopstock bis Wagner reichenden Überblick über die »Utopie einer Aufhebung der Schriftkultur in einer neuen Kultur der Oralität und Improvisation«. Ausge-

XII

Vorwort

hend von Goethes Wunderhorn-Rezeption zeichnet Walter Pape Goethes Konzept der Volkspoesie, des Naturpoeten, des >gebornen< Dichters und der Improvisation als integralen und zentralen Bestandteil seiner >klassischen< Ästhetik nach, die in der Produktion wie in der Rezeption durchaus performativ konzipiert ist: Goethe entwickelte seine Theorie der Unmittelbarkeit und Objektivität im Hinblick auf eine Darstellung, welche die emphatische und sympathetische Rezeption jedes einzelnen erst ermöglicht. Claudia Nitschkes Untersuchung der komplexen performativen Struktur des Scherzenden Gemisches erweist diese als eine poetische Identitätskonstruktion. In seiner gleichsam universal-progressiven, programmatischen Offenheit integriert es paradoxerweise zugleich eine >wahre< und eine >volksgemäße< Position. Durchaus ästhetisch relevant sind auch die Ergebnisse von Ann T. Gardiners Untersuchung zum Kulturtransfer als Performanz: Sie richtet den Fokus bei ihrer Untersuchung der Beziehungen zwischen Madame de Stael und Arnim nicht mehr auf quasi >autonome< literarische Ideen und ästhetische Konzepte, sondern untersucht die Aktionen, Interaktionen und Transaktionen, die ihnen überhaupt erst Gestalt gaben. Gestalt gegeben hat dem gesamten Kolloquium - neben einer Beihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft - die zauberhafte Atmosphäre im Max-WeberHaus der Universität Heidelberg; dort mit einem ständigen Blick auf Altstadt und Karlsbrücke zu tagen, vorzutragen und zu diskutieren war folglich leicht und schwer zugleich. Dieter Borchmeyer war den Wunderhornisten der Internationalen Arnim-Gesellschaft nicht nur ein engagierter Gastgeber, sondern er hat auch ihrem Präsidenten eine Organisatorin vor Ort empfohlen. Ohne Ines Troch vom Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg hätten die Teilnehmer des Kolloquiums, das ja stets naturgemäß auch ein Symposion war, nicht so unbeschwert die Zeit vor, zwischen und nach der Geistesakrobatik genießen können, mit Norbert Wichard war die Vorbereitung von Köln aus auch ein Vergnügen. Köln, ein Jahr danach, im Juli 2005 Walter Pape

DIE QUELLEN: SIMULIERTE MÜNDLICHKEIT AUF BLÄTTERN VON LUMPEN

Heinz Rölleke

»Des Knaben Wunderhorn« - eine romantische Liedersammlung: Produktion - Distribution - Rezeption1

Es ist eine ganz besondere Freude und Ehre, beim 5. Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft den Eröffnungsvortrag halten zu dürfen und dazu in der Wunderhorn-Stadt Heidelberg, die sich diesen Titel durch die Tatsache verdient hat, daß Arnim und Brentano hier in sechs Wochen, inspiriert durch die von ihnen als romantisch empfundene Atmosphäre der Neckarstadt im Frühling (1805), den Beginn eines der markantesten Werke der deutschen Romantik machten, indem sie die Lieder zum ersten Band ihrer Anthologie Des Knaben Wunderhorn zusammenstellten, bearbeiteten, redigierten und zum Druck beförderten. Heidelberg kann sich aber auch seit 1929 insofern mit noch größerem Recht WunderhornStadt nennen, als damals ein großer Teil der Wunderhorn-Malerialien für die Universitätsbibliothek ersteigert wurde, die allerdings erst 1989 bzw. 1992 durch Michael Rother und Armin Schlechter in Form von zwei Katalogen vollständig und akribisch verzeichnet worden sind. Indes standen die Originalmaterialien natürlich auch schon zu uneingeschränkter Verfugung bei der Erstellung der ersten Historisch-kritischen sechsbändigen Wunderhorn-Ausgabe, die zwischen 1975 und 1978 in der Frankfurter Brentano-Ausgabe im Umfang von 3822 Seiten erschien. Es gilt also im doppelten Sinn: Ohne Heidelberg kein Wunderhorn und ohne Heidelberg keine Wunderhorn-Philologie. Davon soll im folgenden die Rede sein, allerdings nicht streng nach den Schlagwörtern des Untertitels der Ankündigung (Produktion - Distribution - Rezeption) gegliedert und aufgebaut, denn die drei Parameter bedingen und durchdringen einander, was die Erstellung dieser so wunderbaren wie seltsamen Liedersammlung, wie ihre Zielsetzungen, das heißt ihren Adressatenkreis und ihre intendierten Wirkungen, wie auch was ihre Rezeption beim Lesepublikum sowie in den frühen germanistischen und volkskundlichen Forschungen betrifft. Da Arnim und Brentano ihre Arbeit ohne ein dezidiertes Vorbild und erst recht ohne jedes literaturtheoretische oder systematische Programm planten und angingen, sind die Fakta und Realia zu Produktion, Distribution und Rezeption prima vista nur unscharf auszumachen. Wenn Brentano in der frühesten brieflichen Äußerung als erste und scheinbar wichtigste Zielsetzung formuliert, das Wunderhorn solle »das platte oft unendlich gemeine Mildheimische Liederbuch unnötig« machen, 2 so bedeutet das fur die Produktion, man wolle einen Gegenentwurf zu den

1 2

Die Vortragsform wurde beibehalten. Brief an Arnim vom 15.2.1805 - Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 263.

Heinz Rölleke

4

von Rudolf Zacharias Becker im Geist der Aufklärung und einer aufgeklärten Frömmigkeit zusammengestellten 518 Liedern fürs Volk wagen, etwa im Sinn einer Zusammenstellung tatsächlich im Volk verbreiteter und vor allem antiaufklärerischer, das heißt im damaligen Wortsinn alter oder neuer romantischer Lieder; für die Distribution, man wolle mit einer solchen Anthologie möglichst alle Schichten und Gruppen erreichen, in denen Volkslieder noch lebendig waren; für die Rezeption, die Leser des Wunderhorn sollten ihr altes Liedrepertoire dort bestätigt und erweitert finden und entsprechend nutzen. All diese offenbar zunächst avisierten Ziele wurden nicht in diesem Sinn erreicht. Dazu nur eine Bemerkung: Das attackierte Mildheimische Liederbuch von 1799 war und blieb ein außerordentlicher Publikumserfolg und erlebte noch 1837 seine zehnte Auflage. Von der einzigen Auflage des Wunderhorn (wenn man von Arnims Überarbeitung des ersten Bandes 1819 absieht) aber lagen noch hundert Jahre nach Erscheinen zahlreiche, trotz Angeboten zu Ramschpreisen unverkäufliche Exemplare auf Lager.3 So sehen Brentanos weitere Vorüberlegungen aus: »man könnte es [das Liederbuch] abtheilen in einen Band für Süddeutschland, und einen für Norddeutschland, weil beide sich in ihren Gesängen nothwendig trennen« - so in demselben Brief an Arnim. 4 Der hatte aber schon 1802 geschrieben, kein Mensch wisse, »wo das südliche Deutschland anfängt und wo das nördliche aufhört« 5 , demzufolge gehöre alles zusammen. Diesen Streit hat Arnim in einigen allegorischen Versen aufgehoben, die er dem Streitlied zwischen Wasser und Wein anhängte: »Sie wollten noch länger da streiten, - / Da mischte der Gastwirth die beiden.« 6 Allerdings drängte Arnim mit einigem Erfolg darauf, ein Buch mit ausschließlich deutschen Liedern vorzulegen (entgegen dem kosmopolitischen Ansatz von Herders »Volksliedern« eine Generation zuvor; mit Eichendorffs Worten: Arnim vertiefte den Klang der Herderschen Volksstimmen, »indem er ihn auf Deutschland konzentrierte« 7 ). Brentano war auch hier anderer Ansicht: In einem Brief von 1806 an Höpfner heißt es, »freilich ist alles Ausländische noch aus unserm Plan ausgeschlossen«; 8 er war zunächst willens, Wilhelm Grimms Übersetzung altdänischer Heldenlieder als vierten Band des Wunderhorn herauszugeben; er überarbeitete eine Reihe holländische Volkslieder, die dann allerdings doch nicht ins Wunderhorn aufgenommen wurden; wohl aber hatte Brentano die Übersetzung eines mittelalterlichen französischen Liedes und ein mittellateinisches Lied in der Originalsprache als Eröffnung und Beschluß der Wunderhorn-Ausgabe durchgesetzt. Im übrigen teilte er Arnims allenthalben feststellbare Idiosynkrasie gegen Fremd- oder Lehnworte aus dem Französischen in keiner Weise, und er schmug-

3 4 5 6

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8

Vgl. Rölleke: Anmerkungen zu »Des Knaben Wunderhorn«, S. 280. Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1,S. 263. Brief an Brentano vom 4.5.1802 - ebenda, S. 13. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 7, S. 40. Eichendorff: Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland - Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 128. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 19 (20.5.1806).

»Des Knaben Wunderhorn« - eine romantische

Liedersammlung

5

gelte ganz gegen Arnims antifranzösische Tendenzen den merkwürdigen Tanzreim in die Sammlung: Silberner Degen, Ein goldener Knopf; Die Mädle sind traurig, Franzosen sind fort!9

Was übrigens Wilhelm Grimms übersetzende Bearbeitungen der altdänischen Heldenlieder betrifft, so war Brentano nach Wilhelm Grimms Aussage zuerst für, hernach gegen eine Aufnahme ins Wunderhorn, so daß dieser sie 1811 selbständig publizierte: In diesen Vorgängen deutet sich schon etwas von der Dichotomie zwischen romantischer und wissenschaftlicher Rezeption mittelalterlicher und volksläufiger Literatur an. Sie kommt am deutlichsten in der Ablehnung der Brüder Grimm eines Brentanoschen Plans zum Ausdruck, sie sollten in einem vierten Wunderhorn-Band die Quellen der von Arnim und Brentano gesammelten Lieder veröffentlichen und kommentieren. Schaut man sich die internen brieflichen und die offiziellen Äußerungen (in Sammelaufrufen zum und in Vorankündigungen des Wunderhorn) auf programmatische Äußerungen hin an, so bleibt nur Weniges und eher Vages zu konstatieren: Alte und neue Lieder sollten es sein, Lieder aus allen Ständen und Berufsgruppen, Kirchenlieder beider christlicher Konfessionen (obwohl wenig später Brentano polemisch Spee gegen Luther ausspielte, und Arnim umgekehrt argumentierte), vor allem aber »Lieder ohne Zoten« 10 . Diese Formulierung in Brentanos erstem Brief in Sachen Wunderhorn hatte allerdings Reinhold Steig in »Lieder ohne Zweck«" verlesen - daraus wurde jahrzehntelang geschlossen, das Wunderhorn sei eine romantische zweckfreie Unternehmung in Abgrenzung zu zweckgebundenen Liedersammlungen der Aufklärung. Unter Inkaufnahme der Gefahr, etwas zu schematisieren oder zu vergröbern, kann man indes drei Phasen und zugleich die drei Grundsäulen der Zielsetzung des Sammelunternehmens benennen: 1801 waren Arnim und Brentano gemeinsam auf das Phänomen >Volkslied< aufmerksam geworden und hatten sich vorgenommen, für dieses trotz Herders Vorgehen vernachlässigte literarische Genre etwas zu tun; sodann wollten sie unter dem Titel >Liederbrüder< die ihnen bekannten Volkslieder mit eigenen Dichtungen vermischen; danach trat Brentanos Interesse an der Rezeption mittelalterlicher Literatur, wie sie seinerzeit vor allem Tieck praktizierte, in den Vordergrund. Erst dann kam man wieder auf den ersten Plan zurück, allerdings ohne im Buchtitel den Begriff »Volkslied« zu verwenden. Vielmehr lautet der Untertitel »Alte deutsche Lieder«, womit Brentanos Plan der Rezeption älterer Lyrik (vom Mittelalter bis zum Ende des Barock) Rechnung getragen wurde. 9

Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhom - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 123. Brief an Arnim vom 15. Februar 1805 - Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 263. " Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 132. 10

Heinz Rölleke

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Bekanntlich sind nicht überall, wo »Volkslieder« draufsteht, auch wirklich Volkslieder drin. Beim Wunderhorn steht aber gar nicht >Volkslieder< drauf; trotzdem hat die volksläufige wie die wissenschaftliche Rezeption die Sammlung zum Teil bis heute immer wieder in diesem Sinn missverstanden.12 - Grundsätzlich ist zu dem in Rede stehenden Thema festzuhalten: Weder in der Konzeption noch in der praktischen Durchführung noch gar in der Wirkung des Wunderhorn ist ein einziges und in sich widerspruchsfreies Programm zu erkennen. Gerade aber in der Wirkungsgeschichte dieses seltsamen Buches finden sich so mannigfache Konstatierungen, das heißt indes eher Behauptungen bestimmter Produktions- und Distributionsprogramme, daß allein deswegen eine genauere Befragung des Wunderhorn selbst geboten erscheint. Es sei mit der Nachzeichnung13 weniger Tatsachen begonnen, ehe einige der bislang von der literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Forschung vermuteten oder behaupteten Positionen des Wunderhorn anhand der Faktenlage diskutiert werden sollen. Von den 723 Liedern des Wunderhorn gehen etwa 340 auf gedruckte Bücher oder Zeitschriften zurück, weitere hundert auf sogenannte Fliegende Blätter, vierzig auf ältere handschriftliche Codices (hauptsächlich aus dem 15. bis 17. Jahrhundert) und nur knapp 250 auf zeitgenössische handschriftliche Beiträge. Diese letzte Gruppe ist unter dem Gesichtspunkt fortwährender Rezeptionsmißverständnisse am interessantesten: Hatte man doch einerseits solcherart Beiträge für das Ideal der Wunderhorn-Herausgeber gehalten und andererseits darin vor allem den einzigen Wert der Liedersammlung sehen wollen. Dem ist nun in zweifacher Hinsicht zu widersprechen: Arnim und Brentano schätzten, wie Zahlen und Zeugnisse beweisen, offenbar die Qualität der ihnen bekannten oder bekannt werdenden Lieder nicht nach der Art ihrer Herkunft oder Vermittlung ein; das aber wollte die früher vor allem volkskundlich orientierte Forschung immer ins Wunderhorn hineinlesen, als handele es sich um einen repräsentativen Querschnitt deutschen Volksgesangs um 1800. Zweitens kann der eigentliche Wert der Sammlung darin schlechterdings nicht gesucht und gefunden werden, was volkskundlichem Sammlerideal entsprechen könnte, die Aufnahme von Liedern nämlich, die Zeitgenossen auftaten und beitrugen, weil mit der Zuordnung einer Wunderhorn-Wandschnfi zu einem bestimmten Einsender ja längst nicht die Frage entschieden ist, woher denn dieser Einsender Kenntnis des Textes gewann. Oft genug schrieb er seinerseits aus einem gedruckten Buch oder Fliegenden Blatt ab, dichtete wohl auch etwas um und dazu. Bei Reklamationen des Wunderhorn als Programm zur Rettung und Wiederbelebung von sogenannten >echten< Volksliedern ist also Vorsicht geboten - sowohl was die Herkunft aus dem Volk wie vor allem was die philologisch getreue Wiedergabe betrifft. Wie aber liest man in einer neuern, beliebig herausgegriffenen Literaturgeschichte?

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Vgl. dazu Rölleke: Anmerkungen zu »Des Knaben Wunderhorn«. Nach den in Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1-9.3 dokumentierten Forschungsergebnissen.

»Des Knaben Wunderhorn« - eine romantische

Liedersammlung

1

Was auf Dorfstraßen, in Spinnstuben und im Herzen alter Leute lebte, wurde gesammelt. Brentano war der rechte Mann für dieses Werk. Nichts war ihm lieber, als mit der Laute unterm Arm durch das Land zu streifen und Volkslieder zu singen.14

Den Widerspruch, der sich in dieser herzigen Beschreibung zwischen Sammeln und Selbersingen ergibt, kann man beiseite lassen; aber das Wort »Spinnstuben« läßt aufhorchen. In der Tat lautet eine der leutseligen Herkunftsangaben Brentanos »in der Spinnstube eines hessischen Dorfes aufgeschrieben«, 15 und heimeliger, erd- und volksverbundener geht's wohl nimmer. Erwiesen ist aber nun, daß Brentano das dergestalt mystifizierte Lied nach einem Vorwurf in Seckendorfs Musenalmanach selbständig gedichtet hat - wohl kaum in der Spinnstube eines hessischen Dorfs. Ähnliches läßt sich zum Schlußgedicht des ersten Wunderhorn-Bandes beobachten, dessen Herkunftsangabe lautet: »Altes Lied in meinem Besitz. C. B.« 16 - tatsächlich aber hat »C. B.« aus sechs Zeilen nach Forsters »Frischen Teutschen Liedlein« von 1539 immerhin 81 Verse herausgesponnen (Goethe schätzte dieses Wunderhorn-Lied übrigens am höchsten von allen! 17 ). >In einer Spinnstube aufgeschrieben< kann also bestenfalls bedeuten: >Von mir nach Art der Spinnstubenlieder (um)gedichtetin meinem Besitze >aus meinem poetischen Vermögen geschöpft. In Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung findet sich folgende Reflexion übers Volkslied: [...] so kann selbst der im ganzen nicht sehr eminente Mensch, wenn in der That, durch starke Anregung von Außen, irgend eine Begeisterung seine Geisteskräfte erhöht, ein schönes Lied zu Stande bringen: denn es bedarf dazu nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment. Dies beweisen viele einzelne Lieder übrigens unbekannter Individuen; besonders die Deutschen Volkslieder, von denen wir im »Wunderhorn« eine treffliche Sammlung haben [...] auch sind ferner die eigentlichen Lieder im »Wunderhorn« vortreffliche Beispiele, ganz besonders jenes, welches anhebt: » Bremen, ich muß dich nun lassen.«18

Das so gelobte und als Beispiel fur den Gesang eines >nicht sehr eminenten Menschern, eines »übrigens unbekannten Individuums< herangezogene Lied steht im Wunderhorn in der Tat mit der Herkunftsangabe »Mündlich« 19 - aber man ahnt nun, was das heißt: Das unbekannte und nicht sehr eminente Individuum ist niemand anders als Achim von Arnim, der »O Bremen, ich muß dich nun lassen« auf der Basis zweier volksläufiger Lieder so völlig um- und neugedichtet hat, daß man es nach anerkannten Maßstäben ein romantisches Kunstlied wird nennen müs-

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Rölleke: Anmerkungen zu »Des Knaben Wunderhorn«, S. 278. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 7, S. 276. Ebenda, Bd. 6, S. 402. Ebenda, Bd. 9.1, S. 704. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 329. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 281. Vgl. ebenda, Bd. 9.1, S. 491^195.

Heinz Rölleke

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Zu dem hier angesprochenen, bislang wohl gewichtigsten Problem jeder Wunifer/?or«-Forschung läßt sich in aller Kürze zweierlei feststellen: 1 .Was Arnim und Brentano mit »Mündlich« bezeichnen, sind nur höchst selten Lieder, die sie selbst etwa aus mündlicher Tradition gewonnen hätten; vielmehr kennzeichnet dieser im Wunderhorn häufigste Herkunftsvermerk fast ausschließlich gravierende Eingriffe in einen überlieferten Text oder die (meist vage) Vermutung, ein durch einen Mittelsmann eingesandter Text sei von diesem nach mündlicher Tradition aufgezeichnet. 2.Wirklich direkt aus lebendiger Volksüberlieferung sind von Brentano neben einigen Kinderliedern nur verschwindend wenig Texte gewonnen, jedoch so gut wie nichts von Arnim, der selbst einmal gesteht, der Dialekt mündlich vorgetragener Volkslieder mache ihn so konfus, daß er nicht ein einziges aufzuzeichnen wisse. Was sich im Schopenhauer-Zitat andeutete, macht es unabweisbar: Man muß sich auf den langen Marsch durch die Rezeptionsgeschichte von den Anfangen bis zum heutigen Tag machen, eine Rezeptionsgeschichte, die durch Fehlerwartungen und Unkenntnis gleichermaßen gekennzeichnet ist und die in dieser Art und in diesem Umfang kaum einem andern Werk der deutschen Literaturgeschichte beschieden war. Dazu drei kurze Streiflichter 21 , die schon zu einigen Korrekturen beitragen können: Das Wunderhorn kostete zu viel, als daß sich ein evangelischer Pfarrer die Anschaffung hätte ohne weiteres leisten können - das ist von dem wichtigen Liederbeiträger Pfarrer Roether aus Aglasterhausen bezeugt. Band 1 kostete von 1805 bis 1816 4 Gulden und 45 Kreuzer (oder 3 Reichstaler und 4 Groschen), die Bände 2 und 3 kosteten von 1808 bis 1816 6 Gulden und 45 Kreuzer; die Gesamtausgabe (mit einer Notenzugabe) stellte sich ab 1816 auf etwa den halben Preis, später auf 3 Mark; als Reclam einen Nachdruck für 1,75 Mark herausbrachte, wurde die Originalausgabe seit 1878 für 1,50 Mark verkauft bzw. immer noch nicht abgesetzt: Noch um die vorletzte Jahrhundertwende bot der Verlag Mohr die Originalausgabe an, die heute antiquarisch zwischen 4000 und 5000 Euro gehandelt wird. Diese Zahlen machen überdeutlich, daß das Wunderhorn ein verlegerischer Mißerfolg ersten Ranges war, daß die Sammlung folglich nicht in den verdächtig oft und fälschlich berufenen >singenden Schichten des einfachen Volks< ankam oder rezipiert wurde. Dennoch wurde das Wunderhorn seinem Titel nach bald sehr berühmt, während sein Inhalt weitgehend unbekannt war und ist. Diese Resonanz ohne eigentlichen Resonanzboden ist nicht zuletzt dem zündenden Titel zuzuchreiben, der ähnlich wie Dichtung und Wahrheit oder Menschheitsdämmerung zum Begriff wurde. Dafür zeugen zahlreiche Belege: Schon 1808 wird Arnim in der Comoedia Divina schlicht »Octavian Hornwunder« genannt; ein Jahr später heißt er bei Wilhelm von Humboldt ohne weitere Erklärung »Wunderhornmann«. Man sprach von Wunderhornisten, vom verpestenden Gifthorn, und man ahmte und ahmt vor allem den Titel immer wieder nach: 1822 Des Knaben Lustwald; 1834 Österreichisches Wunderhorn,, in demselben Jahr Des Knaben Wunderhorn. Mährchen 21

Vgl. dazu Rölleke: Anmerkungen zu »Des Knaben Wunderhorn«.

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und Lieder, 1848 Des Mädchens Wunderhorn·, 1850 Der Jugend Wunderhorn; 1853 Neues Wunderhorn für die Jugend', 1860 Des deutschen Knaben Wunderhorn; 1871 Des deutschen Knaben Tischgebet, 1874 Des deutschen Knaben Handwerksbuch·, 1878 Italiens Wunderhorn·, 1882 Der Wunderborn·, 1890 Des sächsischen Knaben Wunderhorn\ 1900 Rheinlands Wunderhorn·, \9\Q Deutschlands Wunderhorn; 1913 gibt Gustav Meyrink Des deutschen Spießers Wunderhorn heraus; 1925 erscheint ein Neues Wunderhorn; 1928 Der Deutschen neues Wunderhorn; 1943 betitelt sich eine kommunistische Untergrundzeitung im Ruhrgebiet Wunderhorn; 1959 nennt Franz Gass seine Satiren Des deutschen Bürgers Plunderhorn; 1970 erschienen zeitkritische Holzschnitte unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn; es gab in Heidelberg einen Wunderhorn-Verlag und eine Zeitschrift Des Kindes Wunderhorn.22 Schließlich: Das Wunderhorn wird nur von der Schicht rezipiert, die auch die Hauptbeiträger der Liedertexte stellte: von Dichtern, Musikanten, Wissenschaftlern, Studenten. Heine hatte sich als Student intensiv mit dem Wunderhorn befaßt und nach eigenem Eingeständnis viel daraus für sein Dichten gelernt. Im Pariser Exil erinnert er sich an die Wunderhorn-TiteWignette zum ersten Band und seufzt: Auf dem Titelblatte jenes Buches ist ein Knabe, der das Horn bläst; und wenn ein deutscher in der Fremde dieses Bild lange betrachtet, glaubt er die wohlbekanntesten Töne zu vernehmen, und es könnte ihn wohl dabei das Heimweh beschleichen, wie den Schweizer Landsknecht, der auf der Straßburger Bastei Schild wache stand, fern den Kuhreigen hörte, die Pike von sich warf, über den Rhein schwamm, aber bald wieder eingefangen und als Deserteur erschossen wurde. Das »Knaben Wunderhorn« enthält darüber das rührende Lied : Zu Straßburg auf der Schanz', [...] Welch ein schönes Gedicht! Es lebt in diesen Volksliedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer verfertigt. Aber wenn sie auch, durch chemischen Prozeß, die Bestandteile ermittelt, so entgeht ihnen doch die Hauptsache, die unzersetzbare sympathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks. 23

Heine rühmt hier eine ihm und seinen Zeitgenossen anscheinend unwiederbringlich verlorene Ursprünglichkeit des Singens und Sagens, die »smpathetische Naturkraft«; er glaubt sie in den so volkstümlich klingenden Versen des Wunderhorn aufbewahrt oder noch einmal verwirklicht. Hier muß nun mit aller Deutlichkeit auf die fast identische Situation Brentanos selbst bei der Konzeption des Wunderhorn, auf Gustav Mahlers ganz ähnlich motivierte Hinwendung eines komplizierten Künstlers zum scheinbar Einfachen und Naiven hingewiesen werden und auch auf Tendenzen Hofmannsthals zur selben Zeit, die mit der Adaption von Wunderhorn-Gedichten beginnen und im »Chandos«-Brief kulminieren. Mit allem gebotenen Vorbehalt sind sogar heutige Strömungen des >folk< oder nostalgisch verbrämten Volksliedinteresses einzubeziehen. Allen ist die Suche nach einer

22 23

Vgl. Rölleke: Anmerkungen zu »Des Knaben Wunderhorn«. Heine: Die Romantische Schule, 3. Buch - Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 449-450.

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verloren geglaubten Naivität des Ursprünglichen gemeinsam, und alle geraten unbewußt in den Bannkreis Brentanoscher Vorstellungen: Wie Heine seine emphatische Begeisterung ausgerechnet aus den Motiven entwickelt, die nachweislich erst Brentano in das ungelenke »Straßburg«-Lied gebracht hatte,24 so wenden sich Hofmannsthal und übrigens etwa gleichzeitig auch Thomas Mann mit Vorliebe von Brentano überarbeiteten Wunderhorn-Liedern zu, so entzündet sich ganz allgemein die künstlerische Wunderhorn-Rezeption der Dichter und Komponisten meist an Brentano-Interpolationen, viel seltener an sog. >echten< Volksliedpartikeln und schon gar nicht an Arnims Eingriffen. Das bedeutet zugleich, daß unsere unbewußte Vorstellung vom Volkslied, ja vom Volkstümlichen allgemein, was unsere Maßstäbe wie unseren Erwartungshorizont betrifft, direkt und indirekt ganz wesentlich von Brentano geprägt sind (der sentimentalisch und kompliziert konzipierte Teil Schillers wurde populärer als alle naiven Volksschauspiele dieses Sujets, die 1954 imitierte Barockmusik Remo Giazettos unter dem Titel »Adagio von Albinoni« ist populärer als jedes echte Werk Albinonis). Lange, weit und zum Teil noch immer kolportierte Fehl- und Vorurteile kennzeichnen einen großen Teil der Rezeptionsgeschichte des Wunderhorn von 1805 bis heute. Die gravierendsten Fehlurteile der letzten Jahrzehnte: Das Wunderhorn sei jugendgefährdend, das Wunderhorn sei ein unverfälschter Hort deutschen Volksgesanges, das Wunderhorn kastriere das derbe Volkslied ungebührlich, das Wunderhorn sei militaristisch geprägt, preußisch-chauvinistisch, es sei konfessionell reaktionär oder klerikal antirevolutionär, antiemanzipatorisch, antisozialistisch. All diese Pauschalurteile kann man mehr oder weniger gänzlich widerlegen (nicht widerlegen könnte man den indes bislang allerdings gar nicht erhobenen Vorwurf, die Liedersammlung als ganze zu lesen, sei enttäuschend langweilig). 25

***

Haben Arnim und Brentano die Produktion, Distribution und die versuchte Rezeptionslenkung ihres Wunderhorn als Stärkung militaristischer Tendenzen im Vorfeld der sog. Befreiungskriege angelegt? Ging es ihnen um die Apologie autoritärer Strukturen? Oder ging es im Gegenteil um Beachtung und Hochschätzung des einfachen Volks, der kleinen Leute, der Unterdrückten und ihrer volkskünstlerischen Hervorbringungen? Wollte das Wunderhorn ein programmatisches Bekenntnis zur romantischen Idee der Künstlerfreundschaft und ein Beitrag zu einer geradezu anonymen Kunst sein? Lag ihm ein Programm zur Reinigung (oder zur Wiederherstellung der Reinheit) der Volkslieder zu Grunde (»Lieder ohne Zoten«!)? Dazu noch einige Überlegungen und Beispiele.

24 25

Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 283-386. Siehe die folgenden Ausführungen.

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Militaristische oder autoritäre Tendenzen? Preußisch-militaristische Tendenzen, die man früher mit Stolz, heute eher mit Betroffenheit bei Arnim mehr als bei Brentano und jedenfalls auch in entsprechenden Wunderhorn-Liedern entdecken wollte, lassen sich gegebenenfalls meist allbereits in den betreffenden Lied-Vorlagen nachweisen. Ohne das zu prüfen, hat man keck behauptet, Brentano und vor allem Arnim hätten in dieser Hinsicht neutrale Volksliedtexte in die preußische Soldatensprache übertragen. Gegenbeispiele wurden geflissentlich übersehen oder vielleicht als bedauerlicher Mißgriff gewertet; der pathetische Schluß eines Soldatenliedes »Der Leib verweset in der Gruft, der Ruhm bleibt in der Welt« 26 erscheint im Wunderhorn leicht travestiert: »Der Leib verweset in der Gruft, der Rock bleibt in der Welt« 27 . In demselben Lied boten die beiden benutzten Vorlagen an einer anderen Stelle abweichende Lesarten: »Wenns Blut uns in die Augen läuft, da gehn wir in den Tod« bzw. »Wenns Blut von unsern Körpern läuft, sind wir Kurage voll« 28 - beides konnte Brentano nicht gefallen; aber seine neue Wendung war eben fortan militaristisch gesinnten Interpreten ein Greuel: Wenns Blut uns in die Augen läuft, Sind wir sternhagelvoll. 29

Vorwürfe gegen durchgängigen Militarismus im Wunderhorn gehen an den wirklichen Intentionen (zumindest Brentanos) eklatant vorbei und bedürfen umfassender Revision. Jüngst häuften sich Stimmen, die klerikale oder wie etwa schon Heine restaurative Tendenzen beklagen und mangelndes demokratisches oder sozialkritisches Engagement der Herausgeber tadeln. Auch das bleibt so lange unangemessen, wie man nicht die vorgegebenen Tendenzen der ins Wunderhorn aufgenommenen Lieder eruiert und entsprechende Veränderungen dieser Vorlagen analysiert. Dazu sei nochmals auf das von Heine so gelobte Lied »Zu Straßburg auf der Schanz'« zurückgewiesen, die seit Entdeckung vorausliegender Texte im Jahr 1855 immer wieder bemühte >berühmteste Fälschung< des Wunderhorn. Robert Minder 30 konstatierte folgende Veränderung: Die Brentanosche Klage »Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran, das Alphorn hat mir solches angetan, das klag ich an«, habe den wilden Aufschrei des Protestes gegen autoritäre Obrigkeit verdrängt, der da laute: »Unser Korporal, der harte Mann, ist meiner Sache schuld daran, den klag ich an.« Minder macht sich hier einer Zurechtbiegung schuldig, weil die Vorlage sagt: »unser Corporal der brave Mann«31; das aber heißt in der Volksliedsprache des späten 18. Jahrhunderts >der rechtschaffene Mann< 26 27 28 29 30 31

Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 122-124. Ebenda, Bd. 6, S. 41. Vgl. ebenda, Bd. 9.1, S. 123. Ebenda, Bd. 6, S. 40. Minder: Dichter in der Gesellschaft, S. 199. Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 284.

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und sonst nichts. Gesellschaftskritisches Hinterfragen ist mit dieser Formulierung also wohl kaum intendiert. Folglich kann man Brentano auch schlechterdings nicht vorwerfen, er habe solche Tendenzen aus dem Lied eskamotiert oder umgebogen. Doch ausgerechnet der Wunderhorn-Editor Hans-Günther Thalheim formulierte wie Minder den Vorwurf an Brentanos Adresse noch schärfer und noch unangemessener. In der Vorlage des »Straßburg«-Liedes sei der soziale Protest gegen die unmenschliche Existenzform des Söldners fur die Desertion bestimmend. Der Schweizer [von einem solchen ist in der Vorlage überhaupt nicht die Rede!] desertiert [...] aus Unzufriedenheit mit dem militärischen Zwangsapparat der französischen Söldnertruppen [...] in der Hoffnung, woanders menschlicher existieren zu können. Im alten Volkslied [tritt] dem Söldner [...] in Gestalt des militärischen Vorgesetzten, des Korporals, ein sozialer Gegenspieler entgegen. Dieser wird als der eigentliche Schuldige angeklagt. In der literarischen Vorlage Brentanos steht der Protest gegen das menschenunwürdige Söldnerwesen im Mittelpunkt [und es sei eben] charakteristisch für diese konzeptionelle Tendenz der Herausgeber, soziale Proteste zu vermeiden oder abzuschwächen. 32

Liest man jedoch Brentanos Vorlage in den angesprochenen Stellen unbefangen, ergibt sich ein anderes Bild: Zu Straßburg auf der Schanze, da gieng mein Trauren an, da wollt ich den Franzosen desertiren und wollt es bey ein'n andern probiren, das geht nicht an. 33

»Bey ein'n andern probiren« heißt ganz eindeutig: Woanders Söldner werden; wo Söldner, da sind auch Korporals. Der Korporal ist im Volkslied kein Individuum, sondern ein Typus. Wie sollte der Deserteur also anderswo auf >menschlichere Existenzformen spekulieren? Hier macht ein weder besonders sentimental organisierter noch gar mit Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge begabter Soldat seinem Ärger darüber Luft, daß er Pech gehabt hat und bei der Desertion geschnappt wurde. Der Korporal hat in seinen Augen nur >brav< der Pflicht gehorcht; er klagt ihn persönlich so wenig an wie das Exekutionskommando (»Ihr Brüder alle drey, / Was ich euch bitt, erschießt mich gleich« 34 ). Gewiß hat Brentano seine Vorlage sentimentalisiert - und das so erfolgreich, daß der Text in der von ihm umgearbeiteten Fassung zu einem der bekanntesten deutschen Lieder überhaupt wurde - , aber er hat damit keinen >sozialen Protest gegen unmenschliche Existenzform< geopfert, weil es diesen in der Vorlage gar nicht gibt. Andererseits ist zu konstatieren, daß im Wunderhorn gegebenenfalls sozialkritische Themen weitgehend ausgespart scheinen, so wenn von den vielen vorliegenden Liedern zum Weber-Elend keines aufgenommen wird; stattdessen wird ein »Weberlied« geboten, dessen Tendenz schon die Eingangszeilen deutlich machen: 32 33 34

Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Ausgabe Thalheim), Bd. 3, S. 392-393. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 284. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 137.

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Frühmorgens, wenn der Tag bricht an, Hört man uns schon mit Freuden Ein schönes Liedlein stimmen an, Und wacker drauf arbeiten.35

Z e u g n i s romantischer K ü n s t l e r f r e u n d s c h a f t ? Zwar ist es eine bekannte Tendenz romantischer Dichter, ihren Individualstil zugunsten eines einheitlichen romantischen Tons weitgehend aufzugeben - man denke an die Anteile der Brüder Grimm an ihrer Märchensammlung, die gemeinschaftliche Märchenkonzeption der Contessa, Fouque und Hoffmann oder den Görres/Brentanoschen BOGS - , und solchen Tendenzen kommt die anonyme Volkspoesie natürlich ideal entgegen; dennoch hat man zu oft übersehen, daß Brentano und Arnim, als sie sich 26- bzw. 24j ährig an die Wunderhorn-Arbeit machten, schon längst mit eigenen Werken hervorgetreten waren und zu einem eigenständigen Stil gefunden hatten, der sich nur schwer über einen einzigen romantischen Leisten schlagen lässt. Diese Tatsachen müssen mißtrauisch machen, wenn immer wieder von ungetrübter Harmonie gemeinsamen Sammeins und Schaffens besonders in den Heidelberger Wunderhorn-Monaten des Jahres 1805 die Rede ist. Der Briefwechsel belehrt denn auch eines andern. Brentano polemisiert gegen Arnims eigenmächtige Einfügung platter Lieder Pfeffels oder Overbecks, und beide streiten nicht eben zurückhaltend über Bearbeitungstendenzen. Arnim wirft Brentano das künstliche Altmachen vor, durch das die Lieder eine falsche Patina und einen einheitlichen Stil gewännen, die es in dieser Art nie gegeben habe; Brentano wehrt sich gegen Arnims ungezügeltes Vermischen von Altem und Neuem, er würfle in seinem furor poeticus Unvereinbares durcheinander, stecke alten Rittern gleichsam Nachtviolen hinter die Ohren, »kurzum du dichtest und wenn du in Zug kömmst kannst du nicht glauben, wie angst und bang mir wurde, denn in einem poetischen Fieber von 1808, nahmst du hinter einander alle Saecula vor, und gabst ihnen oft wieder willen und ohne Noth von deiner Hypocrene«. 36 Solcherart sachliche Streitigkeiten werden den Kenner vor allem eben angesichts des Fehlens jeglichen dezidiertren Plans und Programms bei den Wunderhorn-Arbeiten nicht überraschen; die Literarhistorie versuchte sie indes erkennbar zu verschweigen oder zu vertuschen. Unvermittelt kraß treten Gegensätze zwischen Arnim und Brentano hervor, wenn sie andere in ihren Streit ziehen, und es klingt gar nicht mehr nach der oft beschworenen Dioskurenfreundschaft, wenn Arnim sich bei Goethe rückversichert, er sei an eventuellen Schwächen des Wunderhorn schuldlos, die gingen auf Brentanos Konto - Brentano dagegen den Freund in Weimar anschwärzt, vieles sei von Arnim gegen seinen ausdrücklichen Willen in die Sammlung eingerückt. Für all das ist besonders bezeichnend, daß Arnim und

35 36

Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 7, S. 396. Ebenda, Bd. 9.3, S. 403

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Brentano sich nicht mehr verständigen konnten, gemeinsam auf Angriffe gegen das Wunderhorn zu antworten, und daß Arnim sogar ausdrücklich verlangte, Brentano solle schweigen und ihm die Rechtfertigung gefalligst allein überlassen. Auch zahlreiche Einzelbeispiele lassen Differenzen bei der eigentlichen Wunderhom-Arbeit erkennen (wie denn überhaupt das Vorliegen der Historisch-kritischen Wunderhorn-Edition erstmals Gelegenheit bietet, unterschiedliche Bearbeitungs- und Stiltendenzen Arnims und Brentanos genau und umfassend herauszuarbeiten). Es gibt einige Lieder, die gleichsam doppelt im Wunderhorn vertreten sind, jeweils einmal im ersten und dann in anderer Gestalt nochmals im zweiten oder dritten Band. So hatte Arnim ζ. B. eine Ballade aus dem Seckendorfschen Musenalmanach gewählt, als ihm ein eigenhändiges Manuskript Brentanos derselben Ballade in gänzlich veränderter Gestalt zukam. 37 Arnim schrieb ihm daraufhin: »Das Badewännchen hast du anders als Seckendorf und besser im Ganzen aber verstümmelt im Anfange, ich werde sie beide abdrucken lassen, es sind sehr merkwürdige Varianten« Hier hat Arnim eine Brentanosche Mystifikation nicht bemerkt, wie seine Formulierung »Varianten« beweist. Als Brentano dann herging und den Brüdern Grimm die Arnimsche Gutgläubigkeit hämisch anzeigte, war für Arnim das Maß voll. In einem langen Brief an Jacob Grimm versuchte er (ungeschickt genug und die Tatsachen ζ. T. verdrehend) sich zu rechtfertigen: daß es wieder eine von Clemens vielen Unwahrheiten ist, wenn hätte den Staar und das Badewännlein für ganz alt gehalten [...] schrieb ich ihm gleich [das eben stimmt nicht], daß er das Ganze selbst gemacht, konnte ich ihm doch wirklich ohne Beleidigung [warum eigentlich nicht?] [...].38

er Euch eingebildet hat, ich daß er viel daran gebessert, nach einer alten Geschichte nicht auf den Kopf zusagen

Nun sei noch ein Blick auf eines der Manuskripte geworfen, an denen die Freunde gemeinsam gearbeitet haben. Es ist lediglich ein halbes Dutzend solcher Art von Mischhandschriften im Wunderhorn-'H&ch[s& erhalten, und es dürften schwerlich je wesentlich mehr existiert haben, zumal ein Vergleich der Papiersorten der Wunderhorn-Autographen Arnims und Brentanos nur ganz selten Übereinstimmung ergibt. Das heißt, beide arbeiteten zwar zeitweise in demselben Zimmer, aber dennoch meist und in jeder anderen Hinsicht gänzlich getrennt. Unter dem Titel »Der Bettelvogt« 39 hatte Brentano einen nicht gerade zimperlichen Volksliedtext in Form einer Reinschrift niedergelegt: Der arme Lump schimpft auf den Bettelvogt, der ihn in Arrest legt; als der Bettelvogt gestorben ist, sendet er ihm noch einen deftigen Fluch nach. Dieser Text war Arnim zu derb, zu sprunghaft, zu unmotiviert. Er korrigierte daher unmittelbar vor der Drucklegung und wohl ohne Brentanos Wissen Veränderungen in die Handschrift und dichtete eine Schlußstrophe hinzu. Im einzelnen wurde aus »Ich dreh mich gleich herum weiß ihm den blosen Arsch / Ei du verfluchter Bettelvogt Lek du mich brav

37 38

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Vgl. ebenda, Bd. 9.2, S. 456-462. Brief vom 14.7.1811 an Jacob Grimm - Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 137. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 94, und 9.1, S. 220-223.

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im Arsch« bei Arnim »Ich dreh mich gleich herum und seh nach seiner Frau / Ey du verfluchter Bettelvogt, was hast für schöne Frau«, und aus »Man sollte ihn begraben in Scheishauß hinein / Wo alle verfluchte Bettelvögt begraben sollen seyn«: »Lebendig ihn begraben bey Wasser und bey Brodt, / Wie mich der alte Bettelvogt begraben ohne Noth«. Aus Brentanos »hat man ihn begraben ins Scheishauß hinein« machte Arnim zunächst zögernd »hat man ihn gehangen ins Klosete hinein« und dann erst »Da haben sie 'n gehangen in Galgen fest hinein«. Schließlich fugt er, wie gesagt, noch eine Schlußstrophe an, in der die ganze Katastrophe auf die Eifersucht des Bettelvogts zurückgeführt wird, dessen Frau der arme Lump am Ende heiratet.40 Worauf damit aufmerksam gemacht werden soll, sind die hier gänzlich gegensätzlichen Intentionen beider Bearbeiter. Während Brentanos Niederschrift alle Derbheiten ungeniert bewahrt und sich, der Struktur der Volksballade durchaus entsprechend, nicht um eingängige Motivierung kümmert, sondern die > Sprünge und WürfehurenLöffelgäßchen< ist noch 1820 als >Dirnenstraße< belegt. Was Brentano also wohlwissend an Anspielungen für den Kenner in diesem Lied beließ (und verdeutlichte, wie das hinzugedichtete Motiv vom zerspringenden Pferdebauch beweist), als er scheinbar kindlich anstelle des Geldverdienens durch >Löffeln< Geldverdienen durch Faulenzen einsetzte, ist damit klargeworden. Wie hier, so setzt sich Brentanos spätestens seit seinem »Godwi«-Roman kräftig entwickelter poetischer Spieltrieb bzw. verfänglicher Anspielungstrieb, selbst gegen seine ausdrücklich formulierte Bedingung, auch sonst ausgerechnet in den »Kinderliedern« durch (die denn auch eine zeitgenössische Rezension mit einigem Recht »Kinderlieder [...] mit Kastrirung der Zoten« genannt hat47). So macht Brentano z.B. aus dem eindeutigen Schnaderhüpfel »Zu Bett, zu Bett, wer ein Liebchen hätt...« (das seinerseits wohl aus dem bierernsten Zapfenstreichlied »Zu Bett, zu Bett, die Trommel geht...« umgesungen ist) das harmlose Kinderlied »Zu Bett, zu Bett, die ein Kindle hätt...«, verrät sich dann allerdings (bewusst?) in den an45 46 47

Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 259. Ebenda, Bd. 9.3, S. 467. Vgl. ebenda, S. 468.

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schließenden Versen: »Die keinen (!) hätt, muß auch zu Bett«. 48 Aus Nicolais »Feinem Almanach« von 1777 übernahm Brentano das eindeutig gemeinte Rollenlied eines >Wackern Maidleins< wiederum in die Kinderlieder, indem er lediglich den beziehungsreichen Gedankenstrich am Ende seiner Vorlage durch ein kräftiges Rufzeichen verharmloste: Wacker Mägdlein bin ich ja, Rothe Strümpflein hab ich an, Kann stricken, kann nehen, kann Haspel gut drehen, Kann noch wohl was mehr! (Kann nock wol wat meer - )

Brentanos neuformulierte Überschrift »Hast du auch was gelernt?« tut das ihre, die Lesererwartung zu irritieren. 49 Zwei Ergebnisse schälen sich zu diesem Punkt heraus: einmal ist das Volkslied beileibe nicht so harmlos, wie man vor allem im 19. Jahrhundert glauben machen wollte, und im Wunderhorn sind solche Themata nicht gänzlich umgangen oder eliminiert, wie bisher angenommen wurde, sondern in mancher Hinsicht nur kaschiert. Und wenn - der in solchen Fragen gegenüber der traditionellen Volkskunde gewiß kompetentere - Friedrich Schlegel im Blick auf das Wunderhorn von >pöbelhaften Brentanereien< spricht, 50 so ist die hörbare Assonanz zu >Schweinereien< nicht nur deutlich genug, sondern eben ζ. T. auch ein wenig zutreffend.

***

Steht hinter der Produktion, Distribution und Rezeptionslenkung des Wunderhorn ein Programm? Sicher ist, daß die romantische Liedersammlung trotz oder wegen ihrer kuriosen Wirkungsgeschichte geradezu ungeheuer auf unsere unterschwellige und in der Regel wenig reflektierte Vorstellung, was ein Volkslied ist, sein könnte oder zu sein habe, gewirkt hat. Und aus dieser Wirkungsgeschichte könnte man nun doch ein Programm herauslesen, das Arnim und Brentano brieflich ex negativo in Kritiken an den Liedersammlern Docen und Seckendorf formulierten: »So klebt der arme Schelm immer an dem historischen, er will nicht wissen, was sie schönes gesungen, er will nur wissen, was und wann sie gesungen.« Seckendorf ist ein Volksliedsammler, der »die Kartoffeln mit der Schale und allem Dreck fressen will«. 51 Genau in diesem Sinn und ähnlich drastisch hat sich rund achtzig Jahre später Johannes Brahms über die Volksliedersammlung von Erk und Böhme geäußert: »Ist es denn in der

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Ebenda, Bd. 8, S. 303. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 315, und Bd. 9.3, S. 580f. An A. W. Schlegel, 11. November 1805. - In: Körner (Hrsg.): Krisenjahre der Frühromantik, Bd. 1,S. 246. Brentano an Arnim, Mitte Februar 1806, Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 342.

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Wissenschaft gar so nöthig, daß man [...] jeden Wisch Papier, mit dem ein Großer seinen Allerwerthesten beehrt hat, abdruckt, oder jeden Dreck von der Landstraße so breit tritt wie Böhme es thut?« 52 Brahms' Vorliebe für das Volkslied stützte sich gerade nicht auf die historisch verfahrende Liedersammlung von Erk und Böhme, sondern auf das WunderhornArnim, Brentano und Brahms geht es beim Umgang mit Volkskunst um Ästhetik und nicht um Philologie. Zu diesem Thema am deutlichsten und sozusagen programmatisch hat sich Brentano in einem Urteil über die j a von ihm angeregte Märchensammlung der Brüder Grimm geäußert: Ich finde die Erzählung, (aus Treue) äußerst liederlich, und versudelt, und in Manchen dadurch sehr langweilich, wenngleich die Geschichten sehr kurz sind, Warum die Sachen nicht so gut erzählen als die Rungenschen [Von dem Fischer un syner Frau; Van den Machandelboom] erzählt sind [...] Will man ein Kinderkleid zeigen, so kann man es mit aller Treue, ohne eines vorzuzeigen, an dem alle Knöpfe herunter gerißen, das mit Dreck beschmiert ist, und wo das Hemd den Hosen heraushängt. Wollten die frommen Herausgeber sich selbst genug thun, so müßten sie zu jeder Geschichte eine psychologische Biografie des Kinds oder des alten Weibs, das die Geschichte so oder so schlecht erzählte, voran setzen und ich könnte ζ. B. wohl Zwanzig der Besten aus diesen Geschichten auch getreu, und zwar viel besser oder auf ganz andere Art schlecht erzählen. [...] Ich habe bei diesem Buch recht empfunden, wie durchaus richtig wir beim Wunderhom verfahren, und das man uns höchstens gröseres Talent hätte zumuthen können; denn dergleichen Treue, wie hier in den Kindermärchen macht sich sehr lumpicht.54

In solchen Formulierungen deutet sich ein Ideal des Volkstümlichen und ein Ideal seiner Präsentation an. In nuce besagen Brentanos theoretische Äußerungen zum Problem: Man kann volkstümliche Kunst nicht auswahllos und vor allem nicht ohne Überarbeitung präsentieren; man soll volkstümliche Überlieferung nicht unter historischen oder andern wissenschaftlichen Aspekten rezipieren, sondern ausschließlich unter ästhetischen Gesichtspunkten; nicht einmal die Vermittler sollte man nennen (vgl. das häufige und vieldeutige »Mündlich« unter den Titeln so vieler Wunderhorn-Liederl). Nun könnte man einwenden, Brentano habe sich bei seiner Verurteilung der weithin um philologische Treue bemühten Grimmschen Märchen entschieden getäuscht, der Erfolg dieses Buches gebe den Grimms gegen ihn allemal Recht dann wäre man auf dem Holzweg. Die Abspaltung der wissenschaftlichen Anmerkungen, die Arnim und Brentano forderten, haben die Grimms seit der zweiten Auflage ihrer Märchen durchgeführt; der Erzählstil der Märchen wurde vor allem ab der dritten Auflage lockerer, geschmeidiger, paßte sich dem von Brentano beschworenen Ideal der Rungeschen Märchen mehr und mehr an - und erst da kam der Erfolg auf dem Buchmarkt; man vergisst zu oft, daß die Erst- und Zweitauflage

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Brief vom 3.4. 1884 an Philipp Spitta - Brahms: Briefwechsel mit Philipp Spitta, Bd. 16, S. 98. Vgl. Gäl: Johannes Brahms, S. 74. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 674 (Brentano an Arnim, Februar 1813).

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der Grimmschen »Kinder- und Hausmärchen« 25 Jahre in den Sortiments lagen und daß erst ab der dritten Auflage von 1837 der Bann gebrochen war. Es stellt sich hier die im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte einigermaßen verhängnisvoll entschiedene Frage: Ob Germanistik und Literaturwissenschaft für ein relativ breites Publikum edieren und kommentieren sollten oder für die Fachelite im Elfenbeinturm. Brentano und Arnim schlugen sich vehement zur ersteren Position, Jacob Grimm wandte sich zunehmend letzterer zu. Das war, wie sich immer mehr herausstellt, eine verhängnisvolle Alternative und eine daraus folgende wenig fruchtbare Einseitigkeit. Das Wunderhorn hat zum ersten und zugleich zum letzten Mal versucht, beiden Aspekten gerecht zu werden, wobei der wirkungsästhetische Gesichtspunkt für Arnim und Brentano allerdings eindeutig im Vordergrund stand. So gesehen ist das Wunderhorn eben kein Dokument einer Volksliedersammlung, kein philologisches Rezeptionsunternehmen alter Texte, sondern eine in Auswahl und Überarbeitung eindeutig romantisch geprägte Liederanthologie.

Konrad

Feilchenfeldt

Zur Entstehung der romantischen Liedersammlung aus der Verseinlage im Roman der Jahrhundertwende 1800: »Des Knaben Wunderhorn« als Beispiel Wolfgang Frühwald zum 70sten in dankbarer Verbundenheit

Die Überlegungen, mit denen hier die Entstehung des Wunderhorns als Liedersammlung diskutiert werden soll, verstehen sich als Versuch, ein Stück deutscher Literaturgeschichte im Zeichen der Jahrhundertwende um 1800 zu interpretieren.1 Es geht dabei allerdings nicht darum, die bisher bekannt gewordenen Fakten aus der »Entstehungsgeschichte« dieses Werks grundsätzlich anzuzweifeln, sondern im Gegenteil.2 Ohne die Entdeckung des >Volkslieds< im 18. Jahrhundert und ohne die Einsicht in das Sammeln als einer kreativen Leistung wäre das Wunderhorn jedenfalls geistes- und literaturgeschichtlich nicht ausreichend gewürdigt, nämlich in seiner Bedeutung als ein Dokument sowohl der romantischen Volksliedrezeption als auch einer geradezu schon bibliophilen Umsetzung der Gattung Anthologie als romantisches Kunstwerk.3 Nicht nur das Volkslied als lyrisches Muster, sondern auch die Sammlung als Publikationsform sind im Wunderhorn auf exemplarische Weise verwirklicht und als epochales Literaturereignis der Romantik zugeordnet.4 Was im vorliegenden Fall jedoch den Anlaß zu einer veränderten Betrachtungsweise liefert, ist ein Interesse an der Entstehungsgeschichte als eines Stücks Werk- oder Textgeschichte, bei dem zwar in der inhaltlichen und formalen Festlegung auf das Volkslied die mit dem Jahr 1805 einsetzende Veröffentlichung des Wunderhorns das durch seinen Buchtitel bekannt und berühmt gewordene Endergebnis darstellt, bei dem aber die Anfange dieser Entwicklung bereits aus Werken der beiden Herausgeber - Arnim und Brentano - datieren, die zeitlich noch vor Erscheinen des Wunderhorns entstanden und veröffentlicht worden sind, und in diesem Zusammenhang sind bisher auch entstehungsgeschichtlich Brentanos Godwi von 1800/1801 und von Arnim Ariel's Offenbarungen von 1804 bereits ausdrücklich erwähnt worden.5 1

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5

Zur jüngsten Aktualität einer solchen Befragung deutscher Literatur zwischen Klassik und Romantik vgl. unter der Rubrik »Literarische Wahrnehmung von Jahrhundertwenden« Kosenina und Schütz: Vorbemerkung, S. 7-10. Kosenina: Von »des Jahrhunderts ernstem Ende [...]«. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9,1, S. 17-25. Hauswedell und Voigt (Hrsg.): Buchkunst und Literatur in Deutschland, Bd. 1, S. 108. Vgl. Wolfgang Frühwald: Des Knaben Wunderhorn. - In: Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd. 1, S. 734-736. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9,1, S. 17.

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Was nun an diesen Referenzen als Zeugnissen aber nicht nur entstehungs-, sondern auch werkgeschichtlicher Vorstufen des Wunderhorns stärker als bisher zu beachten sein sollte, ist die Tatsache, daß in den genannten Beispielen Werke vorliegen, die nicht der Gattung Anthologie zuzurechnen sind, sondern wie im Fall des Godwi einem, wenn auch >verwilderten RomanWunderhornerzählten Zeit< des Romans um 1800 bekannten zyklischen Zeitrechnung, indem er das von ihm erinnerte Geschehen jahreszeitlich in »warmer Sommernacht« beginnen läßt.30 Die damit ausdrücklich bezeichnete Jahreszeit - in der nicht seltenen poetischen Kombination mit einer Tageszeit markiert den Beginn eines zeitlichen Ablaufs, dessen weitere Stationen die bekannte zeittypische Bildlichkeit der Zeitgestaltung veranschaulichen: denn auf diesen Sommer folgen im diskursiven Verlauf von Arnims Aufsatz bei der Beschreibung aller jener Zustände, in denen sich »Volkslieder« entwickeln können, nicht ohne tieferen Sinn zunächst nicht Herbst und Winter, sondern schon wieder der »Frühling«: »Hört nur, wie die Zugvögel schön singen dem neuen Frühling; da ziehen schon die wackern Handwerksgenossen mit Bündel und Felleisen in langen Reihen über den Weg« und erst dann folgt, wenn man zyklisch rechnet, ein zweitesmal - diesmal unter Auslassung des Sommers - der Herbst: Es ist mir wohl begegnet im Herbste, wenn schon alles fast still und abgefallen, einen dichten krausen Baum mit sich umrungenen Aesten, von Staaren durchdrungen, klingen und gleichsam auffliegen zu sehen, so sangen mir deutsche Handwerker lüftend ins Herz bey dumpfer Nachtluft holländische Kanäle 31

Und wenn dann der am Ende ausdrücklich aus »Berlin im Januar 1805« datierte Aufsatz mit diesem kalendarischen Hinweis auf die winterliche Jahreszeit schließt, ist das Prinzip der Zeitgestaltung als vierteiliger Zyklus mit einem halbjährigen Überschuß auch in Arnims Aufsatz klar erfüllt, auch ohne daß es sich dabei um ein als Roman identifizierbares Stück Text handelt. Daß aber die für die Literatur und Kunst um 1800 epochentypische Zeitgestaltung im Zeichen zyklischer Zeitvorstellungen auch für das Wunderhorn als entstehungsgeschichtliche Vorgabe explizit bezeugt ist, formuliert Clemens Brentano in einem einschlägigen Brief an Arnim vom 15. Februar 1805 auch im Zusammenhang mit der Polemik gegen das deswegen zu ersetzende Mildheimische Liederbuch von Rudolf Zacharias Becker. Ich habe dir und Reichard einen Vorschlag zu machen, bei dem ihr mich nur nicht ausschließen müßt, nehmlich ein Wohlfeiles Volksliederbuch zu unternehmen, welches das platte oft unendlich gemeine Mildheimische Liederbuch unnötig mache [. ..] man könnte es abtheilen in einen Band für Süddeutschland, und einen fur Norddeutschland, weil beide sich in ihren Gesängen nothwendig trennen, es muß sehr zwischen dem romantischen und alltäglichen schweben, es muß Geistliche, Handwerks, Tagewerks, Tagezeits Jahrzeits, und Scherzlieder ohne Zote enthalten [...] es muß so eingerichtet sein, daß kein Alter davon ausgeschloßen ist, es könnten die bessern Volkslieder drinne befestigt, und neue hinzugedichtet werden. 32

30 31 32

Arnim: Von Volksliedern. - In: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 409, Z. 7-9. Ebenda, S. 426, Z. 6 - 9 , 20-24. Brief Clemens Brentanos an Achim von Arnim. Heidelberg 15. Februar 1805. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 393, Z. 12-27. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 263.

Entstehung der romantischen Liedersammlung

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Mit »Tagezeits-« und »Jahrzeits«-Liedern zielt Brentano demnach in der von ihm geplanten Liedersammlung auf eine Zeitdarstellung, die durch ihren Rückgriff auf das Modell einer zyklischen Zeitauffassung ein Stück Gattungstypologie des Romans der Jahrhundertwende von 1800 verarbeitet. Aber auch die oberflächlich besehen politisch bestimmte Teilung in einen norddeutschen und einen süddeutschen Band berücksichtigt 1805 nicht nur die Trennung zwischen den damals bereits durch Napoleon an Frankreich angegliederten deutschen Gebieten im süddeutschen Raum und dem seit dem Frieden von Basel von Frankreich unabhängigen deutschen Norden. Vielmehr entsprechen den Himmelsrichtungen grundsätzlich auch Tageszeiten.33 Zeittypisch für das in Brentanos Brief entwickelte Konzept der Sammlung ist schließlich auch die Alterslosigkeit, die zu beachten sei, wenn »kein Alter davon ausgeschloßen« werden sollte oder - positiv formuliert - alle Altersstufen daran zu beteiligen seien, und unausgesprochen enthalten ist darin das weitere aus der »Säculardichtung« um 1800 bekannte antithetische Modell von Alt und Neu oder Jung, das auch in Arnims Aufsatz belegt werden kann, aber am einfachsten wohl in der Tatsache, daß die »Alten deutschen Lieder« des Wunderhorns schon auf dem Titelblatt sichtbar einen reitenden »Knaben« als Symbol verwenden und am Ende der Sammlung mit einem Anhang »Kinderlieder« abschließen.34 In Brentanos Selbstverständnis als Autor ist die konzeptionelle Nähe in der Zeitauffassung seiner geplanten Liedersammlung zur Zeitauffassung des Romans um 1800 offenbar nicht klar ausformuliert, da er seine Herausgeberschaft - anders als beispielsweise Goethe im Wilhelm Meister35 - nicht als Romanautor realisiert hat, sondern ganz ausdrücklich in der Auseinandersetzung mit dem Mildheimischen Liederbuch, dessen erste Auflage aus dem Jahr 1799 aber kalendarisch kaum enger, als es der Fall ist, mit der Jahrhundertwende 1800 zeitlich übereinstimmen kann.36 Unter Berücksichtigung dieser Tatsache ist deswegen das Mildheimische Liederbuch im Vergleich zum Wunderhorn noch in erheblich stärkerem Maß ein Produkt der Jahrhundertwende, als es dies allein schon durch die Zusammenstellung seiner ausgewählten Liedtexte und die darin dokumentierte zyklische Zeitauffassung wäre. Denn nicht nur thematisiert diese Liedersammlung die Tages- und Jahreszeiten in Liedern, die durch diese Zeitbegriffe auch als Lieder bezeichnet sind, nämlich »Morgenlieder« (Nr. 47-52), »Mittagslieder« (Nr. 5333

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35 36

Vgl. Lettau: Himmelsrichtungen, S. 40 und passim. - Lettau hat sich in seinem zitierten Essay allerdings einen literarischen Spaß daraus gemacht, daß ihm die von ihm aufgegriffenen Gedanken zu seinem Thema im Wintersemester 1987/88 durch den Münchner Autor Thomas C. Becker aus meiner in München an der Ludwig-Maximilians-Universität gehaltenen Vorlesung >Deutsche Literatur im Zeitalter der preußischen Reform 1806-1848< zugetragen worden sind. - Zur Bedeutung des Friedens von Basel 1795 vgl. Feilchenfeldt: »Berliner Salon«, S. 79. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 238-340. - Ich habe an dieser Stelle Heinz Rölleke für seine Ermunterung zu danken, auf der Grundlage der hier entwickelten Merkmalanalyse seiner Meinung nach durchaus vorhandenen und dafür einschlägigen weiteren Textbefunden im Wunderhorn nachzuspüren Feilchenfeldt: Zwischen Textkritik und Traditionsbewußtsein, S. 219. Günter Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 1*-51*, hier S. 3*f. und passim mit Hinweisen auch zur zeitlichen Nähe der Jahrhundertwende 1800.

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Konrad

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57), »Abendlieder« (Nr. 5 8 - 6 5 ) sowie »Der Frühling« (Nr. 6 6 - 7 6 ) , »Der Sommer« (Nr. 7 7 - 7 9 ) , »Der Herbst« (Nr. 8 0 - 8 2 ) , »Der Winter« (Nr. 8 3 - 9 0 ) , »Der Wechsel der Jahreszeiten« (Nr. 9 1 - 9 5 ) und »Schluß und Anfang des Jahres« (Nr. 9 7 - 9 9 ) . D i e s e Sammlung enthält außerdem auch Lieder zu Themen, die als vierteilige Sinneinheiten ebenfalls auf das epochentypische zyklische Zeitverständnis hinw e i s e n w i e in der Rubrik » D i e Stufen der menschlichen Lebens-Alter« (Nr. 201), » D i e Kindheit« (Nr. 2 0 2 - 2 2 2 ) , » D i e Jugend« (Nr. 2 2 6 - 2 3 4 ) , »Der Ehestand« (Nr. 2 7 1 - 2 9 5 ) , » D a s Greisenalter« (Nr. 2 9 6 - 3 0 7 ) oder w i e auch in dem einen vereinzelten Gedicht unter d e m Titel » D i e Elemente« (Nr. 13). 37 Dabei ist das kleinteilige B e m ü h e n u m eine möglichst differenzierende Gliederung inhaltlich voneinander unterscheidbarer T h e m e n in den gesammelten Liedtexten zwar sicherlich auch ein Grund für Brentanos kritische Vorbehalte, in der Sache selbst bezieht er aber aus d e m Mildheimischen

Liederbuch

mehr Anregungen, als er zunächst zu-

gibt, und bestätigt damit auch Arnims sehr viel weniger kritische, erste Reaktion aus dessen Antwort auf den Brief v o m 15. Februar 1805. 3 8 Betrachtet man das Wunderhorn schen Liederbuch

als das Ergebnis ihrer Kritik am

Mildheimi-

und vergleicht man beide Liedersammlungen, so fallt neben der

unterschiedlich konzipierten thematischen Aufteilung der Lieder aber ihre bei-

37

38

Becker (Hrsg.): Lieder-Buch 1799, S. 27-53, 54-56; 120-129, 132-137, 158-172, 173-181. Zur analogen Bedeutung der Lebensalter oder Elemente aufgrund ihrer Vierzahl im Roman der Jahrhundertwende vgl. Feilchenfeldt: »Franz Stembalds Wanderungen«. - In: Markert (Hrsg.) »lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn! - « S. 173, 175. Brief Achim von Arnims an Clemens Brentano, Berlin 27. Februar 1805. - In: Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 268. - Bei der kritischen Erwähnung des Mildheimischen Liederbuchs durch Arnim und Brentano ist es unklar, ob es sich - wie Heinz Rölleke stillschweigend voraussetzt (Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9,1, S. 10) - um ein Exemplar der ersten Auflage von 1799 handelt, auf die sich die Kritik bezieht. Nachdem in den Jahren 1800, 1801 weitere Auflagen erschienen, die Arnim und Brentano noch vor der Drucklegung des Wunderhorns konsultiert haben könnten und die Auflagen bisher noch nicht systematisch verglichen worden sind, müßte noch einmal abgeklärt werden, wogegen sich die Kritik im Einzelnen gerichtet haben könnte, vor allem weil es 1804 auch noch einen Raubdruck gegeben hat, dessen Erscheinungsdatum am nächsten an die Druckgeschichte des Wunderhorns heranreicht. Die Tatsache, daß, wie Häntzschel bereits feststellt, nur bzw. doch vier Lieder aus dem Mildheimischen Liederbuch im Wunderhorn wieder verwendet worden sind (Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 1 *-51 *, hier S. 31 *-33*), heißt nach Röllekes Quellenforschungen aber nicht, daß das Mildheimische Liederbuch auch die jeweilige Druckvorlage gewesen sei. - Durch Frau Dr. Waltraud Linder-Beroud wurde ich dankenswerter Weise noch auf eine im Besitz des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau befindliche 4. Auflage des Mildheimischen Liederbuchs von 1804 hingewiesen, deren schlechte Druckqualität die Vermutung nahelegen könnte, daß sich Arnim und Brentano anhand eines Exemplars dieser Auflage und insofern auch aus äußerlichen Gründen darüber verständigt haben, das Mildheimische Liederbuch durch eine neue Liedersammlung zu ersetzen. Ob es sich bei dieser 4. Auflage aus dem Jahr 1804 allerdings um den aus demselben Erscheinungsjahr 1804 nachgewiesenen Raubdruck von Fleischhauer und Mäcken in Reutlingen handelt (Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 1 *-51 *, hier S. 38*), ist angesichts der Tatsache, daß das Freiburger Exemplar in »Gotha, in der Beckerschen Buchhandlung« erschienen ist, eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall ist ein Exemplar des Mildheimischen Liederbuchs bisher weder aus Arnims noch aus Brentanos Bibliotheken bekannt geworden.

Entstehung der romantischen Liedersammlung

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spielsweise inhaltliche Übereinstimmung bei der Bezeichnung der Lieder als »Morgen«-, »Mittags«- und »Abendlieder« auf.39 Unterschiedliche kalendarische und andere konkrete Anlässe bestimmen die Liedbezeichnungen, und in diesem strukturierenden Sachverhalt, daß nämlich lyrische Formen durch äußere Umstände bestimmt werden, manifestiert sich ein Bezug zum Kirchengesang, bei dem ebenfalls zwischen verschiedenen Liedgruppen aus Anlaß zunächst kirchlicher Daten und Feste in der Regel aber aus dem Kirchenjahr inhaltlich unterschieden werden kann.40 Die Bedeutung des Kirchengesangs und seiner Verbreitung in religiösen Gesangsbüchern ist für die Ausbildung säkularer Liedersammlungen nicht nur wie im Fall des Mildheimischen Liederbuchs in Gelegenheitsdichtungen wie »Fest- Schmaus und Tanzliedern« (Nr. 314-351), »Abschieds- und Reiseliedern« (Nr. 352-357) oder »Vaterlandsliedern« (Nr. 358-366) zu belegen,41 sondern auch für das Wunderhorn. Jedenfalls bezieht sich auch in Arnims Aufsatz Von Volksliedern die früheste Erinnerung an Lieder auf den Kirchengesang: »Was ich unsre Zeit nenne, was in allen lebt, als Methode, was keinem ein Wunder, das fängt mir in der Welt der Nachgedanken mit Kirchenliedern an«.42

III. Wenn mit dem Wunderhorn als »Liedersammlung« im Jahr 1805 ein Buch zu erscheinen begann, das seiner Entstehung und Planung nach als literarisches Werkbeispiel und -Zeugnis der Jahrhundertwende von 1800 interpretiert werden soll, so verdankt sich der damit verbundene gedankliche Ansatz zwei Voraussetzungen: zum einen dem Vorlauf einer Autorentwicklung, die verglichen mit der Herausgabe ihrer Lyriksammlung bei Arnim wie bei Brentano durch die erfolgreiche Veröffentlichung eines Romans geprägt ist, und zum anderen dem Wandel einer Literaturerscheinung, die als Liedersammlung am Übergang vom religiösen Kirchengesang zum profanen Volkslied eine zeitgemäße Säkular- - um nicht zu sagen - Säkularisationserfahrung erfüllt. Vor dem Hintergrund dieser beiden Koordinaten eines gemeinsamen historischen Kräftefelds ist in der formalen Ablehnung des Mildheimischen Liederbuchs bei Arnim und Brentano auch eine Ablehnung des Liedes als okkasioneller Säculardichtung bzw. der Säkularisation des Liedes enthalten, und was ihnen demgegenüber als Dichtung der Jahrhundertwende eine sinnvolle Alternative vermittelt, zielt auf ein Zeitverständnis, dessen Ver-

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40

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Becker (Hrsg.): Mildheimisches Lieder-Buch 1799, S. 27-37. Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 6, S. 311-312; Bd. 8, S. 304-305. Zum Kirchengesang vgl. Häntzschel: Nachwort - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 1 * - 5 1 *, hierS. llf.* Becker (Hrsg.): Lieder-Buch 1799, S. 1 8 5 - 2 1 1 , 2 1 1 - 2 1 5 , 2 1 5 - 2 2 1 . Arnim: Von Volksliedern. - In: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 406, Z. 2 5 27. In diesem Zusammenhang ist eine Nachwirkung des Mildheimischen Liederbuchs auch in der von Arnim dem dritten Band des Wunderhorns hinzugefugten »Uebersicht des Inhalts einiger Lieder« nicht auszuschließen. Vgl. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 237.

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anschaulichung als Erfahrung einer Zeitenwende allerdings in Permanenz, nicht nur bezogen auf das Jahr 1800 aus dem Formprinzip des Vers-Prosa-Gegensatzes resultiert. Daß mit diesem Modell geschichtsphilosphisch grundsätzlich immer ein Epochenwechsel erfaßt und umschrieben werden kann, entspricht einer Denkfigur, die auf Herders Betrachtung Von den Lebensaltern einer Sprache zurückzuführen ist und aktuell um 1800 in Friedrich Schlegels Geschichte der Europäischen Literatur (1803/04) wieder auftaucht. 43 In diesem Gedanken enthalten ist außerdem ein sozialpolitisches Engagement, das in der künstlerischen Aufwertung der Prosa um 1800 nicht nur eine literarische Form instrumentalisiert, sondern auch auf eine Existenzform zu beziehen ist, wie sie Wackenroder als das »prosaische Leben« bezeichnet hat.44 Worum es dabei gehen kann, meint eine Aufwertung weniger der Volksdichtung als Dichtung, sondern vielmehr eine sozial-ständische Besserstellung des Volks, und darin sind sich Wunderhorn und Mildheimisches Liederbuch in ihrer Botschaft auch vergleichsweise verwandt, wenn dafür Arnims Aufsatz Von Volksliedern als Beleg herangezogen wird. 45 Doch unabhängig davon wurde das Mildheimische Liederbuch schon bei seinem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1799 in der zeitgenössischen Kritik nicht nur als Lyriksammlung zur Kenntnis genommen, sondern auch »immer gemeinsam« mit dem bereits 1788 ebenfalls von Rudolf Zacharias Becker herausgegebenen Noth- und Hiilfsbüchleins fiir Bauersleute rezensiert, und damit ein Zusammenhang hergestellt, bei dem das Mildheimische Liederbuch rückblikkend als lyrische Erweiterung des - im weitesten Sinne des Wortes prosaischen Noth- und Hilfsbüchleins im Zeichen der Jahrhundertwende 1800 und damit auch des repräsentativen Formwandels von der Prosa zum Vers interpretiert werden kann. 46 Dem sozialpolitischen Engagement, das in Arnims Aufsatz Von Volksliedern als Prosatext auch seiner Prosaform nach enthalten ist, steht jedoch in der im Wunderhorn veröffentlichten Lyrik gleichzeitig die romantische Überhöhung in der Gattung Volkslied als Versdichtung entgegen, denn Arnim und Brentano geht es als Autorenkollektiv in der Folge der Jahrhundertwende doch wohl zunächst um die künstlerische Wiederherstellung der Dichtung als Verskunst und erst über diesen Umweg möglicherweise auch um eine soziale Besserstellung des Volks als einer politischen Kraft. Obwohl sie daher die Herausforderung durch die Prosa als Lebensprinzip für ihr künstlerisches Selbstverständnis akzeptieren, bleibt für sie das soziale Netz, dem sie sich zugehörig fühlen, doch ein eher elitäres Gemein-

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Herder: Von den Lebensaltern einer Sprache - Werke in zehn Bänden Bd. 1, S. 181-185, vgl. weitere Vorläufer, ebenda, S. 1034-1035. Schlegel: Geschichte der Europäischen Literatur Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 11, S. 3-125, bes. 35-97, 112-116. Vgl. Wackenroder: Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger - Werke und Briefe Bd. 1, S. 130-145, hier S. 133 Z. 13f. - Zur Frage, inwieweit die Aufwertung der Prosa als poetische Form eine künstlerische Leistung des 19. Jahrhunderts werden sollte, vgl. Feilchenfeldt: Die »Nobilitierung« der Prosa in Grillparzers Der arme Spielmann, S. 223-225. Vgl. Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 1*—51*, hier S. 3*f.. Ebenda, S. 4*, 6*, 13*.

Entstehung der romantischen Liedersammlung

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schaftsideal, so jedenfalls umschreibt es Brentano, nachdem das Wunderhorn zu erscheinen begonnen hatte, unter Anspielung auf Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer »in geheimbündlerischer Sprache, nämlich mit der Formel von einer unsichtbaren Kirche der KunstFliegende Blättere Eine »Wunderhorn«-Quellengruppe zwischen Literalität und simulierter Oralität

Des Knaben Wunderhorn überschreitet vielfach die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Obschon Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano die Lieder im wesentlichen aus literarischen Quellen gewonnen haben, setzten sie sowohl für die Produktion wie fur die Rezeption ihrer Liedersammlung auf die Inszenierung einer oralen Vermittlung. Besondere Bedeutung kommt dabei einer Quellengruppe zu, die von sich aus zwischen Literalität und Oralität rangiert: den sogenannten >Fliegenden Blättern< oder Liedflugschriften, jenen meist aus einem Druckbogen und acht Seiten bestehenden Heftchen, die eine Handvoll auf dem Titel aufgeführte Lieder enthalten.1 Um die Funktion dieser quantitativ wie qualitativ wichtigen Quellengruppe des Wunderhorns genauer einschätzen zu können, ist es zweckmäßig, Arnims und Brentanos Verfahrensweise historisch zu kontextualisieren. So fraglos nämlich die romantische Sammlung in ihrer Epoche eine Sonderstellung einnimmt und sich von gleichzeitigen Anthologien sowie Gebrauchsliederbüchern unterscheidet, so nützlich ist es doch, das Wunderhorn nicht isoliert, sondern kontextuell und kontrastiv zu betrachten. Dazu sei zunächst an zwei Beispielen außerhalb des Wunderhorns gezeigt, welche Stelle die Flugschriften im Prozeß der Liedüberlieferung gewöhnlich einnehmen und welche Rolle den Fliegenden Blättern für Tradierung und Verbreitung von Liedern um 1800 zukommt, um die gewonnenen Ergebnisse sodann mit den Befunden der fFwwc/erAorM-Quellenkritik zu korrelieren. Leitend sind dabei folgende Fragen: Wie eigenständig und dauerhaft ist die Liedtradierung in den Flugschriften? Spiegelt sich in den Fliegenden Blättern ein lange zurückreichender mündlicher Gebrauch? Und: Welche Interdependenzen bestehen in der Wunderhorn-Zeit zwischen Liedflugschriften und Überlieferungsträgern aus dem gehobenen literarischen Milieu? Daß diese Fragen nicht leicht zu beantworten sind und daß nicht ohne weiteres eine Vorstellung davon zu gewinnen ist, auf welche Weise die Liedflugschriften zusammengestellt wurden, hängt eng mit ihrer spezifischen äußeren Erscheinung zusammen: In aller Regel sind weder die Drucke als Ganze noch die einzelnen ' Zur Terminologie und zur Sache vgl. Schilling: Flugblatt. - In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 607-609 (mit Literaturhinweisen), sowie speziell zum Wunderhorn Heinz Röllekes Charakterisierung dieser Quellengruppe in: Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9, 3, S. 775-779 (ebenfalls mit Literaturhinweisen).

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Lieder datiert oder mit Namen gezeichnet; der Redakteur nennt sich selbst ebensowenig wie seine Vorlagen. All dies sind Kennzeichen, die Fliegende Blätter dem mündlichen Gebrauch nahe rücken und zugleich den philologischen Umgang mit diesen Quellen erschweren. Denn eine Datierung der Liedflugschriften - ein wichtiges Indiz, um ihren Ort zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu bestimmen ist damit meist nur sehr eingeschränkt möglich. Anhaltspunkte ergeben sich oft nur aus inhaltlichen Merkmalen, etwa aus Anspielungen auf historische Daten, oder aus spezifischen verlagsinternen Numerierungssystemen, wie sie etwa der Berliner Littfas-Verlag verwendete. So kann man Produkte dieses Hauses, auch wenn sie nur teilweise mit dem Verlagsnamen gekennzeichnet sind, anhand der Littfas-typischen, in eckigen Klammern eingeschlossenen Nummern einigermaßen sicher identifizieren und wenigstens in eine relative Chronologie bringen. Auf diese Weise ist etwa für Littfas' Sieben schöne Lieder (Abb. 1) mit der hohen Nummer »[90]« das Jahr 1806 als >terminus ante quem non< zu gewinnen, da Flugschriften des gleichen Verlags mit wesentlich niedrigeren Nummern auf Kriegsereignisse des Spätjahres 1805 anspielen. 2 An den Sieben schönen Liedern läßt sich exemplarisch die Frage behandeln, wie die Redakteure solcher Fliegenden Blätter zu ihren Texten gelangten. Eine Besonderheit - und zugleich eine Verwandtschaft mit dem Wunderhorn - ergibt sich daraus, daß diese Flugschrift überwiegend aus >alten deutschen Liedern< besteht. Als Verfasser zu benennen sind Johann Michael Moscherosch, in dessen Gesichten Philanders von Sittewalt die erste und sechste Nummer zu finden sind; Nr. 2, das misogyne Hauskreuz, stammt wohl von dem als Kirchenlieddichter bekannteren Johannes Lassenius, und Ernst Christoph Homburg verdankt sich die antithetische Charakterisierung der bittersüßen Liebe in Nr. 4.3 Auch die restlichen Lieder sind ganz offensichtlich älteren Datums. Da die Flugschrift selbst keinerlei Hinweise gibt, bleibt theoretisch jede Art der Quellenbenutzung denkbar: ein eigenständiges Arrangement aus Drucken des 17. Jahrhunderts, eine Übernahme aus einer späteren Anthologie oder aus anderen Flugschriften, ja sogar eine Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung kann nicht ausgeschlossen werden. Zu einer schlüssigen Lösung des Quellenproblems führt erst die systematische Musterung aller historisch orientierten Lyriksammlungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. 4 Tatsächlich findet sich die Vorlage von Littfas' Fliegendem Blatt in einer zeitgenössischen Blumenlese, allerdings einer reichlich versteckten: Im Jahre 1800 hat August Ferdinand Bernhardt, Freund und Schwager Ludwig Tiecks, im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks einige Blumen vom Gefilde der Dichtkunst. Aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts 2 3

4

Vgl. unten in Anm. 14 (zur Liedflugschrift [37]). Die knappen Zuweisungen bei Bernhardi (unten Anm. 5) konnte ich fur Nr. 2 (»Joh. Lassenius«) nicht verifizieren und fur Nr. 3 (Das Landleben. »Leyermatz's Correspondenz-Geist«) nicht auflösen. Anonym bleiben demnach auch Nr. 5 und 7. Zu ermitteln waren dagegen barocke Quellen für Nr. 1 (Moscherosch: Gesichte, Bd. 1, S. 409^111), Nr. 4 (Homburg: Clio, Bd. 1, Bl. S 5 v f.) und Nr. 6 (Moscherosch: Gesichte, Bd. 1, S. 127). Vgl. Vf.: Barock um 1800, S. 584-641; vorliegende Studie basiert auf den dortigen Quellennachweisen und Datenerhebungen.

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Abb. 1: Sieben schöne Lieder. Ο. Ο. u. J. [Berlin: Littfas nach 1806] [90], Staatsbibliothek Berlin: Yd 7904.90

Dieter Martin

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veröffentlicht Bernhardis schmale Barock-Anthologie von neun Gedichten versteht sich als »kleiner Beitrag zur Geschichte des Geschmacks in jener Periode« und regt dazu an, »eine ausgesuchte Sammlung derselben zu veranstalten«, da »der Kenner mehr Gedanken-Fülle bei ihnen finden« würde, »als bei so manchen unserer neuen Meß-Produkte, die man leider so oft unbefriedigt aus der Hand legt.«5 Ganz offensichtlich hat Bernhardis Zusammenstellung von Barock-Gedichten das Interesse seines Berliner Zeitgenossen Littfas erregt. Denn sämtliche Sieben schönen Lieder stammen aus dem Vorrat, den Bernhardi im historischen Gefilde der Dichtkunst erschlossen hat, und stimmen damit sogar in ihrer Abfolge überein: Bernhardi: Blumen (1800)

Sieben schöne Lieder Littfas-Druck

1. Der Rangstreit (»Man sagt [...]«) [Moscherosch] 2. Adel (»Edel kompt von [...]«) [Moscherosch] 3. Das Hauskreutz (»Ach, was hab [...]«) [Lassenius] 3. [!] Das Landleben (»Mein Vater sei [...]«) [pseud.] 4. Was ist Liebe? 1. »Ein Feuer sonder Feu'r« [Homburg] 2. »Was ist lieben? - Sich betrüben« [Homburg] 3. »Ein Band vereinter Herzen« [anonym] 5. Widersprüche 1. »Ein schönes j u n g e s Weib« [Moscherosch] 2. »Ein Jahrmarkt ohne Dieb'« [anonym] 6

[90])

[nicht übernommen] 1. Der Adel 2. Das Hauskreuz 3. Das Landleben [nicht übernommen] 4. »Was ist lieben? - sich betrüben.« 5. »Die Lieb' ist Band der Herzen.« 6. Widersprüche. »Ein schönes, junges Weib« 7. »Ein Jahrmarkt ohne Dieb'.«

Trotz dieser völligen Abhängigkeit der Flugschrift von einem belletristischen Periodikum lassen sich wichtige textsortenspezifische Differenzen notieren. Im Übergang von der Publikums-Zeitschrift in das Fliegende Blatt entfällt Bernhardis pro-

5

6

Bernhardi: Blumen. - In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 6 (1800), Bd. 2, S. 353-364, hier S. 353. Auffälligerweise sind beide Gedichte Homburgs (Nr. 4, 1. und 2.) gemeinsam in Bernhardis mutmaßlicher Hauptquelle gedruckt, nämlich bei dem dreimal namentlich angeführten Moscherosch (Gesichte, Bd. 1, S. 159f.), den schon Herder als Traditor volkstümlicher Überlieferung empfohlen hatte (Herder: »Stimmen der Völker in Liedern«, S. 178). Speziell auf Homburgs Überlieferung in Moscheroschs Gesichten machte dann Johann Friedrich August Kinderling in seinem 1797 gedruckten Beytrag zur Kenntniß der alten teutschen Volkslieder aufmerksam (Kinderling: Volkslieder. - In: Bragur. Ein Literarisches Magazin der Deutschen und Nordischen Vorzeit 5, 1 [1797], S. 20-38, hier S. 31-34, bes. S. 33) und hat damit wohl Bernhardi auf die Spur gebracht. In der Nachfolge Kinderlings und Bernhardis steht dann auch Arnim, der sich ebenfalls beide Gedichte Homburgs abgeschrieben hat: Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethemuseum, Bestand Ludwig Achim von Arnim, Gedichte 346 und Gedichte 485. Vgl. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, S. 191 (Nr. 1571 und 1572), S. 228 (Nr. F 13) und S. 231 (F 50). Da Ricklefs nur zu Nr. 1571 Moscherosch und Homburg als Quellen nachweist, hat er den Zusammenhang der beiden Manuskripte offenbar nicht erkannt. Tatsächlich überliefert >FDH G 485 < unter der nachgetragenen Überschrift »Was ist Lieben?« die ersten fünf Verse von Homburgs achtzeiligem Epigramm sowie umseitig die teilweise gestrichenen Verse 11-18 aus dessen Lied »Was ist Lieben? | Sich betrüben«; dagegen enthält >FDH G 346< die letzten drei Alexandriner des Epigramms und die erste Strophe sowie weitere gestrichene Verse des Liedes.

>Fliegende Blätter
alten deutschen Lieder< in der Mündlichkeit der Romantik angekommen sind, ist freilich von heute aus nicht mehr zu beurteilen. Sicher stellen die Sieben schönen Lieder mit ihrem antiquierten Textbestand und ihrer ganz eindeutigen Abhängkeit von einer einzigen Quelle aus einem anderen literarischen Milieu einen seltenen Fall dar. Gleichwohl dürfte es erlaubt sein, von diesem Exempel aus das Verhältnis von Liedflugschriften und gehobener Schriftlichkeit grundsätzlicher zu bestimmen: Gerade bei älteren Liedern - so läßt sich vorläufig festhalten - sind die der Oralität näherstehenden Fliegenden Blätter der nehmende Teil und die viel stärker in die Literalität eingebundenen anthologischen Quellen der gebende Partner. Erprobt und differenziert sei diese Arbeitshypothese an einem zweiten Beispiel, den fünf Preußens-Liedern. Nach der neuesten Mode, »Gedruckt und zu bekommen in Berlin bei Littfas«, gezählt mit der Ordnungsnummer [37] (Abb. 2). Der Untertitel dieser Liedflugschrift mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Offenbar nicht der neuesten Mode, sondern wiederum Quellen des 17. Jahrhunderts sind drei der fünf Texte verpflichtet: Nr. 1, der Kriegesruf, stammt von Martin Opitz; Nr. 2, das Lob des Soldaten, folgt einem Gedicht von Simon Dach, und die abschließende Ermahnung an die Soldaten ist Georg Rudolf Weckherlin geschuldet. 8 Die Frage nach der unmittelbaren Vorlage ist bei den Preußens-Liedern komplizierter als bei den Sieben schönen Liedern. Zum ersten mischt dieses Fliegende Blatt ältere Gedichte mit den jüngeren Liedern Nr. 3 und 4. Zum zweiten bietet es keine seltenen Barock-Gedichte, sondern solche, die auch anderswo überliefert sind: etwa in Friedrich Wilhelm Zacharias und Johann Joachim Eschenburgs Auserlesenen Stücken der besten deutschen Dichter von Martin Opitz bis auf gegenwärtige Zeiten (1766-1778), in Johann Gottfried Herders Volksliedern (1777/78), in Friedrich Matthissons Lyrischer Anthologie (1803-1808) und auch im Wunderhorn.9 Und zum dritten sind die barocken Texte mehr oder weniger stark den aktuellen kriegerischen Zeiten angepaßt, um auf diese Weise eben doch der neuesten Mode zu folgen. Gerade diese Modernisierungen erlauben aber,

7

8

9

Bemhardi: Blumen. - In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 6 (1800), Bd. 2, S. 353-364, hier S. 353. Opitz: Weltliche Poemata, Tl. 2, S. 354f. (ohne Titel); Dach, S. 33f. (Perstet amicitiae semper venerabile Faedus!)·, Weckherlin: Gedichte, Bd. 1, S. 496-498 (Ode. Wie man Soldaten vorzeiten \ Laut mit dem mund: | So Sie ietzund \ Ermahnet der Poet zu streitteri). Ζ. B. Zachariä/Eschenburg: Auserlesene Stücke, Bd. 3, 1778, S. 194-197 (Weckherlins Ode unter dem Titel Ermunterung an deutsche Krieger)·, Herder: »Stimmen der Völker in Liedern«, S. 212f. (Dachs Lied der Freundschaft)', Matthisson: Lyrische Anthologie, Bd. 1, 1803, S. 3-5, S. 31 f. und 59f. (Weckherlins Aufruf an die Deutschen, Opitz' Vaterlandslied sowie Dachs Freundschaft)', Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 239 (Weckherlins Schlachtlied [I 254]).

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Dieter Martin

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5· (Ermahnung en bie eolbatitt. g-rifd) a u f , ifjr tapferen «Soibafert. © t i r u e f t unb iu Oefommen in Fliegende Blatten

41

einigermaßen sicher auf eine bestimmte Vorlage der älteren Texte schließen. Denn unter den Barock-Anthologien der Zeit stimmt das Fliegende Blatt am besten mit einer Sammlung überein, die ihm wohl auch chronologisch am nächsten steht: mit den Blumen deutscher Dichter aus der ersten Hälfte des 17ten Jahrhunderts gesammelt von Gerhard Anton Hermann Gramberg, erschienen im Frühjahr 1805 in Oldenburg. 10 Gramberg hat Opitz' Appell »Auff / auff / wer Teutsche Freyheit liebet« bereits den Titel Kriegsruf gegeben und das ursprünglich fünfstrophige Gedicht auf genau jene drei Strophen zusammengestrichen, die auch in den Preußens-Liedern stehen." Markant übereinstimmende Strophenkürzungen deuten ebenso für die beiden anderen Lieder des 17. Jahrhunderts auf eine Abhängigkeit von Grambergs Blumen: Simon Dachs »Der Mensch hat nichts so eigen« steht hier wie dort ohne die originale Schlußstrophe,12 und Weckherlins »Frisch auff, ihr dapfere Soldaten« fehlt in den Preußens-Lieder die gleiche fünfte Strophe wie bei Gramberg, dem auch der Titel Ermahnung an die Soldaten geschuldet ist.' 3 Aus diesen Zu10

Zu Grambergs in der neueren Forschung weitgehend ignorierter Anthologie vgl. Vf.: Barock um 1800, bes. S. 83-85. Gramberg: Blumen, S. X, datiert seine Vorerinnerung auf den 27. Febr. 1805. " Gramberg: Blumen, S. 141 f., bietet (wie nach ihm das Fliegende Blatt) lediglich die erste, zweite und fünfte Strophe des Originals. Überstimmend lautet bspw. V. 4 bei Gramberg und in den Preußens-Liedern: »Vollbringet keine Ritterthat«, während es bei Opitz heißt: »Verbringet« (Opitz: Weltliche Poemata, Tl. 2, S. 354). 12 Gramberg: Blumen, S. 47f. (Lob der Freundschaft). Die gleiche Kürzung findet sich bereits bei Herder: »Stimmen der Völker in Liedern«, S. 212f., dem Gramberg auch seine beiden weiteren Simon Dach-Gedichte verdanken dürfte: Anchen von Tharau (Gramberg, S. 75f., nach Herder, S. 48-50) und Der Brauttanz (Gramberg, S. 207f„ nach Herder, S. 361 f.). ,3 Gramberg: Blumen, S. 215-217. Gramberg seinerseits hat den Text wahrscheinlich Zachariä/Eschenburg: Auserlesene Stücke, Bd. 3, 1778, S. 194-197, entnommen und nach dieser Vorlage gekürzt sowie weiter bearbeitet. Daß Gramberg sich an dieser älteren Sammlung und nicht etwa an der zeitlich näherliegenden Fassung bei Matthisson: Lyrische Anthologie, Bd. 1, 1803, S. 3 - 5 , orientiert hat, legen eine Reihe von Textstellen nahe, an denen Gramberg mit Zachariä/Eschenburg übereinstimmt und von Matthisson abweicht. So gleich in den Versen 1 sowie 4f. (signifikante Stellen sind hervorgehoben): Weckherlin (1641/48; Gedichte, Bd. 1, S. 496): Frisch auff, ihr dapfere Soldaten, [...] Belebet, suchet grosse thaten! Ihr Landsleut, ihr Landsknecht frisch auff, Zachariä/Eschenburg (1778): Frisch auf, ihr tapferen Soldaten, [...] Belebet, suchet grosse Thaten. Ihr Landsleut' und Landsknecht' frisch auf! Matthisson (1803): Frisch auf, ihr muthigen Soldaten, [...] Belebt seid, ringt nach grossen Thaten. Ihr Landsleut', ihr Landsknecht' frisch auf, Gramberg (1805): Frisch auf, ihr tapferen Soldaten, [...] Belebet, suchet grosse Thaten. Ihr Landsleut' und Landsknecht', frisch auf? Die Abhängigkeit der Liedflugschrift von Gramberg belegt (über die übereinstimmende Stro-

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Dieter Martin

sammenhängen ergibt sich, daß das Fliegende Blatt nicht vor Grambergs Blumen, also nicht vor 1805, gedruckt worden sein kann. Bestätigt wird diese Datierung durch den Inhalt vierten Liedes, das die »brave[n] Preußen« gegen den »Franzmann« aufstachelt, der »umsonst mit Austerlitz« prahle, also mit seinem Erfolg bei der >Dreikaiserschlacht< vom 2. Dezember 1805.14 Datiert man das Blatt in die Phase der preußischen Mobilmachung um die Jahreswende 1805/06, dann erklärt sich auch die weit über Gramberg hinausgehende Aktualisierung der Lieder von Dach und Weckherlin. Wird Dachs Lob der Freundschaft in der Flugschrift zu einem Lob des Soldaten kontrafaziert,15 so paßt der anonyme Redakteur Weckherlins Ode des Dreißigjährigen Kriegs den aktuellen Umständen seiner napoleonischen Gegenwart an. Exemplarisch belegt dies eine Gegenüberstellung der Eingangsstrophen: Gramberg: Blumen (1805): Frisch auf, ihr tapferen Soldaten, Ihr, die ihr noch mit deutschem Blut, Ihr, die ihr noch mit frischem Muth Belebet, suchet grosse Thaten. Ihr Landsleut' und Landsknecht' frisch auf! Das Land, die Freyheit sich verlieret, Wenn ihr nicht muthig schlagt darauf, Und überwindend triumphiret. Der ist ein Deutscher wohl geboren, Der, von Betrug und Falschheit frey, Hat weder Redlichkeit noch Treu Noch Freyheit noch Vertraun verloren. Der ist ein Deutscher ehrenwerth, Der wacker, herzhaft, unverzaget,

Preußens-Lieder (Littfas-Druck [37]), Nr. 5: Frisch auf, ihr tapferen Soldaten, ihr, die ihr noch mit deutschem Blut, ihr, die ihr noch mit frischem Muth beleb/ seyd, suchet große Thaten. Ihr Pommern und ihr Märker auf, das Land, die Freiheit sich verliehret, wenn ihr nicht muthig schlagt darauf, und überwindend triumphiret. Der ist ein Preuße wohlgebohren, der vor Betrug und Falschheit frei, hat weder Redlichkeit noch Treu noch Freiheit, noch Vertrau'n verlohren. Der ist ein Preuße ehrenwerth, der wacker, herzhaft, unverzaget,

phenkürzung und Titelformulierung hinaus) exemplarisch V. 23 des Gedichts, der bei Gramberg und im Fliegenden Blatt gleich lautet, aber von den anderen Textzeugen abweicht: Weckherlin (1641/48): Und Er erwirbet lob und ehr, Zachariä/Eschenburg (1778): Und er erwirb/ sich Lob und Ehr, Matthisson (1803): Und er erwirb/ viel Ruhm und Ehr', Gramberg (1805): Und er erwirb/ sich hohe Ehr und er erwirb/ sich hohe Ehr. Preußens-Lieder (Littfas-Druck [37]): Preußens-Lieder, Nr. 4, Str. 1 und 2: »Zieht, brave Preußen, hin ins Feld, es will der Franzmann alle Welt erobern und erringen [...] || Er prahlt umsonst mit Austerlitz, ganz anders schmettert Preußens Blitz, wenn seine Heere kommen.« Hinreichen mag eine Synopse der Eingangsstrophen: Gramberg: Blumen, S. 47: Preußens-Lieder, Nr. 2 (original ohne Versgliederung): Der Mensch hat nichts so eigen, Der Mensch hat nichts so eigen, So wohl steht ihm nichts an, so wohl steht ihm nichts an, Als das er Treu erzeigen als daß er Muth be zeigen Und Freundschaft halten kann; und tapfer fechten kann. Wenn er mit seines gleichen Wenn Feinde ihn bedräuen, Soll treten in ein Band, streckt er sie in den Sand, Verspricht sich, nicht zu weichen, sein Arm nur kann befreien Mit Herzen Mund und Hand. sein liebes Vaterland.

>Fliegende Blätter< Sich für die Freyheit mit dem Schwert 16 In mannige Gefahren waget. 16

43 sich für den König mit dem Schwerdt 17 in blutige Gefahren waget. 17

Dieses zweite Beispiel erlaubt, das Verhältnis von Liedflugschriften und anthologischen Quellen differenzierter zu beschreiben: Zum einen bestätigt sich, daß die Fliegenden Blätter ältere Lieder kaum über längere Zeit selbständig tradieren oder gar aus rezenter mündlicher Überlieferung gewinnen, sondern jüngeren literarischen Zusammenstellungen entnehmen und von dort aus der oralen Liedpflege bereitstellen. Zum anderen werden ältere Lieder in den Flugschriften weit über das Maß hinaus modernisiert, das bearbeitende Anthologen der Zeit sonst praktizieren.18 Gerade diese extreme Anpassung an die Zeitumstände - so lassen sich beide Beobachtungen zusammenführen - ist ein wichtiges Indiz fur die Kurzlebigkeit der Fliegenden Blätter und der in ihnen dokumentierten Liedfassungen.' 9 Zu prüfen ist nun, was diese Befunde für das Wunderhorn und sein Verhältnis zu zeitgenössischen Liedflugschriften bedeuten. Nach den unersetzlichen und nur in wenigen Details zu korrigierenden Studien von Rölleke, die im Apparat der Historisch-kritischen Wunderhorn-Ausgabe festgehalten sind, kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß Arnim und Brentano die Fliegenden Blätter erst eigentlich als Quellengruppe entdeckt haben,20 daß sie viel intensiver Flugschriften benutzt haben als Liedersammler vor ihnen und daß sie ihr Werk damit wesentlich stärker >oralisiert< haben als die (aus ihrer romantischen Sicht) trockenen Blumenlesen wie etwa Matthissons Lyrische Anthologie. Heißt dies aber, daß die bislang skizzierte Überlieferungsrichtung >alter deutscher Lieder< - von der gehobenen Schriftlichkeit über vermittelnde, aktualisierende Fliegende Blätter zur Mündlichkeit21 - für das Wunderhorn nicht oder nur eingeschränkt gilt? Eine Durchsicht der Wunderhorn-QaeWzn ergibt, daß die weitaus meisten älteren, vor 1750 entstandenen Lieder zweifelsfrei originalen frühen Drucken oder neueren gelehrten Vermittlern zu verdanken sind. Größtes Interesse verlangen daher die (vermeintlichen oder echten) Ausnahmen, die auf einen umgekehrten Vermittlungsweg schließen lassen: Fälle also, in denen alte >zersungene< Kunstlieder aus mündlicher Tradition über Fliegende Blätter ins Wunderhorn zu gelangen scheinen.

16

Gramberg: Blumen, S. 215. Preußens-Lieder, Nr. 5, Str. 1 und 2 (original ohne Versgliederung und ohne Hervorhebung der Varianten). 18 Vgl. Vf.: Barock um 1800, S. 124-214. " Vgl. Kopp: Deutsches Volks- und Studenten-Lied, S. 23, der die populäre Überlieferung des 18. Jahrhunderts in weitem Umfange konsultiert und dabei festgestellt hat, daß schon vom Liedgut des Siebenjährigen Krieges »äußerst wenige Fäden in die Zeit vor Beginn der sogenannten Hoffmannwaldauischen Sammlung zurückreichen« (ebd.). 20 Vgl. Rölleke, der auch auf Johann Gottfried Herders und vor allem Johann Wilhelm Röthers vorangehendes Interesse an Fliegenden Blättern hinweist; Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9, 3, S. 776. 21 Damit variiere ich eine Grundthese der neueren Volksliedforschung, wie sie im Anschluß an die Pionierleistung von Meier: Kunstlieder im Volksmunde, in jüngerer Zeit die Studie von Linder-Beroud: Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit?, vorträgt und mit vielen Beispielen illustriert. 17

Dieter

44

Martin

H e r a u s g e g r i f f e n sei ein s i g n i f i k a n t e s B e i s p i e l , das d e m b i s l a n g dargestellten M a terial recht e n g verwandt ist: D a s Kriegslied

des Glaubens

i m ersten

Wunderhorn-

B a n d mit der k o m p l e x e n Q u e l l e n a n g a b e » M ü n d l i c h n a c h Martin Luther Lieder. Zittau 1710. S. 5 0 2 . und Phil, v o n S i t t e w a l d II. B a n d S. 6 9 1 . « 2 2 A u s z u g e h e n ist v o m l i e d g e n e t i s c h e n K o m m e n t a r der Kritischen B r e n t a n o - A u s g a b e : Die Genesis des Liedes stellt sich wie folgt dar: 1527 entstand Luthers berühmtes Lied auf Worte des Psalms 46; 1640 [recte: 1644] rückte Moscherosch die Kontrafaktur in seine Gesichte (ob er selbst den Text für das Kapitel Soldaten-Leben zurichtete oder auf mündliche Überlieferung zurückgriff, steht dahin); Ende des 18. Jh.s (vgl. zu Wh 143) bietet das F l i e gende] Blfatt] die Kontamination beider Fassungen, indem der Text zugleich im Blick auf die preußische Armee verändert und in Einzelheiten überarbeitet wird (ob diese Fassung direkt auf Moscherosch oder auf bereits erwähnte mündliche Tradition zurückgeht, muß wieder unentschieden bleiben; letzteres ist wahrscheinlicher). 23 Trotz m a n c h e r V a g h e i t e n plädiert R ö l l e k e eindeutig dafür, e i n e Flugschrift als » H a u p t v o r l a g e « z u betrachten: die Soldaten-Lieder ( A b b . 3). 2 4 D i e Wunderhorn-Angabe

mit der L i t t f a s - N u m m e r [ 4 2 ]

» M ü n d l i c h « w ü r d e d e m z u f o l g e nicht - w i e

s o n s t b i s w e i l e n - a u f A r n i m s o d e r B r e n t a n o s e i g e n e B e a r b e i t u n g nach gedruckten Q u e l l e n v e r w e i s e n , sondern a u f eine w o h l in oraler Tradition v o l l z o g e n e aktualisierende K o n t a m i n a t i o n , die das F l i e g e n d e Blatt schriftlich festhielte. D i e s e h y p o t h e t i s c h e E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e beruht e n t s c h e i d e n d a u f der A n n a h m e , d i e Soldaten-Lieder

s e i e n früher als der erste Wunderhorn-Band

z u datie-

ren. G e n a u das ist aber k a u m plausibel z u m a c h e n : W e n n s c h o n Littfas' Nr. [ 3 7 ] nicht v o r A n f a n g 1 8 0 6 a n z u s e t z e n ist, dann darf m a n Nr. [ 4 2 ] w o h l e i n i g e M o n a t e später datieren, j e d e n f a l l s deutlich nach d e m E r s c h e i n e n d e s ersten

Wunderhorn-

B a n d e s . G e g e n d i e s e A b f o l g e sprechen a u c h k e i n e s w e g s die anderen G e d i c h t e , die das Wunderhorn

mit d e n Soldaten-Liedern

g e m e i n s a m hat. 25 A u c h hier g e h t

Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhom - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 105-107 (I 112). Ebenda, Bd. 9, 1,S. 248. Ebenda. Folgende Soldaten-Lieder sind auch im ersten Wunderhorn-Band enthalten: Nr. 2: »So gehe tapfer an, mein Sohn.« Wh I 449f. (nach Zincgref/Moscherosch) Nr. 4: »Es ist nichts lust'ger auf der Welt.« Wh I 43: Husarenglaube Nr. 5: »Ein' feste Burg ist unser Gott.« Wh 1112: Kriegslied des Glaubens Nr. 6: »Kein sel'ger Tod ist in der Welt.« Wh I 245: Frommer Soldaten seligster Tod (Schlußstrophe) Ferner zeigt Nr. 3 (»Wir preußischen Dragoner durchstreifen die Welt«) einige Parallelen zu Wh I 188 {Husarenbraut). - Röllekes Hauptindiz für die Datierung der Flugschrift auf »Ende des 18. Jh.s« ist offenbar die Quellenangabe zu Wh I 43: »Fliegendes Blatt aus dem letzten Kriege mit Frankreich« (ebenda, Bd. 6, S. 40, und die Erläuterungen in Bd. 9, 1, S. 122-124). Die Identifikation der Soldaten-Lieder mit diesem »Blatt aus dem letzten Kriege mit Frankreich« (möglicherweise der Revolutionskrieg von 1793) ist aber alles andere als wahrscheinlich. Dagegen sprechen neben der Littfas-Nummer auch die von Ricklefs, Arnims lyrisches Werk, S. 18f. (Nr. 142: »Auf der Brücke der Fähndrich pflanzt«), mitgeteilten Beobachtungen, die Arnims Autorschaft für das in den Soldaten-Liedern als Nr. 7 gedruckte Lied plausibel machen; zu den sich daraus ergebenden Folgerungen vgl. unten Anm. 30.

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>Fliegende Blätter
talenWunderhorn< ist offensichtlich: Auch dort wird das Instrument aus dem Titelgedicht mit dem Oldenburger Horn auf dem Titelkupfer zum 2. Band identifiziert, 51 und wie das gleichnamige Lied den 1. bzw. das Bild den 2. Band der Sammlung eröffnen, so eröffnet hier das Blasen auf dem Horn das Zauberfest. Die erste Textstufe dieser Stelle sprach im übrigen statt von einem »goldenen« noch deutlicher von einem »wunderbaren« Horn. Diese symbolische Präsenz des Wunderhorns zu Beginn des Zauberfestes fugt sich auch insofern sinnvoll in den Kontext der übrigen Bezüge auf die Sammlung ein, als im Fest Poesie und Kunst unter Ausblendung der Literalität als Performance mit Gesang, Spiel und Tanz erscheinen. Insgesamt sind die Referenzen auf das Wunderhorn in der Päpstin Johanna weniger als Rückverweise auf ein abgeschlossen vorliegendes früheres Werk zu verstehen, sondern setzen vielmehr in gewissem Sinne das Wunderhom-Projekt fort: Bekanntlich hatte gerade Arnim, der die Grimmsche Pietät gegenüber einer angeblich »unerfindlichen« Naturpoesie nicht teilte, bereits für das Wunderhorn die Lizenz der Herausgeber zur freien Bearbeitung der Lieder beansprucht. 52 Die Integration in ein Werk wie die Päpstin Johanna, bei der die Wunderhorn-Texte

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Zitiert nach Barkhoff: Magnetische Fiktionen, S. 316. Lübben: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, S. 398. 49 Ricklefs: Magie und Grenze, S. 501; in der Ausgabe Bettina von Arnims findet sich die Stelle in dieser Form nicht. 50 Arnim: Sämmtliche Werke, Bd. 19, S. 450. " Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.2, S. 3 - 5 . Ähnlich im Trinklied im Schlußteil der späten Erzählung Die Heiratsnot des Pfalzgrafen; Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 810. 52 Vgl. Heinz Röllekes Darstellung im Nachwort zu Arnim und Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Reclam), Bd. 3, S. 567-569. 48

»Des Knaben Wunderhorn« und Arnims »Die Päpstin Johanna«

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ebenso adaptiert und dabei ein weiteres Mal transformiert werden wie eigene ältere Dichtungen des Verfassers, erscheint danach durchaus konsequent. Hier wie dort ist weniger das Interesse an authentischem Volksgut leitend, sondern vielmehr die Absicht, durch die Simulation von Oralität und Performativität die Differenz zwischen Natur- und Kunstpoesie wie auch zwischen >hoher< und volkstümlicher Literatur gemäß der romantischen Leitvorstellung einer Universalpoesie zu überwinden.

Uwe Japp

Auftritte: Inszenierte Dramatik in Prosa (»Melück Maria Blainville«, »Don Juan«, »Massimilla Doni«)

Arnim neigt dazu, die Gattungen zu vermischen. So bewirkt einerseits die häufige Einlagerung von Gedichten in die Prosa einen Mündlichkeitseffekt im Raum der Schrift.1 Andererseits ist zu beobachten - und dies ist die arnimspezifischere Variante wie die Sprache des Dramas in die Folge der Narration eindringt. Das einschlägigste Beispiel fur diesen Sachverhalt ist die Päpstin-Johanna-Episode in der Gräfin Dolores? Aber auch andere Beispiele sind zu nennen, bis hin zu der Ausarbeitung einer theaterfernen Dialogizität.3 Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang das Drama Marino Caboga dar, das mit dem Untertitel »Donnerstags-Erzählung des Theater-Dichters« in die Erzählungssammlung Landhausleben von Arnim aufgenommen wurde und seitdem dort seinen irritierenden Platz hat.4 Der gemeinte Sachverhalt konzentriert (und potenziert) sich in der Konfiguration einer >inszenierten Dramatik in ProsaDramatik in Prosa< nicht Dramatik schlechthin ist, sondern >inszenierte Dramatikverwandte< Erzählungen vergleichend heranzuziehen: zum einen Don Juan (1813) von E.T.A. Hoffmann, zum anderen Massimilla Doni (1839) von Honore de Balzac. Der Vergleich gibt Hinweise auf eine Typologie der »performa-

1

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5

»[...] das sang er frisch weg [...]«, heißt es z.B. in Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber, in: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 799. Arnim: Gräfin Dolores - ebenda Bd. 1, S. 491-503. Hier wird das Verfahren eines mehrfachen Wechsels von Dialog und Prosa besonders anschaulich. Zu weiteren >Drameneinlagerungen< in der Gräfin Dolores siehe ebenda, S. 312-319 (Tragikomödie von dem Fürstenhause und der Judenfamilie) u. S. 592-615 (Hylas). Mehrfach zu beobachten in der Erzählungssammlung Der Wintergarten - ebenda Bd. 3, S. 164 f., S. 188 ff., S. 272 ff. Arnim: Marino Caboga - ebenda Bd. 4, S. 664-717. Eine gewisse Relativierung ergibt sich aus dem zweiten Untertitel: »Dramatische Erzählung in drei Handlungen«. Ebenda, S. 664. Siehe dazu die ebenso einschlägigen wie eigenwilligen Bemerkungen bei Bai: Mise en scene. Zur Inszenierung von Subjektivität, S. 198-221.

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Uwe Japp

tiven Sprache« 6 , gerade weil Hoffmann und Balzac ähnlich und different verfahren, ohne notwendigerweise auf Arnim zu rekurrieren. Wiederum anders verhält es sich mit Eichendorff, der zwar mit Das Schloß Durande (1837) deutlich an Melück Maria Blainville anschließt, aber ausgerechnet das Element der > inszenierten Dramatik in Prosa< wegläßt, folglich zu der oben genannten Typologie nicht (bzw. nichts) beiträgt. 7 So wie der Name der Arnimschen Protagonistin und der Titel der Erzählung dreiteilig konzipiert sind, so läßt sich auch die Deutung des Gehalts bzw. der Gattung in drei Richtungen entfalten. Demzufolge handelt es sich erstens um eine Liebesgeschichte (die genau besehen eine Dreiecksgeschichte ist), zweitens um eine Künstlernovelle und drittens um eine Revolutionserzählung. Man könnte freilich auch von einem narrativen Eklat des Wunderbaren sprechen, wenn man bedenkt, daß in diesem Text eine Kleiderpuppe es vermag, Umarmungen auszuführen und zielsicher mit Kränzen zu werfen. Die zupackende Kleiderpuppe, die eine gewisse Verwandtschaft mit der Statue in Arnims Raphael-Erzählung unterhält, 8 da es sich ja tatsächlich in beiden Fällen um Exempel der belebten Plastik, also eine Variation des Pygmalion-Motivs, handelt, war den Zeitgenossen besonders anstößig. 9 Man wird immerhin zugeben müssen, daß eine Kleiderpuppe dem Projekt ihrer eigenen Belebung nicht sonderlich nahesteht, da es sich nicht einmal um ein Werk der Kunst handelt, sondern um ein Instrument der Dekoration. Arnim hat hier offenbar der traditionsreichen Imagination der Belebung des Leblosen eine skurrile Note beigemischt. Was den Eklat des Wunderbaren angeht, so wird die Merkwürdigkeit der Kleiderpuppe durch den Herz-Zauber und die damit in Zusammenhang stehenden weiteren Zauberkunststücke (die blaue Jacke als Fetisch, die Extrembeschleunigung der Lebensbahn eines Schmetterlings usw.) noch überboten. In diesen Teilen der Erzählung dominiert die Irrealität des Phantastischen, ohne die Erzählung im ganzen zu charakterisieren. Denn das Phantastische wird gerade nicht an sich interessant, sondern erfüllt seine erstaunlichen Wirkungen in funktionaler Hinsichtnahme auf die oben genannten Ebenen der Erzählung (Liebe, Kunst [bzw. Schauspiel], Revolution). Dem entspricht, daß die Gründe des Phantastischen nicht durchweg rätselhaft sind. Vielmehr wird der den Gang der Handlung skandalisierende Herz-Zauber von dem in diese Dinge seinerseits eingeweihten Frenel sogleich als eine (im Orient) geläufige Praxis durchschaut und entlarvt. Sonderbar bleiben freilich die Manipulationen der Kleiderpuppe. Die Überschneidung der Liebesgeschichte mit der Revolutionserzählung verweist auf das (oder ein) Spezifikum des Arnimschen Erzählens: die Kontamination des Individuellen mit dem Allgemeinen, konkreter: die Engführung des Singulären 6 7

8 9

Culler: Literaturtheorie, S. 137-155. Zum Thema allgemein, wenn auch aus anderer Perspektive, siehe Selbmann: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans. Neuerdings: Raith: Erzähltes Theater. Szenische Illusionen im europäischen Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen, Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 259-315. Siehe ebenda Bd. 3, S. 1291 (Wirkung).

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(bzw. Imaginären) mit dem Historischen. Dies ist der Grund für den Erzähler des Rahmens der Novellensammlung von 1812, die Melück Maria Blainville-Erzahlung als »Zwillingsschwester« 10 der zuvor dargebotenen Isabella von ÄgyptenErzählung zu bezeichnen. Die Gebrüder Grimm, denen Arnim die Sammlung gewidmet hatte, waren gerade von diesem Verfahren nicht erbaut." In der Tat wird dem historischen Sinn einiges zugemutet, wenn allbekannte Personen oder Sachverhalte der Geschichte nicht nur mit erfundenen Gestalten zusammengebracht werden, was eine mehr oder weniger gewöhnliche Usance des Erzählens darstellt, sondern darüber hinaus mit gänzlich irrealen Repräsentanten phantastischer Welten in Kontakt treten (Alraune, Golems, Bärenhäuter). Für Arnim ist indes gerade diese »Abweichung und Vermischung«, wie Jacob Grimm es nennt, 12 charakteristisch, so daß es für den Leser nicht ganz überraschend sein sollte, wenn eine Schneiderpuppe in die Wirren der Französischen Revolution bei Marseille eingreift. Allerdings hat Arnim das Mittel einer phantastischen Tingierung auch nicht ubiquitär gebraucht. Eine Merkwürdigkeit der Rezeption besteht vielmehr darin, daß gerade solche Erzählungen, die dieses Ingrediens, das ja unabweisbar als ein Signum der Romantik aufzufassen ist,13 nicht oder kaum enthalten, sich besonderer Beliebtheit erfreuen, wie es mit einer anderen in und bei Marseille spielenden Geschichte der Fall ist.14 Daß Arnims Melück-Erzählung eine ungünstige Konstellation von Glück und Politik vor Augen führt, ist nicht zu übersehen. Und die Kunst? Auf den ersten Blick scheint sie keine große Rolle zu spielen, so daß sie von Fall zu Fall unbeachtet bleiben mag. 15 Auf den zweiten Blick wird hingegen eine Motivverweisung bemerkbar, die vielleicht nicht (allein) dominant ist, die aber auch nicht vernachlässigt werden darf. Melück ist Araberin und Prophetin. Beides ist bemerkenswert; das eine für Arnims Interesse an ethnischen Minderheiten, das andere für das phantastische Potential der Erzählung. Aber Melück ist auch Schauspielerin. 16 Freilich ist sie dies nicht von Anfang an und auch nicht auf Dauer. Aber die entscheidende Demütigung, die dann das Folgende weitgehend bestimmt, betrifft sie in diesem Beruf. Ihren ersten, noch uneigentlichen Auftritt hat sie auf den Planken eines Schiffes, mit dem sie die französische Küste zu erreichen sucht, was aber nicht sogleich gelingt, da eine »Maltheser Galeere« 17 in räuberischer Absicht die Anlandung verhindert, wie ein allwissender Erzähler, der aber nicht alles mitteilt, aus einer Art Vogelperspektive berichtet. Die Erscheinung der »hohe[n] weibliche[n]

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Ebenda, S. 744. " Siehe ebenda, S. 1267 ff. 12 Ebenda, S. 1270. 13 Vgl. Kreraer: Romantik, S. 1, ferner S. 166-171. 14 Siehe Himmel: Achim von Arnims »Toller Invalide« und die Gestalt der deutschen Novelle. 15 Siehe Schulz: Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. 1806-1830, S. 408. - K r e m e r : Romantik, S. 167-168. 16 Siehe Hoermann: Achim von Arnims Erzählung »Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien«. 17 Arnim: Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien. Eine Anekdote - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 745.

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Gestalt« 18 und die »in französischer Sprache« 19 artikulierte Bitte um Schonung beruhigen dann die Gemüter und führen zur Beilegung der Streitigkeiten. Soweit die Wirkungen dieses ersten vorszenischen Auftritts. Der Erzähler nimmt den Faden seiner Narration zwei Monate später wieder auf: anläßlich der in Marseille vollzogenen Taufe seiner »großen, herrlichen« 20 Protagonistin, die »nicht mehr ganz jung zu sein schien«, wie der Erzähler aus der Perspektive der sie bewundernden Gesellschaft anmerkt, der aber offenbar selbst nicht ganz genau im Bilde ist, wie es das gelegentliche Schicksal eines pseudoomniszienten Erzählers mit sich bringt. Ihr Aufenthalt im Kloster währt indes nur kurz, da sie noch vor Ablauf ihres Probejahrs diese religiöse Institution wieder verläßt, um Schauspielunterricht zu nehmen. Der Erzähler verfugt erneut über nur geringe Binnensicht und muß vielmehr auf umlaufende Meinungen achten: »Viele nannten ihre Frömmigkeit und ihre Taufe, die erste Rolle und mußten eingestehen, daß dieses Debüt gelungen [.,.]«.21 Die Stelle ist geeignet, M e l ü c k - oder, wie sie jetzt mit ihrem vollständigen Hybridnamen heißt, Melück Maria Blainville - in ihrer neuen Profession als Schauspielerin zu exponieren. Das Merkwürdige (und wiederum das Wunderbare Streifende) hieran ist, daß sie kaum Zeit braucht, um gleichsam aus dem Nichts und nur mit Hilfe einer alten Schauspielerin mit dem Namen Banal (sie!) zur allseits anerkannten und bewunderten Akteurin zu avancieren.22 Zwar zeigt sie ihre Kunst vorerst nur in privaten Gesellschaften, da ihr Debüt im Schauspielhaus erst in einigen Monaten stattfinden soll. Gleichwohl ist sie bereits in diesen Gesellschaften ein Phänomen, dem Kritik fremd ist. In einer dieser Gesellschaften begegnet sie dem kritikbereiten Saintree, woraus sich zwei Auftritte ergeben, durchaus szenisch, aber noch vor dem öffentlichen Debüt, dem unser Hauptinteresse gilt. Der erste Auftritt wird rein narrativ referiert, mit der schon bekannten Merkwürdigkeit einer gleitenden Fokalisierung. Eben noch behauptet der Erzähler mit seiner auktorialen Autorität die singulare Schönheit der Darstellung, und schon nach einem Semikolon - , wird das Urteil der Miene der Umstehenden zugeschoben. 23 Die eigentliche Aufführung - die Performance - wird indes ausgespart. Es bedurfte nur eines Winks, so der Erzähler, »um sie zu bewegen, einige der leidenschaftlichsten Stellen der Phädra mit ihrem morgenländischen Feuer herzusagen.« 24 Aufforderung und Urteil fallen in der Narration zusammen. Übergangslos folgt die Bestätigung der gelungenen Darbietung, die dann von Saintree in Zweifel gezogen wird. Unter dem Gesichtspunkt einer inszenierten Dramatik in Prosa ist zu sagen, daß der Anteil der Inszenierung beinahe gänzlich ausfallt. Der Erzähler

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Ebenda. Ebenda, S. 746. Ebenda, S. 747. Ebenda, S. 748. »Ob sie der neuen Kunst wirklich tauge, kam erst dann zur Sprache, als sie die kritisierenden Hausbekannten der alten Banal in dem Fache des Hochtragischen entzückte, als die Kenner in ihr das ausgezeichnete Talent begrüßten.« Ebenda. Ebenda, S. 751. Ebenda, S. 750-751.

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beläßt es bei einer Verweisung, mit der Racines Phädra als Referenztext evoziert wird. Da er allerdings keine genaueren Angaben macht, sondern nur einen Zustand des Textes (»einige der leidenschaftlichsten Stellen«) und einen Modus der Ausführung (»mit [...] morgenländische[m] Feuer«) benennt, bleibt es dem Leser überlassen, den Wortlaut - und manches andere - der Darbietung zu imaginieren. Das Resultat dieser Imagination hängt nicht nur von dem Leser als solchem ab, sondern auch vom Umfang und der Präsenz seiner Racine-Kenntnisse. Der nächste Auftritt wird in dieser Sache konkreter. Er findet in Melücks Wohnung statt, also wiederum noch nicht im Theater. Entsprechend ist man hier mit Belehrungen und Korrekturen beschäftigt. Daß Melück die Kritik und nunmehr auch den Rat des Grafen akzeptiert, ist nicht allein in seinem überlegenen Kunsturteil begründet, sondern ebenfalls in der Passion, die sie für ihn empfindet. Tatsächlich scheinen der Schauspielerin elementare Kenntnisse ihres Berufes zu fehlen; was erneut mit Verwunderung an die Kürze ihrer Ausbildung denken läßt. Insbesondere weiß sie nicht, »wie die berühmtesten Pariser Schauspielerinnen den Mantel« 25 tragen und bewegen, was für eine Spezialistin des hochtragischen Faches, die demnächst als Phädra debütieren will, zweifellos von Nachteil ist. Saintree ist indes ein Kenner der Materie und auch in der Lage, jede Stellung, Bewegung und Drapierung vorzuführen. 26 Da er sich wegen der Anstrengung des Spiels und der ungewöhnlichen Hitze seines (Liebes-) Rockes entledigt, kommt es hier zur schon erwähnten ersten großen Szene der Gliederpuppe. All dies wird beschrieben bzw. erzählt. Erst auf dem Höhepunkt der Leidenschaft geht die Prosa in Dialog über, diesmal mit genauer Versangabe, so daß der Leser in der Lage ist, den dramatischen Hypotext sich über das in der Erzählung Gebotene hinaus zu vergegenwärtigen. Jetzt nahm er selbst den roten goldgestickten Mantel über und deklamierte, indem er sich zu der Puppe hingewandt hatte, die letzten Reden der Phädra am Schlüsse des vierten Aufzuges, die sich schließen mit den beiden Versen: Detestables flatteurs, present le plus funeste, Que puisse faire aux rois la colere celeste.27

Hierauf also hebt die Gliederpuppe die Hände, applaudiert und krönt den deklamierenden Grafen mit »eine[m] blühenden Granatenkranz«. 28 Sieht man von dem naturgemäß alles Interesse auf sich ziehenden Eklat des Wunderbaren ab und achtet vielmehr auf die Form der inszenierten Dramatik in Prosa, so ist zu sagen, daß sich das Verfahren der Vergegenwärtigung dergestalt differenziert hat, daß einerseits wiederum ein dramatischer Text (Phädra bzw. Phedre) als ganzer evoziert wird, daß andererseits nun eine bestimmte Stelle (Akt IV, Szene VI) zitiert wird. Evokation und Zitation also. Die Einschränkung des zweigleisigen Verfahrens besteht darin, daß die Evokation überkomplex ist, die Zitation unterkomplex. Im

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Ebenda, S. 752. Ebenda. Ebenda, S. 752-753. Ebenda, S. 752.

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Zusammenhang des angeführten Auftritts in Melücks Wohnung wird dies indes nicht zum Problem, da es hier von vornherein nicht darum geht, ein ganzes Drama bzw. ein Drama als Ganzes in Prosa zu vergegenwärtigen. Dies ist vielmehr die unerfüllte Ambition der Debüt-Szene. Das Debüt der Schauspielerin steht deshalb unter einem schlechten Stern, weil sich hier die Liebesgeschichte auf ungünstige Weise mit der Künstlernovelle überschneidet. Die Künstlerin hätte vielleicht ihre Rolle auf erwartungsgemäß souveräne Weise spielen können, wenn nicht der inzwischen untreu gewordene Liebhaber anwesend wäre. Anstatt sich auf ihren Text zu konzentrieren, sucht sie die Blicke des Grafen. Jetzt trat Phädra auf - allgemeine Stille; aber wie erschraken alle Freunde der Melück, als sie nicht mit der Schwäche nach großer Leidenschaft, die sie sonst so herrlich darzustellen wußte, die ersten Worte sprach: N' allons plus avant ... sondern, wie von einem bösen Geiste besessen, mit Heftigkeit die Worte hervorstieß und im ganzen Hause umherblickte, als hätte sie ihre Worte verloren, und suche sie auf den Lippen der Zuschauer zusammen, die freilich meist alle die Stelle auswendig wußten und leise vor sich her sagten.29

Auf solche und noch unglücklichere Weise fährt sie, bei zunehmend undeutlicherer Artikulation (»als wenn der Sturmwind vor ihrem Munde rauschte«), fort, bis an der Stelle »[...] tout m' afflige et me nuit, et conspire ä me nuire« die Darbietung durch Gelächter und Pfiffe, in die unglücklicherweise auch der Graf einstimmt, unterbrochen wird. Es ist diese Demütigung, die, jenseits der Vorstellung, den handlungsrelevanten, aber wenig kunstaffinen Herz-Zauber zur Folge hat. Daß der Graf nicht binnen kürzester Zeit hieran stirbt, verdankt sich dem Umstand, daß die erfolglose Schauspielerin als Schauspielerin demissioniert, um Dienste als Hausprophetin anzunehmen. Den aufgeschobenen, aber immer noch frühzeitigen Tod des Grafen kann dann auch die Hausprophetin nicht aufhalten, weil an diesem Punkt die Revolutionserzählung ihre (aus Sicht des Erzählers) unerfreulichen Wirkungen entfaltet. Formal gesehen funktioniert die Debüt-Szene ähnlich wie der Probe-Auftritt. Qua Nennung und Ankündigung wird ein ganzes Drama evoziert, von dem dann in diesem Fall - zwei Einzelstellen wörtlich zitiert werden. Durch Aneinanderreihung zweier auseinanderliegender Passagen ergibt sich bereits die andeutungsweise Illusion eines Verlaufs. Diese wird noch verstärkt durch die Einfuhrung eines Publikums, das ganze Stellen (wenn auch nicht das ganze Stück) auswendig kennt. Evokation und Zitation als Formen inszenierter Dramatik in Prosa also auch hier. Was aufs Ganze der Erzählung vermißt werden könnte und eigentlich auch müßte, ist eine enge inhaltliche Relationierung von Erzählung und Schauspiel. So wie es ist, ist nach dem Theaterskandal von Racine und seinem Stück nicht mehr die Rede. Und auch in der Zeit vor der Aufführung und während der Aufführung selbst interessierten ja überwiegend die technischen Aspekte der Darstellung. Tatsächlich sind die Personenverhältnisse in Racines Tragödie und in Arnims Erzählung so verschieden, daß sie kaum zur Deckung zu bringen sind.

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Ebenda, S. 759.

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Was hingegen als tertium comparationis ins Auge springt, ist die Untreue einzelner Akteure (dort Phädra, hier Saintree), allerdings, wie gesagt, in durchaus verschiedener Richtung. So bleibt es bei einer die Untreue und ihre Folgen beschwörenden Allusion. Daß in dieser Sache auch andere Relationierungen denkbar sind, zeigen E.T.A. Hoffmann und Balzac. E.T.A. Hoffmanns kurze Erzählung aus den Fantasiestücken in Callot 's Manier ist zu großen Teilen mit der Darstellung einer Aufführung des Don Giovanni befaßt. Bedenkt man, daß die Erzählung außerdem noch die Begegnung des Erzählers mit der Primadonna als phantastisches Rencontre bietet, weiterhin eine satirische Abkanzelung des Publikums in zwei Abschnitten, von denen der zweite in Dialogform gehalten ist, schließlich noch Raum bleibt für die spezielle Aneignung der Oper in der Erzählung bzw. für die Relationierung des einen mit dem anderen, so leuchtet ein, daß auch hier ein Verfahren der Selektion gewählt werden mußte, um eine Oper, die zwei Akte und insgesamt sechsunddreißig Szenen umfaßt (und deren reale Spieldauer ca. drei Stunden ausmacht) als Teilelement auf vierzehn Buchseiten 30 unterzubringen. Im großen und ganzen verfährt Hoffmann ähnlich wie Arnim, indem auch hier die Verfahren der Evokation und der Zitation zur Anwendung gelangen. Allerdings ist die Don Jwöw-Erzählung in dieser Hinsicht ausführlicher, da sie sich ausschließlicher auf die inszenierte Dramatik in Prosa konzentriert, während Arnims Erzählung, wie gesehen, andere Schwerpunkte ausgebildet hat. Genau genommen verhält es sich sogar entgegengesetzt: Während Racines Phädra als eine insuläre Einlagerung in Arnims Afe/wcfc-Erzählung erscheint (freilich mit vielfältigen Auswirkungen auf das Ganze), bleibt Mozarts Oper der beharrende Gegenstand des Hoffmannschen Fantasiestücks. Die Evokation weitet sich zur Erzählung aus, die mit kurzen Zitaten abwechselt bzw. von diesen unterbrochen wird. So wie die Evokation (als Erzählung) in Don Juan ausführlicher ist, so sind auch die Zitate zahlreicher. Insgesamt werden acht besonders einschlägige (und im Ohr klingende) Stellen im Text angeführt: von Leporellos anfänglichem Verdruß (»Notte e giorno faticar« 31 ) über die Anmahnung der Untreue (»Tu nido d'inganno« 32 ) und die Ankündigung des Festmahls (»gia la mensa e preparata!« 33 ) bis zu Donna Annas den »hochzeitslustigen Bräutigam« distanzierender Bitte um Aufschub (»lascia, ο caro, un anno ancora« 34 ). So gelangt also Hoffmanns Erzählung, im Gegensatz zum Phädra-Skandal bei Arnim, tatsächlich ans Ende der Auffuhrung. Und welche Bedeutung erlangt die Aufführung fur die Erzählung? Wie leicht einzusehen ist, ist hier wenig Raum fur Anwendungen oder ein vergleichendes Drittes, da ja die Erzählung, anders als bei Arnim, kaum eigene Interessen verfolgt, vielmehr gänzlich auf Mozarts Oper und ihre Darstellung fixiert bleibt. Freilich auch auf eine Darstellerin. Die Bedeutung der

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So in der folgenden Ausgabe, nach der hier zitiert wird: Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2.1, S. 83-97. Ebenda, S. 84. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 96.

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Aufführung für die Erzählung liegt nicht in etwas anderem, sondern in der Aufführung bzw. in der Oper selbst. Es ist deshalb konsequent, wenn die besondere Form der Relationierung hier die Gestalt einer Interpretation annimmt. Der reisende Enthusiast verbringt den ersten Teil der Erzählung in der Loge des Theaters, in einem Zwischenstück lauscht er den Gesprächen an der Wirtstafel, um vor deren »dummklug[er]« 35 Unzuständigkeit wieder in die Loge des nunmehr leerstehenden nächtlichen Theaters zu fliehen. Ein kurzes Gespräch an der Wirtstafel, aus dem sich unter anderem ergibt, daß in dem Moment, in dem er glaubte, Donna Annas Stimme zu hören, diese verstorben ist, schließt die Erzählung ab.36 Es ist der zweite Besuch in der Loge, der der Interpretation der Oper gewidmet ist. Der Erzähler, der zugleich ein Verfasser von Briefen ist, fühlt sich hier aufgelegt, seinem Freund Theodor mitzuteilen (genauer: »wenigstens anzudeuten«): »wie ich jetzt erst das herrliche Werk des göttlichen Meisters in seiner tiefen Charakteristik richtig aufzufassen glaube.« 37 Man kann es folglich auch falsch verstehen. Dies ist Sache der Philister an der Wirtstafel, über die es schon vorher hieß, »daß wohl keiner die tiefere Bedeutung der Oper aller Opern auch nur ahnete.« 38 Hoffmanns Erzählung nimmt hier ersichtlich eine hermeneutische Wende, indem sie die tiefere Bedeutung mit der richtigen Auffassung identifiziert. 39 Die falsche Auffassung besteht darin, in Don Juan (wie die Erzählung ihn nennt) einen bloßen Frauenhelden zu sehen. Die tiefer sehende Deutung entschlüsselt dagegen Don Juans notorische Unrast (»Ma in Ispagna son giä mille e tre [...]«) als die Sehnsucht nach Erfüllung der himmlischen Verheißung im Diesseits. 40 Hoffmanns Erzählung impliziert folglich eine Aufwertung des Helden. Der obsessive Erotiker wird zu einem romantischen Philosophen, der dem letzten Rätsel des Daseins auf der Spur ist, unglücklicherweise aber darauf verfallt, die Lösung im »Genuß des Weibes« zu vermuten.41 Eventuell sind hierbei aber auch Manipulationen des Satans zu unterstellen, wie der enthusiastische Interpret zwischen und in den Zeilen andeutet. Daß ein Fantasiestück in Callots Manier in ein Exerzitium der Auslegungskunst übergeht, ist zweifellos merkwürdig. Hoffmann mildert aber diese Merkwürdigkeit erstens dadurch, daß die eigentliche Interpretation in einem wenig schulmäßigen Ton vorgetragen wird, zweitens dadurch, daß der Erzähler, weit entfernt von jeder szientifischen Nüchternheit, gelegentlich »in eine Art Somnambulismus« 42 zu geraten scheint.43 Massimilla Doni ist der Name der schönen Protagonistin in Balzacs gleichnamiger Erzählung. Ursprünglich - oder alternativ - hatte Balzac erwogen, der

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Ebenda, S. 90. Zur Frage der Realitätsebenen siehe Meier: Fremdenloge und Wirtstafel. Zur poetischen Funktion des Realitätsschocks in E.T.A. Hoffmanns Fantasiestück »Don Juan«. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2.1, S. 92. Ebenda, S. 90. Dazu Wellbery: Ε. T. A. Hoffmann and Romantic Hermeneutics. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2.1, S. 93. Ebenda. Ebenda, S. 88. Zur Interpretation der Don Juan-Eizählung siehe auch Ellert: Theater in der Erzählkunst, S. 41-55.

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Erzählung den Titel Une Representation de l Opera de Mose zu geben, 44 was zweifellos den performativen Charakter dieser »Etüde philosophique« noch deutlicher gemacht hätte. Indes war es nicht notwendig, diese paratextuelle Maßnahme zu ergreifen, da dem Leser auch so unmittelbar einleuchtet, daß er es mit einer Narration zu tun hat, in deren Zentrum die Darstellung einer (Opern-) Auffuhrung steht.45 Wiederum ist hier von Interesse, wie dies geschieht - und zu welchem Zweck. Um vorab die Relation zwischen Präsentation und Repräsentation zu klären, ist zu sagen, daß es in Balzacs Erzählung neben der Musik noch andere Gegenstände gibt, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen. In der Hauptsache handelt es sich um die Liebe und um die Politik. 46 Hierin liegt eine Ähnlichkeit mit Arnims Melück-Erzählung. Andererseits gelingt es Balzac, obwohl es zu ähnlichen Störungen im Parkett kommt wie bei Arnim, die Auffuhrung >als ganze< vorstellig zu machen, worin wiederum eine Vergleichbarkeit mit Hoffmanns Don Jwa/j-Darstellung zu sehen ist.47 Die erwähnten Liebesverhältnisse betreffen die Protagonistin der Erzählung und ihren fürstlichen Liebhaber einerseits, die Sängerin und den Sänger der Hauptrollen der Oper in der Erzählung andererseits. Die Störung der Inszenierung ergibt sich daraus, daß sich das Begehren (wie bei Arnim) zu einer nicht vorgesehenen Partnerin verirrt hat. In der Folge ist es allerdings nicht die Primadonna, der es die Stimme verschlägt. Vielmehr gerät der ihr zugeordnete Sänger-Kollege in den seltsamen Fall, seine ansonsten gänzlich unbezweifelte vokale Kompetenz zu einer Art Gurgeln (»absurdes gargourillades« 48 ) herabzustimmen, ohne dies selbst zu bemerken. Die an sich peinliche und das Parterre tatsächlich empörende Entgleisung, die nicht musikalisch, sondern amourös motiviert ist, fuhrt indes nicht, wie schon angedeutet, zum Abbruch der Aufführung, was angesichts der insgesamt auffallig tumultuarischen Begleitumstände dieser »Representation« auch verständlich ist.49 In Massimilla Doni gibt es einen auktorialen Erzähler, der das nur wenige Tage umfassende Geschehen entwickelt, allerdings nicht, ohne gelegentlich ganze Lebensgeschichten mit ausfuhrlichen Rück- und Vorausblicken einzuschalten. Zur Darstellung der Oper in der Erzählung hat Balzac das zusätzliche Arrangement ersonnen, die Protagonistin als Interpretin fungieren zu lassen. Zur Plausibilisie-

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Balzac: Massimilla Doni, S. 543-619; dazu: Notes et variantes, S. 1525-1562, hier S. 1548. Zudem hat der verworfene Altemativ-Titel den offensichtlichen Nachteil, so zu klingen, als kündige er die Rezension eines Musikkritikers an. Um eine Rezension handelt es sich aber gerade nicht. Hinzu kommen >italienische BesonderheitenSprachgeschehenGräfin Dolorese S. 58-60. Christof Wingertszahn betrachtet Arnims erzählerisches Werk im Kontext der romantischen Auffassung von »Sprache als Medium der Weltvermittlung« und geht vor allem auf Arnims »Rekurrenz von Leitworten« und deren semantische Verkettung ein, die Ambiguität hervorruft - Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim, S. 121-123. So stellt etwa Johannes Schreyer fest, daß Arnims Figuren »visuelle Typen« sind, deren Rede »abhängig von äußeren Eindrücken« sei und somit »am Dinglichen entlang« gleite, vgl. Schreyer: Die psychologische Motivierung in Arnims Dramen, S. 115. Dorothea Streller bezeichnet Arnims Sprache in den Dramen als »ermüdend«, da die Figuren »unbeweglich nebeneinander [stehen], und eine jede redet in ermüdender Direktheit daher, was mitzuteilen ist« - Streller: Arnim und das Drama, S. 53. Hamburger: Die Logik der Dichtung, S. 175. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 149. Nach der Terminologie von Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 29-30: »Der Name [performativ] stammt natürlich von >to performvollziehenvollzieht< Handlungen.«

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narrative und deskriptive Elemente zugunsten der Darstellung von Handlung zurücktreten läßt. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Arnims Schaubühnen-Dramen tendenziell von dieser dramatischen Redestruktur abweichen. Auf phonetischer, semantischer und performativer Ebene kommt es immer wieder zu Verdoppelungen, die gelegentlich zu einer Auflösung der dramatisch-dialogischen Situation fuhren und teilweise an Gestaltungsprinzipien des Dramas aus dem frühen 17. Jahrhundert erinnern. Anhand einzelner Beispiele aus den freilich heterogenen Stücken der Schaubühne sollen einige sprachliche Besonderheiten begrifflich bestimmt und geordnet werden. Zudem interessiert am Ende die Frage, warum Arnim diese Gestaltungsprinzipien anwendet. Die gereimten Versdramen Das Frühlingsfest und Das Loch werden in die Analyse nicht mit einbezogen, da sie durch Metrum und Reim restriktiveren Regeln unterliegen als die in Prosa geschriebenen anderen acht Stücke und daher ein anderes methodisches Vorgehen erfordern würden. 7 Bei der Analyse der sprachlichen Eigentümlichkeiten in Arnims Dramen geht es nicht ausschließlich darum, wörtliche Übereinstimmungen zwischen Arnim-Stück und den jeweiligen Vorlagentexten aufzuzeigen, 8 sondern die Besonderheiten seiner eigenen dramatischen Sprache zu akzentuieren, die sich aus der Differenz zwischen Vorlage und Schaubühnen-Stück ergeben. Gegenstand der Untersuchung sind die Verwendung von Wortspielen, die refrainartige Wiederholung einzelner Wörter in den Repliken, der Gebrauch von Sprichwörtern, die Häufung von Adjektiven sowie die sprachliche Verdeutlichung des Handlungsgeschehens. Daß dabei sprachliche Merkmale einzelner Stücke nicht immer genügend berücksichtigt werden, ließ sich in einzelnen Fällen nicht vermeiden; wo sie jedoch nach gesonderter Untersuchung verlangen, wurde diese angestrebt. Klangassoziationen und Wortspiele werden in den Dramen wie auch in narrativen Texten Arnims häufig verwendet und fallen wegen ihrer Eigentümlichkeit ins Auge. 9 In einigen Fällen läßt sich das von Arnim verwendete Wortspiel nur als 7

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Freilich muß hier einschränkend bemerkt werden, daß Die Befreiung der Spanier aus Wesel, Der Auerhahn, Teile des Stückes Jemand und Niemand sowie Jann 's erster Dienst in Jamben verfaßt sind und dadurch ähnlich restriktiven rhythmischen Regeln unterliegen. Auf Arnims »Erfindung der unbestimmten Jambenzeile« (Arnim an Brentano, 16. Januar 1813, in: Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 672) wird im folgenden nicht eingegangen, da vor allem die verdoppelnden Textstrategien in den Fokus der Untersuchung gerückt werden. Arnims Verwendung von Jamben resultiert aus einer Eigenart seiner Arbeitsweise, wodurch sich Rhythmus und Klang der Worte oft schneller einstellen als der Sinn, vgl. Moering: Die offene Romanform von Arnims >Gräfin Dolorese S. 56. Das Übernehmen wörtlicher Passagen aus den Vorlagen ist vor allem bei den Dramenadaptionen Jann 's erster Dienst, Herr Hanrei und Maria vom langen Markte, Der wunderthätige Stein sowie Jemand und Niemand der Fall. Hier stützt sich Arnim jeweils auf Stücke aus dem 16./17. Jahrhundert, orientiert sich besonders am Dramenanfang an der Vorlage und paßt sich auch bei Veränderung des plots weitestgehend dem sprachlichen Duktus des Vorgängertextes an, modifiziert jedoch dabei obszöne, derb-witzige Passagen. Die häufige Verwendung von Wortspielen in Arnims Prosatexten ist in der Forschung immer wieder angemerkt worden, so etwa bei Esser: Über die Sprache in Achim von Arnims Roman >Die Kronen Wächter*, S. 70; Rudolph: Studien zur dichterischen Welt Achim von Arnims, S. 9-12; Moering: Die offene Romanform von Arnims >Gräfin Dolorese S. 55-63, Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim, S. 121.

Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama

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Nonsens einstufen oder gibt dem heutigen wie vermutlich auch dem zeitgenössischen Zuschauer bzw. Leser Rätsel auf. Im folgenden werden Beispiele angeführt, die in gradueller Abstufung als Nonsens, als Evokation von Bühnenkomik oder als in den Handlungszusammenhang schlüssig eingebundene Bedeutungsträger füngieren, wobei die Wiederholung einzelner Elemente stets eine Rolle spielt. Im Stück Die Appelmänner wird in der größtenteils derb-komischen Nebenhandlung von einigen Wirtshausgästen dreimal ein Martinslied angestimmt. Die im Stil eines studentischen Trinklieds gehaltenen, aus einer Mischung von lateinischen und deutschen Wörtern bestehenden Schlußverse lauten: »Cum jubilo omnes clamate, / Ut sit deum rogans, Bratgans, rogans gens, / Gänsebraten« (S. 273; 305). Die deutsche Übersetzung wirkt wenig erhellend: »Wenn ich jubiliere, ruft alle laut, / daß die Bratgans (oder der Heilige Martin?) Gott bitte, Bratgans, bittendes Volk, / Gänsebraten.« Arnim verwendet hier einen Teil des Martinliedes aus Georg Forsters Frischen Teutschen Liedlein (1540), 10 fügt jedoch neben das bereits dort auftauchende Wortspiel >rogansBratgans< das Begriffspaar >gensGänsebraten< hinzu. Der Sprachwitz der Vorlage entsteht durch das Oppositionspaar >roh< versus >gebratenVolkGänsebraten< steht semantisch unverbunden nebeneinander und verzerrt den Sinn des Liedes ins Absurde. Es bleibt festzuhalten, daß sich Arnim nicht mit dem Wortwitz seiner Vorlage begnügt, sondern das homonymische Spiel noch einmal potenziert. Eine Doppelung findet hier also auf phonetischer Ebene statt. In keinem anderen Stück begegnet »das einschränkende und erweiternde Korrigieren von Begriffen [...], besonders aber alle Arten der refrainartigen Wiederholung, der Heraushebung eines Wortes«" als Gestaltungsmittel so häufig wie in Der Auerhahn. Neben dem homonymischen Wortspiel findet sich hier vor allem das assoziative Weiterentwickeln eines Gedankens durch Aufgreifen eines >Stichwortes< aus einer hervorgehenden Replik bzw. eines Satzes (nachfolgende Hervorhebungen von mir): (1) Kanzler. [...] in seinem letzten Lebensjahre sind wir einst heftiglich mit ihm entzweit gewesen, das war bei seinem letzten Willen. Heinrich. Ich ahnde etwas schon davon von diesem letzten Willen, es war sein letzter Unwill gegen mich. Wißt ihr den Inhalt dieses letzten Willen ganz (S. 28). (2) Heinrich's Sohn. [...] Noch heute will er eure Hände durch Verlobungsringe binden. Du ringst die Hände [...] (S. 46). (3) Franz. [...] Ich denk die Sternenritter sollen Sterne sehn am hellen Mittag (S. 52).

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Vgl. Georg Forster: Frische Teutsche Liedlein, S. 85. In seinen Anmerkungen zur Schaubühne weist Arnim daraufhin, daß »der Hauptstoff des Martinliedes S. 272 [...] nicht mir, sondern der altern deutschen Zeit gehört, im zweiten und dritten Bande des Wunderhorns findet sich mehr von diesen Liedern« (Schaubühne, S. 308). Tatsächlich handelt es sich bei dem Lied in den Appelmännern um eine Kontamination aus zwei bei Forster abgedruckten Martinsliedern, die Arnim auch für das Martinslied in Des Knaben Wunderhorn verwendete, vgl. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 213 (1226b).

" Körner: Achim von Arnims Schicksalstragödie >Der Auerhahn^ S. 262. Vgl. auch die dort angeführten zahlreichen Beispiele.

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Die hier verwendeten Paronomasien (Beispiele 1, 2) bzw. Wortwiederholungen (Beispiele 1, 3) dokumentieren nicht nur Arnims Fabulierlust, das Spiel mit der Materialität der Sprache und den Versuch, Bühnenkomik zu erzeugen (Beispiel 3), sondern hinterlassen auch den Eindruck, als trete die Handlung auf der Stelle. Gerade in Beispiel 1 ruft die Wiederholung des »letzten Willens« eine zirkuläre Bewegung hervor, Heinrichs Replik kehrt immer wieder zu dem vom Kanzler gegebenen >Stichwort< zurück. Paronomasien fungieren in Arnims Stücken auch zur Charakterisierung einer Situation oder einer Person und geben dadurch implizit Auskunft über die sich im Dialog selbst darstellenden Personen. Die Wortspiele treten dabei vorwiegend in Repliken von Figuren auf, deren Qualitäten in ihrer Jugendlichkeit und ihrer Beherztheit zum Handeln liegen. Zwei Beispiele hierzu: Die Paronomasie hat in Arnims Schaubühnen-Dramen zum Teil die Funktion, eine bedrohlich erscheinende Situation im Sinne eines punktuellen comic relief zu entschärfen und gleichzeitig die Bedrohlichkeit zu verstärken. Das Geschehen kann dadurch ins Groteske gesteigert werden, wie im Falle einer Replik Peter Mülders, der beherzt auftretenden Hauptfigur im Stück Die Vertreibung der Spanier aus Wesel: »Wenns nicht geräth, so werden wir gerädert« (S. 169). Darüber hinaus kann sie zur Eigen- bzw. Fremdcharakterisierung der Figuren dienen. Im Stück Der Auerhahn sagt Franz in einer Konfliktsituation im Gespräch mit seinen Brüdern: »Schicke mir den Kurt herauf, ich wills ihm weisen.« Ottnit erwidert: »Ja, wenn er weiser ist als du, da schweigt er still und wartet [...]« (S. 21). Ottnit zeichnet sich innerhalb des Dramas durch Intelligenz, Mut und Integrität aus. Seine Überlegenheit den Brüdern gegenüber wird in der zitierten Replik insofern ausgedrückt, als er auf das Verb »weisen« mit dem Komparativ »weiser« antwortet, der sich auch als Eigencharakterisierung auf ihn selbst beziehen läßt. Dies wird im folgenden durch Heinrichs des Eisernen Replik, daß Ottnit »gescheidter als die andern« (S. 24) spreche, noch einmal verstärkt. Bei der zitierten Stelle findet also erneut eine Verdoppelung des Sprachmaterials statt, hier jedoch mit semantischer Aufladung. Zusammenfassend läßt sich zu den Wortspielen resümieren, daß das fur das im klassischen Sinne dramatische Genre charakteristische Vorwärtsdrängen der einzelnen Repliken und Szenen hin zu einem finalen Endpunkt 12 bei Arnim punktuell aufgehoben wird. Die Relation zwischen einzelnen Repliken oder Satzfolgen erscheint wichtiger als ihr Bezug auf den übergeordneten Kausalzusammenhang der Gesamthandlung und fuhrt so zu einer Handlungsretardierung, die sich auf die Materialität der Sprache konzentriert. Eine weitere Auffälligkeit der Arnimschen Stücke ist die Verwendung von Sprichwörtern, die von Arnim hinzugefügt wurden und die vor allem in den Schaubühnen-Dramen auftreten, denen eine dramatische Vorlage zugrunde liegt. Sprichwörter, nach Walter Benjamin die »Trümmer, die am Platz von alten Geschichten stehen und in denen, wie Efeu um ein Gemäuer, eine Moral sich um 12

Vgl. zur Finalität des Dramas die einflußreiche Definition in Goethes und Schillers Briefwechsel. Zur klassischen Tragödie vgl. Ritzer: Schillers dramatischer Stil, S. 256-259; ferner Pfister: Das Drama, S. 104.

Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama

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einen Gestus rankt«,13 treten in unterschiedlicher Funktion auf. In einem Gedicht mit dem Titel Die Sprüchworten betont Arnim explizit, daß in Sprichwörtern Erfahrungen gesammelt seien, die aus der Vergangenheit stammen: Sie sind wie graue Weisen Und sammeln was erfahren, Wie fleißige Ameisen Sie wollen uns bewahren.14

In Arnims Dramen werden Sprichwörter häufig als Kommentar einer eben erfolgten oder zukünftigen, ζ. T. komischen Handlung verwendet. Ausgehend von einem Einzelfall wird so eine Verallgemeinerung erzielt, die in der zugespitzten Form der >gefrorenen Sentenz< mündet. Die verfestigte Gestalt des Sprichworts wird bei Arnim jedoch in einigen Fällen verändert und erfahrt dabei eine Umdeutung. In Jann 's erster Dienst finden sich ζ. B. auf 18 Seiten Dramentext sieben hinzugefügte Sprichwörter: (1) »Da nun der Müßiggang aller Laster Anfang ist [...]«15 (S. 9), (2) »Wenn ich euch einen Finger reiche, so nehmt ihr die ganze Hand, dennoch mag es darum gewagt seyn, [...]«" (S. 10), (3) »[...] stecke deine Jugend in das Kleid, so wird das Alter weichen, so hat auch Jugend eine Tugend«" (S. 11), (4) » [...] Tugend hat keine Jugend und darum bin ich alt«18 (S. 11). (5) »Fängst du so an, mein Jannchen, so muß ich auch schlimm anfangen, jung gewohnt, alt gethan [...]«"(S. 12), (6) »Sie holte einen Catechismus, da stand von Hans und Grethen, wir sagten beide ja, nun haben wir das liebe Gut«20 (S. 12) (7) »Nun sieh, Eile mit Weile ist doch ein rechtes Wort [...]« (S. 13)2'

Alle Sprichwörter in Jann 's erster Dienst sind in parataktische Satzkonstruktionen eingebunden und kreisen um die Themen >Jugend< und >Faulheitbewähren sich< hier insofern, als sie den Figuren weitgehend als Handlungslegitimation dienen.22 13 14 15 16 17

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Benjamin: Der Erzähler, S. 410. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 153, Verse 5-8. Vgl. Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon Bd. 3, Sp. 791, Nr. 17. Vgl. ebenda Bd. 1, Sp. 1019, Nr. 61 sowie ebenda Bd. 4, Sp. 132, Nr. 65. Hier handelt es sich um eine Umdeutung des Sprichworts »Jugend hat keine [oder: nicht allezeit] Tugend«, vgl. ebenda Bd. 2, Sp. 1045, Nr. 91. Dasselbe Sprichwort wie (3), hier durch die Inversion sinnverstellend. Vgl. ebenda Bd. 2, Sp. 1054, Nr. 25. Umgangssprachlich bezeichnet »das liebe Gut« Nahrungsmittel, die als lebenswichtig angesehen werden, »milch mit brot und zucker« - Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Sp. 1355. Das Sprichwort »Da haben wir's liebe Gut, und es ist nicht ausgebacken« dient zur Bezeichnung eines jungen Menschen, der »unwissend, sittenlos und unbrauchbar von der Universität oder von seinen kostspieligen Reisen zurückkommt« - Wander: Deutsches SprichwörterLexikon Bd. 2, Sp. 185, Nr. 19. Vgl. ebenda Bd. 1, Sp. 775, Nr. 7. Jann, der jenseits aller tugendhaft-moralischer Codices handelt, bedient sich ihrer in nicht

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Sie kommentieren retrospektiv, simultan oder antizipativ in wiederholendem Gestus das Agieren der Personen und weisen dabei auf ein allgemeines, moralisches >Gesetzdas Drama< im allgemeinen bzw. für Arnims gesamte Schaubühne. Das Ergebnis zeigt lediglich, daß neben der Vermittlung von Handlung deskriptive Elemente in Arnims Stück eine große Rolle spielen. Der hohe Wert läßt sich u. a. durch die stark formalisierten, immer wiederkehrenden Bauelemente erklären, wie etwa bei der sehr häufigen Verwendung der Anredeformel »liebe«/ »lieber« sowie »herzliebe«/ »herzlieber«, ζ. T. in Verbindung mit anderen Adjektiv-Attributen wie »gnädge«/ »gnädger«, »gute«/ »guter« oder »ehrwürdger«. Die Allegorie wird nicht nur von Elisabeth, sondern auch von Otto verwendet: »Otto. [...] Ich soll ihr [Elisabeth] Vögel fangen. Ich sitz gefangen, wie ein Lockungsvogel und seufze mir herab die freien Luftgenossen. Da drüben war ein besserer Fang, doch sitz ich fest auf dieser Bank, wo sie nach Tisch sich fröhlich nieder ließ« (Schaubühne, S. 67). An späterer Stelle äußert Otto darüber hinaus den Wunsch »Ach war ich nur ein Vöglein klein und zart!« (Schaubühne, S. 68), der an die um 1800 bereits sprichwörtlich gewordene erste Verszeile des Liedes »Wenn ich ein Vöglein wär« aus Herders Flug der Liebe erinnert (im Wunderhorn unter dem Titel Wenn ich ein Vöglein war abgedruckt, vgl. Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd.6, S. 217-218 (I 231). Die Allegorisierung des Vogels wurde im romantischen Liebesdiskurs immer wieder verwendet, taucht aber auch bereits zuvor auf.

Die sprachlichen

Gestaltungsprinzipien

Arnims im Drama

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parodierende Intention verharrt im Deskriptiv-Iterativen, was die Eindringlichkeit der Empfindungen zum Ausdruck bringen soll. Die Beschreibung eigener bzw. fremder Gefiihlszustände vollzieht sich an anderen Stellen durch die Verwendung von Adjektiven in Verbindung mit KopulaVerben. Gefühl und Stimmung einer Figur oder Situation werden sprachlich-frontal und nicht qua schauspielerisches Medium umgesetzt. Statur, Physiognomie sowie das Kostüm des Darstellers, seine Gestik, Mimik, Stimmqualität, Intonation und sein Sprechtempo 26 treten angesichts der Verbalisierung sämtlicher Befindlichkeiten in den Hintergrund, wie ζ. B. einige ausgewählte Passagen aus Der Auerhahn belegen: »ich bin schon alt, doch bin ich noch nicht schwach« (S. 26), »ich bin bescheiden«, »ich bin gerührt« (S. 28), »Ich bin nun alt genug, mir etwas zu erlauben f . . . ] « (S. 33), »ich bin zu rasch« (S. 46), »ich bin zu gut, ich werde jezt recht böse« (S. 61), »ich bin recht gut, so lang ich gut seyn will;« (S. 63), »ich bin ein wunderlicher Kauz« (S. 63), »Ich bin so ungeduldig« (S. 74), »ich bin nicht böse« (S. 76), »ich bin beklommen« (S. 77) etc. Diese deskriptiven Elemente wirken gerade bei der Darstellung von Emotionen kaum authentisch und ähneln in ihrer Ausdrucks-Stereotypie der dramatischen Rede in den frühen Formen des deutschen Schauspiels bzw. der englischen Wanderbühnen in Deutschland. Die besonderen Charakteristika der Wanderbühnen-Stücke liegen u. a. in den monologischen, direkten Ansagen und Beschreibungen, 2 7 den ausfuhrlichen Einleitungen fur Ein- und Abgänge der Figuren, 28 den expliziten Ankündigungen der Handlungs-

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Vgl. Pfister: Das Drama, S. 27. Einige Passagen aus den drei für die Schaubühne verwendeten Vorlagen-Texten aus den Engelischen Comedien und Tragedien seien hier als Beispiele angeführt, um die Gestaltungsprinzipien der Wanderbühnen-Stücke zu verdeutlichen. Zudem wird anhand der Arnimschen Dramenadaptionen gezeigt, wie Arnim die performativen Gestaltungsmittel dieser Stücke übernimmt und lediglich vulgäre Inhalte modifiziert. Als Beispiel für die Selbstvorstellung der Figuren hier eine Passage aus Eine schöne lustige Comoedia / von Jemand vnd Niemandt von 1620: »Jetzt kömpt Jemandt. Jemandt jemandt bin ich geheissen / in der Welt durch vnd durch wol bekandt / vnd ziehe durch alle Königreich vnd Fürstehnthümber / vnd die ärgesten Schelmstücken / bring ich zu wegen vnd auff die Bahn / ich bin ein heimlicher Mörder / Brenner / ein Rauber / viel Jungfrawen thu ich sehenden / doch geschieht es alles heimlich« Menius (Hrsg.): Engelische Comedien und Tragedien, S. 435. In Jemand und Niemand verMgemeinert Arnim die kriminellen Machenschaften Jemands, behält aber die frontale Informationsvermittlung bei: »Jemand (kommt, als alle fortgegangen). Jemand bin ich geheissen, in der Welt wohl bekannt, ich ziehe durch alle Reiche, aller Schelmstücken voll, ich setze Könige ab und kröne andre, doch alles in größter Heimlichkeit« (Schaubühne, S. 435). Arnim verwendet dieses gestalterische Prinzip auch in Stücken, denen keine dramatische Vorlage aus dem 17. Jahrhundert zugrunde liegt, vgl. das Lustspiel Mißverständnisse: »Mein ganzes Glück war verloren, wenn er meine kühnen unbescheidenen Wünsche geahndet hätte, das Glück meiner armen Mutter, ihr ruhiges Alter stand auf dem Spiele dieses Mißverständnisses. Wie könnt ich ihn so mißverstehen, als ob er mir die einzige reiche Tochter zudächte!« (Schaubühne, S. 137). Vgl. dazu die Passage aus dem Wanderbühnen-Stück Eine schöne lustige Comoedia / von Jemand vnd Niemandt: »Laß vns jetzt hienein gehen / vnd bedencken / wie wir vnsere vorhabende Sache recht anfahen wollen« - Menius (Hrsg.): Engelische Comedien und Tragedien, S. 425. In Arnims Adaption wird der Abgang der Figuren ebenfalls thematisiert und durch die Ankündigung des Auftritts einer weiteren Figur ergänzt: »Arria kommt, wir wollen uns auf

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intention29 und in den direkten Ortsangaben in den Repliken,30 die die dramatische Illusion stören können.31 Ähnlich fallt das Urteil August Wilhelm Schlegels in seinen Vorlesungen Ueber dramatische Kunst und Litteratur zu den Darstellungsprinzipien in Hans Sachs' und Jacob Ayrers Stücken aus, das in frappierender Weise an die von Arnim angewandten Gestaltungsmittel erinnert:32 Die Darstellung in allen diesen Schauspielen ist ehrlich und macht nicht viel Umschweife: die Personen [...] sagen gleich gerade heraus, wie es ihnen ums Herz ist, und weswegen sie hereinkommen; sie gleichen den Figuren auf alten Bildern, denen beschriebene Zettel aus dem Munde gehn, ohne daß die Gebehrden den Sinn der Worte ausdrücken."

Durch den Vergleich mit den mittelalterlichen Bildertafeln betont Schlegel die Diskrepanz zwischen visueller Darstellung und sprachlicher Verdeutlichung. Die im Bildmedium eingesetzte Schrift unterstützt nicht den Aussagegehalt der Gebärde, sondern liefert erst eigentlich die Information. Diese Beobachtung läßt sich zumindest teilweise auf Arnims Umsetzung dramatischer Rede übertragen. Die Selbstcharakterisierung der Figuren sowie andere explizite Angaben zu Ort, Situation und Gemütszustand deuten in Arnims Stücken auf eine starke Affinität hin, das Dargestellte mit sprachlichen Mitteln derart zu verdeutlichen, daß die Plurimedialität des Dramas durch die Dominanz des Mediums Sprache eingeschränkt wird. Dies läßt sich an einem Beispiel zu Arnims Verwendung von impliziten und expliziten Inszenierungsanweisungen in Neben- und Haupttext noch weiter veranschaulichen. In der Anagnorisis-Szene Kanzler-Otto in II, 11 in Der Auerhahn werden nicht nur in den Regieanweisungen, sondern auch implizit im Haupttext Inszenierungssignale gegeben (nachfolgende Hervorhebungen von mir):

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einer Bodenkammer verstecken, die Mittel zu bedenken, damit wir die Sache recht anfangen« (Schaubühne, S. 242). Vgl. dazu ein Beispiel aus den Engelischen Comedien und Tragedien, Ein lustig Pickelherings Spiel / von der schönen Maria vnd alten Hanrey. »Alter. Höre Hans mein getrewer Hans / morgen werd ich Hochzeit halten / ja Hochzeit werde ich halten. [...] Meine Braut ist noch eine reine Jungfraw / Ja eine gar reine schöne Jungfraw / kennestu nicht die schöne Mariam von langen Margte / daß das wird die Braut seyn / mein getrewer Hans?« - Menius (Hrsg.): Engelische Comedien und Tragedien, S. 649-650. Arnim verändert die Passage nur geringfügig: »Hanrei. Höre Hans, mein treuer Hans, heute werde ich Hochzeit machen, so Gott will. [...] Ich heirathe eine gar junge schöne Jungfrau, kennst du nicht die schöne Maria vom langen Markte, das wird die Braut seyn, mein lieber Hans« (Schaubühne, S. 213). Vgl. dazu den Passus in dem Wanderbühnen-Stück Ein ander lustig Pickelherings Spiel / Darinnen er mit einen Stein gar lustige Possen machet'. »Hans. Nun bin ich kommen an den Orth / da der Teufels Meister seyn sol / [...]« - Menius (Hrsg.): Engelische Comedien und Tragedien, S. 695. Für sein Hanswurstspiel Der wunderthätige Stein übernimmt Arnim erneut die frontale Art der Informationsvermittlung: »Hans (kommt). Nun bin ich j a wohl in dem Zimmer, wo der Teufelsmeister wohnen soll;« (Schaubühne, S. 235). Vgl. Baesecke: Das Schauspiel der englischen Komödianten in Deutschland, S. 80-81. Johannes Schreyer stellte bereits fur Arnims Konzeption der Schauplätze die Nähe zu den »primitiven Bühnenverhältnisse[n] zu den Zeiten Hans Sachs' [fest], wo der Ort einfach mit dem jeweiligen Auftreten einer Person die Bedeutung wechselte« - Schreyer: Die psychologische Motivierung in Arnims Dramen, S. 109. Schlegel: Ueber dramatische Kunst und Litteratur, S. 379.

Die sprachlichen Gestaltungsprinzipien Arnims im Drama

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Kanzler [...] (Er kniet nieder.) Ich knie vor Gott, indem ich knieend euch begrüße, er schenkt euch dem verwaisten Lande wieder. Erkennt ihr mich noch nicht, nun mir der Pilgerhuth entfallen, erkennt ihr nicht den alten ernsten Diener eures Hauses [...]. Otto (hebt ihn auf). Steht auf, nicht schickt sich diese Demuth fur das weisse Haar auf eurem Haupt [,..](S. 71).

Durch das Nebeneinander von impliziter und expliziter Inszenierungsanweisung ergibt sich eine verdoppelte Struktur des Dramentextes, die überflüssig erscheint und auf ein ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber Regie und dem schauspielerischen Können der (potentiellen) Akteure schließen läßt. Die Zeichenvergabe über sprachliche und außersprachliche Codes verläuft simultan,34 das mimisch-gestische Spiel erläutert nur noch einmal, was in der Replik ausdrücklich thematisiert wird. Abschließend sollen die in Arnims Dramen nachgewiesenen sprachlichen Besonderheiten begrifflich faßbar gemacht werden. Die angeführten Beispiele weisen durchgängig eine verdoppelnde Struktur auf performativer Ebene auf, die eine Dominanz des sprachlichen Mediums gegenüber anderen medialen Gestaltungsmitteln evoziert. Dies gilt vor allem fur die doppelten Inszenierungssignale in Haupt- und Nebentext sowie für die sprachlich-frontale Vermittlung von Informationen unter Verwendung deskriptiv-iterativer Elemente. Analog zu dem von Johannes Schreyer für Arnims Dramen verwendeten Begriff der »doppelten Motivierung«,35 der sich auf den dramaturgischen Aufbau und die psychologische Motivierung der Figuren bezieht, soll die Dominanz des Mediums Sprache in Arnims Schaubühnen-Dramen als >doppelt motiviert, als >überexplikativ< bezeichnet werden. Der Begriff des Überexplikativen ist im neutralen Sinne zu verstehen und zielt nicht darauf ab, Arnims dramatische Rede als in sich redundant und überflüssig zu kritisieren, wie es der Terminus >doppelt motiviert nahelegen würde. Wie anhand der Beispiele deutlich wurde, ergeben sich nicht nur Parallelen zu dramatischen Gestaltungsprinzipien aus der frühen Zeit des deutschen Dramas, sondern es eröffnen sich durch den von Arnim angewandten Stil auch durchaus anspielungsreiche, für die Handlung bedeutsame Nuancierungen, die nicht dem Nonsens zugerechnet werden dürfen. Der Begriff des Überexplikativen soll also einen bewußten Umgang mit Sprache nicht ausschließen, verdeutlicht aber die Wirkung dieser Gestaltungsmittel im dramatischen (Kon)text. Ähnliches gilt auch für die zahlreichen Wiederholungen von Lautfolgen, >Stichworten< sowie für den Gebrauch von Paronomasien und Sprichwörtern. Diese Gestaltungsmittel betonen die Materialität der Sprache und bewirken eine zirkuläre Bewegung innerhalb der Repliken, indem sie auf Vorhergehendes rekurrieren. Die Frage, warum Arnim in der Konzeption dramatischer Rede in der beschriebenen Art und Weise verfährt, drängt sich unweigerlich auf. Hatte Arnim kein 34 35

Zur Terminologie vgl. Pfister: Das Drama, S. 34—41. Nach Schreyer resultiert die »überfruchtete [...]«, doppelte Motivierung in Arnims Dramen aus dem Einbrechen des Phantastischen, Wunderbaren, Überweltlichen und dessen Verbindung mit dem Irdischen, den Personen inhärenten >NatürlichenSubstanzWeltseeleschöpferischen< Akt sich entfaltenden Wirklichkeit. Beibehalten war etwas systemwidrig bei diesem Konzept von Universalgeschichte 2 - wo sich sowohl Völkerindividuen wie auch (wie man seit Herder gern kategorisierte) geographisch, klimatisch, national, zivilisations- und bildungsgeschichtlich usw. geprägte Einzelpersonen als unverwechselbare, historisch einmalige, deshalb mit höchstem Wert schätzbare Subjekte herausbildeten 3 - der aufklärerische Geschichtssinn einer beständigen Höherentwicklung. Bei Arnim begegnet diese Idee einer Metamorphose zum Höheren 4 geradezu topisch, ist dabei jedoch nicht aufklärerisch, naiv optimistisch begriffen, sondern bezieht sich auf die im metaphysischen Rahmen verstandene kollektive oder individuelle bzw.

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Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1,S. 469. Grundlegend dazu Carl Hinrichs: Ranke und die Geschichtstheologie, S. 133 u. passim. Zum Medialen des Subjekts vgl. den Abschnitt »Das mediale Ich. Identität im Schreiben« in: Ricklefs: Identitätskonzepte, S. 124-129. Die »Individualisirung durch die Geschichte« ist in den späteren Epochen stärker ausgeprägt als in der Frühzeit der Völker, denn: »Je weniger ein Volk erlebt hat, desto gleichförmiger ist es in Gesichtszügen und Gedanken; jeder Dichter, der als solcher anerkannt wird, ist dann ein Volksdichter [...]«. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 134. Spekulativ waren das naheliegende Gedanken, faktisch und historisch sah Arnim die Grenzen. »Wenn Gott nicht die Prätension macht, daß alles gedichtete gelesen, alles Gethane bekannt sey, so kann kein Urtheil über die Gegenwart aus der Geschichte hervorgehen« (Taschenbuch, Signatur: Freies Deutsches Hochstift Hs-B44, S.22 des Typoskripts).

Das »Wunderhorn«

und Arnims Kunstprogramm

und Poesieverständnis

existenzielle Spiritualisierung, auf eine Vergeistigung

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v o n Natur und Leben. 5 Ihr

entsprach die Transformation ästhetischer Verwandlung, die Antizipation von Ewigkeit im Augenblick, nicht als Wirken für eine Zeit oder einen Volksgeschmack. 6 Poetologische Kategorien der Vorepochen: Natur, Nachahmung, Genie, Enthusiasmus usw. wurden philosophisch vertieft neu begriffen aus einer gleichsam pantheistischen Naturkonzeption. Latenz 7 und Potentialität, die All-Lebendigkeit in Schellings Naturphilosophie, spinozistische Ideen des deus sive natura natura

naturans

anstelle der objektivierten natura

naturata,

b z w . der

der ontologisch fi-

xierten Schöpfungswelt, geben nun die Stichworte. 8 Eine Geistmetaphysik prägte Arnims Denken, w i e das vieler Zeitgenossen; 9 naturwissenschaftliche Kategorien und das Organismusmodell dienten als Metaphern für ein metaphysisch verankertes Gesamtgeschehen. 1 0 Der Paradigmenwechsel läßt sich als Hervortreten einer Kategorie begreifen, die im Titel dieser Tagung als Stichwort hervortritt: Performanz.

Der neue hypo-

thetische und im Sinne Blumenbergs metaphorische Leitbegriff der Kulturwissenschaften, Performativität,'' anstelle der bisher akzentuierten Textualität 12 der Kul-

5

Solche Ideen von Metamorphose, Höherentwicklung und Durchgeistigung haben bei Arnim offenbar eine naturwissenschaftliche bzw. naturphilosophische Vorgeschichte und Grundlage. 6 »Aber keine Zeit thut etwas für sich selbst, sondern um eine neue zu erzeugen, [...]«. Streller: Arnim und das Drama, S. 110. 7 Vgl. H.-G. Janssen: »Latent, Latenz« - in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Sp. 40-41, über Schellings Begrifflichkeit. 8 K. Hedwig: »Natura naturans / naturata«, ebenda, Bd. 6, Sp. 506-508. ' Vgl. ζ. B. die Geistbegriffe und Gedankenmotive, die Arnim bei der Besprechung von Friedrich Schlegels Gedichten im Zitat hervorhob: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 306 u. 307. 10 Vgl. zum Thema Jaeger/Willer: Das Denken der Sprache, S. 37ff. u. ö. (Arnim, vgl. Index). 11 Bündelung von Teilprojekten im Sonderforschungsbereich 447 »Kulturen des Performativen« der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Berlin seit 1999. Vgl. Fischer-Lichte [u. a.]: Kulturen des Performativen; dies.: Theorien des Performativen; und [zur Performanz-Kunst] dies.: Ästhetik des Performativen.), Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. - An die Stelle der von Blumenberg untersuchten Leitmetaphern Buch, Lesen und Bibliothek tritt, so meine Hypothese, um 1770 in umfassendem Sinn die Performativität als >WeltmetapherTextualität< versus >Performanzsymbolischen< Denken als Paradigmenund Epochenwandel. Dies schließt übrigens nicht aus, daß auf literarisch-stilistischem Gebiet in der Romantik und beim späten Goethe >allegorische< bzw. symbolistische Verfahren die >klassische< Symbolkonstitution: den >Symbolglauben< Goethes, Schellings u. a. >überwinden< bzw. varieren und ergänzen. - Vgl. auf der Ebene der Sprachphilosophie: »Performativ ist ein Attribut symbolischer Handlungen, deren Eigenart darin besteht, das, was sie bezeichnen, zugleich zu vollziehen.« (Sibylle Krämer und Marco Stahlhut: Das Performative als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. - In: Fischer-Lichte und Wulf (Hrsg.): Theorien des Performativen, S. 35-64, hier S. 57; vgl. auch Ricklefs: Bildlichkeit, S. 293ff. = Kap. IV Symbolsprache.) 12

Textualität akzentuiert, etwa in der Leitmetapher vom »Buch der Natur«, Lektüre, Verstehen, Erkenntnis, Deutung, Sinn usw.; Performativität dagegen Aufführung, Ritus, Tanz, Spiel, Gesang, Melodie, Mündlichkeit, Dialogizität, das Fest - Kategorien insgesamt, die dem Ästhetischen, der Kunst enger benachbart erscheinen, ja großenteils elementare ästhetische Kategorien selbst. - Die Textualität von Struktur und Gegenstand, der eine sog. >objektive Hermeneutik< entsprechen müsse, setzte eine sozialwissenschaftliche Theorie mit entsprechendem Methodenkonzept voraus; siehe ζ. B. Garz/Kramer: Die Welt als Text (1994).

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Ulfert Ricklefs

turerscheinungen, wurde in dem Wechsel der Denkweisen um 1770, ohne den Anlaß äußeren Medienwechsels, zur fundamentalen Kategorie einer neuen »Ausdruckspoetik«, die sich einen universalen philosophischen Rahmen geschaffen hat.13 Das neue Paradigma setzt Akzente, die den Bereich des Inszenierten universal ausweiten, vor allem aber Performanz als >Seinsbewegung< in jeder Dynamik und Selbstentfaltung am Werk sehen. Das Ontologische wird durch Dynamistisches ersetzt, die Subjekt-Welt(Objekt)-Opposition durch mediale Teilhabe. Die neue Anschauungsweise verursachte einen Reflexions- und Ästhetisierungsschub, auch den Einbruch des Historismus mit der, vom Individualitätsgedanken stimuliert, entsprechenden Aufwertung, Allakzeptanz und prinzipiellen Gleichberechtigung der geschichtlich hervorgetretenen Phänomene als Lebensäußerungen, eingeschlossen ihre Relativierung. In einer durchgreifenden Erneuerung des Denkens und Vorstellens, mit dynamistischen Leitmetaphern und einer Durchschlagskraft, deren Ausmaß und Tragweite man mit der Metapher >geistige Mutation< zu charakterisieren geneigt ist - ohne den Anlaß äußeren Medienwechsels, wie beim Übergang zum Buchdruck oder bei den beschleunigten modernen Medienveränderungen - , bringt ein philosophisches und analog dazu ästhetisches bzw. poetologisches Umdenken gänzlich veränderte Erfahrungs- und Wertungskategorien hervor. Sie erfassen Natur und Geschichte, indem »eine gewaltige Dichtung durch die ganze Natur weht, bald als Geschichte bald als Naturereigniß hervortritt, die der Dichter nur in einzelnen schwachen Wiederklängen aufzufassen braucht um ins tiefste Gemüth mit unendliger Klarheit zu dringen.« 14 Arnims Poetik und Kunsttheorie ist nur in diesem Kontext zu begreifen. Arnim hat nicht nur selbst variantenreich Natur, Geschichte und Kunst als Performanzbewegung definiert, er erkennt auch die Bedeutung des Schemas bei den Philosophen des Idealismus. 15 Die Selbstoffenbarung der Natur im >GenieBegeisterungpantheistische< Diskursrahmen bei Arnim mit dem bei ihm parallellaufenden theologischen Diskurs eines transzendenten Geist-Gottes, der das Wirkliche in ein eschatologisches Licht überirdischen Glanzes wie von Vorläufigkeit taucht. 38 Auch in einer anderen Hinsicht sind Geschichte und Allnatur nicht parallelisiert. Arnim kennt zwar den zeitlichen Progressionssinn progressiver Universalpoesiegnostischen< Geist-Natur-Entgegensetzung und im Sinn protestantischer ZweiReiche-Lehre - j e d e r sinnpostulierenden, universalgeschichtlich ausgelegten Geschichtsdeutung. Geschichte ist schicksalsunterworfen und setzt äußere Bedingungen für innere Vorgänge. Die Geschicke der Erde wird Gott »zu einem ewigen Ziele« lenken, 39 den Menschen sind die Wege der Geschichte unbegreiflich. 33

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»Eitelkeit kennen sie dabey nicht, denn sie kennen die Freude darin« - Arnim: Von Volksliedern -Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 469. Vgl. Arnims Frühwerk »Ariel's Offenbarungen«; siehe dazu Ricklefs: Kunsthematik und Diskurskritik, S. 27-69. Zeitung für Einsiedler, Sp. 257. Der Weihnachtsbrief 1803 an Brentano thematisierte dies. Vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 105ff. mit Kommentar und Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 31 Off. mit Entwurfstexten. Die zitierte Stelle: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 108; Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 311 u. 318. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 22. Vgl. die vom Autor hervorgehobene Stelle in den »Majorats-Herren«, Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 142. Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 13 mit Kontext.

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Die neue Auffassung der >A11-Natur< macht Performanz zum Schlüsselbegriff; im Bezug auf das »eins und alles« 40 der schöpferischen Natur und der Poesie. Nicht allein das einzelne Genie begreift sich als Medium, Gefäß und Exponent höherer Macht, auch das Volk kann als Kollektivsubjekt in diese Position einrücken, jede Nation entwickelt das Seine in freundlicher Konkurrenz der Völker. So gibt es kein Eigentumswesen, der Dichter, das Volk empfängt, was es hervorzubringen meinte, »keinem ist das astralische Verhältnis entzogen, jeder ist ein Künstler, der das mitteilen kann, was ihm eigentümlich im All«.41 Neben dem Pegasus und der Hippokrene, dem Quell, der dem Hufscharren des Dichterpferdes entspringt, ist Johannes auf Patmos, mit Adler und Feder, Figur in Arnims Kunstmythologie. 42 Selbstreferentiell ist die Wahrheitsprüfung für die Geistererscheinungen von Poesie und Volkspoesie: Arnim verwies 1808 auf die Einleitung zu den geistlichen Gesängen von Wunderhorn III, deren Schlußworte »nicht mit Unrecht auf die ganze Sammlung angewendet werden können.« 43 Sie lauten: »Ja prüfet es und erfahret es, und der Geist wird zeugen, daß Geist Wahrheit sey!«44 Auf Rezeption und kommunikative Performanz bezogen und im Kontext von »Begeisterung« aufgegriffen erscheint das Briefzitat des Bibelworts von der Gegenwart Jesu bzw. des heiligen Geistes: »denn wo zweie im Namen des Geistes versammelt sind, da will er unter ihnen sein.« 45 Zumindest in der Ausprägung von Arnims Geistmetaphysik steht Performativität in der Tradition jenes Geistes, der weht, wo er will (Joh. 3, 8), und der zur Darstellung drängt in Leben und Tat. In »Ariel's Offenbarungen« verkörperte Arnim Kunstgeist und Kunstreich in Ariel, einer Figur, die als »Genius« und »Dämon«, ja als Allegorie der Geistererscheinungen der »Kunst«, in der Mystifikation einer geheimnisvollen unsichtbaren »Stimme« eingeführt ist. Auch hier heißt es mit biblischer Anspielung: »er ist gekommen, man weiß nicht woher, er ist gegangen, man weiß nicht wohin«. 46 Die allegorische Mystifikation gipfelt in einer nächtlichen Kirchenszene, wo ein Dichterschüler Heymars es unternimmt, aus einem Buch »etwas abzulesen und dann 40

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Novalis: Schriften (Ausg. Minor), Bd. 2, S. 301. - Arnim: Hollin's Liebeleben - Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 47 (Spinoza-Zitat) u. S. 49. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1,S. 472 Das Motivensemble steht für Inspiration und das Mediale der Produktion: »selbst den ungläubigen Schreiber, der scheu nicht umzublicken wagt, weil Engelsflügel über ihm rauschen und eine fremde Hand seine Feder fuhrt« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 151); »mit Federn aufschrieb, die einem alten erfrornen Adler ausgerissen« ebenda, Bd. 3, S. 619). Der Adler ist Symboltier des Johannes, der mit der Feder schreibend auf Patmos dargestellt wird; das Attribut des Engels steht für Inspiration und Diktat. Vgl. der Engel an die Vögel (Apok. 19, 17) in »Ariel's Offenbarungen« (S. 214) und im Brief an Brentano vom 18. Nov. 1802 (Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 146; Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 74). Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn III - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 356 (Buchhändleranzeige 1808). Ebenda, S. 202 - nach 1. Joh. 5, 6. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 109. - Nach Mt. 18, 20 mit 28, 20 (auf Jesus bezogen, allein indirekt auf den heiligen Geist). Ariel's Offenbarungen, S. 198-200, hier S. 199.

Das » Wunderhorn« und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

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heimzukehren«. Ariel, die unsichtbare Stimme, ruft aber drohend von der Kanzel die Warnung herab: »Heilige Orte und das dunkle Geisterreich nicht muthwillig zu versuchen!« 47 Der junge Dichter gibt die rätselhafte Antwort: »Wenn du da bist, brauch' ich nicht hier zu seyn.« Wo der Geist der Kunst weilt, wird die Person, das Medium zweitrangig. Schlaf und Traum gelten in entsprechendem Kontext als ein >Ruhen im GeisterreichReflexion< im Wortsinn. Die »thateneigene Gewalt« der Volkslieder ist ein solcher Vollzug. 50 Was mehr dabei wirkt, die Melodie oder der Text, bleibt unentschieden. Der Blick vom Tempel des Osteins 5 ' wurde Arnim zum Bild für diesen Vorgang: Der Rhein ist das brausende Lebenselement, die Felsstücke und alten Schlösser fallen in ihn herab, die Bäume und die Weinstöcke hoch darüber aber saugen ihm sein feuriges Blut aus, und wir, die Menschen »in der Höhe nähren uns von allem dem, als wenn es aus uns hervorgegangen wäre als aus dem ewigen, schöpfenden Geiste«; dieser schwebte bei der Schöpfung »über dem Wasser wie wir, er schied wie wir das Licht von der Finsterniß des klaren

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Zur Ambivalenz und Tabuisierung des Heiligen, vgl. van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, S. 27ff. und passim. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 138 u. Bd. 5, S. 302 (Traum). Kastinger Riley: Frühromantische Tendenzen, S. 282. - Der Tanz wird Symbol der hebenden KunstSchöpfung< als Thema: historisch-biographisch war dies ein Musikerlebnis auf dem Kahlenberg (gespiegelt in »Hollin»s Liebeleben« in der Brockenszene und mit dem Schlußgesang von Haydns Oratorium: »Erinnerungen, unzählig und himmlisch süß«, Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 40 u. 60), zugleich aber einer jener allegorischen Zufälle, die >beweisenLebendige Äolsharfen< wären sie, wenn sie >sanft< wären, das heißt wohl: Unwillkürliches zuließen, und so hätten sie doch »Ton«. 58 Solch performative Aufhebung der materialen Welt in Ton, der Bewegung in Klang und Tanz, charakterisiert die visionäre Perspektive Arnims. Der Grenzwert einer solchen Vorstellung, wo die totale Verwandlung in Kunst in einen Kunstmaterialismus umgeschlagen ist und alle Wirklichkeit vernichtet hat,59 verdeutlicht, daß weniger das Kunstwerk selbst, sondern die spirituelle Lebensbewegung, die es in Rezeption und Performanz anstößt und bewirkt, das Ziel der Kunstproduktion sein kann. Darin stimmen der Redtel-Brief, die »Annonciata« und der Volksliederaufsatz überein. Volkslieder werden deshalb definiert als das, was »erhört« ist, was »geschieht« und zur Weiterproduktion, zur Fortwirkung des erhöhten geistigen Zustands aufregt, »was nicht ruht, bis es das Höhere hervorgebracht hat«.60 In der Waage halten sich bei Arnim der literarische und der politisch-kulturelle Impuls. Nach dem Zusammenbruch Preußens tröstete Arnim Juni 1807 zwar »die beruhigende Ueberzeugung, daß an dem meisten nichts, gar nichts verloren, was wir untergehen sehen«; aber ihn schmerzt, einsehen zu müsssen, »wie auch so nichts daraus werden konnte, denn das hoffte ich doch noch als ich die Abhandlung bey unsern Volksliedern schrieb« 61 - dies so meint: trotz der versuchten Volksliederneuerung mit ihrem Beitrag zu einer Gesellschafts- und Staatsreform. Er habe in Strelitz seine >ruhige Überzeugung< oft »streitend vorgelegt, daß ohne eine innere höhere Staatsentwicklung kein glücklicher Krieg [gegen Napoleon und Revolution] möglich sei.«.62 »Nur indem man dem Volke die Poesie zurück giebt ist der Umsturz von Europa zu vermeiden«. 63 Performanz wird in der Romantik auch als Liquidierung oder Liquation begriffen, als Verflüssigung und Auflösung, Erlösung von einem Zustand der Erstarrung. »Ehemals war alles Geistererscheinung. Jezt sehn wir nichts, als todte Wiederholung, [...] Wir leben noch von der Frucht besserer Zeiten«, formulierte Novalis.64 Görres fingierte ein Stadtporträt Heidelbergs als zu Stein geronnener >gefror-

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Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 441. Kastinger Riley: Frühromantische Tendenzen, S. 282f. und Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 30, S. 175f. Vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 162. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1,S. 436. Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 442. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 209 (Kursivierung von U. R.) Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. 621; Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 206 u. 208. Vgl. Arnim: Von Volksliedern - Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhom (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 438. Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 545. »[...] die Poesie. Sie ist von Natur flüssig [...] - Sie ist Element des Geistes - ein ewig stilles Meer, das sich nur auf der Oberfläche in tausend willkürliche Wellen bricht.«

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ner MusikErhörung< gewisser Melodien und Texte, als Hoffnung und Prophetie auf eine Erscheinung, die kommen wird, obwohl sie längst da war, da ist

werth.« (An Graf Schlitz, am 14. Oktober 1806 aus Göttingen; Zschiedrich: Briefexzerpte 1806, Nr. 68, S. 112) - Brentanos Zuwendung zu den Volksliedern folgte daneben einem anderen, inneren Gesetz: dem Zug zur Autorisation, Legitimation und Beglaubigung von Poesie, die Brentano (im Kontext seines Zweifels an der Autorisiertheit eigener Poesie) als »Weltnaturforscher« auf der Suche nach dem >verlorenen Paradies der Poesie< in der historisch beglaubigten >objektiven Poesie< der Mythen, Sagen, Lieder, dem Dichten, Denken, Glauben und Aberglauben der >VorzeitÖffentlichkeit< dieser Melodien und Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, 83 die Einheit von Kunst und Leben/Tat bzw. Ethos, die aus ihnen spricht, fur Arnims besonderes Interesse daran verantwortlich macht. Doch sah auch Reichardt bereits im frühchristlichen Kirchengesang »vermutlich Volksgesänge, entweder man gab bekannten Volksmelodien geistliche Worte, [...] oder man erfand zu den geistlichen Versen neue Melodien im Volkssinn«; die »lebendigen Gesänge des wahrfuhlenden Volkes« seien erst durch den Priestergesang (Gregorianik) unnatürlich geworden. 84 In den Kirchenliedern war, unter nicht wiederholbaren Bedingungen, erreicht, wonach Arnim strebte. Die Frage ist, wer geeignet ist - und welche Kriterien den Maßstab bilden sollen - , zu bestimmen, welche Lieder und Texte beim Volk angekommen sind und sich bewährt haben und welche sich in Zukunft den Resonanzraum erschaffen werden. Probleme wie bei jeder Kanonbildung entstehen. Nicht das leicht- und schnellfertig Neue ist es zweifellos; aber wo »die Gewalt der Begeisterung ganz und unbeschränkt ertragen« werden kann »ohne sich zu entladen, in Nullheit oder Tollheit«, scheint ein Kriterium gefunden; 85 oder auch nur, wo »ein wahrer Ton [ist], wie im derben Lachen aus Herzensgrund«. 86 Arnim spricht in dem rhapsodischen

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Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1,S. 438 u. 437. Ebenda, S. 446 u. 436. Ebenda, S. 436. An welches Lied Arnim gedacht haben mag, weist der Beginn des 2. Aufzugs von »Halle und Jerusalem«. Doris, die Magd, kehrt die Gelehrtenstube und singt dabei die 6. Strophe von »Wer nur den lieben Gott läßt walten«, Text und Melodie von Georg Neumark (1640); sie fegt im Takt des Lieds, »das im gleichen Zuge sie begleitete«, wie der Aufsatz formuliert. Jene »Freiheit alter Sprache, die Starrheit der heutigen«, wie bereits zitiert (Arnim: Von Volksliedern - Arnim: Des Knaben Wunderhom [Nachdr. 1926], Bd. 1, S. 460), das Bildkräftige, Unbeholfene, Tatkräftige, Antisubjektive der alten Liedsprache. Zitiert bei Fischer-Diskau: Reichardt, S. 120; vgl. zum Volkslied ebd. S. 104. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1,S. 442. Ebenda, S. 436f.

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Essay nicht über die Texte einer Wunderhornsammlung, über die Autoren und den Zeitstil oder über die Geschichte der aufzunehmenden oder aufgenommenen Lieder, vielmehr über die Bedingungen, unter denen alte und neue Texte und Melodien Volkslieder zu werden vermögen bzw. Volkslieder waren oder es noch sind. Er entwirft ein ästhetisches Programm, eine performative und rezeptionsästhetische Leitidee. Volkslied ist Zukunftswert, Versprechen, Zielangabe oder Erfüllung, das was »erhört« ist und was »geschieht«. 87 »Alles ist wunderbar nicht dadurch was es ist, sondern was es seyn könnte«, so auch das »Wunder«horn. 88 Volkslieder tendieren auf ästhetischen Mehrwert, denn in ihnen wirkt, »was nicht ruht, bis es das Höhere hervorgebracht hat«. 89 Auch die Tatsache, daß Noten im Wunderhorn fehlen, der Mangel an Vertonungen wirkte als Aufforderung an die Zukunft. Als Volkslieder müßten sie bereits vertont sein; oder müßten ihre Komponisten finden. Doch eine nicht ganz geringe Zahl der Wunderhorntexte sind gar keine Lieder. Sie tragen als volksnahe Poesie früherer, wie man empfand: kernigeren Jahrhunderte zur Sprachrettung und Spracherneuerung bei. Sie bilden Elemente eines zukünftigen Kanons, also einer Anthologie >erhörter< Texte, die den Bekanntheitsgrad erlangt haben, der identitätsstiftend und kultureinigend wirkt. »[D]ie Poesie des Volkes wieder hervor zu rufen«, so formulierte Brentano, müsse ein Gecken = Narrenorden gegründet werden. 90 Und Arnim pflichtete bei: »So wie Tieck den umgekehrten Weg einschlug die sogenannte gebildete Welt zu bilden, indem er die echte allgemeine Poesie aller Völker und aller Stände die Volksbücher, ihnen näher rückte; so wollen wir die in jenen höheren Ständen verlornen Töne der Poesie dem Volke zuführen, Göthe soll ihnen so lieb wie der Keiser Octavianus werden«. 91 Gemeint ist das Volksbuch vom »Kaiser Octaviano«, nicht Tiecks Drama. Dem Volk soll Goethe so lieb werden, wie ihm das Volksbuch vom >Kaiser Octavianus< seit je lieb und verständlich war. 92 Volk und Gebildete tauschen derart die Vorlieben aus, und eine gemeinsame Lektüre hoher wie volkstümlicher Literatur überwindet die Trennung der Stände. Reichardts Verdienste um das Volkslied gingen eher in Tiecks Richtung: »haben Sie [Reichardt] ihn [den deutschen Volksgesang] doch nach Würdigkeit den lesenden Ständen mitgeteilt«. 93 Goethe aber wünschte dem Wunderhorn einen Platz »in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder 87 88 89

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Ebenda, S. 435f. Freies Deutsches Hochstift Hs-B69, S. 45. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 436. - In der »Zweite[n] Nachschrift an den Leser« (1818) betonte Arnim den (vor allem wohl politischen) Zukunftsblick des >SendschreibensKaiser OctavianusUrnaturheiligen römischen Reichs deutscher Nation< Franz II. hatte am 14. Aug. 1804 für seine Erblande den Titel eines erblichen Kaisers von Österreich angenommen (als Franz I.) und legte nach der Errichtung des Rheinbunds am 6. Aug. 1806 die deutsche Kaiserkrone nieder. Das Kaiserin-Motiv im Einleitungsgedicht »Das Wunderhom« erscheint als Votum für die Nationeneinheit, zumindest was das Volkslied angeht. Ein paralleler Vorgang 1810: Arnim änderte das schon 1804 bezeugte Gedicht »Der König ging vertrieben« für die »Gräfin Dolores« in »Der Kaiser [ging] flieht vertrieben« (Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 293; Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 654-657). Vgl. das Gedicht »Kaiser Karl« und die Kaiserthematik in den »KronenWächtern«.

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Die »Aufforderung« im »Reichs-Anzeiger« vom 17. Dezember 1805 spiegelte die Veränderung der politischen Verhältnisse (Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn III - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 347f.). - Forster: »alte Teutsche Lieder«, ebenda, Bd. 9.1, S. 69; Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 439, Fußnote.

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Text bei Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhom - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 76f. Fambach: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik, Bd. 5, S. 590.

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frau hat danach einen Löwen geboren.1" Das vom Pegasus-Reiter überreichte Horn, das in der Hand oder im Schoß der Jungfrau, d. i. der Kaiserin, »Zu ihrer Reinheit Preis« bewahrt bleibt, symbolisiert die Liedersammlung, deren fast überirdischer Klang, sobald eine reine Seele sie mit »dem Druck von Eurem Finger« berührt, die Welt verwandelt. Auf solche Performanzperspektive läuft die Motivfugung hinaus, sie ergänzt die Produktionsperspektive des Horns bzw. die einfache Rezeptionsperspektive der Übergabe des Horns an die Kaiserin. Den Rezeptions- und Performanzaspekt - die leise Berührung läßt die hundert Glocken ertönen - enthielt schon die Vorlage." 2 Die Aufforderung, dem gleichzutun, ist in der Vorlage an die Leser gerichtet, im Wunderhorn jedoch allein auf die Kaiserin bezogen, auch doppelt eingefugt: die Schlußstrophe wiederholt die Verheißung, verstärkt das Rezeptions- und Performanzsignal. Poesie und Lied sind als Ereignis begriffen, sie werden »erhört«,"3 verwandeln sich in Geist und Tat. Die Schlußstrophe des »Wunderhorn«-Gedichts feiert Performanz als Ereignis, verbunden mit dem Wunschgedanken: das »Horn, so weltbekannt« - eine Devise, welche die hohe Bedeutsamkeit der Poesie für Nation und Menschheit antizipieren soll. Die Figur der »Kaiserin« ersetzt des »König Arthurs Schloß« der Vorlage; das zugefügte Fürstenlob, der Preis der Kaiserin: »Dieweil sie schön und weis'«, weil sie Schönheit und Weisheit repräsentiert, deutet den allgemeineren, den politischkulturellen Sinnrahmen an. Daß eine »Fey« das kunstvoll ausgestattete Horn hergestellt hat und eine »Sirene« nicht schöner singen könnte, ist dem Romantiker Anlaß, die Poesie und ihre Gedanken- und Geisteswelt, wie vielfach in der »Gräfin Dolores« geschehen," 4 mit einer magisch-liquiden, elementaren und seelenhaften Unterwasserwelt zu verbinden."5 Insofern spiegelte das Oldenburger Horn 111

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Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 29. Auch in der »Anrede an meine Zuhörer« (1812): das >geflügelte Roß< trennt sich von den »Leutchen mit Lorbeerkränzen«, die es zureiten wollen, »und sprang ganz zahm zu mir«, eine Analogie zum Neigen des Rosses vor der Kaiserin im Gedicht »Das Wunderhom« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 617f.). »Nur einen Druk von Euerm Finger / Und diese hundert Glocken all / Gaben so süsen Schall [...]« (Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 77). - Das Instrument erinnert an den Schellenbaum, der während der Türkenkriege in der deutschen Regimentsmusik Aufnahme fand; das Horn mit dem Ring samt Glöckchen-Aufsatz ist nach dem Text der Vorlage zu Kaiser Konstantins Zeit von einer »Fey« gearbeitet worden. Bei Arnim das Merkmal echter Volkslieder: Arnim: Von Volksliedern - Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhom (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 435f. Vgl. die Stauffenberg-Sage und den Komplex der Palagonien-Familiengeschichte. »Aus tiefem Meer gebracht. / Von einer Meerfey Hand« (Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 12). Auch das Rolandshorn in »Kaiser Karl« ist, wie der magische Ring, im Meer versunken (Arnim: Gedichte. 2. Teil, S. 143). - Ein wunderbares Horn besitzt auch Nietner: »Jäger war er ohne Jagd, / Trug ein goldnes Horn am Bande, / [...] Wenn er in das Horn gestoßen / Daß es an die Wipfel stieß / Hat er ohne Armbrust schössen, / Ohne Pfeile ohne Spieß. [...]«. Vgl. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1167; auch in der Erzählung »Laura« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 515f.). Der Doppelvers »Meinte ich so weit die Klänge / Reiche auch der Sänger Reich« weist auf die kunstallegorische Bedeutung, insgesamt eine entfernte Variante des OrpheusMythos; vgl. die frühe Fassung ebenda, Bd. 5, S. 107f. Ist es hier noch >der Laute heller Klangjenseitigem< Bereich, aus Meer oder Berg, vermittelt durch einen Elementargeist bzw. eine überirdische Frauengestalt. Die zugefügte Zeile »Fort sprengt der Knab bergan« ist deutliche Pegasus-Allusion;" 6 der Knabe hat das Horn mit dem Ring, auf dem das Glockenspiel montiert ist, überreicht, das schöner klingt als die Vögel am Himmel und die Sirenen im Meer singen. Ikonographisch begegnet in Emblematik und Kunst das bergauf zum Helikon oder Parnaß sprengende, oder fliegende, das aufschwebende Musenpferd, in christlicher Interpretation der über den Helikon zum Himmel fliegende Pegasus. In der bildenden Kunst wurde Pegasus durchweg als reiterloses, eben geflügeltes Pferd dargestellt, sofern nicht Bellerophon der Reiter war, der mit Hilfe der Athene den Pegasus bezwang, mit ihm die Chimäre zu besiegen. Doch haben die Kontamination des Pegasus mit dem ariost'schen Flügelpferd Hippogryph," 7 eventuell auch die Schlußstrophe von Schillers bekanntem, von Moritz Retzsch illustriertem »Pegasus im Joche« (1795) und vor allem die sprichwörtliche Wendung >den Pegasus reiten< für Dichten die Vorstellung eines Reiters populär gemacht." 8 Auch Brentano rief Arnim mit dieser Devise zu, für den Namen und die Ehre Preußens in der Literaturgeschichte etwas zu tun: »Gott segne dich, lieber, rette doch dein Vaterland, steige auf dein Flügelroß, und mache eine Bresche in Göthens Litterairgeschichte«." 9 Das antike Flügelpferd auf dem Kupfertitel selbst abzubilden, etwa in der meisterhaften Kupferstichversion Crispin de Passes in Gabriel Rollenhagens »Nucleus Emblematum«, 120 hätte ein falsches, antiquarisches Signal gesetzt; der Knabe und das wildfreie Roß in Pegasushaltung bezeugten die Jugendlichkeit und Modernität der Sammlung. In einem von zwei überlieferten Entwürfen Arnims steht ein feurig gezeichnetes Pferd einem nur leicht skizzierten Knaben gegenüber, dessen Arm das Horn hoch aufreckt; wohl ein Hinweis auf die Bedeutungsdominanz des Pferdes und des Horns. Arnim rechnete mit zwei Rezeptionsperspektiven, die über das Symbol des - »edel« oder »unedel« 121 aufgefaßten - Pegasuspferdes tatsächlich über das mehr oder weniger

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1805) und in »Laura« das Hornmotiv an die Stelle getreten (ebenda, S. 250f.). »Wer den göttlichen Pegasus reitet sollte eigentlich nie irdische Pferde bändigen wollen [...]. Am wenigsten aber dürfen Poeten bergabfahren - himmel an ist ihre Losung.« (Brief des Grafen Schlitz an Arnim vom 30. Dezember 1822) Der Vorläufer von Ariost, Boiardo, begriff zuerst den Pegasus als Dichterpferd, Roß des Dichterreiters, der sich in Begeisterung mit ihm aufschwingt. - Vgl. Yalouris: Pegasos; ders.: Pegasus in der antiken Mythologie. - Neuer Teutscher Merkur 1796, Bd. 2, Sp. 757ff.; Rose: Griechische Mythologie, S. 105 u.. 166f. Zu >Pegasus im Joche< vgl. Büchmann: Geflügelte Worte, S. 113 u. 245; Renate Moering in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1299f.; Wander: Deutsches Sprichwörterlexikon, Bd. 3, Sp. 1203 (lat.: »Equo vehi Pegaso«). Kestner: »statt den Pegasus zu reiten von dem Reitschemel«, d. i. dem Juristen- und Richterstuhl des Bruders, »herab Dir diesen Brief schreibe« - Arnim: Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 130. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 328 (1. Jan. 1806). Erschienen Arnheim 1611, Nr. 93; dasselbe in dem bedeutendsten englischen Emblembuch, George Wither: A Collection of Emblems. Ancient and Modern. London 1635, S. 105, Abb. in Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik, Tafel Nr. 22. Arnims Urteil über die Reitervignette des Titels verglich das Gesicht des Knaben mit dem

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Edle und U n e d l e der dargebotenen Volksliedware befanden. Was die Voßpartei edler wünschen mußte, wünschte die Romantikerpartei noch wilder und naturnäher. Im Rahmen von Arnims Kunsttheorie gab der Reiter dennoch ein bedeutendes allegorisches Signal: D i e Elemente Pferd, Reiter und Horn konnten auf der einen Seite im Pferd die Inspiration b z w . Begeisterung oder den göttlichen Ursprung der P o e s i e abbilden, auf der anderen Seite im Reiter und Horn den Dichter und sein Lied. In d e m Kontext von 1812 strebt das Musenpferd »nach d e m Gebirge« und schwebt »auf viel steilere Felsklippen« hinauf, s o daß »an Führung nicht zu denken« ist. 122 Statt Zäumung und Zähmung zeigt der Titelstich charakteristischerw e i s e das ungezäumte und ungesattelte Pferd mit d e m ungespornten Reiter, der sich an der prächtig wilden Mähne des Musenpferdes festhält und das kleine Hifthorn frei über d e m K o p f schwingt. Nur die rechten Dichter w i s s e n u m die Qualität des Musenpferdes: »[...] w i s s e aber in e w i g e r Verwandlung und Vergeltung, wird jeder, der den Pegasus zureitet, als Pegasus wieder selbst zugeritten, wer erst Dichter war, wird nachher Begeisterung (denn s o heißt das Flügelpferd zu Deutsch) eines dritten, und nur die wenigen, die sich der Begeisterung frei überlassen haben, ohne sie beherrschen zu wollen, 1 2 3 die bleiben unverwandelt, und k o m m e n ohne ein solches Leiden z u m Urquell des höheren Lichtes, das eben so die Theorie einer andern Welt ist, w i e unser Licht, ohne v o n einer Theorie erfaßt zu werden, die Theorie aller unsrer Naturerscheinungen aufschließt.« 1 2 4 Nur die

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eines französischen Tambourmajors: »das Pferd wird denen um so mehr gefallen, die es noch unedler wünschen, je weniger es denen gefallt, die es edler verlangen.« Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 68; vollständig Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 298. Abbildung der Zeichnungen: Rölleke: Die Titelkupfer, S. 128, Abb. 2 u. 3; Strack: Arnim, Brentano und das Wunderhorn. - In: Manger und vom Hofe (Hrsg.): Heidelberg im poetischen Augenblick, S. 121-151, hier S. 144. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 619. Vgl. »Wohlauf wohlan mein Pegasus / Ich will dich schön umfassen, / Sollst mich nicht fallen lassen« im Italiengedicht, ebenda, Bd. 5, S. 115; Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1720. - »Dem Pferde wachsen Flügel / Beschämt des schnöden Falls / Es beißet in die Zügel / Ich schrei aus vollem Hals: / Es wird mir alles noch werden.« (Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 314). Auf den im Pegasus-Motiv ausgedrückten Widerstreit zwischen Machen und Geschehen, Aktivität und Medialität, resp. >Reiten< und >Gerittenwerden< bezieht sich auch das »Kunstgespräch«·. »die Kunst [...] - du kannst sie nicht an dich reißen aber du kannst ihrer theilhaftig werden. Du kannst ihrer nie Meister werden und doch als Meister erkannt, wenn sie dich beherrscht.« Arnim: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 387; Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 596. Ebenda, Bd. 3, S. 618. Der Hinweis auf den »Urquell«, zudem der »alte[n] Pegasus« zurückkehrt, die feierliche Rede von »ewiger Verwandlung und Vergeltung« und das Motiv »Urquell des höheren Lichtes« zitieren den Hintergrund dieser Konstruktion, den Gerichts-Mythos bzw. das Seelenwanderungsmotiv der Philosophie Piatons: Im Kreislauf »ewiger Verwandlung und Vergeltung« werden diejenigen Seelen, in denen das Materielle das Höhere überwältigt, verwandelt; sie müssen irdische Leiber annehmen und den irdischen Leidensweg gehen. Wenn diese Seelen während des Erdenlebens jedoch der Sinnlichkeit, d. h. dem Irdischen (Arnims Motiv des Beherrschens, Zureitens) widerstehen, gelingt ihnen die Rückkehr zur Gottheit, zum ewigen Licht. Das »allen Dingen Licht Bringende« (»allen Dingen Licht spendende Urlicht« in Wilhelm Wiegands Übertragung) in: Piatons Politeia (Piaton: Werke in acht Bänden, Bd. 4, S. 633, 540a], mit Rückverweis auf das Höhlengleichnis, ebenda S.553-556, 514a518b. Arnim illustriert die Verhältnisse durch die Analogie der naturwissenschaftlichen Licht-

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wenigen, die sich dem Geist und Lebensstrom frei überlassen haben, den Pegasus nicht hinderten, den Himmelsweg einzuschlagen, gehen zum höheren Licht ein. Als >Zureiter< zwängen die Dichter den Geist durch >Beherrschen< ein, fesseln ihn im Irdischen. Hintergrund ist ein Detail des Mythos: Kein irdischer Zaum konnte das Tier bändigen; Bellerophon erhielt deshalb den himmlischen Zaum von Athene. Gewarnt wird auch im zweiten Sonett des Zyklus der Einsiedlerzeitung der Reiter vor »herrisch trotz'gem Schlagen«, sein Roß donnert Funken; so ist er »ganz versunken / Dem Erdgeist offen, der an Liebe glaubt«. Woher aber das Wort »Wunder« und »Wunderhorn«, und weshalb wählten die Herausgeber nicht das im Kupferstich 125 überlieferte Oldenburger Horn bereits als Titelvignette für den ersten Band? Möglicherweise kannten sie es 1805 noch nicht. Allein die Titelverkürzung von »Des Knaben Wunderhorn« zu »Wunderhorn« auf den Kupfert\te\n und im Titelgedicht, in Spannung zu den Drucktiteln, deutet neben der sonstigen Veranlassung darauf, daß das Horn das Zentrum der Symbolik bildet, der »Knabe« jedoch vor allem allerlei erwünschte Nebenbedeutungen ins Spiel brachte. Das Hornmotiv in seiner doppelten Gestalt, das Reiterhorn des Knaben und das >01denburger< Trinkhorn, »in der Gestalt eines Jägerhorns«, 126 rufen eine große abendländische Tradition auf: Das mythologische Füllhorn, cornu copiae, das Rolandshorn Olifant, Heimdall bläst das Gjallarhorn zum Weltuntergang, nach dem Volksglauben der Engel der Apokalypse zum Gericht, 127 das Münchhausen-Horn bläst selbsttätig die zuvor eingefrorenen Melodien. Arnim nahm das Motiv der gefrorenen Töne, verbunden mit dem Rolandshorn, in der allegorischen Ballade »Kaiser Karl« auf.128 Ein >magisches Horn< mit Zaubertönen und tausendfachem EchoPegasusge-

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theorie; Licht (Elektrizität) ist das Metaphänomen zu allen Naturerscheinungen. Die Worte des Musenpferdes bleiben in platonischer Anamnesis »unvergeßlich«. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 619. Bei Winkelmann 1684 und bei Bekker 1693, s. unten; weitere Abbildungen zu »Des Knaben Wunderhorn« in: Rölleke: Die Titelkupfer, S. 125 und Manger / vom Hofe: Heidelberg im poetischen Augenblick, S. 144-149 (im Beitrag von Friedrich Strack). Grimm: Deutsche Sagen, S. 640 (Nr. 541). Vgl. das Lied vom jüngsten Gericht (Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhom (Nachdr. 1926), Bd. 3, S. 202): »Der Engel mit dem grossen Zorn, / Ruft allen Menschen durch das Horn!« Arnim: Gedichte. 2. Teil, S. 144. Das Motiv der gefrorenen Töne ebenfalls im Brief an Reichardt, Göttingen, 9. Sept. 1806: »Müllers Posaune hat etwas von Münchhausens Hörne in dem der Ton eingefroren« (Zschiedrich: Briefexzerpte 1806, Nr. 64, S. 111). Kastinger Riley: Frühromantische Tendenzen, S. 280f. Vgl. oben Anmerkung 115 zu Nietners Horn. Zur Diskussion über das Beifallklatschen im Konzert vgl. Fischer-Diskau: Reichardt, S. 134.

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dicht< mit dem Reiterknaben und dem Horn entstanden.131 Der altfranzösische Text wurde, entsprechend verändert, zum Einleitungs- und ikonographischen Schlüsselgedicht. Für eine Titelformulierung waren die Wortelemente »Knabe« und »Horn« nur begrenzt ergänzbar, etwa durch >Silber-HornPoesie-Hom< oder eben >Wunder-HornOffenbarungsNaturpoesiePoesie< »eins und alles« sei, und daß sie (als L o g o s ) bei der Erschaffung der Welt das Wichtigste getan habe, war Überzeugung des N o v a l i s - und Schlegelkreises w i e Brentanos und Arnims. 1 4 0

4. D a s O l d e n b u r g e r H o r n Außer der Titelformulierung » D e s Knaben Wunderhorn« selbst, die seit Mitte 1805 feststand, gibt es keinen Anhalt oder B e l e g , der die A u f f a s s u n g nahelegen müßte,

daß das Oldenburger Horn vor 1807/08 den Herausgebern bekannt war.

B e i Johann Just Winkelmann steht »Wunder-Horn« im Titel: » D e s Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung« (Bremen 1684). Man hat danach vorausgesetzt oder vermutet, diese Schrift m ü s s e den Herausgebern 1805 bekannt g e w e s e n sein. 141 Wir w o l l e n eine andere Möglichkeit erwägen: Der Worttitel » D e s Knaben Wunderhorn« wurde 1805 ohne Kenntnis v o n Winkelmanns Schrift geprägt. Erst über die Titelprägung »Wunderhorn« kam das historische Oldenburger Horn -

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Bd. 1, S. 444. - Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 620. - »Wo euch der Athem schon vergangen« ist zugleich Modifikation des »Abgrund«-Motivs: Der Dichter (»Erfinder«) »warum er sich in den Abgrund stürzen, und mit ganzer Seele dem Chaos sich hingeben müsse, ist etwas sehr Heiliges [...]« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 557). Zum Alraun: ebenda, S. 644. - Vgl. auch den Goethe-»Nachhall« Wunder über Wunder (1826). - Zu »Wunderkasten« und »Zauberkasten«: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 591. Vgl. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 376 u. 387: Arnims Bild, das Porträt Ströhlings, hat Brentano »hinter dem Kasten, aus welchem dir die schönen Lieder ins Wunderhom gestiegen sind«, aufgehängt, »ich sehe deinem Bilde in die Augen und dränge mich näher an den abentheuerlichen Stehpult.«; »ich stehe vor dem alten Zauberkasten, der dein Stehpult war«. - Susanna, die Mignon-Gestalt in den »Kronenwächtem«, wird in ihrer androgynen Verwandlung als »Wundermädchen« bezeichnet; in Bezug auf die verwandelnde Kraft der Kunst, deren Allegorie sie u. a. ist, heißt es: »Hast Du Dich verwandelt, Wundermädchen? bist Du Susanne nicht mehr, hast Du mich auch verwandelt«? (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 357) Vgl. Nivelle: Frühromantische Dichtungstheorie, S. 21. Siehe A. W. Schlegel: Vorlesungen, S. 268. Bei Arnim das »Fräulein Sonete« als Allegorie der poetischen Weltkraft: »Des Weltgeists Ström wie Fäden kann sie wenden. [...] Sie webt den Lebensschleyer mit de[n] Händen.« (Sonett Nr. 10 der »Beylage« zur Einsiedlerzeitung) Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhom - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 68f.; Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Reclam), Bd. 1, S. 419. Er »dürfte der alten Bezeichnung des Oldenburger Wunderhoms nachgebildet worden sein.« - Der Bekanntheitsgrad des am Ende des 17. Jahrhunderts in Gelehrtenkreisen diskutierten Oldenburger [seitdem Kopenhagener] Horns um 1805 ist schwer abzuschätzen. Beurteilt man ihn positiv, liegt die quellenmäßige Anregung tatsächlich nahe. Nur kam das Hornmotiv primär über den Pegasusreiter ins Spiel, und es fehlen Hinweise auf das prächtige Trinkhom in der Korrespondenz. Indem die Bedeutung von Nauberts Märchen für Arnim bisher unbeachtet blieb, wurde auch der (kultur)politische Symbolwert nicht erkannt.

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primär vermittelt durch die Lektüre der Märchen Benedikte Nauberts - zuallererst in den Blick und bot sich dann als Sujet für die Titelillustration zum zweiten Bande an. Das »Wunder-Horn« im Titel von Winkelmanns Schrift >bestätigte< damit im Nachhinein die Titelformulierung von 1805. Bei Bekker begegnet die Bezeichnung Wunderhorn nicht; Benedikte Naubert spricht an zwei Stellen vom »wunderbaren Horn«, 142 »ein güldnes Trinkgeschirr in Gestalt eines Jägerhorns«. 143 Die Herausgeber hätten sich 1805 gegenüber Zimmer vielleicht doch auf solch antiquarische Autorität für die Titelgebung berufen, 144 wenn sie sie gekannt hätten. Hätte andererseits Arnim die politische Botschaft, die mit dem Oldenburger Trinkhorn verbunden war, nicht bereits 1805 nutzen können? Sie entsprach der Gesamttendenz des Volksliederaufsatzes. Allerdings fehlte noch die aktuelle Notlage der Jahre 1806-1813, in der die Segensprophetie des Oldenburger Horns deutlicher vernehmbar wurde. Nauberts siebzig Seiten umfassendes, fein gesponnenes und durchgehend historisch-politisches Märchen, eine märchenhafte Sage im Fürsten-, Ritter- und Adelsmilieu vom Heldengeschlecht der Abkömmlinge des Wittekind, dynastischen Generationen seit Kaiser Otto dem Großen, mit Motiven vom Friedensfürsten und König Salomo (S. 142), mit Königsversprechen, Fluch und naher Erfüllung der Weissagung (S. 137), schließlich dem »Ton eines ungeheuren Horns«, dem goldenen »Horn mit seinen Hieroglyphen« (S. 140) und dessen prophetischer Deutung (S. 154-155), scheint in den Problemstellungen, der Bedrohung, den Hoffnungen und Erlösungen wie auf Preußens Situation der Jahre 1805-1813 gemünzt; das ist allerdings Sache der Rezeption, denn publiziert wurde der Märchentext bereits 1791. Auch die Verbindung des Ritters mit einem Elementargeist, Schwanhilde (S. 203) - analog der Stauffenberg-Sage der »Gräfin Dolores« - mußte dem Romantiker entgegenkommen. Die Naubertschen Märchen beeindruckten Arnim in der ostpreußischen Kriegszeit über alle Maßen. »Meine Wonne in kummervollen Nächten waren die 4 Bände der Neuen Volksmährchen der Deutschen, Leipzig, Weygand 1791, ein Talent, ein Reichthum von Erfindung, [...] in der Ottilie ein Ernst des schrecklichen Lebens [...], und das Buch ist vergessen, was soll da aus uns werden!«' 4 5

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Naubert: Volksmärchen, Bd. 2, S. 155 u. 173. Hinweis auf die >Nacherzählung< der Sage in Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.2, S. 5. "" Naubert: Volksmärchen, Bd. 2, S. 154f. 144 Wie Arnim es 1807 zur Wahl des Kupfertitels auch nicht unterließ. Er scheint die Duplizität der Hornmotive dem Verleger gegenüber fast zu entschuldigen (»nachdem der Knabe geblasen«), Zimmer und die Romantiker, S. 147. 145 Brief an Brentano vom Mai 1807 - Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 211; Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 437. Nauberts »Volksmährchen« erschienen 1789-1793, »Das oldenburgische Horn« findet sich in Bd. 2, S. 129205. Arnim nennt mit »Weygand 1791« eben diesen Band. Er nahm den Hinweis auf die Autorin in der Einsiedlerzeitung auf (20. Juli 1808, Sp. 256) und empfahl den Titel der Prinzessin Solms erneut durch seinen Bruder im Brief an diesen vom 11. Dezember 1812: »ein Buch das seitdem [in Königsberg 1807 hatte er ihr daraus erzählt] durch mich zu grossem Rufe gekommen, nachdem es wohl zwanzig Jahre allgemein verachtet und vergessen war. Jezt wirds rechts und links von den Recensenten gerühmt, nachdem ich einen derben Anstoß gegeben«.

Das » Wunderhorn« und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

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Nach dem Bekanntwerden der Liedersammlung mit dem erfolgreichen Titel konnten Werke, die das Oldenburger Horn betrafen oder es sogar im Medium des Kupferstichs abbildeten, den Wunderhornherausgebern leicht zugespielt werden bzw. ihrer eigenen Aufmerksamkeit nicht länger entgehen. Schon Benedikte Naubert hatte in der Fußnote »Gewährsleute des größern Teils, der in dieser Sage enthaltenen Wahrheiten und Märlein« mitgeteilt, nämlich Elias Reusner, Hieronymus Hennig, Adam von Bremen, Johann Schiffhauer und Laurentius Michaelis. 146 Nach Arnims Rückkehr aus Ostpreußen Oktober 1807 zusammen mit Reichardt wurde, angesichts der nun konkreten Bemühungen zur Fertigstellung des zweiten Wunderhornbandes, eine dem Pegasusreiter korrespondierende aussagekräftige Kupferillustration zum dringlichen Desiderat und naheliegenden Thema, sobald, in welchen Kreisen auch immer, 147 über die Fortsetzung der Liedersammlung gesprochen wurde. Rölleke zitiert aus der Handschrift von Wigands Autobiographie: Arnim kam zu Besuch nach Kassel, »und es wurde damals der zweite Band des >Wunderhorns< besprochen und vollendet. Ich erinnere mich noch, daß ein Titelkupfer sollte erfunden werden, und daß dazu das berühmte Oldenburger goldene Trinkhorn gewählt wurde. Es waren von der Bibliothek Abhandlungen mit Abbildungen gehöhlt worden, und man entschied sich dafür. [.,.]«148 Die Entscheidung über den Kupfertitel wurde zweifellos gemeinsam getroffen, und Arnim teilte die Wahl des Hornsujets am 28. November 1807 dem Verleger Zimmer mit; doch die praktische Planung, die Überwachung der Ausführung (auch die Kontamination mit dem Heidelberg-Emblem Zincgrefs) oblag dann Brentano, der in Kassel blieb und dessen ausfuhrlicher Brief an Zimmer von Anfang 1808 auf diese Aspekte einging. Ludwig Grimm hatte die Zeichnung hergestellt, während Arnim den Stecher Adam Weise, einen Freimaurer, aussuchte. Den Genrewechsel, vom Jägerhorn zum opulenten Trinkhorn, interpretierte Arnim in seinem Schreiben an den Verleger Zimmer auf zu erwartende kunstmythologische Art: »Auf dem Titelblatt des zweiten Theils können wir das alte Horn, das in Schleswig gefunden, abbilden lassen, [...] um zu charakterisiren, wie das reine alte Lied immer hervortritt, nachdem der Knabe geblasen.« 149 Arnim hielt damit das Oldenburger

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Gemünzt auf den 75-Seiten-Text vom Oldenburger Horn scheinen die Worte Arnims im Nachruf auf die Dichterin 1819: »dieses Vollständige, dieses Ursprüngliche, wie in den Volksmährchen, [...] bei denen man oft erstaunt, wie eine dürftige Quelle aus dem Altertume in ihr zu so reichlichem Strome angewachsen ist.« Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 662. Naubert: Volksmärchen, Bd. 2, S. 129. Man traf sich zunächst bei Goethe in Weimar, wo zweifellos über den Folgeband gesprochen wurde. Rölleke: Die Titelkupfer, S. 125-128. Rölleke verwies auf ein entferntes Referatenorgan, dessen Ausgaben von Nov. 1691 und Juli 1697 Brentano im Dezember 1804 Arnim zur Recherche nach Liedem empfohlen hatte, und in dessen Ausgaben von Juli und Aug. 1694 sowie Nov. 1696 Hinweise auf das Oldenburger Horn enthalten waren. Am 28. Nov. 1807 an Zimmer (Zimmer und die Romantiker, S. 147). Es scheint von Oldenburg nach Kopenhagen verbracht zu sein; »in Schleswig gefunden« läßt sich nur schwer als Versehen begreifen, gab es vielleicht aktuellere Nachrichten? Als Bewahrorte werden in der Überlieferung Oldenburg, Kopenhagen und Hannover genannt; im Gegensatz zu Winkelmann traf Bekker es bereits nicht mehr in Oldenburg an, wohl aber sein Conterfei in einem Wirts-

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Horn keineswegs für ein Blashorn, wie man gemeint hat; das neue Titelkupfer sollte etwas >charakterisirenneuenAutorenlieder< ein, wie das »Mildheimische Liederbuch« sie bot; nur aus anderer, weniger aufklärungsorientierter Richtung? Will er wie jenes auf Melodien und Notenschrift (zumindest im Textbuch selbst, Becker bot die Melodien als Separatbände an) verzichten? Was führt überhaupt zu der abrupten, unvermittelten Einlassung Brentanos nach einem fünfwöchigen gemeinsamen Umgang in Berlin, wo zweifellos über eigene lyrische Dichtungen wie über Volkslieder, nicht zuletzt auch mit Reichardt, gesprochen wurde. 204 Die Angst scheint daraus zu sprechen, daß Reichardt und Arnim ein solches Unternehmen in Gang setzen würden, ohne ihn einzubeziehen. Hat Arnims kryptische Mitteilung vom 14. Januar 1805 über einen Aufsatz »für die gute Sache« Brentano in Alarm versetzt, und hat er gar präzisere Informationen aus Berlin darüber erhalten? Der Titel »Von Volksliedern« mit dem Zusatz: »An den Herausgeber dieser Zeitung« konnte ja doch auf gemeinsame Planungen Arnims und Reichardts deuten. Arnims lakonische Antwort, über das »Volksliederbuch« sei man doch längst einig, scheint eine begütigende, großmütige Geste zu sein, die dem Freund sogleich absolute Loyalität zusichert: »nicht ohne dich und mit keinem andern als mit dir möchte ich es herausgeben«; und Reichardt habe er

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Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 442f. Subskription auf28.000 Exemplare, vier gleichzeitige Erstausgaben mit zus. 30.000 Exemplaren. Vgl. Holger Böning: Becker, Rudolph Zacharias. - In: Literatur Lexikon, Bd. 1, S. 377. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 443; Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 293. Der Schlußsatz: »Das heiße, Frankreich den Krieg erklärt.«, bezog sich auf den bevorstehenden 3. Koalitionskrieg 1805-1807, der die Verhältnisse in Süd- und Mitteldeutschland grundlegend änderte. Brentano bezeugt eine Unterhaltung zwischen Arnim und Reichardt (Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 374).

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noch gar nichts vom »Vorschlag« Brentanos gesagt, obwohl Brentano seinen Plan, eigenartig genug, an beide, Arnim und Reichardt, gerichtet hatte. Woher nimmt Arnim diese Einschätzung und Zuversicht, und woher Brentano die Chuzpe, etwas vorzuschlagen, was seit Jahr und Tag im Gespräch ist? Und muß man in Arnims Antwortscheiben eine Sinnzäsur, einen Absatz setzen zwischen »[...] wiederum nur eines.« und: »Reichardt hat über zwölf [...]«, nämlich wo er zuerst vom Volksliederbuch zu sprechen scheint, dann auf einmal auf das Liederbrüderprojekt umschaltet? Wie verhalten sich beide Projekte in Arnims Antwort und Vorstellung zueinander, und wie kommt er auf die absurde Idee, seinen Volksliederaufsatz »als Vorrede unsrer Liederbrüder für meinen Antheil [...]« anzubieten? Zur Beantwortung dieser Fragen muß man offenbar von Mißverständnissen ausgehen, die bereits zwischen den zwei Korrespondenten vorherrschten, von abweichenden Konzepten und Vorstellungen, die erst im Laufe der Zeit und in der praktischen Arbeit in Heidelberg ab Mai 1805 sich annäherten und lösten. Es scheint, daß im Frühjahr 1805 die beiden Projekte Liederbrüder und Volksliederbuch einige Wochen/Monate konvergierten. Brentanos so eigentümlich voraussetzungslos, wie vom Himmel gefallen formulierter Vorschlag vom 15. Februar 1805 ist vor allem praktisch gedacht, korrigierte damit aus seiner Sicht alle »schöne Versuchung auf dem Sopha«, die sich bei Arnim »nach und nach in Scherz« auflöste.205 Als Gegenbild zum »Mildheimischen Liederbuch« Beckers (1799) entworfen, war es in Brentanos Skizze doch ein Spiegel desselben, und er empfing und übernahm viele Anregungen daraus. Beckers Sammlung ihrerseits orientierte sich offenbar in der Feingliederung, der expliziten Berücksichtigung sämtlicher Lebensbereiche und aller Lebensumstände, in der Nennung der Autorennamen, auch in der stupenden Anzahl,206 der Numerierung und im doppelspaltigen Druck an den neuen aufklärerischen Kirchengesangbüchern, wie sie »seit etwa 1760 in wenigen Jahrzehnten Deutschland förmlich überschwemmten«, 207 wobei das Berliner Gesangbuch von Johann Samuel Diterich bei Mylius (1780), das den alten Porst ergänzen oder ersetzen sollte, auf fast revolutionären Widerstand der Gemeinden stieß und von Friedrich II. 1783 durch Order verpflichtend gemacht werden mußte. Arnim rekurrierte im Volksliederaufsatz darauf.208 Wie fur den geistlichen Gesang, so sind auch für das 205 206

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Ebenda, S. 373. In der Anzahl der Liedtexte übertreffen die älteren geistlichen Liederbücher die neuen Kirchengesangbücher, ζ. B.: Lüneburg 1694: 2055 Lieder; Breslau 1748: 1929 Lieder; Lüneburg 1771: 1020 + 221 Lieder; Hannover 1780: 1176 + 214 Lieder; Porst, Berlin 1822: 925 Lieder usw. Günter Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 11*-13* bezieht die Rubrizierung ebenfalls auf die Gesangbücher, dazu auf das Programm des »Noth- und Hülfsbüchleins«, wie er überhaupt das angesichts »Des Knaben Wunderhorn« in Mißkredit geratene, jedoch zeitgenössisch weitaus erfolgreichere Mildheimische Liederbuch im Kontext von Beckers aufklärerischem Gesamtprogramm rehabilitierte. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 460, Anm. 1; ausführlicher im Brief an Brentano, Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 286. Vgl. Arnims Stellungnahme zur Art der Einfuhrung des Berliner Gesangbuchs von 1830 (Schleiermacher u. a.) in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 1026-1029. Siehe Hoffmann: Tradition und Aktualität, S. 17, 24 u. 15.

Das » Wunderhorn« und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

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weltliche Lied unter anderen die Prediger zuständig, 209 auf welche Brentano sich beruft. Brentanos Zielvorgabe: »zum Anfang nur ein hundert Lieder« ist Indiz flir geplante Melodienotierungen, etwa in der Art des »Troubadour«, 210 während das Mildheimische wie die meisten Kirchengesangbücher Melodiehinweise, aber keine Notenbeigaben im Textband enthielt; sie konnten beim Mildheimischen separat erworben werden. Die Unterscheidung der »bessern Volkslieder«, die in der Sammlung »befestigt« werden würden, und »neue hinzugedichtet«, konnte auf die Differenz von historischem (ζ. B. barockem) Liedgut und Gegenwartspoesie um 1800, aber auch auf jene von bekannter und bereits vertonter Gegenwartslyrik (»Der König von Thüle« usw.) und der Lyrik der neuen romantischen Autoren, wie Brentano und Arnim selbst, weisen. Die Bemerkung »Scherzlieder ohne Zote« konnte sich an Vorgaben orientieren, die Becker in einem Preisausschreiben im Kontext der »Volkslieder« für die Verfasser und die Inhalte als maßgebend aufgestellt hatte. 21 ' Arnim reagierte am 27. Februar 1805 überrascht und lakonisch auf den >neuen< Vorschlag bzw. dessen unvermittelte Präsentation, ging dann aber sofort konkret darauf ein. Er bejahte das »Volksliederbuch«, wandte sich aber sogleich seinem »Aufsaz über Volkslieder« zu, der vielleicht dem Liederbuch den Boden bereiten konnte, aber im Auszug leider schon von Reichardt gedruckt sei, so daß eine »Journal«-Aufnahme problematisch sein könne. Arnim behandelte also das Volksliederbuch und den Aufsatz als einander zugehörige Erscheinungen; andererseits bot er wenig später den Aufsatz als Vorwort zu den »Liedern der Liederbrüder« an. Die Kurzfassung, die Reichardt in der »Berliner Musikalischen Zeitung« gebracht hatte, war danach wohl kaum abgesprochen und zweifellos nicht im Sinne Arnims. Arnim geht dann zum Inhalt des Buchs über und orientiert sich wie Brentano zunächst am Mildheimischen, aus dem, gewiß unter anderen, er bereits »fleissig an Liedern« sammle. Nun handelt es sich bei den Texten des Mildheimischen Liederbuchs durchweg um moderne Autorenlyrik aus den dem Erscheinungsjahr 1799 unmittelbar vorausliegenden Jahren und Jahrzehnten, von Hölty und Bürger bis Goethe und Becker, auch Schreiber, überwiegend mit heute unbekannten Autoren. 212 Dies zeigt, in welche Richtung Arnims Gedanken vermutlich gingen. Er kommt denn auch sofort auf eigene Lieder zu sprechen und bezieht die Frage der Melodien und Kompositionen ein, die sogar zum Hauptgegenstand seiner Ausführungen werden. Es gibt zwölf unpublizierte, von Reichardt vertonte Lieder, die er offensichtlich für das »Volksliederbuch« empfiehlt; es sei denn, man setze hier einen Absatz und Sinnabschnitt: gehe davon aus, daß Arnim ohne Übergang anstelle des Volksliederbuchs nun die »Lieder der Liederbrüder« zum Thema machte. Letztere Annahme ist unwahrscheinlich und produziert viele Widersprüche und 209

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Die Aufforderung wendet sich vorzüglich an jene, »welche in öffentlicher Thätigkeit das große innere Treiben des Volkes leiten, Vorgesetzte und Beamte jeder Art, Pfarrer und Schullehrer u. a. mehr.« Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 347. Zweimal 50 Lieder umfaßten ζ. B. die zwei Sammlungen von Reichardts »Lieder geselliger Freude« (Leipzig 1796/97), vgl. Fischer-Dieskau: Reichardt, S. 160f. im Kapitelkontext. Vgl. Häntzschel: Nachwort. - In: Becker (Hrsg.): Liederbuch, S. 13*. Vgl. die Erörterung der Autorenliste ebenda, S. 14*—16*.

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Ungereimtheiten. Es ist vielmehr so: Arnim prescht vor, ergreift die Initiative bewußt die bisher getrennt verfolgten Projekte zusammenführend, oder in selbstverständlicher, vielleicht naiver Annahme, mit Brentano einer Meinung zu sein, das mag dahingestellt bleiben: Er identifiziert beide Unternehmungen, wendet elegant und gleichsam zitathaft das Prädikat »Lieder der Liederbrüder« auf das Volksliedunternehmen an, reißt den Titel neuschaffend auseinander (Sichtung der von >uns Liederbrüdera< gesammelten >LiederVolksVolkslied< und zum (durch versteckte Ausnahmen bestätigten) Verzicht auf Aufnahme eigener Gedichte in der Sammlung »Wunderhorn«, konsequenterweise die erneute Divergenz beider Linien. Auch der Herzenswunsch Arnims nach vertontem Liederbuch war ja unerfüllt geblieben. So war er es, der das Liederbrüder-Liederbuch mit Melodien 1806 alsbald neu ins Gespräch brachte. Am 26. Januar 1806, seinem Geburtstag, ist er, mitten unter der Sammelarbeit von »historisch-romantovölkero-liederischen Sachen«, dabei, auch »die Sterne in meinem eignen Planetario poetico zu putzen, daß sie frisch brennen. Ich gebe immer noch nicht unsre Liederbrüder auf.« 220 Brentano antwortete zurückhaltend. 221 Arnim respondierte am 12. März 1806 mit der Überzeugung »Die Liederbrüder könnten sehr bald herauskommen«: er habe an Bettine geschrieben, »mir ihre älteren und neueren Melodieen auf Deine und meine Lieder gefallig mitzutheilen«, aber sie habe nicht recht darauf geantwortet. »Ausser den Melodieen Deiner Schwester würden Reichardts, seiner Tochter [Louise], Deine und meine Melodieen darin ihren Platz finden. Schreib Deine Lieder ins Reine, jedes einzeln wie die Volkslieder«. Er will, gleich nach seiner Rückkehr von Neustrelitz nach Berlin, mit Reimer über 218

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Brentanos Brief um den 15. Februar 1806 gibt einen Eindruck von den Erfolgen dabei (Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 493^196; Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1,S. 339-342). Zweite Nachschrift an den Leser (1818): Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 479. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 337. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 497f.; Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 343.

Das » Wunderhorn« und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

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den Verlag sprechen. 222 Am 18. März wandte sich Arnim nun ausdrücklich mit der Bitte um Vertonungen an Bettine. Er zählte unter älteren Vertonungen Bettinens auch Goethes »Fischer« auf und bittet um Erlaubnis: »wenn Sie es Sich gefallen lassen, daß wir andre Texte unterlegen, so würde ich auch jede andre Ihrer Melodieen zu bekannten Liedern fremder Leute uns zueignen.« 223 Um den 20. Mai 1806 schrieb Brentano wiederum sehr zaghaft: »Meine Lieder bin ich im Begriff dir abzuschreiben, es sind aber nur sehr wenige, und wenn sie dir zu wenige dünken, so schließe sie aus, ich dachte nicht sie drukken zu laßen«, und er schreibt demütig und ausführlich über sein Verhältnis zu Arnims Gedichten und Liedern, »du hast mir schon alles geleistet, selbst in der Kunst, ich kenne dich im Verhältniß mit dem Kleinsten deiner Lieder, und ihr verführt mich zueinander. [,..]«.224 Als der Freund Stephan August Winkelmann starb, wollte Arnim Gedichte von ihm in die Sammlung aufnehmen: »Ich möchte gerne für ihn etwas thun und wäre geneigt, die besten seiner zerstreuten Gedichte, die so in einem nahen Untergange verfliegen, in unsern Liederbrüdern abzudrucken, [...]. Sammle doch, was Du noch von ihm hast«. »Manches in seinen Gedichten hat mich gereitzt, die Poesie trat mir in ihm zuerst menschlich auf f...]«.225 Aus dem Liederbrüderuntemehmen wurde nun zuletzt, vor den politischen Ereignissen in Göttingen im Herbst und den Kriegs- und Schlachterfahrungen bei Königsberg, die alles beendeten, ein Melodienprojekt zusammen mit der Liederschwester Bettine: »den Abend mache ich Musik, da laß ich ihre Lieder und meine Melodieen in schwesterlicher Vereinigung aus meinem Munde hervorgehen, dann leg ich mich mit meiner Fantasie zu Bett. Ο himmlische Nahrung, [...]«, so schrieb Bettina an Arnim im November 1806.226 Und Arnim erfuhr in Giebichenstein die Wirkung einer Erhöhung des Dichterworts im Gesang durch Louise Reichardt so stark, daß er zum Alchimistengleichnis griff: »es war Geburtstag, Louise sang mir meine Lieder, neuere als Sie kennen, so klockenhell vor, daß ich mich für einen unwissenden Handlanger in einer Goldküche hielt; ich rühre ein, was ich finde, Sie und Louise geben der Masse Gestalt.« 227 - Ich »höre die Syrenen singen, dann sehe ich wieder meine Papiere rings, die weiß geschäumte Flut, ich folgte den Syrenen gern, [...]«, schrieb er an Bettine.228 Von dem »Syrenengesang« der Musik

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Ebenda, S. 353f. - Vgl. Arnims Melodiensendungen vom 26. Jan. und 17. Februar 1806 an Bettine; Bettinens Antwort vom März 1806 (Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 37f. u. 38f.). Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 42. Übertragbare Melodien bzw. die Zuordnung mehrerer Texte auf bekannte oder auch weniger bekannte Melodien, sowie Neudichtungen auf alte Melodien waren auch im Bereich des Kirchenlieds übliche Verfahren. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 523 f.; Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 383f. Winkelmann starb im Februar 1806. Arnims Brief kurz nach dem 11. Mai 1806 (Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 374). Bettine schrieb er am 14. Mai im gleichen Sinne - Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 65. Ebenda, S. 91. Vgl. Ricklefs: Bettine und Arnim, S. 80f. Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 67. Ebenda, S. 46.

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zu seinen Versen erhoffte Arnim sich vielleicht die Teilhabe an einem Kunsthimmel außerhalb des oft gerühmten Tätigkeitsglücks, »das Selbsterquickende der aus eigener Natur stammenden Arbeit«,229 das sonst dem Künstler Erfüllung gibt. So konnten die Lieder der Liederbrüder - auch wenn sie selbst in schönster Drucklegung dem Auge je nur als Buchstaben und Notenzeichen 230 sichtbar würden - die Bedeutung einer realisierten Poesie gewinnen, eines Traums von Lebendigkeit, Aufführung und Performanz, eines Kunstfests; ein Grund vielleicht, weshalb der Autor dem Projekt über Jahre hinweg als Wunschziel treu blieb.

6. Alt und Neu - Poesie und Restauration Das ruhige, treue »Anschließen an das Vergangene, um zur Zukunft zu gelangen«,231 kennzeichnet eine Grundhaltung Arnims, die sich in vielen Bereichen, politischen, juristischen, ökonomischen usw. geltend machte. Entscheidendes Kriterium, analog zum Urteil über Gedichte, die Volkslieder wurden, ist die Bewährung durch Zeit und Gebrauch. Was lebendig, geistig ist - Erscheinung und >Performanz< - , überlebt, weil es kräftig dazu ist.232 Es bedarf des ausdrücklich Neuen nicht, schon gar nicht des abstrakt und unvermittelt Neuen,233 des willkürlichen Konstrukts, weil Alt und Neu im Fortgang der Dinge in einem unaufhörlichen Prozeß begriffen sind, ineinander übergehen, sich dialektisch vertauschen. Das eigene Vaterland, Preußen, fallt unter dieses Kriterium: »Was sollte bestehen, was nicht die Kraft dazu hat! Fort mit uns, wenn wir nicht würdig dieser stolzen Erde, sonst wollen wir uns aber anklammern und einbeißen an dieses liebliche Eigentum, [,..].«234 Die Performanz- und Rezeptionsperspektive kann so auch als spirituelle Lebensbehauptung und als Evidenztest begriffen werden. »Der Geist fuhrt einen ewigen Selbstbeweis«, formulierte Novalis.235 229

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Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 318. Vgl. »Selbstgeschaffne Seligkeit« im Gedicht »Warum floh ich dich so töricht« (ebenda, Bd. 5, S. 873 u. 1529f.). Vgl. an Bettine in: Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 48. Zu der Allegorie ist ein ausfuhrlicheres Konzept überliefert: Zschiedrich: Briefexzerpte 1806, Nr. 23, S. 97. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 202: Das sei das »göttliche Wesen« jener Gesinnung, die in Opposition zu Napoleon steht, welcher »als wahrer Zeitgeist, sich hätte ausbilden können«, wenn er nicht den Krieg gegen England betrieben hätte. Vgl. die Demantfestigkeit »im vieljährigen Fortrollen«, welches die wahren Volkslieder auszeichnet - Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1 . S . 4 7 3 . Kritisch zum »Wirbelwind des Neuen« s. ebenda, S. 438. - Mechanisch-willkürliche Konstruktion ist, mit Edmund Burke, Kennzeichen der Revolution. An Bettine, 5. Aug. 1806 (Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 1, S. 71); deutlicher im Entwurf/Exzerpt: »wir wollen uns anklammern und einbeissen und dem Feind zum Eigenthum machen« (Bettina Zschiedrich: Ein Krakower Konvolut Arnims mit Exzerpten, Konzepten und Notizen 1806-1907. - In: Burwick und Härtl (Hrsg.): »Frische Jugend, reich an Hoffen«, S. 165-180, hier S. 178). Zum Bild des »Einbeißens« vgl. das Sonett an Vamhagen (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 360 u. Kommentar, auch S. 302). - Parallelstelle ebenda, Bd. 6, S. 202. Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 412.

Das » Wunderhorn« und Arnims Kunstprogramm und Poesieverständnis

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Entgegen dem Mittelalterkult Jacob Grimms spricht Arnim die Möglichkeit zur Poesie und ihrer >Offenbarung< deshalb allen Zeiten zu, der »Trunk aus ewigen Quellen [...] bleibt allen Zeiten«; 236 - »die Poesie ist weder jung noch alt und hat überhaupt keine Geschichte«. 237 Das Historische ist das bloß Weltliche: es erscheint gelegentlich auch in einem durchaus satirischen oder skurrilen Licht. Die Geschichte wird nüchtern als eine zweite, als andere Gegenwart begriffen, ihr gegenüber durch nichts ausgezeichnet oder bevorzugt. Die Verehrung gilt den höheren Erscheinungen der Zeiten, ihrer überragenden Spiritualität, dem Ethos vergangener Epochen aber in gleichem Maße wie den entsprechenden Tugenden der Gegenwart. Alte und neue Lieder, Texte des 16. bis 18. Jahrhunderts und die neuen Poesien um 1800 bzw. die Produktionen jeder künftigen Gegenwart rücken in Arnims, teils auch Brentanos, Vorstellung so nah zusammen, daß es unseren historischen Sinn nicht wenig irritiert. Historisches Bewußtsein mit dem inhärenten stilkritischen Unterscheidungsvermögen, mit der Faszination durch eine historische Aura alter Texte, Erscheinungen und Dinge scheint Arnim mit spiritueller und poetologischer Überzeugung methodisch unterdrückt und ausgeblendet zu haben; oder war es ihm aus der Perspektive der Geistmetaphysik tatsächlich fremd? Dem widerspricht nur scheinbar das vorhandene Gefühl für die besondere Kraft und >EchtheitÖffentlichkeit< der vorsubjektiven Schreibweisen des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts, sein Eintreten für Texte von Tauler, Luther, Gryphius, Zincgref und andere. 238 An ihnen erfuhr er »jene Freiheit alter Sprache, die Starrheit der heutigen«. 239 Ganz offenkundig dachte Arnim nicht historisch, wenn man darunter die nachaufklärerischen, sentimentalischen, d. h. verdinglichenden Haltungen zur Vergangenheit begreift. Ein Wort zur historischen Texttreue. Es gibt zwei Parteien: auf der einen Seite die Romantiker und modernen Poeten - auf der anderen die Historisten, Antiquare und Philologen. Besonders bei Jacob Grimm zeigt sich, daß die zweite Partei Mythisierungen nicht ausschließt, nämlich Glaubensthesen von der Göttlichkeit und Unwiederholbarkeit der ursprungsnahen epischen, unbewußten und kollektiven Poesie. Bei der ersten Partei stehen Gegenwartswirkungen, politische, bildungsorientierte und allgemein geistige oder poetische vorrangig auf der Agenda. Wilhelm Grimm bringt es auf den Punkt: »[Jacob] mag nun die Geschichte nicht anders als Vergangenheit betrachten«, das verschüttete Pompeji muß ihm lieber sein

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Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 3, S. 142. Ebenda, S. 225. Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 459f.: zu Zincgref: »wie die Sprache [...] sich weitet«, »jene Freiheit alter Sprache [...]«. - Zu Tauler: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1256 u. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 435. Zu Luther u. a.: Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 283-286. - Zur Erneuerung von Gryphius: »Cardenio und Celinde«, im Drama »Halle und Jerusalem«: »Hör einmal aufmerksam die Verse des alten Gryphius, da ist kein neuer Wortprunk, nein, da ist die Wahrheit [...]« (Arnim: Sämmtliche Werke, Bd. 16, S. 75). Arnim: Von Volksliedern - Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 460. - Zur analogen Diskussion über das geistliche Lied s. Hoffmann: Tradition und Aktualität, S. 90ff., 70ff„ 30ff. und passim.

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als das auf den Trümmern des alten (Roms) »fortgebaute Rom«. 240 Die antiquarische Vergangenheit ersetzte hier die Geschichte als Inbegriff der Transformation, der Dynamik, des zukunftsoffenen Geschehens, des Werdenden. 24 ' Wenn die Differenz zwischen alter und moderner Poesie prinzipiell weitgehend aufgehoben ist wir finden das bei Brentano wie bei Arnim - so steht das Editionswesen philologisch unter keinem guten Stern. Aber die Philologen und Historiker sind Partei, und müssen es sein. Das Wunderhorn-Unternehmen mußte mit den Spannungen fertigwerden, die sich durch die zwei Orientierungen, Rettung des Alten und Wirkung in die Moderne, ergaben. Das für die zeitgenössischen Kritiker des Wunderhorn so wichtige Problem der »Restaurationen und Ipsefakten« 242 fokussiert die Spannung. Das Restaurationswesen der Herausgeber ist, wie wir sahen, von der Idee der Einheit der Poesie und der Vergleichbarkeit der Zeiten getragen. 243 Die Veränderungen der Texte im Rezeptionsprozeß verdanken sich weniger der Geschichtlichkeit des Verstehens, sie zielen auf Verstärkung der poetischen Virulenz der Texte, suchen die günstigsten Bedingungen für eine wirkungsvolle Rezeption. Darin besteht Arnims Programm der Poetisierung. Sie kennt kein Eigentum, keine historisch-philologische Ursprungs- und Epochenechtheit, sondern allein die Evidenz der poetischen Vorstellungen und der Wortwirkungen. Die >Übersetzung< in das Verständnis der eigenen Zeit, die Änderungen der Texte, wo es notwendig ist, das sind selbstverständliche Tugenden. Das äußere oder innere (rezeptive) Weiterdichten ist Recht und Pflicht jeder lebendigen Rezeption. Derart entstehen Texte aus Texten; »welches Kunstwerk als Kunstwerk kann aber ganz geschlossen werden ehe vor dem Untergange der Welt«. 244 Ein Beispiel gaben die Märchen von Benedikte Naubert: »dieses Vollständige, dieses Ursprüngliche, wie in den Volksmährchen [...], bey denen man oft erstaunt, wie eine dürftige Quelle aus dem Alterthum in ihr zu so reichlichem Strome angewachsen ist.«245 Arnim relativierte zwar die Autorposition - das galt auch für die Arbeit des Herausgebers - , andererseits »kann [ich] aber darum doch nicht anders, als nach meiner Vollmacht

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Ebenda, S. 205f. - Zu Brentanos Ansatz siehe oben Anmerkung 73. Vgl. Arnims Gedichte »Lehrgedicht an die Jugend« und »Rundgesang gegen die Unterdrücker des Werdenden [...]« (Zeitung für Einsiedler, Sp. 142-144 u. Sp. 264; Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, 565-568 u. S. 584f.). - Zum Thema >Überarbeitung alter Texte< vgl. in komplexer Einordnung auch Burwick: »Der Kreis des Wissens dreht sich wandelnd um«. Arnims kulturpolitisches Programm in den Berliner Jahren. - In: Ricklefs, Ulfert (Hrsg.): Universelle Entwürfe - Integration - Rückzug, S. 1-24, hier S. 15f. Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 376. Zur Kririk vgl. Rieser: Quellen, S. 16f. Einen Sonderfall, die (fehlgeschlagene) antike Modernisierung eines mittelalterlichen Kirchengebäudes durch klassizistische Umkleidung, gestaltete Arnim 1826 in einem Gedicht innerhalb der komplexen Erzählung »Metamorphosen der Gesellschaft«, die selbst das Thema Alt und Neu reflektiert. »Die alte Kirche ragt so hoch empor« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 537-540): »Ein wahrhaft Neues war dies Alte einst, / Ein Strahl des Ew'gen in den Geist der Zeit, / Wenn du im Geist zu neuem Werk erscheinst, / Gib neuem Bau des Alten Haltbarkeit.« Handschrift GSA 03 / 9.3, bezogen auf die Erweiterung des nach Gryphius adaptierten Dramas Halte durch den Jerusalem-Teil. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 662.

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handeln«. 246 Seine Antwort auf Brentanos Restaurationsbrief argumentierte mit der Unsicherheit der Überlieferung, vor allem aber mit der Zeitanbindung und Vermittlung. Bei vielen antiken Statuen sei es noch heute zweifelhaft, was Original und was Restauration sei, bei Raphaels »Transfiguration« unsicher, wie viel er selbst daran gearbeitet habe; so auch bei der Ilias, bei Shakespeare und bei Piaton: und darin liegt es, daß unser Wunderhom etwas ward, was bis dahin noch nicht vorhanden, die Menschen, die bis dahin hundert alte Lieder blos als Merkwürdigkeit [...] einer andern Zeit hatten vorüberstreichen lassen, sahen die auf einmal mit ihrem eignen Worte verbunden. Der lebende Beweis davon ist Goethes Recension von Anfang bis zu Ende, die grellsten Verkettungen von Altem und Neuem sind ihm die liebsten, denn nur in diesen bewährt sich ihm recht die Lebenskraft des Alten. 247

Brentano, der eine Zwischenstellung einnahm, beobachtete die inspirierte Textbearbeitung des Freundes mit einiger Skepsis und schrieb rückblickend: »kurzum du dichtest, und wenn du in Zug kömmst, kannst du nicht glauben, wie angst und bang mir wurde, denn in einem poetischen Fieber von 1808, nahmst du hintereinander alle Saecula vor, und gabst ihnen oft wieder willen und ohne Noth von deiner Hypocrene.« 248 Arnim dagegen berief sich auf den Erfolg der Ossian'sehen Dichtungen: Um die guten Leute die Büchergelehrten Antiquarier habe ich mich nie bekümmert, am meisten hatte ich das werdende Geschlecht der jungen Kinder vor Augen [...] unter allen diesem nachgemachten Alterthume ist nie etwas erschienen, was den Geist der Zeit so lebendig berührt hat wie Macpherson (Ossian) mit seiner Neumachung der alten Gedichte, das geht so weit, daß man jezt kaum die alten sehr merkwürdigen Fragmente lesen mag, die jezt unverändert erscheinen. [...] Haben wir gefehlt, so sind wir es doch beyde, Du machst Dich vor Deiner antiquarischen Autorität noch so sehr weiß brennen und am Ende ist es doch gerade so heiter wie jenes fürstliche Feuerwerk, wo es an Springbrunnen fehlte, die zu dem bunten Feuer spielten, da nahm man f...]. 24 '

Im Nachwort zum Wunderhorn 1818 trieb Arnim die Rezeptionsperspektive leicht ironisierend auf die Spitze. Er wünscht seine eigenen Dichtungen und Lieder von späteren Herausgebern so behandelt, wie er und Brentano die Wunderhornlieder traktierten; er entschuldigt sich geradezu, »daß nicht noch manches andere darin gerundet, gekürzt und ergänzt ist«: »Mögen andere an unsre Lieder die Liebe wenden, die wir an jene alten gewendet haben«. 250 Nichts anderes geschehe auch in der Rezeption der Volkslieder durch Leser und Sänger. Arnim spricht als Künstler

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Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 489f.. Ebenda, S. 490. Kursivierung von U. R. Hippokrene, der Quell des Pegasus; Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, S. 25; Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 487. - Vgl. Strack: Arnim, Brentano und das Wunderhorn, S. 129f. und S. 122ff. über das Restaurationswesen. Brentano ermahnte Arnim wiederholt, stimmig mit dem Motivmobiliar aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten umzugehen. Arnim sah eher auf die allegorische und motivische Bedeutung der Berührungen und Syntagmen. Brief vom 8. Februar 1808: Amim/Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 490-492. Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhom (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 484.

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und Futurist, achtet die Performativität, das Regietheater, freut sich an der unverbrauchten Lebendigkeit der manipulierten Künste und Traditionen, leugnet den philologisch-historischen Sündenfall, den angeblichen Etikettenschwindel, eine Buche mit der Aufschrift, dies ist eine Eiche, wie Jacob Grimm argumentiert hatte.251 Begründet ist das für Arnim in der Untrennbarkeit von Text und Rezeption, weil es ihm um die poetische Lebendigkeit - mit seinen Worten, um das geht, was »frey durch alle Zeiten« hindurchlebt und die Menschen »in neuen und alten Schriften gleich lebhaft« anzuregen vermag. 252 Vorherrschend ist die Überzeugung, daß sich das Alte nur durch Erneuerung als das Neu-Alte durchsetzt, daß ein Altes >an sich< gar nicht zu haben sei oder völlig bedeutungslos ist, so wie Neues >an sich< überhaupt nicht denkbar 253 oder Sünde gegen den Geist.254 Mythologisch sagt es die Vision: »Alle trinken da den Tau der Begeisterung, denn ehe der Wolf Fenris die alte Norne, das alte Leben verschlungen, hat sie eine schönere Tochter geboren, die neue Zeit mit hellerem Angesicht. Dann sind wir gar nicht mehr und doch leben wir dann erst.«255 Im »Stechlin« 256 spricht mit Dubslav und Melusine noch Fontane in ähnlicher Gesinnung und Überzeugung.

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Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 3, S. 193. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Nachdr. 1926), Bd. 1, S. 483 (1818). Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 3, S. 249. Vgl. »es wäre Sünde gegen den heiligen Geist, wie jede Vernachlässigung eines Talents« (Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 158). Anspielung auf Mt. 12, 32 bzw. Luk. 12, 10. Ebenda, S. 163. Kursivierung von U. R. Dazu: Walter Müller-Seidel: Fontane. Der Stechlin, S. 164-185 und passim.

Detlef

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»grellste Verkettungen von Altem und Neuem«: Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift bei Achim von Arnim

1. Stimme und Schrift in Des Knaben

Wunderhorn

Um die Authentizität, Spontaneität und Natürlichkeit der alten, volkstümlichen Lieder aus Des Knaben Wunderhorn zu behaupten, sympathisiert Achim von Arnim mit der Vorstellung, sie flögen »ungedruckt und ungeschrieben zu uns durch die Lüfte [...] wie eine weiße Krähe«1. Es war bekanntlich das Interesse Brentanos und Arnims, für ihre »Sammlung alter Lieder« den Eindruck einer sich selbst dichtenden Volkspoesie hervorzurufen, für die Mündlichkeit das entscheidende Kriterium sein sollte. Mündlichkeit wird dabei so hoch taxiert, weil sie mit Lebendigkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit assoziiert wird. In medialer Perspektive kontrastiere sie damit als vermeintlich unvermittelt Ursprüngliches dem Toten und Vermittelten der Schrift. Bis auf Piatons Schriftkritik im Phaidros-Dialog kann sich die Laudatio auf die lebendige Stimme bekanntlich zurückbeziehen. Neben dem Vorwurf, die Schrift schwäche das Erinnerungsvermögen der Menschen durch Externalisierung des Gedächtnisses, steht der zentrale Vorbehalt, die Schrift täusche eine Anwesenheit vor, wo sie eigentlich tot ist. Sie stellt nur, so Piaton, die Illusion einer Lebendigkeit: Der Leser einer schriftlichen Botschaft kann bei Verständnisschwierigkeiten keine Rückfrage an den Autor richten, weil Schriftlichkeit jede konkrete und unmittelbare Dialogsituation aufhebt. Das lebendige Gegenüber verschwindet in den abstrakten und toten Zügen der Schrift.2 Was bei Piaton jedoch konsequenterweise im Rahmen eines Dialogs, also auf der Basis einer mündlichen Kultur vorgetragen wird, gerät in der Romantik in eine brisante Ambivalenz. Ihre Sehnsucht nach der unmittelbaren und lebendigen Präsenz der bevorzugt weiblichen - Stimme ist ein literales Phänomen. Ihr Streben nach der Fülle des Lebens ist eigentlich ein Textbegehren. Auf die Ambivalenz von Literalität und Oralität beziehen die Herausgeber des Wunderhorn häufig auch fingierte Quellenangaben, die integraler Bestandteil eines ästhetischen Spiels sind, in dem historisch Distanziertes und generisch weit Auseinanderliegendes durch eine Übersetzungsleistung in einem einheitlichen 1

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Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 430. Vgl. Piaton: Phaidros - Werke in acht Bänden, Bd. 5, S. 1-193, hier S. 181 (276a), wo die »lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden« dem »Schattenbild« der Schrift entgegen gesetzt wird.

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Fokus gespiegelt und als eigenständige Kunstwerke etabliert werden. Fingierte Authentizität wie ζ. B. »Aus mündlicher Überlieferung in Maria's Godwi. Bremen 1802«3 steht neben einer archaisierenden Textqualität in der Angabe »Abgeschrieben vom Giebel eines Hauses in Arth in der Schweiz, durch Arnim«. 4 Und die häufig verwendete Angabe »Altes fliegendes Blatt« für Flugschrift bleibt in der Schwebe zwischen schriftlicher Tradierung und natürlicher Mündlichkeit. Das Spiel mit der Authentizität der Überlieferung läßt sich auch dort beobachten, wo die Wunderhorn-Sa.mm\\mg unterschiedliche Fassungen von Gedichten anbietet. So manifestiert sich Brentanos Kritik an Arnims glättender Bearbeitung des Überlieferten, indem er im Falle der Ballade von den Königskindern und des Falkenliedes auf Arnims Fassungen im ersten Band in den folgenden Bänden weniger überarbeitete Fassungen folgen ließ. Ein Vergleich der verschiedenen Versionen zeigt, wie sehr sich eine harmonisierte, metrisch geglättete romantische Volksliedstrophe von der (auch inhaltlich) sprunghaften Unregelmäßigkeit dessen unterscheidet, was um 1800 vielleicht tatsächlich noch - so Goethes Formulierung in seiner bekannten Rezension des Wunderhorn - »durch den Mund des Volkes« 5 ging. Auch Brentano treibt sein Spiel mit der Simulation authentischer Überlieferung, wenn er ein weitgehend eigenständiges, nur nach Volkslied-Motiven gearbeitetes Gedicht, Der Staar und das Bettelweib, mit folgender Herkunftsangabe versieht: »in der Spinnstube eines hessischen Dorfes aufgeschrieben«. 6 Immerhin hält er den Akt der Niederschrift in Erinnerung, der stets eine unaufhebbare Spannung zur suggerierten Spontaneität des Volksliedes aufbaut. Bei einem vielfältig gebrochenen Verhältnis von Tradition und romantischer Modernität wird man den Versuch, sich das Alte anzueignen, nicht ganz von einer geschichtsphilosophischen Perspektive entkoppeln können, für die Schillers Begriffspaar »naiv und sentimentalisch« konstitutiv ist. Die artifizielle, mit dem Schein von Schlichtheit spielende Komposition der Wunderhorn-Lieder ist mit einem leichten Zug von Wehmut und Melancholie durchzogen, der als präziser Indikator ihres grundlegenden sentimentalischen Zuges gelten kann. 7 Die Kultivierung und Glättung des derb Körperlichen in volkstümlicher Poesie erzeugt im Zweiklang mit melancho-

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Amim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 16. Ebenda, S. 15. Goethe: Rezension des Wunderhorn - Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 40, S. 337-359, hierS. 358. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 7, S. 276. Vgl. Schultz: Brentano, S. 24: »Beim ersten Lesen erscheinen die Texte simpel; ihre Raffinesse, die feine - dem derben Volkslied gänzlich entfremdete - wehmütige Stimmung, der Hinweis auf die Alleinheit der Welt, auf die hieroglyphischen Zeichen der Natur: Das sind Elemente frühromantischen Denkens, die sich kaum merklich in den Text der (modernisierten) Quellen >einschleichenHerausgeber< älterer Werke, der verschiedene >Fassungen< eines gegebenen Werkes ediert, sondern betrachtet die eingearbeiteten älteren Texte als Zeugen einer besseren, goldenen Zeit, die er erneut evoziert. Es ist eine selbstbewußte Aufnahme der Tradition.«

Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift

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lischer Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit jenen Ton, den man in der deutschen Literaturgeschichte vor allem mit den Liedern des Wunderhorn assoziiert und den man, im besten Wissen, daß es sich um einen »Kunstton« 8 handelt, als »Volksliedton« überliefert. 9 Die Intention Arnims und Brentanos, die gesammelten alten Lieder als Naturpoesie erscheinen zu lassen, wird in der zeitgenössischen Rezension von Joseph Görres noch überboten. Metaphernreich beschwört Görres den »Mund des Volkes« und läßt die Lieder des Volkes aus einem »Strom milder Muttermilch« und »frischem, kühlem Bergwasser aus den Brüsten der Erde« 10 entspringen. Symptomatisch hierfür ist die Einkleidung der poetischen Produktivität in das naturmetaphorische Gewand der Quelle. Wie die natürliche Wasserquelle die Sprache des verborgenen Buchs der Natur zur Erscheinung bringt, verliert sich der Ursprung der Poesie im Verborgenen einer naturhaften Poiesis: Jedes exemplarische Kunstwerk wird ausgetragen und angezeigt in der Verborgenheit des geistigen Fruchthalters, und dann an den Tag gelassen, wie die Natur ihre Thiere und Pflanzen von sich gelassen [...] Vor Allem aber, indem sich emsig des Menschen Thätigkeit versucht, ist Poesie aus dem höchsten Übermuth des Lebens hervorgegangen; der Begeisterte hat im Rausche die Adern sich geöffnet, und blutet mit Lust die Dichtung aus den warmen Quellen: was sie treibt, ist daher auch mehr, als irgend anderswo jene geheime Wirkkraft des Lebens, fern von Überlegung abgewendet und keiner Zurechnung fähig und keiner äußerlichen Regel. Selbst des Menschen Ursprung ist in dieser Poesie und ihrer Liebe, und ihre Quellen brechen mit einander aus der Erde hervor. Am reichlichsten fließen diese Quellen in der Jugend der Völker, wo mehr noch des wilden Blutes tobt, das in späterer Sittsamkeit allmälig nach abwärts sich verwässert, und nach aufwärts sich alcoholisiert."

Zwar räumt Görres ein, die Wunderhorn-Lieder nicht direkt der alten Naturpoesie zurechnen zu können, 12 wenn er dann aber die Herausgeber als emsige »Bienenväter« 13 bezeichnet und den Volksliedton in den Status von »süßer Muttermilch« 14 erhebt, dann schreibt er die Ursprünglichkeit und die Naturhaftigkeit der Volkspoesie fort. Nicht zum Geringsten läuft diese Rhetorik über eine Quellenmetaphorik, die wiederholt überall dort eingesetzt wird, wo die Entstehung und Künstlichkeit von Poesie in die Unzugänglichkeit eines hypostasierten Volksmundes oder in die nicht minder verborgene innere Produktivkraft eines Dichters verwiesen wird. Genau dies betont das Schlußbild des letzten Wunderhorn-Lieds Hans Sachsens Tod: »Am Boden hell / Der Himmelsquell / Ist eingelegt, so Well auf Well, / Die

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Frühwald: Romantische Lyrik. - In: Mandelkow (Hrsg.): Europäische Romantik, S. 365. Vgl. Klemer: Romantik, S. 278-282. Görres: Rezension des Wunderhorn - Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 24-45, hier S. 24. Ebenda, S. 25f. Vgl. ebenda, S. 28: »Wir sind nicht in Versuchung, diese Lieder fur jene Naturpoesie zu erklären, von der wir früher gesprochen haben. Die früheren Geschlechter haben diese in ihrer ursprünglichen Form meist mit ins Grab genommen [...] Nur einzelne Accente, die Grundaccorde leben von diesen alten Gesängen, und wir behaupten, daß sie aus dieser Volkspoesie noch am lautesten tönen.« Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 31.

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Taube bleibet mein Gesell / Und trinkt des Buches ewgen Quell, / Gottes Wort in der Natur.« 15 Selbstverständlich war Arnim und Brentano klar, daß sie in ihrem Wunderhorn weder Tauben noch andere Vögel eingefangen haben. Bereits Arnims eingangs zitierter Vergleich der alten Lieder mit Krähen beinhaltet ja eine kaum zu überlesende Ambivalenz. Es ist dort nämlich von einer weißen Krähe die Rede, und diese spielt weniger auf einen besonders exotischen Vogel an, als daß sie in einem Oxymoron die Behauptung einer lebendigen Stimme gegenüber der toten Schrift wieder unterläuft. Die Stimme, die im Wunderhorn - und andernorts in romantischen Texten - erklingt, ist durchweg eine schriftgewordene und mithin stumme Stimme. In einer ironischen Wende rückt das schwarzweiße Bild die Verhältnisse wieder gerade: die weiße Krähe als versteckte Allegorie auf das Schwarz der Schrift auf weißem Untergrund.

2. Quellen Die romantische Verwendung der Quellenmetapher geht in die gleiche Richtung. Zwar will sie den ungebrochenen, mündlichen Ursprung der Poesie und die innige Verbindung von Schrift und Mündlichkeit beschwören. Die Differenz beider treibt die Verwendung der Quellenmetapher jedoch in eine vergleichbare Ambivalenz: Wo der romantische Schriftsteller sich einerseits mit der Quellenmetapher des sprudelnden Ingeniums eines Originalgenies versichert, da baut sie andererseits eine Vorgängigkeit auf, die Schreiben mehrheitlich als eine Umschrift in Architexten und - in dem Maße, wie die Quelle als Metapher des Unbewußten dient als Aktualisierung einer unbewußten Dynamik erscheinen läßt, das die Autonomie der Phantasie untergräbt. Insbesondere für Arnim ist dieser intertextuelle Traditionsdruck zu beobachten. Unterscheiden lassen sich hier zwei Verwendungsfelder: ein eher philologisch-editorisches und ein eher literarisches Feld. Die einschränkende Formel deutet bereits an, daß die Übergänge ausgesprochen fließend sind. Gegenüber der disziplinierten Textkritik Karl Lachmanns, Georg Friedrich Beneckes oder auch Jacob Grimms zeichnen sich die im eigentlichen Sinne romantischen Editionsprojekte dadurch aus, daß sie eher an einer konstruktiven Metamorphose oder kongenialen Um- bzw. Fortschrift interessiert sind. So ist Arnim von der philologisch höchst fragwürdigen Ausgabe des Nibelungenliedes durch Friedrich von der Hagen angetan, weil sie »besser mit der gesamten Natur dieser Dichtungen« 16 übereinstimme, also sozusagen das Wesen des mittelhochdeutschen Textes treffe. In seinen eigenen Textbearbeitungen ist er, wie er Brentano gegen-

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Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 8, S. 234. Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe, S. 400. Vgl. ebenda: »Niemand arbeitet so ernsthaft philologisch auf alte deutsche Zeit wie Hagen«.

Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift

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über bekennt, an den »grellsten Verkettungen von Altem und Neuem« 17 interessiert. Beispiele für die »grelle« Umschrift älterer Texte bietet Arnims Romanerstling Hollin's Liebeleben (1802) ebenso wie seine erste große Erzählsammlung, Der Wintergarten von 1809, reichlich. Angesichts der Umschriften von Johann Gottfried Schnabels Wunderliche Fata einiger Seeleute, Johann Michael Moscheroschs Wunderliche und wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald oder vor allem dem titelgebenden Roman Johann Beers Die teutschen Winter-Nächte und Die kurtzweiligen Sommer-Täge drängt sich der Eindruck auf, als erprobe Arnim in seinen schriftstellerischen Anfangen romantisches Schreiben als Umschrift eines erdrückenden Archivs von Texten. Von der Novellensammlung von 1812 und der Gräfin Dolores an hat er dieses Schreiben als gleichsam antiquarische bricolage ausgearbeitet. Und in dem Maße, wie er diese perfektioniert, rückt Arnim von den frühen editorischen Projekten ab. Allerdings waren diese immer schon einem höchst poetischen Verständnis von Philologie gedankt. Ebenso bleiben seine späten Texte bis zum Landhausleben von 1826 einem intertextuellen Projekt verpflichtet, das das Neue als Umschrift des Alten sieht. Und da diese Schriftpraxis einem verstaubten Archiv verpflichtet ist, bedarf es immer wieder der Erinnerung an die Stimme, um Lebendigkeit zu simulieren. Für die geplante Ankündigung von Christian Reuters Schelmuffsky muntert Arnim Brentano auf: »Du kannst zulügen daß die Balken biegen.«18 Die Gegenposition Jacob Grimms sei kurz angeführt, nicht um einer vermeintlichen Objektivität disziplinierter Quellenbehandlung das Wort zu reden, sondern um zwei Grenzwerte des Umgangs mit historischen Texten innerhalb der Romantik zu skizzieren. Die Stelle findet sich in einem Brief an Wilhelm Grimm vom 17.5.1809. Sie ist direkt auf Brentano und Arnim gemünzt: Sie wollen nichts von einer historischen genauen Untersuchung wissen, sie lassen das Alte nicht als Altes stehen, sondern wollen es durchaus in unsere Zeit verpflanzen, wohin es an sich nicht mehr gehört [...] Sowenig sich fremde edele Tiere aus einem natürlichen Boden in einen andern verbreiten lassen, ohne zu leiden und zu sterben, sowenig kann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d.h. poetisch; allein historisch kann sie unberührt genossen werden [...]."

Auch Wilhelm Grimms editorische Sorge geht in die nämliche Richtung. Er schreibt am 22.2.1819 anläßlich der zweiten Auflage des Wunderhorn an Arnim: Sonst glaub ich über das Wunderhom, daß es gut wäre, wenn die ganz unveränderten Lieder in einer Sammlung herauskämen, aus dem Grund aus welchem einer, der durch eine Uebersetzung, was doch Euere Bearbeitung im hohem Sinn sein soll, glaubt ein Werk eingeführt und nah gerückt zu haben, doch wünschen wird, daß auch das Original erhalten bleibe [...] und deshalb ist es nöthig, daß die Quelle nicht verschüttet werde. 20

17 18 19 20

Ebenda, S. 490. Ebenda, S. 502. Zitiert bei Bluhm: Brüder Grimm, S. 297f. Zitiert bei Rölleke: Kommentar zu Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9.1, S. 35.

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Und wenn man zusätzlich bedenkt, daß Grimms Vorstellungen von Textkritik aus dem Blickwinkel Lachmanns allenfalls als »wilde Philologie«21 erscheint, dann leuchtet ein, daß das Authentizitäts-Postulat der Quellentreue allenfalls eine graduelle Größe sein kann. In den romantischen Textausgaben geht mündlich und schriftlich Überliefertes mit Bearbeitetem und Selbstgedichtetem eine nur schwer zu trennende Mischung ein. Erstens stellt man sich damit gegen den Klassizismus in eine weitgehend verschüttete Tradition deutscher Literatur, die man zweitens in den Stand authentischer Quellen erhebt, authentisch deshalb, weil sich in ihnen Volkspoesie unmittelbar artikuliere. Drittens versieht man im Zuge dieser Traditionsbildung die romantische Poesie selbst, so künstlich und voraussetzungsreich sie auch sei, mit dem Siegel des Authentischen und Quellenhaften. Das Leitmotiv bringt wiederum Görres mustergültig auf den Punkt, wenn er diese Quellen an den »Mund des Volkes«22 zurückbindet und Volks- und Naturpoesie hierin identifiziert.

3. Stimme oder Schrift: Halle und Jerusalem und Seltsames Begegnen Wiedersehen

und

Auf dem Feld der - im engeren Sinne - literarischen Praxis wird sowohl der mediale wie der erotische Aspekt im Zusammenspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit deutlicher. In einem kurzen Seitenblick auf Arnims Drama Halle und Jerusalem (1812) kann das illustriert werden. Es handelt von der Pilgerreise des Helden Cardenio zum Grab der Mutter. Hier will er sein unbewußtes, inzestuöses Begehren sühnen. Das steinerne Grabmal der Mutter ist gleichzeitig ein Brunnenquell, aus dem inmitten der Wüste Wasser quillt. Genau genommen ist es der Mund der Mutter der in der Dürre der Wüste Wasser spendet. Die Szenenanweisung lautet: »Ein Brunnen in der Wüste, an welchem ein weiblicher Kopf in Marmor aus einem Röhrlein das Wasser ausströmen läßt.«23 In der allegorischen Skulptur der Mutter in der Wüste läßt Arnim ein mediales Grundszenario der Romantik zusammenlaufen: Inmitten der Wüste der männlichen Schrift ist es der mütterliche Mund und die Rede der Mutter und Geliebten, die die Schrift speisen. An diesem Brunnen läßt Arnim auch die Offenbarung der verborgenen Familienkonstellation geschehen. Sie liest sich wie das Präludium zu einem ödipalen Akt. Genau an der Stelle, wo jetzt die Quelle ist, hat einst der Vater die Mutter vergewaltigt und den Sohn Cardenio gezeugt, der, nachdem der Vater endlich den Weg in die Ewigkeit gefunden hat, sich mit dem steinern Bild der Mutter vereinigen kann.

21 22 23

Vgl. Wyss: Wilde Philologie. Görres: Rezension des Wunderhorn - Sämtliche Schriften Bd. 4, S. 24. Arnim: Halle und Jerusalem - Sämmtliche Werke (Neue Ausgabe) Bd. 8, S. 233. Vgl. Kremer: Durch die Wüste. Achim von Arnims uferloses Drama Halle und Jerusalem. - In: Japp, Scherer, Stockinger (Hrsg.): Das romantische Drama, S. 137-157.

Die Präsenz der Stimme und das Archiv der Schrift

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Der literarische Text organisiert sich über dem weißen Fleck einer traumatischen Lebensgeschichte und in einem gleichen Maß über einem überwältigenden literarischen Archiv. Bei Halle und Jerusalem handelt es sich bekanntlich um eine Adaption des barocken Trauerspiels Cardenio und Celinde von Andreas Gryphius, das seinerseits eine dramatische Bearbeitung der italienischen Übersetzung einer spanischen Novelle ist. Die Voraussetzungen für eine intertextuelle Poetik der permanenten Umschrift liegen in diesem Fall also förmlich zu Tage. Gestützt wird dieser Befund durch den Umstand, daß Arnim über einem tragikomischen Grundgerüst ein hybrides Gewebe ganz unterschiedlicher Traditionslinien komponiert hat. Sie reichen über die Dramen des Sturm und Drang zurück bis zur Tragikomik Shakespeares, die mit dem katholischen Erlösungsspiel Calderons verknüpft wird. Die am Ende von Arnims Stück beschworene »Alte Zeit« 24 führt auf einer Spur in die allenfalls psychoanalytisch zugängliche Kindheit. Eine andere Spur leitet in das diffuse Gewebe eines Textarchivs. Eine Umkehrung der Relation von Stimme und Schrift findet sich in der Erzählung Seltsames Begegnen und Wiedersehen (1817). Arnim nimmt hier die prägende Funktion des Schrifterwerbs in der Familie zum Ausgangspunkt für eine Kette von Mißverständnissen und Zufallen, die über das Erscheinungsbild einer Handschrift vermittelt sind. Eine junge Frau namens Julie sieht sich gezwungen, ihr Verlöbnis mit einem Rittmeister aufzulösen, da sie erfahrt, daß ausgerechnet dieser ihren greisen Vater in der Schlacht getötet hat. Der Rittmeister wußte zwar nicht um die Identität des alten Mannes, war aber von »bösem Blut« und »früher Gewohnheit« 25 getrieben und fühlte sich schon kurz nach der Tat »so entsetzt, als hätte [er seinen] Vater unbewußt umgebracht.« 26 Das ödipale Thema, das Arnim gleich zu Beginn der Erzählung anschlägt, erhält seine Schlüssigkeit erst vom Ende des Textes her im Zusammenhang mit dem Akt des Schrifterwerbs. In den Vorgängen der Befreiungskriege wird der Rittmeister abberufen, ohne, wie Julie fälschlich meint, »seinen Abschied schriftlich oder mündlich« 27 mitgeteilt zu haben. Als sie den Abschiedsbrief verspätet erhält, weigert sie sich nicht nur, ihn zu lesen, sondern auch einen Antwortbrief zu schreiben. Mit beidem beauftragt sie die Freundin Constanze. Julie delegiert damit die Funktion des Lesens und Schreibens und läßt unwillentlich zu, daß der Inhalt dieses und aller folgenden Briefe beinahe restlos in den Hintergrund tritt, daß es nunmehr exklusiv um das graphische Erscheinungsbild der Handschrift geht. Mit der Handschrift Constanzes hat es eine besondere Bewandtnis. Der Rittmeister, der die Handschrift der geliebten Julie erwartet, findet zu seiner Überraschung die Züge der mütterlichen Schrift wieder, nach deren Linienführung er

24 25

26 27

Arnim: Halle und Jerusalem - Werke (Berlin 1857) Bd. 8, S. 338. Arnim: Seltsames Begegnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 919. Vgl. Wingertszahn: Ambiguität, S. 384-385, wo die ödipale Struktur der Erzählung beschrieben und kurz auf die Bedeutung der Schrift eingegangen wird. Ebenda, S. 920. Ebenda, S. 936.

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selbst als Kind Schreiben und Lesen gelernt hat. Über dieser irritierenden Identität verblaßt der Inhalt des Briefes bis zur Bedeutungslosigkeit: Mitten in seiner Verzweiflung war ihm die Handschrift ein tiefeindringender Trost, denn unverkennbar war es dieselbe Handschrift, aus der seine Mutter ihm Unterricht im Lesen gegeben hatte, er fand sich gedrängt, das Schmerzlichste immer wieder zu lesen, ja zu buchstabieren, wie er am Knie seiner Mutter bis zu dem Augenblicke getan, als die Nationalgarde sie ihm in den ersten Zeiten der Revolution entriß. 28

Die Übereinstimmung der Handschrift bleibt ihm rätselhaft, denn die Briefe, die er an Constanze schreibt, um »den Urheber jener Handschrift zu erfahren«, fallen den Kriegswirren zum Opfer. Immerhin trägt er die Handschrift wie ein »Heiligtum« bei sich, das er allabendlich als Fetisch der Erinnerung, gar als »Abendgebet«, buchstabiert. Über die Signatur dieser Handschrift organisiert Arnim, dessen Mutter bekanntlich bei der Geburt gestorben ist, schließlich sogar das Wiedererkennen von Mutter und Sohn, die sich über Jahre aus den Augen verloren hatten. Constanzes Handschrift wird zum Auslöser eines aufschlußreichen Blickarrangements: Der Rittmeister wacht nächtens auf und sieht eine »Frau mit weißen Haaren«, deren »Augen unabwendlich nach einem Papier blickten«, 29 das selbstverständlich Constanzes Brief ist. Über die Handschrift des Briefes richten sich die Familiensubjekte einer nach dem anderen wieder auf. U m ganz deutlich zu machen, daß die Schrift hier gegenüber der Stimme eine dominante Rolle spielt, nimmt Arnim der Mutter das Gehör: Sie kann den Sohn nicht an der Stimme erkennen, sondern nur über die Signatur seiner Handschrift. Bildlich gesprochen muß der Sohn Schrift werden, um seine Stellung im familiären Dreieck wieder einzunehmen. Die Mutter bittet den inzwischen zum Obersten beforderten Sohn um eine Schriftprobe: »er solle ihr erklären, wie er zu dieser seltsamen Handschrift komme, zugleich reichte sie ihm eine Schiefertafel und einen Griffel, denn ihr fehlte der glückliche Sinn, das Gehör.« 30 So stellt sich in romantischer Sicht das Wiedersehen von Mutter und Sohn dar, die sich wechselseitig fur tot hielten: »Nur zweimal bedurfte es der Schrift auf der Schiefertafel, da erkannten sie sich, die in den Revolutionsstürmen hieher verschlagene arme Mutter den verlornen Sohn, den die Welle hoch emporgetragen hatte.« 31 Die Schrift, an der der Sohn schreiben gelernt hat, stellt sich als diejenige des Vaters heraus, als Symbol des in seiner Kindheit »abwesenden Vaters«. Nach Briefmustern des abwesenden Vaters hatte ihn die Mutter in die Schrift eingeführt. Symbolisch rückt die Mutter ihn, »den geliebten Sohn, dies treue Abbild des Vaters«, 32 denn auch wieder an die Stelle des Vaters, als Erbschaft hinterläßt sie ihm »alle Briefe des Vaters«, die unter ihrer häufigen Lektüre formlich »zerrieben« sind. Wiederum erstaunt der Sohn »über die Gleichheit beider Handschriften«, der Constanzes und der des Vaters, aber erst am Ende wird verständlich, wie 28 29 30 31 32

Ebenda, S. 944. Ebenda, S. 947. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 948.

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es zu dieser erstaunlichen Übereinstimmung kommen konnte. Der Vater ist nämlich noch keineswegs gestorben. Er führte ein Doppelleben, das sich ebenfalls über die Briefhandschrift aufklärt. Er ist nicht nur der Vater des Obersten, sondern auch der Oheim Constanzes, und er hat sowohl Constanze als junges Mädchen als auch seinen Sohn, das Produkt einer »heimlichen Liebe«,33 nach dem Muster seiner Handschrift im Schreiben unterwiesen. Ein Gespräch zwischen Julie und Constanze aus dem dritten Kapitel der Erzählung erhält erst hier seine volle Bedeutung. Auch hier geht es um die Identität der Handschriften: Seltsam, sagte Julie, indem sie den Brief entfaltete, ist es doch, als ob du mit dir selbst Briefe wechseltest, dieselbe Handschrift. - Warum seltsam, antwortete Constanze, ich war schon ein Mädchen von zwölf Jahren, als ich zu ihm kam und konnte noch nicht schreiben, da unterrichtete er mich selbst, daß meine Unwissenheit keinem kund würde, so nahm ich seine Schriftzüge unwillkürlich an. 34

Daß es sich hier um ein junges Mädchen zu Beginn der Pubertät handelt, die vom »Onkel« in die Technik des Schreibens eingeführt wird, bestätigt die - nicht nur in dieser romantischen Erzählung - rekurrente erotische Motivik der Schrift. Die Einfuhrung in die Ordnung der Schrift spielt - ähnlich übrigens wie im Fall der Isabella von Ägypten - auf eine geschlechtliche Initiation an. Das junge Mädchen nimmt die Schriftzüge des Onkels/Vaters »unwillkürlich« an. Hinter den Schriftzügen der Freundin und der Geliebten verbergen sich ebenso die Züge des Vaters wie hinter der Handschrift der Mutter. Vor der Erkenntnis, daß alles nur die Handschrift des Vaters trägt, bleibt dem Sohn am Ende nur die symbolische Selbstkastration, die Regression zum wehrlosen Kind35 und schließlich der Tod, womit er immerhin für die Nachwelt und besonders für den Vater und die Geliebte das Geheimnis der Handschriften aufdecken kann. Für ihn selbst kommt die Aufklärung »zu spät«,36 denn er hat die ödipal motivierte Tötung des alten, weißhaarigen Mannes gesühnt, wobei er sich - wie gesagt - so fühlte, »als hätte [er seinen] Vater unbewußt umgebracht.« 37

4. Intertextualität: Holländische

Liebhabereien

Arnims und Brentanos Bemühen, die Präsenz und Lebendigkeit der Stimme in den Wunderhorn-Liedern zu evozieren, kann nicht losgelöst von ihren lebenslangen

33 34 35

36 37

Ebenda, S. 961. Ebenda, S. 939. Vgl. ebenda, S. 958: »[...] sein linker Arm war schon zerhauen, da wurde auch sein rechter durch einen Hieb unbrauchbar, und er mit allem Mute so wehrlos, wie ein Kind.« Der symbolische Vatermord und der nicht weniger symbolische Raub eines Madonnenbildes (vgl. ebenda, S. 949) rangieren offenbar so hoch auf der Skala der Vergehen, daß dem Sohn am Ende gar das Abendmahl verwehrt wird: Julie wendet sich von dem ehemals Geliebten ab und verweigert ihm »das Brot« (ebenda, S. 959). Ebenda, S. 961. Ebenda, S. 920.

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Schreibprojekten betrachtet werden, deren Voraussetzung es ja gerade ist, die lebendige Rede in Schriftform zu überfuhren. Anläßlich von Halle und Jerusalem deutete sich zudem an, daß die literarische Simulation der Stimme auch von anderer Seite her konterkariert wird: Das ausgiebige intertextuelle Umschreiben von Schriftarchiven macht unmißverständlich klar, worauf das Begehren gerichtet ist: auf Schrift eher als auf Stimme. Intertextualität ist gewiß keine Erfindung der Romantiker. Im Zusammenhang der Romantik erreicht diese jedoch ein Ausmaß und einen Grad an selbstreflexiver Kommentierung, die sie von der älteren Tradition absetzt. Romantische Texte sind immer auch Dokumente einer reflektierten Selbstbeobachtung, die die Perspektivität von Wahrnehmung zur unverzichtbaren Voraussetzung ihrer Niederschrift und ihrer Lektüre macht. Diese Aussage gilt zumal für Arnim, der die diskontinuierliche Struktur seiner Texte durchgängig thematisiert hat. Am Anfang der Erzählung Holländische Liebhabereien (1826) etwa zeigt er seinen Helden, den Glaser und späteren Dramenschreiber Jan Vos, damit beschäftigt, ein zerbrochenes Fenster im Hause des Philologen Hemkengriper mit einer griechischen Inschrift mosaikartig zusammenzufügen. Diese Geste ist gleichsam Programm für die gesamte Erzählung und allegorische Faktur von Arnims Schreiben insgesamt. Der angehende Dramatiker durchläuft eine Schule des Lesens und Zuhörens, die exemplarisch für die Romantiker ist. Neben einer Bibliothek im eigentlichen Sinn gehört dazu eine »reiche Bibliothek seltsamer Ereignisse, Märchen alter Völker, Weisheitslehren«. 38 Ort dieser oralen Bibliothek ist die Küche der Aufwartefrau, die sich als Mutter des Helden herausstellt. Wegen seiner dramatischen Versuche muß er sich von einem Philologen, der sich als Vater des Helden entpuppt, den Künstlernamen Secundus geben lassen, da ihm auf dem Feld der dramatischen Kunst stets ein Primus vorangegangen ist. Alles, was er schreibt, führt der Philologe auf eine Quelle zurück: Nichts beschreibt den Zorn des jungen Dichters, sich selbst als ein bewußtloses Gemengsei aus den Gedanken früherer Menschen hervorgegangen zu sehen, sich mit einem Brennspiegel vergleichen zu müssen, der fremde Strahlen auf einen Punkt in der Luft hinzuwerfen bemüht ist, ohne selbst zu glühen, seine Existenz als völlig überflüssig zu kennen und seine Arbeit denen der Unterwelt ähnlich zu finden, immer denselben Stein wieder emporwälzen zu müssen, den schon ein andrer sich oben als Denkmal errichtet hatte, immer nach dem Scheine von Früchten aufzulangen, die ein andrer längst verzehrt hatte.3'

Ex negativo bestätigt sich hier eine Äußerung Michel Foucaults über die intrikate Verbindung und Konkurrenz zwischen Literatur und Philologie: »Die Literatur ist die Infragestellung der Philologie (deren Zwillingsgestalt sie gleichwohl ist).«40 Derart von der Schrifttradition bedrängt, kommt dem Dichter der originelle Einfall, ein eigenes, höchst zufalliges »Lebensereignis« mit »alten Mythen zu ver-

38 39 40

Arnim: Holländische Liebhabereien - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 556. Ebenda, S. 557. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 365.

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flechten« 41 und daraus das ganz neue Trauerspiel mit dem Titel Icarus zu komponieren. Im Bewußtsein seiner Originalität trägt der Dichter sein Stück vor. Am Ende wartet jedoch schon der Philologe in seiner Bibliothek, um es zu kassieren. Dieser fuhrt den Dichter auf eine falsche Quellenfahrte und gibt Roswitha von Gandersheim als ursprüngliche Autorin eines Icarus-Stückes vor: Mit halb erlöschender Stimme, Glut in den Wangen, Tränen im Auge hatte Jan die Vorlesung geendet, als Hemkengriper ihm Beifall über seine fleißigen Verse schenkte, und endlich äußerte, es sei kaum zu merken, daß es eine Übersetzung aus dem Deutschen der Roswitha, einer ehemaligen Nonne, sei. Zugleich sprang er empor, bis zur Spitze der Bücherleiter, zog ein Buch heraus, und las munter die besten Stellen des Stückes daraus vor. 42

Zwar reißt dem Dichter daraufhin der Geduldsfaden und unter Androhung körperlicher Gewalt räumt der Philologe ein, daß er sich mit der Roswitha einen Scherz erlaubt habe, nichts desto weniger gibt es natürlich den oder die Vorläufer des Icarus, unter denen Ovids Metamorphosen besondere Bedeutung beizumessen ist, da Arnim sie als Palimpsest seiner Erzählung handhabt, als Referenztext, der zwischen den Zeilen der Holländischen Liebhabereien immer wieder durchschimmert. Albert Beguin hat Arnim zu Recht zu jenen Schriftstellern gezählt, »die wohl wissen, daß nicht sie allein die Autoren ihres Werkes sind«.43 Arnim betrachtet die Literaturgeschichte als zeitloses Archiv, das ständig überschrieben und umgeschrieben wird. 44 Jede zeitgenössische Literatur rückt ihr gegenüber in die Position der Textverarbeitung. Am Ende der Erzählung wird dies explizit festgehalten: »Nichts ist alt oder neu in der Kunst, sie hat keine Zeit; was in ihr lebt, das lebt mit gleichem Rechte.« 45 Arnim praktiziert eine literarische Zitat- und Montagetechnik, auf die Levi-Strauss' Begriff der »bricolage«, der strukturalistischen Bastelei, schon zutrifft. Sie führt Intertextualität als poetologische Regel ein. Zwar gilt sie mehr oder minder für jeden literarischen Text, was Arnims Verfahren jedoch auszeichnet, liegt einerseits in einer Häufung des arrangierten Zitat- und Quellenmaterials über das eingespielte Maß hinaus und im bereitwilligen Offenlegen dieses Verfahrens. Er hat kaum Anstalten gemacht, die Bruchstellen der verarbeiteten Quellen zu glätten oder unkenntlich zu machen. Mehr noch als andere romantische Texte sind Arnims Texte als Mosaike eingerichtet, die die Bruchstellen der überschriebenen Quellen in keiner organischen Vorstellung vom Kunstwerk verschwinden lassen, sondern sie kenntlich machen, indem sie die Künstlichkeit seiner antiquarischen Basteleien für jede Lektüre offen und präsent halten. Gerade das Begehren der zumeist weiblich konnotierten Stimme, das Streben nach der Präsenz und Flüssigkeit der Rede macht Konturen einer Autor-Konzeption sichtbar, in der das sprudelnde Ingenium des Originalgenies weitgehend

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Arnim: Holländische Liebhabereien - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 558. Ebenda, S. 560. Beguin: Traumwelt, S. 310. Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 63-77. Arnim: Holländische Liebhabereien - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 600.

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durch einen philologischen Traditionsdruck konterkariert wird. Bei aller Emphase auf die Lebendigkeit der Stimme, darf nicht übersehen werden, daß sie im Text nur über einen virtuellen Status verfügt, daß sie selbst ein Textphänomen ist. Der Stimme kann leicht das Vorrecht eingeräumt werden, wenn klargestellt ist, daß sie Text geworden ist. Arnim läßt Schreiben mehrheitlich als Umschrift in Architexten erscheinen. Goethes Prometheus der Geniezeit kommt bei ihm nicht mehr als Empörer und Feuerbringer vor, sondern ausdrücklich nur als »gefesselter Prometheus« 46 vor, gefesselt an ein riesiges Archiv von Texten. In einer Fußnote der Erzählung Die drei liebreichen Schwestern (1812) faßt Arnim diese gewissermaßen nachgoethesche Schreibsituation bündig zusammen: »Vor den guten Erzählern kann jetzt niemand seine eigne Geschichte unverändert lassen.« 47 Daß dennoch keine Gelehrtenliteratur entsteht, sondern eine solche, die - im erwähnten Sinne Foucaults - die Philologie in Frage stellt, ist einer forcierten Vorstellung von Metamorphose zu danken, die in einer komplexen Zeichenfügung die besagte Ambivalenz zu einer Prozeßstruktur der gleitenden Signifikation öffnet.

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Ebenda, S. 570. Arnim: Liebreiche Schwestern - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 790.

Dieter

Borchmeyer

Poesie für das Ohr - Tönende versus gelesene Dichtung: Zur Geschichte eines Strukturproblems von Klopstock bis Wagner

In seiner Vorlesung Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (1803) vergleicht August Wilhelm Schlegel einmal die Erfindung der »Buchdruckerei« mit deijenigen des Schießpulvers. Wie dieses »den ritterlichen Geist zerstört« habe, »wie schon Ariost so schön klagt, und auch sonst eine Menge politischen Unsegen über Europa gebracht« habe, so habe die Buchdruckerei »den ungeheuersten Mißbrauch der Schrift möglich gemacht und veranlaßt«.1 Schlegel verweist da beiläufig auf Fausts Bündnis mit dem Teufel. Tatsächlich hat man ja lange den historischen Faust mit einem Mainzer Buchdrucker der ersten Stunde: Johann Fust, dem Kompagnon und Geldgeber Johannes Gutenbergs verwechselt, den Teufelsbündner mit dem Drucker - »Schwarzkünstler« beide! Noch in Klingers Roman Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt (1791) feiern die Teufel bei einer höllischen Konferenz Faust als den Erfinder der Buchdruckerkunst, die Wasser auf die Mühlen Satans treibt, indem die Aufklärung, die sich schwarz auf weiß ihren Weg bahnt, die Menschen in universale Skepsis treibt.2 »Was nun Poesie insbesondere betrifft«, bemerkt Schlegel, »so hat die Bequemlichkeit der toten Buchstabenmitteilung für den Zauber des lebendigen Vortrags die Empfänglichkeit um ein großes vermindert.« Das belegt er an historischen Beispielen: »Bei den Griechen lebte die dramatische Poesie auf dem Theater, die lyrische im Gesänge, die epische im Munde der Rhapsoden« - also im öffentlichen Vortrag; und auch als die Poesie gelehrter behandelt zu werden anfing, fand der Dichter durch eine öffentliche Vorlesung das Mittel, sich glänzend bekannt zu machen. Im Mittelalter lebte die Poesie wieder im Gesänge und der Deklamation der Troubadours und Conteurs, noch Ariost hat auf diese Art seine Gesänge ursprünglich zur Vorlesung bestimmt. In den südlichen Ländern, wo man weniger lieset, hat das mündliche öffentliche Erzählen bis jetzt seinen Reiz behalten. - Solch eine Mitteilung erregt ganz andere Spannung und Teilnahme als das einsame ungesellige Lesen. 3

Wirklich entbehrt der Leser des Stimulans der kollektiven Erregung. Hinzu kommt, daß der Verfasser eines für die bloße Lektüre bestimmten Werks, wie Schiller in seinem Brief vom 25. Januar 1795 an Christian Garve schreibt, »gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf einen Leser wirkt, daß ihm der Vortheil 1 2 3

Schlegel: Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters, S. 78. Vgl. Mahal: Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens, S. 15-17. Schlegel: Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters, S. 79.

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abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch abstrakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet; [...].« Mit diesen Nachteilen ist allerdings für Schiller der Vorteil verbunden, daß der Autor »seinem Leser eine größere Gemütsfreiheit zu lassen« vermag. »Bei dem Sprechenden mischt sich das Individuum schon mehr in die Sache, und darf sich mehr darein mischen. Von dem Schreibenden wird die Sache weit strenger gefordert.«4 In Schillers Einleitung zu seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre finden sich ähnliche Gedanken. Er sucht da Verständnis, Mitgefühl für einen Menschen zu erwecken, der durch unglückliche Umstände zum Verbrecher geworden ist; zugleich weiß er aber, daß der Schriftsteller - im Unterschied zum tragischen Dichter oder zum Redner - den Affekt des Mitleids nur in relativ geringem Maße zu erregen vermag. Es besteht also eine große empfindungsmäßige Distanz zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird [...]. Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Willen andern Regeln gehorcht als der unsrige; seine Schicksale rühren uns wenig, denn Rührung gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewußtsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Ähnlichkeit auch nur zu träumen.5

Der Begriff der Ähnlichkeit stammt aus dem 13. Kapitel der aristotelischen Poetik (1453a, 5): das όμοιον wird dort als eine der Bedingungen des tragischen Mitleidens bezeichnet.6 Schiller selbst bemerkt in seinem Aufsatz Über die tragische Kunst bezüglich der »Bedingungen [...], unter welchen das Mitleid befördert und die Lust der Rührung am unfehlbarsten und stärksten erweckt wird«: »Die Möglichkeit des Mitleids beruht nämlich auf der Wahrnehmung oder Voraussetzung einer Ähnlichkeit zwischen uns und dem leidenden Subjekt. [...] Je sichtbarer und größer die Ähnlichkeit, desto lebhafter unser Mitleid, je geringer jene, desto schwächer auch dieses.«7 Aus derartigen Erwägungen folgert Schiller in der Einleitung des Verbrechers aus verlorener Ehre: »Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.« Von diesen »Methoden« kommt im vorliegenden Falle nur die zweite in Frage. Die auf Erregung des Mitleids zielende Manier wäre eine »Usurpation des Schriftstellers«, eine Usurpation der Rechte des tragischen Dichters, und würde die »republikanische Freiheit des lesenden Publikums«, seine Gemütsfreiheit, welche im Affekt bedroht ist, verletzen, denn dem Leser kommt es zu, »selbst zu Gericht zu sitzen«, nicht sich vom Autor affektiv gängeln zu lassen. Jene Manier wäre »zugleich eine Verletzung der Grenzengerechtigkeit« gegenüber dem »Redner und [tragischen] Dichter«. Das

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Schiller: Briefe, Bd. 4, S. 108. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 14. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, S. 38. Ebenda, S. 384.

Poesie für das Ohr

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bedeutet: »Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen.«8 Es muß also das ganze Geflecht der Gründe und Motive seines Verhaltens aufgedeckt werden - während z.B. die Tragödie unmittelbar mit der Handlung beginnen kann und muß, da sie ihren Helden durch bestimmte affekthaltige Momente dem Zuschauer sogleich nahezubringen vermag. Es ist höchst bemerkenswert, daß Schiller also die Schriftstellerei, die leserbezogene Literatur ganz im Diskurs der Aufklärung verankert, in der Idee der republikanischen Freiheit und der Vorstellung eines »räsonierenden Publikums« 9 , das - gemäß dem weitverbreiteten aufklärerischen Topos des Vernunftgerichts 10 eben aufgrund seiner eigenen Ratio über menschliche Handlungen richtet und urteilt, während die Gesetze der zuschauerbezogenen tragischen Dichtung und Rhetorik aufgrund ihrer Affektsteuerung von oben - vom Standpunkt des Autors herab eher einen vorrepublikanisch-autoritativen Gestus implizieren. Das voraufklärerische Publikum hört und schaut, das aufgeklärte liest! Der Dichter im herkömmlichen Sinne richtet sich an die Sinne und Affekte, der Schriftsteller moderner Prägung an die Vernunft. Schiller hat zu seinem Bedauern den von ihm sehr geschätzten Popularphilosophen Christian Garve, der in seinen Beschreibungen gesellschaftlicher Verhaltensmuster fast schon so etwas wie Kultursoziologe gewesen ist, nicht dazu bewegen können, eine Schrift zu verfassen, welche »das Verhältniß des Schriftstellers zu dem Publikum und des Publikums zu dem Schriftsteller« behandelte. »In unsern Zeiten, wo ein so großer Theil der Menschen seine eigentliche Erziehung durch Lecture bekommt«, sei es doch wichtig, »das Innere dieses wechselseitigen Verhältnißes aufzudecken« und seine Folgen »anthropologisch zu entwickeln«.11 Sei es doch »ein ganz eigenthümliches Unterscheidungs Zeichen der neueren Welt von der Alten [...], den größten Theil ihrer Ausbildung auf diesem Wege zu erhalten.«12 Und Schiller entwickelt nun Garve gegenüber seine eigenen Vorstellungen zu diesem Thema. So sehr er hier die Abstraktheit der Beziehung zwischen Schriftsteller und Leser als »Unterscheidungszeichen der neueren Welt von der altem verteidigt, favorisiert er doch immer wieder die gesprochene und gehörte gegenüber der geschriebenen und gelesenen Sprache. So klagt er, daß »die Schrift das lebendige Wort verdrängt hat«, wie es in der Vorrede zur Braut von Messina heißt,13 und daß somit auch die Poesie nicht mehr »durch das Ohr zu dem Herzen« spricht, wie er am 18. Oktober 1797 an Karl Böttiger schreibt: Ich wünschte in allem Ernst, es kämen in dieser speculationsreichen Zeit einige gute Köpfe auf den Einfall, ein Gedicht, wie unser Hermann und Dorothea ist, von Dorf zu Dorf auf

8 Ebenda, S. 14-15. ' Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 183 u. ö. 10 Vgl. Koselleck: Kritik und Krise, S. 81-85 u. ö. 11 Brief vom 1. Oktober 1794 - Schiller: Briefe. Bd. 4, S. 28-29. 12 Brief vom 25. Januar 1795 - ebenda, S. 108. 13 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 28-29.

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Dieter Borchmeyer

Kirchweihen und Hochzeiten zu recitieren und so die alte Zeit der Rhapsoden und Minstreis zurückzufuhren.14

Als er 1789 ein Epos über Friedrich den Großen plante, bemerkte er in einem Brief an Körner: »Singen muß man es können, wie die griechischen Bauern die Iliade, wie die Gondolieri in Venedig die Stanzen aus dem befreiten Jerusalem«. 15 Doch die Sänger der Vorzeit (so der Titel einer Elegie), »die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt« und an der Glut ihres Gesanges »des Hörers Gefühle« entflammten, an diesen Gefühlen wiederum ihre Glut nährten - sie sind dahin. 16 Diese Äußerungen sind Musterbeispiele des von Jacques Derrida in seiner Grammatologie (1967) dekonstruierten »Phonozentrismus«, der die Stimme vor dem Buchstaben privilegiert und die Schrift zu einer die Sinnftille des lebendigen Worts einengenden Äußerlichkeit herabsetzt. Dieser Phonozentrismus prägt auch Goethes und Schillers Gattungspoetik, ihre gemeinsame Theorie der epischen und dramatischen Dichtung. In dem von Goethe in Absprache mit Schiller abgefaßten Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung ist das Modell der epischen Dichtung nicht etwa der moderne gelesene Roman, sondern das von einem Rhapsoden vorgetragene antike Epos, das Modell des Dramas aber die von Mimen verkörperte Tragödie. Beide Gattungen werden von ihrer Struktur wie Publikumswirkung her beschrieben. Goethe ordnet nun dem Rhapsoden ein »ruhig horchendes«, dem Mimen hingegen ein »ungeduldig schauendes und hörendes« Publikum zu. Der Rhapsode erscheint als ein »weiser Mann [...], der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht« und dementsprechend »die Zuhörer zu beruhigen« sucht, der Mime hingegen hält den Zuschauer »in einer steten sinnlichen Anstrengung«, zwingt ihn, »leidenschaftlich« zu folgen. 17 Aus diesen Erwägungen zieht Goethe in Bezug auf den Vortrag des Epos eine eigentümliche Konsequenz: der mit dem epischen Dichter gleichgesetzte Rhapsode »sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte«. 18 Der unsichtbare Rhapsode respective epische Dichter erinnert verblüffend an den Schillerschen Schriftsteller, der dem zitierten Brief an Garve zufolge durch >abstrakte Zeichens nicht als >IndividuumSachegleichsam unsichtbar und aus der Ferne< wirkt, weil ihm die Mittel sinnlicher Vergegenwärtigung und Wirkung auf das Publikum fehlen. Goethe scheint unbewußt die Gesetze der modernen - gelesenen - Epik auf die Rhapsodenkunst übertragen zu haben, die sich in ihrer historisch nachweisbaren Form doch tiefgreifend von der Goethe-Schillerschen Konzeption unterscheidet.

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Schiller: Briefe, Bd. 5, S. 275 Schiller/Körner: Briefwechsel, Bd. 1, S. 291. Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 228. Ebenda, Bd. 5, S. 790-791. Ebenda, S. 792.

Poesie fiir das Ohr

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Ein aufschlußreiches Dokument dafür ist der (Goethe wohlbekannte19) platonische Dialog Ion. Ein berühmter Rhapsode dieses Namens wird von Sokrates nach seinem Verhalten während des Vortrags besonders affekthaltiger Szenen und den Reaktionen des Auditoriums gefragt. Ion antwortet ihm: »Wenn ich etwas Klägliches (έλεινόν = Mitleiderregendes) vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares (φοβερόν) und Schreckliches (δεινόν), so sträuben sich die Haare aufwärts und das Herz pocht.« Auf die Frage des Sokrates, ob sich diese Reaktionen auf die Zuhörer übertragen, gibt Ion eine bejahende Antwort: »Ich betrachte sie jedesmal oben herab von der Bühne, wie sie weinen und furchtbar umherblicken und mitstaunen über das Gesagte.« Sokrates bemerkt dazu ironisch, daß der Zuhörer also »mitten unter Opfern und Festlichkeiten weint, ohne von jenen Herrlichkeiten etwas verloren zu haben, oder sich fürchtet mitten unter zwanzigtausend befreundeten Menschen, ohne daß ihn jemand ausziehen oder sonst ihm Leides zufügen will.«20 (Sokrates bezieht sich auf das Fest des Asklepios, bei dem Ion in einem Rhapsoden-Wettstreit den ersten Preis gewonnen hat.) Von dem Rhapsoden als einem weisen Mann, der mit ruhiger Besonnenheit das Geschehen übersieht und seine Persönlichkeit wie hinter einem Vorhang verbirgt, kann also ebensowenig die Rede sein wie von einem affektfreien, ruhig horchenden Auditorium; vielmehr werden in den Zuhörern dieselben Affekte ausgelöst wie nach Aristoteles durch die Tragödie: ist diese doch seiner Poetik zufolge Darstellung furcht- und mitleiderregender Situationen (φοβερών καί ελεεινών). 21 Eben diese Begriffe erscheinen aber auch an der zitierten Stelle des platonischen Dialogs. Auch der Rhapsode kann also Furcht und Mitleid (φόβος und έλεος) erregen, »drown the stage with tears / And cleave the general ear with horrid speech«, um die berühmten Verse Hamlets (II, 2) zu zitieren.22 (Der Schauspieler, über dessen erschüttertes Mitempfinden bei der Deklamation der Erzählung des Aeneas vom Fall Trojas Hamlet reflektiert, tritt ja nicht eigentlich als Mime, sondern als Rhapsode in Erscheinung, und doch verrät sein Vortrag ebensowenig wie der des Ion affektfreie Besonnenheit.) Kurz und gut: Goethes und Schillers Theorie der Affektüberlegenheit des Epos ist nichts anderes als eine Projektion der Produktions- und Rezeptionsgesetze der modernen Leseprosa auf das Epos, das zum verschleierten Roman wird, obwohl Goethe und Schiller diesem gerade die ästhetische Würde vorenthalten möchten, ein Paradigma in ihrer Gattungspoetik zu bilden. Trotz allen Phonozentrismus' setzt die verworfene Schrift auch in der klassischen Kunstdoktrin ihre Strukturgesetze durch.

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Vgl. seinen Aufsatz Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung (1796), der eine Interpretation des genannten Dialogs enthält (ohne freilich auf das hier erörterte poetologische Problem Bezug zu nehmen) - Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 41.2, S. 169176. Piaton: Ion 535/b-e - Werke in acht Bänden, Bd. 1, S. 18-21 (Übersetzung: Friedrich Schleiermacher). Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, S. 38 (1452b, 25). The Riverside Shakespeare, S. 1159.

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Die Verwerfung der Schrift ist bereits ein Kardinalthema des Sturm und Drang in Opposition gegen die Leserationalität der Aufklärung. Eine bedeutende Rolle hat hier gewiß der Einfluß von Rousseaus Essai sur l 'origine des langues gespielt, seine Favorisierung der mündlichen Rede als Ausweis authentischen Sprechens gegenüber der Schrift als Repräsentanz des rationalistischen Diskurses. Erinnert sei nur an Karl Moors Protest gegen das »tintenklecksende Säkulum« in der zweiten Szene von Schillers Räubern und die Schriftfeindlichkeit, welche leitmotivisch den ganzen Götz von Berlichingen durchzieht. 23 Der Phonozentrismus verbindet den frühen mit dem späten Goethe. Noch in der »Hegire« des West-östlichen Divan wird die orale Kultur der Patriarchenzeit gepriesen: »Wie das Wort so wichtig dort war, / Weil es ein gesprochen Wort war.« 24 Kein Dichter des 18. Jahrhunderts hat mehr auf der Dominanz des gesprochenen Worts insistiert als Klopstock. Seine Poesie ist vornehmlich eine »Dichtung für das Ohr«, 25 seine Poetik stets auf die Oralisierung der Sprache bedacht - in einer Zeit, da der literarische Markt die gerneinschaftsbezogene Rezeption von Literatur durch die anonyme und private Lektüre ersetzt, damit aber das - von Klopstock verworfene - leise, nicht mehr akustisch-dynamisch belebte Lesen favorisiert. Wer allein in seinem stillen Kämmerlein liest, keinen Adressaten hat, wozu sollte der laut deklamieren? Ein Autor unserer Zeit, dem der Vortrag von Dichtung noch sehr viel bedeutet - Martin Walser - läßt in seinem Erinnerungsroman Der springende Brunnen den jungen Johann (Walsers Ebenbild) seinen Lieblingsdichter Klopstock durchaus noch laut rezitieren. Und da er sonst keinen Hörer hat, trägt er Gedichte seinem Schäferhund Teil vor. Dieser entwickelt sich zum exquisiten Klopstock-Liebhaber - kein Wunder, skandiert Johann ihm doch die Verse mit den Fingern ins Nackenfell, was nicht mit jeder Poesie geht und schon gar nicht mit Prosa, weshalb Johann »nie auf den Gedanken gekommen wäre, Teil Prosasätze vorzulesen«, da sein sensibles Nackenfell dabei unbeteiligt bliebe. Aber Klopstocks Oden: »Die flössen, schwangen, tanzten und tönten, dafür hatte Teil einen Sinn, das sah man, wenn man ihm vorlas.« 26 Wer fühlte sich hier nicht an die fünfte der Römischen Elegien Goethes erinnert, wo der Dichter »des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand« der Geliebten auf den Rücken zählt.27 Die dichterische Sprache gelange erst in der Deklamation und im Gesang zu sich. Das hat Klopstock in Theorie und Gedicht unzählige Male zur Sprache gebracht, so in folgendem Epigramm: Wird das Gedicht nicht gesprochen; so seht ihr die Seelen nicht, denen Inhalt, treffendes Wort mit zu erscheinen gebot.

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Vgl. dazu Borchmeyer: Goethe der Zeitbürger, S. 33-39 (»Aufstand gegen die schriftlich verwaltete Welt«). Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 6, S. 5. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 66. Walser: Ein springender Brunnen, S. 292-293. Goethe: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 1, S. 239.

Poesie fiir das Ohr

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Spricht man's nicht gut; so entbehrt ihr nicht jene Seelen nur, anders Zeigt sich der Inhalt auch, ist euch der wahre nicht mehr. 28

»Die Deklamation ist also gewissermaßen untrennbar von der Sprache«, schreibt Klopstock in seinem Aphorismus Von der Deklamation. Sprache ohne Deklamation wäre »nur eine Bildsäule; keine wirkliche Gestalt. Liest man bloß mit dem Auge, und nicht zugleich mit der Stimme; so wird die Sprache dem Lesenden nur dann gewissermaßen lebendig, wenn er sich die Deklamation hinzudenkt.«29 Immer wieder hat Klopstock den Verfall der Rezitationskunst aufgrund der Konkurrenz des einsamen Lesens beklagt und alles daran gesetzt - etwa durch die Gründung einer »Lese-Gesellschaft« in Hamburg 1770 - , ihren einstigen Rang wiederherzustellen. Er selber muß ein glänzender Rezitator gewesen sein: »Er reißt das Herz des Zuhörers mit fort, wenn er liest, wie ein Strom den leicht schwimmenden Nachen«, so berichtet ein Zeitzeuge. 30 Wie hätte Walsers Teil wohl vor Freude gebellt, wenn Klopstock selber ihm seine Oden ins Nackenfell skandiert hätte! Die viva vox bedeutet Klopstock mehr als das geschriebene, gar gedruckte Wort, das Ohr ist ihm ein wichtigeres Sinnesorgan als das Auge. In der Ode Das Gehör tröstet er »Hegewisch, den Blinden«: ihm sei doch das wichtigere Organ, das Ohr geblieben. »Des Gehörs Verlust / Vereinsamt, und du lebst / Mit den Menschen nicht mehr.« Menschliche Gemeinsamkeit wird nicht durch den Verlust des Gesichts-, sondern durch den des Gehörssinnes erschwert oder vernichtet. Trostverse für den Blinden: »Das Licht schwand: doch entbehrst du das freundliche Wort des Geliebten nicht«, nicht die Klänge der Natur, nicht »den süßen Reiz der Tonkunst«.31 Mit ihr aber ist die Dichtung verschwistert, sie ist vielfach in wirklichem, aber immer in metaphorischem Sinne Gesang. Und so ist Klopstocks ganze Dichtung durchzogen von musikalischen und akustischen Metaphern. Wenn er seine Dichtung »Lied«, seine Oden »Gesänge«, die »singende« oder »tönende Leier«32 seine Begleiterin nennt, geht das weit über die herkömmlichen Topoi hinaus, deren sich die Poeten von jeher bedient haben. Immer wieder trauert Klopstock der musike, der Einheit von Sprache, Musik und Tanz in der griechischen Sprache und im Gesamtkunstwerk zumal der attischen Tragödie nach. Die Trennung seiner Elemente, die Verabsolutierung der Einzelkünste ist für Klopstock ebenso wie später für Richard Wagner eine Verfallserscheinung. Die Gespielen sind ihr zu lieb der Sprache; Trenne sie nicht! Enge Fessel, geringt An lemnischer Esse, vereint Ihr den Wohlklang, und den Verstanz.

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Klopstock: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 41-42. Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 1049. Zitiert bei Hurlebusch: Friedrich Gottlieb Klopstock. - In: Grimm (Hrsg.): Deutsche Dichter. Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit, S. 150-176, hier S. 157. Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 136. Ebenda, S. 10, 12, 14, 21, 23 u. ö.

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Dieter Borchmeyer Harmonie zu sondern, die so einstimmet, Meidet, wer weiß, welcher Zweck sie verband: Die Trennungen zwingen zu viel Des Gedachten zu verstummen.33

Durch die Verwandtschaft mit der Musik soll sich die Poesie Klopstock zufolge aber auch ein hervorstechendes Strukturmerkmal der Tonkunst zueignen: ihre Sukzessivität. Freilich ist auch die Dichtung durch die Sukzession ihrer Zeichen geprägt. Lessings Laokoon zufolge sind wir hier Zeugen einer »sichtbaren fortschreitenden Handlung«, deren Teile »sich nach und nach, in der Folge der Zeit, eräugnen«, während wir etwa bei einem Gemälde »eine sichtbare stehende Handlung« vor uns sehen, deren Teile »sich neben einander im Räume entwickeln«, dem Gesetz der Koexistenz, Simultaneität gehorchend (Laokoon XV).34 Doch durch die Lesbarkeit der Dichtung können simultane Strukturen die dem Ohr zugänglichen sukzessiven überlagern. Klopstock will indessen die Poesie nicht vornehmlich durch das Auge des Lesers, sondern durch das Ohr des Hörers, mithin sukzessiv, nicht simultan wahrgenommen wissen. Kaum je hat es einen Dichter gegeben, der nicht nur von der Dynamik seiner Sprache her, sondern auch inhaltlich so entschieden auf Bewegungsabläufe, auf das Transitorische setzt wie Klopstock. Gerade in dieser Hinsicht ist er ein poeta musicus, ist die Musik doch die transitorische Kunst schlechthin, »Kunst des Überganges«, wie Wagner seine eigene Musik in einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 29. Oktober 1859 genannt hat. Im Unterschied zur bildenden Kunst sei die Tonkunst nicht »von bleibendem«, sondern »nur von transitorischem Eindrucke«, wenngleich sie als »Sprache der Affekte« das Gemüt stärker bewege, bemerkt Kant im § 53 seiner Kritik der Urteilskraft abwertend. Klopstock denkt ebenso, nur stellt er Kants Wertung auf den Kopf, ja er läßt in einem Gedicht die Bildhauerkunst persönlich auf den Vorrang der Dichtkunst vor den visuellen Künsten gerade aufgrund ihrer musikverwandten Transitorik hinweisen: »Wir ruhn: du wallest, schwebest, fliegest / Fort mit der Zeit, die kein Säumen kennet« {Die Bildhauerkunst, die Malerei und die Dichtkunst). Auch die Ode »Die Sprache« preist die Überlegenheit der sukzessiven, in der Zeit fortwirkenden Künste über Malerei und Bildhauerkunst, die nur einen simultan erfaßbaren, die Zeit stillstellenden Augenblick darzustellen vermögen: Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors Feilbare Last, Göttin Sprache, dich nicht! Nur weniges bilden sie uns: Und es zeigt sich uns auf einmal. Dem Erfinder, welcher durch dich des Hörers Seele bewegt, tat die Schöpfung sich auf! Wie Düften entschwebt, was er sagt, Mit dem Reize der Erwartung,

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»Die Sprache« - Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 131-132, hier S. 132. Lessing: Werke (Hanser), Bd. 6, S. 102.

Poesie flir das Ohr

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Mit der Menschenstimme Gewalt, mit ihrem Höheren Reiz, höchsten, wenn sie Gesang Hinströmet, und inniger so In die Seele sich ergießet.35

Die Sprache vollendet sich also im Gesang. Was für Kant ein eher negativ zu bewertendes Wesensmerkmal der Musik ist, daß sie aufgrund ihres sukzessiven Charakters stärker auf Affekte und Gemüt wirke, ist für Klopstock gerade der Vorzug von Sprache und Musik: daß sie stärker die Seele bewegen - solange sie sich eben noch nicht durch Verschriftlichung, durch den Rationalisierungsprozeß des Schreibens und Lesens dieses Vorzugs beraubt haben. Musik ist für Klopstock mehr Bewegung als Wohlklang, das sukzessive Moment des Rhythmus ist ihm wichtiger als das - auch der Musik notwendige - simultane Moment der Harmonie. »Wohllaut gefallt, Bewegung noch mehr«, heißt es in der Ode Der Bach?6 In seinen theoretischen Versuchen hat er beide Seiten der Musik: die horizontale des »Zeitausdrucks« und die vertikale des »Tonverhalts« beschrieben.37 Für seine Poesie sucht er der Musik freilich in erster Linie ihre Sukzession, ihre Bewegung abzulauschen. Ob es Tanz und Eislauf, Strom und Bach, Reise und Schiffahrt sind, bei Klopstock ist alles in Verwandlung·. Wie viele Oden kreisen schon im Titel um diesen Begriff; auch die Schöpfung ist eine sich wandelnde. Gott ist nicht der Schöpfer, der die Welt ein für allemal geschaffen hat, sondern - wie er etwa in der Ode Die Allgegenwart Gottes mit einem für Klopstock typischen Participium praesens genannt wird, das die Fortdauer der Schöpfung signalisiert - der »Schaffende«. 38 Nun läßt sich aber die Musik, die für Klopstock paradigmatische Kunst, nicht einfach auf ihre sukzessiven Strukturen reduzieren. Ihre Verschriftlichung, das Notationssystem - die große Errungenschaft der abendländischen Musik - macht auch aus ihr im Laufe ihrer Geschichte mehr und mehr ein Simultansystem. Carl Dahlhaus hat in der Musikentwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den entschiedenen Wandel von einer transitorischen zur simultanen Struktur der Musik wahrgenommen. 39 Wenn Schiller im 22. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen der Musik zum Ziel setze, »Gestalt« zu werden, mithin ein Gegengewicht zum bloß Sukzessiven, Transitorischen ihres Ablaufs und ihrer Wirkung zu schaffen, indem sie sich der simultan erschaubaren Zuständlichkeit der bildenden Kunst und damit auch deren Wirkung - Ruhe und Freiheit des Gemüts - annähere, habe er nicht geahnt, daß die Musik eben das, was er postulierte: die tönende Gestalt, »in den klassischen Symphonien und Quartetten, die er nicht kannte, längst geworden war«.40 Die Satztechnik der klassischen Instrumentalmusik stehe ja »als gleichsam räumliche Ordnung der Teile dem Hörer vor Augen«, ver-

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Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 131-132. Klopstock: Oden, Bd. 1, S. 245-247, hier S. 246. Siehe Kohl: Klopstock, S. 64-65. Klopstock: Ausgewählte Werke, S. 78-84, hier S. 81. Dahlhaus: Formbegriff und Ausdrucksprinzip in Schillers Musikästhetik, bes. S. 162f. Ebenda, S. 163.

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festige den tönenden Prozeß zu einer überschaubaren Struktur. »Die Komplementarität von Vorder- und Nachsätzen, das Netz der Beziehungen zwischen den Themen und Motiven und die aus Konsequenzen und Antithesen gefügte Disposition der Tonarten ergibt ein Bild, das den Vergleich der Musik mit der Architektur verständlich erscheinen läßt.«41 Zwischen dem musikalischen Horizont Klopstocks und der von Dahlhaus beschriebenen klassischen Musikästhetik liegt eine tiefe Kluft: der Gegensatz zwischen dem Musikalischen als reiner Sukzession und ihrer Kristallisierung durch Simultanstrukturen. Diese aber sind die Folge des Notationssystems. Sie gewinnen ihre Evidenz nicht im reinen Hören, sondern im Lesen der geschriebenen Partitur. Auch Musik ist eine zu lesende, mit dem Auge wahrzunehmende Kunst. Die Partitur aber ist dem des Notenlesens nicht kundigen Klopstock ein Buch mit sieben Siegeln. Sichtbare Musik ist ihm schon deshalb unvorstellbar, weil Musik als erhabene Kunst für ihn überhaupt unvorstellbar ist. Die Bedeutung der Kategorie des Erhabenen im Kontrast mit derjenigen des Schönen ist in der Musikästhetik noch längst nicht genügend ausgeleuchtet. Klopstocks Dichtung ist immer schon zu Recht vor dem Horizont der im 18. Jahrhundert wiederentdeckten Theorie des Erhabenen gesehen worden, dessen Topik des Unendlichen (Weltraum und Meeresweite), Übergroßen (Berge und Abgründe) und Übergewaltigen (Sturm und Gewitter) seine Oden und Messiade wie kaum eine andere Dichtung prägt. Durch Edmund Burke ist das Erhabene zum ersten Mal in der Geschichte dieser Kategorien in ein polares Verhältnis zum Schönen gerückt worden. Das neue Begriffspaar schön - erhaben bestimmt nun die ganze ästhetische Theorie von Kant bis Vischer. Merkwürdigerweise ist aber nie - weder bei Burke noch bei Kant - das Erhabene als Grundstimmung der Musik im Gegensatz zum Schönen als der Grundstimmung der bildenden Kunst gedeutet worden, obwohl diese Unterscheidung zumal für das ästhetische Selbstverständnis Klopstocks unzweifelhaft zutrifft. Erst zu einer Zeit, da die Kategorie des Erhabenen aus der Ästhetik schon so gut wie verschwunden war, hat Richard Wagner sie in seiner Beethoven-Festschrift von 1870 gewissermaßen in die Musik Ästhetik gerettet. In unverkennbarer Opposition gegen Eduard Hanslicks Traktat Vom musikalisch Schönen (1854) betont er, da Form und Wirkung der Musik »einzig nach der Kategorie des Erhabenen«, nicht nach derjenigen des Schönen zu erfassen seien.42 Erhaben sind Kants Kritik der Urteilskraft zufolge diejenigen Erscheinungen, »deren Anschauung die Idee der Unendlichkeit bei sich führt« und »jeden Maßstab der Sinne übertrifft«. 43 Das trifft für die Erscheinungswelt der Klopstockschen Dichtung ebenso zu wie die folgende Feststellung Kants: Während »der Geschmack am Schönen das Gemüt in r u h i g e r Kontemplation voraussetzt und erhält«, fuhrt »das Gefühl des Erhabenen eine mit der Beurteilung des Gegenstandes verbundene Β e w e -

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Ebenda, S. 167. Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 9, S. 78. Kant: Kritik der Urteilskraft - Werke in zehn Bänden, Bd. 8, S. 342 (B 94, A 93) und 341 (B92, A 91) (§ 26).

Poesie für das Ohr

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g u η g des Gemüts, als seinen Charakter bei sich«. 44 Ganz ähnlich hat Klopstock den Unterschied zwischen der Wirkung der bildenden Kunst und der Musik beschrieben. Und hier bildet sich sofort eine Brücke zu Wagners Beethoven-Festschrift. Irrigerweise seien »auf die Musik Ansichten übertragen worden, welche lediglich der Beurteilung der bildenden Kunst entstammen«, heißt es da; das bedeutet, man verlangte von der Musik »die Erregung des Gefallens an schönen Formen«. 45 Natürlich spielt er hier auf Hanslicks Essay an, der nach Dahlhaus zum ersten Mal die theoretische Konsequenz aus dem lesbaren, gleichsam sichtbaren, räumlichsimultanen, architektonischen Charakter der klassischen Satztechnik gezogen hat. Hanslick redet bezeichnenderweise nicht nur vom Hören, sondern auch von der »Anschauung« der Musik und polemisiert gleichzeitig gegen die in seinen Augen obsolete »Gefühlsästhetik«. 46 Die Bestimmung der Musik allein vom Gesetz des Schönen her, die Hanslick sich vornimmt, schließt das »pathologische Ergriffenwerden« aus. Mit dieser medizinischen Diagnose wird nun die affektive Rührung ausgeschlossen, die für Klopstock noch den Vorzug der Musik vor der bildenden Kunst ausmachte. An dessen Stelle soll eine an der ruhigen Betrachtung von Werken der bildenden Kunst orientierte quietistische Apperzeptionshaltung treten. (Das ist uneingestanden die Haltung des Lesers der Partitur. Die Reproduktion der Komposition durch den Interpreten wird von Hanslick marginalisiert. Jener hat nur das erklingen zu lassen, was in der Partitur zu lesen ist. Die »Richtigkeit der Noten«, ihre schriftlich fixierte Dauerhaftigkeit ist für Hanslick die unbedingte Norm des nur flüchtigen Reproduktionsakts. 47 ) Vom »reinen Anschauen eines Tonwerks« redet er gar. »In affektlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen [!] wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen«. So bestätige sich, was Schelling »die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen« genannt habe. 48 An diesem Punkt setzt die Kritik der Hanslickschen Theorie in Wagners Beethoven-Schrift ein.49 Gewissermaßen im Geiste von Lessings Laokoon tadelt Wagner die Verwechslung der Gesetze der bildenden Kunst und der Musik, die sich in einem Traktat, welcher so stark auf die Eigengesetzlichkeit der Künste pocht, in der Tat als merkwürdiger Widerspruch ausnimmt. Ein paradoxer Rollentausch: ausgerechnet der von Hanslick befehdete Ideologe des Gesamtkunstwerks wirft dem radikalen Theoretiker der absoluten Musik die Vermischung der Künste vor! Wirklich beschreibt Hanslick seine »tönend bewegten Formen« in Analogie zur Ornamentik, um ihre simultan erfaßbare Gestalthaftigkeit herauszustreichen: »Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend,

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Ebenda, S. 91 (§ 24). Wagner: Gesammelte Schriften. Bd. 9, S. 77. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 1-19, und Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 115-118. Vgl. Hinrichsen: »Zwei Buchstaben mehr«. Komposition als Produktion, Interpretation als Reproduktion? - In: Kolleritsch (Hrsg.): Musikalische Produktion und Interpretation, S. 15 • 31, hier S. 16. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 131-132. Vgl. dazu Kropfinger: Wagner und Beethoven, S. 157-160.

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sich findend und lassend, in kleinen und großen Bogen korrespondierend, scheinbar inkommensurabel, doch immer wohlgegliedert, überall ein Gegen- und Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner Einzelheiten und doch ein Ganzes.« 50 Von dieser >Sichtbarmachung< der Musik will Wagner nichts wissen. Das, was Dahlhaus als die Errungenschaft des klassischen Stils beschreibt, ist für ihn eine Entfremdung der Musik von ihrem eigentlichen Wesen, deren Aufhebung das Verdienst Beethovens sei. Dieser habe die Musik über die »Relationen«, mit welchen sie sich äußerlich »der anschaulichen Welt zukehrt«, 51 hinaus und »über das Gebiet des ästhetisch Schönen in die Sphäre des durchaus Erhabenen« gefuhrt. 52 (Sogar Beethovens Affinität zu Klopstock wird einmal gestreift. 53 ) Das »systematische Gefuge ihres [der Musik] rhythmischen Periodenbaues, welches sie einerseits in einen Vergleich mit der Architektur gebracht, andererseits ihr eine Überschaulichkeit [!] gegeben hat, welche sie eben dem berührten falschen Urtheile nach Analogie der bildenden Kunst aussetzen« mußte, 54 die »symmetrische Zeitfolge«, 55 die »regelmäßige Säulenordnung« der vorgefundenen Satztechnik 56 - all dies hat Beethoven nach dem Urteil Wagners aufgehoben. Auch wenn er sich des konventionellen Formenapparats noch bedient, nimmt jener Apparat sich bei ihm doch aus wie ein »gemaltes Transparentbild«, das erst im Dunklen - in das »Schweigen der Nacht« gestellt - durch ein hinter ihm aufgestelltes Licht »in wundervoller Weise vor uns auflebt«. Dieses >innere Licht< aber ist die Musik Beethovens, die hinter jenem Bild eine »zweite Welt« aufleuchten läßt und den im Tageslicht banalen Formen des Transparents erst wahre Bedeutung verleiht. 57 Beethoven erscheint hier nicht als Höhepunkt der Wiener Klassik (ein Periodenbegriff, der freilich zu Wagners Zeit noch nicht existierte), sondern als deren Überwinder. Schillers Utopie der Musik als tönender »Gestalt«, in der klassischen Instrumentalmusik hinter dem Rücken seiner Ästhetik längst Wirklichkeit geworden und in Hanslicks Versuch Vom musikalisch Schönen auf den Begriff gebracht, in Wagners Theorie wird sie in die unwiederholbare musikgeschichtliche Vergangenheit verbannt. Die Musik auf den Spuren Beethovens steht für ihn im Zeichen des Erhabenen, das alle bildlich-schöne Gestaltlichkeit und deren Affektruhe hinter sich läßt - eben als eine »Kunst des Überganges«, die ihre Kristallisierung in der simultan erschaubaren Struktur der klassischen Satztechnik nicht mehr zuläßt. Das ist in manchen Elementen die Rückkehr zu einer vorklassischen Musikanschauung, wie sie noch von Klopstock vertreten wird. Bezeichnend, da sie mit einer Renaissance der zu Wagners Zeit fast schon verschollenen Idee des Erhabenen einhergeht. Und was Wagner über diese in musikalischem Sinne wiedergeborene

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Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 59. Wagner: Gesammelte Schriften. Bd. 9, S. 78. Ebenda, S. 102. Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 78f. Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 86.

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Idee in seiner Beethoven-Schrift ausführt, könnte geradezu eine Strukturbeschreibung von Klopstocks Poesie sein - etwa ihrer Unanschaulichkeit. Das Erlebnis der Musik wie des Erhabenen habe, schreibt Wagner, eine »Depotenzirung des Gesichtes« zur Folge.58 Durch die »Wirkung der Musik auf uns« werde das Sehvermögen derart seiner Kraft beraubt, »da wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen«, ja nicht mehr zu sehen verlangen. 59 Den musikalischen Menschen erfülle im Anschauen des Schönen, beim »ästhetischen Gefallen« etwa an Werken der bildenden Kunst, bald das Gefühl eines Ungenügens, und er fühle sich gedrungen, mit Faust auszurufen: »Welch' Schauspiel! Aber ach, ein Schauspiel nur! Wo fass' ich dich, unendliche Natur?« 60 Das ist die Erfahrung des Erhabenen, die sich in der Musik niederschlägt. »Die Musik [...] kann an und für sich einzig nach der Kategorie des Erhabenen beurtheilt werden, da sie, sobald sie uns erfüllt, die höchste Extase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit erregt«.61 Wagners Ablehnung jeder musikalischen >OptikAkustik< - die sichtbare äußere Welt erzeugte Traum-Optik bedeutet überhaupt einen Aufstand gegen die Verschriftlichung der Musik, gegen die Hypostasierung, Autonomisierung des Notationssystems, gegen das, was man die »doppelte Ontologie der abendländischen Kunstmusik« genannt hat.62 Was die Musik von den anderen Künsten unterscheidet, ist ja die Diskrepanz zwischen ihrer produktiven Fixierung und ihrer Reproduktion. Ein Bild ist ein Bild - hier gibt es keine doppelte Ontologie eine Dichtung kann als geschriebener Text Autonomie beanspruchen, eine Partitur aber hat allenfalls für den des Notenlesens kundigen Experten einen Eigensinn, doch im Grunde ist sie auf Reproduktion angelegt, erschließt sich im allgemeinen nur im Erklingen und Hören. Die Notation von Musik entsteht erst im 9. Jahrhundert als »exterritorisierter, objektivierter Speicher«.63 Seitdem führt die Musik ein Doppelleben als aufgeschriebenes System und als konkretes, transitorisches, hier und jetzt erklingendes Phänomen. 64 Die notenschriftliche Objektivierung entzieht die Musik ihrer vorübergänglichen Klanggestalt, verleiht ihr Dauerhaftigkeit, kann aber ihr Sinn- und Sinnlichkeitspotential niemals voll in sich aufnehmen. Schon Franz Liszt notierte 1856 im Vorwort zu seiner Bergsymphonie·. Obschon ich bemüht war, durch genaue Aufzeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht, daß Manches, j a sogar das Wesentlichste, sich nicht zu Papier bringen läßt, und nur durch das künstlerische Vermögen, durch sympathisch schwungvolles

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Ebenda, S. HO. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 78. Haslmayr: Zum Verhältnis von Inspiration und Interpretation bei Wolfgang Amadeus Mozart und Eduard Mörike. - In: Kolleritsch (Hrsg.): Musikalische Produktion und Interpretation, S. 176-189, hier S. 177. Heister: Werk und Virtuosität. Zu Genese und Geltung der Trennung von Komponieren/Interpretieren - ebenda, S. 33-52, hier S. 40. Vgl. Haslmayr: Zum Verhältnis von Inspiration und Interpretation - ebenda, S. 176.

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Dieter Borchmeyer Reproduzieren, sowohl des Dirigenten als der Auffuhrenden, zur durchgreifenden Wirkung gelangen kann.

Und von Gustav Mahler stammt das Wort, das Wesentliche seiner Musik stehe »nicht in den Noten«. Ferruccio Busoni schließlich konstatiert in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1906): »Die Notation, die Aufschreibung von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen.« Dem Verlangen der »Gesetzgeber«, daß »der Vortragende die Starrheit der Zeichen wiedergebe«, ihrem Dogma, die Wiedergabe sei um so vollkommener, »je mehr sie sich an die Zeichen hält«, setzt Busoni die Meinung entgegen: »Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt, das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.«65 In eben diesem Sinne kann Theodor W. Adorno in seiner nachgelassenen Theorie der musikalischen Reproduktion feststellen: »In gewissem Sinn macht die wahre Interpretation die Notation rückgängig. «66 Nämlich indem sie die vorschriftliche Eingebung gewissermaßen wieder-holt. Die Crux der Notation, der > AufschreibesystemeSinnLiteratur< sind, d.h. sich in bloßer Lesbarkeit erschöpfen und der sinnlichen Realisierung entziehen. In seinen späten Schriften hat er nun durch seine Theorie der Improvisation67 der einseitigen Schrift- und Notationskultur der Moderne das Wasser abzugraben versucht. In seinem Aufsatz Über die Bestimmung der Oper (1871) nennt er das »Improvisiren« das »Naturverfahren bei den Anfängen aller Kunst«, zumal der dramatischen und musikalischen.68 »Der dramatische Autor, welcher nie zu der Vorstellung gelangt ist, welche Kraft seinem Werk inne wohnen würde, wenn er es durchaus nur improvisirt vor sich aufgeführt sehen könnte«, heißt es im Brief über das Schauspielerwesen an einen Schauspieler (1872), »hat auch nie wirklichen Beruf zur dramatischen Dichtkunst in sich empfinden können.«69 Natürlich denkt Wagner hier besonders an die Commedia dell'arte. Im Mai 1871 erlebt er an der Alten Brücke in Heidelberg eine Kasperltheatervorstellung,70 von der er in seinem Aufsatz Über Schauspieler und Sänger (1872) schreibt, hier sei ihm »seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters 65

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Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 22. Diese Auffassung hat übrigens Arnold Schönberg in seinen Anmerkungen zu Busonis Entwurf vehement verworfen! Adomo: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, S. 182. Vgl. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 57-63. Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 142f. Ebenda, S. 263. Vgl. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 4CM8.

Poesie für das Ohr

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zuerst wieder lebendig« aufgegangen. »Hier war der Improvisator Dichter, Theaterdirektor und Acteur zugleich« 71 - womit er auf den Theaterprolog von Goethes Faust anspielt. Das Kasperltheater als utopisches Modell einer Kunst, die gewissermaßen die >ontologische Differenz* zwischen Werk und Auffuhrung aufhebt, in der das Werk erst im Moment seiner szenischen Vergegenwärtigung entsteht mithin vor aller Notation. Mit dieser Utopie spielt das Theater bis heute, sei es, daß wie in Goethes »Prolog auf dem Theater« oder Hofmannsthals Vorspiel zu Ariadne auf Naxos das folgende Werk als im Moment der Auffuhrung entstehendes fingiert wird, sei es, daß das Theater tatsächlich mehr oder weniger zugunsten des Stegreifspiels auf Notate verzichtet - ein Verfahren, das in der Musik freilich von jeher weit geläufiger ist (der Jazz ist dafür das epochemachende Beispiel unserer Zeit). Wagners gesamte späte Ästhetik kreist mehr oder weniger um das Formmodell der Improvisation. Und die beiden Künstler, die in dieser Hinsicht für ihn paradigmatisch sind und die er gewissermaßen im modernen Musikdrama synthetisch zusammenzuführen sucht, sind Shakespeare und Beethoven. »Das ist das Ungeheure an Beethoven, daß er in seinen letzten Quartetten das Phantasieren festzuhalten gewußt hat, was nur durch höchste, höchste Kunst zu erreichen war«, sagt er am 4. Dezember 1870 zu Cosima. 72 Was ex improviso eingegeben scheint, ist also Produkt höchster Kunstabsicht. Darin scheinen romantische Formideen nachzuwirken: Poesie als »absichtliche [...] Zufallproduktion« im Sinne von Novalis. 73 Die Improvisationsidee taucht tatsächlich in einer Wagners Spekulationen sehr verwandten Gestalt schon in der Romantik auf: bei Brentano, Ε. T. A. Hoffmann, Adam Müller etwa.74 »Was ist das Geschriebene gegen die Inspiration, was ist das Phantasieren gegen das Notieren«, äußert Wagner im eben zitierten Gespräch mit Cosima; »letztres tritt unter bestimmte Gesetze der Konvention, ersteres ist frei, grenzenlos«. 75 Immer wieder bekennt er sein förmliches »Grauen« vor der Arbeit des Partiturschreibens: 76 »Freude machen mir meine Sachen nur bis zu der ersten Tintenausarbeitung, wenn der nebelhafte Bleistiftgedanke plötzlich klar und deutlich vor mir steht.«77 »Das Komponieren ist bei mir auch ein seltsamer Zustand; beim Phantasieren habe ich alles, endlos, nun heißt es fixieren, da kommen einem die physischen Griffe schon in den Weg; wie war es dann, nicht wie es ist, wie soll es sein, wie war es, und nun suchen, bis man es wiederfindet.« 78 An die Musiker gilt derselbe Rat wie an die Schauspieler: »Improvisieren soll ein jeder, in der Improvisation kann jeder gute Musiker etwas Interessantes leisten; aufschreiben aber ist ein ganz andrer Prozeß«, denn da muß man sich ganz bestimmter etablierter For-

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Wagner: Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 182. Cosima Wagner: Die Tagebücher, Bd. 1, S. 319. Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 451: Das Allgemeine Brouillon, Nr. 953. Vgl. Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners, S. 58. Cosima Wagner: Die Tagebücher, Bd. 1, S. 319. Ebenda, S. 428. Ebenda, S. 338. Ebenda, S. 404.

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Dieter Borchmeyer

men und Gattungen bedienen. 79 Das »Kunstwerk der Zukunft« soll nun das Außerordentliche leisten: die Verschmelzung der musikalischen mit der mimischdramatischen Improvisation. Das »von uns in Aussicht genommene Kunstwerk« wird im Aufsatz Über die Bestimmung der Oper definiert als »durch die höchste künstlerische Besonnenheit fixirte mimisch-musikalische Improvisation von vollendetem dichterischen Werthe«. 80 Hier greift Wagner die namentlich in seiner Beethoven-Festschrift von 1870 entfaltete These von der »Urverwandtschaft« Shakespeares und Beethovens 81 wieder auf, nun unter dem Gesichtspunkt der improvisatorischen Form ihrer Kunst, die gegen alle vorgestanzten Formen aufbegehrt. Die fixierte Improvisation ist ein Paradox, ein Als-ob, die Metapher einer konventionelle Schemata durchbrechenden Struktur. Echte Improvisation ist im musikalischen Drama natürlich ausgeschlossen; auf der Handlungsebene aber wird sie bei Wagner durchaus fingiert: die Genese von Walthers von Stolzing Preislied nämlich ist eine fast getreue Veranschaulichung der in den Jahren nach der Uraufführung der Meistersinger konzipierten Improvisationstheorie Wagners. 82 Walthers Probegesang im ersten Aufzug ist eine völlig freie Phantasie, der das Moment der »höchsten künstlerischen Besonnenheit« freilich noch fehlt. Der Ritter folgt gänzlich seinen Augenblickseingebungen, unbekümmert um die Formerwartungen der Meistersinger. Allein Hans Sachs erkennt, daß Walthers Gesang nicht einfach formlos ist, sondern einem anderen, wenn auch noch nicht mit >Besonnenheit< gestalteten Gesetz gehorcht. Zu dieser sucht er Walther in seiner Poetik-Lektion im dritten Aufzug hinzulenken, denn er weiß, daß aus der schroffen Antithese von schriftlich fixierten Zunftregeln und freier Improvisation kein Weg in die Zukunft fuhrt. Zwischen beiden gilt es zu vermitteln. So fordert Sachs Walther auf, seinen Morgentraum ex improviso zu >dichtenfixierenBom PoetVolkslieder< vernachlässigt. Wolff: Camilla. Seitenstück zu Fiormona oder Briefe aus Italien, S. 119. Arnim: Von Volksliedern - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6: Des Knaben Wunderhorn, S. 406-442, hier S. 408. So Goethe über das Wunderhorn in: Goethe: Tag- und Jahres-Hefte - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 17, S. 189. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung - Werke (Nationalausgabe), Bd. 21, 1, S. 414. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hrsg. von Harald Fricke, S. 14 (No. 1.34). Vgl. Arnim: Von Volksliedern - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 437: »Wie Deutschland sich wiedergebiert, wer kann es sagen, wer es in sich trägt, der fühlt es mächtig sich regen.« Ebenda, S. 430. Vgl. ζ. B. Braungart: »Aus den Kehlen der ältesten Müttergens«, S. 17.

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Diesem Aspekt soll hier durchaus Rechnung getragen werden, doch möchte ich den Akzent auf Goethes ästhetisches Verständnis der Volkspoesie legen, die für ihn (wie die Bibel) bezeugte, »daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer.«" Der Riß besteht zwar auch für ihn, er stellt aber der manierierten Kunstepoche nicht einfach bloß wie Arnim ein wie auch immer aktualisiertes und auf Gegenwärtigkeit ausgerichtetes »poetisches Archiv« 12 gegenüber, sondern sein Konzept der »sogenannten Volkslieder« 13 bildet einen wichtigen Teil seines ästhetischen Gesamtkonzepts, das sich am besten mit einem Blick auf Lord Byron, den einzigen zeitgenössischen Autor, den Goethe neben sich gelten ließ, verdeutlichen läßt.14 Denn Goethe sieht in ihm (wie übrigens auch in Shakespeare) - ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt - seine wichtigsten ästhetischen Prinzipien verkörpert: Objektivität und Unmittelbarkeit 15 in der Wahrnehmung, im Moment des Schaffens, in der Darstellung und in der Wirkung. Dabei gilt selbstverständlich, daß solche Unmittelbarkeit immer nur eine >symbolische< sein kann: »Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke.«16 Für Goethe zeichnet sich Byrons Werk durch Darstellungen aus, die - wie Eckermann am 5. Juli 1827 Goethe gegenüber in dessen eigenster Diktion äußert »ganz unmittelbar dastehen und uns rein den Gegenstand geben«. Und Goethe bekräftigt: »[...] darin ist Lord Byron groß; seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität, als wären sie improvisirt.« Von ihrer Wirkung weiß Goethe, daß ihm Stellen im Gedächtnis geblieben seien, »besonders Seestücke, wo hin und wieder ein Segel hinausblickt, ganz unschätzbar, sodaß man sogar die Wasserlust mit zu empfinden glaubt.« 17 Es ist nicht mehr wie bei Herder in erster

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Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 10. Buch - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 14, S. 445. Goethe: Des Knaben Wunderhorn - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 19, S. 253-267, hier S. 267. Goethe versieht den Begriff »Volkslied« in der Regel mit dem Epitheton »sogenannt«; vgl. Die Maxime in den Wanderjahren: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 10, S. 569, oder Goethe: Serbische Lieder - ebenda, Bd. 22, S. 124-135, hier S. 124. Am 23. Oktober 1823 zu Kanzler Müller: »Byron allein lasse ich neben mir gelten!« - Goethe: Gespräche Bd. 4, S. 286. - Zu Goethes Byronbild siehe ζ. B. Hoffmeister: Goethe und die europäische Romantik, S. 70-78. Hoffmeister betont, daß Goethes Vorstellung von Byron als unbewußt produktivem Genie in die Irre führt (S. 72). Bei Ε. M. Butler (Byron and Goethe) findet sich keine Diskussion dieser ästhetischen Fragen. Zum Konzept der Unmittelbarkeit im 18. Jahrhundert (ohne Behandlung Goethes!) vor allem hinsichtlich des Urprungsmythos siehe Christine Zimmermann: Unmittelbarkeit. Goethe: Zur Farbenlehre. »Schlußbetrachtung über Sprache und Terminologie« - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 23, 1, S. 244-246, hier S. 244. Ebenda, Bd. 39, S. 249. - Robertson gibt in seinem Überblick zum Verhältnis von Goethe und Byron eine Übersetzung dieser zentralen Passage der Unterhaltung mit Eckermann, kommentiert sie jedoch nicht hinsichtlich ihrer ästhetischen Bedeutung; siehe Robertson: Goethe and Byron, S. 105-107.

Goethes » Wunderhorn«-Rezeption

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Linie der »Ton der Empfindung«, der »das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen« soll,18 sondern ein ganz bestimmtes in der Darstellung manifestes Verhältnis von Autor, Wirklichkeit und Publikum, das Goethe, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, auch bei den »sogenannten Volksliedern« ausmacht. Zwar gesteht Goethe diesen Liedern sympathetische Qualitäten zu, die aber allein auf der musikalisch-mündlichen Darbietung beruhen: Hiebey gestehen wir denn gerne, daß jene sogenannten Volkslieder vorzüglich Eingang gewinnen durch schmeichelnde Melodien, die in einfachen, einer geregelten Musik nicht anzupassenden Tönen einherfließen, sich meist in weicher Tonart ergehen und so das Gemüth in eine Lage des Mitgefühls versetzen [...].19

Für die Darstellung aber gilt, was Goethe später noch einmal in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer der 1829 vollendeten Wanderjahre direkt im Anschluß an eine Maxime über Lord Byron bekräftigt, in der er ihn ein in »natürlicher Wahrheit und Großheit, obgleich wild und unbehaglich ausgebildetes Talent« nennt: »Eigentlichster Wert der sogenannten Volkslieder ist der, daß ihre Motive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vorteils aber könnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verstünde.«20 Und in der Tat gehört Goethes Interesse an der Volkspoesie und am Wunderhorn, zusammen mit seiner seit den späten 1790er Jahren wachsenden Aufmerksamkeit für Naturpoeten und Naturprosaisten und seinem Interesse für Improvisation und Improvisatoren zu seinem >klassischen< ästhetischen Programm und Selbstverständnis der Objektivität und Unmittelbarkeit, wie er es nach der Rückkehr aus Italien in zahllosen Äußerungen umkreiste. Dabei gibt es durchaus keinen Widerspruch zwischen Goethes »Werben fur Volkspoesie« und einer angeblich »theoretischen Künstlerpädagogik unter klassizistischen Vorzeichen«. 21 Es soll im folgenden also darum gehen, Goethes Wunderhorn-Rezeption und sein Volkslied-Verständnis mit Arnims Intentionen zunächst zu kontrastieren. Dann soll Goethes Konzept der Volkspoesie, des Naturpoeten und der Improvisation als integraler und zentraler Bestandteil seiner Ästhetik erwiesen werden, die in der Produktion wie in der Rezeption durchaus performativ gedacht ist.

1. Ausdrücklich auf die Verdienste fremder Nationen hinüberweisen Zwar hat Arnims Wunderhorn-Projekt durchaus auch ästhetische Intentionen, ist aber vom Endzweck her kulturpolitisch; er hatte 1802 in einem Brief an Clemens Brentano nach der gemeinsamen Rheinreise in romantischer Mittelalterseligkeit

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Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1. Teil, 1. Abschnitt - Werke in zehn Bänden (Frankfurter Ausgabe), Bd. 1, S. 695-810, hier S. 707 (Hervorhebung im Original). Goethe: Serbische Lieder - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 22, S. 124. Ebenda, Bd. 10, S. 569. So ζ. B. Karl-Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, Bd. 2, S. 309.

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und im Volksliedüberschwang »eine Schule für Bänkelsänger« auf Schloß Laufen am Rheinfall geplant, wo die »einfachsten Melodien von Schulz, Reichardt, Mozart u.a. [...] mit den Liedern unter das Volk gebracht« werden sollten; von »Sängerherbergen in den Städten« sollten die Bänkelsänger durch das Land ziehen, den »Deutschen einen Ton und eine enge Verbindung geben« und so durch die Erneuerung des Volksgeistes und die Überbrückung der Kluft zwischen Volkspoesie und Kunstpoesie letztlich die deutsche Einheit herbeifuhren. 22 Beim eigentlichen Projekt hatte Arnim dann auch keine antiquarischen Interessen, sondern es ging ihm folgerichtig, und das ist in der Forschung zur Genüge festgestellt und untersucht worden, um eine Aktualisierung und Modernisierung der gesammelten Texte, was er durch Goethes Rezension bestätigt sieht: »die grellsten Verkettungen von Altem und Neuem sind ihm die liebsten, denn nur in diesen bewährt sich ihm recht die Lebenskraft des Alten.« 23 Arnim versuchte »eine zukunftsorientierte Gedächtniskultur« 24 zu schaffen und einen »Beitrag zum Projekt der Nationalerziehung« zu leisten; soweit hätte Goethe noch zustimmen können. Für Arnim jedoch bedarf es »für Deutschlands Wiedergeburt [...] einer Reinigung von allen kulturellen Einflüssen von außen«, 25 und er fordert: »fort mit dem Fremden im Einheimischen!« 26 Goethes Verständnis von Kultur ist wesentlich differenzierter und vor allem historisch-genetisch. Sicher mit der nationalen Tendenz des >Nachwortes< Von Volksliedern im Blick fordert Goethe in seiner Rezension in einem eventuellen »zweiten Teil dieser Art deutscher Lieder« auch darzulegen, »was fremde Nationen [...] dieser Liederweise besitzen«. 27 Als dann im August 1808, unmittelbar vor Erscheinen des zweiten und dritten Bandes des Wunderhorns, vom bayrischen Schul- und Studienrath Niethammer, der bis 1803 Professor der Philosophie und Theologie in Jena war, »zwey weit ausgreifende Werke« angeregt wurden, nämlich »ein historisch religiöses Volksbuch und eine allgemeine Liedersammlung zu Erbauung und Ergötzung der Deutschen«, 28 da skizzierte er den Plan zu einem »Lyrischen Volksbuch«, der sich nicht an Volksliedern orientiert, sondern den größten Wert auf »den tüchtigen Gehalt« der Lieder legt, wodurch solch ein Lyrisches Volksbuch also wirklich als eine Art Archiv des Wissens fungieren könnte. Als damals nicht

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Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 38-39, Brief vom 9. Juli 1802 an Brentano. An Clemens Brentano in Kassel, Heidelberg, 6. Februar 1808, ebenda, S. 235. Wolf Gerhard Schmidt: Der Sammler, der Dichter und die verlorene Jugend: Arnims Poetik im Kontext seiner Beschäftigung mit Macphersons »Ossian«. - In: Dickson/Pape (Hrsg.): Romantische Identitätskonstruktionen, S. 247-269, hier S. 247. Stefan Nienhaus: »Wo jetzt Volkes Stimme hören?« Das Wort >Volk< in den Schriften Achim von Arnims von 1805 bis 1813. - In: Ricklefs (Hrsg.): Universelle Entwürfe - Integration Rückzug, S. 89-99, hier S. 90-92. Deutschlands Wiedergeburt ist eine Paraphrase von Arnims »Wie Deutschland sich wiedergebiert, wer kann es sagen, wer es in sich trägt, der fühlt es mächtig sich regen [...].« - siehe Anm. 7. Arnim: Von Volksliedern - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 437. Goethe: Des Knaben Wunderhorn - Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 19, S. 266. Goethe: Tag- und Jahres-Hefte - ebenda, Bd. 17, S. 189.

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Goethes » Wunderhorn«-Rezeption

veröffentlichte direkte Antwort auf Arnims Programm im Wunderhorn-Nachwort läßt sich eine Passage lesen, die von einem ganz anderen Konzept der deutschen (Kultur-)Nation ausgeht. Er betont, daß »der Deutsche« sich wie die Vertreter anderer Nationen nicht zu schämen brauche, »seine Bildung von außen« erhalten und, »was die Poesie betrifft, Gehalt und Form von Fremden« genommen zu haben. Und so fordert er: »[...] ja man müßte ausdrücklich auf Verdienste fremder Nationen hinüberweisen, weil man das Buch auch fur Kinder bestimmt, die man besonders jetzt früh genug auf die Verdienste fremder Nationen aufmerksam zu machen hat.«29 Hier deutet sich nicht nur sein Konzept von einer Weltliteratur an;30 die unterschiedliche Konzeption von Des Knaben Wunderhorn und von Goethes Lyrischem Volksbuch liegt im unterschiedlichen Volksbegriff begründet. Arnim geht - bei aller Orientierung an den Problemen der Gegenwart und bei aller Zukunftsvision - von einem mythischen Volksbegriff aus, er will den »Reichthum unsres ganzen Volkes« »zu dem allgemeinen Denkmahle des größten neueren Volkes, der Deutschen« machen.31 Goethe hingegen denkt trotz der Prägung durch Herder und nicht nur wegen seiner negativen Erfahrungen mit dem deutschen Publikum32 historischer und sozial realistischen. Das projektierte Volksbuch dient der Volksbildung, denn es gilt: »Unter Volk verstehen wir gewöhnlich eine ungebildete bildungsfähige Menge, ganze Nationen, sofern sie auf den ersten Stufen der Kultur stehen, oder Teile kultivierter Nationen, die untern Volksklassen, Kinder.«33 Wenn Goethe also die romantische Verklärung »des größten neueren Volkes, der Deutschen«, aufgrund seines politischen und kulturellen Realismus nicht mitmacht, so bezieht er dennoch bei seinen ästhetischen Überlegungen die »untersten alles Unterrichts wie aller Bildung ermangelnden Volksklassen« mit ein.34

2. .S'o denke man mich als einen gebornen

Dichter

Goethes Volkslied-Begriff in seiner Wunderhorn-Rezension weist (in Übereinstimmung mit Arnim) jede Vorstellung vom Volk als > Autor< zurück, er bestreitet aber auch, daß das >Volk< der eigentliche Adressat sei; die »Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen« seien »eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet«. Als Verfasser solcher Lieder, die nicht zur Kunst der Gebildeten gehören, sei nur »das wahre dichterische Genie«35 zu denken, dessen

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Goethe: (Über das lyrische Volksbuch 1808> - ebenda, Bd. 19, S. 398 -401, hier S. 400. Vgl. dazu Ehrhard Bahr: Volk. - In: Goethe-Handbuch, Bd. 4 , 2 , S. 1102-1105, hier S. 1104. Arnim: Von Volksliedern - Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 6, S. 441. Vgl. ζ. B. Reed: Ecclesia militans: Weimarer Klassik als Opposition. Goethe: (Über das lyrische Volksbuch 1808) - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 19, S. 398^101, hier S. 398. Friedrich Wilhelm Riemer: [Der Ausdruck »Naturdichter«]. - In: Über Kunst und Alterthum Bd. 4, H. 2 (1823) - ebenda, Bd. 21: Ästhetische Schriften 1821-1824, S. 451-^54, hier S. 451. Goethe: Des Knaben Wunderhorn - ebenda, Bd. 19, S. 265.

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Werke sich allerdings im Gegenstand und graduell von der >Hochliteratur< unterschieden, nicht aber hinsichtlich der ästhetischen Prinzipien. Dabei beschreibt Goethe das Vermögen des Genies als »höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht«, die es auch bei aller »Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik« besitze. Voraussetzung für ein >gelungenes< sogenanntes Volkslied sei der Verzicht auf Komplexität durch die Beschränkung auf das Charakteristische der jeweiligen Situation oder des Gegenstandes (das Stämmige und Tüchtige), das Goethe in seiner Charakterisierung der einzelnen Lieder nachdrücklich hervorhebt; nur zwei Beispiele: »>WassersnotVom großen Bergbau der Weltgebornen Dichters< um eine Dimension, welche die Unmittelbarkeit und Objektivität der Darstellung allererst garantiert. 36 37 38 39 40

Ebenda, S. 256, 258. Hervorhebungen von mir. Ebenda, S. 265-266. Goethe: Einleitung in die >Propyläen< - ebenda, Bd. 18, S. 463. Ebenda, Bd. 24, S. 744-745. Art. Genie - Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1, S. 457.

Goethes » Wunderhorm-Rezeption

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Zur Fähigkeit, die dichterische Sprache »unmittelbar an den jedesmaligen Gegenständen zu bilden«, muß die Kenntnis der Gegenstände treten. Diese Überlegungen finden sich erstmals in Goethes am Beispiel der bildenden Kunst exemplifiziertem, aber auch fur die Dichtung gültigem, aus den Gesprächen mit Karl Philipp Moritz entstandenem »prägnanten Kunstprogramm«41 von 1789, der Abhandlung Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl, die er noch 1817 als maßgebliches kunsttheoretisches Ergebnis seiner Italienreise ansieht.42 Bei der »einfachen Nachahmung« behandelt »eine fähige, aber beschränkte Natur angenehme, aber beschränkte Gegenstände«.43 Mit Bezug auf die Blumenstilleben-»Wunderwerke eines Huysum, einer Rachel Ruysch« gibt Goethe ein Beispiel dafür, daß »ein solcher Künstler nur desto größer und entschiedener werden muß, wenn er zu seinem Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist«.44 Die »Stil« unterscheidet sich von der »einfachen Nachahmung« durch »richtige Darstellung der Eigenschaften« des Gegenstandes: Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung, sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art, wie sie bestehen, genau und immer genauer kennenlemt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen nebeneinanderzustellen und nachzuahmen weiß: dann wird der Stil der höchste Grad, wohin sie gelangen kann, der Grad, wo sie sich den höchsten menschlichen Bemühungen gleichstellen darf. Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen. 45

Ein Vierteljahrhundert nach diesem ästhetischen Fazit der italienischen Reise und fast zwanzig Jahre nach der Wwwcfertoor/j-Besprechung bekräftigt Goethe in einer neuerlichen Phase verstärkten Interesses für die Volkspoesie und für die seit der Beschäftigung mit dem Wunderhorn so genannten »Naturdichter«46 - die einen 41

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Hilmar Frank: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. - In: Goethe-Handbuch, Bd. 3, S. 570-577, hier S. 571. »Ich schrieb zu gleicher Zeit einen Aufsatz über Kunst, Manier und Stil, einen andern die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, und das römische Karneval, sie zeigen sämtlich, was damals in meinem Innern vorging, und welche Stellung ich gegen jene drei großen Weltgegenden genommen hatte.« Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen. Schicksal der Handschrift - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 24, S. 415. Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl - ebenda, Bd. 18, S. 225-229, hier S. 225. Ebenda, S. 228. Ebenda, S. 227. Zu den von Goethe genannten und besprochenen Naturdichtern und Naturprosaisten gehören Johann Konrad Gräbel (1736-1809), Johann Gottlieb Hiller (1778-1826), Anton Fürnstein (1783-1841), Johann Peter Hebel (1760-1826), Diederich Georg Babst (1741-1800), Johann Christoph Sachse (1761-1822), Bibliotheksdiener in Weimar. Vgl. als ersten und bislang einzigen Überblick: Wertheim: Von der »herrlichen Musengabe« der »Naturpoeten« und »Naturprosaisten«.

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Typus des geborenen Dichters bilden -

die Prinzipen der »einfachen

Pape

Nach-

a h m u n g « a u c h f ü r d i e D i c h t u n g . D e n n s i e s c h l i e ß e n in ihrer A r t d u r c h a u s » e i n e h o h e V o l l k o m m e n h e i t nicht aus«47, sofern sie eben den Grundsätzen der Objektivität u n d Unmittelbarkeit g e n ü g e n : Sehen wir aber endlich solche Gedichte geschrieben oder wohl gar gedruckt vor uns, so werden wir ihnen nur alsdann entschiedenen Wert beilegen, wenn sie auch Geist und Verstand, Einbildung und Erinnerungskraft aufregend beschäftigen und uns eines ursprünglichen Volksstammes Eigentümlichkeiten in unmittelbar-%eha\tvo\\eT Überlieferung darbringen; wenn sie uns die Lokalitäten, woran der Zustand gebunden ist, und die daraus hergeleiteten Verhältnisse klar und auf das bestimmteste vor die Anschauung führen. 4 8

D i e s e l b e n V o r a u s s e t z u n g e n der Unmittelbarkeit und B e s c h r ä n k u n g g e l t e n für das G e l i n g e n der p o e t i s c h e n S c h ö p f u n g e n der Naturdichter: Sie kennen den Fürnstein, den sogenannten Naturdichter; er hat ein Gedicht gemacht über den Hopfenbau, es läßt sich nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, besonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird; denn er hat von Jugend auf unter solchen Leuten gelebt, er kennt den Gegenstand durch und durch, er wird Herr seines Stoffes sein. 49 Seit der B e s c h ä f t i g u n g mit der » b e d e u t e n d e n E r s c h e i n u n g « v o n »Johann Konrad Grübel, Stadtflaschner und Volksdichter zu Nürnberg«, bilden vor allem die deutschen Naturdichter den eigentlichen G e g e n p o l zur »überbildeten, stockenden, m a n i e r i e r t e n K u n s t e p o c h e « ; m a n k ö n n e s i e in g e w i s s e r H i n s i c h t z w a r » a l s r ü c k s c h r e i t e n d a n s e h e n ; s i e s i n d aber r e g e n e r i e r e n d u n d v e r a n l a s s e n n e u e V o r s c h r i t t e . « 5 0 V o m A n f a n g d e r Wunderhorn-Rezeption

a n b i l d e n d i e >Naturdichter
von oben< sieht. Zudem müssen die Texte des Wunderhorn eben doch als etwas nicht der Gegenwart Angehöriges gelten, während unter »unseren Zeitgenossen« es eben »unsere« Naturpoeten und Naturprosaisten sind, »welche zusammen wohl eine besondere Rubrik in der deutschen Literatur verdienten, weil die sich vermehrende Erscheinung aller Aufmerksamkeit und Ermunterung werth ist.«54 Insgesamt ist die Sammlung auch kein Beispiel für ästhetische Unmittelbarkeit; in einem Brief an den Redakteur der Allgemeinen Literatur-Zeitung Heinrich Carl Abraham Eichstädt vom 8. Dezember 1808 heißt es zu zwei nicht überlieferten Aufsätzen zur »altdeutschen Poesie«: »Das Wunderhorn, das ich sehr schätze, ist keineswegs unmittelbar und augenblicklich aus dem Boden entsprungen.« 55 Wie solche Unmittelbarkeit im Falle des Archivs wiederherzustellen wäre, wird am Schluß zu erörtern sein.

3. So leicht hingeworfene

Realität, als wären sie

improvisirt

Wie das ideale Verhältnis von Anlaß, Entstehung und Aufnahme eines Liedes gedacht ist, veranschaulicht Goethe 1822 in Über Kunst und Alterthum in einer Anzeige der Neuen Liedersammlung von Carl Friedrich Zelter und verweist auf sein Gedicht »Um Mitternacht«: In derselben ist auch vorstehendes Lied enthalten; ich lade meine in Deutschland ausgesäeten Freunde und Freundinnen hierdurch schönstens ein, sich es recht innigst anzueignen und zu meinem Andenken von Zeit zu Zeit, bey nächtlicher Weile, liebevoll zu wiederholen. Man lasse mich bekennen, daß ich, mit dem Schlag Mitternacht, im hellsten Vollmond aus guter, mäßig-aufgeregter, geistreich-anmuthiger Gesellschaft zurückkehrend, das Gedicht aus dem Stehgreife niederschrieb, ohne auch nur früher eine Ahnung davon gehabt zu haben. 56

Goethes Selbstsicht als Dichter aus dem Stegreif hängt ebenfalls mit der Forderung nach Unmittelbarkeit und seinem Verständnis vom >gebornen Dichten zusammen. So stilisiert er im Rückblick im fünften Buch von Dichtung und Wahrheit seine poetische Frühzeit (1764) als die eines Stegreifdichters (»Gebt ihm irgend ein

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Gottlieb Hiller (1778-1826) »kam nach dem Tode des Vaters jung nach Cöthen, dichtete 10 Jahre alt schon kleine Lieder, welche arme Kinder auf der Straße sangen [...]. Nebenbei las er fleißig, namentlich Wieland's Schriften, und verfertigte kleine Gelegenheitsgedichte, welche in weiteren Kreisen bekannt wurden und die Aufmerksamkeit des Regierungsraths Bäntsch in Cöthen auf sich zogen.« - Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 12, S. 420. Der deutsche Gilblas, eingeführt von Göthe oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses [...] ( 1 8 2 2 ) - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 21, S. 664-671, hier S. 670. Brief Nr. 341 - ebenda, Bd. 33, S. 426. Ebenda, Bd. 21, S. 293.

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Walter Pape

Thema auf, und er macht euch ein Gedicht aus dem Stegreif«), 57 und auch später spricht er davon, daß »die meisten meiner Sachen beinah' nur aus dem Stegreife« entstanden seien. 58 Auch diese zentralen Komponenten seines ästhetischen Konzeptes teilte Goethe mit den »jüngeren poetischen Talenten«, deren Treiben für ihn doch »durchaus ins form- und charakterlose« ging. 59 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts taucht die Improvisation als italienische Spezialität in der deutschen Literatur auf; 60 höchst einflußreich war Madame de Staels Roman Corinne ou l'Italie (1807), der sofort von Dorothea Schlegel übersetzt wurde (allerdings von Friedrich Schlegel herausgegeben und ihm lange Zeit auch zugeschrieben). Für sie war Improvisation ein Echo der Natur, 61 nicht die rhetorische Technik, die Quintilian pries als »maximus vero studiorum fructus est et velut primus quidam plius longi laboris ex tempore dicendi facultas«. 62 Goethes Begriff der Improvisation erscheint so als eine Art Kombination der wissensbasierten quintilianischen und der romantischen Variante poetischer Unmittelbarkeit. Auch Karl Philipp Moritz beschreibt in einem Kapitel »Improvisatoren« seiner Reise eines Deutschen in Italien die Fähigkeiten des Improvisators ganz im Sinne von Goethes nachitalienischem Kunstprogramm: Es ist unglaublich, was ein solcher Improvisator für einen Umfang von Kenntnissen in der Geschichte und Mythologie besitzen muß, wenn er nicht mit Schande bestehen will; denn er muß sich jede Aufgabe gefallen lassen, wenn sie auch den speciellsten Umstand aus der Geschichte oder Mythologie betrifft, und muß sogleich gefaßt sein, diesen gegebenen Umstand aus dem Stegreife zu besingen. 63

Und so mußte sich auch der erste deutsche >berufsmäßige< Improvisator Dr. Oskar Ludwig Bernhard Wolff (1799-1851) von Goethe einen Tadel gefallen lassen: »Er ist ein entschiedenes Talent, daran ist kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivität, und davon möchte ich ihn heilen.« Goethe gab ihm die Schilderung seiner »Rückkehr nach Hamburg« als Aufgabe: Nicht die Rückkehr nach Hamburg schilderte er mir, sondern nur die Empfindungen der Rückkehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freunden, und sein Gedicht konnte

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Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (I, 5) - ebenda, Bd. 14, S. 182. Brief Nr. 306 vom 20. Juli 1797 an Christian Gottfried Körner - ebenda, Bd. 31, S. 370. Vgl. auch das Gespräch mit Friedrich von Müller vom 1. März 1 8 3 0 - e b e n d a , Bd. 38, S. 234 (Nr. 687): »[...] da improvisirte ich oft eine Erzählung, die sich hören ließ; ich hatte damals des Zeugs zu viel im Kopfe und Motive zu Hunderten.« Brief Nr. 317 vom 30. Oktober 1808 an Carl Friedrich Zelter - ebenda, Bd. 33, S. 398. Vgl. meinen kleinen Überblick in Pape: Das literarische Kinderbuch, S. 252-258. Auf dortige Formulierungen greife ich hier ζ. T. zurück. Anne Louise Germaine Baronne de Stael-Holstein: Corinne ou l'Italie (Ausg. 1820), Bd. 1, S. 72 (3. Buch, 3. Kap.). Quintiiianus: Institutions oratoriae libri XII, Buch X, Kap. 7, Bd. 2, S. 528. Moritz: Werke in zwei Bänden (Frankfurter Ausgabe), Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie, S. 680-681.

Goethes » Wunderhom«-Rezeption

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ebenso gut für eine Rückkehr nach Merseburg und Jena als für eine Rückkehr nach Hamburg gelten. Was ist aber Hamburg für eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch' ein reiches Feld für die speciellsten Schilderungen bot sich ihm dar, wenn er das Object gehörig zu ergreifen gewußt und gewagt hätte!

Die improvisatorische Kraft bewährt sich nach Goethe nicht in der Selbstaussprache eines Subjekts, sondern am Schein der Unmittelbarkeit, deren Voraussetzung es ist, »das Object gehörig zu ergreifen«. Solche Objektivität oder mit Moritz zu reden: solch ein »Umfang von Kenntnissen«, ermöglicht eine Rezeption des Gesagten als konkret unmittelbar, nur so entsteht nach Goethe eine Wirkung für die Zuhörer, »so lebendig, daß sie glaubten, es mit eigenen Augen zu sehen, er würde alles entzücken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durchbricht, so ist er geborgen [,..].«64 Damit distanziert er sich von romantischen Vorstellungen der Improvisation als des Ausbruch eines »Flammenquells in der Brust«. Zweifellos angeregt durch den berühmtesten Improvisatoren-Roman der Zeit, Madame de Staels Corinne ou l'Italie (1807) und deren Titelheldin, »la femme la plus celebre de l'Italie« 65 , stellt eben der als zu subjektiv kritisierte Improvisator Wolff in seinem 1832 veröffentlichten Roman Camilla. Seitenstück zu Fiormona oder Briefe aus Italien den Untergang eines an seiner extremen Subjektivität leidenden Improvisators dar, der das Improvisieren vor Zuschauern als einen Vorgang bezeichnet, »wie ein Mensch seine Brust öffnet und sie das innerste anschauen können«. 66 Bei Goethe ist die Objektivierung der Improvisation in Sinne des klassischen Kunstprogramms und ihre quintilianische Gründung in Studium und Kenntnissen natürlich auch eine Domestizierung der eigenen poetischen Potenz und der die Schrift sprengenden Kraft der Poesie.

4. Echte Teilnahme einer sich ausdehnenden

Brust

David E. Wellbery hat Goethes Gedicht »An Lina« als »a poetic theory of what poetic singing is« bezeichnet. 67 Und in der Tat scheint hier die poetische Unmittelbarkeit nicht durch das Lesen, sondern nur durch das Singen erreichbar: »Nur nicht lesen! immer singen!«68 Herders Aufsatz Über die Würkung der Dichtkunst 64

Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 29. Januar 1826 - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 39, S. 168. Zu Wolff siehe: Steffen: Der Improvisator als Anthologist. Zu Leben und Werk Oscar Ludwig Bernhard Wolffs. Ober deutsche Improvisatoren informiert: Herrmann: Deutschlands Improvisatoren (1906). Zeitgenössische Zeugnisse im Neuen Teutschen Merkur 1801 bzw. 1802: Carl Ludwig Fernow: Improvisatori/Improvisatoren; femer Bföttiger, Karl August]: Der Improvisator Pietro Scotes aus Verona.

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Baronne de Stael-Holstein: Corinne ou l'Italie (Ausg. 1820), Bd. 1, S. 29 (2. Buch, 1. Kap). Wolff: Camilla, S. 3. Vgl. auch S. 2: »[...] wie gern ließ ich den Strom der Empfindungen einmal brausen und zöge alle Schleusen auf, daß das Gefühl meines Herzens frei hinaus strömen könnte«. Wellbery: The Specular Moment, S. 211. Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 2, S. 68-69.

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Walter Pape

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auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten von 1777/78 bringt vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit der Volkspoesie eine Zusammenfassung der Folgen der Schriftlichkeit für die Dichtung: Die Buchdruckerei Wirkung geraubet. Mut und Herz des schön gedruckt auf

hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur Harfe, von Stimme, Sängers oder Dichters belebet; jetzt standen sie da schwarz auf weiß, Blätter von Lumpend

Doch übernimmt Goethe das Paradigma der Schriftkritik keineswegs umstandslos für sein Konzept der Volkspoesie oder der Naturdichtung. In der Besprechung serbischer Volkslieder betont er, daß der eigentliche Wert solcher Gedichte nur in geschriebener oder gedruckter Form beurteilt werden könne.70 Die Wichtigkeit des performativen Aspekts für die Lieder des Wunderhorns, die Goethe zu Beginn seiner Besprechung des Wunderhorns entwickelt hat, betrifft nicht die ästhetische Wertung und hat keinen Bezug zum Konzept der Unmittelbarkeit in Darstellung oder Wirkung. Es geht ihm vielmehr um die Frage der >Lebendigkeit< von Dichtung in einer Gesellschaft, darum, wie - über die Bearbeitung >altertümlicher< und >phantastischer< Lieder wie der des Wunderhorns hinaus - sie für die Gegenwart wieder lebendig gemacht werden können. Gehört zur Rezeption der eigenen Lieder auch die >recht innigste Aneignung< durchs Lesen oder eben durchs Singen, so sollen die Wunderhorn-Lieder im Gebrauch »am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen«, oder besser durch »schickliche Weisen« oder »neue bedeutende Melodien« ihre eigene Schriftlichkeit überflüssig machen, um »nach und nach in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, [...] allmählich belebt und verherrlicht zum Volke zurück [zukehren], von dem sie zum Teil gewissermaßen ausgegangen«: dann »könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt und könne nun wieder als geschrieben und gedruckt verlorengehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.« 71 Durch »wahrhaft lyrischen Genuß und echte Teilnahme einer sich ausdehnenden Brust«72 vollendet allerdings die Poesie erst ihre gattungsgemäße Intention. Goethe zögert denn auch, die ästhetischen Kriterien der Darstellung, also die Grundlagen und Voraussetzungen, von denen bislang die Rede war, zum Wesen der Poesie zu erheben. In den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans zeigt er die Grenzen einer rein schriftlichen Poesie auf: Poesie ist, rein und echt betrachtet, weder Rede noch Kunst; keine Rede, weil sie zu ihrer Vollendung Takt, Gesang, Körperbewegung und Mimik bedarf; sie ist keine Kunst, weil alles auf dem Naturell beruht, welches zwar geregelt, aber nicht künstlerisch geängstiget werden 69

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Herder: Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten Werke in zehn Bänden (Frankfurter Ausgabe), Bd. 4, S. 149-214, hier S. 200. Goethe: Serbische Lieder - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 22, S. 124. Siehe dazu auch oben S. 233. Ebenda, Bd. 19, S. 265. Goethe: Des Knaben Wunderhorn - ebenda, S. 265.

Goethes » Wunderhorn«-Rezeption

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darf; auch bleibt sie immer wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck. 73

Diese, man könnte fast sagen, andere Seite der klassischen Darstellungskonzeption widerspricht jedoch nicht dem Diskurs von Objektivität und Unmittelbarkeit, sondern klärt die Ausdrucks- und Existenzbedingungen jenseits der als notwendig vorausgesetzten Darstellungsprinzipien. Und diese Bedingungen sind, das hatte Goethe erstmals deutlich in seinem Aufsatz Literarischer Sansculottismus von 1795 formuliert, für die Dichtung in Deutschland denkbar schlecht. In einem Gespräch mit Eckermann vom 3. Mai 1827 verweist er auf den Naturdichter Robert Burns - »eines der entschiedensten Genies, aber in der tiefsten Klasse der Landleute geboren« 74 - und auf dessen lebendige Einbindung in eine mündliche Volksliedtradition, wie er sie für die Lieder des Wunderhorn seinerzeit leicht ironisch erhofft hatte: Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! Was lebte denn in meiner Jugend von unsem nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen, dann hatte man sie doch meistens gedruckt in Bibliotheken. Und später, was haben nicht Bürger und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und weniger volksthümlich wären als die des vortrefflichen Burns! Allein was ist davon lebendig geworden, sodaß es uns aus dem Volke wieder entgegenklänge? Sie sind geschrieben und gedruckt worden und stehen in Bibliotheken, ganz gemäß dem allgemeinen Lose deutscher Dichter. Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer mir Stellen des >Tasso< sangen! 75

Hier wird deutlich, warum Goethe nicht einer utopischen performativen Unmittelbarkeit, einer utopischen >echten Teilnahme< des Publikums das Wort redete, sondern seine Theorie der Unmittelbarkeit und Objektivität im Hinblick auf eine Darstellung entwickelte, welche die emphatische und sympathetische Rezeption jedes einzelnen erst ermöglicht.

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Goethe: West-östlicher Divan: Besserem Verständnis - ebenda, Bd. 3, 1, S. 205. Goethe: Vorwort zu Carlyles »Leben Schillers« (1830) - ebenda, Bd. 22, S. 876. Ebenda, Bd. 39, S. 611.

Claudia

Nitschke

Die legitimatorische Inszenierung von >Volkspoesie< in Achim von Arnims »Scherzendem Gemisch von der Nachahmung des Heiligen«

»Ihr seyd sonderbare Leute, erst habe ich euch für thöricht gehalten, weil ich den geheimen Gang eures Spiels nicht einsähe, da liegt nun für andre Leute, die da meinen alles Verständniß sey ihnen angeboren, alles so unter einander, daß sie euch selten trauen werden.«1 Der Alte aus Rahmenerzählung des >Scherzenden Gemisches von der Nachahmung des Heiligem, der sich an dieser Stelle auf eine Unterhaltung zwischen dem Erzähler und seinem »Herzbruder« bezieht, bringt das Verfahren des >Gemisches< auf den Punkt und benennt damit zugleich zwei konstitutive Aspekte des Textkonvoluts: zum einen, indem er auf das Spielerische des Textes verweist und auf diese Weise einen poetologischen Grundsatz offenlegt, und zum anderen, indem er dem scheinbar »thörichten« Aspekten der brüderlichen Interaktion eine Stoßrichtung, einen »geheimen Gang« unterlegt, der durch die ästhetische Überformung weniger intentional verborgen wird, als vielmehr zur Entdeckung auffordert. Der textimmanente Hinweis auf das nur scheinbar »Thörichte« ist keineswegs überflüssig: In der Zeitungfiir Einsiedler erweist sich die komplizierte Textanlage des >Gemisches< auf den ersten Blick als hermetisch, insofern verschiedene, bereits in sich beziehungsreiche und vielschichtige Originaltexte mit einer schwer verständlichen, assoziativen und betont »scherzenden« Rahmenhandlung verknüpft werden. 1. Die Darstellung des »Gemeinsamen, Volksmäßigen«: Die ästhetische Technik des >Gemisches< Dem Alten der Rahmenhandlung folgend lohnt sich deshalb ein genauerer Blick auf verwirrende Technik des >Gemisches< und die ihm zugrundeliegenden Intentionen. In seiner ironischen Publikumsschelte >An das geehrte Publikum< formuliert Arnim das Unterfangen der >Zeitung< nachträglich explizit: nicht wahr, Du hast das alles ganz anders gedacht und ganz anders ist es erzählt worden. Vom Inhalte dieses Buchs weißt Du auch wohl wenig? Lies einmal, gieb dir die Mühe, nur noch ein Wort über das Ganze: Es sucht die hohe Würde alles Gemeinsamen, Volksmäßigen darzustellen. Von den ältesten Heldensagen geht es aus [...] Begleitend geht damit ein Auf-

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Arnim: Scherzendes Gemisch von der Nachahmung des Heiligen - In: Zeitung für Einsiedler, S. 287.

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Claudia Nitschke satz über die Nachahmung des Heiligen, der die sichere Verzweiflung in allem, was den Einzelnen losreißt von dem Allgemeinen in unsrer Zeit ausspricht, eben dahin deuten die dramatischen Gedichte und viele einzelne Lieder, die unendliche Größe jedes Volkscharakters, und die Leerheit jeder in sich selbst pralenden Vaterlandsliebe darzustellen. 2

Diese erzwungene Benennung im Abgesang auf das zu diesem Zeitpunkt gescheiterte Projekt wird in der Ankündigung der Zeitung für Einsiedler bewußt ausgespart: Sie würde der Technik der ästhetischen Erzeugung, der besagten Darstellung des »Gemeinsamen, Volksmäßigen«, widersprechen und damit die primär performativ angelegte Bekräftigung des Unterfangens aushebeln, die der Zeitung insgesamt konstitutiv zugrunde liegt. Das Volksgemäße soll in diesem Sinne nicht antiquarisch bewahrt oder monumentalisch isoliert werden, sondern für die Gegenwart qua Verfassen und Lektüre aktualisiert und in ihrer volkgemäßen »Würde« neu verfügbar gemacht werden. Für diese performative Darstellung wird ein ganzes Arsenal romantischer Techniken aufgefahren. Das >Gemisch< schließt sich mit seiner auf die Spitze getriebenen ästhetischen Praxis zunächst an genuin frühromantische Darstellungspostulate an, um sich dann - in ihrer spezifischen Ingebrauchnahme - wiederum von ihnen zu entfernen: Diese gegenüber der Frühromantik veränderte Verfahrensweise gilt es, im folgenden sowohl in ihrer scheinbaren Kontinuität als auch in ihrer funktionalen Diskontinuität zu untersuchen. In der Rahmenhandlung wird zunächst geradezu paradigmatisch Friedrich Schlegels im 116. Athenäumsfragment aufgestellte Forderung nach der universalpoetischen »Mischung« bzw. »Verschmelzung« von »Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie« 3 umgesetzt. Arnim inszeniert die unterschiedlichen Texte in einer Rahmenhandlung, in der das Erzählte, Berichtete und Vorgelesene theatralisiert und im Kontext einer exponierten Körperlichkeit materialisiert wird: Die Rahmenhandlung setzt vor allem auf showing statt telling, da in der geselligen Rahmensituation verschiedene Positionen verhandelt und durch Gesprächsbeiträge umgesetzt werden. Zudem nähert Arnim immer wieder eigentlich divergente Bereiche an und erzeugt in diesem beständigen Wechseln der semantischen Ebenen eine ästhetische Welt des >UneigentlichenGemisches Volkspoesie
Gemisch< einschreibt; im Anschluß an die Vorlesung des Alten, in der auf der Flucht nach Ägypten Maria ihrem Kind »unter seinen Augen ansah, daß es Jesus war«, fragt der Erzähler bedeutungsvoll, ob er mir denn nichts unter den Augen ansehe? Er schüttelte mit dem Kopfe, ein kleiner Bube aber, der bisher in seinem Schooße den Kopf auf dem Tisch geschlafen hatte, fragt mich: Herr, ihr mußt euch mit einem Finger voll Tinte die Augen ausgewischt haben, seht euch nur im Spiegel. - Ich sah in Verlegenheit nach dem kleinen Wandspiegel, und erblickte darin zu meiner großen Freude den Herzbruder stehn, der bisher aus Achtung gegen das Messer eines Barbiers stille geschwiegen, der den weißen Grund seines Bildes gelegt hatte. Wir umarmten uns sprachlos, wir hatten uns lange nicht gesehen, ich machte ihn mit meiner Tinte schwarz, er machte mich mit Bartseife weiß, so daß sich die beyden Farben zum natürlichen Gleichgewichte brachten. Alles lachte, wir sah'n uns im Spiegel, und ich brach in die Worte aus: Herz am Herzen anzuschwärzen, gleich das Zeichen auszustreichen, weiß zu machen, macht mich lachen! - Das waren je Verse, riefen wir beyde bestürzt! - Freylich, sagte ich, doch giebt es schon mehrere Beyspiele solcher wunderbar erweckten Poesie. 6

Die »erweckte Poesie« greift als sublimierte Gelegenheitsdichtung den Anlaß auf und überschreitet ihn zugleich in einem poetisierenden Anspruch; damit wird eine offene, dynamisch-assoziative Textfortschreibung gegen jegliche Bedeutungsfestschreibung gesetzt. Wenn der Erzähler als >GelegenheitsDer an seinen Schülern verzweifelte Philosoph auf verschiednen Standpuncten< bezieht: »Der arme Philosoph thut mir leid, rief der Herzbruder, darin bist du viel unmenschlicher als ich, ihn so zwischen Thür und Angel stecken zu lassen.«8 In ähnlicher Weise findet sich der Herzbruder unter den dramatis personae des Stücks >Der entfesselte PrometheusVersöhnung in der Sommerfrische< oder in >Halle und Jerusalem< zentrale Stellungen im Text ausfüllen. In allen Fällen handelt es sich um eine antisemitisch imprägnierte,32 eliminatorische Anerkennung,33 die den Juden lediglich als innerlich konvertierten Christen in seiner menschlichen Würde ernstzunehmen vermag. Zum anderen fungiert er als Projektionsfläche für >scherzende< Stereotype, die in den unschwer zu erkennenden Andeutungen aufgerufen werden. Die Komplementarität vom gängigen zeitgenössischem Diskurshorizont und diesem allusiven Verfahren produziert insofern einen objektivierenden Effekt, als die Vorwürfe durch die evidente Koinzidenz von Vorwissen / Vorurteil und Insinuation einander zu bestätigen scheinen. Zu diesem Zweck kolportiert das >Gemisch< gängige antisemitische Ressentiments in einer sich >humoristisch< jedem moralischen Zugriff entziehenden Weise. Eingeführt wird der Jude - in einem typisch antijüdischen Vorwurf- als trotziger Christus-Leugner und schließlich als Einsiedler-Anwärter, der diesem christli-

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Arnim: Scherzendes Gemisch - In: Zeitung für Einsiedler, S. 51. Ebenda, S. 288. Vgl. dazu Härtl: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die Tischgesellschaft. Vgl. dazu Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 17501812, S. 276-280.

Die legitimatorische Inszenierung von > Volkspoesie
Gemisches< erscheint dabei die Vorlage von Bettine und Arnim. Reinhold Steig, der das entsprechende Oktavblatt im Nachlaß ausfindig gemacht hat, kann Arnims und Bettines Anteile über die Handschriften zuweisen; so stammt der erste Teil des Einsiedler-Projektes in der Vorlage von Bettine: Es war einmal ein Mann, der wollte ein Einsiedel werden, da er in den Wald kam, freut er sich sehr seines Vorhabens und baut gleich eine Hütt von Bäumen, und der Wind blies durch Morgens und Abends, und wenn er seine Metten gesungen hatte und wollte einschlafen, so pfiff der Wind gar saubere Melodien ihm in die Ohren, das mogte er nicht vertragen. Da grub er sich eine Hole, dabei auch einen Brunnen, daß er gleich frisch Wasser haben konnte; da es aber Winter ward, so war der Brunnen zugefroren, da es ihn durstete, wußt er kein Wasser zu finden, er paßte aber auf eine Stück Wild und ging ihm nach zu sehen, wo es sauft. Das Wild wandelt durch den kahlen Wald, und frißt und nagt an den Rinden und Knospen, aber gedenkt nicht zu saufen.36

Darauf schließt sich Arnims Handschrift an: Als er sich aber diese Bosheit des wilden Gethieres sah, hat er es erschlagen und sein warmes Blut getrunken und ging wieder zu seiner Höhle, da war der Brunnen aufgethaut, aber das Wasser wollte ihm nicht schmecken, denn er sähe sich darin, wie er so roth schien von Blut, und des Bluts konnte er nicht mehr bekommen, weil alles Wild vor ihm entflohen, seit er das erste erschlagen. Da öffnete er seinen Mund, vom Himmel kam eine große Regenwolke und hing sich auf ihn, und was trocken lag auf der Erde, das zerfloß auf ihr zu Thau und tränkte seine Zunge und machte seinen Leib rein vom Blute (fullete aber zugleich seine Höhle und versandete seinen Brunnen). Da ging er der großen Regenwolke nach und kam in eine große Stadt, die war gerade so breit als sie lang war und die Brunnen waren sehr tief unter der Erde und mit Stroh überflochten und liefen beständig, aber die Männer tranken da alle wenig, auch

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Arnim: Scherzendes Gemisch - In: Zeitung für Einsiedler, S. 50. Ebenda, S. 51. Steig: Zur Einsiedlerzeitung - In: Euphorion 19 (1912), S. 230.

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stand eine große Kirche dabey und die war leer und er stand drinnen als ein rechter Einsiedel und sang: Kraut und Rüben/ Die haben mich vertrieben. [.. .]37

Obwohl alle wesentlichen Elemente vorgegeben scheinen, werden sie doch in Arnims Text durch die Ersetzung des Mannes durch den Juden und durch ähnliche Zugaben auf antisemitische Klischees pointiert und neu kontextualisiert.38 In der einleitenden Erzählung werden die Bemühungen des Juden, zum echten Einsiedler diskreditiert: »Wenn er seine Metten gesungen hatte und wollte einschlafen, so pfif der Wind gar saubere Melodeyen ihm in die Ohren, das mogte er nicht ertragen.« 39 Die dabei unterstellte geistige Unreinheit wird in der Rahmenhandlung noch von einer körperlichen Unreinlichkeit flankiert und auf diese Weise antisemitisch aufgeladen, da nach der Lektüre der Tauler Nachfolge - in einem Wechsel der Stillage - kommentarlos und ostentativ beschrieben wird, wie der Alte die Brille abnimmt und an seinem Bart abreibt. Im Bedürfnis nach sauberem Wasser hebt der Einsiedler-Jude - wie der Mann der Vorlage - schließlich einen Brunnen aus, der aber »nur so tief, als ihn ein Mensch zu graben vermochte, sechs Fuß lang und zweye breit«.40 Der gescheiterte

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Ebenda. In der Zeitung für Einsiedler lautet die Stelle nun: »Der alte Jude hätte unserem Herrn die Kunst mit den Vögeln gern nachgemacht, weil er damit viel Geld hätte verdienen können, aber es ging nicht, nun hörte er aber, daß unser Herr in der Wüste predige, da wollte er auch in die Wüste gehen, weil da alles umsonst ist und ein rechter Einsiedler werden. Da er in den Wald kam und der war dunkel, da freute er sich sehr seines Vorhabens und baute gleiche eine Hütte von Bäumen, und der Wind blies durch Morgens und Abends, und wenn er seine Metten gesungen hatte und wollte einschlagen, so pfif der Wind gar saubere Melodeyen ihm in die Ohren, das mogte er nicht ertragen. Das grub er sich eine Höhle dabey, auf eine Brunnen, daß er gleich frisch Wasser haben konnte, de Brunnen war aber nur so tief, als ihn ein Mensch zu graben vermochte, sechs Fuß lang und zwey breit. Da es aber Winter ward, so war der Brunnen zugefroren, da es ihn durstete, wußte er kein Wasser zu finden. Er paßte aber auf eine Hirschin, die alle Tage kam seine Metten anzuhören, wobey sie abwechselnd bald das eine, bald das andere Ohr vorstreckte, dann ging er ihr nach zu sehen, wo sie saufe. Das wilde Gethier ging aber durch den Wald und er wußte nicht warum, bald leckte es seine Hinterfuß, bald kratzte es in der Erde, fraß Moos von der Erden und nagte Knospen von den Zweigen und Rinden, aber gedachte nicht zu trinken, oder wollte es ihm nicht entdecken. Als er aber diese Bosheit der Hirschin sah, hat er sie gleich erschlagen und ihr warmes Blut trinken wollen, aber das wollte ihm nicht schmecken, denn er sähe sich darin und sein Bild spiegelte sich so roth, er vergoß es in den Schnee und alles andre Gewild war ihm entflohen, seit er das erste erschlagen. Da öffnete er aus Durst seinen Mund zum Himmel und es kam eine dichte Schneewolke und hing sich an ihn; was trocken gefallen wäre auf die Erde, das zerfloß ihm zu Thau auf seiner Zunge und machte seine Leib rein vom Blute. Da ging er der großen Schneewolke nach und kam in eine große Stadt, die war gerade so breit als sie lang war, und die Brunnen auch sehr tief von vielen Menschen gegraben, auch oben mit Stroh beflochten, die liefen beständig aus vielen Röhren, auch stand eine große Kirche dabey und die war leer, und er stand darin und meinte sich ein rechter Einsiedel; da war ihm aber der Hirschin ihr junges Hirschkälbchen nachgelaufen, das sang ihm einfältiglich vor: Kraut und Rüben, die haben mich vertrieben; da war er wieder kein rechter Einsiedel. Hier Schloß ich meine Erzählung.« Arnim: Scherzendes Gemisch - In: Zeitung für Einsiedler, S. 50f. Ebenda, S. 50. Ebenda.

Die legitimatorische

Inszenierung von > Volkspoesie
Entdeckte Judentum< Eisenmengers wohlvertrauten41 - Vorwurf gegen die jüdischen Brunnenvergifters verbunden, sondern impliziert auch eine mortifizierende Tendenz aller kreativen Bemühungen, ein Aspekt der ähnlich gewendet auch in dem - im folgenden noch genauer zu beschreibenden - volkspoetischen Dokument über den Golem wiederauftaucht. Seine eruptive Gewalttätigkeit gegen die Hirschin, die ihre geheime Wasserquelle nicht verraten will und die er erschlägt, um ihr Blut zu trinken, gewinnt in bezug auf den jüdischen Protagonisten eine neue Dimension und gerät in den Bannkreis eines antisemitischen Aberglaubens, den Arnim in seiner Rede vor der Tischgesellschaft >Über die Kennzeichen des Judenthums< explizit benennt, wenn er daran erinnert, »wie sie [die Juden] Kristenkindern das Blut abzapfen und trinken.«42 In schneller Folge werden also - immer im Rückgriff auf den diskursiven zeitgenössischen Hintergrund - zwei geschichtsträchtige und wirkungsmächtige Anschuldigungen evoziert, die zwar spielerisch eingebunden werden, aber nichtsdestoweniger einen negativen, für den zeitgenössischen Leser rekonstruierbaren Verweishorizont mit sich führen. In ähnlicher Weise wie bei der ambivalenten Darstellung des konvertierten Juden in der Rahmenhandlung überlagern sich im Abschnitt über die > Verlagspoesie< die unterschiedlichen, performativ-einschließenden und insinuierend-ausschließenden Stoßrichtungen. Zum einen wird der Grimmsche Beitrag über den Golem-Mythos als ein Beispiel für eine »wunderbar erweckte Poesie« unter anderen Genesen - es gehen ihm Dokumente zur >Entstehung< der indischen, der neupersischen und der heiligen Poesie voran - eingeführt, so daß er unter den poetologischen Wertungskriterien als Beleg für die Kreationsfähigkeit eines Volkes verstanden werden muß. In diesem Sinne wurde der Text als performative Apologie des volkspoetischen Projektes interpretiert, insofern sich »die Golem-Sage als Allegorie zur Verteidigung der Sage als >wahre Poesie< und als lebendige Erfassung des LebensGemisch< nur bedingt gerecht und verschüttet die janusköpfige Funktion des Textabschnittes, in dessen unbefangener Präsentation sich die zuvor genannten inhaltlichen Ein- und Ausschließungskriterien im Spannungsfeld zwischen sammelnder Selektionspraxis und ambivalenter Darbietungsintention gleichermaßen manifestieren. Als volkspoetischer Beitrag kann der Grimmsche Beitrag nicht ignoriert werden, weil sich in den verschiedenen Entstehungsformen von Poesie schwerlich eine Hierarchie etablieren läßt; der Text steht somit zunächst gleichberechtigt den anderen vorgetragenen Beispielen gegenüber: In den >Majoratsherren< vertritt der 41 42 43

Vgl. dazu Eisenmenger: Entdeckten Judenthums Zweyter Theil, S. 218-222. Vgl. dazu auch Eisenmenger als Grundlage, ebenda, S. 222-227. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 311.

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Majoratsherr diese Ansicht, wenn er zu der Erkenntnis gelangt: »O! sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker!«44 Diese völkisch legitimierte Unantastbarkeit der »heiligen Geschichten«, die der Empfänglichkeit gegenüber jüdischer Mythologie zugrunde liegt, steht bei Arnim offensichtlich in keinem logischen Ausschließungsverhältnis zu seiner antisemitischen Charakterisierung Vashtis oder anderen jüdischen Figuren, die ihrem Glauben weiterhin verpflichtet bleiben. Historistischer Sammeleifer und religiöse-nationaler geprägter Reformwille stützen sich dabei auf unterschiedliche Erscheinungsformen, die zu diesem Zweck sorgsam getrennt und axiologisch anders verortet werden. In diesem Sinne muß dem Golem-Text in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung unter den >Entstehungen< zugesprochen werden, die sich zum einen aus dem Kontext des >GemischesIsabella von Ägypten< ergibt. Da das >Gemisch< in der Textanlage auf Arnim zurückgeht, scheint es nämlich heuristisch sinnvoll und textgerecht, es nicht als einen sympoetischen Text (bei dem Arnim eine Textidee Grimms weiterspinnt), sondern als von Arnim zugerichteten Intertext zu analysieren.45 Auch wenn der Golem selbst die Opposition von Wahrheit und Tod etabliert, läßt sich mit Blick auf die Isabella von Ägyptern schwerlich übersehen, daß der Golem dort selbst als tote Opposition, als Imitation der wahren Isabella fungiert. Die Funktionalisierung, die sie dann durch Karl erfährt, findet sich auch im kurzen Resümee der wesentlichen Aspekte des Golem-Mythos: »Reden kann er zwar nicht, versteht aber ziemlich was man spricht und befiehlt. Sie heißen ihn Golem, und brauchen ihn zu einem Aufwärter, allerley Hausarbeit zu verrichten« 46 Wenn der Golem also zur Sichtbarmachung eines Wahr-Falsch-Codes dient, so ist er zugleich eine zwar sprachlich regulierte, im übrigen aber nur ephemer belebbare, geistlose Materie und muß - wie in »Isabella von Ägyptern - in diesem Sinne der Tod-Seite zugerechnet werden.

5. Ideologie und >Volkspoesie< Der Golem-Text greift in seiner Vernetzung mit dem >Gemisch< also gleich drei Tendenzen der volkspoetischen Erneuerung auf, wenn er zum einen dokumentarisch ein volkspoetisches Produkt präsentiert, es zum anderen inhaltlich sowohl für sein performatives Verfahren als auch für seine Kunstdogma fruchtbar macht und es zum dritten unter der Hand - wiederum genau in ironischer Weise affirmativ im Sinne der Wahr-tot-Unterscheidung - als einen identitätsversichernden Anknüpfungspunkt für die antisemitischen Angriffe der Rahmenhandlung verfügbar macht. Die letzte, dramatische Erzähleinlage vollzieht auf dieser Argumentationsbasis den Brückenschlag zwischen den verschieden motivierten Imitationsprak-

44 45

46

Arnim: Die Majorats-Herren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 137. Vgl. zum Golem Bella auch Frye: Textstruktur als Kunstauffassung Achim von Arnim und die Ästhetik Schillers, S. 150-154. Arnim: Scherzendes Gemisch - In: Zeitung fur Einsiedler, S. 56.

Die legitimatorische Inszenierung von > Volkspoesie
Gemisch< folglich auch um einen tautologischen Effekt, der - hinsichtlich seiner Ausgrenzungsbestrebungen durch die universalpoetische Präsentation weniger gebrochen als kaschiert wird. Vor allem unter dieser dem >Gemisch< inhärenten rezeptionsästhetischen Perspek47

Ebenda, S. 296.

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tive legt die komplexe performative Struktur eine problematische, ideologisch instrumentalisierbare Verfahrensweise offen, die sich paradoxerweise in einer quasi>universal-progressivenL'essai sur les fictions< de Madame de Stael. Anonymous: Neuestes Werk der Frau von Stael. In: Der neue teutsche Merkur 2, 1796, p. 420. Axel Blaeschke: Introduction. - In: Madame de Stael: De la litterature consideree dans ses rapports avec les institutions sociales, pp. XXII-XXIII.

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seitig. Wir sollen unsere melancholische Tendenz von Ossian erhalten haben!« 22 Advising the reader not to be seduced »von dem Witz und der Sucht der Verfasserin, den bekanntesten Dingen selbst auf Unkosten der Wahrheit eine neue Seite abzugewinnen,« the reviewer places Mme de Stael's style as a woman and her status as a non-German at the heart of the intercultural debate. Signifying both feminine excess and French overindulgence, she appears in the German press as Germany's quintessential »other.« These reviews of Mme de Stael, which transformed her into a free-floating signifier to demarcate both gender and national differences, ostensibly constituted Arnim's first encounter with the French-speaking authoress. Long before he met her, the circumstances of which I will examine below, Armin had a citational notion of who she was that essentially consisted of gendered quotes: fragments of an intertextual narrative that he had either read first hand or heard about in conversations. In a letter to Clemens Brentano around 22 September 1802, several months before he would actually meet Mme de Stael, these negative citations come mainly to the fore: »Es hat sich die Nachricht verbreitet daß die Frau Stael die Delphinenburg in einem Roman schildern wolle wir wünschen daß es besser geräth als ihr Bild der Literatur sie sollte solche schwächlige Neckereyen lassen und sich zu etwas Grossem stählen.« 23 Beyond the name games in Arnim's letter (Delphinen burg, Neckereyen), the text suggests not only that Arnim had heard about M m e de Stael's yet to be published novel, but also that he was familiar with De la litterature, if not by having read the actual text, at least through reviews or word of mouth. As we will see below, his citational assessment changes once he actually converses with her face to face.

II. Their first encounter brings us to a second facet of romantic-era culture that may be analyzed through the lens of performance, and that is the phenomenon of travel itself. Driven by contingency and situated out of normal space and out of normal time, tum-of-the-century travel is what the anthropologist, Marc Auge, has defined as the archetype of the supermodern non-place. 24 It was in such a liminal space - respite from Napoleon's Paris for Mme de Stael and a 30-month grand tour for Arnim - that the two first met. Their initial meeting in November 1802, which happened neither in Paris nor in Berlin but in Geneva, was due in large part to the flux of chance: they both happened to be in the same »non-place« at the same time. In a letter to Brentano dated 18 November 1802, two months after the letter cited above, a slightly different picture of Mme de Stael emerges:

22 23 24

Anonymous: Auszüge aus Briefen, Paris, d. 2. Messidor 1800. Letter 253.K4. - Arnim. Werke und Briefwechsel, vol. 31, p. 103. Auge: Non-places, p. 86.

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Ich lebe hier [in Genf] sehr angenehm [...]. Ich habe durch [Frau von Krüdener] den alten Necker und seine Tochter die Frau von Stael kennen gelernt, man stösst mit seinen Urtheilen über Kunst jeden Augenblick bey den Franzosen an, aber sie sind gutmüthig und nehmen es nicht übel. Die Stael giebt einen Roman in vier Bänden heraus »Delphine«, sie ist unendlich lebhaft, wir haben uns beynahe vier Stunden herumgestritten, und sie interessirt mich. 25

This passage is significant because it shows Arnim in the process of changing his views about Mme de Stael. Although he still guards certain stereotypes about the French, she as an individual stands out. Arnim's interest in the French-speaking celebrity helps lead Helene Kastinger Riley to claim that his »Bekanntschaft mit Frau von Stael war mehr als flüchtig.« 26 It is precisely its fiigitiveness, however, that I want to emphasize here, for its very intensity in the here and now of the moment makes that friendship performative. In this regard, the grand tour through Europe for educated young men fits the model of ritualistic performance developed by Arnold van Gennep, who proposed a three-phase process marking the passage of one life phase to another: the preliminal, or integration of an individual within an original environment, the liminal, which separates the individual from that environment and places her in a marginal state, and the postliminal, which reincorporates the changed individual back into her original environment. 27 This model was later revised by Turner, who focused on the liminal phase as a possibility for performative creativity and identity change by means of what he called antistructure. 28 As opposed to Arnim's negative perceptions of Mme de Stael before their first meeting, the experience of seeing her in Geneva allows him to discard those entrenched and gendered notions - what Turner would call the structure of the preliminal phase - and open himself up to the anti-structural pleasure of the liminal experience. It is the threshold nature of their meeting that defines the performative moment according to Turner. This is so because the attributes of liminality are necessarily ambiguous and ambiguity is what allows »people to slip through the network of classifications that normally locate states and positions in cultural space.« 29 For Turner, liminal entities and/or people are neither here nor there but rather »betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial.« 30 The state of liminality experienced by both Arnim and Mme de Stael, who was no more »at home« in Geneva than her young admirer, is what ultimately allows a feeling of »communitas« to emerge that ignores systems of difference such as age, nationality or even gender.31 Arnim's descriptions of his coach rides, a liminal experience par excellence, support the hypothesis that it is the fugitive performance of the moment that

25 26 27 28 29 30 31

Letter 271. - Arnim. Werke und Briefwechsel, vol. 31, p. 147. Kastinger Riley: Ludwig Achim von Arnims Jugend- und Reisejahre, p. 78. van Gennep: The Rites of Passage. Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Ibid., p. 95. Ibid. Ibid., pp. 96-97.

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counts. As he explains 30 December 1802 in a letter to Hans von Schlitz from Lyon: Wenn ich Dir in der Ordnung eine Beschreibung dieser Reise zu Wagen, zu Wasser, auf Mauleseln u. s. w. liefern wollte, ich glaube Du würdest Dich weigern das Postgeld zu bezahlen, besonders bey meinen nun einmal zur Gewohnheit verhärteten Lapidarbuchstaben. Bis Chambery muste ich in der Diligence sehr viel durch einen grossen Buchstaben | unter den Menschen, ich meine durch einen dicken Obersten leiden, mit dem ich während der ganzen Zeit in stetem Druck und Reibung blieb, wir nahmen einen fröhligen Abschied von einander. Der dritte Platz war mit einem verkannten Verdienste, mit einem verabschiedeten französichen Veteranen besetzt, der bey St Jean d'Acre einen Arm verloren, aber dieser Mangel kam jenem Ueberflusse nicht gleich. Wir führten mancherley anmuthige Reden hin und wieder, ein Käsehändler sprach von der Zahl und der Schönheit der Käseaugen, wie von den Augen seiner Geliebten, ein Brabanter Batishhändler versicherte daß der englische Muslinbatist gar nicht so genannt werden solle, Batist wäre etwas viel ehrwürdigeres.32

The anti-structural elements of these experiences, which can have both positive and negative effects, are not to be underestimated from an aesthetic point of view. Among the romantics, who brought the pleasures of the liminal to new heights, it was the performance of travel itself, not the idea of getting somewhere, which played the most crucial role. For Arnim, who is testing himself out as a young man of letters, the grand tour is crucial in the process of becoming a poet. As Ingrid Oesterle has noted in her own study of Arnim's travels: [Arnims] Reise, so läßt sich zusammenfassen, ist ein Relikten eine Kavalierstour, zumindest der Intention der Großmutter nach; sie ist in gewisser Beziehung auch eine Studienreise, was die Pläne und Absichten des Onkels betrifft; vornehmlich aber ist sie, der Lebenslage des Reisenden selbst entsprechend, die Bildungsreise eines pläneschmiedenden werdenden Poeten...33

Arnim's encounters with various people en route define his grand tour as a series of fugitive moments within the larger frame of a rite of passage, a passage in which he evolves from being merely a spectator to also becoming an actor. By means of this liminal experience, he is able to make an intercultural leap of faith, stepping from the structure of his familiar cultural environment to the creative and anti-structural space of the unfamiliar, which in Geneva is the theatrical space of Mme de Stael's salon.

III.

The salon brings us to a third example of cultural transfer involving performance that plays an important role in the relationship between Arnim and Mme de Stael. In the salon, as Peter Seibert has remarked, it is not written texts but ephemeral 32 33

Letter 280. - Arnim, Werke und Briefwechsel, vol. 31, p. 167. Ingrid Oesterle: Achim von Arnim und Paris. Zum Typus seiner Reise, Briefe und Theaterbericherstattung.- In: Härtl/Schulz (eds.): Die Erfahrung anderer Länder, p. 44.

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conversation that reigns. 34 The gendered dimension of this form of communication is important, not least from the point of view of sources, because unlike state academies or scientific societies that traditionally allowed only men, informal gathering places run by women did not often maintain member lists, draft protocols or record minutes. How, in effect, can one analyze oral transmissions in the era of non-mechanical reproduction two hundred years after they took place? Paradoxically, it is primarily through letters, which obey their own performative logic, that salon conversations can be approached. Let us recall that in the letter to Brentano cited above it was Mme de Stael's skills as an argumentative orator that most impressed Arnim: »sie ist unendlich lebhaft, wir haben uns beynahe vier Stunden herum gestritten, und sie interessirt mich.« 35 Like the fish the got away, it is impossible to ascertain how long Arnim actually talked with Mme de Stael. News of his successful venture certainly spread beyond Brentano, for in a letter from Louise von Schlitz to Arnim written sometime between November 1802 and January 1803, the near four-hour conversation has grown to five: »Wir verfolgen Sie dann in allen Ihren Thun and laßen, und dichten, und bis in Ihren fünf stündigen Unterredungen, mit der geistreichen Wittwe v. Coppet,«36 For those at home who only knew about Mme de Stael from the press, Arnim's personal encounter with the infamous celebrity was in itself a news-making event. Whatever the actual length of their conversation, Mme de Stael's conversational skills are certainly what most impressed Arnim. Far more than simply talking, salon conversation in the romantic era was a rhetorical art and it was an art that Mme de Stael was not only extremely good at but also widely known for. Having learned the basics as a young girl in her mother's Parisian salon, she perfected those talents in her own salon, combining the business acumen of negotiation with the agile finesse of esprit. In the French capital, salons played an important role in the emergence of political public opinion and it was women, according to Mme de Stael, who significantly contributed to that development. »Les femmes en France,« she writes in her posthumously published work on the French Revolution, »dirigeaient chez elles presque toutes les conversations, et leur esprit s'etoit forme de bonne heure ä la facilite que ce talent exige. Les discussions sur les affaires publiques etaient done adoucies par elles, et souvent entremelees de plaisanteries aimables et piquantes. 37 These comments point to the educative function that Mme de Stael saw for salons, including the function of political consensus building. »Par esprit d'entreprise,« she explains, »il m'est arrivee, d'essayer quelques melanges des parties, en faisant diner ensemble les hommes les plus spirituels des bancs opposes.« 38 In these comments about how Mme de Stael ran her own salon in

34 35 36 37 38

Seibert: Der Literarische Salon - ein Forschungsüberblick, p. 161. Letter 271. - Arnim. Werke und Briefwechsel, vol. 31, p. 147. Ibid., p. 153. Mme de Stael: Considerations sur la Revolution fran^aise, p. 228. Ibid., pp. 228-229.

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Paris, we find those elements of a bourgeois public sphere that so attracted Jürgen Habermas: entrepreneurship, informal mixing, and critical-rational debate by private individuals about public issues. Such urban gatherings, which resolutely turned their backs on the representative public sphere of the court, provide the prototype of Habermas' discursive model of civil society. 39 Beyond enlightenment, however, or in addition to it as a kind of dangerous supplement, salon conversations also offered the quintessence of live performance. Already in the 17th century, Georg Philipp Harsdörffer used the term Gesprächsspiele to characterize informal salon-like gatherings run by women. 40 Mme de Stael's own aesthetic theories about conversation suggest that she sought to create a stage on which dialogue could be transformed into a playful kind of duel. As she explains in her chapter on conversation in De l'Allemagne, the electrifying moment of the exchange as such counted far more than the subject or ideas: Le genre de bien-etre que fait eprouver une conversation animee ne consiste pas precisement dans le sujet de cette conversation; les idees ni les connaissances qu'on peut y developper n'en sont pas le principal interet; c'est une certaine maniere d'agir les uns sur les autres, de se faire plaisir reciproquement et avec rapidite, de parier aussitöt qu'on pense, de jouir ä l'instant de soi-meme, d'etre applaudi sans travail, de manifester son esprit dans toutes les nuances par l'accent, le geste, le regard, enfin de produire έ volonte comme une sorte d'electricite qui fait jaillir des etincelles, soulage les uns de l'exces meme de leur vivacite, et reveille les autres d'une apathie penible. 41

Mme de Stael's description of the electrifying moment of conversation nearly perfectly mirrors Mihaly Csikszentmihalyi's concept of flow. In studying the experience of playing, this American psychologist noted that »with near unanimity, respondents [...] stated that they devoted time and effort to their activity because they gained a peculiar state of experience from it, an experience that is not accessible in »everyday life.«42 Csikszentmihalyi calls this experience the flow state. He describes it as one where »action follows upon action according to an internal logic that seems to need no conscious intervention by the actor.« On the contrary, the actor experiences it as a unified flowing from one moment to the next, in which he is in control of his actions, and in which there is little distinction between self and environment, between stimulus and response, or between past, present, and future.« 43 It was this kind of performative flow, condensed into the moment of exchange as pure exchange, which arguably generated Arnim's interest in the French-speaking celebrity. Like the liminal moment of travel, the salon itself can thus open onto a liminal space, out of normal time and normal place, an »as if« theatrical 39 40 41 42

43

Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, p. 89. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Mme de Stael: De l'Allemagne, vol. 1, p. 102. Csikszentmihalyi: Beyond Boredom and Anxiety, p. 35. Quoted in Schechner: Performance Studies, p. 88. Ibid.

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space where metaphorical flows of all kinds - political and personal - can be experienced within a contained environment. This necessity of containment, of not being accessible in everyday life, is something that Mme de Stael, at least in theory, seemed to recognize. In her fictive salon in Corinne ou I'ltalie, she writes: »Les plus grandes dames [ä Venise] recevaient toutes leurs visites dans les cafes de la place Saint-Marc, et cette confusion bizarre empechait que les salons ne devinssent trop serieusement une arene pour les pretentions de l'amour propre.« 44 By bringing the salon out of the purely private sphere and into the public sphere of the cafe, Mme de Stael creates a stage and recognizes that the flow of the salon, intense as it may be, needs a frame. It is interesting to note in this regard that French etymological dictionaries quote Mme de Stael's Corinne as the first official French use of the term salon, suggesting that the word contained within itself the very notion of containment. Here, we are not far from Johann Huizinga's theories about games. As he remarked: »Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. [...] Es >spielt< sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum >abL'essai sur les fictions< de Madame de Stael. - In: Etudes Germaniques 50 (1995), S. 73-82. Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg): Deutsches Sprichwörterlexikon. Bd. 1-5. Leipzig: Brickhaus 1867. Reprint: Stuttgart: Athenaion 1987. Weber, Samuel: The Sideshow, or Remarks on a Canny Moment. - In: Modern Language Notes 88(1973), S. 1102-1133. Wellbery, David Ε.: Ε. T. A. Hoffmann and Romantic Hermeneutics. An Interpretation of Hoffmann's »Don Juan«. - In: Studies in Romanticism 19 (1980), S. 455^173. Wellbery, David E.: The Specular Moment. Goethe's Early Lyric and the Beginnings of Romanticism. Stanford: Stanford University Press 1996. Wertheim, Ursula: Von der »herrlichen Musengabe« der »Naturpoeten« und »Naturprosaisten«. - In: Wertheim: Goethe-Studien. Berlin: Rütten & Loening 1968, S. 64-88. Wetzel, Christoph: Joseph von Eichendorff. Salzburg: Andreas 1982. Wingertszahn, Christof: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achims von Arnim. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert: Röhrig 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. 23). Wyss, Ulrich: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München: Beck 1979 (Edition Beck). Yalouris, Nikolas: Pegasos. Ein Mythos in der Kunst. Übers, von Helen Zigada. Mainz: von Zab e m 1987. Yalouris, Nikolas: Pegasus in der antiken Mythologie. - In: Claudia Brink und Wilhelm Hornbostel (Hrsg.): Pegasus und die Künste. Katalogbuch zur Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. 8. April - 3 1 . Mai 1993. München: Deutscher Kunstverlag 1993, S. 133-148.

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Register von Norbert Wichard

Adorno, Theodor Wiesengrund 220 Aman, Carl 83-84 Angiolieri, Cecco 105 Ariosto, Ludovico 207 Aristoteles 208, 211 Arnim, Bettina von 84, 111-112, 115-116, 120, 152, 156, 158, 188-190, 249, 268-271 Arnim, Ludwig Achim von 3-19, 21-33, 35-58, 65, 79-87, 89-97, 111-121, 123-133, 135-144, 147-194, 195-206, 225-229, 233,239-271 Artaud de Montor, Alexis-Franfois 84 Ast, Friedrich 63, 65 Auge, Marc 259 Augustinus 115 Austin, John L. 135, 264 Ayrer, Jacob 142

Babst, Diederich Georg 231 Balde, Ernst, Kasseler Verleger 54 Balzac, Honore de 123-124, 129-133 Barthel, Gustav Emil 54, 56 Barthel, Karl 56 Baumbach, Rudolf 56 Becker, Rudolf Zacharias 4, 22, 28-32, 183-186 Beer, Johann 199 Beethoven, Ludwig van 132, 216-219, 221-222 Bekker, Balthasar 169, 172-174 Benecke, Georg Friedrich 198 Bernhardt, August Ferdinand 36, 38-39 Bernhardt, Sophie 84, 106 Birlinger, Anton 58 Blanck, Otto 56 Blumenberg, Hans 149 Böckh, August 80-81, 86 Bodenstedt, Friedrich 56 Boisseree, Sulpiz 84, 87

Bornemann, Johann Wilhelm Jakob 83, 86, 112

Böttger, Adolf 54 Böttiger, Karl August 258 Brahms, Johannes 17-18 Brentano, Bettina, s. Bettina von Arnim Brentano, Clemens 3-19, 21-33, 35-58, 65, 68, 79-80, 83-86, 96, 101, 111-121, 136-137, 140, 147-199, 203, 221, 225, 227-229, 233, 243-246, 259, 262, 265, 267,269 Brook, Peter 256 Budde, Heinrich Wilhelm 61-77 Bürger, Gottfried August 85, 185,237 Burgsdorff, Wilhelm von 65 Burke, Edmund 190, 216 Burwick, Roswitha 266 Busoni, Ferruccio 220 Butler, Judith 257 Byron, Lord 226-227 Caillois, Roger 264 Cervantes, Miguel de 70, 84 Chateaubriand, Rene-Franfois de 265 Cimarosa, Domenico 132 Cleve, Adolf von 33 Colshorn, Theodor 50-54 Crecelius, Wilhelm 58 Creuzer, Georg Friedrich 80-82, 84, 86 Csikszentmihalyi, Mihaly 263 Curchod, Suzanne 257 Curtius, Ernst Robert 152 Dach, Simon 3 9 , 4 1 ^ t 2 Dahlhaus, Carl 215-218 Debon, Günther 61, 64-65, 67-68, 71, 73, 76 Derrida, Jacques 210, 256-257, 265, 269270 Droste-Hülshoff, Annette von 56

Register

290

Eberhardt, Otto 63-64, 76 Echtermeyer, Theodor 53 Eichendorff, Joseph von 4, 49, 56, 61-77, 80, 108, 124 Eichendorff, Wilhelm von 61-77 Eichstädt, Heinrich Carl Abraham 233 Eckermann, Johann Peter 226, 232,235, 237 Eisenmenger, Johann Andreas 251 Eschenburg, Johann Joachim 3 9 , 4 1 - 4 2 Espagne, Michel 255 Fallersleben, Heinrich August Hoffmann von 51, 56 Fischer, Johann Georg 56 Fischer-Lichte, Erika 149 Flemming, Paul 73 Forster, Georg 7, 137, 165 Freiligrath, Ferdinand 49 Freud, Siegmund 256, 269-270 Frey, Adolf 54 Friedrich der Große 210 Fries, Jacob Friedrich 81-82 Fürnstein, Anton 231-232 Fust, Johann 207 Gandersheim, Roswitha von 205 Garve, Christian 207, 209-210 Gaudy, Franz 56 Geibel, Emanuel 56 Gennep, Arnold van 260, 267 George, Stefan 66 Gerok, Karl 56

Grohe, Jean Pierre, Mannheimer Verleger 54 Gräbel, Johann Konrad 231-232 Gryphius, Andreas 83, 191-192, 201 Guattani, Giuseppe Antonio 84 Gundolf, Friedrich 67 Gutenberg, Johannes 207 Habermas, Jürgen 209, 263 Hagen, Friedrich von der 86, 198 Hanslick, Eduard 216-218 Hardenberg, Friedrich von, s. Novalis Hardenberg, Georg Anton von 66, 84 Hardenberg, Karl Gottlob Albrecht von (d.i. Rostorf) 6 6 , 8 4 Harsdörffer, Georg Philipp 263 Hebel, Johann Peter 231 Heine, Heinrich 9 - 1 1 , 49, 56, 102 Helena, Dilia 56 Henniger, Karl 57, 174 Herder, Johann Gottfried 4 - 5 , 15, 32, 38, 39, 41, 43, 140, 148, 160, 225-227, 229, 236-237 Heyse, Paul 56 Hiller, Gottlieb 231-233 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 13, 66, 117, 123-124, 129-131, 133,221 Hofmannsthal, Hugo von 9, 10, 221 Hölderlin, Friedrich 56, 118 Homburg, Ernst Christoph 36, 38 Huizinga, Johann 264

Gesenius, Hermann, Verleger in Halle 54 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 51 Goethe, Johann Wolfgang 7, 23, 2 6 , 2 9 , 4 9 , 52, 63, 67, 73, 84-87, 107, 115, 118, 149, 158, 162-163, 171, 173-175, 185, 187, 189, 193, 196, 206, 209-212, 219, 221,225-237, 258,268-270 Görres, Joseph 13, 61, 71, 79-80, 82, 86,

Jacobi, Friedrich Heinrich 83-84 Jean Paul 84-85, 104 Jesus 46, 48, 154, 2 4 1 , 2 4 8 Jonson, Ben 62

157, 179, 197, 200 Gramberg, Gerhard Anton Hermann 41 - 4 3 , 47 Grimm, Jacob 5, 13-14, 18-19, 114, 117, 119-120, 125, 139, 151-152, 163, 169, 191, 194, 198-199, 225, 246, 251-252 Grimm, Ludwig 173 Grimm, Melchior 257 Grimm, Wilhelm 4 - 5 , 13-14, 18-19, 8 3 86, 114, 117, 119-120, 125, 139, 163, 165, 169, 199-200, 225

Kastinger Riley, Helene M. 155, 157, 159, 169, 260, 270 Kerner, Justinus 65-66 Kinderling, Johann Friedrich August 38 Klinger, Friedrich Maximilian 207 Klopstock, Friedrich Gottlieb 102, 65, 2 0 7 223

Jung-Stilling, Johann Heinrich 119 Kant, Immanuel 214-216 Karl der Große 174

Knaack, Jürgen 255, 266 Knobloch, Karl, Leipziger Verleger 54 Kolk, Rainer 66 Kommereil, Max 67

Register Korte, Hermann 71 Kotzebue, August von 101, 164, 266 Kozielek, Gerhard 102 Kristeva, Julia 256 Lachmann, Karl 198 Lassenius, Johannes 36, 38 Lenau, Nikolaus 49, 56 Lessing, Gotthold Ephraim 33, 94-96, 214, 217 Levine, Michael G. 269-270 Liliencron, Rochus von 53 Liszt, Franz 219 Littfas, Ernst, Berliner Verleger 36-38, 40, 42,44-47 Loeben, Otto Heinrich Graf von 61-77 Luther, Martin 5 , 4 4 , 4 7 , 156, 186, 191 Macpherson, James 193, 228 Mahler, Gustav 9, 220 Mann, Thomas 10, 106 Marcello, Benedetto 132 Maßmann, Hans Ferdinand 51 Matthisson, Friedrich 39, 41—43 Mayer, Karl 65 Meier, John 43, 53 Meister, Jakob 257 Meyrink, Gustav 9, 49 Mörike, Eduard 49, 5 6 , 2 1 9 Moritz, Karl Philipp 2 3 1 , 2 3 4 - 2 3 5 Moscherosch, Johann Michael 36, 38, 44, 47, 199 Mozart, Wolfgang Amadeus 129, 132, 177, 219, 228 Müller, Adam 8 6 , 9 4 , 2 2 1 Müller, Friedrich von 2 2 6 , 2 3 4 Napoleon Bonaparte 29, 50, 89-90, 93-96, 157, 175, 190 Naubert, Benedikte 171-174, 192 Necker, Jacques 257, 260 Niethammer, Friedrich Immanuel 228 Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) 64, 66, 69, 71-72, 75, 84, 94, 117, 154, 157, 171, 191,221 Oesterle, Ingrid 261 Opitz, Martin 39,41, 119 Ovid 205 Passavant, Johann Carl 119

291 Pergolesi, Giovanni Battista 132 Perthes, Friedrich Christoph 113 Petersdorff, Dirk von 62, 65-68, 72, 77 Petrarca, Francesco 66 Pfeffel, Gottlieb Konrad 13, 51 Platen, Karl August Graf von 56 Piaton 86, 168, 193, 195,211 Preiß, Harald 67, 72 Quintilian 234 Raabe, Wilhelm 49, 102 Racine, Jean 127-128 Reichardt, Johann Friedrich 27, 82, 161163, 169, 173, 175, 181-188,228 Reichardt, Louise 188-189 Reimer, Georg Andreas 101, 188 Reinhard, Carl 85 Reuse, Verlag in Sondershausen 54 Reuter, Christian 15, 199 Ritter, Johann Wilhelm 83, 85 Rölleke, Heinz 29-30, 35, 43, 44, 47, 111, 173 Rossini, Gioacchino 132-133 Rostorf, s. Karl Gottlob Albrecht von Hardenberg Rottmanner, Karl 83-84 Rousseau, Jean-Jacques 212, 265 Rückert, Friedrich 5 1 , 5 6 Rümpler, Carl 54 Runge, Philipp Otto 113-114 Sachs, Hans 142, 222 Sachse, Christoph 231 Sänger, Johanna 265-266 Savigny, Friedrich Carl von 22, 79-80, 82, 170,268 Schechner, Richard 255-256, 263 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 86, 148-150, 153,217 Schiller, Friedrich 10,94, 138, 159, 167,181, 196, 207-212,215, 218, 225,252,258 Schlegel, August Wilhelm 17, 71, 83, 85, 102, 106, 142, 171,207, 269 Schlegel, Dorothea 234 Schlegel, Friedrich 17, 32, 53-54, 66, 71, 82-86, 102, 117, 144, 149, 163, 234, 240-242, 256 Schleiermacher, Friedrich 86, 184, 211, 245 Schlitz, Hans von 160, 167, 261 Schlitz, Louise von 117, 262

292

Schnabel, Johann Gottfried 199 Schopenhauer, Arthur 7-8 Schubert, Gotthilf Heinrich 119 Schulz, Gerhard 72-73 Seibert, Peter 261-262 Shakespeare, William 62, 67, 109, 170, 193,201,211,221-222, 226 Sismondi, Jean Charles Leonard 269 Sokrates 211 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 66 Sotzmann, Johann Daniel Ferdinand 117 Stael-Holstein, Anne Louise Germaine Baronne de 234-235, 255-271 Steffens, Henrik 80 Stendhal 102, 131 Stöcklein, Paul 64 Stolberg, Leopold zu 51 Strauß, Friedrich 61-77 Sturm, Julius 56 Sulzer, Johann George 230 Tasso, Torquato 210 Tauler, Johannes 191,245,248,250 Thibaut, Anton Friedrich J. 61, 81-82 Tieck, Ludwig 5, 23, 33, 36, 62, 65-66, 72-73,86, 101-109, 117, 162, 181 Turner, Victor 256, 260, 268

Register

Uhland, Ludwig 51, 53, 65-66, 105, 107 Vischer, Friedrich Theodor 216 Voigt, Riedrich, Leipziger Verleger 54 Voß, Johann Heinrich 71, 80-82,86,163,237 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 32, 65, 105-107 Wagner, Cosima 221 Wagner, Ernst 83-84 Wagner, Johann Jacob 86 Wagner, Richard 207-223 Walser, Martin 212-213 Weckherlin, Georg Rudolf 39, 4 1 ^ 2 Weise, Adam 173 Weiss, Hermann F. 266 Werner, Michael 255 Wemer, Zacharias 83, 85 Wickram, Jörg 84 Wigand, Paul 173 Wilken, Friedrich 81-82,86 Winkelmann, Johann Just 171-174 Winkelmann, Stephan August 189 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 225,234-235 Zachariä, Friedrich Wilhelm 39, 41-42 Zincgref, Julius Wilhelm 44, 173, 191

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

PD. Dr. Johannes Barth · Eintrachtstr. 72 · Ό-Α2211 Wuppertal Prof. Dr. Dieter Borchmeyer · Osterwaldstr.53 · D-80805 München Prof. Dr. Konrad Feilchenfeldt · Nikolaiplatz 6 · D 80802 München Dr. Ann T. Gardiner • Philadelphia University, School of Liberal Arts · School House Lane & Henry Avenue · Philadelphia, PA 1944-5497 · USA Prof. Dr. Günter Häntzschel · Ludwig-Maximilians-Universität München · Institut für Deutsche Philologie · Schellingstr. 3 RG · D-80799 München Prof. Dr. Achim Hölter · Westfälische Wilhelms-Universität · Institut für Komparatistik · Domplatz 20-22 · D ^ 8 1 4 9 Münster Prof. Dr. Uwe Japp · Institut für Literaturwissenschaft · Universität Karlsruhe · Franz-Schnabel-Haus · Kaiserstr. 12 · D 76128 Karlsruhe Dr. Jürgen Knaack · Adlerhorst 24 · D-24558 Henstedt-Ulzburg Prof. Dr. Detlef Kremer · Westfälische Wilhelms-Universität · Institut für Deutsche Philologie II · Domplatz 23 · D^18143 Münster HDoz. Dr. Dieter Martin -Hohenentringer Str. 11 · D-72119 Ammerbuch Prof. Dr. Stefan Nienhaus · Vico Lungo Pontecorvo 29 D IS.B Sc. 20 · 1-80135 Neapel Dr. Claudia Nitschke • 28 Warren Crescent · Oxford 0 X 3 7NG · Großbritannien Prof. Dr. Walter Pape · Universität zu Köln · Institut für deutsche Sprache und Literatur. Albertus-Magnus-Platz · D-50923 Köln Prof. Dr. Klaus Peter · University of Massachusetts · Department of Germanic Languages and Literatures · Herter Hall · Amherst, MA 01003 · USA Yvonne Pietsch · Heimstättenstr. 10 · D-80805 München Dr. Ulfert Ricklefs · Albert-Rupp-Str. 6 · D-91052 Erlangen Prof. Dr. Heinz Rölleke · Goetheweg 2 · D-41469 Neuss